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Full text of "Archiv Für Kriminal Anthropologie Und Kriminalistik. V. 11.1903"

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ARCHIV 

FÜR 

KRIMINAL - ANTHROPOLOGIE 

UND 

KRIMINALISTIK 

MIT EINER ANZAHL VON FACHMÄNNERN 

HERAUSGEGEBEN 


Prof. Dr. HANS GROSS 


ELFTER BAND. 

MIT 23 ABBILDUNGEN IM TEXT UND 2 TAFELN. 



LEIPZIG 

VERLAG VON F. C. W. VOGEL. 

1903 


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Inhalt des elften Bandes 


Erstes Heft 

ausgegeben 22. December 1902. 

Original-Arbeiten. Seite 

I. Die Beziehungen der Prostitution zum Verbrechen. Von Dr. Anton 

Baumgarten, Wien. 1 

IL Psychiatrische Gutachten. L Von Ernst Schultze.35 

DI. Soll die Strafbarkeit der fahrlässigen falschen eidlichen Aussage vor 
Gericht im Strafgesetzbuch beibehalten werden? Von Justizrath 
E. Martin, Rechtsanwalt in Nürnberg.70 

IV. ßmile Zola, ln memoriam. Seine Beziehungen zur Kriminalanthro¬ 

pologie und Sociologie. Von Medicinalrath Dr. P. Näcke in 
Hubertusburg.80 

V. Die Geldmännel im sächsischen Vogtlande. Von Referendar Mothes 

in Dresden.99 


Zweites und Drittes Heft 

ausgegeben 16. April 1903. 

Original-Ar beiten. 

VI. Ueber jugendliche Mörder und Todtschläger. Kriminalanthropo¬ 
logische Beobachtungen. Von Geh. Med.-Rath Dr. A. Baer, 
Oberarzt am Strafgefängniss Plötzensee bei Berlin. (Mit 22 Ab¬ 


bildungen .103 

VII. Der Raubmordprocess gegen Georg Will. Mitgetheilt vom k. k. 

Gerichtsadjuncten Dr. v. Mackowitz in Innsbruck.171 

VIII. Zwei Knaben als Raubmörder. Von Alfred Amschi, k.k. Staats¬ 
anwalt in Graz.1S1 

IX. Ein Opfer platonischer Liebe. Von Hans Schneickert, Rechts¬ 
praktikant in München.200 

X. Das Vorleben des Angeklagten. Vom Ersten Staatsanwalt Siefert 

in Weimar .209 

XI. Sexualpathologische Fälle. Von Siegfried Türkei in Wien . . 214 

XII. Statistisches über das Lynchen in Nordamerika, Von Dr. E. A. S p i t z k a 

in New-York. (Mit 1 Curve).224 

XIII. Körperverletzung dprch Röntgenstrahlen. Vom Ersten Staatsanwalt 

Nessel in Hannover.22 S 

XIV. Vormundschaft über Verbrecher. Von Werner Rosenberg, Staats- 

, anwalt in Strassburg i. E.232 


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IV 


Inhaltsverzeichniss. 


Seite 


Kleinere Mittheilungen: 

1. Ueber innere Stigmata bei schweren Verbrechern. (Nücke) . 255 

2. Thierquälerei und Aberglaube. (Nucke).250 

3. Eine entartete Familie. (Nucke).257 

4. Zur Psychologie der Aufmerksamkeit und des Traumes. (Nucke) 258 

5. Merkwürdige Untersuchungen über die Kraft der Urinblase. 

(Nucke).261 

6. Paradoxe Wirkung der Pubertät. (Nücke).262 

7. Mithilfe des Publicums bei Erkennung gewisser Verbrecher. 

(Näcke). 262 

S. Nochmals: Pro und contra Todesstrafe. (Nucke) . . . . 263 

9. Aerztliche Untersuchung der Heirathskandidaten. (Nücke) . 266 

10. Galgenbriefe. (Sehukowitz).267 

11. Stimmungsmacherei durch Ansichtskarten. (Lohsing) . . . 268 


Bücherbesprechungen von Medicinalrath Dr. P. Näcke: 

1. Baer, Ueber die Trunksucht, ihre Folgen und ihre Bekämpfung 270 

2. May et, Les stigmates anatomiques et physiologiques de la 

d£g£gen6rescence etc.272 

3. Die Gesetze Hammurabi’s, Königs von Babylon um 2250 v. Chr. 274 

4. Pfister. Strafrechtlich-psychiatrische Gutachten als Beitrage 

zur gerichtlichen Psychiatrie für Juristen und Aerzte . . . 275 


5. Penot, Evolution du Mariage et Consanguinitö.275 

6. Die Memoiren einer Süngerin.276 

7. Bloch, Beitrage zur Aetiologie der Psvchopathia sexualis . 276 

S. Asehaffenburg, Das Verbrechen und seine Bekämpfung . 277 

9. Eulenburg, Sadismus und Masochismus.279 

10. Löwcnfeld, Ueber die geniale Geistesthätigkeit mit beson¬ 
derer Berücksichtigung des Genies für bildende Kunst . . . 279 

11. Berndt, Krankheit oder Verbrechen.281 

12. Estadistica de la administracidn de justica en lo criminal 

durante el ano 1900 en la pcnmsula e islas adyacentes publi- 
cado por el Ministerio de Gracia y Justicia.282 

13. Morselli e de Sanctis, Biografia di un bandito, Giuseppe 
Musolino di fronte alla psiehiatria ed alla sociologia.... 2S3 

14. Moll, Der Einfluss des grossstadtischen Lebens und des Ver¬ 
kehrs auf das Nervensystem.286 

15. Matiegka, Ueber das Hirngewicht, die Schädelcapacitat und 

die Kopfform, sowie deren Beziehungen zur psychischen 
Thütigkeit des Menschen.286 

16. Möbius, 1. Geschlecht und Krankheit; 2. Geschlecht und 

Entartung.287 

17. Meudes Martins, Sociologia Criminal.28s 


Bücherbesprechungen von Hans Gross. 

18. Henneberg, Ueber die Beziehungen zwischen Spiritismus und 

Geistesstörung.289 

19. Ke venstorf, Ueber Gefrierpunktsbestimmungen von Leichen¬ 

flüssigkeiten und deren Verwendung zur Bestimmung des Zeit¬ 
punktes des eingetretenen Todes . . . •.2S9 


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Inhaltsverzeichnis». 


V 

Seite 

20. Franciscus Hähnel, Alkoholismus und Erziehung . . . 290 

21. Helling, Praktische Strafanzeigen (Strafrechtsfälle) aus der 
Praxis der Staatsanwaltschaft gesammelt und für den akadem. 
Unterricht sowie für Referendare der Justiz und Verwaltung 


unter Berücksichtigung des bürgerl. Gesetzbuches und fort¬ 
laufender Anführungder gesetzt. Vorschriften,Verordnungen usw. 290 

22. Travers, Internationales Verbrecheralbum.291 

23. Landau, Archiv für slavische Philologie.291 

24. Parens-Duchätelet, Die Prostitution in Paris.291 

25. William Stern, „Zur Psychologie der Aussage.292 

26. Richard Katzenstein, Die Todesstrafe in einem neuen 

Reichsstrafgesetzbuch.293 


Viertes Heft 

ansgegeben 7. Mai 1903. 

Original-Arbeiten. 

XV. Mord und Raubversuch oder Todtschlag und Aufgeben der Absicht 

zu stehlen.293 

Mord aus eigenem Entschluss oder auf Austiften.307 

XVI. Ein Fall schwerster Beschuldigung eines Unschuldigen. Erläutert 
durch die Kriminalanthropologie. Von Prof. C. Lombroso und 
Dr. A. Boneili. Uebereetzt von Benvenuto Tonelli in Prag . . 322 
Kriminelle Suggestionirung an einem schwachsinnigen Alkoholiker. 

Von Prof. C. Lombroso und Dr. A. Bonelli.227 

XVII. Die Schreckreaction vor Gericht Von Nervenarzt Dr. Dich 1, Lübeck 240 
XVIII. Aus dem Institut für gerichtliche Medicin der Universität Leipzig. 

Weiteres über die Identificirung von Schartenspuren. Von Prof. 

Dr. Ko ekel. (Mit Tafel I, II).347 

XIX. Code Hammurabi vor 4000 Jahren Von Oefele in Bad Neuenahr 361 


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I. 


Die Beziehungen der Prostitution zum Verbrechen. 

Von 

Dr. Anton Baumgarten, Wien. 

In den folgenden Zeilen soll der Versuch unternommen werden, 
die Erscheinung der Prostitution vom Standpunkte des Kriminalisten 
möglichst umfassend zu untersuchen, und zwar nicht bloss nach der 
Richtung der kriminellen Veranlagung der Prostituirten hin, sondern 
insbesondere auch rücksichtlich ihres, oft nur in directen Zusammen¬ 
hanges mit dem Verbrechen. Das schwierige, vom kriminalistischen 
Standpunkte noch ungenügend erforschte Gebiet der auf einer abnormen 
vita sexualis beruhenden Delicte wird gleichfalls berührt werden 
müssen, um einige Anhaltspunkte zu gewinnen, welche für die Auf¬ 
hellung mancher, mysteriös erscheinender, im Grunde auf sexuelle Ver¬ 
irrungen zurückzuführender Verbrechen von grösster Wichtigkeit sind. 
Die nachfolgenden Untersuchungen werden speciell bezüglich des 
letzterwähnten Punktes die Schwierigkeiten darthun, welche der Ge¬ 
winnung kriminalistisch bedeutungsvoller Gesichtspunkte entgegen¬ 
stehen und werden aus diesem Grunde oft nur Anregungen zu 
weiteren Forschungen bieten. — Die Erfahrungen zu vorstehender 
Arbeit habe ich in meiner nun mehr als 10 jährigen Thätigkeit als Poli¬ 
zeikommissär gewonnen. — 

I. Wesen der Prostitution. 

Bereits in meinem im 8. Bande des Archivs publicirten Aufsatze 
„Polizei und Prostitution“ habe ich meiner Auffassung über das 
Wesen der Prostitution in grossen Zügen Ausdruck gegeben. Diese 
Auffassung wurde auch vonNeisser in seinem Referate, welches er 
der in der Zeit vom 1.—6. September 1902 in Brüssel stattgefundenen 
II. internationalen Conferenz zur Verhütung der Syphilis und der 
venerischen Krankheiten vorgelegt hatte, als richtig bezeichnet. Ich 
habe darauf hingewiesen, dass die Prostitution als ein organischer 

Archiv für Kriminalanthropologie. XI. 1 


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2 


I. Baitmgartex 


Bestandteil des socialen Lebens im Zusammenhänge mit dem gesamm- 
ten socialen Leben weder vom einseitig ethischen, noch einseitig ökono¬ 
mischen oder gar psychopathischen Standpunkte aus begriffen werden 
kann. Uebersieht man diesen Charakter der Prostitution als einer noth- 
wendigen — d. h. sociologisch, nicht teleologisch nothwendigen — durch 
das gesammte sociale Leben und dessen Entwickelung bedingten Erschei¬ 
nung, so verfällt man leicht in den Irrthum, die einzelne Prostituirte als 
ein von gewissenlosen Verführern dem Laster in die Arme getriebenes 
unschuldiges Opfer, oder als ein der wirtschaftlichen Nothlage er¬ 
legenes oder endlich als ein psychopathisches Individuum zu betrachten. 

Die leider am meisten verbreitete, jedoch von der Erkenntniss 
des wahren Wesens der Prostitution sich am weitesten entfernende 
Ansicht ist jene, welche in der einzelnen Prostituirten regelmässig ein 
Opfer der Verführung erblickt und deshalb die Befreiung der Verirrten 
fordert Tarnowsky hat in seinem durch die Fülle treffendster Be¬ 
obachtungen sich auszeicbnenden Buche „Prostitution und Abo¬ 
litionismus“ an der Hand reicher statistischer Daten gezeigt, wie 
die an Prostituirten unternommenen sogenannten Besserungsversuche 
fast ausnahmslos scheitern, und dass alle hierauf abzielenden Be¬ 
strebungen ihren Zweck selbst in jenen einzelnen Fällen verfehlen, in 
welchen es gelingt, der Prostituirten eine behagliche, vom mora¬ 
lischen Standpunkte einwandfreie Existenz zu sichern. Die Prostituirte 
kehrt — über kurz oder lang — immer wieder zu ihrem alten Ge¬ 
werbe zurück. Naturam expellas furca, tarnen usque recurret Die 
Magdalenenstifte, wie die in manchen Städten bestehenden Besserungs¬ 
häuser genannt werden, haben trotz ihrer zumeist vortrefflichen Orga¬ 
nisation keine nennenswerthen Erfolge nachzuweisen. Auch sonstige 
auf die Besserung Prostituirter abzielende Bestrebungen prallten nutz¬ 
los ab. So wird in Wien von der Stellung einer minderjährigen 
Frauensperson unter sittenpolizeiliche Controle stets das zuständige 
Vorraundschaftsgericht verständigt. Das Gericht verfügt in der Regel, 
dass der Prostituirten das Gesundheitsbuch entzogen und derselben 
unter Androhung ihrer Abgabe in eine Besserungsanstalt eine Frist 
zum Nachweise eines redlichen Erwerbs ertheilt werde. Die praktische 
Consequenz dieser Verfügung ist die, dass die Prostituirte entweder 
Wien verlässt und im Auslande der Controle sich unterstellt, oder aber, 
und dies ist zumeist der Fall, nach einiger Zeit nach Wien zurück¬ 
kehrt und, jeder polizeilichen Aufsicht sich entziehend, der geheimen 
Prostitution verfällt. In den seltensten, praktisch gar nicht in Betracht 
kommenden Fällen wendet sich die gewesene Prostituirte einem red¬ 
lichen Erwerbe zu. Aus der Fülle meiner Beobachtungen will ich 


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Die Beziehungen der Prostitution zum Verbrechen. 


3 


nur ein besonders drastisches Beispiel anführen, welches die Nutz¬ 
losigkeit noch so ernster und wohlgemeinter Besserungsversuche in's 
hellste Licht zu rücken vermag. 

Vor einigen Jahren wurde eine Frau in einer sehr frequenten 
Strasse von einem Polizeiorgane angehalten, weil sie in Begleitung 
ihrer 13 Jahre alten Tochter vorübergehende Männer in unzweideu¬ 
tiger Art an sich lockte. Die Untersuchung ergab, dass die Mutter 
selbst die Prostitution ausgeübt hat, und zwar im Beisein der Tochter, 
welche, völlig entkleidet, dem Unzuchtsacte der Mutter Zusehen und 
von deren Besuchern sich schänden lassen musste. Zuweilen wurde 
mit dem Kinde selbst der Coitus vollzogen. Bei einem solchen An¬ 
lasse acquirirte das junge Geschöpf Lues. Während die Mutter dem 
Gerichte eingeliefert worden ist, wurde die Tochter — nach erfolgter 
Genesung — in eine Besserungsanstalt abgegeben, wo ihr eine be¬ 
sonders liebevolle und sorgfältige Behandlung zu Theil geworden ist. 
Nach dreijährigem Aufenthalte in der Anstalt, woselbst man sich be¬ 
sondere Mühe mit der sittlichen Erziehung gegeben hatte, trat das 
Mädchen, dessen Mutter inzwischen im Kerker gestorben war, angeb¬ 
lich „gebessert“ aus. Bereits nach Verlauf weniger Monate meldete 
sich das Mädchen mit der Bitte, unter sittenpolizeiliche Controle ge¬ 
stellt zu werden, obwohl ihm Gelegenheit zu redlichem Erwerbe ge¬ 
boten war. Charakteristisch ist dieser Fall auch dadurch, dass für 
die Rückkehr des Mädchens zur Prostitution nicht die Erinnerung an 
das scheinbare Wohlleben als Prostituirte bestimmend sein konnte, da 
es in frühester Jugend der gewissenlosen Mutter nur als Ausbeutungs¬ 
object diente und ihm als Erinnerung an die Prostitution nur die er¬ 
worbene Lues zurückgeblieben ist 

Nicht minder einseitig, wenn auch der Wahrheit etwas näher 
kommend, ist jene Ansicht, welche in der Prostituirten ein, der wirt¬ 
schaftlichen Noth zum Opfer gefallenes Individuum erblickt. Jeder¬ 
mann, welcher vermöge seiner ärztlichen Thätigkeit, oder vermöge 
seines amtlichen Berufes, genöthigt ist, in die Verhältnisse der Pro¬ 
stituirten tieferen Einblick zu gewinnen, wird wissen, dass bei einer 
Unzahl Prostituirter nicht die Noth als Ursache der Hingabe an das 
Laster bezeichnet werden kann. Es ist ein Irrthum, zu glauben, dass 
das Schandgewerbe vermöge des mit demselben angeblich verbundenen 
mühelosen Erwerbes und Wohllebens die verworfenen Frauenspersonen 
an sich locke. Ein verhältnissmässig nur geringer Procentsatz der 
Prostituirten lebt thatsächlicb in anscheinendem Wohlstände, während 
die bei Weitem überwiegende Mehrzahl in unsagbarem, wirtschaft¬ 
lichem Elende, welches sogar jenes der niedersten Magd oder Tag- 

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4 


I. Baumgarten 


löhnerin übertrifft, schmachtet Wie viele dieser Geschöpfe müssen 
Tag und Nacht, ohne Rücksicht auf die Unbill der Witterung, noth- 
dürftig bekleidet, in den Strassen herumstreichen, um schliesslich von 
einem etwa betrunkenen Passanten nach Hause geleitet zu werden? 
Der empfangene Schandlohn wandert zumeist in die Tasche der die 
Prostituirte völlig ausbeutenden Kupplerin oder aber in den niramer- 
satten Rachen des Zuhälters. Von dem Heere jener Prostituirten, 
welche, ohne bestimmten Unterstand, während der nächtlichen Stunden 
in Parkanlagen und in der Nähe von Brücken herumstreichen und 
froh sind, wenn sie gegen ein geringes Schandgeld die oft absonder¬ 
lichen Lüste vorübergehender Wüstlinge befriedigen können, will ich 
gar nicht reden. Diese in der Wiener Prostituirtensprache „Stangel- 
putzerinnen“ genannten Dirnen führen, oft Monate lang ohne Obdach, 
das kümmerlichste Dasein. Diese vorangeführte, auf langjähriger Er¬ 
fahrung beruhende Schilderung möge endlich dem weit verbreiteten 
Irrthume, dass die Mehrzahl der Prostituirten einer Grossstadt im 
scheinbaren Wohlstände lebe, den Boden entziehen. 

Wohl bildet in den meisten Fällen die Noth jenes Agens, welches 
die Wirkung der bereits vorhandenen Ursache auslöst, so dass 
allerdings, bei oberflächlicher Betrachtung, dieses Agens mit der viel 
tiefer liegenden, wie bereits oben angedeutet, in der Entwicklung des 
gesammten socialen Lebens begründeten Ursache der Prostitution 
verwechselt wird. 

Die richtige Erkenntniss, dass weder die Verführung, noch die 
wirthschaftliche Noth die Prostitution, wie sie sich uns als zwar sehr 
bedauerliche, doch naturgesetzlich nothwendige Erscheinung des socialen 
Lebens darstellt, verursachen, da einerseits die an Prostituirten unter¬ 
nommenen Besserungsversuche zumeist scheitern, andererseits zahl¬ 
reiche Personen der Prostitution verfallen, bezw. in derselben verharren, 
obwohl sie genügend Gelegenheit zum redlichen Erwerbe hätten und 
obwohl sie in vielen Fällen durch die Prostitution vor Noth nicht 
geschützt werden, bat zur Auffassung der Prostituirten als eines 
psychopathischen Individuums geführt So entstand, gleich dem 
Lombroso’schen „delinquente nato“, der Begriff der geborenen 
Prostituirten, als einer anatomisch und psychisch vom normalen Men¬ 
schen sich unterscheidenden anthropologischen Species. Aehnlicb wie 
Lombroso, setzt Tarnowsky, welcher als hauptsächlichster Ver¬ 
treter der erwähnten Richtung erscheint, bei der Prostituirten nicht 
bloss angeborenen moralischen Defect, angeborene Lasterhaftigkeit, 
sondern auch anatomische Verschiedenheiten voraus. Diese, auf un¬ 
zuverlässigen statistischen Daten und auf unwissenschaftlicher Gene- 


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Die Beziehungen der Prostitution zum Verbrechen. 


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ralisirung von Einzelfällen beruhende Theorie ist gleich der Lom- 
broso’schen Lehre, welche die neue Strafrechtswissenschaft trotz 
mancher werthvoller Einzelerkenntnisse über Bord geworfen hat, 
hinfällig. Schon durch die nothgedrungene, jedoch willkürliche Ein¬ 
schränkung, wonach jene Prostituirten, bei welchen die specifischen 
Degenerationszeichen nicht wahrnehmbar sind, keine „eigentliche“ 
Prostituirte, sondern nur „zufällige“, sogenannte Gelegenheitsprostituirte 
seien, wird der Werth der Hypothese bedeutend gemindert. Dass psycho¬ 
pathische, mit angeborenen moralischen und anatomischen Defecten 
behaftete Individuen, deren Existenz selbstverständlich nicht in Zweifel 
zu ziehen ist, am leichtesten und am wahrscheinlichsten der Prostitution 
verfallen werden, ist wohl richtig, berechtigt aber nicht zu der, auf 
dem unrichtigen a minori ad majus gezogenen Schlüsse beruhenden 
allgemeinen Erklärung der Prostitution als einer in das Gebiet der 
Psychopathie fallenden Erscheinung. 

Wir können die Prostitution nur als Gesammterscheinung im Zu¬ 
sammenhalte mit dem gesammten socialen Leben und dessen Ent¬ 
wicklung begreifen und dürfen auch die Prostituirte als solche nicht 
in ihrer Eigenschaft als isolirtes Einzelindividuum, sondern nur 
als Glied einer socialen Gruppe, welcher sie angehört, betrachten. 

Sehen wir uns einmal die Bevölkerungsschichten, aus deren An¬ 
gehörigen sich die Prostituirten recrutiren, genauer an; Von 1721 Pro¬ 
stituirten waren vor Eintritt in die Prostitution 58 Proc. Dienstmädchen, 
16 Proc. Handarbeiterinnen, 14 Proc. Cassirinnen, 57*2 Proc. Fabrik¬ 
arbeiterinnen, 0,38 Proc.Comptoiristinnen, 0,36 Proc. Bonnen, 0.28 Proc. 
Sängerinnen; der restliche Theil recrutirte sich aus ehemaligen Fri- 
seurinnen und Modellen. 

Alle diese Prostituirte haben, zumeist in den ärmlichsten Verhält¬ 
nissen aufgewachsen, eine äusserst vernachlässigte Erziehung genossen 
haben — zuweilen als Zeugen der Unmoral der Eltern — den sitt¬ 
lichen Werth der Keuschheit, sowie den Begriff der Geschlechtsehre 
nicht kennen gelernt, und haben es, in Folge der in ihrem allernächsten 
Kreise herrschenden Ungezwungenheit der gegenseitigen Beziehungen 
der Geschlechter, alsbald als ihr natürliches Recht betrachtet, über 
ihren Körper frei zu verfügen. Diese mit geringer moralischer Wider¬ 
standskraft ausgestatteten Personen müssen zwar als zur Prostitution 
veranlagt bezeichnet werden, jedoch ist — und hierin besteht der 
fundamentale Gegensatz zur Lombroso-Tarnowsky 7 schen Lehre — 
diese Disposition keine angeborene, oder, um mich eines Ausdruckes 
Tarnowsky’s zu bedienen, keine in der „inneren Organisation“ 
selbst gelegene, vielmehr muss diese Veranlagung, die verhältniss- 


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I. Baümgabtex 


massig geringen Fälle psychopathischen Charakters ausgenommen, 
als eine erst an erzöge ne bezeichnet werden. Dass diese, ursprünglich 
nicht angeborene Disposition mit der Zeit bei der Prostituirten 
bleibende und vererbbare Structurveränderangen hervorzubringen 
im Stande ist, mag wohl richtig sein, ja ich wäre sogar geneigt, die 
von Wundt in seinem System der Philosophie enthaltene Bemerkung, 
dass die regelmässige Bethätigung des Menschen eine Disposition 
hinterlässt, welche in dem Organismus als Habitus fixirt wird und 
bleibende, durch Vererbung übertragbare Structurveränderungen her¬ 
vorbringt, auch als für die Prostituirte giltig, ohne Weiteres zu accep- 
tiren. Thatsächlich bemerken wir bei Frauenspersonen, welche längere 
Zeit die Prostitution ausüben, einen gewissen Habitus, welcher dem 
Kenner die Beschäftigung des betreffenden Individuums sofort verräth. 
Glücklicher Weise sind die meisten Prostituirten kinderlos und ver¬ 
mögen daher ihre erworbene Disposition durch Vererbung nicht zu 
übertragen. 

Seit frühester Jugend von den äusseren Lebensbedingungen der 
erwähnten Art umgeben, bedarf es nur einer geringen äusseren 
Veranlassung, um diese jugendlichen Personen der Prostitution, für 
welche sie prädisponirt erscheinen, zuzuführen. Sie erblicken in der 
Prostitution selbst nichts Schimpfliches und büssen auch innerhalb 
ihres bisherigen Milieus, wo die Geschlechtsehre nur als ein imaginäres 
Gut erscheint und die Bethätigung der Tugend sich höchstens in der 
Nichtverletzung der fremden Rechts-, speciell der Eigenthumssphäre 
äussert, an der Achtung in ihrem Bekanntenkreise nichts ein. Es 
giebt zahlreiche Prostituirte, welche in ausgiebiger Weise für ihre 
Angehörigen sorgen, ja gewisse, mit ihrem Schandgewerbe anscheinend 
unvereinbare, moralische Anwandlungen zeigen, — ein Zeichen, dass 
sie sich des unmoralischen Charakters der Hingabe ihres Körpers an 
den Erstbesten gar nicht bewusst sind. Hierin liegt auch einer der 
Hauptgründe, warum Bekehrungsversuche, welche an Prostituirten 
unternommen werden, fruchtlos sind. Während der Verbrecher der 
Rechtswidrigkeit seiner Handlungsweise sich regelmässig wohl be¬ 
wusst ist, begreift die Prostituirte es nicht, warum es ihr verwehrt 
sein soll, über ihren eigenen Körper nach freiem Willen zu verfügen. 
Ihr leuchtet ein, dass sie nicht stehlen dürfe und dass sie hiermit die 
Rechtssphäre eines Anderen verletze, sie hat jedoch kein Verständniss 
dafür, dass sie im geschlechtlichen entgeltlichen Verkehre mit den sie 
selbst begehrenden Männern beschränkt werden soll. Die Rechts- 
parömie „Volenti non fit injuria“ schlummert, ich möchte sagen, im 
Unterbewusstsein der Prostituirten. 


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Die Beziehungen der Prostitution zum Verbrechen. 


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An dieser Stelle wäre noch in aller Kürze jener Bestrebungen zu 
gedenken, welche den Schutz der verwahrlosten Jugend betreffen. 
Auf diesem Gebiete bricht sich allmählich die Erkenntniss Bahn, dass 
es in erster Linie darauf ankomme, die Jugend vor drohender 
Verwahrlosung zu schützen, also die Entstehung bezw. die Entwick¬ 
lung der kriminellen Anlage zu hindern, und dass es bei der Errich¬ 
tung von Besserungsanstalten für bereits verwahrloste jugend¬ 
liche Personen nicht sein Bewenden haben dürfe. Von diesem Stand¬ 
punkte geht auch das treffliche preussische Fürsorge-Erziehungsgesetz 
vom 2. Juli 1900 aus. 

In Oesterreich haben einige in jüngster Zeit stattgefundene, Auf¬ 
sehen erregende Processe gegen ihre Kinder roh misshandelnde 
Eltern das öffentliche Bewusstsein kräftig aufgerüttelt. Die Behörden, 
besonders die Justiz- und Polizeibehörden, fördern in hervorragendster 
Weise die Ziele der in Wien gegründeten Kinderschutz vereine, welche 
bestrebt sind, die Kinder vor eintretender Verwahrlosung aus den 
sie umgebenden, schädlich wirkenden Verhältnissen zu befreien. Dank 
der Förderung der genannten Behörden entwickeln diese Vereine seit 
ihrem kurzen Bestände eine segensreiche Thätigkeit. Insbesondere 
hat auch das österreichische Justizministerium in mehreren Erlässen 
den Schutz der Kinder als vornehmste und wichtigste Aufgabe der 
Pflegschaftsbehörden bezeichnet. Zu einer vollkommen erspriesslichen 
Thätigkeit ist allerdings noch nothwendig, dass die Bevölkerung stets 
über die Wichtigkeit des Kinderschutzes aufgeklärt werde und selbst, 
von der Ueberzeugung der Nothwendigkeit dieses Schutzes durch¬ 
drungen, an der Verwirklichung des angestrebten Zweckes im Vereine 
mit den in Betracht kommenden staatlichen Factoren mitwirke. Durch 
das hoffentlich in absehbarer Zeit zu Stande kommende Kinderfür¬ 
sorgegesetz wird auch Oesterreich in die Reihe jener Staaten treten, 
welche, wie England, Frankreich und Deutschland, auf dem Gebiete 
der staatlichen Fürsorgeerziehung hervorragende Leistungen nachzu¬ 
weisen haben. Speciell bezüglich der Schilderung der englischen 
Zwangserziehung und deren geradezu erstaunliche Resultate möchte 
ich hier auf die ausgezeichnete, ein reiches Zahlenmaterial enthaltende 
Schrift von Adolf Lenz „Die Zwangserziehung in England“ verweisen. 

Aus dem Gesagten erhellt wohl zur Genüge, dass es eine von 
vornherein ihren Zweck verfehlende Maassregel ist, wenn man durch 
Abgabe minderjähriger Prostituirter in Besserungsanstalten, oder aber 
durch Untersagung der Stellung Minderjähriger unter polizeiliche 
Controle eine sittliche Besserung erhofft. Wiewohl auch für die Ver¬ 
minderung der Kriminalität der Jugend in erster Linie jene Fürsorge, 


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I. BaUMGAJtTEN 


welche die Abwendung drohender Verwahrlosung bezweckt, viel 
erfolgreicher ist, als die versuchte Besserung bereits verwahrloster, 
mit dem Strafgesetze schon in Conflict gerathener, jugendlicher Per¬ 
sonen, sind dennoch letztere Versuche bei rationell eingerichtetem 
Strafvollzüge und bei entsprechend organisirten, mehr dem Charakter 
von Erziehungs- als Strafanstalten sich nähernden Besserungshäusern, 
nicht als unnütz zu bezeichnen und zwar letzteres deshalb, weil der 
jugendliche Verbrecher in der Regel der Rechtswidrigkeit seiner Hand¬ 
lungsweise sich bewusst ist und nur zu willensschwach ist, um den 
sittlichen Motiven gegenüber jenen, welche ihn zum Verbrechen 
drängen, das Uebergewicht zu verschaffen. Ganz anders verhält sich, 
wie ich bereits oben angedeutet habe, die Sache bei der jugendlichen 
Prostituirten, welcher der Begriff und das Wesen der Geschlechtsehre 
überhaupt nicht zum Bewusstsein gelangt. Hierzu kommt noch, dass 
die Geschlechtsehre nur so lange sie völlig unberührt ist, nach den 
herrschenden sittlichen Anschauungen, moralischen Werth besitzt und 
dass die einmal der Prostitution verfallen gewesene Frauensperson in 
den Augen der Mitwelt stets geächtet bleibt. Auf dem Gebiete der 
Prostitution ist es daher vor Allem nothwendig, Institutionen zu schaffen 
und Bestrebungen zu fördern, welche — die Axt an die Wurzel des 
Uebels legend — bezwecken, den Zufluss zur Prostitution durch 
ausreichende Fürsorge für solche jugendliche, weibliche Personen zu 
vermindern, welchen in Folge der sie umgebenden, äusseren Lebens¬ 
bedingungen die sittliche Verwahrlosung droht Es würde den 
Rahmen dieser Abhandlung überschreiten, wenn ich hier die speciellen 
Mittel, durch welche der vorerwähnte Zweck erreicht werden könnte, 
eingehend erörtern wollte. Dass eine solche Fürsorge dringend nöthig 
ist, erhellt aus der grossen Zahl minderjähriger Prostituirter. Um 
jedoch die richtige Auffassung über die grosse Anzahl minorenner 
Prostituirter zu erlangen, genügt es nicht, bloss die Listen der bei der 
Polizei Inscribirten zu vergleichen, vielmehr ist es nothwendig, das 
grosse Heer der geheimen Prostituirten zu überblicken. Während 
nämlich unter 1000 inscribirten Frauenspersonen bloss 16 Proc. 
unter 21 Jahren alt waren, erreicht der Procentsatz bei 1000 auf ge¬ 
griffenen geheimen Prostituirten die stattliche Ziffer 52,7 Proc. 
Also mehr als die Hälfte von 1000 angehaltenen, geheimen Prosti¬ 
tuirten war unter 21 Jahren, hierunter waren: 

Jahre ... 13 14 16 17 18 19 20 

Prostituirte . . 4 19 94 97 111 119 83 

Da wir die meisten minderjährigen Prostituirten nicht als verführte 
unschuldige Opfer betrachten dürfen, sondern als Grundursache der Prosti- 


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Die Beziehungen der Prostitution zum Verbrechen. 


9 


tution die durch äussere Lebensbedingungen und vernachlässigte Er¬ 
ziehung veranlasste sittliche Verwahrlosung bezeichnen müssen, werden 
wir grundsätzlich alle jene Massnahmen, welche im Wege versuchter 
Bekehrung der Prostituirten das Uebel zu bekämpfen trachten, nur in 
jenen, verhältnissmässig nicht allzu zahlreichen Fällen für begründet er¬ 
achten, in welchen nachweisbar nicht sittliche Verwahrlosung, sondern 
lediglich Verführung vorliegt, oder wo es sich bloss um eine sogen.Gelegen- 
heitsprostituirte bandelt, welche nur temporär, während der Zeit ihrer 
Arbeitslosigkeit, der Prostitution sich ergiebt. Im Uebrigen wird, 
wenn — was die Regel ist — vollständige sittliche Verwahrlosung 
auf Grund der früheren Lebensverhältnisse, unter welchen ein der 
Prostitution ergebenes Mädchen sich befand, vorliegt, die nicht 
besserungsfähige minderjährige Prostituirte — schon aus Gründen der 
Hygiene — genau so zu behandeln sein, wie die grossjährige. In 
richtiger Erkenntniss des Wesens der Prostituirten hat auch Neisser 
diesen letzteren Satz der oben erwähnten II. internationalen Conferenz 
in Brüssel als zu beschliessende These vorgelegt. Aus den angeführten 
Gründen muss daher die Bestimmung des dänischen Gesetzes vom 
1. März 1895, wonach Frauenspersonen unter 18 Jahren der Aufent¬ 
halt in öffentlichen Häusern verboten ist, als verfehlt betrachtet werden. 

Um der Verführung jugendlicher Personen zur Unzucht zu 
steuern, ist eine strenge Handhabung der Bestimmungen über Kuppe¬ 
lei, sowie eine energische Bekämpfung des Mädchenhandels noth- 
wendig. Allerdings darf hier nicht verschwiegen werden, dass die be¬ 
stehenden, auf Kuppelei sich beziehenden Bestimmungen des öster¬ 
reichischen Strafgesetzes unzureichend sind, und dass es insbesondere 
nothwendig wäre, eine dem $ 48 des deutschen Auswanderungsgesetzes 
vom 9. Juni 1897 analoge Bestimmung, welche den Mädchenhandel 
als selbstständiges Debet erfasst, aufzunehmen. Der citirte Para¬ 
graph bestraft mit Zuchthaus bis zu 5 Jahren und mit Verlust der 
bürgerlichen Ehrenrechte die Verleitung einer Frauensperson zur Aus¬ 
wanderung zu dem Zwecke, sie der gewerbsmässigen Unzucht zuzu- 
fübren, mittelst arglistiger Verschweigung dieses Zweckes. Mit Rück¬ 
sicht darauf, dass die einzelnen, Delictsmomente bildenden Tbathand- 
lungen regelmässig auf Territorien mehrerer verschiedener Staaten 
sich abspielen, wäre die Zusicherung internationaler Rechts¬ 
hilfe eine conditio sine qua non der erfolgreichen Bekämpfung des 
Mädchenhandels. Die Nothwendigkeit solcher internationaler Rechts¬ 
hilfe wurde auch von den beiden im Jahre 1902 in Paris und in 
Frankfurt a. M. stattgefundenen, mit der Frage des Mädchenhandels 
sich befassenden Congressen nachdrücklich st betont. 


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10 


I. Baumgarten 


1 


II. Kriminelle Veranlagung der Prostituirten. 


Eine statistische Zusammenstellung der im Zeiträume von 3 Jahren 
— und zwar standen mir die Jahre 1896, 1887 und 1898 zur Ver¬ 
fügung — wegen anderer Delicte, als blosser Uebertretung der sogen. 
Prostitutionsvorschriften, bestraften Prostituirten, wird die längst be¬ 
kannte, jedoch nicht genügend gewürdigte Thatsache, dass nur ein 
äusserst geringer Procentsatz der Prostituirten mit dem Strafgesetze, 
speciell mit den zum Schutze des Eigenthums erlassenen Bestimmungen 
in Conflict geräth, ziffermässig illustriren. 

Bei einer Gesammtzahl von 2400 Prostituirten wurden bestraft: 



In den Jahren: 

Wegen 




18% 

1897 

1898 

Oeffentlicher Gewalttätigkeit. 

i 

_ 

1 

Verleitung zum Missbrauch der Amtsgewalt . . 

1 

— 

1 

Schwerer körperlicher Beschädigung .... 

— 

— 

5 

Raufhandels. 

s 

6 

1 

Wachbeleidigung. 

12 

16 

11 

Boshafter Sachbeschädigung. 


1 

l 

Verbrechen des Diebstahls. 

— 

— 

3 

Verbrechen der Veruntreuung. 


1 

6 

Verbrechen des Betruges. 

— 

_ 

2 

Uebertretung des Diebstahls. 

8 

3 

10 

Minderer Veruntreuungen und Betrügereien . . 

! 2_ 

3 

— 

Zusammen: 

32 

30 

41 


Unter den vorangeführten Ziffern fällt insbesondere der, im Ver- 
hältniss zu 2400 Prostituirten äusserst geringe, fast gar nicht in Be¬ 
tracht kommende Procentzatz der gegen die Sicherheit des Eigenthums 
sich vergehenden Prostituirten auf. Dies ist bemerkenswert!» und be¬ 
darf um so mehr einer Erklärung, weil einerseits, wie meine Aus¬ 
führungen über das Wesen der Prostitution ergaben, den Prostituirten 
im Hinblicke auf ihre vernachlässigte Erziehung eine sehr geringe 
moralische Widerstandskraft eignet, andererseits, weil gerade der Prosti¬ 
tuirten in Folge ihres häufigen, wahllosen geschlechtlichen Verkehrs 
mit verschiedenen Leuten wiederholt die denkbar günstigste Gelegen¬ 
heit, speciell zur Bestehlung ihrer Besucher, sich bietet. Diese Ge¬ 
legenheit ist um so verlockender, als in zahlreichen Fällen der die 
Prostituirte frequentirende Mann alkoholisirt ist, sich daher event. gar 
nicht bewusst wird, dass ihm ein Theil seiner Baarschaft gestohlen 
wurde und überdies in vielen Fällen die Prostituirte mit Grund er¬ 
warten könnte, dass der Bestohlene die Anzeige bei der Behörde zu 
erstatten aus Scham unterlassen würde. Dass wirklich nur eine ver- 


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Die Beziehungen der Prostitution zum Verbrechen. 


11 


schwindend geringe Zahl Prostituirter diebisch veranlagt ist, erhellt 
übrigens nicht bloss aus den angeführten Ziffern, welche einerseits sich 
nur auf die inscribirten Prostituirten, andererseits nur auf jene Fälle 
beschränken, welche der Behörde zur Kenntniss gelangt sind, sondern 
auch aus der die Wahrheit obigen Satzes stützenden Erfahrung, dass 
in den seltensten Fällen Prostituirte in ihrem Unterstände, wo sie oft 
Zutritt zu den Effecten ihrer Mitbewohnerinnen oder ihrer Ver- 
mietherinnen haben, Diebstähle verüben. Solche Diebstähle würden 
jedenfalls zur Anzeige gebracht werden. Hierzu kommt noch, dass 
es sich durchaus nicht selten ereignet, dass Prostituirte Pretiosen oder 
Raarbeträge, welche unbekannte Besucher bei ihnen vergessen, frei¬ 
willig bei der Behörde deponiren, und zwar auch in Fällen, wo 
nach der concreten Sachlage die Entdeckung des Diebstahls zweifel¬ 
haft wäre. 

Ist die auch kriminalpsychologisch höchst interessante Thatsache 
der verschwindend geringen kriminellen Veranlagung der Prostituirten 
etwa auf einen diesen innewohnenden Sinn für Rechtlichkeit zurück¬ 
zuführen? 

Wiewohl ich bereits oben angedeutet habe, dass die moralische 
Verworfenheit der Prostituirten zum Theile auch darauf beruht, dass 
sie sich des schimpflichen Charakters ihres Gewerbes gar nicht be¬ 
wusst sind und dass aus dieser Thatsache nicht auch auf den 
Mangel des Bewusstseins der Grenze zwischen Recht und Unrecht 
geschlossen werden kann, wird es wohl Niemandem ernstlich ein¬ 
fallen, die geringe kriminelle Veranlagung der Prostituirten mit deren 
Sinn für Rechtlichkeit zu begründen. Diese Begründung wäre um so 
nichtiger, als nicht übersehen werden darf, dass die Prostituirte in 
Fortsetzung ihres Schandgewerbes auch des etwa zur Zeit, als sie sich 
der Prostitution ergab, noch vorhandenen geringen Restes moralischer 
Widerstandskraft völlig verlustig geht. 

Wir müssen also eine andere Erklärung der merkwürdigen That¬ 
sache suchen. Die von Vielen vertretene Ansicht, dass für die Prosti¬ 
tuirte die Prostitution Das ist, was für den verkommenen Mann das 
Verbrechen, oder deutlicher ausgedrückt, dass die Prostitution den 
Ersatz für das Verbrecheu bildet, dass daher für die Prostituirte, 
weil vom Ertrage des Unzuchtsgewerbes lebend, kein ausreichendes 
Motiv zur Verübung von Verbrechen, insbesondere Diebstählen, vor¬ 
handen sei, ist schon deshalb unrichtig, weil sie eine petitio principii 
enthält, nämlich die keineswegs der Wahrheit entsprechende Prämisse, 
dass das Schandgewerbe der Prostituirten ein genügendes Erträgniss 
abwerfe. In Wahrheit ist die wirtschaftliche Situation der Prosti- 


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12 


I. B A IMG ARTEN 


tuirten keineswegs eine solche, um hieraus den Schluss ziehen zu 
können, dass in der Prostituirten das Verlangen, sich fremdes Gut 
rechtswidrig anzueignen, nicht entstehen könne. Derjenige Theil der 
Prostituirten, welchen das Unzuchtsgewerbe ein beträchtliches Erträg- 
niss abliefert, bildet für die Vermietherin das willkommenste Objekt 
maassloser Ausbeutung, und nur in den seltensten Fällen gelingt es 
einer Prostituirten, für sich selbst eine Summe zu ersparen, die sie in 
Stand setzen würde, sich vom wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhält¬ 
nisse zur Vermietherin zu emancipiren und selbst in den Stand der 
Kupplerinnen „hinaufzusteigen“. Die meisten Prostituirten sind beim 
DomicilsWechsel so armselig, wie zur Zeit, als sie das Domicil be¬ 
zogen, nur oft mit dem Unterschiede, dass sie noch Schulden zurück¬ 
lassen, zu deren Deckung ihre geringen Habseligkeiten der Ver¬ 
mietherin verbleiben. Hiezu kommt noch, dass jene Prostituirten, 
welchen es ausnahmsweise gelingt, mehr, als sie der Vermietherin 
zahlen müssen, zu erwerben, diesen Ueberschuss entweder in leicht¬ 
sinnigster Weise vergeuden, oder aber in die Tasche ihrer Zuhälter 
fliessen lassen. Die oft an Naivetät grenzende Unerfahrenheit in 
wirthBchaftlichen Dingen, sowie die in Folge geistiger und moralischer 
Beschränktheit zu Tage tretende Vertrauensseligkeit tragen auch dazu 
bei, dass die Prostituirte regelmässig nichts für sich selbst zu erübrigen 
vermag. Der auffallendste und zugleich für das Wesen der Prosti¬ 
tuirten höchst charakteristische Umstand ist jedoch, dass sie sich gar 
nicht dessen bewusst sind, von der Vermietherin ausgebeutet zu wer¬ 
den und dass sie sogar gegen den Versuch einer Abhilfe sich wehren. 

Als Beleg hierfür diene folgendes Beispiel: ln einem Bordelle, 
in welchem beiläufig 15 Prostituirte untergebracht waren, wurde der 
Schandlohn für jeden einzelnen, mit der Prostituirten verübten Unzuchts¬ 
akt von der Vermietherin eincassirt Diese pflog dann wöchent¬ 
lich mit der einzelnen Prostituirten in der Weise Abrechnung, dass 
sie zunächst die Hälfte des Schandlohnes für sich behielt, sodann 
von der anderen Hälfte den pro Tag mit 10 Kronen berechneten 
Betrag für Kost und Wohnung abzog und erst den etwa verbleiben¬ 
den Ueberschuss der Prostituirten ausfolgte. Selbstverständlich ergab 
sich oft nicht nur kein Ueberschuss, sondern vielmehr ein Deficit 
zum Nachtheile der Prostituirten, welches ihr dann für die nächste 
Woche zu Lasten geschrieben worden ist. Von dem allfälligen Ueber- 
schusse musste die Prostituirte ihren Bedarf an Wäsche, Kleidern und 
dgl. mehr decken. In vorstehendem Falle musste daher die Prosti¬ 
tuirte mindestens 20 Kronen täglich erwerben, um nur ihren Ver¬ 
pflichtungen gegenüber der Vermietherin nachzukommen, hatte aber 


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Die Beziehungen der Prostitution zum Verbrechen. 


13 


noch nichts für Wäsche, Beschuhung und Bekleidung. Wenn die 
Prostituirte das Bordell verliess, wurde allerdings — nach dem mit 
derVermietherin getroffenen Uebereinkommen — die Schuld als getilgt 
betrachtet. Als den erwähnten Prostituirten von maassgebender Seite 
die Aussicht eröffnet würde, sich von dem Sklavenjoche dadurch be¬ 
freien zu können, dass die Vermietherin verhalten würde, auf die 
ohne jedes Aequivalent empfangene Hälfte des Schandlohnes zu ver¬ 
zichten, und sich mit einem, von vornherein mit der Prostituirten ver¬ 
einbarten, fixen täglichen Miethzins zu begnügen, waren es die 
Prostituirten, welche überhaupt nicht begreifen wollten, dass sie aus¬ 
gebeutet werden, und welche sich gegen die, ihr wirthschaftliches 
Abhängigkeitsverhältniss mildernde Verfügung ernstlich sträubten. Die 
Begründung dieses Widerstandes der Prostituirten ist psychologisch 
merkwürdig: Bei dem gewohnten Modus der Bezahlung brauchten 
sie sich, sagten die Prostituirten, um nichts zu kümmern, denn wenn 
sie wenig oder nichts verdienen, bekomme auch die Vermietherin wenig 
oder nichts, während sie bei dergeänderten Zahlungsweise von vornherein 
mit einem bestimmten Betrage verpflichtet wären, den sie unter allen 
Umständen zahlen müssten. Mit anderen Worten: Die Prostituirten 
wollten nicht einmal jenes geringe Maass von Energie aufwenden, 
welches erforderlich wäre, wenn sie selbst über das Erträgniss ihres 
Gewerbes Rechnung führen müssten. Sie wollten gar nichts zu 
thun haben und Alles, sogar die Auftheilung des Geldes, sollte von 
der Vermietherin besorgt werden. Es genügte ihnen, dass sie der 
Sorge um Wohnung und Verköstigung enthoben waren und sich um 
nichts zu kümmern brauchten. Hiermit ist aber nur jener Theil der 
Prostituirten gekennzeichnet, welchen das Erträgniss des Schandge- 
werbes wenigstens ein Obdach, sowie die tägliche Nahrung sichert. 

Abgesehen von dieser Classe von Prostituirten, sowie von jener ver¬ 
schwindend geringen — allerdings in Folge ihrer Lebensweise mehr in die 
Augen fallender—Anzahl von Prostituirten, welche ein behagliches Dasein 
zu führen in der Lage sind, giebt es ein grosses Heer Prostituirter, 
welche in den elendesten, kümmerlichsten Verhältnissen leben und 
nicht einmal die nothwendigsten Bedürfnisse zu befriedigen im Stande 
sind. Der Versuch, die geringe kriminelle Veranlagung der Prosti¬ 
tuirten damit zu erklären, dass das Unzuchtsgewerbe der Prostituirten 
ein genügendes Erträgniss abwerfe, ein Erträgniss, welches den An¬ 
reiz zur Verübung von Diebstählen nicht auszulösen vermag, muss 
demnach als misslungen verzeichnet werden. 

Die richtige Erklärung ist — meines Erachtens — weder ethi¬ 
scher, noch, ich möchte sagen, ökonomischer Natur, sie ist vielmehr 


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14 


1. Baumgaktkn 


in dem bereits charakterisirten Wesen der Prostituirten, in deren Psyche 
zu finden. Das Verbrechen — im weitesten Sinne als Bezeichnung 
für die vorsätzliche kriminelle Handlung überhaupt gebraucht — setzt 
nicht nur den auf die Verletzung der fremden Rechtssphäre gerich¬ 
teten Willen voraus, sondern auch die diesen Willen ausführende 
That Die zur That erforderliche Energie mangelt der geistig und 
moralisch unterwertbigen Prostituirten, welche in einem förmlichen 
Dämmerzustände mehr animalisch, als menschlich vegetirt und nicht 
eiomal jene geringe Thatkraft aufzubringen vermag, welche erforder¬ 
lich wäre, um sich im eigensten Interesse des drückenden Joches 
ihrer Ausbeuterinnen, der Kupplerinnen, zu entledigen. Auf diesem 
völligen Mangel jedes Gefühles der Selbstständigkeit und der 
Thatkraft beruht auch, wenigstens theilweise, das Verhältniss der 
Prostituirten zu ihrem Zuhälter. Dieser Mangel an Thatkraft ist 
nicht identisch mit Feigheit Die wenigsten Prostituirten scheuen 
sich, die Nacht mit einem ihnen völlig unbekannten Manne, welcher 
sie auf der Strasse angesprochen hat, in einem einsamen Hotelzimmer 
zu verbringen. 

Weit entfernt davon, das Verhalten der Prostituirten als Muth 
auszulegen, halte ich vielmehr dafür, dass, sowie der Begriff der 
Geschlechtsmoral überhaupt, so auch der Begriff des Muthes und der 
Feigheit zum grossen Theile der Prostituirten mangelt und nur im 
Falle augenscheinlichster, unmittelbarer Gefahr gleichsam in- 
stinctiv zum Vorscheine kommt. Feigheit setzt immerhin den Willen 
zur That voraus, die That unterbleibt nur, weil bei dem Feigling das 
durch die Vorstellung der Folgen der That bez. der die That be¬ 
gleitenden Umstände hervorgerufene Unlustgefühl die Lust zur That 
überwindet. Dieser Kampf beider Gefühle findet bei der Prostituirten 
nicht statt, vielmehr mangelt ihr der Wille zur That und sie zieht es 
vor, ohne Nachdenken im Schlamme fortzuwaten. Wenn wir die 
oben angeführten statistischen Daten näher ansehen, so finden wir, 
dass im Verhältniss zu der gar nicht in Betracht kommenden 
geringen Zahl der von Prostituirten verübten Eigenthumsdelicte jene 
gegen die Autorität der Behörde gerichteten Delicte eine relativ statt¬ 
liche Anzahl auf weisen. So wurden wegen Wachebeleidigung in den 
Jahren 1896, 1897 und 1898: 12, 16 bez. 11 Prostituirte bestraft 
Diese Delicte, welche die Prostituirte verübt, sei es, dass sie alkoholi- 
sirt ist, sei es, dass sie, wegen Uebertretung der Prostitutionsvor¬ 
schriften beanstandet, sich zu exculpiren versucht und hierbei die 
Grenze des Zulässigen überschreitet, haben regelmässig einen Affect- 
zustand des Delinquenten zur thatsächlichen Voraussetzung und be- 


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Die Beziehungen der Prostitution zum Verbrechen. 


15 


ruhen nicht auf einer, wenn auch noch so kurzen, planmässigen Ueber- 
legung, wie die Verübung eines Diebstahls. Diese Delicte sind als 
sogen. Augenblicksdelicte Aeusserungsformen blosser acuter Krimi¬ 
nalität und bedürfen zu ihrer Begehung auch nicht jener, oben ge¬ 
kennzeichneten Thatkraft Aus denselben Gründen erklärt es sich 
auch, dass die Betheiligung der Prostituirten an Excessen und Rauf¬ 
händeln relativ keine so unbedeutende ist, wie deren Theilnahme an 
der Verübung von Eigenthumsdelicten. , 

Um einem Missverständnisse vorzubeugen, muss hier noch einer 
Kategorie von Diebinnen, welche in der Wiener Gaunersprache als 
„Abstiererinnen“ bezeichnet werden, gedacht werden. Es sind dies 
Frauenspersonen, welche die sie besuchenden Männer anlässlich des 
Unzuchtsactes bestehlen. Solche Frauenspersonen besitzt jede Gross¬ 
stadt in beträchtlicher Menge. Diese Thatsache widerlegt keineswegs 
die behauptete, auffallend geringe kriminelle Veranlagung der Prosti¬ 
tuirten. Die erwähnten verbrecherischen Frauenspersonen sind nicht 
diebische Prostituirte, sondern nur Diebinnen, welche unter dem 
Scheine der Prostitution, um eben die Gelegenheit zum Diebstahle 
sich zu verschaffen, die Unzucht betreiben. Das Diebeshandwerk ist 
das primäre, die Prostitution nur das Mittel zur Ausübung des 
Handwerkes. Diese Diebinnen üben auch nicht die Prostitution in 
einem bestimmten Unterstände aus, sondern gehen mit ihrem Opfer, 
welches sie in Vergnügungsetablissements oder auf der Strasse an 
sich gelockt haben, in ein Hotel, um dann dort den Mann während 
des Schlafes zu bestehlen. Gelingt ihnen die That, so verschwinden 
sie, um die Verfolgung zu erschweren, vom Schauplatze für einige 
Zeit, nach deren Verlauf sie abermals ihr Metier auf nehmen. 

III. Kriminalistische Bedeutung der 
Prostitution für die Entdeckung von Verbrechern bezw. 

strafbarer Handlungen. 

Wiewohl die Prostituirte selbst nicht verbrecherisch veranlagt ist 
und auch selten der Theilnahme an von Anderen verübten Verbrechen 
sich schuldig macht, ist sie nichtsdestoweniger für die Sicherheitsbe¬ 
hörde, welche sich mit der Entdeckung der Verbrechen und Ausfor¬ 
schung der Verbrecher zu befassen hat, von nicht zu unterschätzender, 
hoher Bedeutung. Diese Bedeutung ergiebt sich nach zwei verschie¬ 
denen Richtungen. Zunächst ist in Betracht zu ziehen, dass zahlreiche 
Prostituirte einen grossen Theil des Tages — und insbesondere Nacht¬ 
zeit — auf Männerfang ausgehend, auf der Strasse und zwar stets 
nur in wenigen, bestimmten Strassen sich aufhalten, daher in erster 


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16 


I. Baumgakten 


Linie bei jenen Verbrechen, dessen Spuren von der Strasse aus wahr¬ 
nehmbar sind, wie beispielsweise Einbrüche in Geschäftslocale, als 
Auskunftspersonen vorzüglich zu berücksichtigen sind. An das nor¬ 
male Strassenbild gewohnt, fällt der täglich, bezw. allnächtlich den¬ 
selben Strassentheil wiederholt passirenden Prostituirten jede, vom 
einfachen Passanten gar nicht bemerkte Abweichung auf. Auch fällt 
ihr, da sie gewohnt ist, männliche Passanten zu fixiren, um sie zum 
Besuch einzuladen, die Erscheinung eines Mannes auf, welcher wiederholt 
ein und dieselbe Strasse passirt oder in derselben wartet. Ein aus einem 
sonst unbeleuchteten Locale hervordringender Lichtschimmer, kurz 
Umstände, welche der nur gelegentlich Vorübergehende keiner Be¬ 
achtung würdigt, werden die Aufmerksamkeit der Prostituirten erregen. 
Mit Rücksicht auf die geringe Intelligenz der Prostituirten darf jedoch 
nicht damit gerechnet werden, dass die Prostituirte selbst Umstände, 
welche für den Kriminalbeamten von Bedeutung sind, angeben werde. 
Hier ist es Aufgabe der Sicherheitsbehörde, dafür Sorge zu tragen, 
dass einige ihrer Organe mit den persönlichen Verhältnissen der Pro¬ 
stituirten vertraut sind und in stetem Contacte mit diesen stehen. 
Diesen Organen wird es, wenn sie ihre Aufgabe richtig erfassen und 
wenn sie — ohne denunciatorisch oder spionenhaft vorzugehen — 
es verstehen, das Vertrauen der die Behörde ängstlich meidenden 
und fürchtenden Prostituirten zu gewinnen, oft gelingen müssen, durch 
fleissige Umfrage bei Prostituirten, und zwar nicht bloss dann, wenn 
bereits ein Verbrechen entdeckt worden ist, manche wichtige Anhalts¬ 
punkte zur Eruirung eines Verbrechers, ja oft Umstände, welche zur 
Aufdeckung eines noch nicht bekannten Verbrechens führen, in Er¬ 
fahrung zu bringen. Eine Conditio sine qua non ist jedoch hierbei, 
dass ein einträchtiges, verständiges Zusammenwirken der Sittenpolizei 
mit der Sicherheitspolizei bestehe und dass insbesondere erstere die 
sitten polizeiliche Aufsicht bezüglich des Verhaltens der Prostituirten 
auf der Strasse denselben nur dann fühlbar mache, wenn thatsäch- 
lich ein öffentliches Aergerniss erregt worden ist. Insbesondere wird 
eine milde Handhabung der sittenpolizeilichen Aufsicht zur Nachtzeit 
Platz greifen müssen. Es darf auch der nicht unwichtige Umstand 
nicht übersehen werden, dass die Prostituirten, wenn sie häufig, bei 
allen möglichen Anlässen, über Vorgänge auf der Strasse befragt 
werden, selbst in gewissem Grade eine Art Routine in der Wahr¬ 
nehmung und Beobachtung bedenklicher Umstände oder bedenklicher 
Personen erlangen. Mit Rücksicht auf den bekannten Hang der Prosti¬ 
tuirten zur Lügenhaftigkeit, sowie zum unbewussten Uebertreiben werden 
selbstredend die von Prostituirten erhaltenen Auskünfte nicht kritiklos 


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Die Beziehungen der Prostitution zum Verbrechen. 


17 


aufzunehroen sein und wird es insbesondere von Werth sein, wenn 
irgend möglich, einen und denselben Vorfall von mehreren Prostituirten 
sich erzählen zu lassen. 

Auch nach einer zweiten Richtung hin kommen die Prostituirten, 
soweit es sich um die Ausforschung von Verbrechern und die Entdeckung 
strafbarer Handlungen handelt, in Betracht. Eine, speciell in der Gross¬ 
stadt gemachte, bekannte Erfahrung ist, dass viele Verbrecher, um 
sich für einige Zeit der Verfolgung zu entziehen, bei Prostituirten, 
bauend auf deren Leichtgläubigkeit und Vertrauensseligkeit, für einige 
Zeit Aufenthalt nehmen, oder dass sie, um nach verübtem Verbrechen 
sich zu vergnügen und das verbrecherisch erlangte Geld in lustiger 
Gesellschaft zu vergeuden, Prostituirte aufsuchen. Der Prostituirten 
wird es oft möglich sein, gewisse markante Merkmale der Persons¬ 
beschreibung, die normaler Weise gar nicht bemerkt werden, wie 
Tätowirungen am Körper, Muttermale u. dgl. wahrzunehmen. Das 
Verhalten der Sicherheitsorgane wird dasselbe sein müssen, wie es 
bereits geschildert worden ist Allerdings muss bemerkt werden, dass 
es durchaus nicht genügt, sich auf die etwa unter Controle stehenden 
Prostituirten zu beschränken, vielmehr wird es nothwendig sein, dass 
die genannten Organe auch eine grosse Anzahl sogenannter clan- 
destiner Prostituirter kennen, die an Zahl und oft auch an Intelligenz 
die regulären Prostituirten überragen. Von ganz besonderer Bedeu¬ 
tung werden hier jene Mädchen in Betracht zu ziehen sein, welche 
eine anscheinend ehrliche, jedoch in Wahrheit nur als Deckmantel 
der Prostitution dienende Beschäftigung ausüben, so z. B. Blumen¬ 
mädchen, ßuffetdamen in gewissen, von der Lebewelt frequentirten 
Vergnügungsetablissements. Gerade die letztere Kategorie Prostituirter 
unter welchen sich zumeist jüngere Mädchen befinden, welche durch 
den Verkehr mit der Lebewelt einen gewissen sogenannten gesell¬ 
schaftlichen Schliff und einen der regulären Prostituirten nicht eig¬ 
nenden Grad von Intelligenz und Pfiffigkeit erlangt haben, werden 
mit Vorliebe von flüchtigen Defraudanten und Hochstaplern aufgesucht 
Thatsächlich hat diese Art von Prostituirten schon oft durch ihre den 
Sicherheitsorganen gemachte Angaben zur Entdeckung so mancher 
Verbrecher beigetragen. Eine geschickte Beachtung dieser Prostituirten 
würde nicht selten der Flucht eines Verbrechers ein vorzeitiges Ziel 
setzen. 

Einer traurigen, mit der Prostitution, insbesondere mit der in- 
scribirten, untrennbar verbundenen Erscheinung muss hier Erwähnung 
gethan werden. Es ist dies die Erscheinung des Zuhälters, in Wien 
„Strizzi“, in Berlin „Louis“, in Paris „souteneur“ genannt, dessen Ge- 

Archiv für Kriminalanthropologie. XI. 2 


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18 


I. Baümgarten 


meingefährlichkeit zu steuern, speciell in jüngster Zeit, in einigen 
Ländern durch Erlassung strenger Bestimmungen, leider zumeist ohne 
grossen Erfolg, versucht worden ist. Das Zuhälterwesen ist so innig 
mit der Prostitution verknüpft, dass man fast geneigt wäre, dasselbe, 
gleich der Prostitution, für unausrottbar zu halten. Während jedoch 
die Gefahren der Prostitution im Grossen und Ganzen hygienischer 
Natur sind, ist der Zuhälter ein die öffentliche Sicherheit im höchsten 
Grade beunruhigendes, gefährdendes Individuum. Die Zuhälter sind 
fast ausnahmslos wegen Gewaltthätigkeit und Diebstahls vorbestrafte 
Individuen, welche, zunächst ein Liebesverhältniss mit der Prostituirten 
anknüpfend, in ihr den geringen Rest jedweden Selbstständigkeitsge¬ 
fühles ertödten und sie vollkommen unterjochen. Sie begleiten die 
Prostituirten auf ihren nächtlichen Spaziergängen, um sie einerseits 
gegen die Concurrenz der anderen Prostituirten zu schützen, anderer¬ 
seits um ihnen das Herannahen behördlicher Organe zu avisiren, und 
suchen auch wiederholt mit Passanten Händel. Für den prekären 
Schutz, welchen der Zuhälter der Prostituirten angedeihen lässt, muss 
diese ihn denkbar reichlichst versorgen. Schliesslich muss die Pro- 
stituirte Schläge, Drohungen und Erpressungen seitens des Zuhälters 
erdulden, wenn die Einkommenquelle aus dem Schandgewerbe nicht 
reichlich fliesst Zuweilen kommt es auch vor, dass Prostituirte von 
ihren Zuhältern getödtet werden. Das erpresserische Vorgehen des 
Zuhälters versetzt die ohnehin nur mit geringer Willenskraft ausge¬ 
stattete Prostituirte in derartige Furcht, dass sie das wirthschaftliche 
Abhängigkeitsverhältniss nicht zu lösen wagt 

Im österreichischen Rechte fehlt die scharfe Abgrenzung des Be¬ 
griffes des Zuhälters vom Kuppler. Die einzige gegen Zuhälter ge¬ 
richtete Bestimmung ist in den §§ 5 und 7 des Gesetzes wider Arbeits¬ 
scheue und Landstreicher vom 24. Mai 1885 enthalten: „Personen 
beiderlei Geschlechtes, welche ausser den Fällen des § 512 Strafgesetz 
vom 27. Mai 1852 (Kuppeleiparagraph) aus der gewerbsmässigen Un¬ 
zucht Anderer ihren Unterhalt suchen, sind mit strengem Arrest von 
8 Tagen bis 3 Monaten zu bestrafen.“ „Das Gericht kann im Falle 
der Verurtheilung im Urtheile die Zulässigkeit der Anhaltung in einer 
Zwangsarbeitsanstalt aussprechen.“ Diese Bestimmungen sind in 
der Praxis schwer anwendbar. In den meisten Fällen gelingt es dem 
Zuhälter einen scheinbaren Erwerb als sogenannter Provisionsagent 
nachzuweisen. Erschwert wird noch die Feststellung des Thatbestandes 
durch die regelmässig rückhältige Aussage der Prostituirten, welche, 
vom Zuhälter eingeschüchtert, es nicht wagt, ihn zu beschuldigen, 
dass er an ihrem Schandlohne participire. In dem Momente, wo es 


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Die Beziehungen der Prostitution zum Verbrechen. 


19 


dem Zuhälter gelingt, nachzuweisen, dass er einen, wenn auch nur 
scheinbaren, redlichen Erwerb hat, bietet die Subsumption des Tbat- 
bestandes unter die angeführte gesetzliche Bestimmung die grössten 
Schwierigkeiten, auch dann, wenn nach allen äusseren Umständen, 
wie ständiges Verweilen in Gesellschaft der Prostituirten, kein Zweifel 
über den factischen Charakter des fraglichen Individuums obwaltet 
In dieser Beziehung ist das deutsche Strafgesetzt vorzuziehen, welches 
in § 181a folgende Bestimmung enthält: 

„Zuhälter ist die männliche Person, welche von einer Frauens¬ 
person, die gewerbsmässige Unzucht treibt, unter Ausbeutung ihres 
unsittlichen Erwerbes ganz oder theilweise den Lebensunterhalt 
bezieht.“ 

„Zuhälter ist aber auch derjenige, der einer solchen Frauens¬ 
person gewohnheitsmässig oder aus Eigennutz in Bezug auf die Aus¬ 
übung des unzüchtigen Gewerbes Schutz gewährt oder sonst förder¬ 
lich ist.“ 

„Strafe: Gefängniss nicht unter einem Monat; ist der Zuhälter der 
Ehemann oder hat er die Frauensperson unter Anwendung von Ge¬ 
walt oder Drohungen zur Ausübung des unzüchtigen Gewerbes an¬ 
gehalten, Gefängniss nicht unter einem Jahre. Neben der Gefängnis¬ 
strafe kann auf Ehrverlust erkannt werden, Polizeiaufsicht, sowie 
Ueberweisung an die Landespolizeibehörde mit den im § 362 alinea 3 
und 4 vorgesehenen Folgen, d. h. Unterbringung in’s Arbeitshaus oder 
statt dessen in eine Besserungs- oder Erziehungsanstalt oder in ein Asyl.“ 

Nach dem deutschen Gesetze ist es demnach möglich, auch 
.jene Individuen, bezüglich welcher der Nachweis, dass das unzüch¬ 
tige Gewerbe der Prostituirten für sie eine Einnahmequelle bildender 
Bestrafung zuzuführen. 

Gleich dem österreichischen und dem deutschen Strafgesetz stellt 
auch das belgische Gesetz vom 27. November 1891 und das franzö¬ 
sische Gesetz vom 27. Mai 1885 die Zuhälter mit den Landstreichern 
in gleiche Linie und ermöglicht daher deren Abgabe in Corrections- 
häuser oder Zwangsarbeitsanstalten. — 

IV. Die Prostitution als Veranlassung zum Verbrechen. 

Die Frage, ob durch die Prostitution Verbrechen veranlasst bezw. 
verursacht werden, ist von zwei Gesichtspunkten aus zu erörtern. 
Zunächst ist zu untersuchen, ob die Prostitution die Verübung von 
Verbrechen veranlasst, welche auch, ja zumeist, aus anderen Motiven 
begangen werden, sodann wäre zu erörtern, ob die Prostitution nicht 
die Ursache ganz besonderer, ihr specifisch eignender Delicte sei. 

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I. Baumgarten 


Nach der ersteren Richtung hin ist es wohl klar, dass der Ver¬ 
kehr mit Prostituirten, insbesondere mit solchen, welche nicht inscribirt 
sind und welche den Umgang mit den sie besuchenden Männern 
nicht auf den Unzuchtsact, für welchen sie honorirt werden, allein 
beschränken, nicht selten Männer, hauptsächlichst junge, willens¬ 
schwache Leute von der Bahn der Redlichkeit auf den Weg des Ver¬ 
brechens drängt Ich fasse hier speciell jene Kategorie von Prosti¬ 
tuirten in’s Auge, welche als „feine demi-monde“ oder als „Lebedame u 
bezeichnet werden, das sind Frauenspersonen, welche zumeist in 
Theatern oder grösseren Vergnügungsetablissements mit scheinbarer, 
äusserer Eleganz auftretend, es nicht darauf absehen, durch Anlocken 
zahlreicher Männer Erwerb zu finden, sondern es sind dies Pro- 
stituirte, welche, sich auf den Verkehr mit verhältnissmässig wenigen 
Männern beschränkend, die intensivste Ausbeutung dieser Männer 
bezwecken, indem sie mit denselben in den Vergnügungslocalen in 
möglichst zahlreicher Gesellschaft zechen und auch andere kost¬ 
spielige Passionen befriedigen. Da diese Prostituirten durch ele¬ 
gantes Auftreten und verführerisches Temperament in dem willens¬ 
schwachen Manne nicht bloss die momentane, nur auf den Un¬ 
zuchtsact gerichtete, nach erfolgter geschlechtlicher Befriedigung 
verschwindende Leidenschaft erwecken, sondern ihn für so lange, 
als seine Geldmittel ausreichen, an sich fesseln und ihn in eine Art 
sinnlichen Liebestaumeis versetzen, ist wohl nicht zu verwundern, 
dass der in eine solche Gesellschaft gerathene Mann, um die Bedürf¬ 
nisse seiner Maitresse zu befriedigen, zum Diebe oder Defraudanten 
wird. Der Typus solcher, durch den Verkehr mit Dirnen der er¬ 
wähnten Kategorie zu Verbrechern gewordener Männer ist jedem 
Kriminalbeamten einer Grossstadt bekannt So bedauemswerth auch 
diese durch die Prostituirten zu Verbrechern gewordenen Geschöpfe 
sein mögen, bieten sie dennoch in der Regel nur geringes krimina¬ 
listisches Interesse. 

Eine erhöhte Bedeutung kommt jenen Fällen zu, in welchen die 
Prostitution in directem causalen Zusammenhänge mit dem Ver¬ 
brechen steht: ich meine hier die Kuppelei und den Mädchenhandel. 
Die Kuppelei weist von der einfachsten Verführung einer Frauens¬ 
person zur Unzucht bis zur gewaltsamen Entführung die verschieden¬ 
artigsten Formen auf. Zu den häufigsten Fällen zählen jene, in welchen 
weibliche oder männliche Agenten der Bordelle dienstlose Mägde unter 
der listigen Vorspiegelung, ihnen einen Dienstplatz zu verschaffen, in 
ein verrufenes Haus locken, woselbst sie, erst allmählich den Charakter 
der Oertlichkeit wahrnehmend, unter Anwendung ganz läppischer Ver- 


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Die Beziehungen der Prostitution zum Verbrechen. 


21 


führungskünste zum freiwilligen Verweilen in Bordelle veranlasst und 
so für die Prostitution angeworben werden. Weit gefährlicher als 
diese, immerhin durch eine strenge Beaufsichtigung hintanzuhaltende 
Form der Kuppelei ist jene, bei welcher junge Mädchen — oft kaum 
den Kinderschuhen entwachsen — in, der Behörde nicht bekannte^ 
Absteigquartiere gelockt und dort, eventuell mit Anwendung von Ge¬ 
walt, Wüstlingen preisgegeben werden. Diesbezüglich enthielten die 
im Jahre 1889 erfolgten Enthüllungen der Pall-Mall-Gazette in London 
haarsträubende Schilderungen, deren Richtigkeit damals auch gericht¬ 
lich nachgewiesen worden ist. So giebt es in London Kupplerinnen, 
die sich damit befassen, Jungfrauen (fresh girls), deren Virginität durch 
ärztliches Attest nachgewiesen ist, Wüstlingen zuzuführen. Die Nach¬ 
frage nach solchen fresh girls soll, nach Tarnowsky’s Schilderungen 
eine so grosse sein, dass behufs Täuschung von Männern deflorirten 
Mädchen durch Zustopfen oder Zunähen der zerrissenen Hymenränder 
der Schein der Jungfräulichkeit verliehen wird. Es sind dies die 
künstlich gefälschten Jungfrauen (patched up). Die Frauen, welche 
solche „Jungfrauen 41 präpariren, werden „Stopferinnen“ genannt. Mag 
auch in London — vielleicht in Folge der mit Bezug auf die Pro¬ 
stitution herrschenden abolitionistischen Auffassung — die Kuppelei 
in besonders crasser Form auftreten, so darf dennoch nicht geleugnet 
werden, dass auch in anderen Grossstädten, woselbst die Prostitution 
reglementirt erscheint, die Verkuppelung unschuldiger Personen, ins¬ 
besondere Kinder, nur zu häufig vorkommt. Jede Grossstadt besitzt 
eine erschreckend grosse Anzahl moralisch und sexuell degenerirter 
Männer, deren Wollust durch den einfachen Verkehr mit Prostituirten 
nicht befriedigt wird, welche vielmehr eines besonderen Kitzels 
bedürfen, um ihrer Sinnen lust befriedigend fröhnen zu können. Ein 
interessanter Fall, in welchem ein Kind von seiner Mutter für die 
Prostitution förmlich trainirt wurde, mag hier Erwähnung finden: 

K., ein akademisch gebildeter Mann in geachteter, socialer Stellung, 
32 Jahre alt, seit 2 Jahren verheirathet und Vater eines Kindes, hatte 
in Folge seines gesteigerten Geschlechtssinnes, dessen Befriedigung er 
in der Ehe nicht erlangen konnte, Beziehungen zu seiner Wäscherin, 
einer um 8 Jahre älteren, unintelligenten, geradezu hässlichen Frau, 
angeknüpft Ursprünglich bewegte sich der geschlechtliche Verkehr 
innerhalb der normalen Grenzen. Alsbald jedoch regte sich in dem 
Manne die Begierde nach der 13jährigen Tochter seiner Maitresse. 
Da er es aber, aus Furcht vor den Folgen der Nothzucht, nicht 
wagte, das Kind vor vollendetem 14. Lebensjahre zu entjungfern, 
schloss er mit der Mutter einen förmlichen Vertrag des Inhaltes. 


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22 


I. Baumoarten 


dass es ihm Vorbehalten bleiben müsse, das Kind, sobald es das 
14. Lebensjahr vollendet hat, zu defloriren. In der Zwischenzeit 
suchte er seine Sinnenlust dadurch zu befriedigen, dass er im Beisein 
des völlig entkleideten Kindes mit der Mutter desselben den Beischlaf 
vollzog und gleichzeitig die Schamtheile des dem Unzuchtsacte zu¬ 
sehenden Kindes betastete. Die Mutter, in ihrem Kinde eine will¬ 
kommene Einkommensquelle erblickend, entschloss sich, das Mädchen 
noch vor vollendetem 14. Lebensjahre der Prostitution zuzuführen. 
Sie gab zu diesem Zwecke vorerst' dem eigenen Kinde förmlichen 
Unterricht, indem sie es auf einen Divan legte und ihm die den Coitus 
begleitenden Körperbewegungen einstudirte. Sodann führte sie das 
Kind auf die Strasse. Bei der Entjungferung durch den ersten, auf 
der Strasse acquirirten Mann war die Mutter zugegen. Das Kind 
ergab sich später, trotz eindringlicher Besserungsversuche, freiwillig 
der Prostitution. 

Dieses Beispiel, welches noch durch andere, nicht minder ent¬ 
setzliche Sittenbilder vermehrt werden könnte, zeigt, dass trotz der 
reglementirten Prostitution die Kuppelei in den widerwärtigsten Formen 
existirt und dass die Richtigkeit der vielfach geäusserten Ansicht, 
wonach die reglementirte Prostitution ein Palliativ gegen das Ueber- 
handnehmen der Kuppelei bilden würde, mindestens sehr bezweifelt 
werden muss. Die Nothwendigkeit einer Reglementirung der Pro¬ 
stitution kann mit der Nothwendigkeit einer Verhinderung der Kuppelei 
nicht begründet werden. 

Nicht selten erscheint auch die Kuppelei in Form von Zeitungs¬ 
inseraten, in welchen ein Herr oder eine Dame entsprechende Be¬ 
kanntschaft sucht, ein junges Mädchen einen edlen Wohlthäter um ein 
Dahrlehen bittet u. dgl. m. Von der ärgsten Form der Kuppelei, dem 
sogenannten Mädchenhandel, zu dessen Bekämpfung vor Allem, da 
sich derselbe unter den casuistisch gefassten, gesetzlichen Begriff der 
Kuppelei oft nicht subsumiren lässt, eine den Mädchenhandel als 
Sp ecialdelict erfassende legale Bestimmung, sowie die Sicherung 
internationaler Rechtshilfe gehört, haben wir bereits oben gehandelt. — 

V. Besondere, auf sexuellen Verirrungen beruhende 

Delicte. 

Es gicbt eine Reihe von Fällen, in welchen es sich um Vor¬ 
kommnisse handelt, welche auf sexuelle Verirrungen zurückzuführen 
sind und welche oft, für sich betrachtet, gar nicht den Thatbestand 
einer strafbaren Handlung involviren, nichtsdestoweniger jedoch von 
hervorragendstem, kriminalistischem Interesse sind. Die ausgezeichneten 


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Die Beziehungen der Prostitution zum Verbrechen. 


23 


Untersuchungen Krafft-Ebing’s, Moll’s und zahlreicher anderer 
Schriftsteller haben zwar über das Wesen der abnormen vita sexualis 
einiges aufklärendes Licht verbreitet, doch sind immerhin diese Er¬ 
scheinungen mehr vom Standpunkte des Pathologen, als von dem des 
Kriminalisten erörtert worden. Die genannten Untersuchungen lehrten 
uns insbesondere verstehen, dass zwar zahlreiche Erscheinungsformen 
des abnormalen Geschlechtslebens lediglich vom Standpunkte des 
Psychiaters zu betrachten sind, dass aber dennoch genug widerwärtige 
geschlechtliche Perversitäten existiren, deren Erklärung nicht so sehr 
eine pathologische, als vielmehr psychologische ist. Der Uebergang 
vom Pathologischen zum Psychologischen ist allerdings oft schwer zu 
entdecken. Ehe ich zu dem Versuche schreite, die hier in Betracht 
kommenden Fälle kriminalistisch zu beleuchten, will ich ein von mir 
gesammeltes Thatsachenmaterial vorführen, um dann die auf dieser 
concreten Basis beruhenden, allgemein giltigen Folgerungen zu ziehen. 
Dieses Material habe ich vorzugsweise dadurch gewonnen, dass ich 
bei mehr als 300 Prostituirten eingehende und wiederholte Umfragen 
hielt über von ihnen bemerkte Abnormitäten im Geschlechtsverkehre. 
Dass Männer mit masochistischen oder sadistischen Empfindungen 
zur Befriedigung ihrer Lüste in erster Linie die käufliche Lustdirne 
erwählen, ist wohl in der Natur der Sache begründet. Thatsächlich 
hat ausnahmslos jede Prostituirte eine Anzahl solcher Männer unter 
ihren Besuchern. Bei dem bekannten Hange zur Lügenhaftigkeit, 
sowie bei der Furcht, diese Dinge zu erzählen, ist es begreiflich, dass 
ich die mir gegebenen Schilderungen der Prostituirten nicht kritiklos 
binnehmen konnte und unter den zahllosen Erzählungen insbesondere 
jenen, welche von mir als glaubwürdig erkannten Prostituirten her¬ 
rührten, eine grössere Bedeutung beilegte. Auch von diesen Mitthei¬ 
lungen habe ich jedoch eine Mittheilung erst dann als verlässliche 
Beobachtung angesehen, wenn ich durch die Vergleichung vieler 
Schilderungen mehrerer, zu einander in gar keiner Beziehung 
stehender Prostituirter die Wahrheit des Sachverhaltes erprobt habe. 
Dass trotzdem auch diese als zweifellos richtig zu bezeichnenden Be¬ 
obachtungen nicht alle vom kriminalistischen Standpunkte wichtigen 
Details enthalten, ist auf die leider beschränkte Intelligenz der Prosti¬ 
tuirten, speciell der inscribirten, welche letztere in erster Linie von 
perversen Individuen aufgesucht werden, zurückzuführen. 

Mediciner, ca. 28 Jahre alt, sucht beiläufig zweimal im Monate 
eine Prostituirte auf der Strasse auf, wartet in ihrer Wohnung, bis 
sie in der Lage ist, die grosse Nothdurft zu verrichten. Hierauf 
fängt er urinas et faeces mit seinem Munde auf. Hie und da übt 


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I. Batjmgarten 


er zum Schlüsse den normalen Coitus aus. Dieser auf masochisti¬ 
scher Triebempfindung beruhenden Handlungsweise fehlt jede Be¬ 
ziehung zur Kriminalität und ist der Fall zweifellos ausschliesslich 
pathologischer Natur. — 

Mann, ca, 28 Jahre alt, lässt sich von der Prostituirten in den 
Mund uriniren und entfernt sich, ohne den Coitus ausgeübt zu haben. 
Dieser Fall unterscheidet sich von dem vorerwähnteu nur durch die 
Unterlassung des Coitus. — 

Ein, anscheinend den gebildeten Ständen angehörender, ca. 
35 jähriger Mann lässt sich, nachdem er sich bis aufs Hemd enkleidet 
hat, von der Prostituirten die Details, wie eine Henne geschlachtet 
wird und wie deren Blut floss, schildern. Nachdem Erection einge¬ 
treten ist, übt er den Coitus aus. Hier handelt es sich um einen 
symbolischen Sadismus, und ist diesem Falle bereits mehr krimina¬ 
listische Bedeutung beizumessen, weil es nicht ausgeschlossen erscheint, 
dass nur die noch vorhandene moralische Widerstandskraft die per¬ 
verse Geschlechtsempfindung so weit niederringt, dass sie sich vor¬ 
läufig nur in der geschilderten symbolischen Ausdrucksform äussert. 
Mit der Schwächung der moralischen Widerstandskraft kann die per¬ 
verse Geschlechtsempfindung in Handlungen sich äussern, welche mit 
dem Strafgesetze in Collision gerathen, wie Verletzung, ja selbst Tödtung 
der Prostituirten. — 

Eine Prostituirte wird seit zwei Jahren fast wöchentlich von 
einem Manne besucht, welcher den gebildeten Ständen angehört und 
ca. 26 Jahre alt ist. Derselbe entkleidet sich nackt, lässt sich sodann 
von der vollkommen bekleideten Prostituirten an einen Tisch fesseln 
und mit einer Hundepeitsche züchtigen, wobei er wiederholt ruft: 
„Ich bin dein Sklave, du bist meine Herrin!“ Die Züchtigung er¬ 
reicht mit dem Eintritte der Ejaculation ihr Ende. Dies ist ein Fall 
des Masochismus, wo der Procedur ein Coitus weder vorausgeht 
noch nachfolgt. In der erduldeten Züchtigung erschöpft sich die 
sexuelle Befriedigung. — 

Eine Prostituirte wird seit zwei Jahren, allmonatlich an mehreren 
auf einander folgenden Tagen von einem ca. 40 Jahre alten, gebil¬ 
deten Manne, anscheinend Russe, besucht Sie muss ihn würgen, 
ohrfeigen, ihm in die Brustwarzen zwicken und in die Mundhöhle 
spucken. Er ist während der etwa 10 Minuten währenden Procedur 


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Die Beziehungen der Prostitution zum Verbrechen. 25 

sehr aufgeregt; es tritt schliesslich, ohne Coitus, Ejaculation ein. 
Hierauf entfernt sich der Mann in anscheinend sehr deprimirter 
Stimmung. — 

Ein ca. 45jähriger Mann, Kaufmann, übt durch immissio penis 
in anum der Prostituirten die den Coitus zu ersetzende Handlung aus. 
Hier haben wir es vermuthlich mit einem ursprünglich sexuell normal 
veranlagten Individuum zu thun, dessen Potenz jedoch durch Ueber- 
sättigung im normalen Geschlechtsverkehr gesunken ist und der seiner 
libido durch abnorme Reize Befriedigung zu verschaffen sucht Bemerkt 
muss allerdings hier werden, dass eine Befriedigung des Geschlechts¬ 
triebes durch den Coitus inter mammas oder in anum nicht immer den 
Schluss rechtfertigt, dass der fragliche Mann ein Wüstling sei, viel¬ 
mehr liegt den geschilderten Vorgängen oft nur Syphilidophobie zu 
Grunde. Endlich ist vielleicht-selten-die sexuelle Ausschreitung er¬ 
wähnter Art lediglich auf einen durch Trunkenheit veranlassten Ueber- 
muth zurückzuführen. — 

Eine bezüglich ihrer Mittheilungen als verlässlich erkannte Pro- 
stituirte, welche selbst 32 Jahre alt ist, erzählt, dass auf tO ihrer Be¬ 
suche mindestens 3 entfallen^ welche sich flagelliren lassen. Ein 
Th eil derselben übt nach erfolgter Flagellation den Coitus aus, die 
Anderen begnügen sich mit der blossen Misshandlung. Die fraglichen 
Individuen sind zumeist jüngere, gebildete Leute. Wie häufig diese 
Form perversen geschlechtlichen Handelns ist, beweist die von mir 
gemachte Beobachtung, dass fast jede Prostituirte eine Ruthe besitzt, 
um masochistisch belastete Männer zu flagelliren. — 


Folgender Fall illustrirt das seltene Vorkommen beider, anscheinend 
entgegengesetzter Perversionen — des Sadismus und des Masochis¬ 
mus — bei einem und demselben Individuum. Ein Fabrikant, 
ca. 37 Jahre alt, ist seit 9 Jahren Gast einer und derselben Prosti¬ 
tuirten. Anfangs äusserte sich bei dem Manne die perverse Anlage 
nur darin, dass die Prostituirte sich mit der von ihm mitgebrachten 
Seidenwäsche bekleiden musste und er ihr sodann den Fuss küsste. 
Nach einigen Monaten steigerte sich die Perversion, und der Mann 
verlangte, dass er gefesselt und gegeisselt werde. Später brachte er 
eine Hundepeitsche, mit welcher ihn die Prostituirte züchtigen musste. 
Manchmal äusserte er auch sadistische Anwandlungen, indem er die 
Prostituirte auf das Bett warf und in sichtbar grösster Erregung sie 


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26 


I. Baumuaktkn 


zu schlagen versuchte. Sie musste oft ihre Mitbewohnerinnen zu 
Hilfe rufen, um aus der ihr Gefahr drohenden Situation befreit zu 
werden. Immerhin war jedoch die masochistische Veranlagung die 
vorherrschende, die sadistische nur eine gelegentlich hervortretende. 
Dieses Beispiel illustrirt den von Krafft-Ebing hervorgehobenen 
innigen Zusammenhang beider anscheinend entgegengesetzter Per¬ 
versionen. Hiernach stellen sich Sadismus und Masochismus eigent¬ 
lich nur als die Avers- bezw. Reversseite einer und derselben perversen 
Triebempfindung dar. Ich schliesse mich daher auch der psycholo¬ 
gisch geistvoll begründeten Ansicht Kr aff t-Ebing’s an, wonach 
mit der Erklärung des Wesens der einen Perversion auch die Er¬ 
klärung des Wesens der anderen Perversion von selbst gegeben er¬ 
scheint. Das letztangeführte Beispiel ist deshalb von besonderem 
kriminalistischem Interesse, weil es einen wichtigen Fingerzeig giebt, 
dass beim Versuche der Aufhellung eines, auf erwiesen sadistischem 
Motive beruhenden Verbrechens nicht bloss nach Männern mit sadisti¬ 
scher Veranlagung geforscht werden darf, sondern dass auch, aller¬ 
dings erst in zweiter Linie, die Nachforschungen sich auf solche In¬ 
dividuen zu erstrecken haben werden, deren perverse Veranlagung 
vorzugsweise nach der Richtung des Masochismus hin sich äussert. 
Insofern, dass accidentiell neben der masochistischen Veranlagung 
auch eine sadistische einhergehen kann, kommt demnach auch dem 
Masochismus eine kriminalistische Bedeutung zu. 

Wie ich bereits oben erwähnt habe, tritt die masochistische 
Neigung viel häufiger und in den verschiedensten Formen auf, seltener 
der Sadismus und am seltensten der sogen. Fetischismus. Manchmal 
treten auch diese Perversionen in Verbindung mit conträrer Sexual¬ 
empfindung auf. Von zahlreichen Prostituirten wird übereinstimmend 
geschildert, dass die meisten ihrer perversen Besucher sich in sicht¬ 
lich deprimirter Stimmung wortlos emtfernen, während sie vor und 
während der perversen Acte sehr lebhaft und redselig seien. 

In einem mir bekannten Falle wurde eine Prostituirte 2 Jahre 
hindurch von einem ca. 33jährigen Manne in Intervallen von 3 bis 
4 Wochen besucht. Beide legten sich, völlig entkleidet, nieder und 
der Mann beschränkte sich darauf, die Körpertheile des Mädchens zu 
berühren. Eines Tages musste das Mädchen einen 15jährigen Knaben 
herbeischaffen. Der völlig entkleidete Knabe musste sich zwischen 
den nackten Mann und die nackte Prostituirte legen, worauf Beide 
mit dem Gliede des Kindes spielten. Schliesslich nahm der Mann 
das Glied des Knaben in den Mund, indem er gleichzeitig mit den 
Händen die Brüste der Prostituirten betastete. 


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Die Beziehungen der Prostitution zum Verbrechen. 


27 


Eine nicht selten vorkommende Erscheinung ist, dass der die 
Prostituirte besuchende Mann sich darauf beschränkt, aus einem Ver¬ 
stecke dem mit einem anderen Manne verübten Coitus zuzusehen 
oder aber Zeuge zu sein, wie zwei Prostituirte widernatürliche Un¬ 
zucht treiben in der Weise, dass ein Mädchen den Gescblechtstheil 
des anderen mit der Zunge leckt Nicht selten befriedigt sich der 
dem Acte zusehende Mann durch Onanie. Auch kommt es wieder¬ 
holt vor, dass der Mann selbst dadurch seine Wollust befriedigt, dass 
er die Schamtheile der Prostituirten mit der Zunge leckt. Eine 
Kupplerin hatte einen künstlichen Penis in ihrem Hause, mittelst 
welchen die Prostituirte. denselben um ihren Leib schnallend, mit 
einer anderen Prostituirten den männlichen Coitus nachahmte. Dem 
Acte sah der hiermit seine Lust befriedigende Mann zu. In den zu¬ 
letzt angeführten Fällen bandelt es sich zweifellos zumeist nicht um 
pervers veranlagte Individuen, sondern um Wüstlinge, welche, in Folge 
Ausschweifung ihrer Potenz verlustig geworden, auf absonderliche 
Art ihrem Geschlechtstriebe Befriedigung zu verschaffen versuchen. 

Die mir bekannt gewordenen Fälle, welche ich oben gewisser- 
maassen nur typisch angeführt habe, erreichen die stattliche Anzahl 
von mehr als 500. Untersuchungen, welche ich bezüglich des Alters, 
Standes, der Religion und der Nationalität der, perverse Neigungen 
äusserndeii Männer angestellt habe, lassen keinen wissenschaftlich ver- 
werthbaren Schluss zu auf das etwa häufigere Vorkommen der Per¬ 
version bei einer bestimmten Classe von Menschen, vielmehr betrachte 
ich es als feststehend, dass die auf pathologischen Bedingungen be¬ 
ruhenden perversen Geschlechtsempfindungen eine Unterscheidung be¬ 
züglich der Religion, Nationalität des Individuums nicht zulassen. 
Nur so viel haben die Untersuchungen ergeben, dass die Anzahl der, 
perverse Geschlechtsempfindungen äussernden Individuen eine sehr 
beträchtliche ist und dass mindestens der fünfte Theil der Besucher 
von Prostituirten auf solche Individuen entfällt. Beraerkenswerth ist 
endlich, dass diese Individuen in den meisten Fällen den gebildeten 
Ständen angehören, und mag dieser traurige Umstand in der durch 
die geistige Thätigkeit hervorgerufenen Steigerung der Nervosität be¬ 
gründet erscheinen. 

So weit wir auch noch davon entfernt sein mögen, die Psyche 
eines Individuums mit abnormer vita sexualis vollständig erfasst zu 
haben, sind wir dennoch, besonders durch die gründlichen Arbeiten 
Krafft -Ebing’s zu der wohl heute als wissenschaftlich sicher 
geltenden Einsicht gelangt, die erwähnten Erscheinungen als patho¬ 
logische Erscheinungen zu erkennen. Sowohl der Sadismus — ich 


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28 


I. Baumuartex 


folge hier der von Krafft-Ebing angewendeten Terminologie — 
als Association der Wollust mit Grausamkeit und activer Gewaltthätig- 
keit, als auch der Masochismus als Association der Wollust mit er¬ 
duldeter Grausamkeit und Gewaltthätigkeit, und endlich der Fetischis¬ 
mus als Association der Wollust mit der Vorstellung einzelner Körper¬ 
teile oder Kleidungsstücke des Weibes, sind krankhafte Aeusserungen 
der Geschlechtsempfindung. Ich schliesse mich der Ansicht Krafft- 
Ebing’s an, wonach — im Gegensätze zu der von Schrenck- 
Notzing geäusserten Meinung — bei der perversen Veranlagung des 
einzelnen Individuums der originäre Charakter und nicht das rein 
äusserliche, durch zufällige Ereignisse hervorgerufene occasionelle 
Moment zu betonen ist. Das occasionelle Moment ist lediglich im 
Stande, die bisher latente Perversion in die äussere Erscheinungs¬ 
form treten zu lassen. Einige Schriftsteller haben den Masochismus 
und Sadismus als atavistischen Rückschlag zu erklären versucht, indem 
sie darauf hinwiesen, dass bei gewissen Thieren niedriger Gattung 
die Paarung anscheinend in dem Verzehren, d. i. in der Vernichtung 
des einen Thieres durch das andere bestünde. Wie Krafft-Ebing 
richtig hervorhebt, ist der Vorgang der Paarung niederer Lebewesen 
wissenschaftlich noch nicht genügend festgestellt, um in unzweifel¬ 
hafter Weise den Geschlechtsact der erwähnten Organismen einfach 
als eine Verzehrung des Individuums auffassen zu können. Die auf 
dieser, wissenschaftlich nicht feststehenden Basis gegründeten Hy¬ 
pothesen verlieren hierdurch an Werth. Wohl aber möchte ich — 
vielleicht nicht ganz unbegründet — die Ansicht theilen, dass der 
Sadismus, insofern sich in demselben das Verlangen nach 
Grausamkeit und activer Gewaltthätigkeit äussert, aller¬ 
dings atavistischen Charakters und dass lediglich die Verbindung 
dieses Verlangens mit Gefühlen sexueller Lust pathologischer Natur 
ist Mit anderen Worten: Die Culturgeschichte aller Völker zeigt 
uns, dass der Hang zur Verübung von Grausamkeiten ein dem Natur¬ 
menschen innewohnender Drang ist, welcher mit wachsender Cultur 
immer mehr durch stärker hervortretende, Widerstand leistende sitt¬ 
liche Motive in den Hintergrund geschoben wird und schliesslich förm¬ 
lich unter der Bewusstseinsschwelle verschwindet und nur bei 
Störungen des Nervensystems hervorbricht. Die Zerstörungswuth der 
Kinder, die Lust ungebildeter Leute, Thiere zu quälen, die Mordlust 
im Kriege, die Lust der Stierkämpfer, das Verlangen, Hinrichtungen 
beizuwohnen, sogen. Schauerromane zu lesen, das sich äussemde Ver¬ 
gnügen, waghalsigen Productionen von Artisten zuzuschauen u.dergl.m. 
sind auf den erwähnten atavistischen Trieb zurückzuführen. Die im 


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Die Beziehungen der Prostitution zum Verbrechen. 


29 


Streicheln der Wangen, Zwicken und scherzhaften Schlagen der 
Kinder, sowie Drücken der Hände sich täglich äussemden Formen 
unserer Liebe und Freundschaft sind vielleicht nichts Anderes, als 
rudimentäre Aeusserungsformen des erwähnten in uns schlummern¬ 
den, uns nicht mehr bewussten Triebes. Bei neuropathischen Indi¬ 
viduen associirt sich dieser Trieb mit wollüstigen Vorstellungen. Diese 
Association begründet dann die pathologische Perversion. 

Zwei Fälle seien hier angeführt, in welchen einerseits die Zer- 
störungswuth, andererseits der Drang, sich unterzuordnen, ohne 
nachweisbare Beziehung zur Geschlechtsempfindung hervortritt: 

Ein 16jähriger Lehrling hatte Wochen hindurch die Behörde 
dadurch in Athem gehalten, dass er die Kleider vorübergehender 
Passanten, gleichviel ob männlichen oder weiblichen Geschlechtes, 
durch Bespritzen mit einer ätzenden Säure beschädigte. Er wurde 
eruirt und gab als Motiv seiner Handlungsweise das Gefühl der 
maasslosen Freude an, welches er bei Beschädigung der Kleider 
empfinde. Er stellte die Existenz irgend welcher mit dem Geschlechts¬ 
triebe in Verbindung stehender wollüstiger Gefühle bei Begehung der 
erwähnten Delicte in Abrede, und es konnte auch eine solche Asso¬ 
ciation nicht constatirt werden. 


In einem anderen Falle hatte ein Hochschüler Knaben ange¬ 
halten, ihnen mit einer Bürste, welche er bei sich trug, die Schuhe 
geputzt und sodann die geputzten Schuhe geküsst. Seine vita sexualis 
wies nichts Abnormes auf. Er selbst bezeichnete den unwidersteh¬ 
lichen Drang, untergeordnete Dienste zu verrichten als Motiv seiner 
Handlungsweise. Beziehungen seines Vergehens zu seinem Geschlechts¬ 
leben leugnete er. Der Unglückliche war bereits einmal in einer 
Irrenanstalt. _ 

Wenn wir nun versuchen wollen, die für den Kriminalisten wich¬ 
tigen Gesichtspunkte hervorzuheben, müssen wir zunächst feststellen: 

1. Deutet das uns vorliegende Verbrechen, mit Rücksicht auf die 
Art der Verübung oder mit Bezug auf den Mangel eines vernünftigen 
Motives, auf Merkmale, welche auf eine geschlechtliche Verirrung des 
Thäters schliessen lassen? 

2. Ist diese geschlechtliche Verirrung pathologischer Natur oder 
deutet sie lediglich auf die Handlung eines Wüstlings hin, oder — um 
mich der Krafft-Ebing’schen Terminologie zu bedienen, begründet 
das Handeln des Thäters eine Perversion (das ist Ausfluss der krank¬ 
haften Veranlagung) oder eine Perversität (verbrecherisches Handeln)? 


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30 


]. Baumgartex 


Die stärkste Ausdrucksform des Sadismus äussert sich in der 
Tödtung des weiblichen Individuums, in dem sogenannten Lust¬ 
morde. Die äusserlichen Merkmale des Lustmordes bestehen zumeist 
darin, dass Körpertheile, und zwar vorzugsweise die Geschlechtstheile 
und die mit diesen zusammenhängenden Organe der getödteten Person 
herausgeschnitten oder herausgerissen oder Körperhöhlen geöffnet 
wurden oder auch einzelne Körpertheile überhaupt fehlen. Zuweilen 
kommt es auch vor, dass der Thäter gewisse, an sich gering¬ 
wertige Kleidungsstücke, wie Hemd, Strümpfe u. dgL, geraubt 
hat Diese Gegenstände haben für den Thäter zweifellos fetischi¬ 
stische Bedeutung. Aus diesen äusserlichen Merkmalen allein 
wird jedoch noch nicht auf einen Lustmord geschlossen werden 
dürfen, vielmehr wird die Möglichkeit in 7 s Auge gefasst werden müssen, 
ob nicht etwa ein Mord aus Aberglauben verübt worden ist. So hebt 
Gross in seinem „Handbuch für Untersuchungsrichter“, sowie in 
seinem jüngst erschienenen Buche „Die Erforschung des Sachverhaltes 
strafbarer Handlungen, endlich in seiner Abhandlung „Psychopathischer 
Aberglauben“ (Bd. IX dieses Archivs S. 253) mit Recht hervor, dass 
in vielen mysteriös erscheinenden Fällen, in welchen das Motiv des 
Verbrechens nicht erklärbar erscheint, sowie insbesondere auch die 
Morde, welche prima facie als Lustmorde erscheinen, der That in 
Wahrheit ein Aberglaube des Thäters zu Grunde liege. Erst 
wenn die Nachforschungen nach dieser letzteren Richtung hin 
nichts ergeben, wird die Annahme eines Lustmordes berechtigt er¬ 
scheinen. Oft wird auch das Augenmerk darauf zu lenken sein, ob 
nicht etwa lediglich deshalb ein Mord verübt worden ist, damit 
der Thäter sich des Zeugen der von ihm verübten Nothzucht oder 
Schändung entledige. Bemerkenswerth ist übrigens, dass der Lust¬ 
mord durchaus nicht zur Voraussetzung hat, dass an der Getödteten 
ein Stuprum verübt oder zu verüben versucht worden wäre. Ist 
der Lustmord an einer Prostituirten verübt worden, werden ein¬ 
gehendste Umfragen bei den Prostituirten nach dem Charakter ihrer 
Besucher erfolgen müssen wobei nicht bloss nach Individuen mit 
ausgesprochen sadistischer oder masochistischer Veranlagung, sondern 
auch nach solchen Personen, die nur andeutungsweise sadistische 
Anwandlungen zeigten, eifrigst zu forschen sein wird. Wichtig ist 
auch die Erkenntniss, dass der eigentliche Lustmord immer nur 
von einem Thäter verübt wird. Wo demnach die Nachforschungen 
mit Sicherheit auf Complicen hinweisen, ist die Annahme eines Lust¬ 
mordes eine irrige und müssen andere Motive für die That gefunden 
werden. — 


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Die Beziehungen der Prostitution zum Verbrechen. 


31 


Vor 4 Jahren wurde in Wien eine 41 Jahre alte Prostituirte 
früh in ihrem Cabinete ermordet aufgefunden. Bauchhöhle und 
Brust sind mit einem scharfen Instrumente geöffnet worden, die Leber 
war herausgerissen und lag neben der Leiche, auf welch’ letztere 
abgeschnittene Haare der Ermordeten gestreut worden waren. Geraubt 
wurden die Schuhe, Strümpfe und das Hemd der Ermordeten. • Der 
Verdacht lenkte sich gegen ein geschlechtlich pervers veranlagtes 
Individuum, doch führten die vollkommen sachlich gepflogenen Nach¬ 
forschungen nicht zur Eruirung des Thäters. — 

Es sei hier noch einiger, mit der Geschlechtsempfindung in Ver¬ 
bindung stehender strafbarer Handlungen gedacht, deren Object aller¬ 
dings, der Natur der Sache nach, nicht die Prostituirte bildet In den 
Fällen von Nothzucht und Schändung wird es besonders wichtig er¬ 
scheinen, sich nicht auf die schablonenhafte Feststellung des sub- 
jectiven und objectiven Thatbestandes zu beschränken, sondern es 
wird unter allen Umständen eine eingehende, gerichtsärzliche Unter¬ 
suchung des Geisteszustandes des Thäters, sowie eine sorgfältige 
Prüfung bezüglich etwa vorhandener sexueller Perversion stattfinden 
müssen. Diese Prüfung ist um so wichtiger, als die beiden erwähnten 
Delicte keineswegs pathologische Bedingungen zur Voraussetzung 
haben, sondern oft ihre Erklärung finden in einer durch Alkoholmiss¬ 
brauch gesteigerten Sinnlichkeit oder in einer durch die concreten 
Umstände verursachten langen Enthaltsamkeit vom normalen Ge¬ 
schlechtsverkehre oder endlich in einer Uebersättigung in diesem Ver¬ 
kehre. Auch ist es nicht selten, dass Schändungen von Wüstlingen 
verübt werden, ohne dass von einer krankhaften Veranlagung des 
Thäters gesprochen werden könnte. Oft wird allerdings schon die 
Art der Begehung des Delictes, die Häufigkeit der einzelnen Schän¬ 
dungsacte, die wiederholte Rückfälligkeit trotz vorausgegangencr Be¬ 
strafung, die Verübung des Delictes auf offener Strasse, vor Schul¬ 
gebäuden, trotz grosser Gefahr, entdeckt zu werden, der Mangel jeder 
Schlauheit, den Schluss auf das Vorhandensein pathologischer Be¬ 
dingungen gerechtfertigt erscheinen lassen. Hierher gehören auch 
jene unglücklichen Geschöpfe, welche in geradezu läppischer Weise, 
z. B. durch Reiben ihres Gliedes an vorübergehenden weiblichen Per¬ 
sonen — sogenannte Frotteure — oder durch blosses Entblössen ihres 
Schamtheiles — sogenannte Exhibitionisten —, die geschlechtliche 
libido befriedigen. So wurde einmal ein Mann angehalten, welcher 
beim Stiegenaufgange einer Mädchenschule auf die die Schule ver¬ 
lassenden Mädchen mit entblösstem Gliede wartete, ohne die Mädchen 
anzusprechen oder sonstwie zu belästigen. 


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32 


I. Baumgartes 


Zwei mir bekannte Schändungsfälle mögen hier angeführt werden 
Dieselben erscheinen nicht bloss durch ihr seltenes Vorkommen, sondern 
auch dadurch merkwürdig, dass in den Kindern, welche geschändet 
worden sind, durch die Schändung die latente Geschlechtsempfindung, 
welche Krafft-Ebing mit Paradoxia sexualis bezeichnet, erst ge¬ 
weckt worden ist: 

Eine Arbeitersgattin bemerkte, dass das Glied ihres zweijährigen 
Söhnchens auffallend geröthet und entzündet war. Sie vermuthete, 
dass das Kind von einem Hausgenossen geschändet worden sei, und 
erstattete die Anzeige. Die Erhebungen ergaben das überraschende 
Resultat, dass das Kind von seiner 8jährigen Halbschwester durch 
immissio penis in den Mund und Saugen am Penis wiederholt ge¬ 
schändet worden ist. Aus den Angaben des Mädchens erhellte, dass 
das Mädchen zu der ungeheuerlichen Perversität von einem unwider¬ 
stehlichen Drange getrieben worden sei. Es war ausser der Ehe ge¬ 
boren worden und befand sich zur Zeit der Verehelichung der Mutter 
bei seinem natürlichen Vater in Pflege. Dieser hat das Kind schänd¬ 
lich missbraucht, indem er entweder dessen Hand zum Onaniren be¬ 
nutzte oder aber sein Glied in den Mund des Kindes steckte, welches 
daran bis zum Eintritte der Ejaculation saugen musste. Dieses Vor¬ 
gehen des im Laufe des Gerichtsverfahrens durchaus nicht als patho¬ 
logisch belastet erklärten Lüstlings hat zweifellos die im Kinde ab 
origine schlummernde perverse Geschlechtsempfindung ins Leben ge¬ 
rufen. Das Mädchen wurde später, trotz mehrjähriger Anhaltung in 
einer Besserungsanstalt, — Prostituirte. 

In einem anderen Falle wurde ein 7 jähriges Mädchen von ihrem 
21 Jahre alten, syphilitischen Bruder genothzüchtet. Das Kind hat 
männliche Altersgenossen in den Abort gelockt und dort coitusähn¬ 
liche Handlungen zu verüben versucht. Dem sittenverderbenden 
Treiben des Mädchens wurde Einhalt gethan, als es, mit arger Sy¬ 
philis behaftet, in ein Krankenhaus abgegeben werden musste. So 
oft dem Kinde im Spitale die Schamtheile gereinigt wurden, fühlte 
es eine heftige libido. Diese äusserte es im Spitale in unbewachten 
Momenten in der Weise, dass es, im Bette liegend, die den Coitus 
begleitenden Körperbewegungen imitirte und hierbei mit dem Aus¬ 
drucke höchster Wollust rief: „So hat es der M. (Name eines männ¬ 
lichen Spielkameraden) gemacht.“ Auch dieses Kind ergab sich mit 
Erreichung des entsprechenden Alters der Prostitution. 

Dass Verletzungen des Körpers oder Beschädigungen fremden 
Eigenthumes, sowie Diebstahl und Raub manchmal eine perverse 
Geschlechtsempfindung zur Grundlage haben, ist bereits oben erwähnt 


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Die Beziehungen der Prostitution zum Verbrechen. 


33 


worden und ergeben sich die für die Nachforschungen wichtigen 
Gesichtspunkte aus dem Gesagten. Insbesondere wird beim Diebstahle 
oder Raube dann die Vermuthung für eine perverse Geschlechts¬ 
empfindung bestehen, wenn der Thäter immer gleichartige Gegen¬ 
stände, z. B. Taschentücher, Schuhe, Damenhandschuhe unter gleichen 
äusseren Begleitumständen stiehlt oder raubt und ein gewinnsüchtiges 
Motiv der Handlungsweise ausgeschlossen erscheint Viele Fälle der 
sogenannten Kleptomanie finden in der perversen Geschlechtsempfin¬ 
dung des Thäters ihre Erklärung. — 

Noch eine häufig vorkommende Erscheinung sei hier angeführt: 
Während nach deutschem Strafgesetze nur die Päderastie strafbar 
erscheint, ist nach dem geltenden österreichischen Strafgesetze auch 
die Tribadie (amor lesbicus) strafbar. Diesem letzterwähnten Laster 
begegnen wir bei den Prostituirten sehr häufig und werden solche 
Prostituirte in Wien von den übrigen Dirnen „warme Schwestern“ 
genannt und tief verachtet. Das Vorhandensein einzelner psychopa¬ 
thischer Individuen unter den Prostituirten, der häufige Verkehr fast 
ausnahmslos aller Prostituirter mit perversen Männern, mag das nicht 
seltene Vorkommen des Lasters unter den Prostituirten begreiflich 
erscheinen lassen. De lege ferenda möchte ich mich der Ansicht 
anschliessen, welche sowohl Tribadie als auch Päderastie nur dann 
als strafbar gelten lassen will, wenn die öffentliche Sittlichkeit ver¬ 
letzt erscheint Speciell gegen die Strafbarkeit der Päderastie sprechen 
gewichtige kriminalpolitische Gründe. Die grosse Anzahl von Männern 
mit conträrer Sexualempfindung hat zur Folge, dass in jeder Gross¬ 
stadt moralisch depravirte Individuen sich finden, welche ihren aus¬ 
schliesslichen Erwerb in dem sich Anbieten an Urninge suchen. Diese 
gefährlichen Individuen üben nicht selten Erpressungen an dem Ur¬ 
ning aus, wodurch dieser entweder finanziell zu Grunde gerichtet 
oder aber zum Selbstmorde getrieben wird. Es bilden sich förmliche 
Erpresserbanden, welche ihren Opfern in der Nähe von Pissoirs oder 
in Parkanlagen auflauern; einer der Burschen lockt den Urning an 
sich, worauf der zweite Complice plötzlich auftaucht und — schein¬ 
bar Beiden — mit der Anzeige droht und von der Verwirklichung 
seiner Drohung erst ablässt nachdem er vom Urning den erpressten 
Geldbetrag erhalten hat. Schon behufs Beseitigung dieser gemein¬ 
gefährlichen Chantage wäre eine Streichung des Verbrechens der 
Päderastie aus dem Strafgesetze zu wünschen. Ueber die Ausbreitung 
des Urningthums wird man sich wohl einige Vorstellung machen 
können, wenn man erfährt, dass in Wien bis vor wenigen Jahren in 
einem bekannten grossen Tanzsaale alljährlich ein Ball abgehalten 

Archiv ür Kriminalanthroplogie. XL 3 


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34 I. Baumgabten, Die Beziehungen der Prostitution zum Verbrechen. 


worden ist, welcher fast ausschliesslich von, theils in Männer-, theils 
in Frauenkleidung erschienenen Urningen besucht war. Die als Frauen 
verkleideten Urninge vermochten durch ihr weibisches Aussehen und 
Benehmen das wachsamste Auge zu täuschen. 

Der Mangel einer verlässlichen Statistik, sowie die Schwierigkeit 
der Beobachtung der einzelnen Fälle verhinderte es bisher, auf dem 
in vorstehenden Zeilen berührten Gebiete zu wissenschaftlich fest¬ 
stehenden Resultaten zu gelangen; immerhin enthalten jedoch obige 
Schilderungen einige nicht unwesentliche Anhaltspunkte, welche der 
weiteren wissenschaftlichen Forschung würdig erscheinen und auch 
vom praktischen Standpunkte aus für den Kriminalisten von grösster 
Wichtigkeit sind. 


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II. 


Psychiatrische Gutachten. I. 

Von 

Ernst Schultze. 

Klinische, diagnostische, therapeutische Erörterungen werden viel¬ 
fach in der Form von Vorträgen veröffentlicht; und letzthin ist man 
dazu übergegangen, den heutigen Stand der klinischen Medicin in 
einem gross angelegten Sammelwerk in der gleichen Form dar¬ 
zustellen. 

Das hat seinen guten Grund; eine derartige Arbeit liest sich 
besser, angenehmer, auch schneller, als die streng wissenschaftliche 
Abhandlung in ihrer starren Form, und das lebendige Wort des 
Redners wird so am besten ersetzt, soweit es überhaupt bei der 
Benutzung der todten Buchstaben möglich ist 

Es hätte nun sicherlich sehr nahe gelegen, auch gerichtlich-medi- 
cinische, insbesondere psychiatrische Gutachten in gleichem Gewände 
mitzutheilen. 

Gerade der Umstand, dass viele strafrechtliche Gutachten persön¬ 
lich von dem Sachverständigen vor den Schranken des Gerichts ver¬ 
treten werden, hätte dazu auffordern müssen. Meines Wissens ist es 
aber bisher wenig oder gar nicht geschehen; an Gelegenheit dazu hätte 
es nicht gefehlt Denn darüber, dass nicht hinreichend Gutachten 
weiteren Kreisen zugänglich gemacht werden, darf in unserer publica- 
tionslustigen Zeit wirklich nicht geklagt werden. 

Aber diese Gutachten entsprechen in der Form der Wiedergabe 
meist dem schriftlichen Gutachten; der Leser muss sich erst durch 
eine mehr oder minder ausführliche Geschichtserzählung und die eige¬ 
nen Beobachtungen des Gutachters hindurchwinden, um dann schliess¬ 
lich zum endgültigen Gutachten zu gelangen. Dieses pflegt aber doch 
am meisten zu interessiren, weniger vielleicht, weil es eine klinische 
Würdigung des Befundes giebt — hie und da begegnet man sogar 
der Ansicht, der Gutachter brauche dem Richter keine bestimmte 

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36 


II. Sc.'HULTZE 


Diagnose zu stellen —, als vielmehr, weil es die Anwendbarkeit oder 
Nichtanwendbarkeit bestimmter rechtlicher Begriffe nachweist. Wieder¬ 
holungen werden sich bei der Erstattung des schriftlichen Gutachtens 
nicht umgehen lassen. 

Ohne sie kann es vielmehr nicht hergehen, wenn die Forderung 
strenge durchgeführt wird, dass in dem den Befund enthaltenden 
Theile die eigenen Beobachtungen des Gutachters ohne jedes Urtheil 
seinerseits wiedergegeben werden, während die kritische Verarbeitung 
erst im eigentlichen Gutachten erfolgt. 

Diese Wiederholungen werden sich in dem mündlichen Gut¬ 
achten leichter vermeiden lassen, schon deshalb, weil es eine freiere 
Form der Darstellung zulässt Nichtsdestoweniger wird und kann 
es oft genug nicht kurz ausfallen. Die Kenntniss des bei den Acten 
liegenden, bereits früher erstatteten Gutachtens darf bei dem Gericht 
nicht unbedingt vorausgesetzt werden. Das mündliche Verfahren ist 
es vor Allem, das die richterliche Entscheidung anbahnen soll. 

Im Laufe der mündlichen Verhandlung sind vielleicht neue 
Zeugenaussagen aufgetaucht, mit denen auch der Gutachter sich sofort 
abfinden muss; oder aber es werden durch die Richter Fragen an¬ 
geschnitten, die bisher noch nicht berührt sind. Schliesslich wird der 
Gutachter die eigentliche Beweisführung breiter anlegen, als er es in 
seinem schriftlichen Gutachten gethan hat; er wird sich unter steter 
Berücksichtigung des im Laufe der Verhandlung zu Tage geförderten 
Materials mehr in Detailraalerei einlassen dürfen und seine Aus¬ 
führungen mit dem Hinweis auf andere ähnliche Beobachtungen, 
unter Bezugnahme auf actuelle Ereignisse, belegen. 

Wenn aber auch wirklich so geartete Gutachten für den Medi- 
ciner zu lang gerathen erscheinen, für den Richter werden sie es 
kaum sein, der nach Aufklärung verlangt, zumal wenn ihm psychia¬ 
trische Probleme früher fremd waren; und wenn schon der Jurist 
einer Belehrung sich nicht unzugänglich erweist, so wird deren in 
noch höherem Grade der Geschworene bedürfen. 

Diese Erwägungen waren es, die mich veranlassten, in Folgen¬ 
dem in dieser Zeitschrift Gutachten zu publiciren, die mir von einigem 
Interesse zu sein scheinen, und zwar so, wie ich sie etwa mündlich 
in der Verhandlung vertreten habe. Eine möglichst kurz gehaltene 
Geschichtserzählung ist zur Orientirung für den Leser vorausgeschickt. 

I. 

Der 22 Jahre alte Musketier K. verliess am 12. Jan. 1902 Nach¬ 
mittags die Kaserne seiner Garnison G. und stellte sich erst am 


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Psychiatrische Gutachten. 


37 


27. Jan. freiwillig der Polizeibehörde in Z., von der er nach G. trans- 
portirt wurde. Am 13. Jan. hatte man seine sämmtlichen Bekleidungs¬ 
und Ausrüstungsstücke im Volksgarten in G. gefunden. 

Bei seiner Vernehmung gab K. an, er habe sich in trunkenem 
Zustande von der Truppe entfernt; wenn er angetrunken sei, und auch 
sonst wohl, sei er nicht ganz richtig im Kopfe. Seine Mutter sei in 
einer Irrenanstalt. Er habe 1897 bei einer Schlägerei einen Schlag mit 
einem Selterswasserglas auf den Hinterkopf erhalten und habe dar¬ 
nach 3 — 4 Wochen im Krankenhause gelegen. Letztere Angabe 
konnte durch Erkundigungen nicht bestätigt werden; ebensowenig Hess 
sich durch die von ihm angegebenen Zeugen feststellen, dass er früher 
Zeichen von Geistesstörung geboten oder zeitweilig verkehrte Arbeiten 
gemacht habe. Auch bei der Truppe sind Zeichen von Geistesschwäche 
an ihm nicht bemerkt worden. Dagegen wurde ermittelt, dass seine 
Mutter sich seit 12. Febr. 1889 in der Irrenpflege-Anstalt X. wegen 
hallucinatorischer Verrücktheit befindet. 

Bei der Verhandlung des Gerichts am 18. Febr. gab K. an, seit 
der Verletzung habe er Momente, in denen er nicht mehr wisse, was 
er thue; in einem solchen Zustande sei er weggelaufen. Da K. zudem 
auf das Gericht den Eindruck eines Geisteskranken machte, so wurde 
die Sache auf unbestimmte Zeit vertagt, und K. dem Garnisonlazareth 
zur Beobachtung auf seinen Geisteszustand überwiesen. Unter dem 
29. April beantragte der Vertheidiger von K. mit Erfolg dessen Ueber- 
führung in eine Irrenanstalt zum Zwecke der Beobachtung, entsprechend 
dem militärärztlichen Gutachten. 

In diesem wurde hervorgehoben, dass K. im Garnisonlazareth 
dauernd eine etwas deprimirte Stimmung aufwies; leidenschaftliche 
Ausbrüche hätten nicht stattgefunden. Auf die Eindrücke der Aussen- 
welt reagire er langsam; seine Vorstellung erscheine verlangsamt; 
der Drang zum Handeln sei herabgesetzt. 

K. ist wegen Bettelei einmal mit 3 Tagen, dann mit 3 Wochen 
Haft bestraft, sodann wegen Landstreicherei mit 6 Wochen Haft und 
wegen Körperverletzung mit 2 Monaten Gefängniss. 

Gutachten. 

M. H.! Dass die Frage der Zurechnungsfähigkeit überhaupt bei 
der vorliegenden Strafsache auftauchte, daran sind meines Erachtens 
zwei Momente Schuld, einmal die Angabe K.’s, dass er von der ihm 
zur Last gelegten strafbaren Handlung nichts wisse, und dann der 
persönliche Eindruck, den K. bei der vorigen Verhandlung auf das 
Gericht gemacht hat. 


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38 


II. St'HUl.TZE 


Aus praktischen Rücksichten erscheint es mir rathsamer, bei der 
Erstattung des Gutachtens von dem an erster Stelle erwähnten Um¬ 
stande auszugehen; auf das zweite Moment werde ich zu gegebener 
Zeit noch zu sprechen kommen. 

Wenn uns ein Individuum angiebt, es habe keine Erinnerung 
mehr an bestimmte Erlebnisse, so sprechen wir Aerzte kurz von Am¬ 
nesie ; diesen Ausdruck wollen wir auch hier gebrauchen, um eine 
gegenseitige Verständigung möglichst zu erleichtern. 

Ich brauche Ihnen kaum zu versichern, dass die Angabe des 
Vorliegens einer Amnesie ein rein subjectives Symptom ist, d. h. ein 
Zeichen, welches willkürlich zu jeder beliebigen Zeit von Jedem pro- 
ducirt werden kann. Die Amnesie an sich lässt sich in objectiver 
Weise nicht feststellen, ich meine, in einer solchen Weise, dass auf 
die Beweisführung, ob eine Amnesie wirklich vorliegt oder nicht, die 
betreffende Person ohne jeden Einfluss ist. Es ist aber selbstver¬ 
ständlich, dass wir dem Individuum, das sich keine Lüge zu Schul¬ 
den kommen lässt, von vornherein mehr Glauben beimessen werden 
hinsichtlich seiner Angabe, es leide an Zuständen mit nachfolgender 
Amnesie, als dem, welches sich immerzu in Widersprüche verwickelt 

Nach den Acten macht K., wie ich offen zugebe, einen höchst 
unglaubwürdigen Eindruck. Um nun den wichtigsten Grund gleich 
hervorzuheben, so hatte seine Angabe, dass er im Jahre 1897 im 
Krankenhause wegen einer Schädel Verletzung 4 Wochen gelegen habe, 
durch Nachfrage an der betreffenden Stelle nicht im Geringsten bestä¬ 
tigt werden können. Eine gewisse Voreingenommenheit gegen K. er¬ 
scheint daher schon berechtigt. 

Uns gab K. später an, er sei nicht 1897, sondern 1899 im Kranken¬ 
hause behandelt worden; in der That wurde uns von dort aus be¬ 
stätigt, dass er zu der von ihm angegebenen Zeit dort verpflegt wurde 
wegen einer Kopfverletzung, vielleicht auch wegen einer Schädelver¬ 
letzung behandelt worden sei. Dass er bei einer früheren Verneh¬ 
mung ein falsches Datum angab, das darf man ihm nicht nachtragen 
aus Gründen, die ich nachher noch berühren werde. 

Ebenso wenig vermag aber auch der Umstand zu seinen Un¬ 
gunsten zu sprechen, dass die von K. angeführten Schutzzeugen nur 
wenig über geistige Anomalien bei ihm zu berichten wissen. Zum 
Theil erklärt sich das dadurch, dass K. nur kurze Zeit bei ihnen in 
Stellung war, zu kurz, als dass es zu einer Kenntnissnahme seiner 
geistigen Persönlichkeit gekommen wäre; sodann ist aber darauf hin¬ 
zuweisen, dass die bei K. vorliegenden, übrigens nur vorübergehenden 
Störungen derart sind, dass sie nicht Jedermann ohne Weiteres er- 


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Psychiatrische Gutachten. 


39 


kennen kann; dazu bedarf es, ich will nicht gerade sagen, einer 
psychiatrischen Kenntniss, aber doch einer gewissen psychologischen 
Schulung und einer nicht gewöhnlichen Beobachtungsgabe. Aber 
selbst wenn solche Beobachtungen gemacht sind, bedarf es weiterhin 
einer Routine und Fachkenntniss, um bei der Zeugenvernehmung das 
Resultat dieser Beobachtungen ermitteln zu können. Das erklärt denn 
auch hinreichend, warum der Fachmann, bei der Unterhaltung mit 
dem angeblich kranken Individuum, sowie durch persönliche Ver¬ 
nehmung der Zeugen unendlich viel mehr erfährt als der Laie. 

Der ungünstige Eindruck, den K. auf Jeden macht, der seine 
Strafacten durchliest, darf also durchaus nicht maassgebend sein, und 
daraus ergiebt sich, dass der Inhalt der Acten hinsichtlich des Nach¬ 
weises der Glaubwürdigkeit von K. nur mit Vorsicht zu verwerthen ist. 

Ich habe mich sehr viel und eingehend mit K. unterhalten; aber 
auch nicht einmal habe ich feststellen können, dass er mir die Un¬ 
wahrheit gesagt hätte oder dass er sich auch nur in wenn auch un¬ 
gewollte Widersprüche verwickelt hätte. Seine Angaben stimmten 
untereinander stets überein uud entsprechen in jeder Richtung dem 
Inhalte der Acten. Er hat mir eine Reihe von Details aus seinem 
Leben erzählt, die ich, weil sie von nebensächlicher Bedeutung sind, 
dem schriftlichen Gutachten nicht einverleibt habe; aber heute, nach¬ 
dem inzwischen 6 Wochen verflossen sind, lässt er sich in genau der 
gleichen Weise wieder darüber aus. Uns berichtete er z. B. von 
zwei Ohnmacbtsanfällen, die er beim Militär gehabt habe. Sie haben 
gehört, m. H., dass deren Schilderung seitens der zwei als Zeugen 
vernommenen Unterofficiere sich vollkommen mit der seinigen deckte. 

Ich darf bei der Gelegenheit auf das weitere Ergebniss der Zeugen¬ 
aussagen hinweisen. K. erhält von allen Vorgesetzten das beste Zeug- 
niss; er ist der beste seines Ersatzes, wie verschiedene Zeugen über¬ 
einstimmend bekunden. Er war nach seiner eigenen Auslassung mit 
Lust und Liebe Soldat; beim Militär hat er sich bis heute keines 
Vergehens schuldig gemacht, abgesehen von diesem, das der heutigen 
Verhandlung zu Grunde liegt. 

Das spricht auch für seine Wahrheitsliebe; wir stehen seinen 
Angaben somit weit unbefangener gegenüber, als wenn wir hätten 
nachweisen können, dass er es mit der Wahrheit wenig genau nehme; 
das gilt dann aber auch für den vorliegenden Fall, wo K. Aeusserungen 
macht, die ihn zu entlasten geeignet erscheinen. 

Ich gebe zu, dass die bisherigen Erwägungen viel mehr juristischer 
als klinischer Art sind, aber sie schienen mir nothwendig, um meine 
Stellungnahme zu der Glaubwürdigkeit des Angeklagten zu begründen, 


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40 


II. ScHULTZE 


die gerade im vorliegenden Falle besondere wichtig ist; sodann er¬ 
scheinen sie mir auch deshalb berechtigt, weil sie sich auf meine 
eigenen Beobachtungen gründen und weil insbesondere auch vom 
rein ärztlichen Standpunkte aus betrachtet, die Angaben von K. 
durchaus glaubhaft sind; sie stimmen völlig mit den an andern, nicht 
kriminellen FäJlen gemachten Beobachtungen überein. 

Um aber auf die eigentliche Domäne des Sachverständigen zurück¬ 
zukommen, so giebt K. an, er habe für bestimmte Zeiten keine Er¬ 
innerung. 

Trifft dies in Wirklichkeit zu, so kann man in erster Linie an¬ 
nehmen, dass es sich um eine eigenartige Bewusstseinsstörung zur 
kritischen Zeit gehandelt haben kann; in ihr hat die Beziehung der 
Persönlichkeit zu ihrer Umgebung eine derartige Lockerung erfahren, 
dass sie eine Reihe der verschiedensten, geordneten sowohl wie un¬ 
geordneten Handlungen begehen kann, ohne dass nachher eine klare 
Erinnerung möglich ist. Das Verhalten des Gedächtnisses kann da 
recht verschiedenartig sein. Früher nahm man gemeiniglich an, dass 
die Erinnerung für den ganzen Zeitraum völlig fehle, dass also aus 
dem Gedächtniss eine umschriebene Partie wie mit dem Locheisen 
scharf ausgestossen sei. So sehr damit auch die Begutachtung erleichtert 
wurde, so sehr war andrerseits der Simulation Vorschub geleistet Denn 
es ist einleuchtend, dass es sehr viel leichter ist, anzugeben, man 
habe etwa für einen bestimmten Tag gar keine Erinnerung, als zu 
behaupten, man habe für dies und das keine Erinnerung, und be¬ 
ständig bei dieser Behauptung, trotz aller Querfragen, zu bleiben. 

K. weise nach seiner Angabe nicht, wie er an dem fraglichen 
Abend von A., dem Vorort der Garnison G., nach G. gekommen ist; er 
erinnert sich nur dunkel, dass er im Laufe des Tages in einem Restaurant 
in einer grösseren Gesellschaft, von der er heute nur eine Person be¬ 
stimmt angeben kann, ein Glas Bier getrunken hat, und dass er am 
nächsten Tage in dem Bette eines Kameraden in dessen Privatwoh¬ 
nung erwachte. Für alles das, was dazwischen liegt, besteht bei ihm 
gar keine Erinnerung, so oft und so eindringlich man ihn auch befragt. 

Diese eigenartigen Zustände von Trübung oder Umdämmerung 
des Bewusstseins, die man kurz als Dämmerzustände bezeichnet, sind 
indess keine Krankheit für sich; sie sind vielmehr lediglich von 
symptomatischer Bedeutung und weisen auf ein Himleiden hin, 
von -dem sie einen Theil bilden. 

Am bekanntesten sind die Dämmerzustände der Epileptiker. Dass 
auch hier Epilepsie vorliegt, erscheint mir, um das gleich vorweg zu 
nehmen, nach meinen Beobachtungen das Wahrscheinlichste. 


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Psychiatrische Gutachten. 


41 


Freilich typische epileptische Anfälle, die Krampfanfälle der Fall- 
süchtigen, die in ihrem jähen Einsetzen, ihrer elementaren Gewalt 
auch dem Laien wohlbekannt sind, sind bei K. nicht beobachtet; es 
lässt sich nicht nachweisen, dass er solche jemals gehabt hat. 

Es wäre aber falsch, daraus nun den Schluss ziehen zu wollen, 
dass K. deshalb nicht Epileptiker sein kann; denn die Forschungen 
auf dem Gebiete der Epilepsie der letzten Jahrzehnte haben gelehrt, 
dass an die Stelle der epileptischen Anfälle andere Zustände, Aequi- 
valente, treten können, die den epileptischen Anfällen gleichwerthig 
sind, die aber entweder die Störungen auf motorischem Gebiete — 
ich meine die Zuckungen — oder die Bewusstseinsstörung — ich 
meine die tiefe Benommenheit zur Zeit der epileptischen Anfälle, in 
denen die Kranken sich die schwersten Verletzungen zuziehen können, 
ohne das Geringste zu merken — mehr oder weniger vermissen lassen 
können. Diese Störungen, die das psychische oder somatische Gebiet 
betreffen können, haben mit jenen Krampfanfällen das gemeinsam, 
dass sie ohne äusseren Anlass auftreten, dass sie sich des Oefteren 
wiederholen, dass sie mehr oder weniger schnell verlaufen. Dass sie 
aber den Krampfanfällen klinisch gleichwerthig sind, das erhellt 
daraus, dass diese Zustände sich vorwiegend oder fast nur bei Epi¬ 
leptikern finden, dass diese Störungen bei denselben Individuen in 
directer Abhängigkeit von Krampfanfällen sowohl wie unabhängig 
von ihnen auftreten können; das beweist ferner die Beobachtung, dass 
Individuen, welche nur an AequivaJenten leiden, auf die Dauer die 
gleiche Veränderung der Persönlichkeit erfahren können, wie wir bei 
der typischen Epilepsie so oft zu beobachten in der Lage sind; das 
beweist schliesslich auch der häufige Erfolg einer Behandlung, die 
der der Epilepsie gleicht. 

Es wäre sicherlich auffallend, wenn K. nur den einen Dämmer¬ 
zustand geboten hätte, der mit der Strafthat zusammenfällt, die ihrer 
ßeurtheilung, m. H., untersteht. Wäre dem wirklich so, so würde 
das ein peinlicher, fast verhängnisvoller Zufall sein. 

Nun hat aber K. mir angegeben, dass er früher 2 mal ähnliches 
bei sich beobachtet habe. 

Das eine Mal ist er, als er in L. beschäftigt war, eines Sonnabends 
den ganzen Tag im Walde spazieren gegangen, ohne das geringste 
davon zu wissen. Er erinnert sich nur dunkel, dass er an dem 
fraglichen Abend müde und matt nach Hause kam. Seine Kennt¬ 
nis von der Wanderung im Walde verdankt er der Mittheilung 
eines Arbeitscollegen, der wegen einer Verletzung an der Hand feiern 
musste und ihm damals im Walde begegnete. Dass ein „Ausnahme- 


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42 


11. SCHULTZK 


zustand“, wie man solche Störungen auch nennt, wirklich Vorgelegen 
hat, wird weiter dadurch wahrscheinlich gemacht, dass er an dem 
Tage sich nicht wie sonst die ihm zustehende Löhnung holte. 

Eine zweite Begebenheit, die hier erwähnt zu werden verdient, 
spielte sich in Baden ab. Er erschien dort eines Tages wie gewöhnlich 
zur Arbeit und war aufs Höchste erstaunt, als ihm ohne Weiteres sein 
Meister die Thüre wies. Von ihm erfuhr er, was ihm bis dahin ganz 
fremd war, dass er am Tage vorher „Krach geschlagen 11 habe, dass 
er mehr Lohn verlangt und, als ihm dies verweigert worden war, ge¬ 
kündigt habe. Er musste die Stellung aufgeben. 

K. schildert diese beiden Begebenheiten recht glaubhaft, in völliger 
Uebereinstimmung mit dem, was wir von unseren Kranken erfahren. 
Ich betone noch besonders, dass Alkoholgenuss hierbei keine Bolle 
gespielt bat 

Es ist sehr gut möglich, dass K. solche Ausnahmezustände noch 
öfter erlebt hat; aber die kamen ihm selbst vielleicht nicht zum Bewusst¬ 
sein, weil er etwas Besonderes in der fraglichen Zeit nicht getban hat. 
Ist gar die Absence nur von kurzer Dauer, und hat sie sich in die 
gewohnte Beschäftigung eingeschoben, diese also nur für kurze Zeit 
unterbrochen, so vermag das betreffende Individuum aus eigener 
Wissenschaft kaum etwas anzugeben, wenn es nicht von Anderen nach¬ 
her eine Aufklärung erfährt 

Sodann hat K. hier mehrfach über intensive Kopfschmerzen ge¬ 
klagt, die plötzlich, unvermittelt auftraten und die nach kurzer Zeit 
von selbst wieder verschwanden. Dahinlautende Angaben hatte er 
mir von Anfang an gemacht. Dass aber die Kopfschmerzen wirklich vor¬ 
handen waren, das bewies sein leidender Gesichtsausdruck; noch mehr 
beweiskräftig ist die mehrfach gemachte Beobachtung, dass bei seinen 
Klagen über einseitigen Kopfschmerz das Auge derselben Seite stark 
thränte und dass dessen Bindehaut sehr stark gefüllte Blutgefässe 
aufwies. Diese beiden Erscheinungen kamen und verschwanden mit 
den Kopfschmerzen. 

Glauben Sie nur nicht, m. H., dass ich Jeden, der an zeitweiligen 
oder periodischen Kopfschmerzen leidet, nun direct für einen Epileptiker 
halte; das wäre sehr falsch, und die Zahl der Epileptiker würde bei 
einer derartigen Auffassung noch weit grösser werden, als sie schon ist 
Der periodische Kopfschmerz ist gewissermaassen nur ein kleiner Mo¬ 
saikstein, der an und für sich werthlos ist, der aber sofort an Be¬ 
deutung gewinnt, wenn er zu andern, für sich ebenfalls bedeutungs¬ 
losen Mosaiksteinen passt und mit diesen ein harmonisches Bild 
liefert. 


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Psychiatrische Gutachten. 


43 


Sodann gab mir E. an, dass er mehrfach Ohnmachts- nnd 
Schwindelanfälle gehabt habe. Er giebt zwei ganz bestimmte Fälle 
an, die beim Militär passirt sind, das eine Mal beim Exerciren, das 
andere Mal beim Springen. Er wurde bleich, es schwindelte ihm vor 
den Augen, er glaubte, die Sinne schwänden ihm, aber nicht für 
längere Zeit, sondern höchstens 2—3 Minuten; er meinte, erbrechen 
zu müssen, er musste austreten, und in kurzer Zeit hatte er sich so 
erholt, dass er wieder seinen Dienst aufnehmen konnte. Nachher 
wusste er wohl noch, was während der 2—3 Minuten passirt war, aber 
nicht so recht deutlich. 

Auf Befragen haben uns heute erst, m. H., die Zeugen angegeben, 
dass sie sich dieser Vorkommnisse erinnern. In Vervollständigung 
des Berichts von K. führen sie noch aus, dass das eine Mal K. beim 
Stillestehen während der ersten Aufstellung bewusstlos zusammen¬ 
brach, dass er das zweite Mal Erbrechen batte. 

Nach den übereinstimmenden Berichten kann nun Alkoholwirkung 
nicht vorliegen. Uebermüdung kann auch nicht im Spiele sein, denn 
K. wurde allein ohnmächtig, und der an erster Stelle erwähnte Ohn¬ 
machtsanfall trat bei der ersten Aufstellung ein. An einen Ilitzschlag 
darf man schon deshalb nicht denken, weil K. ja erst im Oktober 
vorigen Jahres, kurz vor den fraglichen Ereignissen, eingetreten war. 

Nun ist von einem von Ihnen, m. H., die Frage angeschnitten 
worden, ob nicht der Druck des Helmes auf die Narbe am Kopf den 
Ohnmachtsanfall ausgelöst habe. Gewiss ist das an und für sich 
möglich; aber diese Annahme trifft für den 2. Fall sicherlich nicht 
zu, da bei der Gelegenheit K. keinen Helm trug. 

Indess giebt mir diese Zwischenbemerkung erwünschten Anlass 
auf die Bedeutung der Schädelverletzung mit wenigen Worten ein¬ 
zugehen. 

Das Krankenhaus theilte uns nur kurz mit, dass K. eine Kopf¬ 
verletzung, möglicher Weise einen Schädelbruch erlitten habe und 
dieserhalb dort verpflegt worden sei. 

Andrerseits sind die bisher beschriebenen Krankheitserscheinungen 
und noch andere, auf deren Bedeutung ich gleich noch eingehen werde, 
erst nach der Kopfverletzung zu Tage getreten. Dadurch gewinnt 
die Annahme an Wahrscheinlichkeit, dass hier nicht nur ein zeitlicher, 
sondern auch ein ursächlicher Zusammenhang vorliegt. 

Man wende nicht ein, jene Kopfverletzung, die in kurzer Zeit 
zur Heilung oder doch wenigstens zur Entlassung aus dem Kranken¬ 
hause geführt habe, könne nicht so schwer gewesen sein, dass sie 
eine Epilepsie hätte nach sich ziehen können. Der kurze Kranken- 


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44 


II. SCHO.TZK 


hausauf enthalt spricht nicht unbedingt dagegen, dass etwa ein Bruch 
der innersten Schicht des knöchernen Schädels Vorgelegen haben kann; 
dieser wäre dann nach aussen nicht in Erscheinung getreten, und 
einer Behandlung hätte es somit nicht bedurft 

Wir brauchen aber die Annahme einer solchen, ich gebe zu, nicht 
gerade wahrscheinlichen Verletzung nicht zu machen. Denn es ist 
bekannt, dass der erste epileptische Anfall ausgelöst werden kann durch 
einen blossen psychischen Shok. Wenn der Lehrer dem Kinde eine 
Ohrfeige giebt, und dieses gleich nachher mit einem echten epilep¬ 
tischen Anfall debutirt, so ist dabei, abgesehen von der individuellen 
Beschaffenheit des Verletzten, neben der mechanischen Einwirkung 
sicherlich auch der psychische Schreck von Bedeutung. Mit diesem 
allein haben wir etwa dann zu rechnen, wenn der erste Anfall da¬ 
durch ausgelöst wird, dass das Kind über den ihm entgegenspringen¬ 
den, bellenden Hund erschrickt. 

Die Möglichkeit, dass K. durch eine relativ unbedeutende Ver¬ 
letzung oder gar durch einen blossen Schreck epileptisch werden 
konnte, ist hier um so grösser, als er hierzu disponirt war, d. h. in 
besonderem Maasse dazu befähigt war, auf derartige Einwirkungen 
von aussen so lebhaft, so nachhaltig zu reagiren. Die Disposition 
ist im vorliegenden Falle gegeben vor Allem durch die geistige Er¬ 
krankung seiner Mutter, die nun schon fast 20 Jahre in einer Irren¬ 
anstalt verpflegt werden musste. 

Es ist oft genug beobachtet, dass eine Kopfverletzung, welche 
psychische Veränderungen des Verletzten nach sich zieht, insbesondere 
eine hochgradige Reizbarkeit und Intoleranz gegen Gifte im Gefolge 
hat Die gleichen Symptome bieten aber auch viele Epileptiker. In 
der That finden wir sie auch hier. 

K. hat bei sich selbst beobachtet, dass er, nachdem er die Ver¬ 
letzung erlitten hat, sehr viel reizbarer geworden ist gegen früher. 
Während er früher gegebenen Falls bei Seite ging, lässt er sich jetzt 
gleich hinreissen, zu schimpfen und dreinzuschlagen. 

Während seines Anstaltsaufenthalts hatten wir sehr oft Gelegen¬ 
heit, zu beobachten, dass K. sich zutreffend geschildert hat. Ich be¬ 
gnüge mich damit, m. II., Ihnen nur ein Vorkommniss zu schildern. 

Um eine möglichst genaue und ununterbrochene Beaufsichtigung 
des K. zu erreichen, die wegen des nur periodischen Auftretens der 
Störungen besonders geboten war, lag K. Tag und Nacht auf einem 
Wachsaal zu Bett, d. h. in einem grösseren Krankenzimmer, mit 
anderen Kranken unter ständiger, Tag und Nacht anhaltender Aufsicht 
durch Pfleger. Seinem leicht begreiflichen Wunsch, aufstehen zu 


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Psychiatrische Gutachten. 


45 


dürfen, glaubte ich, aus den eben skizzirten Gründen nicht sofort 
nachgeben zu dürfen. Eines Tages hatte ich mich allein mit ihm 
in einem anderen Zimmer unterhalten. Als er sich nun wieder zu 
Bett legen sollte, wurde er sehr erregt; der Hinweis des Pflegers, 
er dürfe nur mit besonderer ärztlicher Erlaubnis aufstehen, fruchtete 
nichts. Er riss die Weste so heftig auf, dass alle Knöpfe absprangen. 
Er schimpfte sehr über die ihm zu Theil werdende Behandlung, und 
er drohte damit, dass er es durch seinen Vetter, den Redacteur einer 
Zeitung, in die Presse bringen lassen werde, dass man ihm nicht 
gestatte, aufzustehen. Schliesslich kündigte er an, er werde niemals 
mehr mit dem Gutachter auch nur ein Wort sprechen. Dabei war 
er bleich, bleicher als sonst; sein Blick hatte etwas flackerndes; und 
während er sonst nur wenig stotterte, stotterte er jetzt so stark, dass 
er mehrsilbige Worte kaum hervorstossen konnte, ja dass er viel¬ 
fach ganz unverständlich sprach. Er legte sich zu Bett, ver¬ 
kroch sich unter der Bettdecke, unterhielt sich mit keinem seiner 
Nachbarn und ass nicht. Dies Verhalten, welches stark mit seinem 
sonstigen Benehmen contrastirte, hielt bis zum Abend an, und erst 
im Laufe des anderen Nachmittags liess er sich wieder herbei, mit 
dem Gutachter zu sprechen. Für das fragliche Ereigniss hatte er 
eine nur mangelhafte Erinnerung; vor Allem wusste er nicht auf 
Vorhalt meinerseits, dass er erklärt hatte, er wolle niemals mehr mit 
mir sprechen. 

Derartige Ausbrüche haben wir oft genug bei ihm erlebt; die 
geringste Kleinigkeit, ein Anlass, den zu finden oft geradezu schwer 
war, genügte schon. 

Die hochgradige Erregbarkeit ist Ihnen auch heute aufgefallen. 
Es wird Ihnen nicht entgangen sein, wie der recht intelligente und 
geweckte K. sich auf die Beantwortung selbst einfacher Fragen viel¬ 
fach lange besinnen musste, wie undeutlich er einzelne Worte aus¬ 
sprach, wie ungeschickt er die einzelnen Worte zu Sätzen gruppirte. 
Dass in der That eine deutliche Veränderung mit ihm heute vorgeht, das 
haben die verschiedenen Zeugen, die K. von der Dienstzeit her, also 
aus dem normalen Leben her, kennen, übereinstimmend bekundet 
Vor Allem hat einer von Ihnen, m. H., auf den „trüben Blick' 1 , den 
der Angeklagte bietet, hingewiesen, und in Uebereinstiramung mit 
dieser Beobachtung sagen die Zeugen aus, er sehe sonst anders drein. 
Es ist ja sicherlich zuzugeben, dass wohl kein Angeklagter, der zum 
ersten Male vor den Schranken des Militärgerichts steht, die gewohnte 
Ruhe beibehalten wird; aber die Veränderung, die wir hier beobachten, 
übersteigt doch das Maass des Physiologischen. Dafür spricht vor 


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II. Schci/tzk 


Allem der Umstand, dass gerade Ihnen, die Sie doch öfter Ange¬ 
klagte vor sich stehen sehen, diese Veränderung aufgefallen ist. 

Wir dürfen nach dem heutigen Eindruck, den der K. auf uns 
gemacht, mit Sicherheit annehmen, dass er auch bei der ersten Ver¬ 
handlung ein ähnliches Bild geboten hat Das lässt es denn auch 
durchaus begreiflich erscheinen, dass der Angeklagte bei der ersten 
Verhandlung den Eindruck eines Kranken gemacht hat. 

Ebenso werden wir es aber verstehen, wenn K. in einem solchen 
Zustande Angaben macht, die nicht ganz den Thatsachen entsprechen, 
wenn er z. B. erklärt, er wisse nichts von seiner Heise durch Belgien 
oder Holland. Er selber macht darauf aufmerksam, er sei damals zu 
erregt gewesen, als dass er Alles hätte klar überlegen können; man 
habe ihn zudem missverstanden, man habe ihn nicht ausreden lassen. 

Jener Kopfverletzung schreibt K. eine weitere Folgewirkung zu, 
nämlich eine erhöhte Empfindlichkeit gegen die Einwirkung von Giften. 

Er könne das Bauchen, meint er, schlechter vertragen, und nach 
schweren Cigarren werde es ihm leichter schlecht als vordem. 

Aber auch auf Alkohol reagirt er stärker. Wenn er früher 15 
bis 20 Glas Bier trinken konnte, wird es ihm jetzt nach einem Genuss 
von 3—4 Glas Bier schon schlecht; dann verwirrten sich die Gedanken 
bei ihm, er sei reizbar, könne keinen Spass vertragen. Er schlafe ein; 
nach dem Erwachen sei er matt, unlustig zu Allem, leide an Kopf¬ 
schmerzen, und er wisse nicht mehr Alles, was er gethan habe. Er 
wisse dann vielmehr nur hier und da etwas, habe aber keinen rich¬ 
tigen Zusammenhang. 

Um ihn auf die Richtigkeit seiner Angaben zu prüfen, gaben 
wir ihm eines Tages eine geringe Menge unseres ganz leichten An¬ 
staltsbieres zu trinken. Ich brauche Sie wohl kaum zu versichern, 
dass wir zu dem Experiment sein Einverständniss einholten, das, er 
übrigens bereitwilligst gab. Er hatte noch nicht ein Liter des, wie 
gesagt, recht leichten Anstaltsbieres getrunken, da ging eine bedeutende 
Aenderung mit ihm vor. Der sonst schweigsame, fast scheue K. 
wurde recht gesprächig und redete ohne Anlass den Gutachter an; 
so verträglich er sonst war, fing er jetzt mit seiner Umgebung Händel 
an. Er fühlte sich sehr wohl; er war munter, fast ausgelassen, sang 
unausgesetzt Militärlieder; und während er sonst Hochdeutsch sprach, 
wandte er nun den echten, unverfälschten Cölnischen Dialect an. Er 
bekam nur noch wenig Bier, obwohl er solches energisch verlangte 
und verfiel dann nach vorübergehendem Erbrechen in einen Schlaf. 
Ich darf wohl noch hinzufügen, dass er während der gehobenen 
Stimmung gegen sonst erheblich erhöhte Sehnenreflexe hatte. 


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Psychiatrische Gutachten. 


47 


Gewiss ist zuzugeben, dass K. seit Ende Januar in Haft war und 
seit der Zeit keinen Alkohol bekommen hat, dass die Wirkung der 
Alkoholzufuhr nach der langen Abstinenz eine lebhafte sein musste. 
Aber da er selber angab, schon früher bei sich eine verstärkte 
Reactionsfähigkeit beobachtet zu haben, so ist nach Lage der Sache 
auch seine persönliche Beschaffenheit hierbei sehr wohl zu berück¬ 
sichtigen. Ob eine Abstinenz von nur wenigen Monaten bei einem 
sonst gesunden, an massigen Alkoholgenuss gewöhnten Menschen 
solche Wirkung hätte entfalten können, das möge dahingestellt bleiben. 
Dass das Ungewöhnliche der Wirkung der Alkoholmenge auch der 
Umgebung auffiel, das braucht, meine ich, kaum noch erwähnt zu 
werden, wo heut zu Tage noch die Mehrzahl unter uns ein gewisses, 
wenn auch nur beschränktes Sachverständniss in der Beurtheilung der 
Alkohol Wirkung durch Beobachtung an sich und Anderen erworben hat 

Ich gebe zu, dass es dieses Experiments nicht unbedingt bedurft 
hätte, aber andererseits ist der Nachtheil, der dem K. daraus erwachsen 
könnte, gering im Vergleich dazu, dass der positive Ausfall sehr zu 
Gunsten der Annahme der Wahrheitsliebe des Angeklagten spricht 

Darf ich die bisherigen Erörterungen, m. H., kurz zusammen¬ 
fassen, so ergiebt sich, dass der Angeklagte im Anschluss an eine 
Kopfverletzung an Dämmerzuständen, an periodischem Kopfschmerz 
an Schwindelanfällen, an hochgradiger Reizbarkeit und schliesslich an 
einer verminderten Widerstandsfähigkeit gegen Alkohol und Nicotin 
leidet. 

Dieser eigenartige Symptomencomplex entspricht aber durchaus 
dem Krankheitsbilde der traumatischen Epilepsie. Es ist daher die 
Annahme berechtigt, dass auch hier diese Krankheit mit höchster 
Wahrscheinlichkeit vorliegt. 

Mit diesen rein klinischen Erörterungen, die ich mit Absicht etwas 
ausführlicher gestaltet habe, weil sie ein ungewohntes und weiteren 
Kreisen noch wenig bekanntes Krankheitsbild betreffen, darf ich mich 
aber nicht begnügen. Meine wesentliche Aufgabe besteht vielmehr 
noch darin, Ihnen, m. H., zu erörtern, was sich daraus für die Frage 
der Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten ergiebt. 

Aus praktischen Gründen erscheint es mir geboten, die ihm zur 
Last gelegte strafbare Handlung in zwei Theile zu zerlegen; einmal 
ist er am 12. Januar Abends nicht zur Kaserne zurückgekehrt, und 
dann hat er am 13. Januar Morgens die Garnison verlassen. 

Was das Ausbleiben über Urlaub, also den ersten Theil der 
Strafthat angeht, so darf ich Ihnen wohl kurz in’s Gedächtniss zurück¬ 
rufen, dass K. am 12. Januar Nachmittags die Kaserne mit Urlaub 


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48 


II. SciIUJ.TZE 


verliess und nach A., dem Vorort der Garnison, ging, um dort seine 
Schwester, an der er offenbar mit inniger brüderlicher Liebe hängt, 
zu besuchen. Er findet sie unvermuthet schwer krank, und in ihren 
Fieberdelirien erzählte sie ihm von seiner Mutter, die in der Irren- 
pflegeanstalt zu H. schon seit Jahr und Tag sei. Das machte einen 
tiefen Eindruck auf ihn. Hatte er doch bis dahin geglaubt, seine 
Mutter sei schon lange todt Ich darf an dieser Stelle wohl einschalten, 
dass ich durch private Erkundigungen habe feststellen können, dass 
damals seine Schwester thatsächlich plötzlich schwer an Gallenstein¬ 
kolik erkrankt war; und dass K. an den Tod seiner Mutter wirklich 
glaubte, dafür spricht seine bei der Einstellung gemachte und uns 
heute von einem Zeugen bestätigte Angabe, seine Eltern seien beide 
todt. Wie er von A. nach G. gekommen ist, welche Strecke zu Fuss 
zurückzulegen etwa Stunden erfordert, ob zu Fuss, ob mit der 
Pferdebahn, das weiss er nicht. Er findet sich in einer Kneipe wieder, 
und dann setzt erst am nächsten Morgen die Erinnerung wieder ein, 
als er erwacht und sich in dem Bette eines Kameraden wiederfindet 

Das ist aber auch Alles, was K. zu reproduciren vermag. 

Dürfen wir die Richtigkeit seiner Angaben annehmen — und 
dazu werden auch Sie sich für berechtigt halten nach dem heutigen 
Ergebniss der Beweisaufnahme —, so handelt es sich zweifellos um 
einen Zustand von krankhafter, auf dem Boden der traumatischen 
Epilepsie beruhenden Bewusstseinsstörung. Das Fehlen der Erinne¬ 
rung gestattet im vorliegenden Falle mit einer an Sicherheit grenzenden 
Wahrscheinlichkeit den Rückschluss auf eine Trübung des Bewusst¬ 
seins. Dieser Anfall war ausgelöst durch das psychische Moment des 
Erschreckens über die schwere Erkrankung seiner Schwester und 
über die seine Mutter betreffenden Nachrichten und unterhalten durch 
die Zufuhr von Alkohol, von dem für sein Gehirn so verhängniss- 
vollen Gifte'). 

Lag damals, an dem Abend des 12. Januar, aber eine Bewusst¬ 
seinsstörung vor, so fällt K. für die Zeit unter den Schutz des § 51 
St. G. B. 

Weiterhin ist K. am Morgen des 13. nicht in die Kaserne heim- 

1) Als Mediciner wird man an die Möglichkeit denken müssen, dass der 
Ausfall der Erinnerung für die Zurücklegung des Weges auf retrograde Amnesie 
zurückgeführt werden kann. Ich habe mit dieser Möglichkeit vor Gericht nicht 
gerechnet, um das Sachverhältniss nicht eomplicirter zu gestalten, als es schon 
ist; dann aber wäre auch, die Richtigkeit dieser Annahme vorausgesetzt, die hier 
vertretene Auffassung der Frage der Zurechnungsfähigkeit nicht im Mindesten 
verändert worden. 


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Psychiatrische Gutachten. 


49 


gekehrt; statt dessen hat er die Garnison verlassen, ist längere Zeit 
durch Holland und Belgien Arbeit suchend gereist, und hat sich erst 
Ende des Monats freiwillig in Z. gestellt 

Die nächstliegende Annahme ist ja wohl die, dass auch dieser 
Zeitraum bei ihm, der mit Lust und Liebe Soldat war, in einen 
Dämmerzustand fiel. Die Länge der Zeit — 14 Tage — spricht 
nicht unbedingt dagegen, denn man hat Dämmerzustände beobachtet, 
die Wochen gedauert haben und die von den Kranken zur Zurück¬ 
legung weiterer Reisen, z. B. von Deutschland bis in’s Innere von 
Amerika benutzt worden sind, ohne dass die Individuen auf ihren 
Reisen irgendwie aufgefallen wären. 

Allein diese Annahme wird durch seine eigenen Aussagen wenig 
wahrscheinlich gemacht. 

Einmal giebt er nämlich recht genau an, wo er sich an den ein¬ 
zelnen Tagen aufgehalten bat, was er da und dort gemacht hat, 
welche Strecken er zurückgelegt hat, wann er weiter gereist ist. 
Das allein spricht natürlich noch nicht gegen die obige Annahme, 
wie ich Ihnen, m. H., schon früher auseinandersetzte. Ebenso wenig 
würde auf der anderen Seite eine lückenhafte Erinnerung zur An¬ 
nahme von Dämmerzuständen zwingen. Denn wer von Ihnen ist im 
Stande, mir heute genau anzugeben, wo und wie er vor einigen 
Monaten an einem bestimmten Tage die einzelnen Stunden zugebracht 
hat! Ich bin der Ansicht, dass, wenn nicht ganz besondere Umstände 
mitsprechen, keiner von Ihnen das vermag. 

Aber noch zwei andere Punkte verdienen bei der vorliegenden 
Discussion verwerthet zu werden. Reist ein Epileptiker im Dämmer¬ 
zustände, so giebt er meist an, er habe fortgemusst, er habe einen 
inneren Drang gehabt, der ihn getrieben habe, dem er nicht habe 
widerstehen können, er habe Angstgefühle gehabt; andrerseits berichtet 
er, in dem Orte X. sei er zu sich gekommen, da sei es ihm wie 
Schuppen von den Augen gefallen, da habe er gemerkt, was für eine 
Dummheit er wieder gemacht habe. 

K. macht weder die eine noch die andere Angabe. Das zu¬ 
sammengehalten mit dem Fehlen einer erweisbaren Amnesie macht 
es nur wenig wahrscheinlich, dass er in einem Dämmerzustand 
die Garnison verlassen und sich im Auslande umhergetrieben hat. 
Ich muss aber zugeben, dass die Möglichkeit nicht mit einer, wenn 
ich so sagen darf, mathematischen Sicherheit ausgeschlossen wer¬ 
den kann. 

K. selber motivirt seine Reise in einer anderen und, wie mir 
dünkt, nicht unglaubhaften Weise. Als er am Morgen des 13. er- 

Archiv für Kriminalanthropoloirie. Xf. 4 


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II. ScHUJ.TZE 


wachte, erzählte ihm sein Kamerad, er habe am Abend vorher sich 
schlecht aufgeführt, er habe Krach geschlagen, er werde auf Festung 
kommen; das Beste für ihn sei, in’s Ausland zu gehen. Auf eine 
Detailschilderung liess sich der Kamerad nicht ein, wiewohl ihn K. 
darum bat. 

Nun vergegenwärtigen Sie sich die Lage, in der K. war. Er 
hört von einem Kameraden, dass ihm eine schwere Strafe bevorsteht» 
K. kennt ihn hinreichend genau, um die Annahme auszuschliessen, 
dass jener sich einen Scherz mit ihm erlauben wolle. Sie haben Alle 
selber gesehen, wie leicht K. sein psychisches Gleichgewicht verliert 
Diese Gefahr war für ihn an dem Tage noch grösser als sonst, da 
er am Abend vorher gekneipt hatte. Die Schwester von K. hatte ihm 
früher schon gesagt, er solle nur machen, dass er beim Militär nicht 
bestraft werde; sonst wolle sie gar nichts mehr von ihm wissen. K. 
sieht diese Möglichkeit vor Augen, und andrerseits weiss er doch auch 
nicht das Geringste von dem, was er gethan haben soll, hat also das 
leicht begreifliche Gefühl, völlig unschuldig zu sein. 

Ich glaube, Sie werden mir beipflichten, wenn ich annehme, dass 
alle diese Momente K. zu einer verständigen Ueberlegung nicht haben 
kommen lassen. Ich sehe davon ab, dass er, der sich unschuldig 
fühlte, mit der Möglichkeit rechnen konnte, straffrei auszugeben. Die 
zu einem solchen Schluss nothwendige psychiatrische und juristische 
Kenntniss fehlte ihm. Er dachte gar nicht ruhig über seine Lage 
nach. Planlos, ohne jede weitere Vorbereitung verlässt er, dem be¬ 
denklichen Rathe seines Freundes blindlings folgend, die Garnison; 
er macht seine Situation damit nur noch schlechter, als sie bereits ist» 

Der besonnene, einer verständigen, ruhigen Ueberlegung zugäng¬ 
liche Mensch wird doch nicht eine zweite Strafthat der ersten folgen 
lassen, um deren Folgen zu entgehen! 

Es lässt sich meines Erachtens nicht erweisen, dass K., als er 
seine Garnison verliess, sich in einem Zustande ausgesprochener Geistes¬ 
störung gemäss § 51 St. G. B. befand. Aber andrerseits muss bei der 
strafrechtlichen Bewerthung dieser strafbaren Handlung deren Moti- 
virung und die Eigenart der psychopathischen Persönlichkeit des An¬ 
geschuldigten im weitesten Maasse berücksichtigt werden. K. gleicht 
da eben, möchte ich fast sagen, einem Kinde, das wenig Lebenserfah¬ 
rung gesammelt hat und ohne Nachdenken das thut, was ihm ein 
Anderer sagt; es erweist sich den Eingebungen fremder Personen 
gegenüber zugänglicher, als es für den normalen Durchschnittsmenschen 
zutrifft. 

Ich weiss wohl, dass das Militär-Strafgesetzbuch sowenig wie das 


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Psychiatrische Gutachten. 


51 


Bürgerliche Strafgesetzbuch eine geminderte Zurechnungsfähigkeit kennt. 
Gäbe es aber eine solche, so würde ich nicht anstehen, von ihr im 
vorliegenden Falle Gebrauch zu machen. 

Die dauernd bestehende geistige Anomalie des K. verdient eben 
eine weitgehende Berücksichtigung, besonders im militärischen Leben. 

Ich gebe daher nach bestem Wissen und Gewissen mein Gut¬ 
achten dahin ab: 

1. Der Angeklagte befand sich, als er am 12. Januar nicht zur 
Kaserne heimkehrte, mit grosser Wahrscheinlichkeit in einem Zustande 
von Bewusstlosigkeit gemäss § 51 St G. B. 

2. Dagegen befand er sich wahrscheinlich nicht in einem die 
freie Willensbestimmung ausscbliessenden Zustande gemäss $ 51 St. 
G. B., als er sich aus der Garnison entfernte; indess verdient er hier¬ 
bei aus den oben angeführten Gründen eine milde Beurtheilung. 


Im Laufe der Verhandlung wurde mir die Frage vorgelegt, ob 
ich K. für dienstuntauglich halte; ich bejahte die Frage. 

Der Vorsitzende des Gerichts wies dann weiterhin auf die be¬ 
kannte Reichsgerichts-Entscheidung hin, nach der schon berechtigte 
Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit diese ausschliessen und fragte 
mich im Anschluss daran, ob denn die Möglichkeit bestände, dass K. 
in einem Dämmerzustände die Reise gemacht habe. Ich erwiderte, 
dass das wohl möglich sei, aber auch nur möglich; etwas Weiteres 
könne ich nicht sagen. 

Der Vertreter der Anklage billigte dem Angeklagten mildernde 
Umstände im weitesten Maasse zu und beantragte die geringste Strafe 
ohne Verlust der Ehrenrechte. 

Der Vertheidiger plaidirte für Freisprechung. 

Das Gericht kam nach kurzer Berathung zu dem Schluss, K. sei 
möglicher Weise auch zur Zeit der Fahnenflucht unzurechnungsfähig 
gewesen, und sprach ihn daher frei. 

Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass bei dem Zustande¬ 
kommen des freisprechenden Urtheils auch die Erwägung mitgewirkt 
hat, dass K. dienstuntauglich sei. 

II. 

Der 25 Jahre alte Matrosen - Artillerist X. hatte eines Tages mit 
seinem Kameraden ohne Urlaub seine Garnison verlassen und hatte 
sich diesen und den nächsten Tag in der benachbarten Stadt umher¬ 
getrieben, bis er von einer ausgesandten Patrouille festgenommen wurde. 

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52 


II. ÖC'HILTZE 


Den meisten Zeugen erschien er damals zum Mindesten angetrunken, 
jedenfalls betrunkener als sein mit ihm verhafteter Kamerad. In die 
Kaserne zurückgebracht, versuchte er zu entweichen, widersetzte sich 
seiner Verbringung in die Zelle und geberdete sich dabei ganz wild. 
Er verlangte bald darauf auszutreten, zog auf dem Aborte sein Taschen¬ 
messer, bedrohte damit seine Umgebung, insbesondere einen bestimmten 
Unterofficier, und gab das Messer erst nach mehrfachem Befehle seitens 
eines Officiers ab, nachdem er vorher von anderen Vorgesetzten ver¬ 
geblich dazu aufgefordert worden war. Er wurde, da er Drohungen 
ausstiess, mit Gewalt in die Arrestzelle zurückgebracht. Hier tobte er 
weiter, zerschlug die hölzernen Fensterladen, riss am Fenster eine 
Sicherheitsstange aus der Wand und wurde schliesslich ruhig. Er 
wurde dann gebunden; dabei soll er sich in einem völlig erschlafften, 
vielleicht besinnungslosen Zustande befunden haben. 

X. wurde daraufhin von dem Kriegsgericht zu A. zu 3 Jahren 
2 Monaten Gefängniss wegen seiner eben skizzirten Vergehen (uner¬ 
laubte Entfernung, Unternehmen eines thätlichen Angriffs gegen Vor¬ 
gesetzte, Selbstbefreiung als Gefangener, ausdrückliche Gehorsamsver¬ 
weigerung, Achtungsverletzung, Beschädigung von Dienstgegenständen) 
verurteilt Der als Sachverständiger hinzugezogene Militärarzt hatte 
bei der Verhandlung erklärt, X. sei nicht sinnlos betrunken gewesen 
und habe sich keinenfalls in einem Zustande krankhafter Störung u.s.w. 
befunden; er habe vielmehr bei den ganzen Vorgängen die volle Be¬ 
sinnung gehabt; ebensowenig sei aus den Aussagen über sein Vor¬ 
leben ein krankhafter Zustand zu folgern. 

X. legte daraufhin Berufung ein, indem er unter Hinweis auf die 
verschiedensten Vorkommnisse seines Lebens behauptete, er habe die 
strafbaren Handlungen in einem Zustande völliger Bewusstlosigkeit 
begangen, da er sich ihrer nicht zu entsinnen vermöchte. Er bean¬ 
tragte eine irrenärztliche Untersuchung. 

Das Obergutachten der militärärztlichen Commission kam zu dem 
Schluss, X. leide an Dipsomanie; dieser zeitweise auftretende krank¬ 
hafte Geisteszustand schliesse selbstverschuldete Trunkenheit aus; die 
fraglichen Handlungen seien in einem dipsomanischen Anfall, also in 
einem krankhaften Geisteszustand, vollbracht. 

In der darnach folgenden Sitzung des Ober - Kriegsgerichts des 
... Armeecorps beantragten sowohl der Vertreter der Anklage, wie der 
Vertheidiger Freisprechung des X. unter Anwendung des § 51 Str.G.B. 
Das Gericht beschloss aber eine nochmalige Begutachtung des X. durch 
einen Irrenarzt auf Grund einer Anstaltsbeobachtung gemäss § 217 Militär¬ 
strafgerichtsordnung, der dem bekannten §81 Str. P. 0. entspricht. 


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Psychiatrische Gutachten. 


53 


Es sei noch bemerkt, dass X. vor seinem Eintritt beim Militär 
9 mal vorbestraft ist, und zwar 8 mal mit Haft bezw. Geldstrafe 
wegen Erregung ruhestörenden Lärms, Bettelei, Beleidigung, sowie 
einmal mit 2 Monaten Gefängniss wegen Körperverletzung und Wider¬ 
stand gegen die Staatsgewalt. Ferner ist X. bei der Marine des 
Oefteren bestraft wegen Trunkenheit, Postenbeleidigung, unerlaubter 
Entfernung, sowie zweimal mit je 2 Monaten Gefängniss wegen öffent¬ 
licher Beleidigung, Ruhestörung, Widerstand gegen die Staatsgewalt 
bezw. Körperverletzung und ausdrücklicher Gehorsamsverweigerung. 

Gutachten. 

M. H.! Wer sich über das Wesen und den Charakter einer 
Persönlichkeit klar werden will, wird hierzu oft genug nur dann 
im Stande sein, wenn ihm die Kenntniss von ihrer ganzen Lebens¬ 
geschichte zur Verfügung steht. Deren bedarf es naturgemäss vor 
Allem dann, wenn nicht nur einzelne Aeusserungen, einzelne Handlungen, 
sondern viele und zudem zu den verschiedenen Zeiten einen Zweifel an 
dem Vorhandensein geistiger Gesundheit aufkommen lassen. Damit 
stimmt durchaus eine Erfahrung überein, die jeder Irrenarzt oft genug zu 
machen Gelegenheit hat, nämlich die, dass bei vielen seiner Patienten 
deren Lebensgeschichte zugleich auch deren Krankheitsgeschichte ist. 

Das Gesagte gilt im besonderen Maasse von dem vorliegenden 
Falle. Eben deshalb habe ich mich mit X. in den mannigfachen Unter¬ 
redungen besonders eingehend über sein früheres Leben unterhalten. Eben 
deshalb ist es auch dankbar zu begrüssen, dass die mit der Erstattung 
des Obergutachtens betraute Commission so weitgehende und mannig¬ 
fache Erhebungen über das Vorleben und die häuslichen Verhältnisse 
des X. hat anstellen lassen; denn dadurch war ich in der Lage, mich 
von der Richtigkeit der Angaben, die X. selber mir gemacht hat, über¬ 
zeugen zu können. 

Was wir über das Vorleben des X. wissen, entspricht im Wesent¬ 
lichen Folgendem: 

Schon als Kind war er reizbar, jähzornig, eigenwillig, eitel. In- 
tellectuell zwar ganz gut veranlagt — er verfügt heute über durchaus 
normale Kenntnisse auf den verschiedensten Wissensgebieten — war er 
faul und musste oft zum Fleiss angehalten werden. Bereits auf der 
Schule duldete er keinen Widerspruch seitens seiner Kameraden, und 
so kam es oft zu Zank und Streit, zumal er auch vielfach glaubte, dass 
man ihn hänselte. Da er die Angriffe als Stärkerer und Geschickterer 
stets abwehrte, wurde er immer rauflustiger und anmaassender. 

Uebereinstimmend hoben die verschiedenen als Zeugen vernom- 


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II. SciIULTZE 


menen Lehrer, die Sie gehört haben, seine Leichtlebigkeit hervor. Der 
eine Lehrer kennzeichnet ihn kurz und treffend mit den heute noch 
zutreffenden Worten „Bruder sorglos“, und ein Anderer sagt von ihm 
mehr richtig als schön aus, er habe wohl etwas mehr Anlage zum 
Leichtsinn gehabt, als man es noch ohne besondere Befürchtungen für 
die Leistungen in Kauf zu nehmen pflege. Er stellt ihm also eine 
sehr wenig erbauliche Zukunft in Aussicht! 

Diese, sich schon von früh an geltend machende Abnormität seines 
Wesens erscheint um so erklärlicher, als X. — und auch darin stimmen 
die Angaben aller in Betracht kommenden Zeugen durchaus überein 
— als einziger Sprössling von den Seinigen, besonders von seiner Mutter 
und Grossmutter, aufs Aeusserste verwöhnt und in seiner Neigung 
zum Eigenwillen nur bestärkt wurde. Die Eltern nahmen ihren Sohn 
gegenüber den Klagen Anderer gar zu einseitig in Schutz und schenkten 
den Warnungen wohlmeinender Freunde vor zu grosser Nachgiebigkeit 
kein Gehör. Sie putzten ihn heraus; er fiel allgemein auf der Elemen¬ 
tarschule durch seinen guten Anzug auf, und ein Zeuge glaubt, darauf 
besonders aufmerksam machen zu dürfen, dass X., der Sohn eines 
Werkmeisters, schon auf der Bürgerschule Manschetten getragen habe. 

Nachdem er aus der Schule entlassen ist, muss er natürlich einen 
Beruf ergreifen. Am liebsten möchte er auf die See; die verschie¬ 
denen Romane, insbesondere die May’schen Erzählungen, haben es 
ihm angethan. Aber die Eltern wollten es nicht, und noch musste er 
sich deren Willen fügen. 

X. wollte Lehrer werden; aber nachdem er etwas über 1 Jahr auf 
einer Präparandenscbule geblieben war, ging er weg. Er hatte da noch 
mehr Indianergeschichten gelesen, und er wollte weg, nach Amerika. 
Die Eltern Hessen das aber nicht zu. Seine Absicht, Förster zu werden, 
scheiterte daran, dass er bei einer Untersuchung als zu schwach be¬ 
funden wurde. 

Dann wollte er in den Reitstall gehen, Jockey werden; der ver¬ 
diene doch viel Geld auf seinen Reisen mit Wetten und Spielen; aber 
das wollten die Eltern nicht Deren Wunsch, auf die Postschule zu gehen, 
passte ihm wieder nicht weil er keine Lust hatte, Beamter zu werden. 

So wurde er denn Kaufmann. Zuerst war er V 2 Jahr auf 
einem Fabrikcomptoir, Hess sich da aber nichts sagen, überwarf sich 
mit den andern Lehrjungen und lief einfach weg nach Hause. Darnach 
war er '/? Jahr in einer Eisenhandlung und gab ohne Grund die 
Stellung auf. Ebensolang war er in einer Droguerie, aus der er mehr¬ 
fach fortlief. Schliesslich blieb er für immer weg, weil es ihm nicht 
passte, andere Leute zu bedienen, da er lieber sich selber bedienen 


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Psychiatrische Gutachten. 


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Hess. Und dann Abends so lange arbeiten zu müssen! Und Sonntags 
nicht frei zu haben! Und alle die Beschränkungen bei den Vergnü¬ 
gungen und Tanzlustigkeiten sich gefallen zu lassen! Das passte ihm 
nicht. Die Lust, in’s Ausland zu gehen, machte sich wieder recht stark 
geltend; in Folge der Lectüre der „furchtbaren“ Seegeschichten und 
Bäuberromane hatte er, wie er sich selber ausdrückt, „romantische 
Gedanken gekriegt“; aber da er, anscheinend in Folge der Mitwirkung 
seiner Eltern, keinen Pass bekam, musste er zu Hause bleiben. 

Der Vater sah, dass mit seinem Sohne nichts zu machen war, und 
er verschaffte ihm eine Stellung als „Volontär“, wie X. mit Stolz 
immer wieder erzählt, in dem Möbelgeschäft, in dem er selber als 
Werkmeister seit Jahren angestellt war. Hier blieb er über ein Jahr, 
wurde nach eigener Angabe als Decorateur und Tapezierer völlig aus¬ 
gebildet und trat dann eines Tages plötzlich, eigenmächtig, ohne Grund 
aus. Er Hess sich auch hier nichts sagen, von keinem Menschen, weil 
er nicht daran gewöhnt sei, oder es müsste schon ein kolossaler Zwang 
dahinter sein. Es kam, wie der Zeuge S. anschaulich, fast zu drastisch, 
schilderte, zu richtigen Wuthausbrüchen bei X.; es traten ihm die 
Augen förmlich aus dem Kopf, Schaum stand vor seinem Mund, und 
er wusste nicht mehr, was er sagte. Einmal schlug er seinen Vor¬ 
gesetzten mit einem Holzpantoffel; ein anderes Mal warf er nach einem 
Gehilfen, der ihn zurechtgewiesen hatte, mit dem Beile, und wenn 
dieser nicht so schnell zur Seite gesprungen wäre, wäre ihm der 
Schädel vom Beile gespalten worden. 

Derselbe Zeuge S. wurde mehrfach vom Vater des X. in seine 
Wohnung gerufen, und bei der Gelegenheit sah er, wie X. das Mittag¬ 
essen, Teller, Geschirr, kurz Alles, was ihm in die Finger kam, gegen die 
Wände und Fenster warf. Das Gleiche bekundet auch der Vater desX. 

Die Rücksichtnahme auf den Vater hat wohl dazu beigetragen, 
dass X., der sich im geschäftlichen Verkehr als so jähzornig erwies 
nicht ohne Weiteres entlassen wurde. Seine Wuthanfälle im Kreise 
der Seinigen hatten aber später zur Folge, dass der Vater des X. seine 
im Geschäft gelegene Wohnung räumen musste. 

Uebrigens wurde danach noch der Zeuge S. einmal zur Hilfe ge¬ 
rufen und fand, dass X. wieder alles Geschirr zerschlagen hatte. 

Die Eltern mochten wohl eingesehen haben, dass es nicht mehr 
möglich war, X. länger zu Hause zu halten; und damit begann für X. 
ein regel- und zielloses Wanderleben. Er kam in aller Herren Länder; 
wir erfahren, dass er in England, Frankreich, Belgien, Italien, Oester¬ 
reich-Ungarn und Amerika gewesen ist Ab und zu arbeitete er wohl 
als Decorateur, indess nur wenig und nicht anhaltend. Und warum ? 


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II. ScHUI.TZK 


er verdiente dabei täglich nur 4,00 Mk., und das war ihm ein zu ge¬ 
ringer Verdienst, ihm, der nach seiner Ansicht so viel ausgeben konnte 
wie er Lust hatte; so sei er doch erzogen worden! 

Später arbeitete er auch wohl in Kunstarena’s, indem er den 
Diener spielte oder in Ausstattungspantomimen half, aber immer nur 
für kurze Zeit. Vorübergehend rang er auch in Athletenbuden, die 
auf Schützenfesten umherzogen, oder er war bei wandernden Schau¬ 
spielertruppen thätig und spielte die Rolle des jugendlichen Liebhabers. 
Nirgendwo aber hielt er es lange aus, und wenn das Geld ausging, 
vermiethete er sich als Arbeiter, als Kohlenschlepper, als Viehtreiber, um 
freie Heimfahrt zu haben, oder die Eltern mussten ihm Gelder schicken, 
damit er wieder in seine Heimath reisen konnte. 

Auch hier lag er ihnen, so lange es ihn zu Hause hielt, auf der 
Tasche. Wohl versuchte er dreimal, in dem Möbelgeschäft, in dem 
auch sein Vater thätig war, wieder zu arbeiten, jedoch immer nur für 
kurze Zeit Nach einigen Wochen blieb er jedesmal weg, ohne An¬ 
gabe eines Grundes, ohne seine begonnene Arbeit fertig zu machen; 
und man sah ihn nicht ungern scheiden, da er sich mit Keinem vertrug, 
da Keiner es mit ihm aushalten konnte. 

Dass X. bei einem solchen Lebenswandel sich vielfach alko¬ 
holischen und sexuellen Excessen hingab, erscheint um so weniger 
wunderbar, als seine Eltern ihm nach seinen Angaben recht er¬ 
kleckliche Summen sandten. In 4—5 Jahren will er etwa 4—5000 Mk. 
erhalten haben. Woher das Geld stammt, dass weiss er nicht; auf 
directes Befragen meinte er, das werde sich der Vater wohl im Laufe 
der Zeit erspart haben. Aber darüber, wie viel Geld der Vater früher 
verdient habe, kann er mir keine Auskunft geben. Das Geld habe 
er, wie er offen, ich möchte fast sagen, mit einem Anfluge von stolzem 
Selbstbewusstsein erzählt, alle verbraucht, verreist, versoffen, mit 
Frauenzimmern durchgebracht 

Wie Ihnen aus dem Strafregister bekannt ist, m. H., ist X. im 
bürgerlichen Leben fast 10 mal vorbestraft, und fast immer hat er die 
strafbare Handlung in einem Zustande von Trunkenheit begangen. 
Ebenso wissen Sie alle, dass er vor kaum 2 Jahren zur Marine kam 
und dass er auch in dieser Zeit recht oft, meist wieder unter dem Ein¬ 
fluss von Alkohol, sich strafbare Handlungen hat zu Schulden kommen 
lassen, bis die jetzige Anklage die Untersuchung auf seinen Geistes¬ 
zustand herbeigeführt hat. 

Das ganze bisherige Leben des X. ist somit nichts wie eine un¬ 
unterbrochene Kette von Entgleisungen. So viele Geschäfte er auch 
begonnen hat, so viele hat er auch aufgegeben, und das geschieht 


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Psychiatrische Gutachten. 


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jedesmal nach ganz kurzer Zeit, ohne jeden ersichtlichen oder ver¬ 
ständigen Grund. Aber auch in dem einen Arbeitsbetriebe, in dem 
er noch am längsten gearbeitet hat, hat er wenig erreicht; er hat 
darin so wenig gelernt, dass er zu einer einschlägigen, selbständigen 
Arbeit heute unfähig ist. An keinem Orte hält er es lange aus, 
ziellos und zwecklos wandert er durch die Welt. 

Der Irrenarzt wird, wenn ihm eine solche Biographie aufstösst, 
nicht nur geneigt sein, an der geistigen Intactheit des Individuums 
zu zweifeln, sondern wird noch weiterhin angesichts der ungeschwächten 
Intelligenz die Vermuthung nicht unterdrücken können, dass er es mit 
einem Degenerirten zu thun hat, d. h. mit einem Individuum, das 
vom Typus im ungünstigen Sinne dauernd und so wesentlich abge¬ 
wichen ist, dass man berechtigt ist, es bereits zu den Geisteskranken 
zu zählen. 

Gerade die Degenerirten sind es, auf die man das oft citirte 
Stifter’sche Wort mit Recht anwendet: „Es waren in seinem Leben 
nur Anfänge ohne Fortsetzungen und Fortsetzungen ohne Anfänge“, 
und dass des Dichters Wort auch für den vorliegenden Fall zutrifft, 
wird Jeder von Ihnen, m. H., ohne Weiteres zugeben. 

Sehen wir nun zu, m. H., ob unsere Vermuthungsdiagnose zu¬ 
trifft, ob X. auch noch andere Zeichen bietet, welche die klinische 
Beobachtung Degenerirter uns hat erkennen lassen. 

Man muss hier unterscheiden zwischen Zeichen auf körperlichem 
und solchen auf geistigem Gebiete. Die ersteren sind vorzugsweise 
das, was man unter dem bekannten Namen Degenerationszeichen zu¬ 
sammenfasst. Es kann nicht bezweifelt werden, dass dieser Begriff 
gar zu oft und zu viel angewandt, um nicht zu sagen, missbraucht 
wurde; es darf daher auch nicht Wunder nehmen, wenn er discre- 
ditirt ist, und deshalb begnüge ich mich, mehr im Vorbeigehen darauf 
hinzuweisen, dass X. eine Differenz der Sehnenreflexe, die übrigens 
recht lebhaft sind, ein Zucken der Gesichtsmusculatur, sowie der 
Schultermu8culatur beim Sprechen erkennen lässt. 

Von ungleich grösserem Werthe sind für den vorliegenden Zweck, 
m. H., die geistigen Merkmale der Degeneration, und hier kann man 
bei der bunten Mannigfaltigkeit der Züge, die der Degenerirte bietet, 
vor Allem 2 Symptomengruppen beobachten; das ist einmal eine auf¬ 
fällige Ungleichmässigkeit in der Entwicklung und Ausbildung der 
einzelnen geistigen Fähigkeiten, sodann ein ungewöhnliches Missver- 
hältniss zwischen Reiz und zugehöriger Reaction. 

Was den ersteren Punkt angeht, den Mangel des Gleichgewichts 
in der geistigen Persönlichkeit, so muss hervorgehoben werden, dass 


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II. SCHULTZE 


die Intelligenz von X. eine durchaus normale ist, ja vielleicht die 
Intelligenz der Leute seines Standes und seiner Herkunft übersteigt. 
Es wird auch Ihnen aufgefallen sein, m. H., mit welch’ regem Interesse, 
mit welch 7 tiefem Verständnisse er dem Gange der Verhandlung ge¬ 
folgt ist. Die Intelligenz erfreut sich bei der Beurtheilung zweifel¬ 
hafter Geisteszustände, insbesondere durch Laien, einer so weit ver¬ 
breiteten Ueberschätzung, dass es durchaus verständlich ist, wenn 
X. der Mehrzahl der Zeugen nicht als Kranker erschienen ist 

Um so mehr fällt aber die gute intellectuelle Veranlagung des 
X. auf, als sein ethisches Empfinden und Wollen im Vergleich dazu 
recht kümmerlich entwickelt ist. Diese Disharmonie machte sich 
schon recht früh bei ihm geltend. 

Ich weise nur darauf hin, dass er trotz seiner guten Auffassungs¬ 
kraft, trotz seines guten Gedächtnisses nichts mehr von dem, was er 
im Religionsunterricht gelernt hat, anzugeben vermag; er kennt nicht 
die Zahl noch das Wesen der Sacramente, und die Confirmadon 
spricht er als eine heute nun einmal übliche Mode an, durch die 
nach aussen hin der Eintritt unter die Zahl der Erwachsenen be¬ 
kundet werde. Doch aus naheliegenden Gründen möchte ich auf 
diese Unkenntniss nicht allzugrosses Gewicht legen. 

Viel wichtiger ist die Verkümmerung des sittlichen Empfindens, 
die sich in seinen Handlungen kundgiebt. 

Er findet gar nichts Beschämendes darin, dass er seinem Vater 
solche Unkosten verursacht hat, die in keinem Verhältniss zu dessen 
socialer Stellung stehen, dass er ihm mehr als einmal Geldsummen 
mit Drohungen abgetrotzt hat. 

Man bekommt eher fast den Eindruck, dass er den Vater dazu 
für verpflichtet hält; und er entblödet sich nicht, auch heute, nach¬ 
dem er den Seinigen bereits so viel Herzeleid bereitet hat, diese uni 
Zusendung von Esswaaren anzugehen. Deren bedarf er doch wirklich 
nicht! Aber kaum ist ein Packet da, so bittet er schon um Wiederholung 
der Sendung in „angemessenen Zwischenräumen 11 ; und wie mannig¬ 
fache Wünsche an Zahl und Art äusserte er dabei! 

Die mangelhafte Ausbildung der Gefühlsseite tritt uns wohl kaum 
deutlicher entgegen, als dann, wenn er über seine sexuellen Erlebnisse 
erzählt. Sie haben vielfach einen recht bedenklichen, abenteuerlichen 
Anstrich; aber ohne jede Spur von Scham oder Reue erzählt er von 
ihnen. Ein wie strenger Sittenrichter aber ist er, wenn er von der 
Unkeuschheit des weiblichen Geschlechts redet! Einer Tochter, die sich 
vergeht, muss der ordentliche Vater, meint er, sofort die Thüre weisen. 

Auch heute fällt er Ihnen, m. H., auf durch die Eitelkeit und 


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Psychiatrische Gutachten. 


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Selbstgefälligkeit, die er zur Schau trägt; sie macht sich bei ihm in 
einem Maasse geltend, wie sie weder zu seiner Stellung noch zu seiner 
momentanen Lage passt. Ich darf Ihnen wohl auch verrathen, dass 
er, da ihm die Natur einen geraden Wuchs der Beine versagt hat, 
sich ein besonderes von ihm construirtes Bekleidungsinstrument zur 
Verdeckung dieses Schadens zugelegt hat — sicherlich etwas sonderbar 
für einen Königlich preussischen Soldaten. Wie grossen Werth er 
aber auf dessen Anwendung legt, mögen Sie daraus ermessen, dass 
eFs dringend verlangte, als er zum Zwecke der Unterhaltung mit mir 
ganz vorübergehend, für eine Stunde den Wachsaal verliess, in dem 
er damals zu Bett lag. 

Die Schwäche und Haltlosigkeit tritt weniger im Denken als im 
Handeln zu Tage; er vermag sehr schön zu sprechen und zu schreiben, 
er ist verständigen Ueberlegungen nicht unzugänglich, aber er ver¬ 
sagt sofort, wenn es sich um praktische Betätigung handelt Die 
Sorge um das eigene liebe Ich spricht hier allein mit, aber nicht Er¬ 
wägungen einer praktischen Klugheit, und wie er selber des inneren 
Gleichgewichts entbehrt, so ist seine ganze Lebensfühlung schwankend 
und haltlos. 

Bisher hat er es mit seinen 25 Jahren noch zu nichts gebracht, 
obwohl es ihm wahrlich nicht an Gelegenheit fehlte, sich die für 
einen bestimmten Beruf nötigen Kenntisse zu erwerben. An die 
Zukunft denkt er auch heute trotz aller bösen Erfahrungen nicht; da¬ 
für zu sorgen ist Sache seines Vaters! Wie kindlich naiv sind seine 
Vorstellungen darüber, was er später anfangen soll! Sie sind zu 
kennzeichnend für das ganze Wesen eines Degenerirten, als dass ich 
deren Mittheilungen Ihnen, m. H„ vorenthalten möchte! Wenn er 
vom Militär entlassen wird, will er eine Kneipe anfangen. Geld hat 
er nicht, aber er denkt, eine Wirtschaft könne er schon für ein paar 
tausend Mark pro Jahr pachten, und der Vater werde ihm wohl das 
Geld geben. Er wird die Gäste nicht selbst bedienen! Wie kann er 
das thun, so etwas macht der Wirt selber nicht, der sitzt am Buffet 
und schenkt aus. Zuvor will er eine Zeitlang „Volontär“ sein; ein 
Vierteljahr wird genügen. Das Essen — ja, das macht der Koch 
in der Küche! An die Buchführung, an den Einkauf der verschie¬ 
denen Waaren u. s. w., ja, daran hat er noch gar nicht gedacht in 
seiner Einfalt und Kurzsichtigkeit; nun, da muss er doch etwas länger 
in die Lehre gehen. 

Nun hört er vom Arzt, dass diese Beschäftigung gerade für ihn 
recht bedenklich ist Flink giebt er den Plan auf, und er will nun 
als Inspektor auf eine Plantage. Er hat zwar nichts gelernt von der 


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II. ScHULTZE 


Landwirtschaft; aber dessen bedarf es auch nicht Er hat ja doch 
mit eigenen Augen gesehen, wie die Aufseher in Amerika auf den 
Plantagen herumreiten, und das kann er doch auch. Na, wenn das 
nicht geht, dann wird ihm vielleicht der Vater etwas Besseres sagen. 

So etwa sind die Betrachtungen, die er über seine zukünftige 
Thätigkeit anstellt, und jede für sich beweist, wie wenig er den An¬ 
forderungen des praktischen Lebens gewachsen ist, selbst wenn man 
diese nicht zu hoch stellt. Aus Allem spricht eine völlige Unfähigkeit 
in der Erfassung socialer Verhältnisse, wie man sie vielleicht noch 
von einem Knaben in den Entwicklungsjahren, aber nicht von einem 
25jährigen Menschen erwarten darf! 

Kurz und treffend bezeichnen die Franzosen die Degenerirten 
eben wegen dieses Fehlens der Harmonie als dösöquilibrös. 

Diese sind aber, wie ich oben schon andeutete, weiterhin dadurch 
gekennzeichnet, dass sie auf Reize qualitativ oder quantitativ wesent¬ 
lich anders reagiren wie der Durchschnittsmensch. Auch das können 
wir bei X. leicht feststellen. 

So viel Zeugen auch vernommen worden sind, alle stimmen darin 
überein, dass X. ein jähzorniger Mensch ist; und dass ihm ein solches 
Zeugniss bereits von einem Lehrer ausgestellt wird, beweist, dass er 
es bereits von Jugend auf war. Ich erinnere nur kurz an die mannig¬ 
fachen Auftritte, die X. den Seinigen machte, in denen er, wenn ihm 
seine Bitte, etwa das Verlangen nach Geld, gar nicht oder nicht hin¬ 
reichend erfüllt wurde, fluchte, schimpfte, tobte, in brutalster Weise 
die Seinigen mit dem Beile bedrohte, so dass diese sich flüchten mussten. 
Es kann unter den Umständen nicht auffallen, wenn der eine oder 
andere Zeuge von solchen Auftritten den Eindruck bekam, als ob X. 
nicht mehr recht bei Verstand sei! Bei der Truppe erboste er sich 
über einen verschmitzt lächelnden Kameraden derartig, dass er einen 
Besen auf dessen Kopf zerschlug. 

Wie roh sein Gefühlsleben ist, das konnten wir, m. H., auch in 
der Anstalt beobachten. 

Der geringste Anlass brachte ihn aus dem gemüthlichen Gleich¬ 
gewicht. So forderte ihn einmal ein bewährter Pfleger in ruhiger 
Weise, entsprechend den ärztlichen Anordnungen, auf, er möge das 
betreffende Zimmer verlassen. Sofort brauste X. auf, er brauche sich 
das nicht sagen zu lassen, er brauche hier nach Keinem etwas zu 
fragen. Als der gleiche Pfleger den X. wenige Tage darauf bat, zu 
Bett zu gehen, wurde er sofort wieder sehr erregt und verbat sich 
jede Berührung; wer ihn anfasse, der sei eine Leiche. Da er sich 
später noch öfter zu derartigen Drohungen hinreissen Hess, auch Miene 


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Psychiatrische Gutachten. 


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machte, diese in Thätlichkeiten umzusetzen, so wurde X. aus Sicher¬ 
heitsrücksichten dauernd auf den Wachsaal gelegt. 

Diese Neigung zu Wuthausbrüchen berechtigte sicherlich die Poli¬ 
zeibehörde seiner Heimath, X. als einen brutalen Menschen zu be¬ 
zeichnen, und sie lässt es andererseits auch erklärlich erscheinen, 
wenn die verschiedensten Zeugen einstimmig bekunden, es sei mit 
ihm recht schwer auszukommen; keiner wolle gerne was mit ihm zu 
thun haben. 

Noch deutlicher tritt uns die ungewöhnliche Reactionsfähigkeit 
des X. entgegen, wenn es sich um Gifte handelt, die ihm zugeführt 
werden; ich meine seine ßeaction auf Alkoholzufuhr. 

Es ist eine alte Erfahrung, dass gerade bei den degenerirten In- 
nividuen der Alkohol ganz anders wirkt wie bei normalen Individuen, 
dicht nur, indem schon geringe Mengen dieselbe Wirkung entfalten wie 
sonst grössere Mengen, sondern vor Allem, indem die Art der Gift¬ 
wirkung eine völlig andere ist. 

Dass das auch bei X. zutrifft, lehren uns die mannigfachen 
Zeugenaussagen. X., der schon in gesunden Zeiten brutal ist, wird 
dann noch gewaltthätiger, er beleidigt und droht dann nicht nur, 
sondern er lässt dann auch, wie uns Zeuge B. glaubhaft und in Ueber- 
einstimmung mit anderen Erfahrungen angiebt, an Personen und Gegen¬ 
ständen seine Kraft aus. Die Steigerung seiner Reizbarkeit und Händel¬ 
sucht durch den Trunk hat ihn darum auch so mannigfach mit dem 
Strafgesetz in Conflict gebracht. 

Aber es kommt auch zu eigenartigen, dem nüchternen Individuum 
sonst fremden Störungen der geistigen Thätigkeit, zur Bildung von 
mancherlei Wahnideen und einer gleichzeitig einhergehenden Einengung 
des Bewusstseins. Geradezu klassisch ist das in den Acten mehrfach 
erwähnte Erlebniss. 

Sie haben gehört, wie die Eltern bis in Einzelheiten überein¬ 
stimmend uns erzählten, dass sie eines Abends, vor etwa 2 Jahren, 
ihren Sohn auf der Strasse im Rinnstein liegend fanden; er war be¬ 
trunken und phantasirte, vor Angst in Schweiss gebadet. Er erzählte, 
er habe eben den Schlosser C. D. erschossen, der liege an der und der 
Brücke. Die Polizei komme, um ihn zu holen, und er verlangte 
dringend Geld, um seinen Verfolgern, die er schon deutlich um sich 
sah, zu entfliehen. Die Eltern brachten ihn in’s Haus, wo er die 
gleichen Ideen äusserte. Er wusste sich ein Dolchmesser zu ver¬ 
schaffen, stach damit um sich, trieb den Vater in die Flucht, drang 
in das Schlafzimmer seiner Mutter und führte mehrere Stiche nach 
deren Bett. Nur mit Mühe und Noth konnte er in’s Bett gebracht 


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II. SCHULTZE 


werden, wo er alsbald in einen tiefen Schlaf verfiel. Als er erwachte, 
wusste er vom ganzen Vorfall auch nicht das Geringste. 

Uebrigens äusserte X., wenn er betrunken war, nicht nur Wahn¬ 
ideen persecutorischen Inhalts, sondern auch Grössenideen. So er¬ 
fahren wir durch die Mutter, dass er sich dann für sehr reich hielt, 
so dass er sich Wagen und Pferd halten könnte, dass er dann glaubte, 
nicht der Sohn seiner Eltern, sondern der eines Grafen zu sein. 

Eine der Hauptursachen der Entartung ist, um die ätiologische 
Seite hier kurz abzuhandeln, erbliche Belastung; solche besteht hier 
bei X. sowohl von Vaters wie Mutters Seite. Sie haben gehört, dass 
ein Bruder der Mutter an Grössenwabn litt und deshalb in einer Irren¬ 
anstalt untergebracht werden musste, wo er starb, dass ein Vetter der 
Mutter gleichfalls geisteskrank war und eine ganz auffallende Men¬ 
schenscheu erkennen Hess, dass ein Bruder des Vaters endlich dem 
Trünke ergeben war. 

Sodann kann man sich bei Betrachtung der Lebensgeschichte 
des X. weiterhin nicht dem Eindrücke entziehen, dass die Eltern, be¬ 
sonders die Mutter, recht uneinsichtige und schwächliche Naturen waren, 
welche sich ihrer Pflichten bei der Erziehung nicht in vollem Maasse 
bewusst waren. Nicht einmal heute schreiben und handeln sie ver¬ 
ständig. 

Ich behaupte durchaus nicht, dass der Wegfall einer sorgfältigen 
und verständigen Erziehung die Degeneration verschuldet hat; ich 
möchte nur hervorheben, dass diese auch zu ihrem Theile beige¬ 
tragen hat. 

Schliesslich dürfen wir die Trunksucht nicht unerwähnt lassen, 
der sich X. schon in relativ jungen Jahren hingegeben und seitdem 
immer gehuldigt hat. 

Diese drei Schädlichkeiten haben alle in der einen Richtung ge¬ 
wirkt, und ihr Vorhandensein kann unsere Annahme, X. sei ein Degene- 
rirter, nur stützen, wenn natürlich auch nicht für sich allein beweisen. 

Wir finden nun aber weiter bei den Degenerirten noch Eigen¬ 
schaften, die auf der einen Seite nicht immer, sondern nur periodisch 
sich geltend machen und die auf der anderen Seite nicht bei allen De¬ 
generirten sich nach weisen lassen. Unter diesen nimmt die Neigung 
zu impulsiven Handlungen wegen ihrer ausserordentlich engen Be¬ 
ziehung zur Begehung gerade krimineller Thaten vom strafrechtlichen 
Standpunkte fast die erste Stelle ein. 

Unter impulsiven Handlungen versteht die Psychiatrie solche Hand¬ 
lungen, denen nur ein einziges Motiv — und das ist der Trieb — zu 
Grunde liegt. 


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Psychiatrische Gutachten 


63 


Der Degenerirte thut dann eben das, was ihm in den Sinn kommt, 
er überlegt nicht, was für oder gegen die Bethätigung seines Triebes 
spricht, er kennt keinen Streit der Beweggründe zur Handlung. Der 
Degenerirte handelt so und muss so handeln Dank seiner krankhaften 
Organisation. 

Weiter lehrt uns die Erfahrung, dass solche Individuen vielfach 
ähnliche oder gar ganz gleiche Handlungen begehen; der Eine stiehlt 
immer, der Andere demonstrirt immer seine Genitalien, ein Dritter 
legt immer Feuer an u. s. w. Das sind die Zustände, die zu der 
bedenklichen, heute überwundenen Lehre von den auch Ihnen sicher¬ 
lich bekannten Monomanien geführt haben. 

Impulsive Handlungen können wir auch bei X. feststellen, und 
zwar erstreckt sich diese Neigung einmal aufs Trinken und dann 
aufs Reisen. 

Ich bin aber weit davon entfernt, jeden Alkobolexcess nun auf 
Rechnung eines solchen unwiderstehlichen Triebes zu setzen. Im Gegen- 
theile, wir hören von X., dass er seit seinem 16.—17. Lebensjahre, 
seitdem er Tanzstunde gehabt hat, dem Trünke ergeben ist. Er trinkt 
fast immer; in manchen Zeiten ist er nach eigener Angabe Tag für 
Tag betrunken gewesen. Wenn er aber Zeiten hatte, in denen er 
nicht trank, nun, so hatte er kein Geld oder es fehlte ihm an Ge¬ 
legenheit, alkoholhaltige Getränke zu bekommen. Hätte er Gelegen¬ 
heit gehabt, so würde er eben jeden Tag gekneipt haben, wie er 
selber sagt. 

Nun aber hat X. zweifellos in ganz unbestimmten Zwischenräu¬ 
men ab und zu ein erhöhtes, fast unwiderstehliches Bedürfniss, zu 
trinken. Er selbst merkte dieses, wie er mir mittheilte, wohl kaum, 
aber der Mutter ist es aufgefallen, dass er dann besonders gereizter 
Stimmung, übelnehmerisch und ärgerlich gewesen sei. Nachträglich 
fällt ihm ein, dass er dann vorher vielfach schlecht geschlafen hat. 
Kam dieser Zustand, dann hatte er ganz im Gegensätze zu sonst keine 
Lust zum Spielen und Tanzen; er musste vielmehr nur trinken, immer 
trinken, er lief von einer Kneipe zur anderen und schüttete wahllos 
Alles herunter, was er nur bekam. Dann schlief er tief und wusste 
nach dem Erwachen nur wenig oder gar nichts von Dem, was pas- 
sirt war. 

Auf der andern Seite bin ich aber auch ebenso wenig geneigt, 
alle die vielen Reisen, die X. gemacht hat, als eine periodische krank¬ 
hafte Eigenthümlichkeit zu deuten. Vielfach reist er nur, um sich für 
den Augenblick Vergnügen zu verschaffen, ohne an später zu denken. 

Andere Reisen aber führt er aus, weil er unwiderstehlich dazu 


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II. SCHULTZF. 


angetrieben wird. Lassen Sie mich, m. H., statt vieler Auseinander¬ 
setzungen seine eigenen Worte anfübren: „Lange vorher war der 
Gedanke nicht da; er kam meist ganz plötzlich und liess mich dann 
nicht wieder los. Ich wurde furchtbar wild, wenn ich nicht wegkam. 
Ich hatte keine Angst, sondern nur einen Trieb, als wenn ich weg¬ 
müsste. Es war mir so, als ob ich angebunden wäre und hingezogen 
würde. Ich musste reisen, trotzdem es mir schon recht schlecht ge¬ 
gangen war, und zu Hause brauchte ich gar nichts zu machen; da 
hatte ich es sehr gut. Was ich mir dabei dachte, das weiss ich nicht. 
Es ist, als ob mich eine Gewalt forttrieb, obwohl ich trübe Erfahrungen 
gemacht hatte. Ich konnte es zu Hause nicht mehr aushalten, ich 
musste weg, und es ist schon passirt, dass ich um 12 Uhr eine grosse 
Heise antrat, während ich um 11 Uhr noch nichts wusste. Ich be¬ 
komme eine förmliche Sehnsucht; es kommt mir nur auf das Reisen 
an; und wenn ich in der Bahn sitze, fühle ich mich schon wohler.“ 

Das sind freilich seine eigenen Aussagen, die einer objectiven 
Prüfung nicht wohl zugänglich sind; die sonst sicher berechtigte 
Skepsis gegenüber ihrer Verwerthung können wir hier ausser Acht 
lassen, da uns auch die Eltern unter Eid bekundet haben, dass ihr 
Sohn häufig und plötzlich, ohne jeden ersichtlichen vernünftigen 
Grund den Einfall bekam, in’s Ausland zu gehen; dann liess er sich 
gar nicht Zureden, er musste weg, und er liess Alles liegen. Um so 
grösserer Werth ist diesen Aussagen der Eltern, die unabhängig von 
denen des Sohnes erfolgten, beizumessen, als sie die klinische Be¬ 
deutung des Symptoms zu würdigen nicht in der Lage sind. 

Ich glaube annehmen zu dürfen, dass diese Ausführungen Ihnen, 
m. H., den Beweis erbracht haben, dass X. zu den Degenerirten mit 
ausgesprochener Neigung zu impulsiven Handlungen gehört 

Damit ist aber nur der erste Theil meiner Aufgabe gelöst, und 
ich habe noch zu erörtern, wie unter diesen Umständen seine straf¬ 
baren Handlungen aufzufassen und zu beurtheilen sind. 

Ich möchte die Summe der ihm zur Last gelegten Thaten aus 
praktischen Gründen in zwei Theile theilen; einmal bitte ich, allein 
die unerlaubte Entfernung aus der Garnison berücksichtigen und dann 
die Gesammtheit der anderen Delicte besprechen zu dürfen. 

Was den Thatbestand der unerlaubten Entfernung angeht, so ist 
der mit wenigen Worten wiedergegeben. X. verlangte an dem frag¬ 
lichen Sonntage Urlaub, der ihm zuerst bewilligt, dann aber vom 
Feldwebel mit Rücksicht auf eine bald abzusitzende Gefängnissstrafe 
wieder entzogen wurde. X. hielt den Feldwebel hierzu nicht für be¬ 
rechtigt, und er ging weg, ohne Urlaub zu haben. 


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Psychiatrische Gutachten. 


65 


Hinsichtlich der strafrechtlichen Würdigung dieser Handlung sind 
wir auf seine eigenen Angaben angewiesen, und wir würden es, rein 
menschlich betrachtet, schon verstehen, wenn X. hierbei die Unwahr¬ 
heit sagen würde, um dadurch seine Lage besser zu gestalten. Da 
aber X., so viel schlechte Eigenschaften er auch haben mag, nach 
Anderer und meiner Erfahrung Glauben verdient, da seine Angaben 
unter sich und mit den klinischen Erfahrungen übereinstimmen, so 
darf man ihm, meine ich, Glauben beimessen. 

Nun giebt uns X. an, dass er an jenem Tage zur Stadt habe 
fahren müssen; es sei ihm so gewesen, als ob er wegreisen müsse, 
und wenn er angebunden gewesen wäre, wäre er nicht zu halten ge¬ 
wesen. Wir werden also, wenn wir ihm glauben, seine Wegreise von 
der Garnison als eine impulsive Handlung deuten, also als eine Hand¬ 
lung, die, nachdem deren Vorstellung im Bewusstsein des Indivi¬ 
duums aufgetaucht ist, in die That umgesetzt wird, ohne dass das 
pro et contra überlegt, ohne dass deren Tragweite ermessen wird. 
Aber nicht nur das, sie muss auch sofort ausgeführt werden; ein dem 
Kranken unverständlicher Drang zwingt ihn dazu, eine innere Un¬ 
ruhe bemächtigt sich seiner, die nicht eher nachlässt, bis die Hand¬ 
lung erfolgt ist. 

Wir haben somit einen Zustand vor uns, der beide im § 51 St 
G. B. verlangten Kriterien der Unzurechnungsfähigkeit erfüllt, einmal 
einen Zustand krankhafter Störung der Geistesthätigkeit und zweitens 
eine dadurch bedingte Aufhebung der freien Willensthätigkeit. 

Mit um so grösserer Berechtigung müssen wir X. den Schutz 
des genannten Paragraphen zusprechen, als wir wissen, dass die 
Neigung zu triebartigen Handlungen gerade unter dem Einfluss von 
Affecten sich besonders leicht und intensiv geltend macht; es ist aber 
leicht ersichtlich, dass X. bei seinen lebhaften Affectschwankungen 
die Verweigerung des erbetenen Urlaubs besonders peinlich empfand, 
um so peinlicher, als er die nachträgliche Zurückziehung der einmal 
ertheilten Erlaubnis als eine ungerechtfertigte Handlung ansah. 

Hinsichtlich der Beurtheilung der anderen X. zur Lasst gelegten 
Strafthaten steht uns zweierlei Material zu Gebote, einmal die Aus¬ 
sagen des X., über deren Verwendbarkeit ich auf meine Ausführungen 
von vorhin zurückweise, sodann die Angaben der Zeugen. 

Was X. über die kritische Zeit anzugeben vermag, das ist herz¬ 
lich wenig; aber das Wenige bekundet er zu den verschiedenen Zeiten 
immer in der gleichen Weise. An dem betreffenden Sonntage ist er 
nach seiner Schilderung in die Stadt gefahren und hat dort viel Bier 
getrunken; er selber schätzt die Menge auf 30 Glas! Er erinnert sich 

Archiv für Kriminalanthropologie. XI. 5 


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1L SCHI'LTZE 


nur dunkel, dass er sich Abends längere Zeit auf der Strasse mit 
einem Mädchen unterhalten hat, dass er am andern Morgen, als er 
halbwegs nüchtern aufwachte, mit seinem Kameraden Z. im Cbaussee- 
graben lag. Mit diesem hat er den ganzen zweiten Tag hindurch 
weitergetrunken, und um sich das nöthige Geld zu verschaffen, noch 
seine Uhr versetzt 

Wie er aber an diesem Abend von der Patrouille heimgebracht 
worden ist, wie er in der Kaserne empfangen wurde, das weiss er 
nicht; er hat nur das unbestimmte Gefühl, als ob er sich widersetzt 
habe. Von allen weiteren Vorkommnissen weiss er aus eigener Kennt- 
niss gar nichts. Er ist nur sehr erstaunt, als er am zweiten Morgen 
beim Erwachen sich in der Zelle fand, mit Stricken an die Pritsche 
gebunden. Er verspürte etwas Schmerzen im linken Arm und hatte 
das dunkle Gefühl, als ob er gekämpft habe. 

Auf der anderen Seite haben wir die Aussagen der Zeugen. Die 
einen gaben an, X. sei ganz gerade gegangen, er habe noch gut laufen 
können, er habe eine militärische Haltung angenommen, er habe offenbar 
seine Vorgesetzten erkannt. Andere gaben an, X. sei nicht sinnlos be¬ 
trunken gewesen, sondern er habe gewusst, was er gethan; er habe 
noch ganz vernünftige Antworten gegeben. Dann wieder hören wir, 
dass er „turkelte“, dass er wunderlich war im Kopfe, dass er den 
Officier in schlaffer Haltung und cordialem Tone anredete, dass er 
vom Feldwebel Essen verlangte, da er noch Geld habe. Weiter erfahren 
wir, dass er sich wie toll geberdete, dass er wüthete und tobte, dass 
er eine Eisenstange mitsammt Krampe losriss. 

Was lässt sich nun daraus schliessen? 

Ich möchte gleich vorweg bemerken, dass ein Laie nicht der Sach¬ 
verständige sein kann, der über die Frage entscheidet, ob hier eine 
sinnlose Betrunkenheit vorliegt oder nicht, und ich halte es, neben¬ 
bei gesagt, für recht bedenklich, wenn der Untersuchungsrichter die 
Vernehmung eines Zeugen darüber anordnet, ob die Betrunkenheit 
so stark ist, dass nach seiner Ansicht die freie Willensbestimmung 
ausgeschlossen ist Wie wenig Verständniss die Zeugen für die Beur- 
theilung derartiger Zustände haben, das scheint mir schon daraus 
hervorzugehen, dass das Heulen des Kameraden von X. von einem 
Zeugen als Ausdruck der Reue aufgefasst wird. Nach Lage der 
Sache halte ich es für viel wahrscheinlicher, dass man es hier mit 
einer selteneren Spielart der Betrunkenheit, mit dem sogenannten heu¬ 
lenden Elend, zu thun hat 

Wie man aber auch über die Urteilsfähigkeit der Laien gegen¬ 
über solchen Zuständen denken mag, das Eine steht fest, dass, wenn 


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Psychiatrische Gutachten. 


67 


eine atypische Reaction des Alkohols in Frage steht, nur der Psychiater 
berechtigt ist, zu urtheilen. Das ist der gegebene Sachverständige. 

Die Zeugenaussagen bieten in ihrer Mannigfaltigkeit hinreichendes 
Material zu einer fachgemässen Beurtheilung. Wir wissen, dass der 
Alkohol bei Degenerirten weniger auf das motorische Gebiet wirkt, als 
bei Andern; und in der That fällt es den verschiedenen Zeugen auf, 
dass die Bewegungen des X. alle sicher und schnell erfolgen. Daraus 
darf natürlich nicht geschlossen werden, er sei nicht sinnlos betrunken 
gewesen, ebensowenig wie aus der Tha&ache, dass er einen Vorge¬ 
setzten vorschriftsmässig grüsste. Ich meine, das ist eine Thätigkeit, die 
bei den älteren Soldaten geradezu automatisch vor sich geht, genau so 
automatisch, wie das Auf- und Zuschliessen der Hausthüre durch den 
heimkehrenden Trunkenbold; und keinem Menschen wird es natürlich 
einfallen, daraus allein den Schluss ziehen zu wollen, dieses Individuum 
sei wohl nicht sinnlos betrunken. 

Verfolgt man die Zeugenaussagen des genaueren, so kann man 
feststellen, dass X. sich zuerst leidlich geordnet benimmt; erst in dem 
Augenblick tritt er so wüst und roh auf, als er hört, dass er in die 
Arrestzelle gebracht werden soll; da erst widerstrebt er, während er 
bis dahin ruhig mitgeht, er widersetzt sich, und nun folgt ein Delict 
dem anderen. Nun wissen wir aber, dass dieser atypische oder com- 
plicirte Rausch ganz plötzlich und unvermittelt bei dem betrunkenen 
Individuum einsetzen kann im Anschluss an einen Affect. Ich bin 
geneigt, dies auch hier anzunehmen, und ich halte es für nicht un¬ 
wahrscheinlich, dass X., als er den Befehl hörte, dass er in eine Arrest¬ 
zelle gebracht werden sollte, gemüthlich sehr alterirt wurde und damit 
die ungewöhnliche Reaction auf die Alkoholzufuhr auslöste; die mo¬ 
torische Entladung, die nun einsetzte, ist fast typisch; wir begegnen 
ihr vor Allem noch bei der Epilepsie, und oft genug liegt hier sowohl 
wie da ein Angstaffect zu Grunde. Die Aeusserung von X., er habe 
das Gefühl, als ob er gekämpft habe, lässt es nicht ausgeschlossen 
erscheinen, dass auch bei ihm die Angst die Handlungen dictirt hat 

Doch ich möchte nicht auf eine weitere Analyse jenes Zustandes 
eingehen. Ich glaube, meine bisherigen Ausführungen genügen. Wir 
finden einen durch Zufuhr grosser Alkoholmengen entstandenen Zu¬ 
stand, der mancherlei Charakteristisches hat; eine geringe Betheiligung 
der motorischen Sphäre, das Nebeneinander geordneter und unge¬ 
ordneter, unverständlicher, widersinniger Handlungen, dann intensive 
motorische Entladung, Verfallen in einen tiefen Schlaf, Erwachen aus 
ihm mit einer fast völligen Erinnerungslücke. 

Alle diese Momente sprechen mit einer Sicherheit, soweit von einer 


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68 


II. Sch ult zk 


solchen bei einer Begutachtung wie der vorliegenden die Rede sein 
kann, dafür, dass X. sich zur Zeit dieser strafbaren Handlungen in 
einem Zustand von Bewusstlosigkeit befand, in welchem er der Fähig¬ 
keit ermangelte, planmässig und zielbewusst zu handeln und sich zu 
entscheiden. 

Dass auch diese Bewusstseinsstörung nicht auf eine selbstver¬ 
schuldete Trunkenheit zurückzuführen ist, das wird dadurch wieder 
mehr als wahrscheinlich gemacht, dass X. an dem fraglichen Tage 
in sich den Drang fühlte, zü trinken; er wurde dazu wieder, wie er 
selbst sagte, geradezu getrieben. 

Mithin treffen auch hier die Voraussetzungen des § 51 St. G. B. zu. 

Gestatten sie mir noch, m. H., mit einigen wenigen Worten 
Stellung zu der Ansicht der Herren Vorgutachter zu nehmen. Ich 
will durchaus nicht behaupten, dass X. nicht an Dipsomanie leidet 
und nicht von diesem Standpunkte aus zu begutachten sei. 

Ich gebe gerne zu, dass Vieles zu Gunsten der Dipsomanie oder 
der weiteren Diagnose Epilepsie spricht Aber andererseits hat mich 
die genaue Beobachtung des X. während seines sechswöchigen An¬ 
staltsaufenthaltes in dieser Annahme schwankend gemacht. 

Nur einige wenige Punkte möchte ich herausgreifen. Er gab 
mir auf meine wiederholten Fragen an, dass er vor den als pathologisch 
gedeuteten Reiseunternehmungen weniger das Gefühl der Angst, der 
Unruhe, alB das eines Triebes gehabt habe, dessen Einwirkung er sich 
nicht zu entziehen vermocht habe. Doch das will nicht viel besagen. 

Auch mir gab er an, dass ihn zeitweilig eine trübe Stimmung 
überfalle, aber aus eigenem Antriebe setzte er hinzu, er mache sich 
Gedanken wegen seines verfehlten Lebens, er empfinde Reue, und er 
denke mit Schrecken an die Zukunft Das ist doch ein gesundes 
Empfinden, wie wir es bei X. nur recht selten, und dann auch nur 
vorübergehend, nicht nachhaltig finden. Jedenfalls liegt kein zwingen¬ 
der Grund vor, diese Zustände in seinem Gemüthsleben als periodische 
Depression aufzufassen, der wir so oft bei Epileptikern begegnen. 

Die ungewöhnliche Art des Rausches sowie Angstzustände, wie 
deren einer im Gamisonlazareth beobachtet ist, sprechen ebenfalls nicht 
unbedingt nur für Epilepsie, da die gleichen Erscheinungen auch auf 
dem Boden der Degeneration Vorkommen. 

Was ich zu Gunsten meiner Ihnen hier entwickelten Ansicht an¬ 
führen möchte, das ist der Umstand, dass diese der ganzen Persön¬ 
lichkeit des X. meiner Ansicht nach mehr gerecht wird. 

X. lässt nicht nur zwischen den Episoden viel Auffallendes erkennen, 
sondern ist vor Allem schon ein ab ovo psychopathisches Individuum. 


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Strafrechtliche Gutachten. 


69 


Gross ist aber der Unterschied zwischen der Ansicht der Herren 
Vorgutachter und meiner Meinung nicht; er liegt mehr auf klinischem 
als auf strafrechtlichem Gebiete. Sind wir doch Beide der Ueber- 
zeugung, dass X. von einem krankhaften Drang beseelt war, der die 
Straffreiheit involvirt. 


Darauf wurde X. entsprechend dem Anträge des Vertheidigers 
und des Vertreters der Anklage nach kurzer Berathung freigesprochen. 

Auf Befragen erklärte ich noch, dass X. meiner Ansicht nach 
dienstuntauglich sei, dass er nach dem bisherigen Vorleben nichts 
Gutes verspreche, mithin gemeingefährlich und einer Irrenanstalt zu 
überweisen sei. 

X. war natürlich wenig von dieser Aussicht erbaut, um zweifellos 
wieder später ebenso sehr auf seine völlige geistige Gesundheit hin¬ 
zuweisen, wie er jetzt angesichts der drohenden Strafe behauptete 
ein Geisteskranker zu sein. 

Wenige Stunden nach der Freisprechung schrieb übrigens X. 
seinen Eltern und bat sie, ihn bald abzuholen, aber in guter Toilette 
zu erscheinen, um auf die Herren einen guten Eindruck zu machen. 


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III. 

Soll die Strafbarkeit der fahrlässigen 
falschen eidlichen Anssage vor Gericht im Strafgesetzbuch 

beibebalteh werden? 

Von 

Justizrath E. Martin, Rechtsanwalt in Nürnberg. 

Der 9. Abschnitt des deutschen Strafgesetzbuches, umfassend 
§153 bis 163 führt die Ueberschrift Meineid. 

§ 153 sagt, dass mit Zuchthaus bis zu 10 Jahren bestraft wird, 
wer einen ihm zugeschobenen, zurtickgeschobenen oder auferlegten 
Eid wissentlich falsch schwört 

§ 154 bedroht mit Strafe denjenigen, welcher wissentlich ein 
falsches Zeugniss oder Gutachten vor den zuständigen Behörden abgibt. 

Für obige Frage interessirt noch § 163, welcher in Abs. 1 sagt: 

„Wenn eine der in den §§ 153 bis 163 bezeichneten Handlungen 
aus Fahrlässigkeit begangen worden ist, tritt Gefängnissstrafe bis 
zu einem Jahre ein“. 

Dieser § schaltet sohin aus § 153 und 154 den Thatbestand des 
Wissentlichen aus und setzt an dessen Stelle Fahrlässigkeit. 

Der Rechtslehrer Oppenhof führt in seinem Commentar zum 
St G.B. aus, dass bei § 163 der vollständige Thatbestand der Verbrechen 
mit der Modification vorliegt, dass statt der dort erheischten 
Wissentlichkeit der Falschheit eine Fahrlässigkeit bei 
der Beurkundung von etwas objectiv Unwahrem vorliegt. 

Es finde also § 163 auch Anwendung auf einen unrichtig aus- 
geschworenem Glaubens- oder Ignoranzeid. Oppenhof ist hierbei noch 
der Meinung, dass der Umstand, dass der Schwörende von der Rich¬ 
tigkeit der bekundeten Thatsachen überzeugt war, an sich die An¬ 
wendung des § 163 nicht ausschliesse. Olshausen, welcher in seinen 
Anschauungen milder zu sein scheint sieht in Mangel der Anstrengung 
des Gedächtnisses eine Fahrlässigkeit. 


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Soll die Strafbarkeit der fahrlässigen falschen eidlichen Aussage u. s. w. 71 


II. 

Bei meinen weiteren Ausführungen mache ich keinen Anspruch 
auf besondere Gelehrsamkeit, ich will mich auch in keiner Weise 
über herrschende Streitfragen und deren Richtigkeit einlassen. Mein 
Boden, auf welchem ich stehe, ist derjenige der Praxis und meine 
Anschauungen gründen sich auf diejenigen des Volkes und auf die 
Beobachtungen, welche ich im Verkehr mit denjenigen Personen 
machte, welche meinen Schutz oder meinen Rath in Anspruch nahmen. 
Im Volke sieht man die Strafe als ein Uebel an, welches Denjenigen 
zu treffen bestimmt ist, welcher die als allgemein anerkannte Rechte¬ 
ordnung verletzt, und zwar absichtlich verletzt, wer sich über die¬ 
selbe bewusst hinwegsetzt. Dagegen hat die Meinung, dass es auf 
den Willen des Verletzenden nicht ankommt, weil die Gesetzeskennt- 
niss bei Jedem vorausgesetzt wird, im Volke nie ein Verständniss 
gefunden, es hat vielmehr das Gefühl sich gegen diese Anschauung 
aufgelebnt. 

Klar ist, dass Jeder weiss, dass man nicht stehlen, dass man 
nicht unterschlagen, dass man nicht betrügen, dass man keinen falschen 
Eid schwören darf. Hierüber herrscht im Volke kein Zweifel, so 
wenig wie darüber, was man unter stehlen, falsch schwören u. s. w r . 
versteht 

Aber die feinen Doctrinen und Unterscheidungen, die oft aufge¬ 
stellt wurden und die Rechtssprechung die zum Theil noch herrscht 
welche eine Handlung zu einer strafbaren stempelten, für welche dem 
Volke jedes Verständniss fehlt, haben ein Unheil bewirkt, welches 
nur Denjenigen unbekannt ist, welche dem Empfinden des Volkes 
ferne stehen. 

Ich erwähne nur ein Beispiel. In vielen bäuerlichen Gegenden 
ist es Brauch, dass nach dem sogenannten Versprach, d. h. wenn 
man einig ist, dass man sich heirathet, der Verkehr mit der Braut 
im Hause derselben dem Bräutigam gestattet ist. Derselbe fensterlt 
d. h. steigt Nachts ein und bleibt bei seiner Braut. Wenn er dies 
nicht thut, wird er für einen langweiligen Buben gehalten. In niederen 
Volkskreisen wird kein Anstand genommen, dem Bräutigam, wenn 
die Heirathspapiere eingereicht sind und die Braut mit ihrer Mutter 
zusammenlebt, in die Familiengemeinschaft aufzunehmen, in welcher 
er nach der Hochzeit ohnedies verbleibt. Dass in diesen Fällen die 
Eltern wegen Verbrechens der Kuppelei mit Zuchthausstrafe von 
mindestens 1 Jahr zu verurtbeilen sind, konnte Niemand, als das 
Reichsgericht begreifen. Das Volksbewusstsein empörte sich hiergegen 


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72 


III. M ABTIN 


derartig, dass Abhilfe geschaffen werden musste. Freilich konnte 
man in Berlin lediglich einen Beisatz durchsetzen, wopach mildernde 
Umstände zugelassen wurden. 

In Bayern sind meines Wissens nur auf Anzeige, welche meist 
Bosheit geboren hat, Verurtheilungen erfolgt, als das Reichsgericht 
mit seiner strengen Auffassung hervortrat und es wurden Verurthei¬ 
lungen der Gnade des Regenten empfohlen. Bei einem Falle weiss 
ich, dass den betroffenen alten Vater nach der Verurtheilung der 
Schlag getroffen hat 

Diese Abschweifung gehört streng genommen nicht zur Sache, 
sie ist nur insofern von Bedeutung, als ich hiermit beweisen will, 
dass Strafgesetze dem Volksbewusstsein entsprechend, klar und bündig 
sein und juristischen Doctrinen und Auslegungen, an welche das Volk 
nicht denken kann, keinen Raum gewähren dürfen. Eine gesetzliche 
Bestimmung aber, wie sie nicht sein soll, welche nur schädlich und 
unheilvoll wirken kann, ist der § 163 St G. B. Was nun die Eide, 
welche gewöhnlich geschworen werden, anlangt, so betreffen sie ent¬ 
weder bestimmte wahrgenommene Thatsachen, unter welchen sowohl 
die Zeugen als auch die Parteieide fallen und worunter ich auch die 
Eide über Angabe von Verraögensbestandtheilen (Offenbarungseid) 
rechne oder Eide, welche in der Ueberzeugungsforra geschworen 
werden, d. h. darüber, dass man nach gewissenhafter Nachforschung 
zu einer bestimmten Ueberzeugung gelangt ist Endlich kommen noch 
die Eide der Sachverständigen in Betracht 

III. 

Was nun die Eide der Sachverständigen anlangt, so ist hier meines 
Erachtens jede Fahrlässigkeit oder doch jede Verurtheilung hieraus 
ausgeschlossen. Jeder Sachverständige hat die Pflicht, sein Gutachten 
nach reiflicher Erwägung, nach bestem Gewissen abzugeben. Es wird 
schwer sein, ihm nachzuweisen, dass er nicht nach seinem besten 
Wissen das Gutachten abgegeben hat 

Ist das Gutachten aber von der Art, dass es gegen alle Regeln 
der Kunst und Wissenschaft sich auf einen dem Vorschlagenden 
dienenden Standpunkt stellt, so dass die Absicht des Sachverständigen 
unverkennbar und nachweisbar ist, dass er sich gegen besseres Wissen 
in den Dienst einer Partei stellt, so liegt Fahrlässigkeit überhaupt 
nicht vor. 

Handelt der Sachverständige aber nach bestem Wissen und Ge¬ 
wissen, so kann man ihm Fahrlässigkeit nicht vorwerfen. Denn es 
handelt sich ja um sein Wissen, um den Umkreis seiner Kenntnisse 


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Soll die Strafbarkeit der fahrlässigen falschen eidlichen Aussage u. s. w. 73 

und es ist verfehlt, den Maassstab eines höher begabten oder kennt- 
nissreicheren Mannes als Grundlage dafür anzunehmen, dass eine Fahr¬ 
lässigkeit auf Seite des Anderen vorliege. Wer nach seiner Ansicht 
eine Materie beherrscht hat keinen Anlass, nach Ansichten Anderer 
zu forschen und wer jene Ueberzeugung in sich trägt, hat keinen 
Anlass, sich um weitere Anschauungen umzusehen. Entspricht dieser 
Ansicht dem Hochmuthe eines beschränkten Geistes, so ist hierdurch 
noch keine Strafbarkeit gegeben. 


IV. 

Zu einem gleichen Resultate kommt man beim Parteieide oder 
Zeugeneide über bestimmte wahrgenommene Thatsachen. 

Hier kann nun Vorkommen, entweder, dass man ohne es zu wissen, 
das Bild der erlebten Thatsache falsch aufgenommen hat oder dass 
man sich nach und nach in der Erinnerung die aufgenommene That¬ 
sache in einzelnen Punkten unrichtig fixirt 

Für ersteren Fall kann ich ein vor Kurzem selbst erlebtes Bei¬ 
spiel aufführen. Eine Dame erklärte mir, dass ich in einer bestimmten 
hell erleuchteten Strasse ihr und ihrem Manne Nachts 12 Uhr be¬ 
gegnet sei und sie nicht gegrüsst habe. Ihr Mann bestätigte dies. Ich 
war aber an diesem Tage schon früh nach Hause gegangen und dort 
geblieben. Ich konnte ihr den Irrthum nicht ausreden. Sie ist heute 
noch von dieser Thatsache überzeugt und würde diese sicherlich mit 
reinem Gewissen beschwören. Wenn sie nun dies in der That be¬ 
schworen hätte, könnte man einwenden, dass sie in einem solchen 
Falle aber allen Anlass gehabt hätte, sich zuerst zu erkundigen? Dies 
kann man wohl einwenden, aber diese Dame hat eben keinen Anlass, 
sich zu erkundigen, weil ihre Ueberzeugung feststeht. Es ist eben 
der grosse Fehler, seinen Nebenmenschen nach sich selbst zu beur- 
theilen und insbesondere aus den später sich ergebenden Thatsachen 
zu schliessen, was ein Anderer hätte thun sollen. Man könnte hier 
sicher nicht sagen, dass ein fahrlässiger Eid vorliegt, weil es nicht 
schwer war, sich. vor der Vernehmung hierüber Kenntniss zu ver¬ 
schaffen. Es lag eben für die Dame nach deren innersten Ueber¬ 
zeugung kein Anlass vor, sich zu erkundigen. Verfehlt ist die Mei¬ 
nung, es sei eben die Pflicht gewesen, sich zu erkundigen, womit ich 
nicht sagen will, dass das Gespenst der Verurtheilung wegen Fahr¬ 
lässigkeit nach der Doctrin und den mehrere Jahre anhaltenden An¬ 
schauungen des Reichsgerichts, des Musterbildes für unsere Strafrechts¬ 
pflege, diese Dame nicht bedroht hätte. 


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74 


III. Maktin 


V. 

Anders liegt die Sache bezüglich des Offenbarungseides, wonach 
Jemand den Bestand eines ihm bekannten Vermögens angeben soll. 
Hier hat Jeder die Verpflichtung, bevor er schwört, sich genau zu in- 
formiren, was ja auch nicht schwierig ist, da die anzugebenden Gegen¬ 
stände vor Augen liegen oder doch bekannt sind. Hat der Schwörende 
dies gethan, so fällt ihm keine Fahrlässigkeit zur Last, hat er es nicht 
gethan, sondern hält er es nicht für der Mühe werth, Nachforschungen 
anzustellen, so kann von Fahrlässigkeit nicht mehr die Bede sein, 
dann nimmt er eben das Risiko des wissentlich falschen Eides auf sich. 

VI. 

Nun kommt noch der Eid, wonach Jemand beschwört, nach ge¬ 
wissenhafter Nachforschung zur Ueberzeugung der Richtigkeit der 
beschworenen Thatsache gekommen zu sein. Was heisst nun Nach¬ 
forschung und wie weit hat sich dieselbe zu erstrecken? 

In den meisten Fällen wird die Gelegenheit Nachforschungen 
zu halten, eine sehr umgrenzte sein. Jedenfalls kann man nur da 
Nachforschungen halten, wo man glaubt, etwas sicheres erfahren zu 
können. Wie weit diese Nachforschungen zu gehen haben, wann sie 
genügend sind, ergiebt sich nach der Individualität der Personen 
ganz verschieden. Es geht auch hier, wie bereits bemerkt, nicht an, 
seine eigene Person bei Beurtheilung anderer Personen als maass¬ 
gebend zu Grunde zu legen. Hierzu kommt, dass später nach durch¬ 
geführter Untersuchung Quellen auftauchen können, welche dem 
Schwörenden unbekannt waren. Man ist zu leicht dann versucht, 
anzunehmen, dass auch diese Quellen bei einiger Aufmerksamkeit 
hätten gefunden werden können. Diese Annahme, zu welcher spätere 
Ergebnisse verleiten, ist eine unrichtige. Hat Jemand nach seiner 
Meinung Alles das gethan, was nach seiner Meinung geeignet war, 
eine gewisse Ueberzeugung über eine Thatsache zu erhalten, so kann 
aus eben bemerkten Gründen der geschworene Eid nicht als fahr¬ 
lässig angenommen werden. Wenn Oppenhof sagt, dass der Um¬ 
stand, dass der Schwörende von der Richtigkeit der bekundeten That¬ 
sache überzeugt ist, an sich die Anwendung des § 163 nicht aus- 
schliesst, so ist diese Meinung meines Erachtens eine verfehlte. Was 
soll denn „an sich“ bedeuten? Wenn Jemand von der Richtigkeit 
der beschworenen Thatsache überzeugt ist, beschwört er nach seiner 
Ueberzeugung die Wahrheit und kann nicht bestraft werden. 

Nicht unberührt kann ich eine Anschauung Oppenhof’s lassen, 


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Soll die Strafbarkeit der fahrlässigen falschen eidlichen Aussage u. s. w. 75 


dass fahrlässiger Eid dann vorliegt, wenn der aufgelegte Eid resp. 
dessen Inhalt fahrlässiger Weise missverstanden ist Was soll denn 
damit gesagt werden? Wenn ein Eid, was überhaupt nicht Vor¬ 
kommen soll, derartig ist, dass er missverstanden werden kann, so 
kann Derjenige nicht gestraft werden, welcher ihn so schwört, wie 
er ihn verstanden hat Ein aufgelegter Eid soll übrigens so gefasst 
werden, dass ein Missverständnis nicht möglich ist Liegt aber noch 
etwas im Eide was dem Laien ein Missverständnis ermöglicht, so it 
es Pflicht des Richters, hierüber dem Schwörenden, bevor er den Eid 
abnimmt, eine Aufklärung zu geben. Thut er dies nicht, so trifft ihn 
ein schwerer Vorwurf, eine Pflichtverletzung, wegen welcher es Un¬ 
recht ist, den Schwörenden büssen zu lassen. 

VII. 

Interessant ist es noch, die Rechtssprechung des Reichsgerichtes 
über fahrlässigen Falscheid kennen zu lernen. Hier ist vor Allem 
zu bemerken, dass ich diejenigen Urtheile ausscheide, welche sich auf 
den Offenbarungseid, wonach Jemand verpflichtet ist sein Vermögen 
anzugeben und die Richtigkeit dessen zu beschwören, beziehen. Denn 
wenn Jemand beschwört, dass die vorhandenen Mobilien seine Ehe¬ 
frau in die Ehe gebracht hat, während er sie auf Abzahlung kaufte, 
oder wenn Jemand verschweigt, dass er Theilhaber einer offenen 
Handelsgesellschaft ist, wenn Jemand seinen Gehalt, den Besitz eines 
Pelzrockes verschweigt, so liegt überhaupt kein fahrlässiger Falscheid, 
sondern ein wissentlicher Meineid vor. Ist der Fall so geartet, dass 
er einer milderen ßeurtheilung würdig wäre, so ist nicht § 163 an¬ 
zuwenden, sondern es liegt eben ein Mangel in der gesetzlichen Be¬ 
stimmung insofern vor, als bei § 153 mildernde Umstände nicht vor¬ 
gesehen resp. zugelassen sind. 

Was aber die übrigen Fälle anlangt, so sind dieselben insofern 
interessant, als sie erkennen lassen, wie gefährlich es ist, dem Richter 
eine strafrechtliche Bestimmung an die Hand zu geben, durch welche 
ein Angeklagter ganz den Anschauungen eines Richters oder der mo¬ 
mentan herrschenden Richtung in die Hände gegeben ist. 

Oppenhoff hat in der neuesten Auflage seines Commentars 
die Meinung ausgesprochen, dass es auf den Grund der Fahrlässig¬ 
keit nicht ankomme, dass dieselbe auch bei einem Rechtsirrthum Vor¬ 
kommen könne. Rechtsirrthum sei regelmässig nur dann als Fahr¬ 
lässigkeit anzunehmen, wenn der Schwörende nach Lage des concreten 
Falles die Pflicht hatte, sich die richtige Kenntniss zu ver¬ 
schaffen. Das Reichsgericht sagt in seiner Entscheidung vom 


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III. Martin 


21. Juni 1880, dass eine allgemeine Verpflichtung, sich bei einem 
Rechtsverständigen über die einschlagenden civilrechtlichen Bestim¬ 
mungen zu erkundigen, nicht überall eine verantwortlich machende 
Fahrlässigkeit enthalte. Mit solchen Grundsätzen und Anschauungen 
kann man doch in der Strafrechtspflege nicht arbeiten, wo es darauf 
ankommt, sich in die Seele des Angeklagten und seine Anschauungen 
hineinzudenken, wenn man ihn strafrechtlich beurtheilen will. Wem 
man auferlegen will, sich erst über civilrechtliche Bestimmungen zu 
erkundigen, von diesem muss man doch erst wissen, ob er nach 
seiner Geistesrichtung dies für nöthig hielt Was heisst das Wort 
nicht Ueberall? was heisst concreter Fall? 

Wenn einmal mit solchen Begriffen gearbeitet wird, so ist es 
schon besser, eine strafgesetzliche Bestimmung zu streichen, welche 
nur zu Ungerechtigkeiten führen kann und ich stehe stets auf dem 
Standpunkt, dass eine ungerechte, dem Volke nicht verständliche Ver- 
urtheilung viel mehr Schaden bringt, als wenn einmal ein Schuldiger 
der Bestrafung entgeht 

Es ist dies zwar auch eine verbrecherische Ansicht in den Augen 
mancher strenger Kriminalisten, allein ich halte dieselbe doch für die 
richtige. 

Am 16. Februar 1883 hat das Reichsgericht ein freisprechendes 
Urtheil aufgehoben. Es hatte ein Zeuge ein bestimmtes Ereig¬ 
niss, über welches selbst keine Differenzen Vorlagen, als am 23., 24., 
25. Februar geschehen bezeichnet, während es am 26., 27., 28. Februar 
geschehen war. Der Erstricbter sprach frei, weil der Angeklagte von 
der Richtigkeit seiner Zeitangaben im Augenblick der Vernehmung 
überzeugt gewesen sei und eine Pflicht dem Zeugen nicht 
obliegt, vor der Vernehmung hierüber Erkundigungen einzuziehen. 
Der Zeuge habe lediglich die Pflicht, nach bestem Wissen auszusagen, 
was er zur Zeit der Vernehmung weiss. 

Das Reichsgericht hob dieses Urtheil auf. Die Fahrlässigkeit ist 
nach dessen Ansicht zu suchen im pflichtwidrigen Verhalten des 
Schwörenden, welches ihn dahin gebracht hat, die Unwahrheit eidlich 
zu erhärten, der Zeuge hätte sich vorbereiten, Erkundigungen ein¬ 
ziehen sollen, es handle sich nicht um fahrlässige Unwissenheit, sondern 
Fahrlässigkeit in der Unterlassung eines Handelns, wo ein solches 
geboten war. 

Dieses Urtheil ist unrichtig, psychologisch unbegreiflich. Wer 
von einer Thatsache überzeugt ist, hat doch gar keinen Anlass sich 
zu erkundigen, ob seine Ueberzeugung richtig ist. Und wenn Jemand 
sich erkundigen und ein Anderer ihm sagen würde, dass die Sache 


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Soll die Strafbarkeit der fahrlässigen falschen eidlichen Aussage u. s. w. 77 

sich anders verhält, darf er dann von seiner bestimmten Ueberzeugung 
abweichen? Wie ist es denn dann, wenn der Andere eine unrichtige 
Ueberzeugung gehabt hätte? Wie kann man sich dann vorbereiten? 
Weiss man denn, was man Alles gefragt wird? 

Wenn solche Urtheile bekannt werden, entsteht eine Unsicherheit 
in der Ergründung der Wahrheit, indem jeder Schwörende hinter sich 
bereits den Staatsanwalt sieht, sich nicht mehr traut, eine bestimmte 
Aussage zu machen, sich vielmehr darauf beschränkt, seine Aussagen 
als seine Meinung zu bezeichnen. — Diese reichsgerichtliche Ent¬ 
scheidung hat in der Praxis schnell ihre Jünger gefunden. 

Das Reichsgericht hat aber bald selbst eine andere Richtung 
eingenommen. In seiner Entscheidung vom 8. Januar 1892 hat es 
den Erstrichter, welcher nichts Anderes that, als dem Geiste des Reichs¬ 
gerichts zu folgen, reprobirt und sich dahin geäussert: 

„„Der oben mitgetheilte Satz „Bei gehöriger Aufmerksamkeit 
konnte und musste die Angeklagte einsehen, dass das von ihr eidlich 
Bekundete nicht der Wahrheit entsprach“, entbehrt jedes concreten, 
greifbaren Inhaltes, gibt nur eine formelmässige Umschreibung der 
subjectiven Voraussetzung eines fahrlässigen Falscheides, lässt aber 
nicht im Mindesten ersehen, was die Angeklagte hätte bedenken und 
worauf sie ihre Aufmerksamkeit hätte richten sollen, um die bei ihr 
festgewurzelte Vorstellung als eine solche zu erkennen.““ Das Reichs¬ 
gericht ist nun der Anschauung geworden, dass der Zeuge, wenn bei 
ihm eine Tbatsache nach bestem Wissen zweifellos feststeht, sie auch 
als feststehend zu bekunden hat und auch beim Widerspruch anderer 
Zeugen nicht verpflichtet ist, zu wiederholen, dass er nur sein bestes 
Wissen bekunde. 

Auch am 16. Februar 1894 musste ein Urtheil aufgehoben werden. 
Der Erstrichter hat folgende Ansicht seiner Verurtheilung zu Grunde 
gelegt: 

„Die Angeklagte hat es bei der Erinnerung an den Vorfall an 
der gehörigen Aufmerksamkeit und Vorsicht fehlen lassen und sie 
hätte, wenn sie dieselbe angewendet hätte, wozu sie genügende Zeit 
und Gelegenheit hatte, nach den ihr eigenen geistigen Fähigkeiten 
erkennen können und müssen, dass die von ihr beschworene That- 
sache den wirklichen Verhältnissen nicht entspricht. Sie war zu einer 
Prüfung um so mehr verpflichtet, als es ihr keinen Augenblick ent¬ 
gangen sein konnte, dass diese Bekundung für den Ausgang des Straf¬ 
verfahrens von maassgeblicher Bedeutung gewesen ist.“ 

Mit Recht hat das Reichsgericht dieses Urtheil aufgehoben und 
ausgeführt: 


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III. Martin 


„Diese Begründung ist unzureichend und beruht auf einer Ver¬ 
kennung der im § 163 St G. B. vorausgesetzten Fahrlässigkeit. Be¬ 
fand sich die Angeklagte nun einmal in einem thatsächlichen Irrthume, 
hatte sich bei ihr eine falsche Vorstellung über die Reihenfolge der 
in Betracht kommenden Vorgänge festgesetzt, so ist nicht verständlich, 
wie sie durch „Aufmerksamkeit und Vorsicht“ ihren Irrthum ver¬ 
meiden konnte. Es muss daran festgehalten werden, dass im Allge¬ 
meinen, wie der erkennende Senat bereits in dem Urtheile vom 
8. Januar 1902, (Entsch. des R.-Gs. in Strafsachen Bd. XXII, S. 297) 
hervorgehoben hat, das Gedächtniss durch blosse Anstrengungen des 
Willens und der Aufmerksamkeit nicht dazu gebracht werden kann, 
richtig zu functioniren.“ 

Auch am 2. October 1894 war das Reichsgericht in die Noth- 
wendigkeit versetzt, ein Urtheil aufzuheben und von Interesse ist 
folgende Ausführung: 

„Es wäre daher zu prüfen gewesen, ob und inwiefern der Ange¬ 
klagte gleichwohl, da er bestimmt in Abrede stellte, mit dem N. ge¬ 
sprochen und zusammen mit ihm gegessen zu haben, den Zeugeneid 
verletzte. Hierbei hätte insbesondere erwogen werden müssen, ob 
denn wirklich gerade diese Thatsache im Vergleiche mit dem ander¬ 
weitigen Gegenstände seiner im Uebrigen nicht beanstandeten Aus¬ 
sage von so besonderer Bedeutung gewesen war, dass sie sich seinem 
Gedächtnisse mit Nothwendigkeit einprägen musste. Der Umstand 
allein, dass andere Zeugen von seiner Aussage abwichen, konnte dem 
Angeklagten keinen Anlass geben, von seiner Aussage, wenn er diese 
für wahr hielt, abzugehen; dass ihm aber besondere Anhaltspunkte 
zur Auffrischung seines Gedächtnisses geboten seien, oder dass er sich, 
wie es in dem Urtheile heisst, in Widersprüche verwickelt habe, ist 
nicht ersichtlich. Der erste Richter hat offenbar auf die Aussage 
der erst vernommenen Th.’scben Eheleute erhebliches Gewicht gelegt 
und ist von der rechtsirrthümlichen Annahme ausgegangen, dass ein 
objectiv falscher Eid entweder auf Vorsätzlichkeit oder auf Fahrlässig¬ 
keit zurückgeführt werden müsse, während eine fahrlässige Verletzung 
des Zeugeneides nur angenommen werden darf, wenn der Zeuge eine 
objective falsche Aussage abgiebt, obwohl er bei seiner Vernehmung 
die Wahrheit hätte wissen können.“ 

Hiermit hat das Reichsgericht seine Anschauung vom 16. Feb¬ 
ruar 1883 missbilligt. 

VIII. 

Nach dieser Excursion in die praktische Rechtspflege ist aus 
derselben zu entnehmen, dass das Reichsgericht öfters in die Lage 


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Soll die Strafbarkeit der fahrlässigen falschen eidlichen Aussage u. s. w. 79 


versetzt war, in sehr ernster und bestimmter Weise die Anschauung 
des Untergerichtes über fahrlässigen Falscheid zu corrigiren. 

Welche Fälle aber nicht an das Reichsgericht kamen, weil die 
Angeklagten in ihrer Bestürzung sich unterworfen haben oder nicht 
wussten, dass ihnen noch ein Rechtsmittel zu Gebote steht, ist unbe¬ 
kannt. Jedenfalls sind die wenigen dem Reichsgericht unterstellten 
Fälle nicht erschöpfend und liegt eine Anzahl von Verurtheilungen 
vor, welche sich anlehnend andieDoctrinen maassgebender Rechtslehrer 
oder der momentanen Auffassung des obersten Gerichtshofes besser 
nicht erfolgt wären. 

Fehlgriffe in der Praxis sind nie ausgeschlossen, aber im höchsten 
Grade bedenklich erscheint es, wenn das Gesetz die Fehlgriffe be¬ 
günstigt durch Aufstellung von Begriffen, welche den Richter nur zu 
leicht verleiten, seine individuellen kritischen Anschauungen als maass¬ 
gebend bei Beurtheilung der geistigen Vorgänge anderer Menschen 
zu erachten. Auch der gewissenhafteste Zeuge kann irren, er kann 
sich selbst täuschen, er kann je nach seiner individuellen Anschauung 
ein ihm gegebenes Bild anders gestalten, er kann auch nach und nach 
durch Beeinflussungen sich eine andere Ueberzeugung bilden. So 
länge der Zeuge von seiner inneren Ueberzeugung nicht ab weicht, 
bandelt er nicht fahrlässig. Würde er anders aussagen, so wäre diese 
von seinem Standpunkt aus betrachtet, meineidig. So lange er aber 
eine feste innere Ueberzeugung hat, hat er keinen Anlass hierüber 
erst Erkundigung einzuziehen und die Meinung Anderer seiner Ueber¬ 
zeugung zu substituiren. 

Welcher Richter endlich vermag zu beurtheilen, ob die nach bester 
Ueberzeugung gegebene Aussage nur auf oberflächliche Eindrücke 
sich bezieht? 

Ich schliesse meine Erörterungen mit dem Hinweise auf die vor¬ 
trefflichen Ausführungen des Reichsgerichtsrathes a. D. Dr. Steng- 
lein in Leipzig in den Verhandlungen des 26. Deutschen Juristen¬ 
tages Bd. I. (Gutachten) S. 56, welcher diese Frage ebenfalls ver¬ 
neinend beantwortet und hierbei auch die bisher in verschiedenen 
Ländern bestehenden gesetzlichen Bestimmungen berücksichtigt 

Es ist daher nur zu wünschen, dass dieser § 163 in ein Straf¬ 
gesetzbuch nicht aufgenommen, wo er besteht, gestrichen wird. 

Ich möchte nur noch bemerken, dass im bayerischen Strafgesetz¬ 
buch vom 10. November 1861 eine solche Bestimmung nicht bestanden 
und sich in der Praxis kein Bedürfniss nach derselben gezeigt hat, 
wie dies auch Reichsgerichtsrath Stenglein in seinem oben bemerkten 
vorzüglichen Gutachten hervorhebt. 


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IV. 


ilmile Zola. In memoriam. 

Seine Beziehung znr Kriminalanthropologie nnd Sociologie. 

Von 

Medicinalrath Dr. F. N&eke in Hubertusburg. 

Dahingegangen ist der gewaltige Barde, ein Fürst im Reiche der 
Geister, der mit Ibsen und Tolstoi ein seltenes Dreigestim bildete, 
das seine tiefen Furchen in die Gedankenwelt eines halben Jahr¬ 
hunderts zog. Er starb seinen tragischen Tod zur rechten Zeit, sagt 
man, just als sein Stern zu verbleichen begann. 

Wir wollen hier nicht Zola’s literarisch-künstlerischen Werth 
untersuchen, weil dies mehr Sache der eigentlichen Literaturhistoriker 
ist. Noch lebt zudem sein Andenken zu frisch, als dass man hier ein 
völlig gerechtes und abschliessendes Urtheil darüber fällen könnte. 
Interessant für den Unparteiischen ist es aber zu sehen, wie auch 
seine literarisch-künstlerische Einschätzung immer höher stieg, nach¬ 
dem das theologisch-moralisirende Gebälfer über seine angebliche Un¬ 
sittlichkeit allmählich mehr und mehr verstummte. 1 ) 

War es ja doch Verblendung zu behaupten, Zola wälze sich ab¬ 
sichtlich in Schmutz, mit Wollust male er die gewagtesten Situationen 
aus und thue dies nicht am wenigsten, um Leser anzulocken, indem 
er ihren niederen Trieben schmeichle. Es gehört nur wenig Ueber- 
legung und Lektüre dazu, um solche Beschuldigungen als albern hin¬ 
zustellen. Da er sich vorgenommen hatte, hauptsächlich die Nachtseiten 
des zweiten kaiserlichen Paris zu schildern, und zwar cSncreter Weise, 
so war es unausbleiblich, dass er, wollte er ein wirklicher Sitten- 
schilderer sein, die Personen und das Milieu möglichst wahrheitsgetreu 

1) Auch die ganz einseitige, z. Th. sogar total falsche Beurteilung Zola’s 
seitens Nordau’s (Entartung. 2. Bd. Berlin 1S93), hat zum Glück Zola wenig 
geschadet. Nordau spielt sich gern unter Anderen als Psychiater auf und bringt 
dann oft ganz unhaltbare Behauptungen vor, wie er denn als glühender Verehrer 
Lombroso’s kritiklos dessen mehr als zweifelhafte Theorieen auftischt. 


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Emile Zola. 


81 


darstellen musste, nicht als Fälschung k la Salontiroler oder etwa so 
wie Auerbach die dörflichen Typen verballhornisirte. Er musste 
also die Gedanken und die Sprache der betreffenden Berufs- und 
Volksschichten wiedergeben, das Jargon der feilen Dirne verwenden 
u. s. w. Und noch gab er nicht die volle, krasse Nacktheit wieder, 
sondern deutete Vieles nur an, was ein Hintertreppen-Romanschrift- 
steller breit und lüstern geschildert hätte. Selbst sein laszivstes Werk: 
Nana, lässt dies genugsam erkennen. Hier würde manch anderer 
Schriftsteller viele Details noch weiter ausgemalt haben, die Zola 
nur errathen lässt Seine Cynismen sollen nicht als solche wirken, 
sondern — man liest dies überall zwischen den Zeilen — abschrecken 
und zum guten Wege leiten. Zola’s Romane sind nicht nur cultur- 
historisch wichtig, sondern, wie ich behaupte, eminent moralisch, 
freilich in anderer Weise wirkend, als die Moral der Geistlichen und 
Lehrer. Zuzugeben ist allerdings ohne Weiteres, dass diese Art von 
Moralpredigt nur für Erwachsene und Erfahrene passt, die zugleich 
die mancherlei Uebertreibungen, deren sich Zola schuldig macht, 
richtig würdigen können. Für die Jugend, den Unerfahrenen sind 
und bleiben sie zum grossen Theile nur Giftblumen. Damit ist also 
der Kreis, den Zola’s Werke finden sollen, wesentlich eingeschränkt, 
aber hier wirken sie nicht die Sinne kitzelnd, sondern tragisch, und 
deshalb „reinigend* 4 im Sinne von Aristoteles. 

Viele Sittenschilderungen hat es freilich schon vor Zola gegeben, 
Schilderungen bald der höheren, bald der niederen Schichten, bald 
mehr wahr oder nicht, bald humoristisch angehaucht oder nur zur 
Belustigung dienend u. s. w. Bei Zola ist aber Alles bitter ernst. Er 
ist der strenge Sittenrichter und durch Hinweis auf die eiternden 
Wunden glaubt er eine Mission zu erfüllen. Ein Kritiker nennt ihn 
daher mit Recht den „Juvenal“ seiner Zeit. Trotz fruchtbarer, wenn 
vielleicht auch etwas einseitiger Phantasie, die ihn befähigte, immer 
neue Gestalten (ca. 2000!) und Lagen zu ersinnen, ist er im Grunde 
doch der gelehrte Analytiker und Kritiker geblieben, ein echter Schüler 
Taine’s, der erst auf Grund von massenhaften wissenschaftlichen Daten 
seine Romane aufbaut und ihnen so einen soliden, dauernden Unterbau 
giebt Allerdings passirt es ihm hierbei öfters, dass er als Laie sich 
bez. der Tragweite gewisser Theorieen irrt — z. B. betreffs der Ver¬ 
erbung —, oder in den angesammelten Notizen Wesentliches und Un¬ 
wesentliches zusammen verarbeitet. Das sind aber immerhin nur 
kleine Ausstellungen. Er steht durch seine Methodik thurmhoch über 
den meisten seiner Zeitgenossen. Seine Sprache ist aber ungelenk, 
grobkörnig, man merkt es ihm an, dass er kein Vollblutfranzose ist, 

Archiv für KriminaUnthropologie. XI. H 


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82 


IV. NXcke 


Sie wird daher schneller veralten, als die seines grossen Vorgängers 
Balzac, und nicht entfernt reicht sie an die schöne Diction eines 
Bourget oder gar an das elegante und fascinirende Französisch eines 
Marcel Prövost oder Loti heran. 

Zwei deutliche Perioden lassen sich in Zola’s Schaffen erkennen. 
Die erste, grössere, umfasst sein monumentales Werk der Rougon- 
Macquart. Hier ist er vorwiegend Pessimist, obgleich er in seinen 
schwärzesten Bildern immer noch einige Lichtpunkte anzubringen 
weiss. Er lässt sich nicht auf Heilung der Schäden ein; er will 
letztere nur schonungslos aufdecken, wobei er in seinem Hasse gegen 
das zweite Kaiserreich sicher zu weit geht, daher manches zu schwarz 
malt. In seinen 3 Städteromanen und in den letzten zwei Werken 
— das dritte ist eben im Drucke begriffen — zeigt uns Verfasser 
dagegen ein ganz neues Gesicht. Er ist hier Reformator, ungeschminkter 
Optimist und vollkommen überzeugt, dass die Menschheit ganz 
gesunden könne, durch das Evangelium der Arbeit, Abstreifen dog¬ 
matischer und abergläubischer Fesseln u. s. w. Hier jagt er leider 
solchen Utopieen nach, dass selbst der simpelste Leser sich von der 
Undurchführbarkeit derselben überzeugt und davon sich abgestossen 
fühlen muss, was zum grossen Theile den Niedergang seines Ruhmes 
mit bewirkte. Auch war schliesslich die Phantasie erlahmt, die Wieder¬ 
holungen und Längen wurden immer häufiger, die Situationen manch¬ 
mal an den Haaren herbei gezogen, ja, Manches erinnerte bedenklich 
an die Technik der Hintertreppenromane. Trotzdem zeigen sich bis 
zuletzt noch viele poetische Perlen. — 

Sein Hauptwerk ist also der Cyklus der Rougon-Macquart, und 
nur staunend kann man trotz mancher Einwendungen das Ganze über¬ 
schauen. Es ist auch nicht der nackte Naturalismus, der den Autor 
hier leitet, sondern er handelt stets seinem Principe getreu, dass ein 
Kunstwerk r ein durch ein Temperament gesehenes Stück Natur“ sein 
soll. Trotz möglichster Beachtung aller Realien und scharfer Beob¬ 
achtung von Land und Leuten taucht er doch alles in die Färbung 
des Prismas, durch welches er die Welt betrachtet. Dadurch erst 
kann in der That ein Werk zum Kunstwerk erhoben werden, wenn 
ein subjectiver Ton überall sichtbar wird, der nackten, absolut objec- 
tiven Photographie gegenüber. Diese subjective Seite seines Schaffens 
zeigt sich auch in seiner merkwürdigen Liebe zur Verkörperung leb¬ 
loser Dinge, wie z. B. der Lokomotive, und zwar von Anfang an. 
Das macht kein wahrer Naturalist! In ihm steckt eben mehr: auch 
ein Romantiker. Zola’s warme Menschen- und Gerechtigkeitsliebe 
ferner pulsirt überall und ringt sich schliesslich zu einem unmöglichen 


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Kmilc Zola. 


83 


Optimismus durch, wie wir schon sahen. Nur da, wo sein Hass 
gegen das kaiserliche Regiment die Oberhand gewinnt, wird er un¬ 
gerecht, weniger schon in der Aufstellung gewisser Typen, wie wir 
noch sehen werden. Einmal wird er sogar aus Connivenz ungerecht. 
Deutscherseits hat man ihm nämlich mit Recht den Vorwurf gemacht, 
dass er in einem grossen Werke: „la Döbäcle“ die deutschen Soldaten 
meist als rohe Barbaren darstellte und zwar wider besseres Wissen. 
Er selbst hat seiner Zeit gebeichtet, dass er vollständig von der Grund¬ 
losigkeit dieser Behauptung überzeugt sei, dies aber seiner franzö¬ 
sischen Leser halber gethan habe, welche er durch seine klassische 
und wenig schmeichelhafte Darstellung der inneren Ursachen des Zu¬ 
sammenbruchs auf französischer Seite schwer gekränkt hatte. Ver¬ 
zeihen wir ihm also diese offenbare Lüge! 

Doch wir wollten Zola ja von einer anderen Seite her unter¬ 
suchen, bez. seines Verhältnisses nämlich zur Kriminalanthropologie 
und Sociologie. Das wird uns gleichzeitig Gelegenheit geben, einige 
wichtige allgemeine Principien zu besprechen. Eine Vorfrage erhebt sich 
hier zunächst. Was befähigte ihn, sich mit den Problemen jener Dis- 
ciplinen zu beschäftigen? Von jeher hatte er sich speciell für Natur¬ 
wissenschaften interessirt, damit natürlich auch für den Causalzu- 
sammenhang der Dinge. Dem bio- oder sociologischen Causalnexus 
nachzudenken scheint ihm aber erst während seiner Studienzeit beige¬ 
kommen zu sein, angeregt wohl durch das wahre Kaleidoskop mensch¬ 
licher Typen in den Romanen des grossen Balzac, dann aber beson¬ 
ders durch das Studium Taine's. Durch Letzteren beeinflusst, er¬ 
kannte er immer mehr, dass jeder Charakter, jedes mensch¬ 
liche Thun die Resultante eines angeborenen Elements 
und des Milieus im engeren und weiteren Sinne sei. Er 
ward also überzeugter Determinist und glaubte fast mathema¬ 
tisch den Charakter und die kommenden Dinge aus oben genannten 
Hauptfactoren construiren zu können. In thesi hat er sicher Recht. 
Wenn es nämlich gelänge, absolut sicher den angebornen — vielleicht 
richtiger gesagt: eingeborenen — Factor eines Menschen in allen 
Details zu kennen, ferner genau das Milieu, in dem er lebte, sowie 
die daraus niedergelegten Gedächtnissbilder und die Gedankenwelt, 
wenn man endlich die ihn erfüllenden Gedanken und Gefühle in den 
einer Handlung vorangehenden Minuten, nebst dem begleitenden all¬ 
gemeinen Körperzustand sicher feststellen könnte, so müsste absolut 
sicher jede Handlung oder Unterlassung in jedem Momente seines 
Lebens construirbar sein. Da aber leider alle diese Prämissen uner¬ 
füllbar sind, so ist der Schluss zwar hinfällig, darum aber noch lange 

6 * 


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84 


IV. NXckk 


nicht falsch. Er ist sogar logisch absolut richtig, nur die Prämissen 
können nie ganz erfüllt werden, immerhin aber doch bis zu einem 
gewissen Grade. Das Ganze steht also zweifelsohne auf einer soli¬ 
deren Basis als alle sonstigen metaphysischen Schlüsse. Der Deter¬ 
minismus und die Lehre des Nichtexistirens eines freien Willens im 
eigentlichen Sinne bildet daher mit Recht eine stolze Errungenschaft 
der heutigen Naturwissenschaft, die auch immer mehr und mehr von 
der Rechtswissenschaft und Philosophie anerkannt wird, freilich mit 
der dogmatischen Theologie sich schlecht verträgt 

Mit diesem Grundsätze des Determinismus hat Zola schon einen 
Fuss in die Kriminalanthropologie gesetzt. Sein Fehler ist vielleicht 
nur der, dass er seine Constructionen doch hie und da etwas zu ge¬ 
wagt aufbaute. Weiter war er von dem überwiegenden Ein¬ 
flüsse des endo- über den des exogenen Factors im 
Menschenleben völlig überzeugt, namentlich bez. der Wirkung 
der Vererbung. Hier ging es ihm jedoch leider so, wie es vielen 
Laien ergeht: er übertrieb diesen Einfluss. „Die Stammmutter“, sagt 
Semmerau 1 ) in seiner lesenswerthen Studie über Zola, „eine ge¬ 
borene Fouque, ist schwachsinnig und epileptisch und hat chronische 
Geisteskrankheit in ihre Sippe gebracht, von der kein einziges Mit¬ 
glied völlig gesunde Nerven, einen völlig normalen und harmonischen 
Charakter hat.“ Dies ist fabelhaft übertrieben! Eine solche Familie 
hat es kaum jemals gegeben. 2 ) Auch in seinem „Dr. Pascal“ hat er 
die Vererbungstheorie auf die Spitze getrieben. Aehnliches passirt be¬ 
kanntlich gleichfalls Ibsen. Man vergesse aber nicht, dass Zola kein 
Arzt, noch weniger ein Irrenarzt ist; ihm sind also solche Uebertrei- 
bungen nicht allzuhoch anzurechnen. Ein Verdienst ist es jedenfalls 
von ihm, dass er im Gegensatz zu den neuesten Schriftstellern bewusst 
auf den grossen Einfluss des endogenen Elements hinwies und weiter¬ 
hin auch bewusst den Wirkungen des Milieus auf dasselbe nachgeht, 
während Balzac dies alles mehr unbewusst thut und jedenfalls den 
angeborenen Factor viel weniger in Anschlag bringt. ’) Das Milieu haben 
schon viele Schriftsteller vor oder gleichzeitig mit Zola dargethan, 
wenn auch nicht immer mit klarer Absicht und nicht so eindringlich. 
Denn, um diesen Einfluss darzulegen, ergeht sich Zola oft in die 

II Semmerau, KmileZola. Wissenschaftliche Beilage der Leipziger Zeitung. 
11)02. Nr. 120. 7. Octbr. 

2) Nordau (1. c.) behauptet, dass die Geschichte der Familie Kerangal den 
Stoff zu Zola’s sämmtlicheu Romanen geliefert habe — was er natürlich nicht 
beweisen kann — und dass der Stammbaum der Rougon-Macquart dem der 
Kcrangal’s nachgebildet wäre. 

3) Dass Balzac aber schon durch reine Beobachtung Vieles richtig voraus¬ 
sah, zeigt die Notiz im Archivio di psichiatria etc. 11)02. p. 005. 


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Emile Zola. 


85 


geringsten Details, in häufig weitschichtige Ausmalung, deren Zweck 
gerade dem Leser anfangs nicht einleuchten will.') So werden die 
traurigen hygienischen Verhältnisse der Armen, ihre schlechte Nah¬ 
rung, das Spärliche von Licht und Luft, der Schmutz, das Cantinen- 
leben u. s. w. in grausiger, fast photographischer Treue wiedergegeben. 
Ebenso aber auch die Atmosphäre des Reichthums, Luxus u. s. w., kurz 
alle Höhen und Tiefen der menschlichen Gesellschaft. 

Ein grosses Verdienst Z ola’s beruht ferner darin, dassersehr 
früh schon auf den „männertödtenden“ Alkohol binwies 
und seine furchtbaren Folgen nicht bloss für das Individuum und das 
Familienleben, sondern namentlich für die Nachkommenschaft dar¬ 
stellte. Jeder, der den „Todtschläger u gelesen hat, sieht mit Schaudern 
die Menschen in der ekeln Fuselregion sich bewegen: und wer mit 
den schrecklichen Folgen des Alkohols einigermaassen vertraut ist, 
wird die wahrheitsgetreue Schilderung des Verfassers nur bewundern 
können. Mit fast cynischer Offenheit riss er den Verband von der 
Wunde los und zeigte sie den Menschen als abschreckendes Beispiel. 
Damals, als der „Todtschläger“ zuerst erschien, kannte das Publikum 
diesen Erbfeind des Menschen in Paris relativ noch wenig und hielt 
deshalb die Beschreibung Zo la’s für ungeheuer übertrieben. Als jedoch 
vor etlichen Jahren dasselbe Werk in Form eines Dramas dort auf den 
Brettern erschien, waren alle Anwesenden über die Wahrheit der Bilder 
geradezu verblüfft und erschüttert. Hatte doch Jeder unterdess am 
hellen lichten Tage die traurigen Opfer des Soffs sogar auf den 
eleganten Boulevards genügsam studiren können! Aber nicht nur 
die Zerrüttung aller Familienbande durch den Schnapsteufel wird uns 
vorgeführt, wie auch das selbstverständliche Zurückgehen der pecu- 
nären und socialen Lage, sondern wir sehen den Trinker intellektuell, 
besonders aber ethisch immer tiefer sinken und sogar zum Verbrecher 
werden. Gerade dieser Zusammenhang zwischen Alkohol 
und Verbrechen tritt überall klar zu Tage. Nicht weniger 
drastisch sehen wir die Wirkung des Fusels auf die Kinder, wie sie 
so oft von Geburt an geistige und moralische Krüppel sind und es 


li Wenn Nordau sagt, es sei in der Dichtkunst eine Verirrung, die Theorie 
des Milieus vorzubringen, so bestreite ich das entschieden. Die Phantasie hat 
dadurch keinen Schaden gelitten und wahre Poesie lässt sich sicherlich auch auf 
wissenschaftlicher Basis errichten, wie wir dies z. B. in Jordan’* „Demiurgos" 
sehen. Anderweitig meint Nordau: „Statt künstlerischer Gestaltung versucht 
er, uns Wissenschaft zu geben, und er giebt uns falsche Wissenschaft ...“ Auch 
das ist falsch, abgesehen davon, dass uns Zola zwar keine strenge Wissen¬ 
schaft giebt, sicher aber auch keine falsche, wenigstens nicht allgemein gesprochen. 
Ein Hauptverdienst liegt sicher mit darin, dass er gewisse wissenschaftliche That- 
saclien, die eben berührt wurden, erst popularisirte. 


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IV. Xäckk 


durch das traurige Milieu noch mehr werden. Typisch hierfür ist 
die kleine Nana im „Todtscbläger“. Schlecht genährt, elend aussehend, 
sehen wir in ihr schon alle späteren Schattenseiten angedeutet. Früh¬ 
zeitig geschlechtlich erregt, späht sie durch die halbgeöffnete Thür 
des Schlafzimmers, wo der betrunkene Vater eben mit der Mutter 
coitirt. So kann nichts Anderes als eine Dirne aus ihr werden! 

Aber auch die übrigen Wurzeln des Verbrechens wer¬ 
den aufgedeckt Es giebt da „geborene Verbrecher“ im Sinne 
Lombroso’s — die wir bekanntlich ablehnen —, ferner Leidenschafts- 
Gelegenheitsverbrecher in Hülle und Fülle; und Zola hätte nicht der 
grosse Schilderer menschlicher Leidenschaften sein müssen, wenn er 
nicht auch hier den nahen Schritt zum Verbrechen dargethan hätte. 1 ) 
Wir sehen den traurigen Einfluss von Noth und Elend auf das Ver¬ 
brechen, ebenso aber auch des Geldes, der Habsucht, der Weiberherr¬ 
schaft u. s. f. bei gewissen Menschen. Die Psyche des Verbrechens 
wird secirt. Hierbei lässt sich deutlich erkennen, dass Zolavon einer 
specifischen Verbrecherpsychologie nichts wissen will, 
sondern sie nur aus der normalen Psyche gleichsam herauswachsen 
lässt. Wir sehen genug äusserlich schon abstossende Delinquenten. 
Auch die Gefahren des Geschlechtstriebs und seiner Perversionen werden 
geschildert, wie überhaupt wohl Alles, was die Abwege der mensch¬ 
lichen Seele kennzeichnet. 

Aber alle äussere, scharfe Beobachtung würde Zola wenig ge¬ 
nützt haben, wäre er nicht zweitens zugleich auch ein feiner Psycho¬ 
log gewesen. Am prägnantesten, fast peinlich, tritt dies in seinem 
Jugendwerk, in Therese Raquin, in Erscheinung. Jeder Gedanke 
wird hier zergliedert und logisch reiht sich ein Gedanke an den an¬ 
deren, eine Handlung an die andere. Man hat von gewissen Seiten 
dieses Werk als Hintertreppenroman bezeichnet und seine Psychologie 
als falsch hingestellt. Das ist sicher unrichtig. Wie die Charaktere 
einmal gegeben sind, musste Alles logisch so vor sich gehen und 
nicht anders. Das, was selten, aussergewöhnlich ist, ist darum noch 

l) LombroBO (Nordau 1. c.>, sagt freilich bez. der Gestalt des Mörders 
Lantier in „La bete humaino“: „Zola hat meiner Ueberzeugung nach Verbrecher 
im Leben nicht beobachtet... Seine Verbrechergestalten machen nur den Ein¬ 
druck des Blassen und Vorzeichneten gewisser Lichtbilder, die Portraits nicht 
nach dem Leben, sondern nach Oclgcmälden wiedergeben.“ Ob dies Urtheil 
wirklich gerechtfertigt ist, in dieser Allgemeinheit wenigstens, möchte ich sehr 
bezweifeln und mit mir gewiss Andere auch. Ein Mann, der, wie Zola, die 
Menschen so beobachtet hat, wird genug verbrecherische Personen aller Art an¬ 
getroffen haben. Auch die Mörder stellen durchaus nicht immer das Bild dar, 
wie es Lombroso schematisch entwirft. Es ist mir ausserdem sehr wahr¬ 
scheinlich, dass Zola bei seiner Gründlichkeit die Gelegenheit ergriffen hat, die 
Insassen eines Gefängnisses zu besuchen. 


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Kmile Zola. 


87 


nicht falsch. Wir vergessen immer, dass auch im gewöhnlichen Leben 
die sogenannten Normalen in so manchen Dingen sich abnorm ver¬ 
halten und dass unendlich viel Zwischenstufen von hier bis zur geistigen 
Erkrankung führen. Davon muss selbstverständlich auch die Psycho¬ 
logie betroffen werden. Um also in psychologischen Dingen einen ge¬ 
rechten Maassstab zu gewinnen, dürfen wir nicht fragen: wie würdest 
du dich in einem solchen Falle verhalten, sondern: wie kann und darf 
die betreffende Person mit ihren angeborenen Eigenschaften und in 
ihrem Milieu sich benehmen? Stimmt Letzteres mit den Prämissen 
überein, so ist die Psychologie wahr. Wenn uns nun trotzdem die 
Folgerichtigkeit in Thöröse Raquin peinlich berührt, so kommt es daher, 
dass wir t. nicht gewöhnt sind, unsere eigenen Gedanken und Handlungen 
so eingehend zu analysiren; und 2. die geschilderten Charaktere uns ab- 
stossen. Ganz Aehnliches erleben wir ja auch in der grossartigen No¬ 
velle von Otto Ludwig: „Zwischen Himmel und Erde“ und in Bour- 
get’s „le disciple“, dessen Held fast die Grenze der Wahrscheinlich¬ 
keit streift, trotzdem aber sehr wohl denkbar ist Auch in Tolstoi’s 
„Auferstehung“ haben wir eine ähnliche Seelenanalyse oder in Dosto¬ 
jewskis „Raskolnikow“. So eingehend psychologisch wie in Thöröse 
Raquin sind freilich die meisten anderen Figuren Zola’s nicht behandelt. 
Wir werden hier vielmehr gezwungen, die Zergliederung nach einigen 
Andeutungen, Handlungen oder Unterlassungen selbst vorzunehmen. 
Trotzdem tritt uns bei selbst flüchtig Gezeichneten meist eine hin¬ 
reichend scharfe Charakterisirung entgegen, so dass ich nie habe be¬ 
greifen können, wie Zola bloss Typen, Schemen, Abstractionen, aber 
keine lebenden Menschen gezeichnet haben soll. Sicher kommt es 
ihm zunächst auf das Allgemeine, Typische an, z. B. im Bauern, im 
Geldprotzen, in der Dirne u. s. f. Daneben aber giebt es stets noch 
eine Menge rein individueller Züge, die sich zu einem besonderen, 
persönlichen Charakter zusammenschliessen. 

Freilich geschieht es bisweilen, dass Zola dabei auf, ich will nicht 
sagen, unmögliche, aber doch sehr gesuchte Wege geräth, oder aber 
Züge bringt, die mindestens überflüssig sind, ja unästhetisch wirken. 
Im Momente fallen mir einige Beispiele aus seinen Städteromanen: 
Rome und Paris, ein. Die jugendliche Gräfin in „Rome“ hatte dem 
directen oder indirecten Anstürmen ihres Geliebten, ihres leiblichen 
Vetters, nach fleischlicher Umarmung bisher stets widerstanden. Als 
nun der Mann auf dem Todtenbette lag, entkleidet sie sich in Gegen¬ 
wart ihrer Umgebung, bereut in ihrer heissen Liebe, dass sie seinem 
Wunsche nicht früher nachgab und will dies jetzt bei dem Sterbenden 
nachholen! Eine widerliche, trotzdem vielleicht nicht unpsychologische 


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88 


IV. Xäckk 


Handlung, die aber um so ekler wirkt, als vorher die erschütternde 
Scene der letzten Oelung vor sich gegangen war. Weiterhin sehen 
wir den brutalen, uncultivirten I^andcuraten, der Früchte vergiftet hat, 
um eine seinem hohen Gönner missliebige Person aus dem Wege zu 
schaffen. Auch dies ist durchaus möglich und sicher nicht bloss im 
Mittelalter vorgekommen, wie hier und da gewisse Mordprocesse katho¬ 
lischer Geistlicher, besonders im Süden Europas, oder gar im spani¬ 
schen Amerika beweisen. Aber diese immerhin überaus seltene Hand¬ 
lung war hier ganz unnöthig, da der Tod des Geliebten der Gräfin 
ganz anders hätte herbeigeführt werden können. Wahrscheinlich wollte 
aber Zola in seinem Hasse gegen die Priester ihnen etwas am Zeuge 
flicken, wobei er jedoch sicher nicht daran dachte, diesen Vorgang 
etwa verallgemeinert zu wissen. Hat er doch manche herrliche Gestalten 
unter ihnen gezeichnet. So kam es jedenfalls, dass Manche „Rome“ 
zu den Hintertreppenromanen zählen, was absolut falsch ist Ich er¬ 
innere ferner an den Ingenieur in „Paris“, der in seinem verkehrten 
Fanatismus gegen die Religion die Sacrö-Coeur-Kirche auf dem Mont¬ 
martre in die Luft zu sprengen beabsichtigt, woran er in der elften 
Stunde nur durch den Bruder verhindert wird. Sicher ist ein solcher 
ganz zweckloser Fanatismus möglich, aber in dieser Gestalt brauchte 
er in dem Stücke nicht aufzutreten. 

Wir sehen also Zola nicht bloss verschiedenartig die Krirai- 
nalanthropologie streifen, sondern als feinen Psychologen auch die 
Kriminalpsychologie. Aber damit noch nicht genug, zeigt er sich uns 
auch als kundiger Sociolog. Er schildert meisterhaft die einzelnen 
Volksschichten, von unten bis oben, in besonderen Repräsentanten, 
denen, wie gesagt, jedoch stets noch individuale Züge anhaften. Er 
führt unserem Auge so den Proletarier, den Bürger, den Rentner, 
den kleinen und grossen Beamten, den Börsianer, Geldprotzen, Par¬ 
venü, den alten, verarmten Adligen, den kleinen Krämer, den Gross¬ 
kaufmann, den Diplomaten u. s. w. vor. Diese Personen sind im All¬ 
gemeinen so wahr geschildert, dass sie eben in jedem Ijande und zu 
jeder Zeit Vorkommen können und das eben verleiht ihnen die all¬ 
gemeine Bedeutung. Manche Charaktere kann man freilich von einer 
gewissen Einseitigkeit oder Uebertreibung nicht freisprechen, besonders 
wenn sie mehrfach in gleicher Zeichnung auftreten und deshalb erst 
recht den Eindruck des Typischen zurücklassen. 

So hat Zol a z. B. in „la Terre“ dem Bauer sicher zu viel Schlimmes 
aufgehalst. 1 ) Wer aber denselben genauer kennen lernt, wobei es im 

1) Siehe Notiz 3 auf S. 94 dieses Aufsatzes. 


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Emile Zola. 


89 


Allgemeinen ziemlich gleichgültig ist, wo der Bauer sich befindet, wird 
dem Kerne der Darstellung nur zustimmen können. Der Geiz, die 
Habsucht, der Ultraconservatismus, das Fehlen jeglicher Ideale, das 
gewöhnliche Heiraten aus Geldrücksichten, die nicht seltene geistige 
Beschränktheit trotz gewisser Schlauheit u. s. w., sind solche Schatten¬ 
seiten, die jeder Kenner nur bestätigen wird. Aus dem Milieu und aus 
der Inzucht wird man diese Qualitäten erklären können. Natürlich giebt 
es viele Ausnahmen, doch kommt es immer darauf an, was das Häu¬ 
figere ist. Auf dem 3. internationalen psychologischen Congresse zu 
München im Jahre 1896 habe ich 1 ) speciell diese Punkte näher be¬ 
leuchtet, und zwar nach eigener Erfahrung und nach Besprechung mit 
einem Collegen, der diese Verhältnisse gut kannte. Auf diesem Con¬ 
gresse protestirten Verschiedene gegen meine Ausführungen, unter An¬ 
derem Prof. v. Mayr, der den Bauern, speciell den bayerischen, energisch 
in Schutz nahm und sagte, dass, wenn meine Darstellung des Bauem- 
charakters richtig wäre, sich dies nur auf Sachsen beziehen könnte, wo 
vielfach die Industrie auf den Charakter nachtheilig wirke. Nun habe ich 
aber meine langjärigen Beobachtungen gerade in einer Gegend Sachsens 
gemacht, die von Industrie so gut wie frei ist. Dass aber selbst die 
Meinung v. Mayr’s bez. des bayerischen resp. des süddeutschen Bauers 
unrichtig ist, weisen namentlich die Bauerngeschichten von Maxi¬ 
milian Schmidt und die ähnlichen von Rosegger auf. Neuer¬ 
dings hat Ludwig Thoma (München 1902) einen Bauernroman ^ 
„Hochzeit“ herausgegeben. Prof. Stern' 2 ) sagt hierb ezüglich: „Dem o j . 
Verfasser ist es vor Allem darum zu thun, den schweren, zähen Eigen¬ 
nutz wohlangesessenen Bauernthums, die völlige Unterordnung jeden 
persönlichen Gefühls unter das nackte prosaische Herkommen, die 
Abwesenheit jeder besseren seelischen Regung in verschiedener Deut¬ 
lichkeit vor Augen zu bringen.“ Thoma geht also noch bedeutend 
weiter als ich es that und entschieden zu weit, sodass er sich Zola 
nähert. Alle echten Bauerngeschichten der Weltliteratur stimmen in 
der Hauptsache mit dem von mir Geschilderten überein. Man denke 
z. B. an den Simplicissimus! Ich will hier nur an die häufige Be¬ 
obachtung erinnern, dass der Bauer eher den Thier- als den Menschen¬ 
arzt holt und Letzteren am wenigsten beim Dienstpersonal. Freilich, 
wo die Industrie einwirkt, ändert sich der Charakter und ich glaube, 
im Gegensätze zu v. Mayr, zum Besseren. Die Jugend vom Lande 

1) Näcke, Ueber Kriminalpsychologio. Erweiterter Vortrag, gehalten aut 
dem 3. internationalen Congress für Psychologie zu München. Wiener klin. 
Rundschau. 1896. Nr. 46—48. Dort sehe man alles Nähere ein. 

2) Besprochen im Dresdener Journal vom 30. Septbr. 1902. 


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IV. NXcke 


erscheint heute psychologisch zum Theile anders geartet, als früher, 
wie ich mich wiederholt überzeugte. Sie nähert sich im Denken und 
Fühlen mehr der übrigen Welt, mit der sie ja vielmehr in Berührung 
kommt als die Altvordern, was nur ein Vortheil ist. Gewiss bringt 
die Cultur auch hier Schattenseiten, doch scheinen mir die Vorzüge 
grössere zu sein. Man halte mir nicht die patriarchalischen Ver¬ 
hältnisse von früher vor, wie sie namentlich auf den grossen Gütern in 
Ostpreussen, Mecklenburg u.s.w. bestanden, und die eher nach Tyrannei 
und Sklaverei rochen. So lange der Untergegebene unterwürfig sich 
zeigte, ging Alles gut. Sobald er aber wagte, eine eigene Meinung 
zu äussern oder gar ein Freiheitsgelüste, so waltete der Kantschu 
seines Amtes. Freilich ist und war dies bei den eigentlichen Bauern 
viel weniger der Fall, aber doch bis zu einem gewissen Grade. Auch 
das Institut des „Auszugs“ fällt sehr zu Ungunsten der Bauern-Psy- 
chologie aus. 

Wenn bei der Psychologie des Bauern oder anderer Berufsklassen 
oft so diametrale Meinungen geäussert werden, so liegt dies daran, dass 
jeder Beobachter andere, aber immer nur beschränkte, dazu oft genug 
rein subjectiv gefärbte Erfahrungen macht, also nur auf den Eindruck 
sein Dogma gründet. Das wird auch so lange bestehen, als es noch 
nicht gelungen ist, eine wissenschaftliche Untersuchungsmethode bei 
Psychologie von Berufsarten, Völkern u. s. w. zu finden, so lange also 
der Willkür Thür und Thor offen stehen. Trotzdem hat Jeder das Recht 
— und so auch ich — seine eigene Meinung vorzutragen, voraus¬ 
gesetzt, dass er sich der möglichen Fehlerquellen stets bewusst bleibt. 

Der Leser verzeihe mir diese kleine Abschweifung, die mir aber 
aus principiellen Gründen wichtig erschien. Zola hat also die unan¬ 
genehmen Hauptzüge des Bauern festgehalten, wenn auch übertrieben, 
und die guten meist vernachlässigt. Im Romane „au bonheur des dames“ 
wird uns dann klassisch der kleine Krämer geschildert, der mit seinen 
zurückgebliebenen Ansichten gegen den modernen Geschäftsbetrieb um¬ 
sonst ankämpft. Wunderbar in der lakonischen Sprechweise, in seiner 
Brutalität, Sorglosigkeit und Leichtsinnigkeit sehen wir weiter den Berg¬ 
mann auftreten. Und derselbe bleibt in der Hauptsache überall gleich. 
Ein specieller Kenner des Zwickauer Kohlenbezirks erzählte mir, dass 
Zola’s Typen von Bergleuten genaue Photogramme der Wirklich¬ 
keit wären. Aber auch der Handarbeiter, der ehrliche Handwerker, 
der Unternehmer u. s. w., sie werden uns mehr oder weniger gut vor¬ 
geführt Andererseits die hohe und niedere Frauenwelt, von der ehr¬ 
lichen Frau bis zur verachteten Dirne herab. Ein schöner Zug Z o 1 a ’s 
bleibt immer der, dass er uns selbst in des Verworfensten Seele noch 


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Emile Zola. 


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einige Lichtpunkte zeigt und uns so nicht alle Hoffnung aufgeben 
lässt. Wie versöhnt uns z. B. Die Tragik von Nana’s Tod mit 
ihrer traurigen Vergangenheit! 

Selbstverständlich musste bei so genauer Darstellung der Personen 
das Milieu ebenfalls nicht zu kurz kommen. Und fast bin ich geneigt, 
hier die Stärke Zola’s grösser zu sehen als in der Schilderung von 
Personen. Er kann in der Ausmalung der Details, die das Mosaik¬ 
bild zusammensetzen sollen, nicht genug thun, daher die häufigen 
Widerholungen und scheinbaren Längen. Er erreicht damit aber eine 
fast greifbare Wirklichkeit. Am Anfang von „Nana“ sehen wir das 
Theater geöffnet, und die Leute strömen hinein. Wir riechen förmlich 
den Gasgeruch, hören das Geräusch der sich füllenden Plätze, der 
knisternden Toiletten, das gedämpfte Reden u. s. w., kurz wir empfinden 
in uns das Entstehen und Wachsen der Feststimmung. Wie anders 
ist das Milieu in den traurigen Kneipen des „Todtschlägers“ oder unter 
den Bergleuten in „Germinal“. Wer ist nicht mit Leib und Seele bei 
den Salonschilderungen oder bei der päpstlichen Pilgeraudienz in „Rome“ 
oder auf dem Rennplätze von Longchamps? Wer schaudert nicht bei 
der Beschreibung der fürchterlichen Ueberschwemmung der Garonne 
oder der Einnahme der Mühle im Kriege? Zola zeigt sich überall 
als grossartiger Massenschilderer und Massenpsycbolog. Man erkennt 
die Macht der Suggestion — man denke z. B. an die Streikscenen im 
Germinal —, man sieht die Entfesselung der bete humaine, wenn der 
geeignete Augenblick kommt. Man trifft alle Momente wieder, die 
Sighele und andere Autoren hervorheben. Wie wird weiter die 
weibliche Menge bezaubert, wenn sie in die festlich geschmückten 
Räume des grossen Bazars zum Ausverkaufstage tritt und wir sehen, 
wie sie zum Theile der Verhöhnung unterliegen muss, i - - > ■ 

So könnte ich noch Vieles anführen, doch mag das Gegebene 
genügen. Hier erhebt sich aber eine wichtige Frage. Zola zählt be¬ 
kanntlich seine Personen und Geschichten zu den „Documents humains“. 
Hat er Recht? Ich glaube es entschieden. Selbstverständlich kommen 
diese immerhin nur ersonnenen Geschichten an wissenschaftlichem 
Werthe nicht gleich den von Gelehrten studierten wirklichen That- 
sachen, wie z. B. bei Feuerbach oder im Pitaval (resp. dessen 
Nachahmern). Wenn wir aber bedenken, dass wir doch solche wirk¬ 
liche documents humains relativ noch recht wenige besitzen, der 
kaleidoskopischen Wirklichkeit gegenüber, so dürfen wir jene, die ein 
Dichter mit freier Benutzung concreten Materials uns bringt, darum 
noch nicht verwerfen und zu leicht befinden, zumal wir dann eine 
neue und mögliche, von der Wissenschaft bisher noch nicht studierte 


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IV. NXcke 


menschliche Seite kennen lernen und unser Augenmerk auf sie richten 
können. Auch unsere psychologischen Kenntnisse werden erweitert, 
indem wir immer neue Combinationen als durchaus möglich vor uns 
sehen. Die Wissenschaft kann aus ihnen also sicher Vieles lernen 
und der Satz Nordau’s: „Welch’ eine Kinderei! Die Wissenschaft 
kann [mit Erdichtung nichts anfangen“ ist also ganz unberechtigt. 
Dessoir 1 ) hat sicher Recht, wenn er sagt, dass unsere Menschen- 
kenntniss zum grossen Theile aus Romanen stammt. Letzteres ist 
aber nur dann werth voll, wenn die Romane gut sind. Sie erweitern 
zweifelsohne den geistigen Horizont. Faute de mieux sind also Zola’s 
Romane wichtig und verdienen durchaus das Interesse des Psycho¬ 
logen und Soziologen. Der bekannte Soziolog und Kriminalpsycholog 
Ferriani hat daher auch mit gutem Recht immer wieder auf die hohe 
Bedeutung der Werke von Zola, Ibsen, Tolstoi, Bourget, 
Dostojewski u. s. w. hingewiesen, als auf eine nie versiegende 
Quelle menschlicher Weisheit. Wissen wir dies nicht auch z. B. vom 
„Wilhelm Meister“, trotzdem dies nur ein Dichterproduct ist? Wie 
unendlich viel kann man bez. der Psychologie der Liebe bei Marcel 
Prövost lernen! Wenn auch zahlreiche Krirainalerzählungen wie im 
Pitaval uns authentisches Material liefern, oder die „geheimen Ge¬ 
schichten“ Bünau’s, selbst Kriminalromane äla G ob in au, Temme, 
0. Klausemann u. s. w. solches mit verarbeiten, so wirkt das doch 
nicht so auf das Gemüth und die Phantasie des Lesers ein, wie die 
Geistesproducte eines wahren Dichters, die daher viel nachhaltiger sich 
geltend machen und gewisse Wahrheiten stärker einprägen. Das aber 
ist gerade ein sehr wesentlicher Punkt! 

Das Mileu wirklich wissenschaftlich zu bearbeiten, ist bei 
dem ungeheuren Durcheinander von Gewebsfäden aller Art bisher un¬ 
möglich gewesen. Man hat sich daher begnügt, nur eineine dieser Fäden 
zu verfolgen, z. B. die Statistik der Armuth, des Verbrechens, Selbst¬ 
mords, der unehelichen Geburten, der Löhne, der Lebensdauer u. s. w. 
So haben wir bis jetzt sogar wissenschaftlich nur einen sehr unge¬ 
nügenden Einblick in das sociale Gewebe. Dass ein Dichter, selbst 
ein Zola, wissenschaftlich davon noch wenigergeben kann, ist klar. 
Was er aber zu leisten vermag, ist: einen allgemeinen und gewaltigen 
Eindruck des Ganzen zu geben, den selbst die Darstellung aller ein¬ 
zelner Fäden nicht gewähren kann. Dieser Eindruck wird um so 
grösser sein, je me hrer den Erfahrungen der Meisten entspricht. Und 
diesen Eindruck gewinnt man bei Zola. Dass er nicht das wirk- 

1) Dessoir, Die sociale Stellung der Kunst. Die Woche. 1902. Nr. 43. 


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Kinile Zola. 


93 


liehe, ganze Leben in seine Romane eintragen kann, wie Nordau sagt, 
ist richtig; das wird billiger Weise von ihm aber Niemand verlangen 

Auch die Personen, die er schildert, sind, wie wir sahen, meist 
richtig auf gefasst. Es fragt sich nun: sollen diese wirklich einen 
Typus darstellen, d. h. einen in der betreffenden Berufsclasse oder 
Volksschicht gang und gäben oder wenigstens sehr häufigen ? oder sollen 
sie nur einzelne Charaktere und Personen wiedergeben? Es ist sicher 
Zola nie eingefallen zu behaupten, dass eine von ihm geschilderte 
Gestalt stets einen Typus in obigem Sinne bedeuten sollte. Das legen 
meist nur die Leser oder die Kritik hinein. Nur wo, wie in „la 
terre“ der Bauer, mehrere Personen in gleicher Art beschrieben 
werden, hat er offenbar einen Typus darstellen wollen. Der beste 
Beweis dafür ist, dass in einem und demselben Romane meist gute 
und böse Repräsentanten derselben Species zur Beschreibung gelangen. 
So z. B. in „Rome“: gute und böse Priester, in „Germinal“: gute und 
böse Bergleute u. s. w. Nur das Verhältniss einer bestimmten Person 
zur Anzahl der Berufsgenossen u. s. w. kann den terminus technicus: 
Typus, bestimmen. Diese statistische Arbeit hat der Dichter nicht 
unternommen. Wenn wir nun trotzdem in seinen meisten Gestalten 
Typen erkennen oder zu erkennen glauben, so liegt dies offenbar 
daran, dass wir die geschilderten Charaktere in ihrem Kern so häufig 
wiederfinden, zumal Zola absichtlich mehr das Allgemeine, als das 
Individuelle betont. Nie ist es ihm beigekoramen, alle Financiers als 
Schurken, alle Priester als Heuchler, Lügner u. s f. darzustellen. Er 
wollte nur zeigen, dass solche Leute wirklich Vorkommen, und zwar 
gar nicht so selten. Damit bat er einen Typus geschaffen, dessen 
Abschätzung in der Häufigkeit zu den übrigen Typen desselben Be¬ 
rufs, derselben Volksschicht, er dem Leser ruhig überlässt. 

Direct falsch ist die Behauptung Nordau’s: „Die Sittengeschichte 
legt die unterhaltlichen Romane Zola’s geringschätzig bei Seite und 
greift zu den langweiligen statistischen Tafeln, wenn sie Thatsachen 
braucht.“ Nein, sie muss sich ihrer — natürlich cum gran salis — 
ebenso bedienen, wie der Werke eines Balzac oder der „promessi 
sposi“, des Decamerone, des Simplicissimus, wie der Dramen der alten 
Tragöden, Shakespeares u. A., wie der Schilderungen eines Juvenal, 
Martial u. s. f. Der schwerste Vorwurf aber, den Nordau Zola 
macht, ist, dass er „nie beobachtet“, nie in’s volle Menschenleben 
hineingegriffen habe, sondern stets in der engeren Welt eingesperrt 
geblieben ist und alle seine Stoffe aus dem eigenen Geratith, alle seine 
realistischen Einzelheiten aus Zeitungen und kritiklos gelesenen Büchern 
geholt hat.“ Das ist direct eine Lüge! Es wäre sicher dem Dichter 


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IV. Näcke 


unmöglich gewesen, das Getriebe der Bergwerke, der Börse, der 
grösseren Bazare, der Markthallen, der Theatercoulissen, der Salons, 
der Rennplätze u. s. w. bloss auf Grund schriftlicher Notizen so lebens¬ 
wahr zu schildern. Er hat sich mit den Gegenständen persönlich 
ganz eingehend beschäftigt*, wenn er in den späteren Jahren sich mehr 
zurtickzog, so hat er es Anfangs doch nicht gethan. Auch ist es falsch, 
dass er die Bücher und Zeitungsberichte „kritiklos“ verwendet habe. 
Hier und da wohl, als Laie, aber durchaus nicht allgemein. Rögis') 
sagt z. B., dass er bez. der Schilderung des Säuferwahnsinns im „Todt- 
schläger“ ziemlich naturgetreu verfahren sei, sich jedenfalls aber der 
besten Quellen bedient habe. Nord au macht ihm aber sogar den 
Vorwurf des Plagiats. Er habe z. B. eine Entbindungsscene „wörtlich 
aus einem Lehrbuche der Geburtshilfe abgeschrieben“ u. s. f. Nun, 
dies kann ich einfach nicht glauben. Hat man doch dasselbe auch 
bez. der historischen Einleitung in „Rome“ gesagt, ihn einen „Bädeker“ 
genannt Dass er vielfach Bücher u. s. w. benutzt hat und meist ge¬ 
wissenhaft und mit Kritik, ist sicher. Abgeschrieben hat er aber wohl 
kaum! Die lange Einführung in „Rome“ z. B., wo die ganze römische 
Geschichte in markigen Zügen vorüberrollt, trägt durchaus Z o 1 a ’s 
Gepräge. Ich möchte sie trotz ihrer Länge nicht missen und ich 
kenne keinen Abriss der römischen Geschichte in wenigen Seiten, der 
so packend wirkte. Toulouse 2 ), der genau Zola und seine Arbeits¬ 
weise kennt, sagt wörtlich: „11 est ordinairement obligö de faire une 
enquete sur place... Jusque-lä M. Zola a agi en savant consciencieux 
et honnete: il cherchait... Comme on le voit, M. Zola emploie, pour 
faire ses romans, des procedös rationeis scientifiques. II s’instruit 
d’abord, enquete, observe, puis laisse fermenter les idöes... M. Zola ne 
fait pas de brouillon. Ce qu’il öcrit est pour l’imprimeur . . M. Zola 
ne change pas ce qui a ötö öcrit... Cela montre une grande Iucidite 
dans les idöes dös le döbut...“ Das klingt freilich anders als der 
oberflächliche Nordau sagt, der Zola sogar Verworrenheit der Ideen 
andichtet! Er verurtheilt sich selbst! 

Ich glaube der kriminalanthropologischen und soziologischen Be¬ 
deutung Zola’s wenigstens einigermaassen gerecht geworden zu sein, 
einer Bedeutung nicht nur für den Fachgelehrten, der ja zudem kritisch 

1» Kcgis, La folic dans l’art dramatique. Archives d’anthropologie crimi¬ 
nelle etc. 1902 p. 581. 

2) Toulouse, Emile Zola. Paris, societö d’editions scientifiques. Paris 1896. 
An andrer Stelle (Revue de psychiatrie etc. 1902, p. 517) schildert Toulouse, 
wie Zola, als er Ja Tcrre“ schrieb, intensiv sich mit den Bauern beschäftigte, 
so sehr, dass dann das Militär, die Finanziers u. s. w. seine Aufmerksamkeit nicht 
mehr erregten. 


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Emile Zola. 


95 


sichten wird, sondern namentlich für den Laien, der so wichtige 
Theorien eingeprägt erhält. Bevor ich jedoch diese Studie beende, 
möchte ich nochmals auf den Autor zurückkoramen und auf diese 
Weise den Ring der Betrachtung schliessen. 

Jeder, der sich intensiv mit einem Geisteshelden abgegeben hat, 
fühlt ein inneres Bedürfniss, dem Menschen selbst näher zu treten. 
Er wird dann zu Biographien desselben greifen, die zum Theil nur 
Wahrheit und Dichtung sind und nie den wahren Menschen erfassen 
können, selbst wenn sie möglichst archivalisch und philologisch Vorgehen. 
Wir möchten aber gerade gern etwas vom Menschen selbst wissen, 
von seinem innersten Denken, Fühlen und Wollen. Ein genaues 
Studium seiner Schriften, Briefe u. s. w. w ird uns hierbezüglich freilich 
viel enthüllen, aber wiederum viele Rätbsel aufgeben. Wir werden 
z. B. fragen: Warum wählte der Dichter gerade diesen und nicht jenen 
Stoff? Warum behandelte er ihn so und nur so? Wir werden daher 
immer wieder auf das innerste Palladium verwieseu, auf seine ange¬ 
borene Naturanlage, und weiterhin erst fragen, wie das Milieu auf 
diese wohl eingewirkt habe. Das Milieu eines Dichters im Allgemeinen 
und im Speciellen erfahren, kann wohl ein fleissiger Biograph. Da¬ 
gegen vermag er dessen wahren Einfluss auf seinen Helden nie richtig 
zu ermessen, weil er eben seine angeborene Naturanlage, sein wahres 
„Ich“ nicht kennt. Dies kann streng wissenschaftlich nur 
auf Grund von physiologischen und psychologisch-ex¬ 
perimentellen Untersuchungen sich zeigen, was leider bei 
allen Grossen im Reiche der Geister nicht geschah. So werden wir 
denn nie absolut Exactes über die innere Geistesstructur eines Goethe, 
eines Schiller erfahren. Ja, nicht einmal die äussere Gestalt ist 
überall sicher gestellt! Man denke nur an die so verschiedenen, von 
einander oft abweichenden Bilder eines Goethe, noch mehr eines 
Beethoven! 

ßmile Zola ist nun bis jetzt der einzige Grosse, der 
auch naturwissenschaftlich, d. h. anthropo-, physio- und 
psychologisch nach besten Methoden untersucht worden 
ist. Wir verdanken diese Grossthat dem energischen Betreiben von 
Dr. Toulouse in Paris, der Zola dazu veranlasste, während eines 
ganzen Jahres sich, zeitweis wenigstens, von 16 verschiedenen Specia- 
listen untersuchen zu lassen. So kennen wir genau (zur Zeit der 
Untersuchung) die Beschaffenheit seiner Sinnesorgane, seine Blut- und 
Athemverhältnisse, den Stoffwechsel, das Muskel- und Nervensystem, 
seine Sprache, Gedächtniss, Phantasie, Wille, Emotivität, Arbeitsweise 
u. s. w. Wir haben authentische Körper- und Schädelmaasse von ihm, 


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IV. NXkki: 


Photographien der Büste und der Hände, Fingerabdrücke u. s. f. 
Freilich ist gleich hier festzustellen, dass alle Untersuchungen nicht 
so häufig und andauernd vorgenommen werden konnten, wie an einem 
Laboratoriums-Object, da Zola ja zu wenig Zeit zu opfern hatte. 
Immerhin gewinnen wir doch einen solchen tiefen Blick in seine 
Leibes- und Gehirnbeschaffenheit, wie bei keinem anderen genialen 
Sterblichen zuvor. Toulouse hat dann die Gesammtbeobachtungen 
veröffentlicht — in dem citirten Buche über Zola — indem er nichts 
unterschlug, und selbst gewisse Seiten berührte, die Empfindlichen sicher 
unangenehm gewesen wären. Der Dichter erlaubte ihm die Veröffent¬ 
lichung, und zwar ganz charakteristisch für ihn, in dem einführenden 
Briefe, mit dem Zusatze: „parceque je n’ai eu qu’un amour dans la vie, 
la vöritö.“ Aus diesem Buche seien folgende Daten kurz mitgetheilt. 

Zola war griechisch-italienischer Abkunft.') Der Vater war eine 
Art von Abenteurer, doch hat dies damals, um 1815 herum, bei 
Venetianern nicht viel zu besagen. Beide Eltern waren kräftig, also 
auch der Sohn. Die Mutter war nervös, was sich auch bei Zola 
durch eine Contractur des linken Augenschliessmuskels, durch ge¬ 
wisse leichte Sprachstörungen, später durch allerhand Neuralgieen, 
Zitterbewegungen, Harndrang u. s. w. kundgab. Im 56. Lebensjahre 
war er 170,5 cm gross, mit grösserem Schädel als normal, also wahr¬ 
scheinlich auch mit grösserem Gehirne. Eigentliche Entartungszeichen 
fehlten. Der Puls war zur Zeit der Untersuchung langsam, die Zähne 
waren schlecht, die Hautsensibilität, besonders die Schmerzempfind¬ 
lichkeit sehr gross. Der Schlaf war oft schlecht. Es bestand 
Kurzsichtigkeit, leichter Astygmatismus, etwas verengtes Gesichts¬ 
feld, rechts verminderte Hörschärfe. Die tactischen Empfindungen 
erwiesen sich als sehr zart. Die Hörfunction war für Musik 
schlecht 2 ), das Geruchsvermögen dagegen stark. 3 ) Der Realismus 
Zola ? s beruhte vielleicht zum Theil eben auf der Richtigkeit 
und Schärfe der Wahrnehmungen. Er gehörte ferner zu den sogen, 
„auditifs verbaux“, d. h. beim Denken gebrauchte er mit Vorliebe 
Hörbilder der Worte 4 ), doch verstand er nur gut, wenn er las, 

1) Auch ein jüdischer Einschlag soll nach Einigen bei ihm vorhanden sein. 
Davon merkt man aber wohl kaum etwas in seinem Leben und Schaffen. In 
den Werken Lombroso’s und Nordau’s hingegen, die jüdischer Abstammung 
sind, lässt sich dies nicht verleugnen, wenn man Ferrero folgt, der eine er¬ 
schöpfende Psychologie der jüdischen Schriftsteller giebt, wobei er jedoch auch 
Ausnahmen statuirt haben will. 

2 ) Daher spielt in seinen Schriften die Musik nur eine geringe Rolle. 

3) Wer denkt hierbei nicht an seine berühmte „Käsesymphonie u ? 

4) Diese „auditifs verbaux“ in reiner Form sind sehr selten. Die Meisten 
gehören ganz oder theil weis zu den sog. „moteurs“, d. h. Solchen, die beim 
Denken innerlich leise mitsprechen. Auch Zola tliat dies z.Th., da er eben 


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Emile Zola. 


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nicht, wenn er hörte. Er sprach schlecht und dachte am besten beim 
Schreiben 1 ). Sein Gedächtniss war schlecht bestellt, besonders z. Z. 
der Untersuchung. Er behielt nur das, was für ihn günstig war. 
Besser war seine Aufmerksamkeit beschaffen. Die Erinnerung knüpfte 
besonders an Farbe, Form und Namen des Gegenstandes an. Am 
stärksten wird der Geruch behalten; so besass für ihn jede Frau, 
jede Jahreszeit, manche Stadt u. s. f. einen besonderen Geruch. Sein 
Wortgedächtniss war nicht gut, auch nicht für Orthographie, Syntax 
oder Literatur, sogar nicht für seine eigenen Werke. Die Associationen 
gingen leicht von statten, meist durch visuelle Bilder, besonders bei 
concreten Sachen. Mit Abstraction gab er sich wenig ab. Bezüglich 
der Moral huldigte er nur den natürlichen Gesetzen; er war Atheist, 
peinlich in der Ordnung und Methodik des Arbeitens, gross seine Neigung 
zu Kampf, Kraft und Gruppirung. Eigenthümlich waren bei ihm ge¬ 
wisse krankhafte Ideen und Impulse, so Anklänge an Zweifelsucht, der 
Drang, bestimmte Gegenstände immer wieder zu zählen u. s. w. Seine 
Phantasie war nicht sehr gross. „Son imagination cr6atrice est ... une 
sorte de döduction, oü les personnages et les episodes sont les cons€- 
quences dötats gönöraux“, sagt Toulouse. Seine Sympathieen be¬ 
zeugten den Realisten. Er war endlich weder epileptisch, noch hyste¬ 
risch oder geisteskrank, wohl aber neur opathisch. Toulouse hält 
ihn aber mit Recht deshalb noch nicht für einen Entarteten. Er ist 
ein Neuropath, erblich dazu beanlagt und durch Ueberanstrengung 
noch mehr so geworden. Schwerlich war dies aber die Ursache seines 
Genies, trotz Lombroso’s. Seine geistigen Eigenschaften waren im 
Ganzen harmonisch abgestimmt u. s. w. Das allein spricht schon 
gegen eine eigentliche Degeneration, zumal die krankhaften Ideen 
mehr den schlechten Angewohnheiten beizuzählen sind. 

Das ist die Quintessenz des Toulouse'sehen Buches. Nordau 
erklärt natürlich Zola ohne Weiteres — Beweise kennt er ja nicht! — 
für einen Entarteten, und zwar ganz in der oberflächlichen Weise 
Lombroso's, dem er nicht nur „erröthend“, sondern sehr stramm 
durch dick und dünn folgt. Er sagt: „Die Verworrenheit seines 

besser verstand, wenn er las, als wenn er hörte, wobei allerdings nicht ausgeschlossen 
ist, dass zugleich Gesichtsbilder mitwirkten. Letzteres wohl aber kaum allein. 

1) Dies ist besonders interressant, da es ausserordentlich selten ist. Auch 
ich gehöre zu den „Schreibdenkern“, wie ich diesen Arbeitstypus bezeichnen 
möchte. Durch abstraktes Denken kann ich höchstens nur das Skelett einer 
Arbeit oder einer Gedankenreihe festlegen. Sobald ich aber die Feder zur Hand 
nehme, fliegen mir von selbst die Gedanken zu und am Ende der Seite bin ich 
dann oft genug überrascht, was für Ideen ich producirtc, die vorher absolut im 
Unbewusstsein lagen. 

Archiv fflr KrtminaUnthropologie. XI. 7 


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IV. Näckk, Kmile Zola. 


Denkens, seine triebhafte Hinneigung zur Darstellung von Wahn¬ 
sinnigen, Verbrechern, Prostituirten und Halbnarren, sein Anthropo¬ 
morphismus und Symbolismus, sein Pessimismus, seine Coprolalie und 
seine Vorliebe für das Rothwälsch kennzeichnen Zola hinreichend 
als höheren Entarteten. Er weist aber ausserdem noch einige be¬ 
sonders charakteristische Stigmata auf, welche die Diagnose vollends 
sicher stellen. Dass er ein Sexual-Psychopath ist, verräth sich auf 
jeder Seite seiner Romane... Besondere Erregung verschafft ihm der 
Anblick der Frauenwäsche ... die betreffenden Vorstellungen bei 
ihm wollüstig betont sind... Mit seiner Sexual-Psychopathie hängt 
auch die Rolle zusammen, welche die Geruchsempfindungen bei ihm 
spielen.“ Fast jeder Satztheil ist hier falsch und erdichtet Toulouse’s 
wissenschaftliches Urtheil über Zola steht uns unendlich viel 
höher, als das Gefasel eines Nordau! Zola war also wohl ein 
Neuropath, aber kein Entarteter, wenn man diesen Begriff nicht zu 
weit fassen will. Nordau’s Beweise für Zola’s abnorme Sexuali¬ 
tät sind aber geradezu kindisch. Toulouse sagt hier bezüglich: 
„L’appetit sexuel n ? a pas ete chez M. Zola tr6s expansif.. L’instinct 
de la reproduction est... un peu anormal dans son activite, mais 
nullement dans son objet... II a toujours ete trös-olfactif dans ses 
sympathies sexuelles.“ Nirgends also weiss er von eigentlichen tiefen 
Perversitäten des Geschlechtstriebs zu berichten. 

Die Section hat bestätigt, dass Zola einen gesunden und kräftigen 
Körper besass. Leider ist, allem Anschein nach, das Gehirn nicht 
untersucht worden. Und hier wäre geradezu die Untersuchung der 
Riechcentren sehr wichtig gewesen. Principiell sollte aber bei allen 

g rossen Männern das Genim zur wissenschaftlichen Forschung aufge- 
oben werden, um endlich dem, was man Genie, Talent nennt, näher 
zu kommen, was sicherlich zum grösseren Theile anatomisch begründet 
ist In allen Ländern sollten daher nach dem Beispiele von Paris 
Gesellschaften bedeutender Männer gegründet werden, die sich ver¬ 
pflichten, nach ihrem Tode ihr Gehirn der wissenschaftlichen Unter¬ 
suchung zu vermachen. Dann würde auch der schöne Spruch Geltung 
haben, der einst über dem alten Pariser anatomischen Amphitheater stand: 
Hic locus est, ubi mors gaudet succurrere vitae. 

Wenngleich es sich nicht um einen handgreiflichen Nutzen für 
die leidende Menschheit handeln würde, wohl aber um einen grossen, 
der Wissenschaft geleisteten Dienst. So hatten vor Kurzem 2 ameri¬ 
kanische berühmte Psychiater und Neurologen: S^guin, Vater und 
Sohn, ihr Gehirn der Wissenschaft zur Verfügung gestellt und wir 
lernten daraus mit Staunen '), dass die Aehnliehkeit von Vater und 
Sohn sogar auf viele Details der Gehirnwindungen sich erstreckte, 
also greifbare Befunde, die sicher irgendwie mit gleichen Eigenschaften 
in Verbindung standen. 

I) E. A. Spitzka, A preliminary coinmunication of a study of the brains 
of two distinguished physicians, father and son. Philadelphia Medical Journal. 
April 6. 1901. 

Hubertusburg, November 1002. 


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V. 

Die Geld man nel im sächsischen Vogtlande. 

Von 

Referendar Mothes in Dresden. 

Auri sacra fames zeitigt im sächsischen Vogtlande eine eigen¬ 
artige Form des Betruges. Die Vogtländer glauben, dass es Leute 
giebt, die es in der Falschmünzerei zu hoher Vollkommenheit ge¬ 
bracht haben, und bei denen man für wenig Geld gut gefälschte 
Münzen, Kassenscheine und Banknoten über hohe Beträge kaufen 
könne; solche Leute heissen sie Geldmännel. Da nun ein ehrlicher 
Mann nicht so leicht mit einem Geldmännel in Berührung kommt 
und es vielleicht weniger giebt, als die Vogtländer annehmen, so 
pflegen sich derzeit ehrliche Leute an einen Vermittler zu wenden, 
der glaubhaft versichert, dass er ein Geldmännel kenne. Dieser Ver¬ 
mittler, der bisweilen auch Geldmännel genannt wird, lässt sich den 
Betrag, um den er gefälschtes Geld einkaufen soll, auszahlen und 
verschwindet damit. Er baut darauf, dass der Geschädigte ihn nicht 
anzeigen wird, um seine eigene böse Absicht nicht an den Tag kommen 
zu lassen. In einem Falle wurde das Geldmännel in eigenartiger 
Weise, ähnlich wie der grosse Unbekannte und zwar neben diesem 
benutzt: Ein verlaufener Musiker fuhr im September 1901 mit einem 
Viehhändler aus dem Vogtlande nach Leipzig zur Michaelismesse. Sie 
kehrten gemeinsam, um zu speisen, in einem Gasthause ein. Als der 
Viehhändler die Zeche bezahlen wollte, merkte er, dass ihm das Klein¬ 
geld ausgegangen sei. Er wollte sich Papiergeld wechseln lassen, 
um auch für seine etwaigen Einkäufe besser gerüstet zu sein. Er 
hegte Bedenken, dass die Kellnerin ihm einen Tausendmarkschein 
wechseln könne. Da erklärte der Musiker, er sei in dem Laden jen¬ 
seits der Strasse bekannt und wolle ihm dort den Schein umwechseln; 
der Viehändler solle auf ihn in dem Gasthause warten. Nach einigem 
Zögern gab der Viehhändler dem Musiker den Schein. Dieser ver¬ 
schwand damit und wurde auf die Anzeige des Viehhändlers erst nach 


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V. Mothes, Die Geldmännel im sächsischen Vogtlande. 


einigen Wochen in Dresden festgenommen, wo er auffälligen Auf¬ 
wand mit dem veruntreuten Geld gemacht hatte. Bei seiner Ver¬ 
nehmung vor Gericht erklärte er, der Viehhändler habe ihn veran¬ 
lasst mit nach Leipzig zu fahren, um dort ein sog. Geldmännel auf¬ 
zusuchen. In dem Gasthause in Leipzig habe er ihm den Tausend¬ 
markschein gegeben, nicht damit er ihn einwechsele, sondern damit 
er dafür bei einem Geldmännel gefälschtes Geld kaufe. Nur zum 
Schein habe er die Banknote genommen, um sie dann zurückzubringen. 
In einer benachbarten Gastwirthschaft habe ihm aber ein Unbekannter 
gesagt, den Viehhändler müsse man eine Weile ängstigen. Diesem 
Unbekannten habe er die Banknote gegeben u. s. w. Der als Zeuge 
vernommene Viehhändler stellte unter Eid die Geschichte mit dem 
Geldmännel in Abrede; der Musiker wurde verurtheilt. 


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VI. 


Ueber jugendliche Mörder und Todtschläger. 

Kriminalanthropologische Beobachtungen.') 

Von 

Geh. Med.-Rath Dr. A. Baer, 

Oberarzt am Strafgefängniss Plötzensee bei Berlin. 

Unter den jugendlichen Gefangenen im Alterzwischen 12—18 Jahren 
erregen diejenigen, welche wegen schwerer Verbrechen zu einer langen 
Strafzeit verurtheilt sind, und unter diesen wiederum besonders die 
wegen Mordes und wegen eines verwandten Delicts, wie wegen Theil- 
nahme am Mord, wegen Mordversuches, Todtschlages bestraften, ein 
hervorragendes Interesse. Sowohl wegen ihres relativ seltenen Vor¬ 
kommens als vorzugsweise wegen ihrer moralischen Monstrosität ver¬ 
dienen sie eine ernste Beachtung. 

In dem Special-Gefängniss für männliche jugendliche Gefangene 
in der Anstalt Plötzensee war uns die Gelegenheit gegeben, eine nicht 
zu kleine Anzahl von jugendlichen Verbrechern dieser Art zum Theil 
durch viele Jahre hindurch einer genauen Beobachtung zu unterziehen. 
Die nachstehenden Erörterungen beruhen auf Wahrnehmungen, die 
an 22 Personen jugendlichen Alters gemacht worden sind, welche 
nicht allein aus Berlin, sondern auch aus anderen Orten und Provinzen 
der Anstalt zugegangen sind. Diese Zahl ist keine geringe, wenn 
man bedenkt, dass im ganzen Deutschen Reiche während der vier¬ 
jährigen Periode von 1897—1900 jährlich durchschnittlich 464 837 er¬ 
wachsene Personen wegen Verbrechen und Vergehen verurtheilt sind 
und unter diesen 262 wegen Mordes und Todtschlages, dass in der 
gleichen Zeit 47371 Jugendliche im jährlichen Durchschnitt verurtheilt 
sind und unter diesen 21 wegen Mordes und Todtschlages, sodass bei 

1) Ein kleiner Theil dieser Arbeit ist bei Gelegenheit einer Diseussion auf 
dem Kriminalanthropologischen Congress zu Amsterdam 1901 zum Vortrage ge¬ 
bracht worden. 

2) Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich. 19.—21. Jahrg. 1899 — 1901. 

Archiv für Krimioalanthropologie. XI S 


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VI. Baer 


der allgemeinen Kriminalität die Jugendlichen mit 10.19 Proc., beim 
Mord und Todtschlag hingegen mit 8.01 Proc. betheiligt sind. Die 
obige Zahl ist hinlänglich gross, um der Beantwortung einer Reihe von 
Fragen näher treten zu können, welche sich nur an der Hand der Be¬ 
obachtung solchen Verbrechermaterials entscheiden lassen. Die Beant¬ 
wortung derselben dürfte auch um desshalb werthvoll sein, weil unsere 
jugendlichen Beobachtungsobjecte aus verschieden gearteten örtlichen, 
gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen, somit aus einem 
verschieden gearteten localen und socialen Milieu stammen, und ganz 
vorzugsweise auch um desshalb, weil, wie schon angedeutet, diese 
jugendlichen Gefangenen durch eine lange Reihe von Jahren unter 
unserer fortgesetzten Beobachtung verblieben sind. 

Da die Frage nach dem „Geborenen Verbrecher“ und dem 
„Verbrecher-Typus“ noch immer die Grundlage bildet, auf welcher 
die positive Schule die Lehre der Kriminalanthropologie aufbaut, so 
glauben wir, dass es von wesentlichem Interesse sein dürfte, zu ver¬ 
suchen, auch aus diesen Beobachtungen festzustellen, ob diese jugend¬ 
lichen Verbrecher mit Merkmalen somatischer Art behaftet, welche 
für die verbrecherische Individualität specifisch sind der Art, dass 
man aus ihrem Vorhandensein mit irgend einer Wahrscheinlichkeit auf 
eine verbrecherische Tendenz ihres Trägers zu schliessen berechtigt ist; 
— und ob diese jugendlichen Verbrecher sich schon frühzeitig durch be¬ 
sondere, eigenartige psychische und ethische Eigenschaften auszeichnen. 

Fragen dieser Art lassen sich nicht durch allgemeine Eindrücke 
beantworten. Nur die genaue Beobachtung einer grösseren Zahl dies¬ 
bezüglicher Einzelfälle, die genaue Darlegung ihrer Genese und die 
strenge Analyse ihres Verlaufes berechtigen, die realen Thatsachen 
zu concreten Schlussfolgerungen zu verwerthen. In diesem Sinne halten 
wir die Mittheilung derselben für den Kriminalisten, für den ärztlichen 
Sachverständigen und für den Strafvollzugsbeamten nicht unwerth. 

Um die einzelnen Fälle in ihrer Bedeutung für die vorgenannten 
Beobachtungszwecke kennen zu lernen, werden wir die Geschichte 
des Einzelfalles, so weit sie die individuelle Entwicklung anbetrifft, 
insbesondere den Hergang der Strafthat, das Verhalten des Verbrechers 
bei und nach derselben, und die weiteren Wahrnehmungen bei dem 
Einzelindividuum während der Gefangenschaft darstellen. Wir verfahren 
bei ihrer Ausführung lediglich chronologisch, ganz nach der Zeit ihrer 
Einlieferung in die Anstalt, und wünschen besonders hervorzuheben, dass 
die einzelnen Gefangenen zu unserm lebhaften Bedauern nicht einem 
gleichartigen und einheitlichen System der Beobachtung unterzogen 
worden sind, weil diese sich über eine zu lange Zeit erstreckte, und im 


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Ueber jugendliche Mörder und Todtschläger. 


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Laufe derselben immer neue Fragen auftraten, die bei den früheren Be¬ 
obachtungsobjecten nicht Gegenstand der Expertise werden konnten. Wir 
bedauern ausserordentlich, dass es nicht möglich war, mit genügender 
Sorgfalt die Familienabstammung und die Entwicklung unserer jugend¬ 
lichen Personen in ihrer Kindheit zu ermitteln und genügend zu analysiren. 
Von dem früheren und älteren Theile unserer Beobachtungsindividuen 
fehlen uns auch die exacten Befunde der anthropologischen Maassbe¬ 
stimmungen und ebenso die Merkmale der Kopf- und Gesichtsbildung, 
sowie die des physiognomischen Ausdruckes. Bei Einzelnen haben 
wir versucht, die Entwicklungsveränderung während der langen Haft¬ 
zeit durch photographische Bilder aus der früheren und späteren Lebens¬ 
zeit des Delinquenten darzustellen. 


1. Der erste dieser Fälle betrifft den Eigenthümersohn Karl L. 
aus Schöneberger Theerofen (Brandenburg), einer kleinen Ortschaft 
auf dem Lande. Er war am 24. März 1860 geboren und wurde 
am 17. October 1876, 16 Jahre alt, wegen Mordes zu 10 Jahren Ge- 
fängniss verurtheilt 

L. selbst war der That geständig. Er giebt nach den gerichtlichen 
Acten den Vorgang folgendermaassen an: Meine Eltern lebten mit meiner 
Tante N. seit langer Zeit im Streit Diese und meine Mutter sind am 
13. Juli 1876 auf der Strasse vor unserem Hause in Zank gerathen, wobei 
die Tante gegen meine Mutter thätlich geworden war. „Ich hörte“, sagte 
er, „die letztere um Hülfe rufen, sprang rasch hinzu und sah, dass 
meine Mutter geschlagen wurde; dies versetzte mich derartig in Wuth, 
dass ich unser mit Rehposten geladenes Gewehr holte und damit nach 
meiner Tante schoss. Leider traf ich so unglücklich, dass sie sogleich 
niederstürzte und bald verstarb.“ — Diese Angaben sind gerichtlicher- 
seits nicht als wahrheitsgetreu befunden. Es hat sich vielmehr er¬ 
geben, dass L. die Frau N., seine Tante, schon lange mit Hass und 
Groll verfolgte. Oftmals that er Aeusserungen in dem Sinne: „Ich 
will ihr was auswischen“. Die N. ging am 13. Juli 1876 Mittags zu 
ihrer Tochter mit einem Eimer Milch. Das bemerkte L. und fasste 
den Entschluss, sie auf dem Rückwege zu erschiessen. Mit geladenem 
Gewehr lauerte er ihr an der Hausthür stehend auf und schoss 
sie nieder, als sie bei ihm vorübergehen wollte. Das Gericht war 
überzeugt, dass es sich um die wohlüberlegte Ausführung eines 
Racheactes gehandelt Die That war vorher überlegt und beab¬ 
sichtigt Der p. L. hat, so heisst es in dem Strafurtheil, einen ver¬ 
worfenen Charakter; er hat bis zum letzten Augenblick gelogen 
und die Tödtung mit Ueberlegung ausgeführt Er hat seine eigene 

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VI. Baer 


Tante aus Rache erschossen und zeigt dann nicht eine Spur von 
Reue über diese ruchlose That 

Das Appellationsgericht fand das gegen den L. erkannte höchste 
Strafmaass von 15 Jahren Gefängniss mit Rücksicht darauf, dass der¬ 
selbe zur Zeit der That kaum das 16. Lebensjahr zurückgelegt hatte, 
dass er augenscheinlich bei seiner Handlung wesentlich unter dem 
Einfluss seiner Mutter gestanden, wenn auch eine directe An¬ 
stiftung seitens derselben nicht erwiesen ist, und dass zwischen seiner 
und der N.’schen Familie ein sehr feindseliges Verhältniss obgewaltet 
hat, als zu hoch gegriffen und eine Gefängnissstrafe von 10 Jahren 
für angemessen. 

L. war bei seiner Einlieferung am 21. November 1876 in die An¬ 
stalt von körperlich kräftiger Gesundheit, für sein Alter robust ent¬ 
wickelt Er war ehelich geboren, und sind in seiner Familie Geistes¬ 
krankheiten nicht vorgekommen. Er hatte eine geringe Schulbildung 
genossen, war wenig intelligent, das Gedächtniss überaus gut In 
seinem Gemüthszustande waren viele auffallende Absonderlichkeiten 
zu bemerken. Er war verschlossen und mürrisch. Er sprach sehr 
wenig, ungemein langsam und eintönig, häufig etwas näselnd, da¬ 
bei war Kopf und Blick nach unten gerichtet. Die mürrische Stimmung 
wurde noch anhaltender, als ihn die Nachricht vom Tode seines Vaters 
1878 getroffen. Später war er zeitweise etwas gehobener und heiterer 
Stimmung; sein Lachen war immer ungewöhnlich, kurz und unheim¬ 
lich. Besonders hervorstechend war bei seiner nicht geringen Zu¬ 
gänglichkeit und Empfänglichkeit für religiösen Zuspruch sein rohes 
Fühlen und sein ungezügelter Jähzorn. In einem Anfall von Aerger 
und Unzufriedenheit hat er in grausamer Art seinem Kanarienvogel, 
den er in der Zelle als Vergünstigung sich halten durfte, den Kopf 
umgedreht Auch hierüber hat er bei entsprechenden Vorhaltungen 
kein Wort der Reue oder des Bedauerns geäussert. 

Dem bizarren, stumpfen und rohen inneren Wesen entsprach sein 
äusseres. Er hatte einen flachen, sehr breiten Schädel, eine schmale, 
etwas zurückfliehende, relativ hohe Stirn. Augenbrauengegend gewölbt, 
Augenbrauen spärlich, obere Augenlider herabgesenkt; Hinterhaupt 
flach; Ohren gross, abstehend; Jochbeine hervorragend und breit, von 
einander weit entfernt; Kinn schmal, spitz; Haare hochblond, dünn. 

L. hat sich häufig während der Strafverbüssung Zuwiderhand¬ 
lungen gegen die Hausordnung zu Schulden kommen lassen und 
Disciplinarstrafen zugezogen. Er war nachlässig, eigensinnig, bisweilen 
frech, jähzornig r und selbst bösartig. Er war schon früh in Gemein¬ 
schaftshaft verlegt. Sein Geistes- und Gemüthsleben verschlimmerte 


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Ucber jugendliche Mörder und Todtschläger. 


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sich, als er Ausgang 1882 auf wiederholte Versuche, definitiv oder 
bedingt begnadigt und aus der Strafhaft entlassen zu werden, ab* 
schlägig beschieden wurde, als er sein stetes Hoffen und Trachten 
die Freiheit zu erlangen, gescheitert sah. Er wurde tief verstimmt, 
misstrauisch, apathisch, verweigerte die Nahrung, und zeigte 1883 
Anfälle von Unruhe, von Präcordialangst; er sah später brennende 
Scheiterhaufen mit grässlichen Gestalten. Er wurde nach einer ca. 
7 jährigen Gefangenschaft in einem dement-paranoischen Zustande am 
19. Juni 1883 in die Irrenanstalt verbracht und befindet sich, wie 
von dort berichtet ward, auch jetzt, Februar 1903, noch in einem 
Zustande tiefer Stumpfheit und Verblödung. 


2. Am 23. October 1877 wurde der Knecht Gottlieb H. in die 
Anstalt eingeliefert Er wurde am 17. März 1877 vom Landgericht 
zu Liebenwerda wegen Mordes zu 15 Jahren Gefängniss verurtheilt 

H. war bereits wegen Sachbeschädigung und wegen schweren 
Diebstahls mit je 3 Tagen Gefängniss vorbestraft Er fasste am 9. Fe¬ 
bruar 1877 den Vorsatz, seinen Mitknecht W. zu ermorden und sich 
dessen neue Kleidungsstücke und Uhr anzueignen. Er trug am 10. Fe¬ 
bruar 1877 die Holzaxt in den Pferdestall, in welchem W.’s Bettlager 
war und versteckte sie daselbst, um sie in der folgenden Nacht zu 
gebrauchen. Gegen 10 Uhr legten sich beide im Pferdestall zu Bett, 
W. im Hemd und Unterhose, H. nur nach Entkleidung des Bockes 
und der Stiefel. Nachdem sich Beide noch eine Weile unterhalten 
und W. eingeschlafen war, stieg H. von der hochgelegenen Bettstätte 
herunter, holte die Axt, stieg die Leiter bis auf die obere Sprosse 
hinauf und schlug mit der Axt nach W.’s Kopf. Als W. wiederholt 
„au“ geschrieen, schlug H. noch mehrere Male auf ihn los, warf als¬ 
dann die Axt auf den Boden des Stalles, packte den W. mit der rechten 
Hand an der Gurgel, hielt ihn eine Weile fest, um, wie er selbst ein¬ 
gestand, ihn vollends todt zu machen. Daraufhin warf er den 
Körper des W. von der Bettstatt herunter und schlug auch jetzt noch 
einmal mit der Axt auf W.’s Kopf ein. Jetzt suchte er bei angezündetem 
Licht die Uhr und steckte diese zu sich; die Kleidungsstücke des W. 
hatte er bereits Tags vorher versteckt Nach einer Weile ging er zum 
Voigt B., weckte diesen und erzählte ihm, dass er mit W.in der Schenke 
gewesen, dass er später als dieser in den Pferdestall zurückgekehrt 
und ihn auf dem Boden todt vorgefunden habe. 

Bei seiner späteren Vernehmung am 14. Februar 1877 und auch 
bei der öffentlichen Gerichtsverhandlung hat H. jedoch die Strafthat 


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VL B.ver 


in allen Einzelheiten so eingestanden, wie die sonst ermittelten Um¬ 
stände mit denselben öbereinstimmen. Der Voigt B. erzählte, dass H. 
ihn mit kläglichem Geschrei geweckt und ihm weinend mitgetheilt 
habe, Carl W. sei aus dem Bett gefallen, liege todt im Stall und blute. 
Er, B., habe zweifellos dem H., da er die Leiche des W. in der be¬ 
zeichnten Lage gefunden, Alles geglaubt, bis er bald erfahren, dass 
H. und W. die vorige Nacht nicht in der Schenke gewesen. — Die 
gerichtliche Section hatte festgestellt, dass W. durch die Axthiebe be¬ 
täubt und widerstandslos gemacht, und durch Zusammenpressung der 
Luftröhre gestorben sei. Der Gerichtshof hat angenommen, dass W. 
mit voller Ueberlegung gehandelt und bei der Begehung der Handlung 
die zur Kenntniss ihrer Strafbarkeit erforderliche Einsicht besessen, dass 
H. seinen stets freundlich gesinnten Mitknecht mit kalter Ueberlegung 
ermordet habe, um sich einige Kleidungsstücke und die Uhr anzueignen. 

H. empfand keine Reue über seine That, trug vielmehr die 
vollständigste Gleichgültigkeit zur Schau, und da wegen der That, 
wenn er im gesetzlichen Alter gewesen, die Todesstrafe über ihn ans¬ 
gesprochen wäre, so konnte die höchste zulässige Strafe als Sühne für die 
Freveltbat gelten und wurde desshalb auf 15 Jahre Gefängniss erkannt. 

H. war am 12. Juli 1860 ehelich geboren, bei den Eltern erzogen, 
und hat die Dorfschule besucht Seine Erziehung war eine sehr mangel¬ 
hafte. Der Vater, ein Arbeiter und starker Trinker, trieb sich in der 
Welt umher und kümmerte sich nicht um den Knaben. Er selbst 
musste schon sehr frühe in ärmlichen Dienst treten und ebenso seine 
beiden jüngeren Schwestern. 

Bei seiner Einlieferung in die Anstalt gab H. an: „Ich habe den 
bei meiner Herrschaft mit mir dienenden Knecht Carl W. im Bett mit 
einem Beil erschlagen. Er schuldete mir Geld und wollte mir dasselbe 
nicht zurückgeben“. 

Er war damals, am 23. October 1877, schlecht genährt, abgemagert, 
von blassem Aussehen. Der Brustkorb war sehr flach, an der Lunge 
selbst Hessen sich Zeichen einer organischen Erkrankung nicht wahr¬ 
nehmen. Er war stumpfsinnig und gleichgültig, von sehr geringer In¬ 
telligenz. Es stellte sich bald grosse Reue und tiefgehende Zerknirschung 
bei ihm ein, so dass in der Conferenz der Anstalts-Oberbeamten eine 
freundliche und aufmuntemde Behandlung für ihn gewünscht und 
empfohlen wurde. H. war 152 cm gross, schlank, blond; der Kopf 
zeigte eine regelmässige Bildung, die Stirn hoch und breit, der Unter¬ 
kiefer stark hervorragend, der Blick hatte einen gutmüthigen, demuths- 
vollen, flehentlichen Zug. 

Schon früh im 2. Jahre seiner Haft entwickelte sich das Symptom- 


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Ueber jugendliche Mörder und Todtechläger. 


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bild einer schnell fortschreitenden Lungenschwindsucht, so dass er am 
9. August, nach einer Vß jährigen Gefangenschaft, seinem Leiden im 
vorgeschrittenen, marantischen Zustande erlag. 

Die Zeichen tiefster Reue machten sich bei H. schon früh 
geltend; er hatte viele schlaflose Nächte, weinte viel; 'der von ihm 
ermordete W., so klagte er vielfach, stehe vor seinem Bett und lasse 
ihn nicht zur Ruhe, zum Schlafen kommen. 


3. Wegen Ermordung seines eigenen Vaters ist der Schuhmacher- 
lebrling Louis B. zu 15 jähriger Gefängnisstrafe am 12. October 1877 
vom Königl. Kreisgericht zu Thora verurtheilt und am 14. Februar 1878 
in unsere Anstalt eingeliefert worden. 

B. ist am 22. April 1860 als Sohn des Wirthschaftsbesitzers Hein¬ 
rich B. geboren. Er lebte mit seiner 15jährigen Schwester, Auguste 
B., bei seinem Vater. Da die Mutter vor 1 Va Jahren verstorben war, 
musste Auguste B. die Wirthschaft führen. Louis B. war bei einem 
Schuhmacher in der Lehre gewesen und von hier weggelaufen, am 
10. Juni 1877 in’s elterliche Haus zurückgekehrt Der Vater B. soll 
zu den Kindern hart und lieblos gewesen sein, sie geschlagen und 
gemisshandelt haben. Als der Vater die Absicht äusserte, sich wieder 
zu verheirathen, fürchteten Beide eine Verschlechterung ihrer Lage, 
und jetzt wagte die Schwester Auguste, welche schon früh sittlich 
verwahrlost war, zuerst den Gedanken zu äussera, diese Wiederver- 
heirathung durch Beiseiteschaffung des Vaters zu verhindern. Louis B. 
fasste den Gedanken auf und schlug vor, den Vater im Schlafe zu 
erwürgen und in die Weichsel zu schaffen. Auguste B. stellte dies 
dem Bruder als nicht ausführbar vor, und beide beschlossen hierauf, 
den Vater mit dem in der Stube hängenden Revolver zu erschiessen. 
Louis B. verstand sich nicht auf das Oeffnen des Patronenlagers, und 
Auguste war ihm behilflich, sie öffnete selbst den Verschluss. Sie 
theilte am 23. Juni den älteren, auswärts lebenden Geschwistern mit 
dass der Vater verreisen werde. In der Nacht am 24. Juni, um 3 Uhr, 
stand Louis B. auf und ging in die nebenstehende Stube, in welcher 
ausser dem Vater die Schwester Auguste und auch die siebenjährige 
Schwester Amanda schlief; er zauderte unschlüssig, und erst um 5 Uhr 
hat er auf das wiederholte Zureden der Auguste dem fest schlafenden 
Vater mit dem bereit gehaltenen Gewehr eine Kugel in den Hals ge¬ 
schossen. Der verwundete B. versuchte sich zu erheben, rief wieder¬ 
holt: „Was ist das für ein Schmerz, ach Gott, erbarm Dich meiner!“ 
und ist auf die Kissen zurückgesunken. Louis B. war nach seiner 
Schlafstube geeilt und die Auguste war ihm dahin gefolgt. Bald darauf 


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VI. Baer 


nahm Louis B. dem verwundeten Vater das Decktuch fort/ um den 
Tod desselben festzustellen. Das Bett wurde in die Stube des Louis 
gelegt. Jetzt raffte sich der Verwundete auf, begab sich, mit Blut über¬ 
gossen, in die Nebenstube, nahm das Deckbett von der Erde auf, trug 
dasselbe auf sein Bett zurück und legte sich darauf. Auguste B. rief 
nunmehr dem Bruder zu: „Du hast den Anfang gemacht, du musst 
auch das Ende machen“. — Und nun ergriff dieser die in seiner Stube 
liegende Axt und versetzte mit dem Rücken derselben dem Vater zwei 
Schläge auf den Hinterschädel. In Folge des von diesem erhobenen 
Geschreis entfloh die Auguste nach der Küche. Von hier wurde sie von 
Louis B. wieder in die Stube zurückgerufen, und als Beide vernahmen, 
dass der Vater noch Leben in sich habe, rieth Auguste B. nun dem 
Bruder, dem Vater mit der scharfen Kante des in der Vorderstube 
liegenden Beiles in den Hals zu hauen. Während die Auguste das 
Deckbett vom Halse des Vaters wegzog, versetzte Louis B. dem Vater 
mit dem Beile 2 Hiebe mit solcher Kraft in den Hals, dass der Er¬ 
schlagene nach dem gerichtsärztlicbem Gutachten als geköpft zu 
erachten war. — Nunmehr trugen Beide die mit Blut übergossene 
Leiche in den Keller. Sie waren Tags über bemüht, die Blutspuren 
aus den Betten und Stubendielen zu beseitigen, trennten die blutge¬ 
tränkten Federn von den unbefleckten und verbrannten die ersteren. 
Den jüngeren Geschwistern sagte die Auguste, dass der Vater schon 
sehr früh zu seiner Braut gegangen sei. In der folgenden Nacht 
schafften sie die Leiche nach dem Ufer der Weichsel; hier zog Louis 
B. die Leiche längs einer in den Strom hineingebauten Buhne mitten 
in den Fluss hinein und Hess sie abwärts hinunter schwimmen. Noch 
in derselben Nacht vergruben sie die blutigen Sachen, Betten, Bezüge 
in der im Bau begriffenen Scheune und fuhren frische Erde darauf. 
Gleich nach der That, am 24. Juni, reiste Louis B„ von Reue ergriffen, 
nach Thom zu seinem beim Militär stehenden älteren Bruder Friedrich B., 
und theilte diesem die entsetzliche That mit Nachdem Auguste B„ 
welche roh und gefühllos geständig war, diesen Thatbestand bestätigte, 
machte Friedrich B. am 26. Juni 1877 bei dem Amtsvorsteher die An¬ 
zeige von dem Mord. 

Das Kreisgericht zu Thom verurtheilte am 12. October 1877 
den Louis B. wegen Mordes zu 15 Jahren Gefängniss und zu 
gleichem Strafmaass die Auguste B. wegen Anstiftung zum Morde, 
weil sie durch Rath und That bei Begehung des Mordes Hülfe 
geleistet, da sie mit dem Bruder Louis B. den Plan der Ermor¬ 
dung besprochen, ihn die Handhabung des Revolvers gelehrt, ihm 
die Anwendung des Beiles und der Axt gerathen und sodann vor 


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Ueber jugendliche Mörder und Todtschläger. 111 

den geführten Beilhieben die Decke von dem Halse des Vaters zurück¬ 
gezogen hat. 

Der noch nicht 18 Jahre alte Louis B. war am 14. Februar 1878 
in die Anstalt eingeliefert; er war von gutem Gesundheitszustände be¬ 
funden, jedoch zeigte die rechte Lungenspitze keine normalen Ver¬ 
hältnisse. Von gesunden Eltern stammend, war er gut genährt und 
von kräftigem Körperbau. Aber schon nach 1 '/* jähriger Haft war er 
sehr heruntergekommen. Durch die Nachricht von der schweren Erkran¬ 
kung und dem im Gefängniss bevorstehenden Ende seiner Schwester 
Auguste hart betroffen, musste er im September 1879 wegen ausge¬ 
sprochener Lungenphthisis in’s Lazareth verlegt werden, und ist be¬ 
reits am 1. October 1880 diesem rapid verlaufenem Leiden erlegen. 

Louis B. erklärte selbst, dass ihn gleich nach der That die Heue 
ergriffen und er furchtbar gelitten habe, während seine Schwester 
Auguste sehr kaltblütig ihre Häuslichkeit weiter versehen. Auch diese 
war im Gefängniss nach kaum 2 Jahren verstorben. 

Louis B. war kräftig gebaut, 162 cm gross. Der Kopf zeigte bis auf 
geringe rhachitische Deformation keine Anomalie; er war flach, breit und 
nach vom stark ausgelegt; tiefliegende, dunkle Augen, niedrige Stirn mit 
prominenten Stimhöckem und gewölbter Augenbrauengegend verliehen 
dem Gesichte einen unheimlichen Ausdruck. B. war immer tief 
gedrückt, still in sich gekehrt, ergeben und zufrieden, aber meist 
in tiefer Zerknirschung, sodass ihm inniges Mitleid geschenkt wer¬ 
den musste, ganz besonders als ihm das Schicksalsende seiner 
Schwester bekannt wurde. Seine Intelligenz war ungemein gering; 
Gefühl und Gemütb ungemein weich, allen Einwirkungen leicht zu¬ 
gängig. Schwere Gewissensbisse lagen auf den kummervollen Gesichts¬ 
zügen. Charakteristisch ist, wie er an seine ältere verheirathete 
Schwester am 12. October 1879 schreibt: „Liebe Schwester. Gott weiss 
es, dass ich bereue und dämm hoffe ich, von ihm durch meinen Hei¬ 
land Gnade zu erlangen.In mir war wieder Hoffnung erwacht 

und einen guten Entschluss hatte ich gefasst, aber seit ich das weiss 
(dass sich die Geschwister seiner schämen) ist alles in mir verloren, 
und ich bin ganz verzagt und meine Seele betrübt bis in den Tod.... 
Ich werde Euch stets treu bleiben, aber mein Leben muss ich nur 
mit Vorwürfen hinfressen, dass ich meinen Geschwistern allen ein Stein 
des Anstosses und des Aergemisses geworden bin.“ 

4. Der Wirth8chaftslehrling Robert Sch., am 18. Mai 1868 geboren, 
wegen Diebstahl am 2. Juni 1877 mit 14 Tagen Gefängniss vorbestraft, 
war auf dem Landgute Str. bei Perleberg untergebracht, um daselbst 


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VI. Baer 


die Landwirtschaft zu erlernen. Nach seinem eigenen Geständniss 
hat er im October 1878 zu Str. seinen Mitlehrling M. Geld und Cigarren 
gestohlen. Er war imDecember 1877 zur Weihnachtszeit von seinem Lehr¬ 
herrn zu seinen Eltern beurlaubt Von seinem Vater mit Reisegeld ver¬ 
sehen, trat er am 27. December die Rückreise an. In Bitterfeld, so giebt 
er an, habe er auf den Abgang des Zuges warten müssen und den Ent¬ 
schluss gefasst, nicht mehr nach Str. zurückzukehren, weil der dort von 
ihm begangene Diebstahl seinem Lehrherrn bekannt geworden sei, 
sondern sich selbst zu erschiessen. Zu diesem Zwecke habe er auch in B. 
einen Revolver mit 50 Patronen gekauft Er habe indessen nicht den 
Muth gehabt, den Selbstmord auszuführen, sei nach Vergeudung seines 
Reisegeldes, nachdem er dort mit einem Bekannten Bier getrunken, 
in den Wohnort seines Vaters zurückgekehrt. Um sich mehr in die 
Enge zu treiben und auf diese Weise sich zur Begehung des Selbst¬ 
mordes zu zwingen, habe er beschlossen, die Gehöfte der ihm befreun¬ 
deten Gebrüder K. anzuzünden. Er schlich sich in die Wohnung der¬ 
selben und suchte daselbst mit einem angezündeten Streichholze, ob 
K. sich dort befinde. Da er nicht deutlich sehen konnte, schlug er die 
Fensterscheibe ein und sah von der Strasse aus den K. aus dem 
Hause kommen und wieder dahin zurückkehren. Er habe noch 15 
Minuten gewartet und dann die anstossende Scheune des K. ange¬ 
zündet, indem er von der Gartenseite ein brennendes Streichholz in 
die Oeffnung der Scheune gesteckt. Das Feuer hat sich schnell 
verbreitet; es wurden 2 Scheunen, 2 Ställe und das Wohnhaus des 
K. in Asche gelegt. Als das Feuer ausgebrochen war, ging er, wie 
festgestellt worden ist, raschen Schrittes nach Redis zu; auf dem 
Wege dahin beschloss Sch., bei dem Besitzer des Gasthofes zu Gr. 
Geld zu stehlen. Er stieg durch eine eingeschlagene Scheibe in 
die Schenkstube zur ebenen Erde und öffnete den unverschlossenen 
Kasten des Buffetschrankes. Da er in diesem kein Geld fand, wollte 
er sich durch die Hausthür entfernen, traf jedoch auf dem Hausflur 
den Sohn des Besitzers, der hinter einem Lattenverschlage des Gast¬ 
zimmers die Manipulationen des Sch. gesehen und den Vater rufen 
wollte. Sch. hat, 6 Schritt von ihm entfernt, gerufen „Zurück oder 
geschossen" und entkam auf die Strasse. Auf einem Nebenwege 
in Redis angekommen, ging er nach dem von der Strasse abgelegenen 
Hause des Windmüllers R., in dessen Stube er Licht sah, trat an 
das Fenster und schoss, als er jenen vom Sopha nach dem Fenster 
sich nähern sah, eine Kugel aus dem Revolver auf R und begab sich 
nach Gr. Von R. verfolgt, wurde er hier arretirt Sch. behauptete zu¬ 
erst, dass R. ihn früher mit dem Stocke geschlagen und dass er sich 


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üeber jugendliche Mörder und Todtschläger. 


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jetzt rächen wollte; später gab er an, dass er den R. gar nicht gekannt, 
dass er ihn auch gar nicht habe tödten wollen; er wollte nur durch 
den Schuss auf sich aufmerksam machen, um sich alsdann selbst er- 
schiessen zu müssen. Thatsächlich hat Frau R. ihren Mann aufmerk¬ 
sam gemacht, dass ein Mensch am Fenster sei; und als dieser sich 
nach demselben hin begab, erhielt er 3 Schritt von dem Fenster einen 
Schuss, der auf die Rippen aufgeschlagen und nur wegen der dicken 
Bekleidung des R. keine schweren Folgen für diesen nach sich gezogen. 

Das Gericht kam zu der Ueberzeugung, dass der Selbstmord nicht 
der Grund dieser Verbrechen gewesen. Sch. wollte, weil er den Empfang 
bei seinem Lehrherm fürchtete, nicht zu diesem zurückkehren; er 
wollte in die weite Welt fliehen, sich aber vorher Geld auf jede Weise 
verschaffen und sich selbst vor Angriffen sichern. Zu diesem Zweck 
kaufte er den Revolver mit mehr Munition als zum Selbstmord noth- 
wendig war. Er wollte bei seinem Freunde K. stehlen, revidirte das Haus, 
steckte das Gehöft an, um bei dieser Gelegenheit den Diebstahl aus¬ 
zuführen. Als dies nicht anging, versuchte er es im Gasthof zum grünen 
Berg, und als es auch hier misslang, versuchte er es bei dem Müller 
R. Im Gasthof drohte er zu schiessen und bei R. schoss er wirklich, 
als er überrascht wurde. Das Gericht nahm an, dass Sch. am 27. De- 
cember 1878 zu R. den Entschluss, den Müller R. zu tödten, zwar 
mit Vorsatz, jedoch nicht mit Ueberlegung, durch eine Handlung be- 
thätigt hat, welche einen Anfang der Ausführung dieses Verbrechens 
enthält, nicht aber ist dieses mit Ueberlegung geschehen, sodass nur 
Mordversuch vorliegt. 

Sch. ist erst 17 Jahre alt, heisst es in dem Gerichtserkenntniss, 
aber er hatte die zur Erkenntniss der Strafbarkeit der begangenen 
Handlung erforderliche Einsicht. Auch hatte der Sachverständige 
Dr. H. kein Zeichen einer Geistesstörung bald nach dem verübten Ver¬ 
brechen an ihm beobachtet, ihn vielmehr für zurechnungsfähig erklärt. 
Er wurde daher der vorsätzlichen Brandstiftung, eines ver¬ 
suchten schweren Diebstahls und des versuchten Todt- 
schlages für schuldig befunden. 

Sch. ist zur Verbüssung der wider ihn erkannten 7jährigen Ge¬ 
fängnisstrafe am 9. Mai 1879 in unsere Anstalt eingeliefert. Er war 
der Sohn eines Pfarrers, im elterlichen Hause erzogen und hat das Gym¬ 
nasium bis Tertia besucht. Er war gross, schlank gewachsen (171 cm), 
kräftig gebaut und vollkommen gesund. Schädel und Gesicht zeigten 
keine Deformationszeichen; er hatte röthliches Haar und blaue Augen. 

Er hat im Untersuchungsgefängnis einen Selbstmordversuch ge¬ 
macht Er war in den ersten Jahren seiner Strafzeit, die er gern 


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VI. Baer 


und willig in der strengen Einzelhaft verbüsste, anfangs verschlossen, 
auffallend gedrückt und tief verstimmt, später offener, ruhiger und ge¬ 
fasster. Seine Führung war eine tadellose, er war bescheiden und 
ernst geworden und geblieben, er zeigte das volle Bewusstsein seiner 
Schuld und eine aufrichtige Reue unter festen Grundsätzen zur Besserung 
seines Lebens. Er wurde in Anerkennung seines sittlich gebesserten 
Charakters nach Verbüssung von drei Viertel seiner Strafzeit am 
30. Juli 1884 aus der Strafhaft bedingungsweise entlassen. 

Es kann nicht unerwähnt bleiben, dass die so schnell hinterein¬ 
ander in einer Nacht ausgeführten Verbrechen (wie Brandstiftung, 
schwerer Diebstahl, Todtschlagversuch) bei dem p. Sch. etwas der¬ 
artig Impulsives zeigte, dass man unwillkürlich an einen vorübergehenden 
pathologischen Geisteszustand desselben denken muss. Es liegt nahe, 
einen durch den starken Biergenuss hervorgerufenen krankhaften Er¬ 
regungszustand, einen pathologischen Rausch, zu vermuthen. Während 
seiner 5^4 jährigen Gefangenschaft sind bis auf vorübergehende durch¬ 
aus nicht krankhafte Depressionszustände bei Sch. Zeichen von Geistes¬ 
störung nicht wahrgenommen worden. 

5. Der Müller Otto K. aus Klein-Karge (Kr. Wittenberg), am 
14. Sept 1863 geboren, Sohn des Mühlenbesitzers K. zu Schmiede¬ 
berg, war wegen Mordes und wegen Diebstahls zu 15 Jahren Gefängniss 
verurtheilt 

Derselbe hat am Tage nach seiner Verurtheilung Folgendes ge¬ 
standen: „ln der Nacht vom 14. zum 15. December 1880 befand ich 
mich mit dem Mühlknappen R. in der Obermühle. Kurz nach 2 Uhr 
gerieth ich mit iljm in Streit, weil R. mir vorwarf, das Getreide¬ 
reinigen nicht zu verstehen; wir fassten uns und rangen miteinander. 
Als wir dem Fahrstuhl nahe kamen — es war auf dem Boden — 
stiess ich ihn mit aller Kraft durch die Oeffnung nach unten, und R. 
stürzte mit dem Kopf voran auf den unteren Fussboden. Durch das 
Ringen war ich sehr aufgeregt und ging halb besinnungslos hinunter; 
hier sah ich, dass R. mit den Händen noch Bewegungen machte, und 
da ich fürchtete, dass er wieder aufleben und ich eine schwere Strafe 
erleiden werde, holte ich einen Spitzhammer und schlug mit der spitzen 
Seite gegen seinen Hinterkopf. Der Tod musste rasch eingetreten sein. 
Ich zog den R. unter den Fahrstuhl und legte den Leichnam so, wie 
er gefunden wurde. Ich ging zu Bett, konnte aber vor Aufregung 
nicht schlafen. Zwischen 5 und 6 Uhr ging ich zum Obermüller Sch. 
und theilte ihm mit, dass R. todt unter dem Fahrstuhl liege, dass er 
vom Fahrstuhl erschlagen sein müsste.... Uhr und Geld habe ich 


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nicht gestohlen; das Verbrechen stand mir stets vor Augen und bereue 
ich es auf das Tiefste. Mein Gemüth ist nach diesem offenen Ge- 
ständniss ruhiger und will ich meine erhaltene Strafe geduldig ertragen.“ 

Der Verdacht des Mordes war auf K. gefallen, weil dieser mit 
R. in der qu. Nacht allein war, weil K., wie das Gericht annahm, 
von gewaltsamem und hinterlistigem Wesen und schon mehrfach wegen 
Diebstahls vorbestraft war. „Wer uns zu nahe kommt, der wird er¬ 
würgt“, bat er zu seinem Complicen bei der Ausführung eines solchen 
geäussert. K. hat an seiner Kleidung Blutspuren gehabt, hat kurz 
nach dem Tode R.’s den gebrauchten Hammer ohne Wissen des Herrn, 
dem er gehörte, um arbeiten lassen. An dem einen Ende desselben 
waren rothe Flecke sichtbar. K. hat nach vollbrachtem Morde sich 
die Uhr und das in der Kiste aufbewahrte baare Geld von R. ange¬ 
eignet; er hat trotz der erdrückensten Beweise die Blutthat und die Dieb¬ 
stähle geleugnet Da K., wie das Strafurtheil hervorhebt, die schwerste 
strafbare Handlung in wahrhaft tückischer und teuflischer Weise voll¬ 
führt hat und trotz der gravirendsten Momente in der frechsten, keine 
Rene zeigenden Weise ableugnete, da er einen Mann tödtete, dem er seine 
Stelle zu verdanken hatte, und welcher der beste Familienvater und 
Mensch war, da K. seinem Vorleben nach als gemeingefährlicher Mensch 
anzusehen ist, so ist gegen ihn das höchste Strafmaass anzuwenden. 

K. hat in der Untersuchungshaft einen Fluchtversuch gemacht, 
einen Ofen eingerissen und das Fenstergitter beschädigt. Er ist nach 
seiner Verurtheilung am 28. Oktober 1881 in das Strafgefängniss 
Plötzensee verbracht worden. Er war bei guter Gesundheit, 165 cm 
gross. Der Schädel war flach, die Stirn niedrig und breit, der Joch¬ 
beinknochen ragte stark hervor; das Kinn war rund, die Obren regel¬ 
mässig, Haare blond. 

K. war im elterlichen Hause erzogen unter 8 Geschwistern und 
hatte die Elementarschule besucht. Er war verschlossen, stumpf und 
gleichgültig, apathisch; häufig war er sehr gedrückter, ergriffener 
Stimmung. Er fing bald an abzumagern und unter dem Bilde einer 
galoppirenden, in allen Organen gefundenen Miliar-Tuberculose ist er 
am 2. October 1884 nach einer 3jährigen Gefangenschaft verstorben. 


6. In der Nacht zum 16. März 1881 ermordete die Ehefrau des 
Tapetendruckers L. ihren Ehemann dadurch, dass sie ihn mit einem 
Rasirmesser den Hals durchschnitt. Bei diesem Mord war der damals 
14jährige Arbeitsbursche Ernst L., ihr beiderseitiger Sohn, betheiligt da¬ 
durch, dass er dem Vater die Hände festhielt, als die Mutter den Mord 
ausführte. Ernst L. war wegen Theilnahme am Mord am 27. Mai 


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VI. £aer 


1881 vom Landgericht zu Nordhausen zu 7 Vajähriger Gefängniss- 
strafe verurtheilt Am 1. November 1884 ist er in die Anstalt zu 
Plötzensee, Abth. für Jugendliche, eingeliefert. 

Nach dem wiederholt abgelegten Geständniss der Frau L., welche 
zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe verurtheilt wurde, soll der Ernst 
nicht blos die Hände des Vaters bei dem von ihr ausgeführten Morde 
gehalten haben, sondern auch seinerseits verschiedene Stiche gegen 
ihn geführt haben. Diesen letzteren Angaben wiederspricht Ernst L. 
Er selbst sagte später aus: Als meine Mutter meinem Vater die Kehle 
durchschnitten hatte, und dieser in seiner Todesangst noch auf die 
Mutter zusprang, trat ich dazwischen und stiess den Vater zurück, 
worauf er auch sofort verstarb. Die Geschworenen haben den Emst 
L. für schuldig befunden, zur Begehung der That wissentlich Hülfe 
durch die That geleistet zu haben, dagegen die in Gemeinschaft mit 
Vorsatz und mit Ueberlegung ausgeführte Tödtung verneint 

Emst L. war am 23. August 1866 ehelich geboren und in elter¬ 
lichem Hause erzogen. Er hat die Elementarschule besucht, und war 
am 3. November 1884 bei seinem Zugänge in die Anstalt von kleinem, 
kräftigem, gedrungenem Körperbau. Er selbst gab an, früher an epi- 
lept ischen Krämpfen gelitten zu haben. Auf der linken Hornhaut 
war eine starke, fleckenartige Trübung vorhanden. Der Schädel war 
schmal, hoch und dadurch deformirt, dass der obere Stimtheil wie eine 
Halbkugel sich nach vom und oben hutförmig hervorwölbte. Das 
Hinterhaupt war flach; die Nase klein und platt; die Ohren weit 
nach hinten, die Augen klein und flach liegend. Gesicht und Unter¬ 
kiefer war breit und grob; die Physiognomie bot ein fremdartiges, 
hässliches Bild dar. 

Emst L. zeigte sich immer verschlossen, wenig zugänglich, ge¬ 
fühllos. Er blieb in dieser Weise während der ganzen Gefangenschaft 
bis zu der am 4. December 1888 erfolgten Entlassung. Er wurde 
wegen unpassenden Verhaltens und wegen groben Vergehens gegen 
die Hausordnung, auch wegen Fluchtverdachts häufig disciplinirt „Man 
habe“, wie der Gefängnisgeistliche am 8. Februar 1888 mittheilt 
„bei aller Mühe, ihm die Furchtbarkeit seiner That zu Gemüth zu 
führen und bei ihm das Gefühl der Reue zu erwecken, nichts als 
kalte, herzlose Antworten und ein völlig verstocktes Gemüth gefunden, 
und eine Gleichgültigkeit sondergleichen gab sich zu erkennen. Er 
hat das schwere und entsetzliche Verbrechen sowie seine verantwortliche 
Schuld nie begriffen und nie gefühlt“ ... 

In einem Briefe an einen Verwandten schreibt er: Er habe in 
den Gefängnissbeamten nur Personen gesehen, die dem Gefangenen das 


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Ueber jugendliche Mörder und Todtschlägcr. 


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Leben sauer machen wollen und die Strafe hart, er habe desshalb 
die Beamten immer gemieden;... sie wollen nur etwas aus ihm heraus¬ 
locken; darüber, wie es in seinem Herzen aussehe, sei er Niemand 
Rechenschaft schuldig. Das müsse er immer sagen, dass seine Ver¬ 
schuldung an dem Morde seines Vaters ihm zu schwer angerechnet 
sei, da er damals noch ein ganz unreifer Junge von 14 '/2 Jahren, 
und auch durch den Genuss von Liqueur mit Rum, den die Mutter 
ihm beim Abendessen gereicht hatte, etwas dämlich gewesen sei. 

Seine Entlassung nach Verbüssung von dreiviertel seiner Straf¬ 
zeit konnte nicht befürwortet werden, da er nicht das geringste An¬ 
zeichen von Reue, von Gewissensbissen dargeboten, sondern, wie de* 
Hausgeistliche mit Recht hervorhob, vielmehr in rätselhafter Weise 
immer zufrieden mit sich wäre, und je länger die Strafzeit währt, um 
so kälter an sein entsetzliches Verbrechen zurückdenkt. 

L. hat bis zu seiner am 4. December 1888 eingetretenen Ent¬ 
lassung eine nie zu durchbrechende Gefühllosigkeit und eine eiserne 
Ruhe behalten. Er hat sich im Gefängniss stets behaglich gefühlt und 
niemals das Gefühl eines Schuldbewusstseins gezeigt. 


7. Der Dienstknecht Ernst H., am 2. August 1867 zu Z., Kreis 
Torgau geboren, nicht vorbestraft, war am 28. März 1885 vom Land¬ 
gericht Torgau wegen Mordversuches zu 9 Jahren Gefäng¬ 
niss verurtheilt und am 25. April 1885 in das Strafgefängniss Plötzen¬ 
see eingeliefert. 

Es ist durch Zeugenaussagen und durch eigenes Geständniss 
Nachstehendes festgestellt: H. hatte als Mistknecht früher einen sehr 
geringen Lohn und dabei Schulden gemacht, die ihn andauernd drückten. 
Am Abend des 11. Januar 1885 wurde er in einem Tanzlocale von 
einem Schuhmacher an seine Schuld von 5 Mark gemahnt. Er konnte 
diese nicht bezahlen und fasste den Entschluss, sich auf jede Weise 
Geld zu verschaffen. Im Locale bemerkte er den Hufner A. mit seinem 
Dienstpersonal, und gewann dadurch die Ueberzeugung, dass die Frau 
des A. sich allein im Hause befinde. Aus dem Stall seines Dienst¬ 
herrn nahm er eine Axt und ein Stemmeisen, begab sich alsdann, 
nachdem er einen schlechten Rock angezogen, nach dem A.’schen 
Hause. Hier brannte in der Stube Licht und H. konnte in derselben 
die Frau A. sehen. Da die Hausthür verschlossen war, klopfte er an 
das untere Fenster und rief „Gebt das Geld heraus“. Frau A. 
glaubte, dass muthwillige Dorfkinder sich einen schlechten Spass er¬ 
lauben und rief zurück: „Macht, dass ihr fortkommt“. H. drückte hierauf 
eine Fensterscheibe ein, stieg in die Stube und folgte Frau A. nach 


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VI. Baer 


dem Hausflur, wohin dieselbe geflohen war. Hier versetzte er derselben 
einen wuchtigen Schlag mit dem flachen Theil der Axt auf den Kopf, 
sodass der Schädel zerschmetterte. Frau A. stürzte zu Boden und in 
dieser Lage versetzte H. ihr noch 2 Schläge auf den Kopf, die je¬ 
doch wegen des dichten Haares die tödtliche Wirkung nicht ausübten. 
H. Hess nunmehr die besinnungslose Frau A. liegen, erbrach mittelst 
des Stemmeisens in der Stube die Kommode, entwendete aus derselben 
ca. 400 Mark haaren Geldes, ging nach Hause, stellte das Beil an 
den früheren Ort, zog den guten Kock wieder an und ging in das 
Tanzlocal zurück. Das Gerücht von dem Verbrechen war sehr bald 
in das Local gedrungen, woselbst sich H. an dem bald wieder be¬ 
ginnenden Tanze lebhaft betheiligte. Er tractirte die Burschen und 
Mädchen mit Bier und Kuchen, bezahlte dem Schuhmacher die schul¬ 
digen 5 Mark, blieb bis zum Schluss des Tanzes und ging gegen 7 Uhr 
früh nach Hause ohne sich schlafen zu legen. 

Das in der Stube des A. zurückgelassene Stemmeisen, Blutflecke 
in den Kleidern des H. und an der Axt haben zur Entdeckung des 
Thäters geführt Da Frau A. am Leben geblieben und voraussicht¬ 
lich bald ganz hergestellt werden dürfte, so wurde auf die obige 
That wegen Mordversuches erkannt. 

Bei seinem Zugang in die Anstalt war der 17 '/a jährige H. von 
mässigem Ernährungszustand, blassem Aussehen, kräftigem Körperbau, 
der Brustkorb flach, die linke Lungenspitze verdächtig. Der Vater 
war an Lungenschwindsucht gestorben. H. war 160 cm gross, von 
dunkler Gesichtsfarbe, der Kopf flach und breit, vornüber gebeugt, 
die Stirn niedrig, das Kinn spitz. Die Augen lagen tief in grossen 
Augenhöhlen; der Blick war gutmüthig. Die Gesichtsknochen waren 
stark hervorragend, weit von einander liegend, das Hinterhaupt steil. 
Die Sprache war auffallend langsam. 

H. war ehelich geboren, zuerst im elterlichen Hause, später bei 
den Grosseltern unter sehr ärmlichen, kümmerÜchen Verhältnissen er¬ 
zogen. Der Vater war Pantinenmacher und 1873, die Mutter be¬ 
reits 1871 verstorben. Er selbst giebt an, dass er eine schlechte Er¬ 
ziehung gehabt habe. Er war mehrfach wegen Diebstahls bestraft. 
Bei seiner Einlieferung war seine Stimmung gefasst, häufig jedoch 
gedrückt; er war anfangs sehr verschlossen, später offener und zu¬ 
traulicher. Er zeigte eine aufrichtige, tiefe Reue. Nach einer mehr¬ 
jährigen Strafhaft war H. brustkrank und arbeitsunfähig geworden. 
Vom 6. April 1890 an befand er sich auf dem Anstaltslazaretb. 
Er schrieb häufig an seinen einzigen Bruder und bittet 1891 um 
seine vorläufige Entlassung. „Er möchte aus der Strafhaft, die 


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Ueber jugendliche Mörder und Todtschläger. 


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schwer anf ihn drückt, entlassen sein; er fühle, dass er im Gefängniss 
zu Grunde gehe und er möchte doch noch gern leben.“ 

Er ist am 18. Januar 1892 an weit vorbereiteter Lungenschwind¬ 
sucht gestorben. Nach dem Urtbeil der Beamten konnte H. als ge¬ 
bessert angesehen werden, da er stets eine tiefe, ernste Reue gezeigt 

8. Der noch nicht 18 Jahr alte Diener Max R. aus Pr. wurde 
wegen Todtschlages und Diebstahls zu 5‘/2 Jahren Gefängniss 
verurtbeilt und verbüsste diese Strafe in der Anstalt Plötzensee vom 
11. November 1886 bis zum 24. April 1892. 

R. befand sich auf der Wanderschaft und lernte am 15. Juli 1886 
in Burg bei Magdeburg den Töpfergesellen N. kennen, der am 
8. Juli ej. aus dem Gefängniss zu Werden in Hannover entsprungen 
und nicht im Besitz von Legitimationspapieren war. Auf dem 
Wege von Burg nach Genthin gesellte sich der 22jährige Schlosser 
H. ans Böhmen zu ihnen. Sie nächtigten alle drei in einer Korn- 
miethe und als sie am anderen Tage in der Nähe von Brandenburg 
im Walde Rast gemacht, und H. sich auf sein ausgezogenes Jacket, 
in dem seine Papiere steckten, hingelegt hatte und eingeschlafen war, 
stahlen R. und N. dieselben und entfernten sich schleunigst auf dem 
Wege nach Berlin. H. traf Beide am nächsten Tage wieder in 
Baumgartenbrück und verlangte von ihnen seine Papiere zurück. R. 
und N. leugneten den Besitz, und H. folgte ihnen mit der Erklärung, 
sie in Potsdam der Behörde anzuzeigen. H. war in G. in ein Wirths- 
baus gegangen, um sich ein Stück Brod zu holen, und N. machte 
den Vorschlag, den H. zu erwürgen, da sie sonst bestraft würden. 
R. ging auf diesen Vorschlag ohne Zögern ein; alle drei gingen auf 
der Chaussee lang und Hessen sich später auf N.’s Aufforderung in 
einer Schonung nieder, um auszuruhen. Es wurde so eingerichtet, 
dass H. zwischen den beiden andern zu sitzen kam. Auf ein verab¬ 
redetes Zeichen schlang N. seinen Lederhosenträger um den Hals 
H.’s, behielt das eine Ende in der Hand und warf das andere 
Ende dem R. zu. Beide zogen mit vereinten Kräften die Schlinge 
fest zu und hielten ihm die Hände fest. R. hatte dem H. ein Taschen¬ 
tuch in den Mund gesteckt, sodass er nicht schreien konnte. Nach 
wenigen Minuten war H. erwürgt. Beide entkleideten die Leiche bis 
auf’s Hemd und eigneten sich dessen wenige Habseligkeiten an, ver¬ 
kauften diese später für 10 Mark, und hat R. 3 Mark 50 Pfg. davon 
abbekommen. Die Leiche banden sie mit einem Tuch, das an einem 
um den Hals geschlungenen Bindfaden befestigt war, an einer jungen 
Kiefer fest, sodass der Anschein eines Selbstmordes erweckt werden 

Archiv für Kriminalanthropologie. XI. 0 


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VI. Baer 


sollte. Die Leiche selbst wurde am 26. Juli, mit Moos bedeckt und stark 
verwest, aufgefunden. Bis zum 23. Juli reisten R. undN. zusammen, dann 
bat N. heimlich den R. verlassen und blieb auch spurlos verschwunden, 
obscbon festgestellt war, dass er wieder die Nabe des Thatortes auf¬ 
gesucht hatte. R wurde am 26. Juli in Dahme verhaftet, weil er 
sich durch den Gebrauch der Papiere des H. verdächtig gemacht 
hatte. Nach seiner Verhaftung legte er ein offenes, reuiges Geständniss 
ab. Die Geschworenen erachteten R. des Mordes nicht, dagegen des 
Todtschlages schuldig und billigten ihm auch mildernde Umstände zu. 

R. war bei seiner Einlieferung (12. November 1886) schlecht ge¬ 
nährt und blutleer. Die rechte Hornhaut zeigte eine starke Trübung. Das 
Gesicht war asymmetrisch, die Ohrläppchen faltenartig an die Wangen 
angewachsen. Der Kopf war flach, breit. R. war ehelich geboren 
und im elterlichen Hause erzogen. Er war sehr verkommen und ver¬ 
wahrlost Während seiner Strafverbüssung war er ruhig und gefasst; 
er zeigte stets eine ernste Reue. Er ist am 25. April 1895 aus der 
Anstalt gesund entlassen und war die Hoffnung auf seine sittliche 
Besserung allseits als wohl vorhanden angesehen. 


9. Anton Kr., MUUerlehrling, am 26. Februar 1869 zu K., Kreis 
Heilsberg geboren, noch nicht bestraft, war am 10. Mai 1886 vom 
Landgericht Bartenstein wegen Mordes zu zwölfjähriger Gefängniss- 
strafe verurtheilt. 

Kr. selbst ist geständig in der Nacht vom 22. zum 23. Februar 
1886 in der Mühle des Mühlenbesitzers B. in M. den Müllergesellen 
Karl W. ermordet zu haben. Etwa zwei Monate nach seinem Eintritt 
als Lehrling bei dem Mühlenbesitzer B., trat, wie Kr. angiebt, W. als 
Geselle ein. Er habe sich mit diesem niemals sonderlich vertragen, 
weil er ihn öfters ausgeschimpft habe. Als er, Kr., Mitte Februar 1886 
sich bei einer Weizenlieferung Unredlichkeiten habe zu Schulden kommen 
lassen und ihn W. wieder ausgescholten habe, habe er nicht mehr in 
die Mühle zurückgehen wollen. Die Eltern brachten ihn jedoch am 
Montag den 22. Februar wieder nach M. zurück. Sein Stiefvater sei 
zu dem Mühlenbesitzer B. gegangen, um mit ihm seinetwegen (Kr.’s 
wegen) zu sprechen, er habe sich dann nach der Mühle begeben und 
seine gewöhnliche Arbeit wieder aufgenommen. 

Er hatte schon jetzt den Entschluss gefasst, den W. todtzu- 
schlagen und ihn alsdann in’s Mühlenbassin zu werfen. Als um 
3 Uhr Morgens die Arbeit eingestellt werden sollte, sei er an den 
Steg gegangen, um das Rad abzuschrauben, während W. in der 
Nähe, mit dem Gesicht abgewandt, gestanden habe. Diesen Augen- 


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Ueber jugendliche Mörder und Todtschläger. 


121 


blick habe er benutzt, habe einen in der Nähe liegenden Hammer er¬ 
griffen und mit demselben dem W. mehrere Schläge auf den Hinter¬ 
kopf versetzt, sodass derselbe mit den Worten „Anton“, „Anton“ zur 
Erde gesunken sei. Dann habe er dem W. weitere 5—6 Schläge und 
demnächst mit einer Axt noch 2—3 Schläge auf den Kopf versetzt; 
alsdann habe er die Fallthür des Wassers geöffnet und den leblosen 
Körper in das Wasser geworfen. Nachdem er hierauf von dem Gelde 
des W. sich 8 Mark angeeignet, sei er zu Bett gegangen und habe 
ruhig geschlafen. Um 6 Uhr sei er erwacht, habe sich angekleidet 
und sei zum Arbeiter Kl. gegangen, 
um ihn aufzufordern, nach der 
Mühle zu kommen, weil W. ver¬ 
schwunden sei. Es wurde nach 
ihm vergeblich gesucht, da Nie¬ 
mand von dem Morde etwas wusste. 

Erst als der Amtsrichter heraus¬ 
gekommen und ihm, weil an seinen 
Kleidern Blutspuren entdeckt wur¬ 
den, den Mord auf den Kopf zu¬ 
gesagt hatte, habe er eingestanden, 
dass er der Mörder sei. 

K. war am 8. Juli 1886 in die 
Anstalt eingebracht. Er war voll¬ 
kommen gesund, gross gewachsen 
und sehr kräftig gebaut. Sein 
Kopf war hoch und breit, die Stirn 
in der Augenbrauengegend hervor¬ 
ragend und gewölbt, die Augen¬ 
brauen zusammengewachsen, die 
Ohren gross, nach hinten stehend, der Unterkiefer breit. Der Blick war 
stets düster; der Gesichtsausdruck hatte etwas Unheimliches, Finsteres. 
Er war stets still, gedrückter Stimmung, immer nachdenklich vor sich 
hinbrütend. Seine Führung am Strafort war stets gleich gut Die 
ernste und tiefgehende Reue Hess eine sittliche Gesundung erhoffen. 


10. E. M. war am I. Juli 1887 wegen Todtschlags vom Land¬ 
gericht zu Königsberg i. P. zu einer fünfjährigen Gefängnissstrafe ver- 
urtheilt und verbiisste dieselbe vom 11. August ej. bis zum 2. Juli 1892 
in der Gefangenanstalt zu Plötzensee. 

Es ist Nachstehendes festgestellt. Der Commis Albert Sehr, war 

in einer Dampfer-Expeditionsgesellschaft angestellt und musste häufig 

fl* 



Fig. 1 (Kr.). 


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122 


VI. Baer 


den Schiffscapitänen Geld an Bord bringen. Am 8. November 1886 
hatte er einem solchen ca. 500 Mark abgeliefert und sollte am 9. No¬ 
vember um '/ 2 Ö Uhr Abends die Summe von 325 Mark hinüberbringen. 
Von diesem Gange ist er niemals zurückgekehrt; er war von Georg G. 
und Ernst M. gemeinschaftlich ermordet und beraubt worden. 

G. und Sehr, waren von Kindheit an bekannt und befreundet 
Ersterer machte diesen mit M. und dem Commis S. bekannt Diese 
drei, G. M. und S. holten den Sehr, öfters von den Dampfern, 
auf denen er zu thun batte, ab. G. und M. waren stellungslos und 
lebte Letzterer nur vom Versetzen von Werthgegenständen. Beide be¬ 
schlossen den Sehr, zu berauben und bei Seite zu schaffen. Der Vor¬ 
schlag war von G. ausgegangen und von M. sofort angenommen. Sie 
verabredeten, dieses Verbrechen am 8. November Abends auszuführen, 
da sie wussten, dass Sehr, um diese Zeit 5—600 Mark einem Boots- 
capitän zu überbringen habe. M. entwendete seiner Mutter zwei 
silberne Löffel, versetzte diese sowie seinen Ueberzieher, um Geld zum 
Miethen eines Bootes zu haben. G. batte einen Hammer und einen 
Strick eingesteckt; er sollte nach Verabredung den Sehr, mit dem 
Hammer tödten, dann wollten sie die Leiche mit mitgenommenen 
Steinen, die sie an den Strick banden und um jene befestigten, in 
den Pregel werfen. Sie nahmen noch einige Flaschen Bier mit und 
wussten es dahin zu bringen, dass Sehr, zwischen G. und M. sass, die 
Rückseite dem G., der am Steuer sich befand, zugewandt Dieser 
führte, als ihm M. zugenickt hatte, einen Schlag mit dem Hammer 
gegen das Hinterhaupt des Ahnungslosen, der sofort röchelnd auf den 
Boden sank. G. führte noch einige Schläge gegen den Kopf des 
Sehr, und M., der vorher „hau zu, hau zu“ gerufen, legte die Leiche 
mit dem Kopf über den Bootsrand, damit das Blut in das Wasser floss. 
Sie nahmen nunmehr den Beutel mit Geld aus Schr.’s Tasche; G. band 
einen Stein an den linken Oberschenkel der Leiche und warf diese 
in der Mitte unter der Eisenbahnbrücke in's Wasser. Sie reinigten 
das Boot mit ihren Taschentüchern, die sie ebenfalls bineinwarfen, 
fuhren nach der Landungsstelle, zählten das Geld, warfen den Beutel 
fort, gingen in ein Restaurant und speisten dort M. löste seinen Ueber¬ 
zieher ein und ging zu einer Prostituirten. Das Geld wurde nicht 
getheilt; am andern Vormittag trafen sich Beide und blieben 10 Tage 
hindurch zusammen. Am Tage trieben sie sich in Restaurationen, des 
Nachts in schlechten Schank- und Gasthäusern herum. G. bezahlte 
alle Kosten aus dem gemeinsamen Gelde, kaufte sich einen Anzug, 
einen Revolver und einen Tesching. Nachdem das Geld verbraucht 
war, trennten sich beide Genossen; M. ging nach Hause und G. trieb 


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Ueber jugendliche Mörder und Todtschläger. 


123 


sich noch mehrere Tage herum und lebte von dem Erlös der früher 
angeschafften Waffen. 

Diese Darstellung beruht im Wesentlichen auf den Geständnissen 
der beiden Complicen. M. will jedoch von dem Plane Nichts gewusst 
haben und von dem verbrecherischen Vorhaben G.’s, mit dem er 
ahnungslos den Sehr, abgeholt, erst erfahren haben, als G. den Hammer 
auf letzteren losschlug. Nur aus Furcht will er später dem G. ge¬ 
holfen haben, weil dieser gedroht habe, ihn nebst seiner Mutter zu 
erschlagen. G. wollte die intellectuelle Urheberschaft des Verbrechens 
auf H. schieben, dieser war aber an dem Tage, wo die Besprechung 
stattgefunden, in Hamburg. 

Den beiden Complicen M. und G. wurde noch ein zweiter Mord 
an dem Kanonier S., einem Freunde Schr.’s zur Last gelegt. Jener 
war am 18. November 1886 plötzlich und spurlos verschwunden. Erst 
am 5. Februar 1887 wurde er bei den Fortificationsgruben unter dem 
Eise auf dem Rücken liegend gefunden. Die Sachverständigen er¬ 
klärten, dass Selbstmord und Verunglückung ausgeschlossen, dass 
derselbe vielmehr durch einen Dritten um’s Leben gekommen sei. 
G. und S. kannten sich seit ihrer Jugend und sollte auch M. in ihrer 
Gesellschaft gesehen worden sein. M. soll auch bei diesem Morde be¬ 
theiligt sein, da er mit G. bis zum 21. November 1886 ein gemein¬ 
sames Leben geführt habe. — G. ist auch verdächtig mit M. Päde¬ 
rastie getrieben zu haben, was M. auch zuerst zugegeben, nachher 
jedoch widerrufen hat 

G. ist zum Tode verurtheilt und zu lebenslänglicher Zuchthaus¬ 
strafe begnadigt Er ist nach einigen Jahren im Zuchthause verstorben. 
M. wurde wegen Todtschlages zu 5'/* Jahren Gefängniss verurtheilt, 
da er, wie das gerichtliche Urtheil hervorhebt, bei seiner grossen 
Jugend eine aussergewöhnliche sittliche Verwilderung durch das hart¬ 
näckige Leugnen und sein Auftreten vor dem Gerichte gezeigt 

Ernst M. war am 7. August 1871 ehelich geboren; sein Vater 
war Zugführer und bereits 1884 gestorben. Seine Mutter war ihm 
mit grosser Liebe zugethan. Er selbst hat das Gymnasium bis Tertia 
besucht, musste jedoch auf Anrathen seiner Lehrer Michaelis 1885 
dasselbe verlassen. Er wurde Schreiber bei einem Rechtsanwalt, ver- 
liess am 1. Oktober 1886 diesen Dienst, weil sich herausstellte, dass 
Briefe, welche durch M.’s Hände gingen, aus dem Bureau unfrankirt 
an die Kunden verschickt wurden, und man angenommen hatte, dass 
M. die Briefmarken unterschlagen habe. Er wurde Lehrling in einem 
Assecuranzgeschäft, lief jedoch auch hier am 1. November 1886 fort 
Es stellte sich heraus, dass M. eine Postanweisung und den Betrag 


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124 


VI. Baer 


derselben (26 Mk.) unterschlagen habe. Er wurde mit einer Gefäng¬ 
nisstrafe belegt und trieb sich, aus dem Gefängniss entlassen, ohne 
Stellung umher, bis er sich mit dem Complicen G. zu der Ausführung 
der entsetzlichen That entschloss. 

Ueber seine Abstammung, über seine Entwicklung in der 
Kindheit ist Genaues nicht ermittelt worden. Seine intellectuellen 
Fähigkeiten waren, soweit aus dem späteren Beobachtungen ge¬ 
schlossen werden darf, überaus gut ausgebildet. Um so ungünstiger 
war sein sittlicher Entwicklungsgang; schon früh war sein Hang 

zur Ungebundenheit, zur Lüder- 
lichkeit und Zügellosigkeit stark 
ausgeprägt. 

Während der Untersuchungs¬ 
haft in K., also kurz nach jener (ein- 
oder auch zwiefachen) Mordthat 
musste M. disciplinirt werden wegen 
eines Vergehens, das sein Denken 
und Fühlen, seinen Leichtsinn und 
seine Verkommenheit charakteris¬ 
tisch kennzeichnet. Er wurde am 
25. April 1887 mit 3 Tagen Arrest 
bei Wasser und Brod bestraft, 
weil er in ein ihm in die Zelle ge¬ 
gebenes Lesebuch an verschiedenen 
Stellen mit einem scharfen Gegen¬ 
stand Bemerkungen eingekratzt 
hat, wie: „0, du himmlische 
See, kennst nicht mein 
Weh!“ — „na Prosit“ — 
„Ochsentreiber" — „Ich habe einen Mord begangen; den 
13. 3. 1887.“ 

Bei seiner Einlieferung in die Anstalt Plötzensee am 11. August 
1887 ist M. mässig genährt, für sein Alter von 16 Jahren kräftig ent¬ 
wickelt, 171 cm gross, naar dunkelblond, Augen grau. Die Brust ist 
schmal und flach. Schädel und Gesicht symmetrisch; die Stirn 
hoch und breit; die Ohren sehr gross, missgestaltet; Ohrläppchen 
angewachsen; Nase lang und breit; Gesichtsknochen und Unterkiefer 
massig, hervorspringend. Lippen dick, aufgeworfen. Das Gesicht 
ist grob sinnlich, ungemein abstossend und finster. Seine Stimmung 
ist während der ganzen Zeit seiner Haft gedrückt; er ist immer ver¬ 
schlossen, sehr leicht erregt und zeitweise von Angst und Unruhe 



Fig. 2 (M.). 


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Ueber jugendliche Mörder und Todtschläger. 


125 


befallen. Er wird als Schreiber beschäftigt, zeigt ein geordnetes Be¬ 
nehmen und eine sehr gute Befähigung für geistige Arbeit; er wird 
jedoch sehr bald in seiner Kleidung und äusseren Haltung auffallend 
nachlässig. Er musste später .aus der Zellenhaft entlassen werden, 
weil sein geistiger Zustand ihn für diese ungeeignet machte. In der 
Gemeinschaftshaft verursachte er vielfache Störungen, verweigert die 
Arbeit, ist eigensinnig und widersetzlich, so dass er vielfach disciplinirt 
werden musste. 

In den ersten Jahren seiner Haft verräth er oft einen schweren 
inneren Kampf; er legte später ein volles Geständniss ab. Die unver¬ 
kennbaren Zeichen von Gram und Angst und die Erscheinungen eines 
gefolterten Seelenzustandes waren bald als Heimsuchungen schwerer 
Gewissensbisse gedeutet, bald auch als Unruhe und Furcht, dass G. 
im Zuchthause ein Geständniss von der Ermordung des Kanonier S. 
ablegen würde. Als er die Nachricht von dem Tode dieses, seines 
Complicen erfahren, da erscheint er mehr ruhig und gesammelt, legt 
ein langes, weites Geständniss ab und wagt auch nach Ablauf der 
betreffenden Strafzeit um die vorläufige Entlassung zu bitten. In 
diesem Gesuche am 16. März 1891 erklärt er: „Ich bereue aufrichtig 
meine schwere That, sie steht mir Tag und Nacht vor Augen und 
noch habe ich bis jetzt keine Ruhe finden können. . . . Mein einziger 
Wunsch geht dahin, in die weite Welt hinausgehen zu dürfen, um 
in rastloser Thätigkeit und unerkannt unter Mitmenschen mich ehr¬ 
lich ernähren zu können/ 

Man war allgemein überzeugt, dass auch nach dem gemachten 
Geständniss noch ein schwerer Druck auf ihm laste. Sein ver¬ 
schlossener, schwankender Charakter, seine übergrosse Empfindlichkeit, 
und sein häufiger, unüberwindlicher Eigensinn sprachen nicht für eine 
wirkliche Sinnesänderung. Er machte den Eindruck, dass sein Ge¬ 
wissen noch schwer belastet sei. Sein Gesammtverhalten war stets 
ein abnormes und erregte schon früh den Verdacht, dass der Zu¬ 
stand seines Gefühls- und Gemüthslebens krankhaft afficirt und ein 
deffecter sei. Dieser Verdacht sollte sich bald als wirkliche Wahrheit 
erweisen. 

M. wurde am 2. Juli 1892 nach Verbüssung seiner vollen Straf¬ 
zeit aus der Strafhaft entlassen und kehrte nach Königsberg zurück. 
Er war bis auf die erwähnten Eigenheiten und die Gemüthsschwan- 
kungen, die sich zeitweise einstellten, bei voller Einsicht in seine Lage 
und vollkommen orientirt. 

Am 31. Juli 1893 musste M„ wie berichtet worden ist, wegen eines 
plötzlichen Ausbruchs vonTobsucht in die städtische Irrenanstalt gebracht 


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126 


VI. Bakk 


werden. Am 9. September wurde er nach der Provinzial-lrrenanstaJt in 
Allenstein überführt und stellte sich hier nach einer erheblichen Beruhi¬ 
gung und Klärung, die auch noch weiter zunahm, Anfangs December ein 
neuer Erregungsanfall ein. Seitdem, heisst es in einem Berichte, befindet 
sich M. in einem Zustande andauernder, hochgradiger Verwirrtheit, 
lncohärenz, Ideenflucht und der lebhaftesten auf Illusionen oder Hal- 
lucinationen beruhenden Delirien, welche sich vorzugsweise um seine 
Strafthat drehen. Am 1. April 1894 schreibt der dortige, leider so 
früh verstorbene Director Dr. Sommer: „Augenblicklich befindet sich 
M. schon seit Monaten im katatonischen Stupor mit Stummheit, Speichel¬ 
fluss, massiger Gliedstarre.“ Er ist sehr bald in einem Zustande 
tiefster Verblödung seinem chronischen Leiden erlegen. 

Dass M. schon während der Strafzeit nicht im Besitz normalen 
Geistes gewesen ist, ist bereits erwähnt; es ist auch anzunehmen, dass 
er schon zur Zeit der Begehung seines Verbrechens und wohl auch 
schon von Kindheit an ein degenerirtes, psychisch defectes Individunm 
gewesen ist. 


11. Der Tischlerlehrling Otto Br. wurde am 16. Juli 1689 vom 
Landgericht I Berlin wegen Todtschlages zu 6 Jahren Gefängniss ver- 
urtheilt. Er war am 8. März 1872 zu Berlin geboren und noch nicht 
17 */2 Jahr alt, als er die strafwürdige Handlung begangen. 

Br. war seit dem 22. März 1886 bei einem Tischlermeister B. 
in der Lehre mit noch zwei anderen Lehrlingen zusammen, mit Sk. 
und M. Am 26. März 1889 war Sk. aus der Lehre entlaufen und 
klagte seiner Mutter, dass Br. ihn schlage und misshandle. Sk., der 
nach der Werkstatt zurück gebracht wurde, gab auch dem Lehrmeister 
an, dass Br. ihn veranlasst habe, zu entlaufen. 

Nach dem Geständnisse, dass Br. am 10. April 1889 bei seiner 
Verhaftung abgelegt, hat er am 26. März Abends bald nach 8 Uhr 
den Sk. getödtet Er sei mit diesem in der Werkstatt allein gewesen; 
sie seien in einen Streit gerathen, der in eine Schlägerei ausge¬ 
artet, in welcher Sk. von ihm zu Boden geworfen sei. Er (Br.) habe 
dann einen in der Werkstatt liegenden Schnürgurt ergriffen, eine 
Schlinge aus diesem gemacht, diese dem Sk. um den Hals geworfen 
und sie zusammengezogen. Er wollte den Sk. nicht tödten sondern 
züchtigen. Er sei so erregt gewesen, dass er seiner Sinne nicht 
mächtig war. Die Schlinge habe er fest zugezogen und die beiden 
Enden des Gurtes so lange festgehalten, bis Sk. kein Lebenszeichen 
mehr von sich gegebe. Hierauf habe er die Leiche aus dem Fenster 
in den Garten gezogen, durch den Zaun gesteckt, nach dem Hof 


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Uebcr jugendliche Mörder und Todtschläger. 


127 


geschleift und dort in die Spähnegrube geworfen. Die zurückgeblie¬ 
benen Pantinen habe er verbrannt. An der Leiche war der Tod durch 
Strangulirung festgestellt. 

Das Gericht nahm an, dass Br. vorsätzlich mit dem Bewusstsein 
der Rechtswidrigkeit die That begangen. Er habe sich als ein ver¬ 
stockter, lügenhafter Mensch erwiesen. Es sei jedoch auch möglich, 
dass er im Affect und ohne Ueberlegung gehandelt, dass er bei der 
Ausführung der ursprünglich nur vorgehabten Züchtigung in eine der¬ 
artige Erregung gerathen, dass er erst jetzt beschloss, den Sk. zu tödten 
und diesen Entschluss ausgeführt. 

Br. habe die zur Erkenntniss der 
Strafbarkeit jener Strafthat erfor¬ 
derliche Einsicht besessen, habe 
aber die Tödtung nicht mit Ueber¬ 
legung ausgeführt und sei bei 
seiner aussergewöhnlichen Ver¬ 
stocktheit und Verlogenheit des 
Todtschlages schuldig und zu 
6 jähriger Gefängnissstrafe zu ver- 
urtheilen. 

Br., am 8. März 1872 als 
Sohn der Silberarbeiterseheleute 
Br. geboren und nicht vorbestraft, 
war bei seiner Einlieferung kör¬ 
perlich gut entwickelt, 157 cm 
gross, kräftig, von straffer Mus¬ 
kulatur und gesundem Aussehen. 

Der Kopf war hoch und gleicb- 
mässig breit; Hinterhaupt wie 
Stirn gut gewölbt, letztere hoch und frei; Augenbrauen etwas zusam- 
menfliessend, Ohren ohne jede Verbildung, Nase lang und breit, Mund 
breit; die Nasenlippenfalte stark ausgeprägt, die Gesichtsknochen 
standen weit von einander ab; das Gesicht hatte einen sonderbar 
selbstgefälligen, stets lächelnden Ausdruck, stets immer denselben 
ohne Abwechslung. Seine Stimmung war beständig eine ruhige, 
heitere, fast vergnügte und auch diese zeigte keine Abwechslung. 
Ein Ausdruck von Reue ist bei ihm niemals zu Tage getreten. 
Er war stets zufrieden und erging sich in grosser Selbstgefälligkeit 
gern in Betrachtungen philosophischen und religiösen Inhalts; er 
machte Gedichte, auf die er sehr stolz war. r Er habe sie aber alle 
verbrannt, weil der Herr Pastor sie von ihm verlangt habe.“ Er 



Fig. 3 (Br.). 


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128 


VI. Bakr 


sucht sein Verbrechen mit seiner mangelhaften Erziehung zu ent¬ 
schuldigen. Seine Eltern lebten getrennt, er sei bis zum 8. Jahre in 
mehreren Familien in Pflege gewesen, sei dann bis zum 14. Lebens¬ 
jahre im grünen Hause (Rettungsanstalt) erzogen und dann als 
Tischlerlehrling eingetreten. Er sei zu schlecht erzogen und vernach¬ 
lässigt, sei jedoch niemals roh und schlecht gewesen. Von Kindheit 
an, so gab er selbst an, sei er immer unglücklich gewesen, ihm seien 
wiederholt schon als Knabe Selbstmordgedanken gekommen. „Er sei 
über die begangene Strafthat sehr unglücklich; er habe eine Abneigung 
gegen den Sk. gehabt und habe ihm gerathen, aus der Lehre zu gehen. 
Das Schlimmste, meint er, war, dass er mit diesem in einem Bette 
habe schlafen müssen. Als Sk., nachdem er fortgelaufeD, von seiner 
Tante wieder in die Werkstatt gebracht sei, da sei ihm zum ersten 
Male der Gedanke gekommen, ihn umzubringen, damit er ihn los wäre. 
Er wundere sich jetzt, wie er dies habe ausführen können, da er nicht 
habe Zusehen können, wenn im Hause geschlachtet worden sei.“ 

Br. hat sich während der Strafverbüssung fleissig und fügsam 
gezeigt; seine Führung war eine stets gute; er liess die Hoffnung auf 
seine Besserung erwarten und hat dieselbe insofern bewahrheitet, als 
er nach seiner Entlassung aus der Strafhaft (15. Juli 1892) bis jetzt 
(1901) nicht wieder bestraft ist. 


12. Friedrich R., Fabrikarbeiter, am 25. April 1872 zu W. im 
Weimar’schen geboren, zweimal vorbestraft, ist am 16. Januar 1890 
vom Landgericht zu Nordhausen wegen Mordes zu 15 Jahren Ge- 
fängniss verurtheilt worden. 

Am 13. October 1889, an einem Sonntage, wurde der Leichnam des 
19 jährigen Arbeiters M. in Sangerhausen in einem Wasserleitungsgraben 
mit dem Gesicht im Wasser liegend todt gefunden. Der Hinterkopf 
war entzwei geschlagen, und musste die Verletzung mit einem stumpfen 
Instrumente beigebracht sein. Ausser dieser schweren Verletzung 
war an der Leiche eine tiefe, scharf geränderte Stirnwunde gefunden, 
die dem M. mit einer Thürangel beigebracht sein konnte, welche in 
dem halbverfallenen Brunnen des R.’sehen Hauses auf gefunden und 
erst kurz vor der Auffindung der Leiche in diesen gebracht sein 
konnte. An der Leiche waren ferner erhebliche Messerstiche hinter 
beiden Ohren, am Halse und an der Hand vorhanden. Der Tod 
des M. war in Folge von Erstickung in dem Wasserschlamm ein¬ 
getreten; M. muss, noch kräftig athraend (Schlammtheilchen in der 
Luftröhre und im Magen), mit dem Gesicht nach unten in den Schlamm 
niedergedrückt sein. Einige Schritte von der Leiche entfernt wurde 


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Heber jugendliche Mörder und Todteehläger. 


12» 


auf der dem Ufer des Grabens sich entlang ziehenden Basenfläche, 
die einige Schritte weit wie von einem schweren Körper niedergedrückt 
war, die Mütze des M. sowie ein ca. 24 cm langes Bruchstück einer 
eisernen Gasröhre aufgefunden. Bei der Leiche selbst war kein Geld 
vorhanden, und doch hat M. am 12. October ej. am Sonnabend Nach¬ 
mittag 6 3 / 4 Uhr die Fabrik mit einem Wochenlohn von 8 Mk. 7 Pfg. 
in einem ledernen, von der Fabrik gelieferten Geldbeutel, in welchem 
der Name M. eingezeichnet war, verlassen. M. ist nicht mehr nach 
Hause gekommen. Der Beutel war leer, nur mit dem Wochenlohn¬ 
zettel des M. in einem blutigen Taschentuch mit rothen Bändern, eine 
Strecke entfernt von dem Fundort der Leiche, aufgefunden. 

Es hat, wie es in den Gerichtsacten heisst, eine mit Ueberlegung 
und vorsätzlich mit scharfem Instrumente ausgeführte Tödtung des M. 
stattgefunden, und hat der Thäter den Körper des Opfers in den Graben 
gezogen und dort in den Schlamm eingedrückt. Diese Tödtung hat 
nach der Ueberzeugung des Gerichts der B. ausgeführt. Dieser hatte 
dem M. gegenüber seit Kurzem eine feindselige Gesinnung an den 
Tag gelegt, weil M. ihm einen Wurstdiebstahl vorgeworfen. B. hat 
gegen M. an demselben Abend die Drohung ausgestossen: „Er solle 
sich nur in Acht nehmen; er (M.) komme sicher nicht nach Hause.“ 
Diese Drohung machte M. den Tag über auffallend niedergeschlagen. 
— R. will an dem betreffenden Abend aus der Fabrik direct nach 
Hause gegangen, zu Abend gegessen und dann sofort noch vor 8 Uhr 
sich zu Bett begeben haben. Dies hat sich als unwahr ergeben 
R. ist nicht vor 3 /j8 Uhr, wie die Hausgenossen des R. bezeugen, 
nach Hause gekommen. Es wurde ferner festgestellt, dass R. seine 
Arbeitsstiefel und die braune Arbeitsjacke, die er am Tage der That 
getragen, bei Seite geschafft hatte. Es wurde weiter ermittelt, dass 
diese Stiefeln mit grosser Wahrscheinlichkeit im Ofen der elterlichen 
Familie verbrannt wurden, da bei dessen Reinigung 13 Schubzwecken, 
welche sich zwischen den Roststäben festgesetzt batten, entfernt werden 
mussten, und diese nach Zeugenaussagen von den vermissten Stiefeln 
herrühren konnten. Auch wurde das oben erwähnte blutbefleckte 
Taschentuch mit dem leeren Geldbeutel des M. von mehreren Zeugen 
als Eigenthum des R. erkannt, während dieser alle Ermittlungen und 
auch diese Angaben bestritt. Das Gericht ist durch die Gesammtheit 
der ermittelten Thatsachen zu der überzeugenden Gewissheit von der 
Schuld des R. gelangt. Dieser hat durch seine Gefühllosigkeit und 
sein reueloses Verhalten nach der That jede mildernde Beurtheilung 
derselben unmöglich gemacht, so dass die ganze Schwere des Gesetzes 
gegen ihn in Anwendung kommen musste. 


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VI. Baer 


R. hat seit seiner Verhaftung bis auf den heutigen Tag (1902) 
stets seine Schuld geleugnet, er hat niemals auch nur die Andeutung 
eines Geständnisses gemacht, sodass von Einzelnen an seine Unschuld 
geglaubt wird. Er hat mit Aufgebot aller Energie und mit Aufwand 
vieler Kosten eine Wiederaufnahme seines Verfahrens beantragt. Diese 
ist jedoch nach Prüfung der Sachlage vom Gericht zurückgewiesen. 

R., ehelich geboren und von seinen Eltern, Arbeitsleuten in 
Sangerhausen erzogen, besuchte die Dorfschule. Er hat noch 2 Ge¬ 
schwister und war zweimal wegen Diebstahls mit 14 Tagen und 
6 Wochen Gefängniss vorbestraft Er war bei seinem Zugang in die 



Fig. 4 a (R. 1S92). 



Fig. 4 b. (R. 1901). 


Anstalt am 24. April 1890 noch nicht 17 Jahre alt, für sein Alter 
ungemein kräftig und durchgehends gesund. Er war 165 cm gross, 
von roher, unschöner Gesichtsbildung; die Stirn hoch, die Augen¬ 
brauen zusammenfliessend, Schädel schmal, hoch, Ober- und Unter¬ 
kiefer massig, breit. Hinterhaupt stark hervorragend, Ohren abstehend, 
das Gesicht asymmetrisch. Bei seiner im Juli 1901 vorgenommenen 
Nachuntersuchung war der ganze Horizontalumfang 57 cm (der vordere 
29, hintere 28), der Längendurchmesser 119 mm, der Breitendurch¬ 
messer 115; die Schädelhöhe 125, Stirnhöhe 73; Stirnbreite 120, Occi- 
pitalregion stark hervorragend; Gesichtshöhe A119, Gesichtshöhe B113; 
Augenbrauengegend stark hervorragend, Augenbrauen confluirend; 


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Ueber jugendliche Mörder und Todtschläger. 


131 


Körperlänge 167 cm, Spannweite 169; Jochbeinbreite 125, Unterkiefer- 
breife 123 mm; Nase 56 lang, 37 breit, Gaumen hoch und schmal; Haar 
stark und dunkel, auch ist die ganze Körperfläche abnorm stark behaart. 

R. hat niemals einen Schein von Reue gezeigt und niemals seine 
Schuld gestanden, er hat niemals Zeichen von Gewissensbissen ge¬ 
zeigt. Er hat sich körperlich sehr kräftig entwickelt und war stets 
bei guter Gesundheit; er hat sich auch geistig und sittlich nicht un¬ 
günstig geändert. Er ist ernster und ruhiger geworden; die in früherer 
Zeit wechselnde Stimmung ist eine mehr gleich massige, ergebene ge¬ 
worden. Er ist für religiöse Einwirkung zugänglich und arbeitet 
fleissig. Er schickt den Geschwistern und den Eltern zu Weihnachten 
und zu den Geburtstagen Geldsendungen und hat grosses Interesse für 
seine Familie. Er hat mehrfach Geschicklichkeit in mechanischen 
Fähigkeiten gezeigt. Er hat in den ersten Jahren wegen Plaudems, 
Unfugs vielfach disciplinirt werden müssen, zeigte sich oft unverträg¬ 
lich, rechthaberisch, jähzornig, in den letzten Jahren ist er fügsamer 
und hofft auf dem Wege der Gnade aus der Strafhaft entlassen zu 
werden. Es muss noch erwähnt werden, dass er gelegentlich einmal 
angegeben hat, dass er schon als Kind an Krämpfen gelitten habe. 
Während seiner nunmehr über 12 jährigen Inhaftirung haben sich nie¬ 
mals Zeichen eines epileptischen Zustandes bei ihm zu erkennen gegeben. 
Er befindet sich gegenwärtig noch in der Anstalt. 


13. W. Otto Julius, Stukateur, am 9. Juli 1874 zu Berlin geboren, 
ist wegen Mordes und Raubes am 10. September 1892 vom Land¬ 
gericht zu 15 Jahren Gefängniss verurtheilt und am 15. September in 
das Strafgefängniss Plötzensee eingeliefert. Er hat den grausigen Mord 
zusammen mit seinem Freunde N. ausgeflihrt. 

Die Postschaffnersfrau M. war am 4. Mai 1892 ermordet in ihrer 
Wohnung gefunden worden. W. hat dieselbe schon seit langer Zeit 
gekannt, da diese mit seiner Mutter als Landsmännin befreundet war 
und ihm selbst auch viel Gutes getban hatte. Im April 1892 machte 
W. die Bekanntschaft mit N. und zwei anderen Angeklagten, K. 
und W. Diese drei hatten keine Arbeit und kein Geld, sie sprachen 
oft vom Stehlen und Einbrechen. N. frag den W. mehrfach, ob er 
nicht eine Gelegenheit zum Stehlen auskundschaften könne. Nach 
vielem Drängen erklärte er, dass vielleicht bei Frau M., von der er 
wusste, dass sie Ersparnisse habe und oft allein sei, etwas geholt werden 
könnte. N. Hess nunmehr von dem W. nicht mehr ab; am 2. Mai 
1892 suchte N. diesen Mittags auf dem Arbeitsplatz auf, und als sie 
fortgehen wollten, da entdeckte W., dass ihm seine Uhr gestohlen sei. 


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132 


VI. Bakr 


N. meinte nun, da müsse man eine andere suchen, — «jetzt gehst du 
zu Frau M. und stichst sie nieder.“ W. ging auf den Gedanken ein, 
und beide schliffen nunmehr das Arbeitsmesser des W. auf der scharfen 
und stumpfen Seite, da N. zu W. sagte, er solle es nur recht scharf 
machen, sonst gehe die Sache schief. Beide suchten die M.’sche 
Wohnung auf, fanden sie aber nicht und W. ging zu seinen Eltern, 
um die Wohnung zu erfragen. Zufällig war Frau M. bei seiner Mutter 
zu Besuch und W. wusste zu erfahren, dass Frau M. am 3. Mai allein 
zu Hause sei. An diesem Tage begaben sich beide Angeklagte in 
die M.’sche Wohnung; sie verabredeten, dass W. der Frau M. erzählen 
solle, dass ihm die Uhr gestohlen und dass N., sein Freund, vor der 
Thür sei und dies bestätigen könne. N. sollte alsdann in die Woh¬ 
nung gerufen werden. Als W., wie verabredet, der Frau M. den 
Diebstahl erzählte und nach N. vergeblich gerufen batte, da dieser auf 
die Strasse gegangen war, machte dieser den Vorschlag, dass W. noch 
einmal hinaufgehen und von Frau M. etwas Geld borgen sollte. Er 
fügte eindringlich hinzu: „Stich die Frau gleich nieder, wenn sie die 
Thür aufmacht“ W. erhielt in der That von Frau M. 80 Pfennige, da 
sie nicht mehr Kleingeld hatte; sie forderte ihn auf, einige Zeit zu 
warten, da sie mit ihm mitgehen wollte. Als sie die auf die Erde 
gefallenen Schlüssel der Kommode aufheben wollte, packte W. die M. 
mit der linken Hand an der Kehle, warf sie auf’s Bett und stiess das 
aufgemachte scharf geschliffene Messer mit aller Wucht in ihre Brust 
Diese schrie um Hilfe und versprach, ihm Alles zu geben, wenn er 
sie los lasse. Dieser hörte auf die Bitte der Frau M. nicht, holte 
vielmehr, da die Spitze des Messers abgebrochen war, ein Küchen¬ 
messer aus der Küche und brachte mit diesem der Frau M. noch 
einige Stiche bei. Als Frau M. sich nicht mehr rührte, nahm er aus 
der Kommode 180 Mark und einige Silbersachen. Es schien ihm, 
dass sich Frau M. wieder bewege, und nun nahm er einen Ofen¬ 
kratzer und hieb damit mit voller Kraft auf das Gesicht und den 
Kopf der Frau ein. W. ging nun mit N., der Schmiere gestanden, 
nach einem Keller, wo W. sich die Hände gewaschen; sie theilten das 
Geld, kneipten bis Nachmittags, gingen alsdann zu einem Schneider 
und Hessen sich Proben zu einem Anzug vorlegen. Sie renommirten 
hier mit dem Gelde, erzählten, dass sie eine Alte todt gemacht hätten, 
morgen werde es an der Litfasssäule stehen. W. hat sich später gerühmt, 
wie er sich zu verstellen verstanden habe, um sich bei seiner Mutter 
nicht zu verrathen, als diese ihm am Tage nach der That weinend 
um den Hals gefallen sei und erzählt habe, dass die Frau M. ermordet 
worden sei. 


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Ueber jugendliche Mörder und Todtschläger. 


133 


Beide Complicen sind geständig gewesen und auch des Mordes 
überführt worden. Sie sind mit dem höchst zulässigen Strafmaass, 
mit 15jährigem Gefängnisstrafen belegt worden. 

W. ist ehelich geboren und im elterlichen Hause erzogen. Die 
Erziehung war eine wenig günstige; er soll schon als Kind mit 
dem Messer auf den Vater losgegangen sein. Bei seinem Zugang 
in die Anstalt am 15. September 1892 war W. mässig kräftig, im 
Allgemeinen gesund. Schädel- wie Gesichtsbildung sind regelmässig; 
der Gesichtsausdruck hatte trotz der Rohheit der einzelnen Züge zeit- 



Fig. 5 a. (W. 1890). Fig. 5 b. (W. 1901). 


weise etwas Gewinnendes, Harmloses. Die Stirn ist gut gewölbt; 
die Nase breit und geradlinig, die Jochbeinhöcker wenig hervortretend, 
Unterkiefer schmal und spitz. — Sein Verhalten während der Ge¬ 
fangenschaft ist sehr verschieden; er hat keine Einsicht in seine 
Lage trotz seines Geständnisses, keine Spur von Gewissensbissen und 
von reuigem Gefühl. Er hat oft ein schwachsinniges Benehmen, 
zeigt sich kindisch, läppisch. Er benimmt sich in der ersten Zeit 
häufig sehr frech, widersetzt sich wiederholt der Hausordnung und 
wird schwer bestraft. Er ist immer zufrieden und heiter, entwickelt 
sich körperlich zu einem kräftigen starken Menschen und zeigt auch 
jetzt keine besonderen Degenerationszeichen. „Man muss sich das 
Leben nicht verbittern lassen,“ äussert er häufig. Er ist ungemein 


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134 


VI. Baer 


eitel, hält viel auf sein Aeusseres und meint selbst, dass er sich 
freue, was für ein Kerl er sei. — W. ist ein willenloser unselbständiger 
Charakter, ein beschränkter, schwachsinniger Mensch, der ohne Spur 
von Gemüth, keine Hoffnung auf Aenderung seiner Gefühlsart und 
auf Besserung zulässt. 


14. N., Otto, Arbeiter, am 31. Januar 1875 ehelich geboren und 
bei den Eltern erzogen, wegen Sachbeschädigung mit drei Monaten 
Gefängniss vorbestraft, ist der Complice von dem vorher genannten W. 
und wegen derselben Strafthat, wegen Mordes und Raubes zu 15 Jahren 



Fig. (Sa. (N. 1890). Fig. N Ob (N. 1901). 

Gefängniss verurtheilt. Bei seinem Zugang in die Anstalt am 29. Oc- 
tober 1892 war er vollkommen gesund befunden. Er weist die An¬ 
gaben des W., dass er der Urheber des Mordes gewesen, zurück; er 
sei nur als Mitwisser bei dem Raub betheiligt gewesen. 

N. war körperlich gut und kräftig entwickelt, 170 cm gross; die 
Stirn ist hoch und breit, der Schädel gleichmässig gewölbt, Ohren 
gross, Unterkiefer stark prognath. Er hat sich im Laufe der Ge¬ 
fangenschaft nach 10 Jahren regelmässig weiter entwickelt, ist jetzt 
(1901) nur sehr mässig genährt. Der Horizontalurafang des Kopfes)be¬ 
trägt jetzt 57 cm (vorderer Umfang 29, hinterer 28), Längendurchmesser 
118 mm, Breitendurchmesser 114, die Kopf- resp. Schädelhöhe 117, 
Stirnhöhe 52, Stirnbreite 42. Das Hinterhaupt ragt stark hervor. Die 


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Ueber jugendliche Mörder und Todtschläger. 


135 


Gesichtshöhe A beträgt 117, die Gesichtshöhe B 112 mm. Die Joch- 
breite 12,8, die Unterkieferbreite 1 1 , 5 , Körperlänge 174, Spannweite 
173 cm, Körpergewicht 62 kg; die Nase ist 5,7 cm lang und 3 cm 
breit Der Gaumen ist breit, niedrig, Augenbrauengegend hervortretend 
Augenbrauen nicht zusammenfiiessend. 

N. war in der ersten Zeit seiner Gefangenschaft sehr verstockt, 
häufig gedrückt, später mehr gefasst Die Reue war nur scheinbar 
und das Geständniss nur ein theilweises. Er schreibt viel an seine 
5 Geschwister, hängt mit inniger Liebe an Mutter und Geschwistern. 
Er schickt ihnen häufig Geldgeschenke, und als er im October 1900 
die Nachricht von dem Tode der Ersteren erhielt, war er lange tief 
ergriffen. Er war auch in den früheren Jahren häufig schwer ver¬ 
stimmt und niedergedrückt „Ihm sei so traurig zu Muthe, meint er 
(1894), wenn er so an Alles zurückdenkt; er könne es nicht über 
sich bringen, dass er sich mit so etwas habe abgeben können.“ Er 
denkt am liebsten an seine kleinen Geschwister und weint dabei viel. 
Auch später wird er beim Anblick der Photographien der Seinigen weinend 
gesehen. Im Jahre 1897 bittet er in strenge Einzelhaft wieder ver¬ 
legt zu werden, da er die guten Grundsätze, die er für sein späteres 
Leben gefasst, in der Gemeinschaftshaft nicht aufrecht erhalten könne. 
Im Jahre 1895 und später im Jahre 1899 hat er trotzdem einen sehr 
verwegenen Fluchtversuch gemacht Im September 1901 gesteht er 
uns persönlich unter Tbränen, dass er viel an sein Verbrechen denke 
und häufig des Nachts. „Er möchte es gern wieder gut machen, 
wenn er es könnte. Er bedaure stets diese That und begreife nicht, 
wie er dazu gekommen. Er habe viel Reue und wollte für seine 
Mutter sorgen, wenn er heraus käme, nun sei sie gestorben.“ 

15. Einen der entsetzlichsten Fälle von Raubmord bildet der 
nachstehende. 

Der Arbeitsbursche Paul Sch., am 10. November 1877 bei Brom¬ 
berg geboren, ist wegen Ermordung einer Frau und ihres Kindes zu 
15 Jahre Gefängnissstrafe verurtheilt und verbüsst diese Strafe seit 
dem 15. April 1893 in der Gefangenanstalt zu Plötzenaee. 

Sch. hat im Jahre 1892 bei seinen Eltern gewohnt Im Keller¬ 
geschoss dieses Hauses bewohnt der Schneidergeselle L. mit seiner 
30jährigen Ehefrau und dem 2 Vi jährigen Söhnchen Hans drei nach 
vom und drei nach hinten liegende Räume. Zum ersten Vorderraum 
führt von der Strasse aus eine 6 Stufen haltende Kellertreppe durch 
eine Holzthür, die am Tage immer offen gehalten wird und an 
welcher eine Klingel angebracht war, die beim Oeffnen und Schliessen 

Archiv für Kriminalanthropologie. XI. 10 


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136 


Vf. Baeb 


anschlägt In diesem Vorderraum betrieb Frau L. ein kleines Grün- 
waaren- und Victualiengeschäft Von diesem Raum aus führt eine 
Thür in ein Zimmer, in welchem eine von den Nachbarn benutzte 
Wäscherolle aufgestellt war, und an diesen Raum grenzte die Schlaf¬ 
stube der Familie L. Der Ehemann ging gewöhnlich des Morgens 
6 Uhr zur Arbeit und kehrte Abends nach 6 Uhr zu seiner Familie 
zurück. 

Paul Sch. war oft in diese Räume gekommen und wusste, dass 
die Loschen Eheleute in der Wohnung Geld aufbewahrten. Ende 1892 
hatte er keine Arbeit und kein Geld; die Eltern drangen in ihn, sich 
Arbeit und Verdienst zu verschaffen. Er wusste sich im Januar 1893 
durch einen unentdeckten Diebstahl 27 Mk. zu verschaffen, hatte aber 
dieses Geld verausgabt. Ihm fehlte es auch an Geld, sich die noth- 
wendigste Kleidung und Wäsche zu besorgen. Er kam, wie er in 
seinem Geständniss aussagte, auf den Gedanken, Frau L. in ihrer 
Wohnung zu überfallen und zu berauben. Er wollte anfänglich der 
Frau L., um von ihr nicht erkannt zu werden, eine Schürze über den 
Kopf werfen, sie knebeln und dann das Geld stehlen. Da er indessen 
befürchtete, dass er nicht kräftig genug wäre, sie zu überwältigen, so 
beschloss er, sie zu tödten; da er kein Mordinstrument besass, so 
beschloss er das Rollholz hierzu zu benutzen. Er verschob diesen 
Plan mehrfach, nur weil der rege Verkehr auf der Strasse und im 
Keller selbst ihn hinderte. Am 1 . Februar 1893 Abends nach V 26 Uhr 
sah er durch die erleuchteten Fenster, dass Frau L. mit dem kleinen 
Hans sich in der Schlafstube befanden, und dass die zu dieser führende 
Thür geschlossen war. Auf der Strasse war kein Verkehr. Sch. stieg 
durch die äussere Holzthür in den Laden, hielt den Glockenklöppel 
fest, um das Klingeln zu verhüten, schraubte die Petroleumlampe im 
Laden herunter, schlich sich in die Rollkammer, ergriff das Mangel¬ 
holz, welches ca. 7 kg schwer war, und stellte sich in die Glasstuben¬ 
thür. Er stiess mit dem Rollholz mehrere Male auf den Fussboden 
auf, und als Frau L die Thür geöffnet und die Schwelle kaum über¬ 
schritten hatte, schlug Sch. mit dem Rollholz derartig auf ihren Kopf, 
dass sie lautles zu Boden fiel. Im Fallen riss sie das ihr dicht ge¬ 
folgte Kind mit zu Boden, und als dieses zu schreien anfing, warf Sch. 
das Rollholz ihm derartig wuchtig an den Kopf, dass dasselbe sofort 
verstummte. Sch. nahm nunmehr das in der Seitentasche der Frau L. 
befindliche Geld (3 Mk.), zertrümmerte mit dem Rollbolz die obere 
Platte der Kommode, entnahm aus der ersten Schublade 150 M. ein¬ 
gewickeltes baares Geld und aus der zweiten Schublade ein Etui mit 
goldener Damenuhr und unechter Kette. Er entfernte sich nunmehr 


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Ueber jugendliche Mörder und Todtschläger. 


137 


schleunigst ans der Wohnnng nnd als er beim Vorbeigehen be¬ 
merkte, dass Frau L. noch Lebenszeichen von sich gab, stach er mit 
einem auf dem Tisch liegenden Messer in ihren Hals und Hess das¬ 
selbe in der Wunde stecken. Er verliess unbemerkt das Haus. Der 
ganze Vorgang hatte kaum eine Viertelstunde gedauert. Nach 6 Uhr 
war der Mord entdeckt; der Knabe verschied bald darauf und Frau L. 
3 Stunden später. Sch. ging gleich nach der Mordthat zu einem 
Uhrmacher, um einen Uhrschlüssel zu der Uhr (Remontoir) zu kaufen; 
dort erfuhr er, dass er zu dieser Uhr keinen Schlüssel brauche. Er 
zeigte dieselbe am nächsten Morgen bei einem Uhrmacher in der 
Oranienstrasse. Er ging selbst zu seiner Tante H. und übergab 
dieser unter Vorspiegelung falscher Thatsachen 65 Mk. und die Uhr 
zur Aufbewahrung, kaufte sich einen Anzug, Hut, Shlips, eine Uhr, 
liess sich photographiren, vertrank und verprasste viel Geld und trieb 
sich mit einem Freunde umher. In einem Laden, wo er diese Ein¬ 
käufe machte, gab er seinen richtigen Namen an. Er hielt sich zum 
Theil bei seiner Tante H. auf und zeigte sich in den ersten Tagen 
scheinbar ruhig, suchte sich aber zu zerstreuen und in Vergnügungs¬ 
und Tanzlokalen Vergessenheit zu finden. Er lebte, wie er in seinem 
Geständniss aussagte, in steter Furcht und wurde namentlich gegen 
Abend von einer namenlosen Angst befallen. Er bat seine Tante in¬ 
ständigst, bei ihr bleiben zu dürfen. „Lass mich nicht allein schlafen“ 
bat er diese, „lass mich auf den Stühlen oder lass mich unter dem 
Bette schlafen“. Später kehrte er in die elterliche Wohnung zurück 
und gab seiner Mutter 25 Mk. als Beibülfe zur Miethe. Nach kaum 
einer Woche wurde er am 12. Februar von hier aus verhaftet 

Das Gericht verurtheilte ihn, ohne sein Geständniss als straf¬ 
mildernd in Betracht zu ziehen, mit Rücksicht auf die ganz ausser¬ 
ordentliche Verworfenheit und Ruchlosigkeit der an den Tag gelegten 
Gesinnung zu der höchsten zulässigen Strafe, zu 15 Jahren Gefängnis¬ 
strafe. Bios um seine Habgier zu befriedigen, habe er zwei Menschen 
nm’s Leben gebracht 

Paul Sch. ist der eheliche Sohn unbescholtener Eheleute. Der 
Vater ist Schuhmacher und von Scbneidemühl nach Berlin verzogen. 
Er besuchte hier die Gemeindeschule und hat sich gute Kenntnisse 
angeeignet. 

Bei seiner Einlieferung in die Anstalt am t7. April 1893 war 
er für sein Alter, 15 Jahr, gross gewachsen und gut genährt. 
Sein Gesichtsausdruck und seine Gesichtsbildung hat sich im Laufe 
der Jahre ungemein verändert. Sein früher kindliches, fast un¬ 
schuldiges Aussehen hat sich bis zu einem unheimlichen, widrigen 

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[76 cm), 
e lange 
















Ueber jugendliche Mörder und Todtschläger. 


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spitze Nase ragt stark hervor, Mund und Kinn treten nach innen und 
hinten zurück. Das Gesicht hat ein vogelartiges Aussehen, zeitweise 
mit einem im höchsten Grade widrigen, abstossenden Ausdruck. 

Der Horizontalumfang des Kopfes beträgt jetzt (Juli 1901) 56 cm, 
der vordere wie der hintere 28 cm; der Längendurchmesser 195 mm, 
der Breitendurchmesser 145, die Kopf höhe 116, die Stirnhöhe 63, Stirn- 
breite 134; der Hinterhauptshöcker ragt mächtig stark hervor. Die 
Gesichtshöhe A beträgt 17,0, die Gesichtshöhe B 11,7 cm; die Augen¬ 
brauenbogen ragen stark hervor, die Augenbrauen nicht zusammen- 
fliessend; die Körperlänge beträgt 176 cm, die Spannweite 181, Körper¬ 
gewicht 69,5 kg, die Jochbeinhöcker stehen 13,0 cm weit von einander 
ab, die Unterkieferbreite 16,6; die Nase ist 6,3 cm lang, 3,2 breit; 

„ Ohren sind gross, Ohrmuschel verkrüppelt nach hinten sitzend; Ohr¬ 
läppchen angeheftet; Gaumen breit, flach. Oberkiefer stark prognath, 
Gesicht asymmetrisch. Der Blick ist ungemein finster, stechend, die 
oberen Augenlider, insbesondere das linke, hängen schlaff herab; an 
diesem ist eine Narbe vorhanden. Die Lippen sind dünn, der Mund 
breit, Kinn spitz und schmal, Haar braun und dicht. Der Gesichts¬ 
ausdruck hat stets einen tiefernsten, eisigen Ausdruck, der bei ge¬ 
wissen Stimmungen und zu gewissen Zeiten abschreckend wild und 
widrig wird. Er ist sehr blass geworden und in der Ernährung 
heruntergekommen. 

Sch. ist während der ganzen Strafzeit (seit 1893) immer tief ver¬ 
schlossen, in sich gekehrt, stets unzufrieden, nur vorübergehend 
mittheilsam und zugänglich. Sein ganzes Sinnen und Trachten war 
stets darauf gerichtet, aus der Gefangenschaft zu entkommen und 
hierzu hat er die raffinirtesten und kaum glaublichen Machinationen 
in’s Werk gesetzt In den ersten Jahren seiner Haft hat er mehr¬ 
fache Fluchtversuche gemacht; er hat die Fenstertraillen durchfeilt 
und sich eine Strickleiter angefertigt; er hat die Steine der Zellen¬ 
wand herausgenommen und versucht in den Heizkanal zu gelangen; 
er hat in sehr geschickter Weise die Thürbekleidung an dem Zellen¬ 
schloss zu entfernen versucht, um in der Nacht aus der Zelle zu ent¬ 
kommen und wie vermuthet wird, einen Aufseher niederzuwerfen und 
zu entfliehen. Als ihm diese Manipulationen durch die sorgsame 
Ueberwachung des Aufsichtspersonals nicht gelungen waren, versuchte 
er in J s Lazareth zu kommen, um von dort aus seinen Ausbruch besser 
zu ermöglichen. Er schob sich ganz feine Lederstückchen — Sch. war 
als Schuhmacher beschäftigt — unter die Augenlider und führte sich 
eine sehr heftige Augenbindehautentzündung herbei; er verweigerte später 
die Nahrung, machte einige Tage nachher einen Selbstmordversuch, in- 


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140 


VI. Baer 


dem er sich die Pulsader am linken Arm anzuschneiden versuchte, stört 
in der Kirche den Gottesdienst und gesteht selbst, dass er dies gethan, 
um als geistesgestört zu gelten. — Schon vorher hat er zu einem 
anderen, niederträchtigen Mittel gegriffen. Er gab (1894) mit An¬ 
führung der genauesten Einzelheiten an, dass sein Onkel H. den Mord 
in dem L.’sehen Keller mit Hülfe seines Vaters ausgefübrt, dass auch 
seine Tante Mitwisserin dieser That sei. Diese Angaben haben sich 
bei seiner polizeilichen Confrontirung mit dem Onkel und Vater als 
Lug und Trug ergeben. Er hat selbst angegeben, dass er gehofft 
hatte, auf dem Wege zum Termin auf dem Polizeipräsidium ent¬ 
springen zu können. — Im Jahre 1897, nachdem er einige Jahre von 
seinen Entweichungsversuchen abgelassen hatte, entkam er aus dem 
Dachfenster seiner Arbeitsbaracke und hielt sich in eisiger Winters¬ 
kälte eine ganze Nacht unter der Closetverkleidung verborgen. Und 
in der allerjüngsten Zeit (September 1902) wusste er auf dem Boden, 
auf welchem er mit einem anderen Gefangenen zeitweise Arbeiten zu 
verrichten hatte, einen schweren Eisenhammer zu verbergen und ver¬ 
suchte mit diesem jenen durch einen wuchtigen Schlag auf den 
Kopf zu beseitigen und eine sehr gewagte, missglückte Entweichung 
auszuführen. Für dieses schwere Verbrechen, für den Mordversuch, 
wurde Sch. vom Schwurgericht (November 1902) mit 15 Jahren 
Zuchthaus verurtheilt. Bei allen diesen Fluchtversuchen, die im Laufe 
von 9 Jahren zu verschiedenen Zeiten ausgefübrt sind, ist Sch. stets 
mit klarster Ueberlegung vorgegangen, er hat sie lange Zeit mit grosser 
Schlauheit vorbereitet und immer den richtigen Zeitpunkt gewählt, 
um sie auszuführen. 

Es haben sich bei Sch. niemals Zeichen von fixirten oder vorüber¬ 
gehenden Wahnideen gezeigt, niemals Zustände abnorm gesteigerter 
Affecte, niemals Zustände von Bewusstseinsstörungen, von Erinnerungs- 
defecten oder von Zwangshandlungen erkennen lassen. Er war stets 
gut orientirt und im Besitz derjenigen geistigen Eigenschaften, welche 
seine Einsicht in die Folgen seiner Handlungen nicht ausschlossen. 
Häufig hingegen war bei ihm der Zustand seiner Stimmung, seines 
Gefühls- und Gemüthslebens krankhaft und abnorm beschaffen. Er war 
und ist tief verschlossen, mürrisch, nur äusserst selten zugänglich 
und mittheilsam. Er hat niemals eine Spur von Reue über seine Ver¬ 
brechen zu erkennen gegeben und Hess sich niemals zu einer Aeus- 
serung über diesen unglücklichen Punkt seiner Vergangenheit herbei. 
Er schiebt die ganze Schuld auf die harte und lieblose Erziehung, die 
er genossen, auf die schlechte Behandlung, welche ihm von seinem 
Vater zu Theil geworden. „Seine Eltern haben immer von ihm Geld 


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Ueber jugendliche Mörder und Todtschläger. 


141 


verlangt, haben auf ihn geschimpft, er durfte nicht zu Hause bleiben 
und musste sich immer herumtreiben. Und so habe er zu stehlen 
angefangen.“ — In der ersten Zeit seiner Haft hat sich Sch. viel mit 
Zeichnen beschäftigt; wollte eine Flugmaschine construiren, machte 
allerhand Zeichnungen zu derselben und wollte sich diese Entdeckung 
patentiren lassen. Er grübelt auch sonst über Religion und ist mit 
frommen Gedanken beschäftigt Er schreibt konfuse Briefe, macht 
Gedichte, will im Traum Stimmen hören. Seine Strafzeit werde 
bald zu Ende sein, es werden Wunder geschehen. Er schreibt an 
seine Mutter: „Alles sieht mich ärgerlich an und doch bin ich nicht 
daran schuld. Ja mir wäre am liebsten, mein Ende wäre auf dem 
Block gewesen, dann wäre ich gestorben und brauche mich hier nicht 
mit den wirren Gedanken zu ärgern, aber Gott sei es anheimgestellt, 
wozu er es zum Besten lenkt“ Sein Gefühls- und Gemüthsleben 
äussert sich auch in wechselnder explosiver Form. Hin und wieder 
schickt er seinen Eltern Geld von seinem Arbeitsverdienst, bittet 
eindringlich um ihren Besuch und freut sich mit ihnen, ein anderes 
Mal will er Nichts von ihnen wissen, wendet er sich in bösem Zorn 
von ihnen ab. Alle diese Anomalien des Gefühlslebens gehen vorüber; 
sie sind nicht bleibend und wechseln in verschiedener Zeit ab. 

Körperlich ist Sch. stets gesund, er war niemals krank; er hat 
während seiner ca. 10jährigen Haft, wie er selbst sagt, stets gut ge¬ 
schlafen und gegessen. Es lassen sich bei ihm, wie schon angeführt, 
viele Degenerationszeichen nachweisen. Gesicht und Schädel sind 
asymmetrisch, der Kopf spitz nach hinten mit starken Hinterhaupts¬ 
höckern; die Ohren sind sehr missgestaltet, Ohrläppchen fehlen; die 
Spannweite ist grösser als die Körperlänge, Oberkiefer prognath, 
Nase sehr lang und spitz; das Auge ruhig, lauernd. 

Sch. ist jetzt nach langer Strafzeit andauernd stumpf, eiskalt, 
unter dem Druck schwerer Depression seelisch zweifellos abnorm. 
Und wenn sein Geisteszustand auch nicht der Art ist, dass seine Wil¬ 
lensbestimmung als ganz ausgeschlossen erachtet werden kann, bo ist 
er doch ein andauernd minderwerthiger, ein geistig hochgradig defecter 
Mensch, der auf der äussersten Grenze zwischen Geistesgesundheit 
— und Geisteskrankheit steht 


16. Der Barbierlehrling Richard L. ist am 11. März 1878 in Berlin 
geboren. Als er zwei Jahre alt war, waren seine beiden Eltern be¬ 
reits verstorben, der Vater an den Folgen der Schwindsucht. Er 


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142 


VI. Bajbr 


wurde bis zum 7. Lebensjahre von Verwandten und später in einer 
öffentlichen Erziehungsanstalt erzogen. Im Jahre 1892 kam er zu 
dem Barbierherm A. in die Lehre, entlief in wenigen Monaten 
dreimal von dort und entwendete das letzte Mal seinem Lehrherrn 
24 Mark. Er flüchtete nach Kiel zu einem Onkel, wollte nach 
Dänemark, wurde aber verhaftet nach Berlin gebracht und hier zu 
einer Woche Gefängniss verurtheilt Auf Bitten seiner Verwandten 
nahm ihn der frühere Lehrmeister A. wieder in die Lehre; hier nahm 
er mit den Kindern seines Lehrherm wiederholt unzüchtige Hand¬ 
lungen vor, entlief bald wieder und wurde schliesslich in die städtische 
Besserungsanstalt gebracht Wegen der sehr strengen Zucht liess sich 
L. hier nichts zu schulden kommen und wurde 1893 im August bei 
dem Barbierherrn W. zu K. untergebracht unter der Bedingung, dass 
er bei der kleinsten Unredlichkeit auf der Stelle entlassen werde. 
Sehr bald machte er sich einer geringen Unterschlagung verdächtig, 
und da er fürchtete, dass er entlassen und ausserdem gerichtlich 
bestraft wieder in die Erziehungsanstalt kommen werde, so fasste 
er, wie er selbst angegeben hat, den Entschluss zu entfliehen und 
gleichzeitig eine solche Strafthat zu begehen, dass er eine recht 
lange Gefängnisstrafe bekommen müsste, sodass er aus dem Gefäng- 
niss in einem Alter entlassen würde, in welchem er nicht mehr in 
die Correctionsanstalt kommen könnte. Er fürchtete nach seinem Ge¬ 
ständnis vor Gericht die strenge Zucht und die Behandlung in der 
Correctionsanstalt, zumal diese im Gefängniss eine viel bessere sei. 
Nach reiflicher Ueberlegung entwendete er Abends, als die W.’schen 
Eheleute sich auf den Hof begeben hatten, die Ladenkasse mit circa 
18 Mk., nahm das 4jährige, in tiefem Schlaf befindliche Kind Lucie W. 
aus dem Bett, wickelte es in seinen Mantel ein, lief mit der Kasse 
und dem Kinde bis zum Kanal und warf letzteres in diesen hinein. 
Das Kind war des niedrigen Wasserstandes wegen nicht ertrunken, 
sondern auf die Böschung geklettert und nach langer Bemühung 
wieder in’s Leben zurückgerufen. Mit einer mitgenommenen Feile 
öffnete L. die Kasse und fuhr mit der Eisenbahn nach Berlin, 
um sofort von hier weiter zu fahren und, wenn ihm das wenige 
Geld ausginge, sich bettelnd weiter durchzuschleppen. Er wurde je¬ 
doch bald verhaftet und räumte die begangene That unumwunden ein. 
Als Motiv für sein Vergehen bezüglich der Lucie hat er früher an¬ 
gegeben, dass er sich an den Vater des Kindes rächen wollte, weil er 
ihm mit der Entlassung drohte, später gab er jedoch bestimmt an, 
dass er sich durch diese Handlung die lange Gefängnissstrafe zuziehen 
wollte. 


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Ueber jugendliche Mörder und Todtschlägcr. 


143 


Das Gericht nahm als strafmildernd die Jugend und die mangel¬ 
hafte Erziehung des L. an und verurtheilte ihn wegen des Mord¬ 
versuches, des Sittlichkeitsverbrechens, der Körperverletzung und der 
Unterschlagung, sowie des Diebstahls zu einer Gefängnissstrafe von 
6 Jahren. 

L. ist am 2. Mai 1894, noch nicht 15 Jahre alt, in die Abtheilung 
für Jugendliche eingebracht worden. Er war körperlich für sein Alter 
noch wenig entwickelt, klein und schlecht genährt. Der Brustkorb 
war flach und schmal, Fettgewebe und Musculatur spärlich, der 
allgemeine Ernährungszustand sehr 
mangelhaft. Der Kopf war hoch 
und kugelig, die Stirnhöcker stark 
ausgeprägt, die Stirn hoch und 
breit Die Ohren gross, nach 
hinten stehend. Unterkiefer breit 
und das Kinn rund; Nase lang 
und breit Das Gesicht war sym¬ 
metrisch gebildet, mit dem Aus¬ 
druck einer einfältigen kindlichen 
Gutmütigkeit und einer zurückge¬ 
bliebenen Entwicklung. Er hatte 
sich schon in der Erziehungsanstalt 
als ein geistig wenig begabter 
Knabe gezeigt, der hinter seinen 
gleichaltrigen Kameraden weit zu¬ 
rückgeblieben war. In der Correc- 
tionsanstalt wird er als schläfriger, 
ziemlich stumpfsinniger, unauf- 
merksamerZögling bezeichnet, wel¬ 
cher sich meist jüngeren Genossen angeschlossen. Er zeigte bösartige 
instinktive Neigungen, musste sehr streng gehalten werden und wurde 
oft ihretwegen gezüchtigt. Er hat sich schon früh, wie angegeben 
worden ist, abnormen, sexuellen unsittlichen Handlungen hingegeben 
und beging ausserdem noch andere, die für seine minderwerthige 
Organisation sprechen. So hat er dem Erich A. ohne jede Veran¬ 
lassung ein glühendes Messer gegen die Backen gehalten, angeblich 
um zu sehen, ob es diesem weh thun würde. 

In der Gefangenanstalt zeigte er eine grosse Gleichgültigkeit und 
Stumpfheit, und immer eine gleich ruhige, zufriedene Stimmung. Er 
soll in früherer Kindheit epileptisch gewesen sein; während seiner 
6 jährigen Gefangenschaft sind Zeichen einer solchen nicht beobachtet 



Fig. 8 <L.). 


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144 


VI. Baer 


worden. Er war immer als ein mit angeborenem Schwachsinn und 
zurückgebliebener geistiger Entwicklung behafteter Mensch angesehen 
worden. Im Frühjahr IS96 stellten sich bei L. die deutlichen Zeichen 
eines schweren Lungenleidens ein und ist er am 22. Juni ej. an 
Lungenschwindsucht gestorben. 


17. u. 18. Nachstehender Mordfall bildet ein grausiges, viel be¬ 
sprochenes Ereigniss, das lange Zeit das öffentliche Interesse be¬ 
schäftigt hat Der Arbeitsbursche Bruno W. und der Laufbursche 
Willy G., beide aus Berlin, haben gemeinschaftlich am 18. October 1896 
den Justizrath L. in Berlin mit Vorsatz und Ueberlegung getödtet 
und dessen Frau mit Vorsatz und Ueberlegung zu tödten versucht. 
Beide sind am 1. December 1896 wegen des gemeinschaftlichen, 
theils vollendeten, theils versuchten Mordes, sowie wegen der ihnen 
zur Last gelegten Diebstähle zu je 15 Jahren Gefängnissstrafe ver¬ 
urteilt worden. Sie befinden sich Beide seit dem 16. December 1896 
in dem Strafgefängniss zu Plötzensee. 

Wir entnehmen auch hier den gerichtlichen Feststellungen nach¬ 
stehende Thatsachen. Zur Zeit als Beide das grässliche, das ungeheuer¬ 
lichste Aufsehen erregende Verbrechen begangen hatten, war W. 16 3 /4 
und G. 16 ’/j Jahr alt. Beide wareD, da ihre Familien seit langem in 
demselben Hause wohnten, schon aus der Enabenzeit bekannt. Beider 
Väter waren vor einigen Jahren gestorben und sie selbst fanden 
Wohnung und Unterhalt bei ihren Müttern. Ihre Freundschaft war 
nach ihrer Einsegnung eine um so innigere, als sie beide Schreiber 
bei Rechtsanwälten wurden. 

W. war vom 15. April 1894 bis 1. Januar 1896 bei dem Justiz¬ 
rath L. als Schreiber beschäftigt und wegen eines begangenen Dieb¬ 
stahls entlassen. Bis zum 8. Mai 1896 fand er alsdann eine gleiche 
Stellung bei dem Rechtsanwalt G., später war er abwechselnd kurze 
Zeit in verschiedenen Geschäften thätig. — G. war in gleicher Weise 
bis Mai 1896 bei verschiedenen Berliner Rechtsanwälten und dann in 
verschiedenen Geschäften als Laufbursche in Stellung. Beide befanden 
sich, da sie mehr verausgabten als ihre Stellen einbrachten und sie 
auch häufig stellenlos waren, fortgesetzt in Geldnoth, und da sie in 
inniger Verbindung geblieben waren, beschlossen sie, gemeinschaftlich 
Diebstähle auszufübren. Einzeln und gemeinsam unternahmen sie 
solche in raffinirter Weise insbesondere in ihren früheren Arbeits¬ 
stellen mittelst Einsteigens in Wohnräume und Erbrechens von ver¬ 
schlossenen Behältern. Auf Anregung von W. beschlossen Beide, in 
die Wohnung seines früheren Dienstherrn, des Justizrath L., einzudringen 


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Ueber jugendliche Mörder und Todtscbläger. 


145 


und aus dem im Bureau befindlichen Geldspinde Geld zu entwenden. 
Zu diesem Zwecke musste der Schlüssel zu diesem Spinde, welchen 
der Justizrath L. nach der Vermuthung W.’s in der von ihm und seiner 
Ehefrau gemeinschaftlich benutzten Schlafstube verwahrt hatte, beschafft 
werden. Sie kamen nach langer Besinnung überein, jeden sich etwa ent¬ 
gegenstellenden Widerstand des Ehepaares L. mit Gewalt zu beseitigen. 
Sie kauften sich zu diesem Zweck etwas Bindfaden, um die Eheleute 
zu knebeln; gingen aber von diesem Plane ab, da W. befürchtete, von 
dem Justizrath L. erkannt zu werden. Sie beschlossen diese zu tödten, 
falls sie bei der Entwendung des Geldschlüssels erwachen und ihnen 
irgendwie hinderlich würden. W. und G. kauften am 15. October 1896 
zwei grosse, scharfgeschliffene, sogen, schwedische Dolchmesser, be¬ 
sichtigten am Abend desselben Tages die Lage der Loschen Wohnung 
und den Zugang zu dieser vom Hausflur und vom Hofe aus. Sie 
wollten am 16. October in der Frühe an dem vorderen Wohnungs¬ 
eingang der Loschen Wohnung klingeln, das Dienstmädchen, welches 
die Zimmerthür öffnet, niedermachen und in die Schlafstube eindringen. 
Die Ausführung dieses Planes wurde jedoch an diesem wie am an¬ 
deren Tage vereitelt, weil am ersten Tage bereits Bewohner des Hauses 
auf dem Hofe beschäftigt waren, und am zweiten Tage (am 17. October), 
weil sie nach ihrem Anklingeln an der Loschen Wohnung das Ge¬ 
räusch von zuklappenden Thüren und Stimmen von mehreren Per¬ 
sonen hörten. Sie verloren alsdann den Muth und eilten davon. Am 
18 . October sind sie in aller Frühe durch ein Flurfenster über eine 
Gallerie in das Schlafzimmer des L.’schen Ehepaares eingedrungen. 
Die wach gewordene Frau L. schrie laut: „Wer ist da?“ worauf W. 
sofort mit gezücktem Messer auf sie eindrang und losstiess, ohne in 
der Dunkelheit zu sehen, wohin er gestossen. Frau L. war im Bett 
zurückgesunken und hatte das Bett über sich gezogen. Auch G. stiess 
auf sie ein, und als sie Hilfe rufend sich erhoben, drückte er sie mit 
der linken Hand packend in das Bett zurück, und verwundete sich 
selbst beim eifrigen Zustossen in der Dunkelheit an der linken Hand 
derartig, dass er von Frau L. abliess. Dieser gelang es jetzt, hinter 
G. und den Betten herumlaufend, in das Nebenzimmer zu entkommen 
und das im zweiten Zimmer liegende Mädchen zu Hülfe zu rufen. In¬ 
dessen war der aus dem Schlaf erwachte Justizrath L. nach dem 
Fassende des Bettes gekrochen, um seiner Ehefrau zu helfen, und 
ward hierbei von den Stichen der Beiden derartig schwer verletzt, dass 
er blutüberströmt zusammenbrach. In Folge des Hülfegeschreies der 
Frau L. Hessen W. und G. von weiteren Stichen ab und eilten aus 
der Wohnung, wobei G. seinen Dolch noch auf der Gallerie fallen 


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146 


VI. Baer 


Hess. W. wartete unten vergeblich auf G., der schon nach einer anderen 
Richtung gelaufen war und ging nachher langsam bei dem Loschen 
Hause vorbei. Hier traf er das Dienstmädchen laut um Hilfe rufend; 
er fragte, was los sei und versprach ihr einen Schutzmann zu holen. 
Er traf später mit G., der sich die verletzte Hand in einer Sanitäts¬ 
wache hatte verbinden lassen, im Thiergarten zusammen. Sie wan¬ 
delten zusammen weiter und trennten sich in Potsdam. G. wurde am 
21. October in Berlin und W. erst am 29. ej. bei Halberstadt verhaftet 

G. und W. gestanden die That; sie erklärten übereinstimmend, 
dass sie die Tödtung beider Eheleute zu gleicher Zeit geplant und 
beschlossen haben, und dass sie hierbei sich nur in die Arbeit getheilt 
hätten. W. hatte sich schon vor der Begehung der That über die auf 
Mord stehenden Strafbestimmungen erkundigt und G. damit beruhigt, 
dass sie nicht geköpft würden, da sie noch unter 18 Jahre seien. 

Das gerichtliche Urtheil äusserte sich dahin. Beide haben trotz 
ihres jugendlichen Alters ein derartig systematisches, fast zielbewusstes 
Fortschreiten auf der Verbrecherlaufbahn an den Tag gelegt, dass man 
wirklich staunen muss, wie die von ihnen verübten Strafthaten von 
so jugendlichen Personen verübt sein können. In stetig fortschreiten¬ 
der Qualificirung steigerte sich die Schwere ihrer Verbrechen bis zum 
Mord. Lediglich die Sucht nach dem Gelde, die Begierde, grössere 
Geldsummen ihr eigen zu nennen, trieb sie von Stufe zu Stufe auf 
der Verbrecherlaufbahn vorwärts. Für ihre begangenen Strafthaten 
und Verbrechen konnte nur auf das höchst zulässige Strafmaass von 
15 Jahren Gefängniss erkannt werden. 


17. Bruno W. ist am 16. Februar 1880 in Berlin ehelich geboren; 
sein Vater, Kürschner, war 1894 an der Schwindsucht verstorben. Er 
besuchte die Volksschule und Hess sich schon als Kind und auch 
später als Knabe Gesetzwidrigkeiten zu Schulden kommen. 

W. ist bei seinem Zugang in die Gefangenanstalt (16. December 
1896) von kleiner (160 cm) schwächlicher Statur und schlecht genährt 
Die Haut ist blass, die sichtbaren Schleimhäute blutleer. An der 
Halsseite liegen grössere Drüsenanschwellungen, verhärtete Drüsen- 
pakete, Zeichen einer bestehenden Skrophulose. Der Kopf ist hoch 
und schmal, die Ohren sehr gross, Muscheln stark gekrümmt Sein 
gesundheitliches Befinden ist stets ein vortreffliches; er hat immer 
guten Appetit, schläft gut und ist immer zufrieden. Er hat sich zu 
einem kräftigen, starken Menschen entwickelt Er bat jetzt (Juli 1901) 
eine Körperlänge von 172, eine Spannweite von 175 cm und ein 
Körpergewicht von 71 kg. Der Kopfumfang beträgt 56 cm, der 


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Ueber jugendliche Mörder und Todtschläger. 147 

vordere Horizontalumfang 29, der hintere 27 cm, der Längendurchmesser 
174 der Breitendurchmesser 141 mm; das Hinterhauptsbein ist flach. Die 
Schädel- resp. Kopfhöhe 11,7, die Stirnhöhe 6,4 cm, die Stirnbreite 13,2, 
die Gesichtshöhe 11,8, die Jochbein breite 12,8, der Unterkiefer 11,3; 
die Nase 4,9 lang, 3,4 cm breit; die Ohren sind gross, weit nach hinten 
stehend, Muschelrand oben stark verkrüppelt, Gaumen sehr hoch und 
schmal. Augenbrauen nicht zusammenfliessend. Das Gesicht hat nicht 
selten einen sympathischen, ansprechenden, zeitweise aber auch einen 
düsteren, unheimlichen Ausdruck, der Blick ist lauernd, zeitweise bei 



Fig. 9 a (W., 1896). Fig. 9 b (1901). 


geeigneter Gelegenheit ausserordentlich stechend, durchbohrend und 
unangenehm. 

W. ist immer verschlossen, kalt, ohne jede erkennbare Spur von 
Reue und Gewissensbissen. Er spricht ungern und abweichend von 
seiner Vergangenheit. Es ist ihm sichtlich unangenehm, wenn er an 
seine That erinnert wird. In der ersten Zeit seiner Haft soll er des 
Nachts hin und wieder unruhig gewesen, aus dem Bett gesprungen 
sein und an die Zellenthür geklopft haben aus innerer Angst und Un¬ 
ruhe. Seine Führung war in der ersten Zeit keine gute, er war 
wiederholt disciplinirt. In den letzten Jahren weiss er sich in die 
Hausordnung sehr wohl zu fügen und ist stets fleissig und ordnungs¬ 
liebend. Er hat keine geistigen Interessen; obschon er angeblich viel 


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148 


VI. Baer 


Romane und dergl. in seiner Kindheit gelesen haben soll. Er lebt 
jetzt in ruhigstem Gleichmuth und ist während der mehrjährigen Ge¬ 
fangenschaft nach wie vor ohne jede seelische Erregung, ohne jeden 
Gemiithszweifel gewesen; in gleicher Ruhe und in zufriedener Stimmung 
ist er körperlich und geistig gesund geblieben. Bei seiner eisigen Kälte 
und stets gleich scheinender Gleichgültigkeit war es doppelt über¬ 
raschend, dass er jüngst aus sich herauskommend eingestand, dass er 
seine Strafthat niemals vergessen könne, dass er täglich an sie denke. 


18. Willy G., der Complice von dem vorigen W., ist am 6. Juli 
1880 zu Berlin ehelich geboren. Der Vater, Postschaffner, ist 1890 
verstorben, als er selbst erst 10 Jahre alt war. Er hat die Ge¬ 
meindeschule besucht und soll daselbst erheblich zurückgeblieben sein. 
Er ist, wie W., wegen gemeinschaftlich mit W. theils vollendeten, theils 
versuchten Mordes und Diebstahls zu 15 Jahren Gefängniss verurtheilt. 

G. soll angeblich als Kind, 7 Monate alt, aus dem Bett auf den 
Fussboden und zwar auf den Hinterkopf gefallen sein. An demselben 
Tage soll er gegen Abend Krämpfe bekommen, die die ganze Nacht 
bis zum Morgen angedauert haben. Später war er angeblich lange 
Zeit hindurch mit der englischen Krankheit (Rachitis) behaftet, hatte 
den Stimmritzenkrampf und konnte erst mit dem 4. Lebensjahre gehen; 
er lernte erst sprechen als er in die Schule ging. Er soll auch später 
und zuletzt im 14. Lebensjahre auf der Strasse Krampfanfälle gehabt 
haben; er soll mit einem Korb Essen hingefallen sein, und die Mutter 
musste polizeilicherseits ermittelt werden, um ihn abzuholen. Auch 
1896 soll er in einem Anfalle auf dem Abtritt in Koth gefallen sein. 
Seit dem 14. Lebensjahre sollen Zustände aufgetreten sein, in denen 
er schwindelig und ganz verwirrt wurde; das Gesicht soll ganz roth 
und aufgedunsen werden, die Augen stille stehen. Er musste sich 
hinsetzen oder hinlegen. Die Schule hat er regelmässig besucht, war 
aber zerstreut, immer zurückgeblieben; er hat schlecht gelernt und 
hat oft seine Sachen vergessen. Der Vater war ein Gewohnheitstrinker. 
Von den später geborenen Kindern, 3 an der Zahl, lebt nur der Willy. 
In der weiteren Familie sollen viele Fälle von Geistesstörungen, Miss¬ 
bildungen, Hydrocephalie Vorkommen. 

Bei seiner Einlieferung (16. December 1896) ist G. für sein Alter 
kräftig entwickelt, von kräftigem Körperbau. Der Kopf ist schmal, 
nach oben und hinten zulaufend, die Stirn sehr hoch und breit, 
etwas zurtickstehend, die Stirnhöcker sehr stark ausgebildet Das 
Gesicht ist asymmetrisch. Die Ohren sind klein, die Ohrmuschel 
oben stark verkrüppelt; Oberkiefer massig und breit, Nase kurz und 


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Ucber jugendliche Mörder und Todtschliiger. 


149 


breit, Oberkiefer prognathisch. An beiden Zeigefingern ist eine läng¬ 
lich verlaufende, gut verheilte Narbe von ca. 4 cm Iiinge. Die Sprache 
ist stotternd. 

G. klagt in der ersten Zeit seiner Haft viel über Kopfschmerzen; 
er schläft aber gut. Er zeigt sich ungemein roh, frech, faul, wider¬ 
spenstig und wird viel disciplinirt; er bleibt stumpf und absolut frei 
von Reue und Gewissensbissen. Auf seine Schiefertafel schreibt er: 
r die schlage ich alle todt. W. G.“. Darunter hat er ein Beil und 
Messer, kreuzweise liegend, gezeichnet und daneben „Blut, Blut.“ — 



Fig. 10 a (Gr).. 



Fig. 10 b. 


„Grosse Strolche sind die Vorgesetzten. Ihr I^ausebuben, unschuldig 
muss ich 15 Jahre bleiben, unschuldig wie Jesus Christus.“ Er klagt 
in sehr charakteristischer Weise, dass er gar nicht ein bischen Freude 
habe. Während einer längeren Zeit ist er ruhiger, zufriedener. 
Später 0898) richtet sich sein ganzes Denken und Trachten darauf, 
auf irgend eine Weise die Freiheit wieder zu gewinnen. Von be¬ 
sonders ungünstigem Einflüsse auf seinen Gemüthszustand sind Be¬ 
suche und Briefe von seiner Mutter, die die schweren Verbrechen ihres 
Sohnes als dumme Jungenstreiche betrachtet, die ihn mit Zärtlichkeit 
überhäuft und mit ungebührlichen Redensarten aufregt. — G. klagt 
später über Schlaflosigkeit und Angstzustände, so dass er in’s Lazareth 
verlegt werden muss. Er macht hier (Nachts vom 15. bis 16. März 


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VI. Baer 


1899) einen Selbstmordversuch durch Erhängen. „Er sei des Lebens 
überdrüssig, habe auch Nichts in der Welt, und solle so lange im Ge- 
fängniss leiden. Er denke immer an seine Mutter und habe so schlechte 
Träume; er habe keine Lust mehr zu leben." 

Er vermeidet, von seinen Verbrechen zu sprechen. „An meine 
Sachen denke ich nicht mehr, meint er bei einer Unterredung. Man 
sagt, dass solche Menschen, die so etwas gethan haben, keine Buhe 
mehr haben. Wenn ich an so was denken möchte, würde ich nicht 
mehr leben; ich habe, seitdem ich hier bin, nicht daran gedacht* 1 
— Er spricht viel von seinem Complicen W. „Das ist ein pfiffiger 
Junge; er konnte mit mir Dusel machen, was er wollte, ich habe 
nicht so viel Kraft und Energie gehabt“ 

G. sucht den Geisteskranken zu simuliren. „Er habe Frau 
Justizrath L. gesehen. Sie habe sich über den Tod ihres Ehemannes 
zu Tode gegrämt. Des Nachts komme sie an sein Bett und wolle ihn 
erwürgen; er müsse dann aufspringen und sich vertheidigen.“ — Er 
copirt das Verhalten von zwei im Lazareth befindlichen wirklichen 
Geisteskranken, benimmt sich ganz wie diese. Er theilt einem anderen 
Gefangenen seine Absicht mit, nach einer Irrenanstalt gebracht zu 
werden, um von dort zu entspringen oder beurlaubt zu werden. Er 
werde einen Aufseher angreifen, um als geisteskrank zu gelten. G. bat 
wiederholt derartige Auftritte simulirt, bis er die Vergeblichkeit dieser 
Versuche eingesehen und zu einem mehr geordneten Verhalten zurück¬ 
gekehrt ist Zeitweise kehren periodische Aufregungszustände mit im¬ 
pulsiver Handlungsweise wieder. 

G. ist thatsächlich geistig nicht intact, er leidet, wie auch be¬ 
obachtet ist, an selten auftretenden epileptoiden Zuständen, die seinem 
Verhalten zu Grunde liegen. Er ist sehr leicht erregbar, aber voll¬ 
kommen gut orientirt und weiss in genau berechneter Weise, seinen 
Zustand zu verwerthen. Er ist im Laufe der Jahre in der Gefangen¬ 
schaft ein robuster, ungemein stämmiger Mensch geworden. Er ist 
sittlich noch so verkommen, wie er gewesen, ohne jede Regung von 
Reue und Gewissensbissen. 


19. Franz W., Arbeitsbursche, am 15. October 1884 geboren, ist 
wegen versuchten Mordes, schweren Raubes an seiner Grossmutter zu 
8 Jahren Gefängnissstrafe verurtheilt, und am 3. November 1899 zur 
Verbüssung dieser Strafe eingeliefert. 

Der noch sehr unentwickelte 15 jährige Knabe war arbeitsscheu 
und wiederholt aus der Lehre entlaufen. Er hatte seinem Arbeitgeber 
100 Mk. unterschlagen und das Geld mit lüderlichen Frauenzimmern 


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('ober jugendliche Mörder und Todtschläger. 


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vergeudet. Er war bald mittel- und obdachslos und begab sich am 
26. September 1899, da sein Vater ihn züchtigen wollte, zu seiner 
83jährigen Grossmutter, der Wittwe K., die mit zwei Schlafburschen 
eine kleine Wohnung inne hatte. Er erzählte ihr, dass er am folgen¬ 
den Tage nach Hamburg reisen wolle und bat sie um Obdach. Die 
Grossmutter räumte ihm ihr eigenes Bett ein und schlief selbst auf 
dem Sopba. Als am anderen Morgen die beiden Schlafburschen die 
Wohnung verlassen hatten, und die alte schwächliche Frau in der 
Küche beschäftigt war, stürzte Franz W. plötzlich aus der Vorderstube, 
packte sie von hinten mit der linken Hand um den Hals mit dem 
Ausruf: „Jetzt muss Du sterben“, und führte mit seinem Taschenmesser, 
welches er in der rechten Hand hatte, mehrere Stiche gegen ihren 
Kopf. Diese hielt sich unter Stöhnen noch aufrecht, und jetzt 
führte er mit einem schweren Mangelholz, das er ergriffen hatte, 
mehrere wuchtige Schläge gegen den Kopf seiner greisen Grossmutter, 
dass sie zusamraenbrach. Aus einer Schublade der Kommode ent¬ 
wendete er ca. 100 Mk. baares Geld und 6 Stück Stadtobligationen zu 
je 500 Mk. Er vertauschte seinen mit Blut besudelten Anzug mit 
einem solchen, der einem der Schlafburschen gehörte, verschloss die 
Thür der Wohnung ohne auf die leblos daliegende Frau zu achten 
und verliess das Haus. Die Frau, die eine Schnittwunde, mehrere 
Verletzungen am Kopf und einen Bruch des linken Armes davonge¬ 
tragen, ist mit dem Leben davongekommen. Von einem lüderlichen 
Frauenzimmer, bei der er sich mehrere Tage aufgehalten, angezeigt, 
wurde er verhaftet. Er hat diese unglaubliche Handlung, dessen Her¬ 
gang die alte geschwächte Greisin vor Gericht erörterte, ohne jedes 
Zeichen von Reue eingestanden und wurde, da er die zur Strafbar¬ 
keit erforderliche Einsicht besessen und eine unglaublich rohe Natur 
documentirt hatte, zu einer Gefängnissstrafe von 8 Jahren verurtheilt. 

Franz W. ist ehelich geboren; er hat die Volksschule besucht und 
ist dort regelmässig vorwärts gekommen. Er hat schon früh eine 
Neigung zum Vagabundiren und zu sexuellen Excessen gezeigt, und 
soll auch eine kurze Zeit in einer Erziehungsanstalt gewesen sein. Ob¬ 
schon er sein Verbrechen eingestanden, hat er niemals ein Zeichen 
einer ernsten, Reue zu erkennen gegeben. Er ist verschlossen, in sich 
gekehrt, von stets ruhiger Stimmung, ohne jede Erregung. Er scheint 
überaus stupid, ohne jedes Interesse für kirchliche Einrede oder 
sonstige sittliche Fragen; er ist kalt und undurchdringlich. 

Körperlich schlecht entwickelt, schwächlich, 161 cm gross, hat er 
im Gefängniss sich gesundheitlich gekräftigt. Er hat jetzt ein Körper¬ 
gewicht von 62 kg; die Spannweite beträgt 166 cm; der Kopf ist 

Archiv für Krimin&lanthropoloffie. XI. 1L 


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152 


VI. Baer 


relativ gross, hoch und rund; der Horizontalumfang beträgt 57 cm, 
der vordere 28, der hintere 29; der Längendurchmesser 18,8, der 
Breitendurchmesser 14,5; die Kopfhöhe 11,6, Stirnhöhe 7,2, Stirn¬ 
breite 13,7. Gesichtshöhe 18,8, Nasenlänge 6,0, Nasenbreite 3,1 cm. 
Ohren sehr gross, Muscheln stark gekrümmt. Jochbeinbreite 12,5, Unter¬ 
kieferbreite 11,8 cm, Kinn spitz, Lippen aufgewulstet dick, Augen¬ 
brauen etwas zusammenfliessend. Der Gesichtsausdruck ist leer, voll¬ 
kommen gleichgültig. 

W. ist geistig von nicht normaler Beschaffenheit; er ist von Ge¬ 
burt aus ein schwachsinniger mit vielen Defecten begabter Mensch. 

Auch dieses scheinbar eisig kalte, 
undurchdringlich harte Herz von 
Stein zeigt hin und wieder, wie 
wir selbst erfahren, Beweise von 
aufdämmernder Reue und Ge¬ 
wissensregung. Nur ist diese 
weniger leicht erkennbar wie bei 
Anderen. 


20. Karl August B., geboren 
am 24. Juli 1877 zu Alsleben im 
Kreise Merseburg, ist wegen Mordes 
am 18. Juli 1894 zu 15 Jahren 
Gefängnissstrafe verurtheilt. Nach¬ 
dem er über 7 Jahr dieser Straf¬ 
zeit in Naumburg verbüsst hatte, 
wurde er am 12. Januar 1900 in 
die Anstalt Plötzensee überführt, 
B. war im Jahre 1894 in 
der Erziehungsanstalt zu Zeitz 
als Zwangszögling untergebracht. Er wohnte und arbeitete dort in 
demselben Raume zusammen mit den Zöglingen J., H. und Sch. J. 
hatte sich durch seine Gewandtheit die Zuneigung der Aufseher zu 
erwerben gewusst, und übte auch durch seine Körperkräfte eine ge¬ 
wisse Herrschaft über die Mitzöglinge aus und ganz besonders da¬ 
durch, dass er diese bei irgend welcher Ungehörigkeit anzeigte und 
zur Bestrafung brachte. Zu diesem J. hatte B. schon wiederholt ge- 
äussert, dass er einem anderen Zöglinge etwas auswischen möchte, nur 
um aus der strengen Erziehungsanstalt in’s Gefängniss zu kommen, 
weil sie es hier besser haben werden. Beide kamen schliesslich überein, 
den Mitzögling H. zu tödten. B. versuchte dieses Vorhaben aus- 



Fig. 11 (W., 1901). 


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Ueber jugendliche Mörder und Todtschläger. 


163 


zuführen, indem er eines Tages den auf dem Schemel sitzenden H. 
mit einem Stuhlbein an den Kopf schlug, sodass dieser vom Schemel 
berunterfiel. Er richtete sich jedoch wieder auf und setzte sich 
zur Wehr. Am 27. Mai 1894 forderte J. den ß. auf, den viel 
schwächeren Mitzögling Sch. zu tödten und gab ihm eine Ofenschraube, 
mit welcher er jenen an die Schläfe schlagen sollte. Auch H. wurde 
von diesem Plane in Kenntniss gesetzt und stimmte ihm nach anfäng¬ 
lichem Sträuben zu. B. gab jedoch die Ofenschraube zurück. Am 
28. Mai 1894 früh rieth J., den Sch. mit einem Hosenträger zu er¬ 
würgen. J. reizte verabredetermaassen den Sch. gegen B., sodass 
dieser den kleinen schwächlichen Sch., der ihn geschimpft hatte, zu 
Boden warf und auf ihm derartig kniete, dass er nicht im Stande 
war, sich zu wehren. B. verlangte nun einen Hosenträger; H. knüpfte 
sich auf die Aufforderung von J. einen seiner Hosenträger ab, warf 
ihn dem B. zu, und da ihn B. noch nicht greifen konnte, stiess J. 
denselben mit dem Fusse dem B. hin. Dieser legte den Hosenträger 
dem Sch. um den Hals und zog mit beiden Händen fest zusammen. 
Als Sch. das Gesicht verzerrte und ganz blau wurde, legte H. auf die 
Aufforderung des J. und des B. ein Taschentuch über das Gesicht 
des Sch. und B. zog noch einige Minuten den Hosenträger fest zu. 
Jetzt rief J. nach dem Aufseher, und dieser traf bei seinem Eintritt in 
den Arbeitsraum den J. und H. bei der Arbeit sitzend, den B. vor 
der Leiche des Sch. stehend. Dieser war an Erstickung durch Er¬ 
drosselung gestorben. Diesen Tod hat, wie der Gerichtshof befunden, 
B. zuerst geplant und mit voller Ueberzeugung herbeigeführt. Den 
Gedanken, Sch. zu tödten, hat J. in dem B. nicht nur erzeugt, sondern 
ihn durch Ueberredung, Drohung und Missbrauch des Ansehens zur 
Ausführung der Tödtung vorsätzlich bestimmt, indem er wollte, dass 
B. die That, sowie er sie ausführte, beging. H. hat in Kenntniss der 
in seiner Gegenwart geplanten That zur Ausführung derselben Hülfe 
geleistet, indem er dem B. den Hosenträger zuwarf, den dieser, wie 
er wusste, zur Vollbringung der Strafthat verlangte. Da die Handlungen 
des B., J. und H., wie das gerichtliche Urtheil lautet, von einer Rohheit, 
sittlichen Verworfenheit und Verderbtheit zeugen, die fast ohne Gleichen 
dastebt, so war gegen die beiden Ersteren eine Strafe von je 15 Jahren 
und gegen Letzteren eine solche von 5 Jahren für angemessen er¬ 
achtet. 

B. war, da seine Mutter 1884 und sein Vater 1896 gestorben war, 
schon früh verwahrlost. Er ist im Rettungshause in Langensalza, wo 
er die Schule besuchte, erzogen und kam später in die Corrections- 
anstalt zu Zeitz. Hier ist er vielfach wegen Faulheit, Anstiftung zum 

n* 


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154 


VI. Baek 


Ungehorsam, Thätlichkeit gegen Mitgefangene, Durchstecherei und 
auch wegen Vorbereitung eines Ausbruchsversuches bestraft. 

In hiesiger Anstalt ist er in der ersten Zeit seiner Inhaftirung in 
strenger Einzelhaft sehr deprimirt, ungemein verschlossen, und auch 
körperlich heruntergekommen. Sein Complice an dem Mord war ge¬ 
storben und B. soll auch in Folge dieser Nachricht sehr viel an Ge¬ 
wissensbissen gelitten haben. Am 25. Mai 1900 machte er einen 
Selbstmordversuch durch Erhängen mittelst eines Halstuches. 
Das an der Thürangel befestigte Tuch war, als er sich in der Schlinge 

anhing, gerissen und er zur Erde 
gefallen. Er war weinend und 
zerknirscht gefunden; er gestand 
später tief jammernd, „dass er 
nicht mehr leben wolle und mit 
Selbstmordgedanken umgehe . . . 
Er sei öfters ohne Besinnung.“ 

B. zeigt tiefe Reue über sein 
Vorleben; „Ich bin es kaum werth“, 
schreibt er am 10. Juni 1900, an 
seinen Schwager, „dass ich noch 
Menschen sehe, ich war vor drei 
Wochen fast zum Selbstmörder 
geworden. Denn du wärst dir den¬ 
ken können, wie mir manchmal zu 
Muthe ist. .. Die Hoffnung, dass 
ihr mich nicht vergesst, erhält 
mich noch aufrecht.“ B. ist sehr 
Fjg 12 i 9 oi). scheu und demiithig, ungemein 

dankbar für jedes freundliche 
Wort, das an ihn gerichtet wird. Er ist gross und ebenmässig 
gewachsen, blass und schlecht genährt. Die Körperlänge beträgt 
177 cm, Spannweite 179, das Körpergewicht 69 kg. Der Kopf ist 
gross, hoch und schmal; der Horizontalumfang beträgt 58 cm, der 
vordere 31, der hintere Umfang 27, der Längendurchmesser 11,8, 
der Breitendurchmesser 11,5, die Kopfhöhe 12,1, die Stirnhöhe 7,8, 
Stirnbreite 13, Gesichtshöhe 11,8, die Jochbeinbreite 12,5, die Unter¬ 
kieferbreite 11,2 cm, Nase 5,1 cm lang und 3,4 cm breit, Augenbrauen¬ 
bogen mässig stark entwickelt, Ohren gross, Ohrläppchen deformirt. 
Auf den Armen und der Brust ist er viel tätow r irt (Schiff). Der Ge¬ 
sichtsausdruck ist leidend, sehr tiefe Depression verrathend, unsym¬ 
pathisch, obwohl Mitleid erregend. B. hat in neuester Zeit wieder 



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Ueber jugendliche Mörder und Todtschläger 


155 


einen Anfall schwerer Verstimmung und Verzweiflung überstanden. 
Er klagt schon seit längerer Zeit über Kopfschmerzen, allgemeines 
Schmerzgefühl im Kücken und war mehr als vorher unzufrieden und 
mürrisch. Im Ausbruch schwerer Verzweiflung verweigerte er jede 
Nahrung, suchte sein Bettzeug anzustecken, und war unzugänglich, 
stumm und konnte kaum die Worte: „ich will nicht leben“ hervor¬ 
bringen. Nach mehreren Tagen wurde er jedoch für freundlichen Trost 
wieder zugänglich und allmählich kehrte er in das alte Leben zurück. 


21. Der Photographenlehrling Hugo H., am 16. Juni 1884 zu 
Berlin geboren, ist wegen Raubes und Mordversuches, eines schweren 
und mehrerer einfachen Diebstähle zu einer 7 '/2 jährigen Gefängnis¬ 
strafe verurtheilt und befindet sich seit dem 21. Oktober 1900 in der 
Gefangenanstalt zu Plötzensee. 

H. hat schon frühzeitig verbrecherische Neigungen gezeigt, er hat 
seinem Vater und seinen Verwandten, sowie auch seinem ersten Lehr¬ 
herrn Münzen und Geld gestohlen, das er im Theater und in Restau¬ 
rants mit Damenbedienung verbrachte. Auch seinen neuen Lehrherrn, 
den Photographen Pf. bestahl er mehrfach. Er beschloss, das Ver¬ 
mögen des Lehrherrn, welches dieser in einem Geldschranke auf¬ 
bewahrte, sich anzueignen und dann in ? s Ausland zu flüchten. H. 
wusste, dass der Lehrherr den Schlüssel zum Geldschrank stets bei 
sich trug, und dass er nur aus dem Schlafzimmer entwendet werden 
konnte. Am 18. Juni 1900 liess sich H. beim Schluss des Ge¬ 
schäfts in das Atelier einsperren; er hatte sich vorher mit einem Beile, 
mit einer Luftpistole, mit einem Fläschchen Schwefeläther zum Betäuben, 
mit einem Tuch, einem Lederriemen, einer Schnur und einer grossen 
Flasche Spiritus versehen. Er hatte die Absicht, den Pf. zu tödten, 
ihn zu betäuben, zu binden und dann die Wohnung in Brand zu 
setzen. An 8 Stunden hat H. sich versteckt gehalten und auf Pf. 
gewartet Dieser war gegen 4'/2 Uhr, als es heller Tag geworden, 
in seine Wohnung zurückgekehrt. Kaum eingeschlafen, hörte er ein 
Geräusch und sah einen Menschen aus der Ofenecke auf allen Vieren 
hervorkriechen, der sich sofort auf ihn stürzte und ihn zu erwürgen 
versuchte. Er fühlte sich an der Gurgel gepackt und erhielt mehrere 
Hiebe auf den Kopf. Bei dem jetzt entstehenden Kampfe entfiel dem 
H. das Beil, und als es dem Pf. durch Zufall gelang, den Hodensack 
des H. zu fassen und zu drücken, liess dieser von dem Halse des 
ersteren ab. Pf. übergab ihm den Geldschrankschlüssel und rief ihm 
zu, er möge Alles nehmen, ihm nur das Leben lassen. Während dieser 
dem Geldschrank ca. 500 Mark entnahm, eilte Pf. ans Fenster und 


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156 


VI. Bahr 


schrie um Hülfe. Jetzt vertauschte H. das blutgetränkte Jacket schnell 
mit einem andern, schloss die Thür zu, stieg auf das Dach und suchte 
über das des Nebenhauses zu entkommen. Er wurde aus einem Boden¬ 
verschlage hervorgezogen und verhaftet. 

H. gestand sein Verbrechen und wurde wegen der angewendeten 
Hinterlist und Rohheit, sowie wegen der in einem hohen Grade sich 
zeigenden Verworfenheit der Gesinnung und wegen der Hartnäckigkeit, 
mit welcher er sein Opfer erwartet hatte — wegen des Mordversuches 
ist er freigesprochen — zu 7'/i jähriger Gefängnisstrafe verurtbeilt. 

H. ist ehelich geboren und bei 
den Eltern erzogen; sein Vater, ein 
Stubenmaler, hat ihm eine gute 
Schulbildung angedeihen lassen. Er 
hat die Realschule bis zur Ober¬ 
sekunda besucht 

Während der Untersuchungs¬ 
haft am 18. Juni 1900 hat er einen 
Selbstmordversuch gemacht. Er 
giebt an, als Kind an Epilepsie ge¬ 
litten zu haben. Er ist während 
seiner Strafzeit ungemein ernst, 
zeitweise deprimirt, scheinbar auch 
reuig und von dem Willen erfüllt 
sein verfehltes Leben neu zu be¬ 
ginnen. Er selbst gesteht sein Ver¬ 
brechen offen und rückhaltlos ein, 
er will sehr viele Räubergeschichten 
gelesen haben und die Mordver¬ 
brechen in neuerer Zeit mit be¬ 
sonderem Interesse verfolgt haben. Er war in Folge seines lüder- 
lichen Lebenswandels sehr stark heruntergekommen. 

H. ist ein lang aufgeschossener, gross gewachsener Mensch, 
von blassem Aussehen und schlecht genährt. Seine Körperlänge be¬ 
trägt (17jährig) 178 cm, seine Spannweite 179; das Körpergewicht 
67 Kilo. Der Kopf ist lang und hoch, der Horizontalumfang 57 cm, 
der vordere 29 cm, der hintere 28 cm; der Längendurchmesser 18,4, 
der Breitendurchmesser 15,5, die Kopfhöhe 11,9 cm; die Stirn ist hoch, 
etwas zurückfliehend, sie hat eine Höhe von 6,5 cm und ist 11,8 cm 
breit. Die Gesichtshöhe 13,5 cm, die Jochbeine stehen 11,7 cm von 
einander, die Unterkieferbreite beträgt 11,2 cm. Der Oberkiefer ist 
prognath, das Hinterhaupt ragt stark hervor; die Ohren sind gross, 



Fig. 13 (H., 1901). 


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Ueber jugendliche Mörder und Todtschläger. 157 

das Kinn spitz; der Gesichtsausdruck ist finster, ernst, unsympathisch, 
unangenehm. _ 

22. Theodor Otto Bl. wurde am 27. März 1901 der Anstalt 
Plötzensee zugeführt, nachdem er bereits eine ca. 6 jährige Gefängnis¬ 
strafe in der Gefangenanstalt zu Naumburg verbüsst hatte. 

In der Zwangserziehungsanstalt zu Zeitz, in welcher Bl. als 
Zwangszögling lebte, wurde in der Nacht vom 27. zum 28. November 
1894 (in demselben Jahr, als der obige Mord, vgl. Nr. 20, in der 
Anstalt vorgefallen war) der Zwangs¬ 
zögling L. getödtet und zwar hat 
Bl. und M. diese Tödtung gemein¬ 
schaftlich, vorsätzlich und mit Ueber- 
legung ausgeführt, während J., der 
in dem B.’schen Falle zuerst nicht 
mitangeklagt war, durch Rath 
wissentliche Hilfe geleistet hat Die 
beiden ersteren, 15 und 16 Jahre 
alt, haben übereinstimmend in der 
Hauptverhandlung gestanden, dass 
sie auf Mittel gesonnen hätten, aus 
der Erziehungsanstalt herauszu- 
kommen. J. habe ihnen gerathen, 
einen Mitzögling zu tödten, damit 
sie aus der Anstalt in’s Gefängniss 
kämen. Alle drei, Bl., M. und J., 
kamen am 27. November 1894 
überein, den schwächlichen L. im 
Schlafsaale mittelst eines Hosen¬ 
trägers zu erdrosseln. M. hatte einen solchen heimlich in den 
Schlafsaal mitgenommen und etwa 2 Stunden nach der Schlafzeit rief 
J. dem M. zu: „Na, wird’s nu bald“. Um 3 Uhr Morgens legte sich 
M. dicht neben L., schlang den Hosenträger um dessen Hals, und 
während er mit ihm freundlich sprach, drückte er das eine Ende dem 
auf der anderen Seite des L. liegenden Bl. in die Hand und behielt 
das andere Ende in der eigenen. Auf den Ruf „BI. zu“ zogen beide 
den Hosenträger fest nach beiden Seiten an, und nachdem L. noch 
3 Mal aufgeschrieen, war er verschieden. Durch das Geschrei er¬ 
weckt, wollten die anderen Schlafgenossen den Aufseher herbei¬ 
rufen, J. verbat ihnen dies jedoch unter schweren Drohungen und 
meldete selbst am andern Morgen das Vorgefallene. Das Gericht 



Fig. 14 (Bl., 1901). 


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158 


VI. Baer 


verurtheilte den M. zu 15 Jahren, J. zu 15 und Bl. zu 12 Jahren 
Gefängniss. 

Bl. ist jetzt 22, zur Zeit der Begehung des schweren Verbrechens 
war er kaum 15 Jahre alt. Er ist kräftig gebaut, gut genährt 
Seine Körperlänge beträgt 167 cm, die Spannweite 172, das Körper¬ 
gewicht 72,5 Kilo. Der Kopf ist relativ gross, flach und breit; 
der ganze Horizontalnmfang beträgt 59 cm, der vordere 30, der hintere 
29, der Längendurchmesser 11,8, der Breitendurchmesser 11,4, die 
Kopfhöhe 12,7, die Stirnhöhe 5,8, Stirnbreite 12, die Gesichtshöhe 11,7, 
die Jochbeinbreite 11,8. Die Nase ist 5,7 cm lang und 3,4 cm breit, 
das Ohr ist vielfach deform; es hat das Darwinsche Knötchen und 
ist ein Spitz-, sowie ein Henkelohr; die Muschel ist verkrüppelt Die 
Augenbrauenbogen sind stark gewölbt, die Stirnhöcker hervorragend, 
Kinn spitz, Unterkiefer massig, breit Der Gesichtsausdruck ist un¬ 
heimlich, abstossend. 

Bl. ist am 16. Mai 1880 in Greussen unehelich geboren, hat 
die Bürgerschule besucht und musste schon früh in die Corrections- 
anstalt gebracht werden. Er ist dort viel disciplinirt worden wegen 
Faulheit, Ungehorsams, frechen Benehmens, Arbeitsverweigerung und 
Misshandlung eines Gefangenen. Er ist hier stets gehorsam, fleissig, 
ruhig, ernst, gefasst und zufrieden. Er ist sehr verschlossen, verstockt 
und wenig mittheilsam. Er hat bis jetzt kein Zeichen von Reue und 
von Gewissensbissen gezeigt. 

* 

Die oben eingehend beschriebenen 22 jugendlichen Verbrecher 
waren verurtheilt, wie wir gesehen haben: 13 wegen Mordes, 4 wegen 
Mordversuches, 1 wegen Theilnahme am Mord, 3 wegen Todtachlages, 
1 wegen Todtschlags versuch es. 

Wir dürfen, ohne erheblichen Widerspruch zu erwarten, diese 
verschiedenartige Bewerthung der Strafthat, so sehr bedeutungsvoll sie 
strafrechtlich auch ist, für den Zweck unserer Betrachtung übersehen, 
und sämmtliche Fälle als gleichartige erachten, insofern bei allen die 
kriminelle Tendenz mehr oder weniger dieselbe gewesen, und nur die 
Begleit- und Folgeerscheinungen für die Begriffsbestimmung des Ver¬ 
brechens sowie für die Bestrafung des Verbrechers ausschlaggebend 
gewesen ist. 

Von wesentlicher Bedeutung für die kriminalistische Analyse 
des Einzelfalles ist das Motiv, das den Verbrecher zur Ausführung 
der Strafthat bestimmt. In den das Verbrechen veranlassenden, das¬ 
selbe zeitigenden und zur Ausführung bringenden Ursachen offen¬ 
bart sich offenkundig oder auch nur andeutungsweise, ob überhaupt eine 


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Ueber jugendliche Mörder und Todtschläger. 


159 


wirkliche verbrecherische Neigung in dem Verbrecher vorhanden, und 
von welcher Intensität dieselbe gewesen ist. Wir dürfen erwarten, 
dass ein im Verbrecher liegender angeborener Keim, eine instinctive 
Neigung zum Verbrechen, sowie die mit diesem etwa zusammen¬ 
hängenden somatischen und moralischen Anomalien gerade bei den¬ 
jenigen jugendlichen Verbrechern am ausgeprägtesten zur Erschei¬ 
nung kommen werden, bei denen der Beweggrund zum Mord ein 
gemeiner, rein selbstsüchtiger gewesen, auch selbst wenn er von einem 
sonst schon kriminell belasteten Individuum ausgeführt ist 

Unterscheiden wir, wie das bekanntlich immer geschieht, unter 
den Triebfedern zur Mordthat, wenn man von etwaigen edleren 
Motiven, von den politischen, patriotischen u. dgl. äbsieht, solche, die 
auf sexuelle Verhältnisse (verschmähte Liebe, Eifersucht u. dgl.) zu¬ 
rückzuführen sind, und solche, die aus gemeinen, habsüchtigen und 
egoistischen Beweggründen entspringen, so liegt auch bei unseren 
jugendlichen Mördern der Raubmord, d. h. dasjenige Mordmotiv, 
in denen der Mord zur Befriedigung der Habgier oder der Geldgier 
verübt wird, in den allermeisten Fällen zu Grunde. „Meist sind“, 
wie v. H o 11 z e n d o r f f •) die Genese des Raubmordes zutreffend 
ausführt, „die Thäter durch Verwahrlosung zur rohesten Genuss¬ 
sucht und Ausschweifung, durch Müssiggang zum Eigenthumsver¬ 
brechen, zum Diebstahl und endlich zum Mord, anfangs langsam, 
dann schneller sinkend, heruntergekommen“. Von dem Raubmörder, 
der nach langer, reiflicher Ueberlegung sein Opfer auflauert und um¬ 
bringt, lediglich um den Raub zu geniessen, ist diejenige Klasse von 
Mördern zu unterscheiden, welche durch die impulsive Kraft einer 
entbrannten Leidenschaft zur Strafthat getrieben werden. Während 
der erstere kalt und ruhig zu Werke geht, geschieht die That bei 
letzterem schnell, plötzlich, wie von einem unwiderstehlichen Zwang 
getrieben. Bei ersterem fehlt jede sittliche Regung, die den Willen 
an der Ausführung hindert, bei letzterem kann die Leidenschaft nicht 
gezügelt werden, wenn auch das sittliche, hemmende Motiv nicht 
gänzlich fehlt. 

Nur bei 6 von unseren jugendlichen Mördern war das zweite 
Mordmotiv vorhanden und zwar bei den schwersten der ausge¬ 
führten Mordverbrechen (2 Mal Vaterraord in Folge schlechter Be¬ 
handlung, 2 Mal Rachegefühl, 1 Mal verletztes Ehrgefühl, 1 Mal Hass 
gegen einen Mitlehrling); in 13 Fällen hingegen war gemeiner Raub- 


1) Das Verbrechen des Mordes und die Todesstrafen. Von F ran z v. II o 1 tz on 
dorff. Berlin 1828. S. 1)6. 


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160 


VI. Baeb 


mord das Motiv zur Strafthat und zwar in 7 Fällen zum Morde, in 
6 Fällen zum Todtschlag—und endlich noch lag die Triebfeder in 3 Fällen 
in dem selbstsüchtigen Verlangen, sich durch den Mord in eine bessere 
Lebenslage (aus der strengen Correctionsanstalt in eine Gefangenanstalt 
u. dgl.) zu bringen. 

Beim Begehen der That waren die bestraften jugendlichen Mörder 
(resp. Todtschläger) in dem Alter von: 


14— 15 Jahren.3 

15— 16 ; .3 

16— 17 =.8 

17— 18 *.8 


22 

Nach den Motiven ihrer Strafthat vertheilt, standen die Deli- 
quenten in dem Alter von: 

Alter: Motiv aus Leidenschaft: Motiv aus Habsucht: 


14— 15 Jahren 1 2 

15 — 16 ' — 3 

16— 17 * 4 4 

17— 18 * 1 7 

6 16 


War bei diesen Verbrechern, bei den in noch fast kindlichem oder 
bei den in späterem jugendlichem Alter befindlichen, in der körper¬ 
lichen Organisation eine spezifische Formation oder eine Andeutung 
einer solchen vorhanden, derartig, dass sie bei ihnen einzig und allein 
vorkommt, so dass man das Vorhandensein dieser als ein Merkmal 
der kriminellen Individualität bezeichnen könnte? 

Wir haben Zeichen dieser Art bei diesen jugendlichen Verbrechern 
in keiner Kategorie und in keinem Alter auffinden können Wir 
haben weder an der allgemeinen Bildung des Schädels noch an der 
des Gesichts und an der des übrigen Skeletts besondere Charaktere 
verzeichnen können, die spezifisch abweichend wären von der all¬ 
gemeinen Norm der Entwickelung der Altersgenossen aus demselben 
Volksstamm und event. auch der Volksklassen, denen diese jugend¬ 
lichen Mörder angehören. Wie wir bei vielen Verbrechern aus dem 
späteren Lebensalter schon nachweisen konnten 1 ), zeigen die Köpfe 
unserer jugendlichen Verbrecher eine normale meist brachycephale For¬ 
mation; weder war der vordere, noch der hintere Theil des Schädels vor- 

1) A. Baer, Der Verbrecher in anthropologischer Beziehung. 1893. Leipzig. 
Thienie. 


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Ueber jugendliche Mörder and Todtschläger. 


161 


wiegend oder mangelhaft ausgebildet; meist war die vordere Circum- 
ferenz sogar etwas grösser als d&r hintere, und der Hinterkopf durch¬ 
aus nicht durch eine besondere Entwicklung ausgezeichnet Nur in 
seltenen Fällen war die Stirn flach und fliehend, waren die Stim- 
höcker überaus stark entwickelt Es waren häufig einzelne Abnor¬ 
mitäten zu verzeichnen, wie leichte Grade der ProgSh^hie, starke Ent¬ 
wicklung des Unterkiefers und abnorme Breite desselben, ebenso eine 
grosse Breite des Jochbeinknochens, das Ueberwiegen der Spannweite 
Über die Körperlänge; es waren Zeichen pathologischer Deformationen 
vorhanden (zuallermeist Folgen rhachitischer Knochenerkrankung) und 
auch häufige geringfügige und schwere Deformationserscheinungen an 
den Ohren. Aber alle diese Zeichen traten bald vereinzelt, bald gehäuft 
auf und fehlten auch gänzlich in vereinzelten Fällen bei den ver¬ 
schiedenen Graden der manifesten Delinquenz. Wir müssen, wie schon 
früher, auch in den vorliegenden Fällen behaupten, und wir sind hier 
in Uebereinstimmung mit vielen Beobachtern aus früheren und auch 
aus der neuesten Zeit 1 ), dass bei dem Verbrecher kein Merkmal der 
somatischen Organisation vorhanden ist, das ihm allein spezifisch ist, 
das nicht auch bei ehrenhaften, nicht verbrecherischen Personen vor¬ 
kommt. Wir müssen auch besonders hervorheben, dass die bei unseren 
jugendlichen Verbrechern vorhandenen somatischen Erscheinungen der 
Degenerescenz in gar keinem Verbältniss zu dem Grade der ver¬ 
brecherischen Intensität steht, deren der Träger jener Stigmata fähig 
ist Darf man ohne sonderliche Widersprüche erwarten, dass die 
sicht- und nachweisbaren typischen Zeichen des „Geborenen Ver¬ 
brechers“ am meisten und ursprünglichsten im kindlichen und jugend¬ 
lichen Alter ausgeprägt sein müssten, weil jene in diesem Entwicklungs¬ 
stadium noch nicht durch anderweitige Einflüsse modificirt und ab¬ 
geändert sind, bedenkt man ferner, dass der Mord insbesondere bei 
Individuen, die ihn aus gemeinem egoistischen Instinct begehen, den 
extremen Grad einer endogenen d. h. angeborenen, kriminellen Tendenz 
darstellen dürfte, so kann man bei dem Mangel solcher spezifischen 
Merkmale ohne Voreiligkeit und ohne Voreingenommenheit die Ueber- 
zeugung aussprechen, dass es in Wirklichkeit keinen „Verbrecher¬ 
typus“ und ebensowenig einen „ Geborenen Verbrecher“ giebt. 
Der Verbrechertypus der Lombroso’schen Schule ist ein anthropologi¬ 
scher Irrthum. „Er ist“, wie v. Holder ausführt, „nur eine Summe 
von pathologischen Eigenthümlichkeiten, aber nicht die von charakte- 


1) Vgl. auch: Rechcrchcs d’anthrogravologic criminelle chcz l’cnfant. C'rimi- 
nalite et Degeneration. Dr. Leon Monpate. These. Paris 1S93. 


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162 


VI. Baer 


ristischen, normalen, körperlichen und geistigen Eigenschaften 11 . Und 
ebensowenig wie im Bau des Schädels und des Gesichts lassen sich in 
der Formation des Gehirns Merkmale auf finden, die ein Verbrechergehirn 
erkennen lassen. Die Existenz eines Verbrechertypus und eines Ver¬ 
brechergehirns hat ganz besonders R. Virchow stets mit Entrüstung zu¬ 
rückgewiesen. „Ein Verbrechergehirn, meint auch der Anatom Bischof, 
d. h. durch die anatomische Organisation ihrer Gehirne bestimmte Mörder, 
Diebe, Meineidige u.s. w. giebt es nicht, und ebensowenig eine Aenderung 
der Furchen und Windungen des Gehirns, welches dasselbe von vorn¬ 
herein zum Verbrecher stempelt“. An dem Gehirn des vielfältigen 
Mörders Bobbe hat in neuester Zeit Prof. Waldeyer keine besonderen 
Abnormitäten nachweisen können, so dass der autoritative Beobachter 
dasselbe im Gegentheil als Typus eines normalen menschlichen Gehirns 
bezeichnen möchte. Und am Gehirn von Czolgosz, dem Mörder 
Mac Kinley’s haben die Experten keine Abweichung von der Norm, 
keine Anomalie, keine Asymmetrie, keine Entwicklungshemmung 
gefunden. 

Was von älteren und neueren Beobachtern bei dem Verbrecher 
als charakteristisches und typisches Moment angesehen und ange¬ 
nommen wird, das ist der Gesammtausdruck der Gesichtsbildung, die 
Eigen- und Fremdartigkeit des Gesichtsausdruckes, das in sehr vielen 
Fällen Widerwärtige und Abstossende in demselben. Auch wir finden 
unter unseren jugendlichen Mördern und insbesondere unter den Raub¬ 
mördern höchst unangenehme, rohe und unsympathische Physio- 
gnomieen, Physiognomieen, die uns mit Abscheu erfüllen und deren 
unangenehmen Eindrücke wir uns nicht entziehen können. Aber 
auch der physiognomische Eindruck unserer jugendlichen Mörder ist 
kein gleichartiger; er ist auch durchaus nicht der treue Spiegel der Seele 
und des Inneren seines Besitzers. Ein Theil dieser rohen und un¬ 
schönen Physiognomieen findet sich bei jugendlichen Individuen in 
allen Gesellschaftsklassen gar nicht selten wieder, ein anderer Theil 
zeigt mehr den vollständigen Ausdruck von Schwachsinn und Im- 
beciliität, mehr den Ausdruck einer krankhaften, mangelhaften geistigen 
Entwickelung als den eines Verbrechers. Und ein nicht geringer Theil 
unserer jugendlichen, schweren Verbrecher haben sich, wie wir ge¬ 
sehen haben, während der Gefangenschaft als ausgesprochene Geistes¬ 
kranke oder auf der Grenze der Geistesstörung sich befindlich gezeigt. 
Endlich sind auch Gesichtsbildungen unter ihnen vertreten, die durch 
eine gewisse Gefälligkeit uns sogar über ihren wirklichen Werth zu 
täuschen geeignet sind. 

Es kann von einer spezifischen d. h. angeborenen typischen Physio- 


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Leber jugendliche Mörder und Todtschläger. 


163 


gnomie des Verbrechers im allgemeinen ebensowenig die Rede sein, 
als von der typischen Besonderheit eines Diebes, eines Todtschlägers 
oder eines Mörders. Viele von unseren Raubmördern waren schon in ihrer 
frühesten Jugend mehrfach wegen Diebstahls bestraft, die allermeisten 
waren schon in zarter Jugend sittlich verkommen und der Verwahr¬ 
losung anheim gefallen. Ihnen ist der Stempel der Verkommenheit 
auf dem Gesicht ausgedrückt, der Minderwertbigkeit der gesummten 
Organisation, aber durchaus nicht der einer in der Organisation liegenden 
genuinen Kriminalität Und bei nicht wenigen von ihnen hat sich 
das Gesicbtsgerüst und der Gesichtsausdruck unter den Einflüssen 
der langen Gefangenschaft, wie einzelne Photographien zeigen, immer 
mehr zu der unschönen widrigen Form entwickelt, welche die Ver¬ 
brecher-Physiognomie darstellt. 

Lassen sich bei diesen jugendlichen Mördern bestimmte Charaktere 
für ein absonderliches und eigengeartetes Verhalten der psychischen 
Organisation nach weisen? 

Bei allen Verbrecherklassen sind intellectuelle und emotive De¬ 
fekte derartig häufig und wiederkehrend, dass der minderwerthige 
und abnorm geartete Zustand ihres Geisteslebens nicht bezweifelt 
werden kann. Die eigenartigen Erscheinungen dieser psychischen 
Organisation dürfen, wenn die Art des Verbrechens einen Hinweis 
auf den Grad derselben zu bieten vermag, nach der monströsen Straf- 
that eines Mordes zu urtheilen, bei den Mördern am intensivsten zu 
gewärtigen sein. Dieses zeigt sich in der That in einem extremen Grad 
auch bei unseren jugendlichen Mördern. Diese Thatsache wird um 
so deutlicher, je länger die That jugendlichen Verbrecher in ihrer 
Gesammtentwicklung Gegenstand einer genauen Beobachtung bleiben, 
je genauer ihr Entwicklungsgang verfolgt und erkannt wird. 

Von unseren 22 jugendlichen Mördern waren, wie sich heraus¬ 
gestellt hat: 3 geistesschwach, 4 epileptisch, 3 psychisch defect, 12geistes¬ 
gesund. Es waren 3 entschieden mit einer mehr oder weniger ange¬ 
borenen, stark ausgeprägten Geistesschwäche behaftet (W., Fig. 11; Br., 
Fig. 3; L.); 4 waren mit Epilepsie in früher Kindheit oder später 
behaftet gewesen (H., Fig. 13; L., Fig. 8; Gr., Fig. 10; Sch., Nr. 4); 
2 zeigten ferner kenntliche Spuren eines geisteskranken defecten Zu¬ 
standes (L., Nr. 1; M., Fig. 2), so dass sie auch früher oder später 
einer Irrenanstalt übergeführt werden müssten. Auch von den anderen 
zeigten 5 (Schm., Fig. 7; Gr., Fig. 10; Br., Fig. 12; H., Fig. 13; Sch.) 
vorübergehend Depressionszustände, die sich bis zum Selbstmord¬ 
versuch steigerten. Von diesen hatten 2 den Selbstmordversuch schon 
während der Untersuchungshaft, 3 während der Verbüssung der Straf- 


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164 


VI. Baer 


haft unternommen. Von den 22 waren 2 (L. [Nr. I] nach Verbüssung 
7'/ijährigen Haft von seiner 10jährigen Strafzeit; M. [Fig. 2] kurz 
nach seiner Entlassung, nach Verbiissung einer 5'/2 jährigen Strafzeit) 
geistesgestört und nach Irrenanstalten gebracht worden. Die vorkommen¬ 
den Fälle bestätigen in überzeugender Weise, was in jüngster Zeit auch 
von Cramer’) mit besonderem Nachdruck betont worden ist, dass die 
Psychosen, deren Anfänge schon in die Pubertät hineinreichen (Hebe- 
phrenie,originäre Paronoia), meisterstim 16. bis 18. Lebensjahre sicher 
erkannt wurden, dass ihre Conflicte mit dem Strafgesetz im 13. bis 
15. Lebensjahre schon der Ausdruck der im Gehirn sich entwickelnden 
pathologischen Verhältnisse sind. — Dass bei nicht wenigen unserer 
jugendlichen Mörder das sexuelle Moment in einem nicht geringen 
Grade zu der Entstehung der verbrecherischen That im Alter der 
Pubertätsentwicklung beigetragen hat, ist bei der frühreifen sexuellen 
Perversität dieser Individuen nicht zu bezweifeln; haben doch mehrere 
von diesen jugendlichen Verbrechern unmittelbar nach verübter 
Mordtbat das geraubte Geld bei und mit Prostituirten verprasst 

Geben diese Zahlen einen deutlichen Beweis dafür, dass die Zahl 
der psychisch Defecten und Abnormen bei unseren jugendlichen Mör¬ 
dern eine excessiv grosse ist (ca. 50 Proc.) so lassen sich, wie schon von 
anderen Beobachtern und auch von uns an einer anderen Stelle aus¬ 
führlich dargelegt ist, auch bei den meisten von ihnen vielfache Merkmale 
der psychischen Degeneration nachweisen. Viele von unseren jugend¬ 
lichen Verbrechern zeigen bei einer relativ genügenden intellectuellen 
Befähigung eine schwache Ausdauer ihrer Denkfähigkeit, einen Man¬ 
gel an Aufmerksamkeit, sodass sie in der Schule mehrfach zurück¬ 
geblieben und bei einer zeitweise ausgesprochenen Begabung für 
technische und selbst künstlerische Hantirungen einen geringeren 
Grad der Denkfähigkeit und des Urtheilsvermögens besitzen als Durch¬ 
schnittspersonen aus derselben Alters- und Berufsklasse im gewöhnlichen 
Leben. 

Einen besonders starken Defect zeigt bei einem ansehnlichen 
Theile der jugendlichen Verbrecher und auch unserer jugendlichen 
Mörder die Willensstärke und Willensfähigkeit. Nicht nur dass 
bei den aus Leidenschaftsmotiven Handelnden der Wille nicht im 
Stande ist, das Gefühl des Hasses, der Rache, des Zornes u. s. w. zu 
zügeln und zu unterdrücken, sodass die That in impulsiver Form 


l) Ueber jugendliche Verbrecher. Von Cramer-Göttingen. Versammlung 
des Vereins der Irrenärzte Niedersachsens u. s. w. Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. 
1899. S. 798. 


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Uebor jugendliche Mörder und Todtschlägcr. 


165 


ohne jede Corrective und Hemmung schnell vor sich geht, noch 
deutlicher tritt dieser Mangel an Willensenergie und an Selbstleitung 
durch den eigenen Willen bei denjenigen Leidenschafts- und auch 
bei einer nicht geringen Zahl von Raubmördern hervor, die von einem 
Andern zur That angestiftet und zur Ausführung angeleitet werden. 
So war bei den Thätern aus ereterem Motiv bei 2 Vatermördern 
( B. und L.), die Schwester und die Mutter der suggerirende 
Theil, bei 5 Mördern aus egoistischen Motiven ein Complice der 
denkende, treibende —, und; der ausführende der willensschwache 
Faktor. 

Ueberaus abnorm beschaffen ist die Gemüths- und Gefühlssphäre 
unserer jugendlichen Verbrecher. Bekanntlich wird von vielen 
Seiten in dem Fehlen der altruistischen Regungen, der moralischen 
Neigungen und Instincte das charakteristische Merkmal des „Ge¬ 
borenen Verbrechers“ gesehen. Sollten diese Merkmale, wenn sie 
angeboren und durch eine eigene Organisation bedingt sind, nicht 
in einem unmodificirten Zustande sich bei schweren jugendlichen 
Verbrechern am deutlichsten und sichersten zeigen? Bei einem 
grossen Theil unserer jugendlichen Mörder sehen wir die That mit 
einer Grausamkeit, Rohheit und Gefühllosigkeit ausführen, die dem 
Alter der Thäter niemals zuzutrauen ist Schon Casper') weist bei der 
Besprechung erwachsener jugendlicher Mörder darauf hin, dass sich 
des Bösewichts, wenn der mörderische-Entschluss zur That geworden 
ist, ein blinder Affect bemeistert „Fanatisch erstickt er, schlägt oder 
sticht er auf sein Opfer los, auch wenn es ihm nach der ersten Ver¬ 
letzung klar sein muss, dass ein weiteres Wüthen wirklich zweck¬ 
los ist“. Einer unserer Verbrecher gestand selbst, dass er es unbe¬ 
greiflich finde, wie er so grausam ein Menschenleben habe ermorden 
können, da er sonst kein Blut habe fliessen sehen können. Aber 
dieses Verhalten ist bei dem jugendlichen Verbrecher zum Theil 
dadurch erklärlich, dass dem Zerstörungsgedanken, wie bei einem 
Geisteskranken, kein gebietender Einhalt durch einen hemmenden 
Willen entgegentritt. Noch überraschender und befremdlicher kann 
das gefühllose Benehmen unserer jugendlichen Mörder bei Gelegenheit 
der Recognoscirung mit der Leiche, bei ihrer Vernehmung vor Ge¬ 
richt erscheinen, die kalte Ruhe, mit der sie die That eingestehen, 
das Fehlen jeglicher Reue über ihr grausiges Verbrechen, der Mangel 


1) Mörderphysiognomien. Studie aus der praktischen Psychologie nach 
eigenen Beobachtungen. Von J. L. Casper. Vierteljahrsschr. f. gcriehtl. Med. 
1854. 6. Bd. S. 8. 


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166 


VI. Baer 


jedes Mitgefühls mit dem erlegenen Opfer ihrer bösen That. Gewiss 
weist dieser Zustand während und nach der That auf eine abnorme 
Beschaffenheit des Gefühls- und Gemüthslebens hin, ebenso wie das 
Fehlen jeder Reue und Gewissensregung während der Strafverbüssung. 
Bei 14 unserer jugendlichen Mördern hat sich niemals, weder früher 
noch nach einer langen Strafverbüssung eine wirkliche Reue gezeigt, 
obschon 13 von ihnen ihre That eingestanden haben; bei 4 von den 
22 war eine tiefe Reue unmittelbar nach dem Begehen des Debets 
eingetreten und in anderweiten Merkmalen stets lebhaft geblieben; bei 
anderen 4 war die Reue erst später lebhaft aufgetreten, während sie 
mit kalter Gleichgültigkeit und ohne jede Regung von Reue vor dem 
Richter ihre That eingestanden. Dieses Verhalten scheint jedoch bei 
genauer Beobachtung des Thäters in einzelnen Fällen nicht immer 
die Ursache, sondern eine Folge des Verbrechens. Das Bewusstwerden 
der begangenen Strafthat wirkt auf den Thäter nach Art einer 
Erschütterung, die sein gesammtes Sein ergreift und sein Denken und 
Fühlen eisern erhärtet und erstarrt. 

Wie die Reue und Gewissensbisse, fehlt bei einem Theile dieser 
schweren Verbrecher jedes sittliche Fühlen, jede sittliche Regung, 
aber der Defect dieses moralischen Empfindens ist gar häufig allein 
dem Mangel der Erziehung und dem Beispiel der Umgebung (Milieu) 
zuzuschreiben. Neben vielen angeerbten und angeborenen Fehlern 
der Organisation werden in den Verbrecherklassen viele Erschei¬ 
nungen der Deformation und der Unvollkommenheit in der ersten 
und späten Kindheit durch die Einflüsse der Umgebung in grosser 
Anzahl erworben. Und das Product dieser Einwirkungen ist den 
Verbrechern, wie auch vielen Nicht-Verbrechern aus den niederen 
Volkskreisen als Stempel der Minderwertbigkeit aufgedrückt Körper¬ 
liche Defecte werden in diesen Klassen durch mangelhafte Er¬ 
nährung, durch ungünstige gesundheitswidrige Lebensweise, durch 
frühzeitige Ueberanstrengung vielfach erworben, — und Rohheit 
des Gemüthslebens, Unempfindlichkeit gegen das Leiden Anderer, 
Stumpfheit des Gefühls und sittliche Verkommenheit nicht minder 
durch Beispiel und Angewöhnung anerzogen. Nur 2 von unseren 
jugendlichen Verbrechern* haben eine bessere, 9 eine schlechte 
und 11 eine mangelhafte Erziehung genossen; 8 von ihnen waren 
verwaist; nur 9 haben eine genügende Schulbildung (Volksschule) 
genossen; 11 waren in sehr armen Familienverhältnissen gross ge¬ 
worden und mussten schon früh, sehr früh, durch Mitarbeit die Fa¬ 
milie erhalten helfen. Und endlich waren 10 von ihnen auf den 
Strassen in der Grossstadt aufgewachsen, der Verwahrlosung und der 


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Ueber jugendliche Mörder und Todtschläger. 


167 


Verführung preisgegeben. Auch unter unseren jugendlichen Mördern 
finden sich solche, die nicht des Mitgefühls mit dem Leiden Anderer 
entbehren, die mit grosser Zärtlichkeit und Liebe an den Ihrigen und 
an früheren Freunden hängen, sie mit dem geringen Verdienste, den 
sie von der Strafarbeit erwerben, unterstützen. Liebe und Freund¬ 
schaft werden in ihren Briefen nicht selten in übertriebener Weise 
geäus8ert; nur an ihr Verbrechen wollen sie nicht erinnert sein. Und 
noch Andere schliessen ihr Inneres von der Aussenwelt und den Mit¬ 
menschen ab in tiefem Hass und Grimm, weil sie sich als ausgeworfen 
und ausgestossen von der Mitwelt ansehen, auch als Opfer eines unab¬ 
änderlichen Schicksalswillens, als Opfer ihrer Herkunft und Erziehung 
betrachten und misstrauisch jede Gemeinschaft mit der Aussenwelt 
meiden. 

Der Mangel an Reue und das Fehlen von Gewissensregung bildet 
die gewöhnliche Erscheinung bei den jugendlichen Verbrechern, die 
aus den Lebensverhältnissen der Grossstädte hervorgehen, und dieses 
ist im gesteigerten Maasse der Fall bei den jugendlichen Raubmördern 
derselben Art Diese gedeihen in ihrer körperlichen Entwicklung und 
zeigen nur hin und wieder Stimmungszustände, die eine zeitweise 
Verstimmung ihres Inneren verratben, die sie zu Ausbrüchs- und Ent¬ 
weichungsversuchen, selbst zum Selbstmordversuche, wie wohl nur 
sehr selten zum wirklichen Selbstmord treiben. Auch unter diesen 
jugendlichen Raubmördern erscheint nach langer Haft nicht selten ein 
Gemüthszustand, der an Reue und Gewissensbisse erinnert, der ihm 
ähnlich sieht und vielleicht auch in Wirklichkeit ein solcher ist. Unter 
Thränen wird das Vorleben und das Elend der Gegenwart sowie der 
Zukunft geklagt, um abwechselnd wieder einer heiteren Stimmung, 
einer freudigeren Lebensauffassung Platz zu machen. Die geoffen- 
barten Gemüthsregungen sind nicht immer die Anzeichen einer wirk¬ 
lichen Reue. Nicht das Verbrechen, nicht die schwere That wird be¬ 
reut und bedauert, sondern der Verbrecher bedauert sich selbst; er 
beweint das Leid, das ihn getroffen, die Entbehrungen, die er durch 
die Strafverbüssung erleiden muss. Wirkliche Reue, inneres Seelen- 
jeid, andauernde Einkehr in sich und schwere Gewissensangst zeigen 
nur wenige unserer jugendlichen Mörder, und meist solche, die aus 
ländlichen Verhältnissen stammen, und auch solche, die aus voller 
Lebenskraft herausgerissen, im Gefängnisse zur Einsicht ihres Elends 
gelangen. Vier unserer jugendlichen Mörder, die von tiefer Reue 
und Zerknirschung ergriffen wurden, sind nach kurzer Strafzeit unter 
schweren Leiden erlegen, sie sind von einer schnell oder langsam 
sich entwickelnden Schwindsucht hingerafft worden. Bei 2 war dies 

Archiv für Kiiminalanthropolofirie. XI. 12 


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168 


VI. Baek 


der Fall; bald nachdem sie von dem Todesfall ihres Mitthäters gehört 
haben; hier hat die Angst und die Furcht vor einem gleichen Geschick 
und unter dem Einfluss andauernden Kummers das Gemüthsleben 
unterwühlt Andere zwei, die aufrichtig ihre Missethat bereut, sind 
nach einer 12- und 7 jährigen Strafzeit nach der Ueberzeugung der Ge- 
fängnissbeamten gebessert aus der Anstalt entlassen und voraussicht¬ 
lich einem geordneten Lebenswandel wiedergegeben. Von den noch in 
der Anstalt befindlichen 10 Sträflingen zeigt nur ein einziger Zeichen 
von Reue und ernsten Gewissenskämpfen. Diejenigen unter ihnen, 
welche durch ihre ruchlosen, schweren Strafthaten viel Aufsehen erregt 
haben, sind nach vielen Jahren ihrer StrafverbUssung ebenso stumpf 
und gleichgültig ob ihrer That geblieben, wie sie unmittelbar nach 
Verübung derselben gewesen. Sie werden voraussichtlich auch nach 
Verbüssung ihrer langen Strafzeit dieselbe Gefahr für die Gesellschaft 
bleiben, wie sie eine solche schon vorher gewesen. 


Am Schlüsse dieser Betrachtungen drängt sich noch die Frage 
auf: „Wie werden diese jugendlichen Mörder von dem System 
unseres Strafvollzuges betroffen und beeinflusst?“ 

Von unseren 22 jugendlichen Verbrechern waren verurtheilt zu 


einer Strafe von: 

5 Jahren.1 (Todtschlag) 

5 V* * t (Todtschlag) 

6 * .2 (1 Mordversuch, 1 Todtschlag) 

7 » 1 (Todtschlag) 

7 1 j ? 2 (Mordversuch) 

8 * 1 (Mordversuch) 

9 * 1 (Mordversuch) 

10 * 1 (Mord) 

12 * 2 (Mord) 

15 * 10 (Mord). 


Sämmtliche Sträflinge wurden bei Beginn der Haft der strengen 
Einzelhaft unterworfen. Diese wurde je nach der Individualität ver¬ 
schieden ertragen. Bei einer nicht geringen Zahl musste dieselbe 
unterbrochen werden, da diese auf Geist und Gemüth derartig 
nachtheilig einwirkte, dass sie mit der Gemeinschaftshaft vertauscht 
werden musste. Schwere Depressionserscheinungen, zu tiefe Reue 
und auch schwere nachtheilige Einwirkungen auf die körperliche 
Gesundheit (beginnende Phthisis) machte eine Ueberführung in ge¬ 
meinschaftliche Haft nothwendig. Dies war ganz besonders bei den 


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Ueber jugendliche Mörder und Todtschläger. 


169 


aus leidenschaftlichen Motiven zum Verbrechen gelangten und ganz 
vorwiegend bei den aus ländlichen Verhältnissen herausgerissenen 
Sträflingen der Fall. Viele zu den maximalen Strafsätzen Verurtheilten 
verlangten nach der Verbüssung der ersten 3 Jahre ihrer Strafzeit 
in der Einzelhaft die ihnen gesetzlich zustehende Versetzung in die Ge¬ 
meinschaftshaft. Von ihnen verlangten wiederum einzelne sehr bald 
die Rückversetzung in die Zelle, weil sie unter den Mitgefangenen 
Widerwärtigkeiten und Unannehmlichkeiten erdulden mussten. Andere 
lebten sich in den Zustand der Isolirung derartig ein, dass sie, da 
sie in eine abnorme Stupidität verfielen, sogar widerwillig in die 
Gemeinschaft gebracht werden mussten. Bei der grössten Mehrheit 
wirkte die Einzelhaft in keiner Weise nachtheilig auf die geistige 
und körperliche Entwicklung der jugendlichen Sträflinge ein. 

Von den 22 Sträflingen verliessen 7 die Anstalt vollkommen 
gesund: 2 nach Verbüssung einer 5*/2 jährigen (der eine von diesen 
war bald nachher geisteskrank und in eine Irrenanstalt gebracht); 
2 nach 6; 1 nach 7; 1 nach 7 1 /n; und einer nach 12 jähriger Strafzeit. 
Von ihnen sind ferner 4 in der Anstalt verstorben und sämmtlich 
an Phthisis (1 nach 2 1 /«; 1 nach 2*/a; 1 nach 2% und 1 nach 
3jähriger Strafverbüssung); von ihnen ist endlich 1 nach einer 7V2- 
jährigen Straftzeit geisteskrank in eine Irrenanstalt gebracht worden. 

Ob es für das Gemeinwohl nützlich und zweckmässig ist, zu 
langzeitiger Strafe verurtheilte jugendliche schwere Verbrecher in der 
bisherigen Weise dem Strafvollzüge zu unterwerfen? 

Will man diese Kategorie von Verbrechern nicht als moralisch 
unverbesserlich ansehen, und will man mit Rücksicht auf ihre Jugend 
und ihre häufig vernachlässigte Jugenderziehung noch eine Rettung 
versuchen, so ist ihre Bestrafung mehr nach pädagogisch-progressivem 
System einzurichten. Hier kann nach langer Erprobung der Sträfling 
seine Umkehr zu einem besser gewordenen Menschen zeigen, das Ver¬ 
trauen zu seiner sittlichen Besserung sich erwerben und verdienen. Und 
diejenigen von ihnen, welche auch nach langem Strafvollzug keine 
Umkehr, keine Aenderung zeigen, die, wie wir auch bei unseren 
jugendlichen Sträflingen sehen und erfahren, eine stete Gefahr für 
die freie Gesellschaft bilden, diesen sollte man nicht nach formaler 
Verbüssung der ihnen gesetzlich auferlegten Strafzeit die Gefängniss- 
thüren öffnen und sie auf die ausserhalb derselben befindliche Gesell¬ 
schaft loslassen. Hier sollte die Einsperrung auf unbestimmte Zeit 
und mit dieser auch die lebenslängliche Internirung zulässig sein, 
um Verbrecher dieser Art andauernd unschädlich zu machen. Die Ge¬ 
sellschaft hat ein Recht, sich vor diesen gefährlichen Elementen zu 

12 * 


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170 


VI. Baer, Ueber jugendliche Mörder und Todtschläger. 


schützen. Für die schweren Missethäter im jugendlichen Lebens¬ 
alter sollten eigene Anstalten vorhanden sein, Erziehungs- und Straf¬ 
anstalten mit kolonial-ländlichem Charakter. Als jugendliche Ver¬ 
brecher eingeliefert, wachsen sie bald aus dem kindlichen Lebensalter 
heraus und werden der Behandlung der erateren bald entwachsen. 
Eine zu lange Einzelhaft wird in vielen Fällen unzulässig. Mit 
anderen Sträflingen gemeinsam sind sie eine sittliche Gefahr für 
diese und eine schwere Verlegenheit für die Verwaltung; sie müssen 
besonders beobachtet und auch besonders berücksichtigt werden. Ver¬ 
brecher dieser Art sollten in eigenen Anstalten zusammengebracht 
und einem eigenen Strafvollzug unterworfen werden. 


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VII. 


Der Raubmordprocess gegen Georg Will. 

Mitgetheilt vom 

k. k. Gerichtsadjuncten Dr. v. Maokowitz in Innsbruck. 

Im Mai 1902 spielte sich vor dem Schwurgericht in Augsburg 
ein Kriminalprocess ab, der im Publikum grosses Aufsehen erregte 
und auch für die Fachkreise nicht ohne Interesse ist, weshalb seine 
wichtigsten Momente in einer kurzen Darstellung hier Platz finden 
mögen, die sich streng an meine persönlichen Erinnerungen anschliesst. 

Am 6. November 1900 Nachts wurde ein Individuum wegen 
Einbruchsdiebstahls auf der Karlsbader Hütte im Gerichtsbezirk Glurns 
(Tirol) verhaftet und dem Kreisgericht in Bozen eingeliefert. Der Mann 
gab bei seinem Verhör dem Schreiber dieser Zeilen, der damals als 
Untersuchungsrichter in Bozen fungirte, an, er heisse Emil Szeget, 
sei im Jahre 1874 zu Rezisca in Ungarn geboren worden, habe seine 
Eltern früh verloren, nach mangelhafter Erziehung bei seiner Gross¬ 
mutter das Bierbrauergewerbe gelernt, eine Zeit lang in Ungarn und 
Oesterreich gearbeitet; er streife nun seit Jahren ausweis- und be¬ 
schäftigungslos in Deutschland, der Schweiz und Oesterreich herum, 
führe den Namen Kohlhammer oder Becheräz und habe bereits früher 
in Innsbruck eine Abstrafung wegen Einbruches in Alpenschutzhütten 
erlitten. 

Szeget räumte weiters beim Verhör aus freien Stücken ein, dass 
er eine ganze Reihe von Alpenschutzhütten ' erbrochen und beraubt 
habe und dass er gerade im' Begriffe gestanden sei, sich durch das 
Ortlergebiet in die Schweiz und nach Italien zu wenden, als seine 
Arretirung erfolgte. 

Bevor die nothwendigen-Constatirungen in den angeblich beraubten 
Schutzhütten vorgenommen werden konnten, traten enorme Schnee¬ 
fälle ein und an eine Schadenserhebung (welche in Oesterreich schon 
wegen der Competenzfrage unerlässlich ist) war vorläufig nicht mehr 
zu denken. Aus den requirirten Strafacten des Landesgerichts Inns- 


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172 


VII. Mackowitz 


bruck ergab sich, dass Szeget dortselbst am 22. Februar 1898 wegen 
Einbruches in Schutzhütten zu 15 Monaten schweren Kerkers verurtheilt 
worden war und die Strafe in der Anstalt Garsten verbüsst hatte. 
Die Untersuchung vermochte zwar zu konstatiren, dass seine Angaben 
über Heimath u. s. w., welche sich im Ganzen und Grossen mit seinen 
bezüglichen Behauptungen in Bozen deckten, erlogen seien, aber eine 
Identificirung des Mannes war nicht zu erreichen gewesen; wenn ich 
daher auch nicht hoffen konnte, volles Licht in die Angelegenheit zu 
bringen, so beschloss ich doch, das Möglichste zu versuchen, da es 
mir einerseits räthselbaft genug schien, dass der Beschuldigte allein, 
zu beginnender Winterszeit, lebensgefährliche, halsbrecherische Wege 
durch die verlassenen Gebirge, über Schnee und Gletscher unternahm, 
während doch seinesgleichen um diese Jahreszeit die wirthlichen Thäler 
aufzusuchen pflegen, und da ich andererseits aus seinem freiwilligen 
Geständniss von der Beraubung verschiedener Hütten den Schluss 
zog, der Mann wolle dem Strafgericht möglichst viel und genaues 
Material zu einer baldigen Verurtheilung an die Hand geben. 

Schon während der Untersuchung beim Landesgericht Innsbruck 
hatte Szeget erzählt, er sei in der Schweiz anlässlich einer B&uferei 
mit einem Bevolver angeschossen und in Bern verpflegt worden; 
letztere Behauptung erwies sich als unwahr, wohl aber fand sich an 
seiner linken Brustseite eine kreisrunde, etwa 1 cm im Durchmesser 
haltende Narbe, die von einer Schusswunde herrühren konnte und 
ausserdem fühlte man in der linken Achselhöhle des Verhafteten einen 
runden harten Körper, der sich alsProjectil deuten liess, als welches 
ihn auch Szeget erklärte. 

Die umfangreichen Recherchen nach seiner Persönlichkeit schienen 
kein Resultat ergeben zu wollen, bis Ende November 1900 von 
der königl. Staatsanwaltschaft in Augsburg die Anfrage einlief, ob 
Szeget vielleicht mit dem langgesuchten' Raubmörder Georg Will 
identisch sei. — Aus dem mir zur Prüfung dieser Frage zur Ver¬ 
fügung gestellten Actenmaterial ergab sich in Kurzem folgende Vor¬ 
geschichte: 

Am 6. October 1891 Nachts wurden in Wertingen bei Augsburg 
der Bäcker Josef Braun und dessen Tochter Theres in ihrer Woh¬ 
nung erschlagen, die Frau des Ersteren, Anna Braun aber in mörde¬ 
rischer Absicht mittelst mehrerer Beilhiebe am Kopfe schwer verletzt; 
der Mörder nahm Geld und Wertheffecten mit sich und entfloh. Der 
Verdacht lenkte sich sofort auf den Bäckergehilfen Georg Will, am 
28. März 1872 in Pahres (Bayern) geboren, der wegen groben Un¬ 
fuges und Diebstahls bereits mehrere Male vorbestraft war, vom 


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Der ßaubmordprocess gegen Georg Will. 


173 


23. August 1891 bis zur Unglücksnacht bei Braun gearbeitet hatte 
und sodann spurlos verschwand. 

Am 12. October 1891 fand man in einem Park zu Bremen einen 
jungen Mann auf, der sich in selbstmörderischer Absicht drei Revolver¬ 
kugeln in die Brust geschossen hatte; im Krankenhaus entfernte man 
ein Projectil, während zwei im Körper belassen wurden. Das Be¬ 
finden des Verletzten besserte sich, und am 21. October 1891 gab er 
bei einer polizeilichen Vernehmung an, er heisse Kotter Georg, sei 
am 28. Februar 1872 geboren, seines Zeichens Graveur; seine Eltern 
seien Zigeuner gewesen und er habe nach langem Wanderleben in 
Verzweiflung über seine Mittellosigkeit einen Selbstmordversuch unter¬ 
nommen. Ohne dass der Verdacht rege geworden zu sein scheint, 
Kotter sei mit dem von Augsburg aus verfolgten Georg Will iden¬ 
tisch, wurde er aus dem Krankenhaus entlassen und kam in die An¬ 
stalt „Bethel“ bei Bremen, wo er bis zum 14. Februar 1892 verblieb. 
Am 13. Februar 1892 wurde er über Veranlassung der Regierungs¬ 
behörde, die sich mit dem ausweislosen Menschen zu befassen be¬ 
gann, photographirt und im Schrecken darüber entfloh er Tags darauf 
heimlich, ohne dass man weiter eine sichere Spur von ihm eruirt hätte. 

Zwei in seinem Besitz gefundene Zinsscheine, welche eingewechselt 
wurden und sich als Eigenthum des ermordeten Braun herausstellten, 
sowie die in Bethel aufgenommene Photographie bewiesen, dass der 
angebliche Kotter mit Georg Will identisch sei und da die weiter 
gepflogenen Erhebungen einem Zweifel, dass Will den Raubmord 
verübt hatte, nicht mehr Raum liessen, musste das Verfahren bis zur 
Aufgreifung des flüchtigen Thäters eingestellt werden. — Jahre waren 
vergangen, ohne dass sich eine Spur des Verbrechers entdecken liess 
und die Betheiligten nahmen an, Georg Will habe Selbstmord verübt, 
oder sei nach Amerika entschlüpft. 

Die JPhotographie WilFs, welche der Staatsanwalt in Augsburg 
dem Kreisgericht in Bozen übersandte, war ein Abzug jener in Bethel 
aufgenommenen und stellte einen jungen, bartlosen Mann mit rundem, 
breitknochigen, ausdruckslosen Gesicht dar; die Farbe der Augen 
liess sich nicht erkennen. Szeget hingegen hatte eher schmales, langes 
Gesicht, mittelstarken Schnurrbart, stechende graue Augen und un- 
gemein markante, in Folge seines beschwerlichen Wanderlebens ver¬ 
witterte Züge: also für den ersten Moment nicht die geringste Aehn- 
lichkeit! Aber wer vermag die Aenderungen zu -beurtheilen, denen 
ein in der Entwicklung begriffener Organismus unterworfen ist, ins¬ 
besondere wenn der Kampf um das Leben harte Entbehrungen for¬ 
dert? Wer würde es wagen, sich über die Identitätsfrage zu äussern, 


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174 


VII. Mackowitz 


wenn, wie in diesem Fall, zum Vergleich nur eine vor 9 Jahren auf¬ 
genommene Photographie vorliegt? 

Das in Bozen angefertigte Bild Szeget’s wurde also mehreren 
Personen vorgewiesen, welche Will gekannt hatten — die einen wollten 
Aehnlichkeit mit letzterem herausfinden, andere nicht. Ein in der 
Strafanstalt Garsten aufgenommenes Bild Szeget’s lieferte auch kein 
brauchbares Mittelglied zwischen dem Bilde Will’s und der in Bozen 
angefertigten Photographie, ebenso vermochten die Haftgenossen 
keinerlei verwerthbare Angaben zu machen, da Szeget als schweig¬ 
samer Mann bekannt war. Da konnte nur die Confrontation mit allen 
Zeugen helfen und so lieferte man Szeget am 30. Januar 1901 zu 
diesem Zwecke nach Augsburg. 

Der Verhaftete hatte in Bozen während der ganzen Zeit, als die 
ersten Erhebungen währten, absolut keine Kenntniss vom Verdacht 
erhalten, der nunmehr auf ihm ruhte und mit Spannung sah ich 
deshalb der Wirkung entgegen, welche die, am 29. Januar 1901 
Abends gemachte Eröffnung, er werde am nächsten Morgen nach 
Augsburg geliefert, auf ihn ausiiben würde. Keine Miene zuckte in 
seinem wetterharten Gesicht und lachend frug er mit ungeheucheltem 
Erstaunen, was man von ihm in Augsburg wolle. Das Eine stand 
bei mir fest: der Mann ist ein Schauspieler ersten Banges, wenn er 
wirklich den Raubmord begangen hat 

Die Erhebungen in Augsburg verstärkten den Verdacht; eine 
ganze Reihe von Zeugen betonte grosse Aehnlichkeit mit Will, einige 
behaupteten geradezu, er sei sicher der Gesuchte, wenige, darunter 
ein Oberamtsrichter, der den Mörder kurze Zeit vor der That gesehen 
hatte, schlossen die Identität Szeget’s mit Will aus. Der Vater, ein 
Bruder und eine Schwester Will’s entschlugen sich nach Gegenüber¬ 
stellung mit Szeget der Aussage; ein Zeuge wusste zu sagen, Will 
habe sich vor dem Mord geäussert, er werde, wenn er einmal etwas 
anstelle, in die Berge flüchten, wo ihn Niemand finden könne. — 
Aus dem Dialekt des Verhafteten Hess sich keinerlei verwerth- 
bares Moment konstruiren, weil die Zeugen über die Mundart Will’s 
ganz verschieden aussagten und Szeget, vermuthlich in Folge seines 
Wanderlebens, ein Gemisch von Dialekten sprach, das auf keine be¬ 
stimmte Gegend deutete. 

Endlich ist noch zu bemerken, dass von all den vernommenen 
Zeugen Niemand mit Will näher bekannt war, sondern, dass sämmt- 
liche ihn nur oberflächlich an seinen früheren Dienstorten, in Wer¬ 
tingen, oder auf der Flucht gesehen hatten. Von besonderer Wichtigkeit 
waren aber die objectiven Momente, die zu Lasten Szeget’s zeugten. 


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Der Raubmordprocess gegen Georg Will. 


175 


Die Durchleuchtung seines Körpers mit Röntgenstrahlen bewies, 
dass ein Revolverprojectil in der Lunge stak, und zwar an jener 
Stelle, wo es sich nach den im Bremerspital gemachten ärztlichen 
Aufzeichnungen auch bei Will finden musste. Der von Szeget als 
Projectil gedeutete Fremdkörper in der Achselhöhle konnte hingegen 
nicht als Geschoss anerkannt werden; nun blieb die Möglichkeit, dass 
das zweite Projectil (das dritte war, wie schon gesagt, extrahirt worden) 
bei der Durchleuchtung nicht gefunden — oder aber später einmal 
berau 3 genommen wurde, eine Annahme, die um so gerechtfertigter 
schien, als der Bremer Spitalsarzt nach seinen Aufzeichnungen die 
Lage der drei Schusswunden Kotter’s genau zu lokalisiren wusste, 
und diesen drei Stellen präcis je eine Narbe am Körper Szeget’s ent¬ 
sprach, von denen die erste von ihm selbst als von einer Schuss¬ 
wunde herrührend erklärt worden war, während er die zwei anderen, 
für das Laienauge kaum kenntliche kleine Hautverfärbungen, über¬ 
haupt nie beobachtet haben wollte. 

Eine Narbe Will’s an der linken Hand findet sich an gleicher 
Stelle bei Szeget, ebenso eine Narbe am rechten Ellenbogen, die der 
Mörder hatte, und einige Narben, die ein Friseur kurze Zeit vor der 
That am Kopfe Will’s konstatirt hatte. 

Nur die Deposition des Photographen, von dem das Bild Will’s 
in Bethel aufgenommen worden war, fügte sich nicht in den Rahmen 
des Beweises; nach diesem besass nämlich Will braune Augen, wäh¬ 
rend Szeget graublaue hatte. 

Den angeführten, wie man wohl zugeben muss, sehr belastenden 
Momenten setzte Szeget stets nur die eine Antwort entgegen, er sei 
mit Will nicht identisch, wenngleich er zugeben müsse, dass er nicht 
Szeget heisse, und dass auch seine Angaben über Geburtsort, Zu¬ 
ständigkeit u. s. w. erlogen seien. So wurde der Genannte nach Bozen 
zurückgeliefert und dortselbst am 12. April 1901 wegen Verbrechen 
des Diebstahls zur Strafe des schweren Kerkers von 2 1 /* Jahren ver- 
urtheilt, die er in der Strafanstalt Graz verbüsste. 

Mittlerweile fanden die Erhebungen in Bayern ihre Fortsetzung, 
verschiedene nebensächliche Momente, deren Ausführung hier nicht 
nöthig erscheint, ergänzten den Schuldbeweis, und nun sah sich die 
Staatsanwaltschaft Augsburg bewogen, im Frühling 1902 gegen 
Georg Will alias Emil Szeget die Anklage wegen Mordes an Josef 
und Theres Braun, Mordversuch an Anna Braun, beides im Zusammen¬ 
fluss mit erschwertem Raub zu erheben, über welche am 1. Mai 1902 
vor dem Schwurgericht in*Augsburg die Hauptverhandlung stattfand. 

Bei hundert Zeugen (darunter auch der Untersuchungsrichter des 


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176 


VII. JIackowitz 


Landesgerichtes Innsbruck und ich) theils von der Anklage, theils von 
der Verteidigung beantragt, waren geladen, da der Schuldbeweis in 
dreifacher Richtung zu erbringen war: t. dass das Verbrechen von 
Georg Will verübt wurde, 2. dass Georg Will und Georg Kotter — 
endlich 3. dass Georg Will und Emil Szeget identisch sei. 

Dem Beschuldigten batte man Kleider gegeben, wie sie Will auf 
der Photographie zeigt, sein Schnurrbart war rasirt, sein Haupthaar 
geschnitten worden und ich muss gestehen, dass ich im ersten Moment 
Mühe hatte, in dem, vom Aufenthalt im Kerker bleich gewordenen 
Burschen den verwegenen kecken Mann wiederzuerkennen, der mir 
l ‘/2 Jahre früher eingeliefert worden war. 

Die oben sub 1 und 2 bezeichneten Beweissätze wickelten sich 
rasch und glatt ab und es traten nun in langer Reihenfolge die Zeugen 
auf, welche die Identität des Beschuldigten mit dem Mörder darthun 
sollten. Das Ergebniss dieser Aussagen hätte sich gewiss nicht ein¬ 
mal der von der Schuld Szeget’s fest überzeugte Staatsanwalt träumen 
lassen: Den früher erwähnten Oberamtsrichter ausgenommen, der bei 
seiner Annahme blieb, versicherte ein Zeuge nach dem anderen mit 
einer geradezu verblüffenden Entschiedenheit, der Beschuldigte sei 
kein anderer als Will; wer in der Untersuchung unentschieden, zweifel¬ 
haft ausgesagt hatte, jetzt wusste er sicher und genau, dass der Lang¬ 
gesuchte vor ihm sitze. Der Hinweis des Vertheidigers auf die Mög¬ 
lichkeit der Täuschung nach so langer Zeit, .auf Differenzen zwischen 
einzelnen Angaben bezüglich des Dialektes WilFs blieb stets ohne Er¬ 
folg, ja schien sogar die Sicherheit der Zeugen zu bestärken. Nun 
stelle man sich den Eindruck vor, den diese Beweisführung auf die 
Geschworenen machte, man vergegenwärtige sich die geradezu frap- 
pirende Wirkung, als die Narben zur Sprache kamen! Dazu ein 
Angeklagter, der nur höhnisch lächelt, dann und wann eine freche 
Bemerkung macht und zu all den belastenden Momenten nichts 
anderes zu sagen weiss, als er sei nicht Will, wolle aber nicht ver- 
rathen, wer er wirklich sei! 

Das Schicksal des Beschuldigten schien besiegelt; es dürften 
wenige Menschen im Schwurgerichtssaale gewesen sein, welche nicht 
fest von der Schuld Szeget’s überzeugt waren, dies spiegelte sich in 
den Mienen der Geschworenen wieder, man konnte es aus dem Zu¬ 
schauerraum hören und in den Zeitungen lesen: der Angeklagte ist, 
Gott sei Dank, überwiesen! 

Am dritten Verhandlungstage — es wären noch ca. 30 Zeugen, 
darunter der Arzt aus Bremen abzuhören und das gerichtsärztliche 
Gutachten über die Schussnarben abzugeben gewesen — erklärte der 


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Der Raubmordprocess gegen Georg Will. 


177 


Vertheidiger, offenbar unter dem Eindruck der bisherigen Verhand¬ 
lung und in der Ueberzeugung, es stehe kein anderer Ausweg 
mehr offen, — der Angeschuldigte heisse Anton Kerscher aus Furth 
im Walde, habe zur Zeit des Raubmordes in Oesterreich gearbeitet, 
die Schusswunde an der Brust gelegentlich in der Heimath anlässlich 
eines Streites erhalten und mit Rücksicht auf seine Familie seine 
Generalien verschwiegen; sein Bruder, der in Augsburg arbeite, könne 
als Kronzeuge sofort auftreten. 

Anfangs war alles starr vor Staunen; man konnte sich nicht im 
Gedanken zurecht finden, dass der Zufall ein solches Spiel treibe, 
man dachte an Mystifi cationen, bis die Scene der Erkennung, welche 
sich unmittelbar darauf mit dem herbeigerufenen Bruder abspielte, 
Licht in die Sache brachte, die Behauptung des Verteidigers be¬ 
stätigte und den Gerichtshof veranlasste, die Verhandlung zu vertagen, 
um das nun leicht nachzuweisende Vorleben des Angeklagten und 
sein Alibi für die kritische Zeit zu erheben. 

Dies geschah denn auch in einer, jeden Zweifel ausschliessenden 
Weise und zwei Monate später erfolgte vor dem Schwurgericht formell 
der Freispruch Anton Kerscher’s. 

Wenn auch die gebotene Darstellung nur die wichtigsten Mo¬ 
mente des Processes berührt und eine Menge von kleinen Schatti- 
rungen übergeht, die sich wie der verbindende Mörtel in das Beweis¬ 
gebäude eingliederten, so wird wohl Niemand zweifeln, dass da eine 
Reihe von sehr spannenden und aufregenden Augenblicken zu durch¬ 
lebenwaren, die jedem Beteiligten immer in Erinnerung bleiben werden. 

Es bedarf eigentlich zur Erzählung der Facta gar keiner weiteren 
Ausführungen: der Process lehrt eo ipso eindringlich genug; doch 
möchte ich kurz zwei Punkte berühren, die für die Praxis von Werth 
sein können, es ist dies die Verwendbarkeit der Identitätszeugen und 
der sogenannten objectiven Indicien. 

Jeder Praktiker weiss von der Unverlässlichkeit der Zeugen zu 
erzählen, insbesondere, wenn sie die Identität eines ihnen nicht sehr 
nahe bekannten Menschen bestätigen sollen. Trotz aller theoretischen 
Belehrungen wird aber häufig ausser Acht gelassen, dass man den 
Leuten von Gerichtswegen zu derartigen Aussagen behülflich ist Im 
concreten Fall sollten die verlässlichsten Zeugen jene sein, welche 
den Will während der Zeit kannten, die er beim Bäcker Braun ge¬ 
arbeitet hatte, oder die er sich in Bethel aufhielt, in zweiter Linie 
jene, welche ihn früher, und endlich jene, welche ihn nach der That 
in oder bei Wertingen sahen. Mehr als 10 Jahre sind verflossen, 
das Verbrechen und der Thäter vergessen. Nun erfolgen plötzlich 


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178 


VII. Mackowitz 


gerichtliche Ladungen, die ersten Vernehmungen lauten zweifelnd, aber 
zufällig nicht absolut verneinend. Die Leute tragen die Neuigkeit 
in das stille Wertingen zurück, sie bildet ein Gesprächsstoff; die Er¬ 
innerung an das fschreckliche Verbrechen, au den flüchtigen Thäter 
taucht wieder auf, in manchen Details durch Gedächtnissfälschungen 
verzerrt, in manchen Details lückenhaft. Diese Lücken füllen sich 
von selbst durch die Erzählungen der bereits Vernommenen, der 
Eine hat dies Moment beobachtet, Jener ein anderes; man hört von 
den Narben, die Will trug, mit denen Szeget gezeichnet ist: das 
schafft kein Zufall! Der Verhaftete nennt seinen Namen nicht, man 
hat ihn in der einsamen Bergwelt festgenommen, in der er, offen¬ 
bar das Vergessen suchend, herumgeirrt, — kein Zweifel, die Nemesis 
hat ihn endlich erreicht! 

Es kommt zur Hauptverhandlung; durch zwei Tage sitzen die 
Zeugen beisammen, sprechen von Will und ihren Erinnerungen daran. 
Die Erzählung der Zeugen aus Bremen ergänzt die der Wertinger 
und umgekehrt, und wenn der Einzelne zur Aussage vor die Ge¬ 
richtsschranken tritt, steht es in ihm unumstösslich fest, der Beschul¬ 
digte sei Georg Will und gehoben durch das Bewusstsein, mit bei¬ 
zutragen zu dessen Ueberweisung, beschwört er seine Angabe. 

Der Zeuge spricht optima fide, aber im Banne der suggestiven 
Wirkung, welche der Process auf ihn unmerklich ausgeübt hat und 
der er sich nicht entziehen kann, wenn ihm die das Gedächtniss kri¬ 
tisch prüfenden Fähigkeiten mangeln, welche dem erwähnten Ober¬ 
amtsrichter ermöglichten, fest bei seiner Meinung zu bleiben. Es ist 
ja selbstverständlich, dass Niemand im Stande sein wird, die Gefahr der 
Suggestion’zu bannen, aber zur Vorsicht mahnen muss der Fall, nicht 
nur den Untersuchungsrichter, der durch mehrmalige Vernehmungen, 
durch Bekanntgabe von Momenten, die das vom Zeugen Auszu¬ 
sagende wahrscheinlich machen, häufig selbst unbewusst suggerirt, 
sondern auch den erkennenden Richter, der diesen Factor besonders 
dann nicht aus den Augen lassen darf, wenn eine grössere Anzahl 
von Zeugen durch längere Zeit (z. B. während der Verhandlung) sich 
selbst überlassen bleiben muss. 

Interessant war übrigens, den Eindruck zu beobachten, den die 
Eröffnung des Vertheidigers über die Generalien seines Clienten auf 
die im Saale anwesenden, bereits vernommenen Zeugen machte, ln 
wirrem Durcheinander versicherten sich die Leute, es handle sich 
nur um einen verzweifelten Coup des Rechtsanwaltes, sie hätten sich 
nicht getäuscht, könnten sich nicht täuschen und das Ende vom 
Lied werde eine neuerliche Vorladung zur nächsten Schwurgerichts- 


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Der Baubmordprocess gegen Georg Will. 


179 


Verhandlung sein; mir ist nicht erinnerlich, dass auch nur einer von 
ihnen sich dahin geäussert hatte, er räume die Möglichkeit eines Irr¬ 
thums ein, oder er erschrecke vor dem Spiel des Zufalls, welch 
letzterer Empfindung sich gewiss keiner verschliessen konnte, dessen 
Lebensberuf die Arbeit im Gerichtssaale ist 

Es darf allerdings nicht unerwähnt bleiben, dass man nur schwer 
ermessen kann, in wie weit Aehnlichkeiten des Gesichtes und des 
ganzen Gebabrens zwischen Kerscher und Will den Zeugen die Bil¬ 
dung ihrer Meinung erleichtert haben, nur steht fest, dass vom Bilde 
Will’s Niemand auf Szeget-Kerscher geschlossen hätte; aber auch an¬ 
genommen, dass Aehnlichkeiten existirten, muss in der fortgesetzten 
Aussprache zwischen den Zeugen zum Mindesten jene suggestive 
Wirkung gesucht werden, welche die gesteigerte Präcision ihrer Be¬ 
hauptungen bei der Verhandlung im Gegensatz zur Untersuchung 
verursachte. 

Oder kann man zu einer anderen Erklärung kommen, wenn man 
bedenkt, dass das Bild Szeget’s sowohl von Bozen als auch später 
von Augsburg an alle Sicherheitsbehörden gesendet und veröffentlicht 
wurde, — wenn man erwägt, dass jedenfalls die Sicherheitsbehörden 
in der Heimath Kerscher’s, — wahrscheinlich auch einige seiner Be¬ 
kannten — es zu Gesicht bekamen, und dass trotzdem von dort keine 
Nachricht einlief, obwohl die in den Beschreibungen erwähnte Schuss¬ 
narbe, durch welche die Staatsanwaltschaft Augsburg zur Anfrage in 
Bozen veranlasst wurde, das Augenmerk auf die Person des lange 
vermissten Anton Kerscher hätte lenken müssen. 

Die Gefahr der Suggestion, schon beim Zeugenbeweis in hohem 
Maasse vorhanden, heftet sich aber in unvergleichlich grösserem Um¬ 
fange an den Beweis durch objective Indicien. 

Es kann Niemand Wunder nehmen, wenn der Richter besonderes 
Gewicht auf die Punkte legt, welche den Sinnestäuschungen und 
Erinnerungsfälschungen schlechter zufälliger Beobachter nicht aus¬ 
gesetzt, durch Fachmänner gewürdigt wurden, oder ihm selbst zur 
Würdigung vorliegen, mit anderen Worten, dass er sich gerne aus 
dem Reiche schwankender Zeugenaussagen nach dem realen Boden der 
objectiven Indicien rettet, die mit Recht als Errungenschaft des 
modernen Processes gelten, dass er sich an sie klammert, auf sie 
seine Ueberzeugung baut. 

Aber ein Fehler schleicht dann nicht selten mit, der ver- 
hängnissvoll werden kann: gerade der Umstand, dass Sachverständige 
unter richterlicher Controle geprüft und [ihr Gutachten abgegeben 
haben, oder dass der Richter selbst die Umstände wahrnehmen kann. 


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VII. Mackowttz, Der Ilaubmordprocess gegen Georg Will. 


deren Constatirung er beim Zeugenbeweis Dritten überlassen muss, 
gerade das hierdurch hervorgerufene Gefühl der Beruhigung ver¬ 
leitet nur zu leicht, an die Möglichkeit von Täuschungen nicht zu 
denken, und den Fehlercoefficienten des Zufalls ausser Berechnung 
zu lassen. 

Es giebt natürlich auch hier keinen Grundsatz, nach dem man 
bei Würdigung solcher lndicienbeweise vorzugehen hat, nur wird 
man sich beim Vorliegen einzelner Indicien gewissenhaft die Frage 
beantworten müssen, ob gerade der zu verwerthende Umstand für sich 
allein betrachtet, leicht als Product des Zufalles Vorkommen kann 
und, falls mehrere Indicien zur Prüfung gelangen, ob ein gewisser 
Zusammenhang unter ihnen besteht, oder ob sie, von einander unab¬ 
hängig, nur scheinbar einen Complex, in Wirklichkeit aber eine Mehr¬ 
heit von Momenten bilden, von denen jedes einzelne für die Con- 
struction eines Beweises wenig oder gar kein Gewicht hätte. 

In welch’ erhöhtem Maasse liegt aber die Gefahr eines Fehl¬ 
schlusses vor, wenn die Geschworenen solch heikle psychologische 
Fragen in den Bereich ihrer Erwägung ziehen sollen! Der Suggestion 
so leicht zugänglich, wie die Zeugen, der schwierigen Arbeit des 
gegenseitigen Abwägens belastender und entlastender Momente völlig 
ungewohnt, liegt ihnen der Ausweg nur zu nahe, anscheinend präcis 
aussagenden Zeugen blind zu glauben, sich auf das erste beste ob- 
jective Moment zu verlassen und daran eine felsenfeste Ueberzeugung 
zu knüpfen, die sie aus allen Zweifeln befreit, aber auch für das 
Schicksal des Angeklagten entscheidend wird. 

Die Pathologie des Geschworeneninstitutes ist schon so oft und 
erschöpfend von berufensten Seiten behandelt worden, dass sie durch 
eine weitere Darlegung dieser Momente keine nennenswerthe Be¬ 
reicherung erfahren würde; ich glaube aber zum Schlüsse noch an¬ 
führen zu sollen, dass wir praktische Juristen, die wir dem Proeess 
Will beiwohnten, unter dem tiefen Eindruck des Erlebten uns die 
Versicherung gaben, die Lehre von der Macht des Zufalls, welche 
der Straffall mit erschreckender Eindringlichkeit gepredigt hatte, nie 
vergessen zu wollen. 


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VIII. 


Zwei Knaben als Raubmörder. 

Von 

Alfred Amsohl, 
k. k. Staatsanwalt in Graz. 

In meiner langen Praxis als Untersuchungsrichter, Vertheidiger, 
Bezirksrichter, Schwurgerichts-Vorsitzender und Staatsanwalt hat noch 
niemals ein so scheusslicher Fall mich beschäftigt als derjenige, dessen 
Schilderung ich jetzt beginne. Es sind schon schwerere Verbrechen be¬ 
gangen worden und schwerere Verbrecher haben auf der Anklage¬ 
bank gesessen. Nicht die einzelnen Strafthaten, die Thäter sind es, 
die dem heutigen Falle sein grauenhaftes Relief verleihen. 

Der eine zählt 19, der andere 17 Jahre; der eine ist achtr, der 
andere siebenmal vorbestraft. Allein abgesehen davon: die beiden 
jugendlichen Verbrecher offenbaren eine solche Summe von Ver¬ 
worfenheit und Schlechtigkeit, einen solchen Abgrund von Rohheit 
und Gewissenlosigkeit, dass man sich fragen muss: Sind das Men¬ 
schen von Fleisch und Blut? Menschen mit menschlichen Fehlern 
und Schwächen, aber auch mit jenen Vorzügen des Menschen, von 
denen ein Keimchen selbst noch im Verdorbensten zu finden ist, wie 
Gefühl, Religion, Gewissen? 

Die Ursachen solcher Erscheinungen zu ergründen, ist nicht 
Aufgabe der Strafrechtspflege. Ob Naturanlage, Erziehung, böses 
Beispiel hier das treibende Moment gewesen, ob alle diese Factoren 
zusammengewirkt haben, lässt sich nicht ermitteln. Ob Heilung 
möglich war, mag dahingestellt bleiben, — wie Heilung möglich ge¬ 
wesen wäre, ist Angesichts der Thatsachen, die nun geschildert werden 
sollen, eine müssige Frage. 

Johann Nestl wurde am 24. November 1882 im Gebärhause 
zu Graz als unehelicher Sohn der nachmaligen Keuschlersgattin Marie 
Koisek und des Fabrikarbeiters Johann Hörzer oder Hierzer geboren, 
in dessen Haus er aufwuchs. Der Knabe bereitete seinen Lehrern 


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182 


YUI. Am schl 


nach deren Zeugniss Stunden der bittersten Qual und bot seinen Mit¬ 
schülern während seines ganzen Aufenthaltes in der Schule ein Bei¬ 
spiel der niederträchtigsten Verworfenheit als Lügner, Dieb, Betrüger 
und Raufer. Der Oberlehrer setzte sich energisch für die Aufnahme 
dieses, die übrige Schuljugend geradezu verpestenden Burschen, in 
eine Erziehungsanstalt für verwahrloste Jugend ein, musste aber 
wegen Ueberfüllung dieser Privatanstalt abgewiesen werden. 

Am 7. Februar 1893 schilderte ihn das Gemeindeamt Eggenberg 
als grundverdorbenen, gemeingefährlichen Knaben, dessen Anhaltung 
in einer Besserungs- oder Erziehungsanstalt dringend geboten sei. Im 
Alter von 12 Jahren, am 17. August 1894, erlitt er seine erste Ab¬ 
strafung vom Bezirksgericht Umgebung Graz, weil er seinem Dienstgeber 
Johann Reisinger in Thal eine Sackuhr im Werthe von mehr als 
10 Kr. entwendete, eine Tbat, die ihm wegen Unmündigkeit nur als 
Uebertretung zugerechnet werden konnte, wenngleich sie an sich ein 
Verbrechen begründet'). Er wurde dann vom 7. September 1894 bis 
13. März 1897 in der Zwangsarbeitsanstalt Messendorf angehalten 1 2 ), 
woselbst er sich schlecht führte und 14 Disciplinarstrafen erlitt, da¬ 
runter eine auch wegen Entweichung. Nach seiner Entlassung 
aus der Anstalt kam er mittelst Schubes in seine Heimatbgemeinde 
Flamberg, Bezirk Leibnitz, von dort zu seiner Mutter, der vulgo 
Michelbäuerin, nach Dobl bei Graz und dann zur Grundbesitzer^ 
Maria Tropper in Attendorfberg als Knecht Dort stahl er am 9. De- 
cember 1897 seinem Mitknechte Rudolf Friedl eine Uhr und Baargeld 
und floh unter Zurücklassung eines Revolvers, den man in seinem 
Bette fand, nach Mödling zu seinem damals dort arbeitenden Vater. 

1) Nach § 237 des österr. Strafgesetzes sind die strafbaren Handlungen, die 
von Kindern bis zum vollendeten zehnten Lebensjahre begangen werden, bloss 
der häuslichen Zucht zu überlassen; vom angehenden elften bis zum vollendeten 
vierzehnten Jahre werden Handlungen, die nur wegen Unmündigkeit des Thäters 
nicht als Verbrechen zugerechnet werden, als Uebertretungen bestraft. 

2) Die Zwangsarbeitsanstalten in Oesterreich sind nicht Staats-, sondern 
Landesanstalten und unterstehen dem vom Landtag gewählten autonomen 
Landesausschuss. Die Statuten und Hausordnungen der Zwangsarbeitsanstalten 
bedürfen der Genehmigung der Staatsverwaltung. Der politischen Landesbehörde 
kommt es zu, die vom Gerichte für zulässig erkannte Anhaltung in der Zwangs¬ 
arbeitsanstalt zu verhängen und in Vollzug zu setzen. Ucber die Verhängung 
der Anhaltung entscheidet eine bei der politischen Landesbehörde (Statthalterei, 
Landesregierung) unter Zuziehung wenigstens Eines Vertreters des Landesaus¬ 
schusses als stimmführenden Mitgliedes zu bildende Commission. 

Die Anhaltung in einer Zwangsarbeitsanstalt darf ununterbrochen nicht 
länger als 3 Jahre dauern. Tritt die Besserung früher ein, so ist der Angehaltene 
vor Ablauf dieser Zeit zu entlassen (Gesetz vom 24. Mai 1885, Nr. 89 R. G. B.). 


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Zwei Knaben als Raubmörder. 


183 


In Mödling, Nieder-Oesterreich, erhielt er am 14. November 1899 wegen 
Raufhandels 48 Stunden und am 20. December desselben Jahres wegen 
Landstreicherei 8 Tage Arrest. Im Januar oder Februar 1900 ent¬ 
wendete er seinem Unterstandsgeber Sebastian Käfer in Mödling 6 K 
und verschwand bald darauf. Am 13. Februar 1900 trat er beim 
Grundbesitzer Johann Zötsch in St Gotthard bei Graz als Knecht in 
Dienst, stahl dort am 5. März 1900 nach Auf brechen eines versperrten 
Koffers dem Tagelöhner Franz Holl Geld, Kleider und eine Uhr, 
flüchtete dann nach Voitsberg, wurde dort am 30. März 1900 ver¬ 
haftet und am 1. Mai 1900 wegen dieser Diebstähle vom Landes- 
gerichte Graz zu 8 Monaten schweren Kerkere verurtheilt, worauf 
ihn das Erkenntniss der K. K. Bezirkshauptmannschaft Leibnitz vom 
4. Januar 1901 Z. 175 in seiner Heimatbgemeinde Flamberg auf ein 
Jahr unter Polizeiaufsicht stellte. Schon am 28. April 1901 musste 
er vom Bezirksgericht Leibnitz wegen Entweichung aus der Polizei¬ 
aufsicht mit achttägigem Arreste bestraft werden. Am 14. Mai des¬ 
selben Jahres erhielt er wegen Baufhandels 3 Wochen und am 29. Oc- 
tober 1901 wegen neuerlicher Entweichung aus der Polizeiaufsicht 
und Landstreicherei 2 Monate Arrest Das Gemeindeamt Flamberg 
äus8erte sich am 20. October 1901 über ihn, er sei trotz seiner Jugend 
gemeingefährlich, jeder Besserung unzugänglich, kein Besitzer wage 
es, ihn auch nur eine Stunde zu behalten, weil Niemand vor ihm 
seines Lebens sicher sei. Da das Bezirksgericht Leibnitz die Zu¬ 
lässigkeit seiner Anhaltung in einer Zwangsarbeitsanstalt ausgesprochen 
hatte, wurde er nach verbüsster Strafe am 29. December 1901 dem 
Gemeindeamte Leibnitz als Schubstation überstellt, brach am 30. De¬ 
cember 1901 aus dem Gemeindearreste aus und vagirte bis 21. Ja¬ 
nuar 1902 arbeitslos und stehlend herum. 

An demselben Tage erschien er gegen 10’/* Uhr Abends bei den 
Knechten Josef und Franz Maier in St Nicolai i. S., die er im Stall 
weckte, erzählte ihnen den Vorgang des Ausbrechens, gestand ihnen, 
unterwegs einen vor einem Stall hängenden Lodenrock gestohlen zu 
haben, den er bei sich trug, und fügte bei, er wolle zunächst seine 
Mutter aufsuchen, dann nach Graz und von dort nach Ungarn gehen, 
denn in’s Zwangsarbeitshaus brächte ihn Niemand. Er erkundigte 
sich hierauf, ob beim vulgo Pichler noch derselbe Knecht diene, mit 
dem er dort im Jahre 1900 durch ein]halbes Jahr zusammen gedient 
hatte und entfernte sich nach bejahender Antwort dahin. Dieser Knecht, 
Simon Kositter, gewahrte am nächsten Morgen den Abgang seiner 
Schuhe, seiner Stiefel und einer Hose, die ihm Nestl in der Nacht, 
ohne ihn zu wecken, gestohlen hatte. 

Archiv für Krimmalanthroplogie. XI. 


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VIII. Am sciil 


Am Abende des 7. Januar 1902 brach er in die ebenerdige Bau¬ 
kanzlei des Guido Wolf in Graz, Tummelplatz 7, ein, indem er mit 
Hülfe seines Taschentuches eine Scheibe eindrückte, die Fensterriegel 
öffnete und einstieg. Am nächsten Morgen ertappte ihn daselbst der 
Kanzleidiener Franz Thamm auf dem Zimmerteppich schlafend. Thamm 
packte den Burschen an beiden Armen, hielt ihn fest und rief um 
Polizei, Nestl aber versetzte ihm einen so kräftigen Stoss, dass Thamm 
zurücktaumelte und sprang durch’s Fenster auf die Strasse. Er hatte 
die Schreibtische durchwühlt, jedoch nichts entwendet, wohl aber aus 
einer offenen Stellage mehrere Arbeitsbücher, darunter die des Michael 
Stadler, Markus Posch und Georg Labitsch, sowie ein Arbeitszeugniss 
des Marcus Posch und ein vom Gemeindeamte Trofajach für Johann 
Brugger ausgestelltes Certificat vom 22. Juni 1901, Ziffer 1350, mit¬ 
genommen. Diese Documente behielt er sich, die andern warf er 
weg. Er wanderte dann in die Gegend von Semriach, bat am 15. Ja¬ 
nuar 1902 Abends den Besitzer vulgo Paulpeter in Windhof um Nacht* 
herberge und erhielt im Stall ein Bett angewiesen, das er mit dem 
Knechte Joseph Kröpfl theilte. Nachts stand er heimlich auf und 
stahl dem Kröpfl eine Uhr sammt Kette. Am 14. Januar 1901 kam 
er zum Besitzer Matthäus Fuchs vulgo Winkler in Schönegg, Ge¬ 
meinde Semriach, gab sich für Markus Posch aus, überreichte dessen 
Arbeitsbuch, verdang sich als Knecht und entlehnte von Fuchs 4 K 
unter dem Vorwände, dass er dieses Betrages zur Auslösung seines 
in Graz verwahrten Koffers benöthige. Er fälschte nun im Arbeits¬ 
buche des Georg Labitsch das Geburtsjahr 1831 in „1882“ und be¬ 
gab sich in die Gegend von Leoben. Am 17. Januar Abends erschien 
er beim Strasseneinräumer Matthäus Genowitz am Präbichl, Bezirk 
Eisenerz, und bat um Arbeit und Nachtquartier. Das Letztere wurde 
ihm gewährt; er erhielt auch Abendessen und am nächsten Morgen 
Frühstück, worauf er sich am 18. Januar etwa 10 Uhr Vormittags 
in der Richtung gegen Eisenerz entfernte. Bald nach seinem Ver¬ 
schwinden bemerkte Frau Genowitz den Abgang einer silbernen Uhr, 
welche frei an der Wand gehangen war. 

Nestl hatte sie in Anwesenheit der Frau Genowitz und ihres 
Töchterchens ganz ungescheut von der Wand herabgenommen. Ueber 
telephonische Verständigung des Postens Hieflau hielt ihn der Gen¬ 
darmerie-Postenführer Gregor Wagner noch am 18. Januar in Hief¬ 
lau an. Nestl nannte sich zuerst Michael Stadler, dann Johann 
Fuchs, wies aber schliesslich das gefälschte Arbeitsbuch des Georg 
Labitsch vor und erklärte diesen Namen für seinen richtigen. Er 
leugnete die Fälschung entschieden und behauptete, das Arbeitsbuch 


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Zwei Knaben als Raubmörder. 


185 


von einem unbekannten Manne schon in diesem Zustande gekauft zu 
haben. Bei seiner Durchsuchung fand der Gendarm Wagner die dem 
Genowitz gestohlene Uhr und das Arbeitszeugniss des Markus Posch. 
Nestl wurde verhaftet und sollte am 19. Januar dem Bezirksgerichte 
Eisenerz eingeliefert werden. Auf dem Wege dahin entwich er trotz 
der angelegten Fesseln dem Gendarm und wanderte Enns-abwärts 
gegen Waidhofen an der Ybbs nach Niederösterreich. Am 21. Ja¬ 
nuar 1902 trat er unter dem Namen und mit dem Arbeitsbuche des 
Michael Stadler beim Besitzer Anton Huber in St Georgen a. d. Reith 
als Tagelöhner in Dienst und verblieb daselbst bis zum 16. März 1902. 
An diesem Tage verschwand er aus der Gegend unter Riicklassung 
des Stadler’schen Arbeitsbuches, nachdem er seiner Mitmagd Maria 
Bruckner Geld und eine silberne Damenuhrkette im Gesammtwerthe 
von 66 K gestohlen hatte. Er wandte sich dann in die Voitsberger 
Gegend. 

Am 22. März 1902 gegen 2 Uhr Nachmittags kehrte die 58 jährige 
Grundbesitzerin Anna Theissl vulgo Paulijosl von Voitsberg nach ihrem 
Gehöft in Oberwald zurück. Auf der von Ligist nach Wald führenden 
Strasse erblickte sie am Saume des Eholzwaldes einen unbekannten 
Burschen, der in auffälliger Weise die Baumstämme zu betrachten 
schien. Theissl sprach ihn an; er erwiderte, dass er einen Dienst 
als Knecht suche. Der Bursche schloss sich ihr an, blieb aber zu¬ 
rück und folgte ihr etwa eine halbe Stunde lang. — Plötzlich packte 
er die gebrechliche, ganz verschrumpfte und marastische, alte Frau 
von rückwärts mit beiden Händen am Halse, würgte sie, warf sie 
zu Boden, versetzte ihr mit geballter Faust einige heftige Schläge auf 
den Kopf, schob ihren Kittel in die Höhe, entblösste sein Glied, legte 
sich auf sie und versuchte sie zu gebrauchen. Anna Theissl aber 
leistete ihm so heftige Gegenwehr, dass es nicht zum Beischlafe kam, 
worauf er sich mit den Worten: „Alte, bist du denn gar nicht zu 
brauchen?“ erhob. Darauf erfasste er die noch auf der Erde liegende 
Theissl abermals mit einer Hand am Halse und rief: „Jetzt giebst 
mirs Geld her! Wie du mir’s Geld nicht giebst, bist geschwind hin!“ 

Anna Theissl erhob sich mühsam, vermochte aber in Folge des 
Würgens nicht zu reden. Darauf entriss er ihr das Körbchen, das 
sie noch am rechten Arme trug, öffnete den Deckel, leerte den Inhalt 
auf den Boden, nachdem er dem Korbe ein Gebetbuch entnommen 
hatte, durchblätterte dessen Inhalt, fand eine 10 Gulden-Note und 
steckte sie zu sich. Das Gebetbuch warf er wieder fort. Dann rief 
er neuerdings: „Alte, wenn’s d’ mir’s Geld nicht giebst, bist heute hin!“ 
— griff in den hinteren Kittelsack, riss ihr den Kittel derart vom 

1 *:» 


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VIII. Amschi. 


Leibe, dass er nur noch vorne festsass, entnahm dem Sacke die Brief¬ 
tasche mit 17 K, steckte das Geld zu sich, warf das Täschchen weg 
und sprang davon in den angrenzenden Wald. 

Nestl leugnet diese Thaten, während er die Diebstähle ge¬ 
steht, wiewohl ihn Anna Theissl mit vollster Bestimmtheit wieder 
erkennt und der Gastwirth Gabriel Schörgi in Ligist, seine Frau Agnes 
und seine Tochter Rosa bestätigen, dass Nestl am 22. März 1902 (Palm¬ 
samstag) Nachmittag vor dem Attentat auf Theissl hei ihnen gezecht 
und dort erzählt hätte, er sei Rosshändler und habe all sein Geld 
versoffen und verspielt. Auch der Pferdeknecht Schörgi’s, Johann 
Pöschl, erkennt in Nestl bestimmt jenen Burschen, der die Theissl 
gegen den Eholzwald begleitete, als er durch diesen Wald gegen den 
Sucholdwald in Steinberg fuhr. 

Tags darauf erscheint Nestl mit dem Arbeitsbuch eines gewissen 
Konrad Klampfer, das er von einem unbekannten Burschen um 8 K 
gekauft haben will, beim Grundbesitzer Vincenz Salmutter in St Rade¬ 
gund bei Graz, verdingt sich bei ihm als Knecht, lockt ihm 4 K 
Leibkauf heraus, bleibt bis 30. März 1902 daselbst, stiehlt an diesem 
Tage seinem Dienstgeber aus versperrtem Behältnisse 140 K, begiebt 
sich damit nach Graz und verjubelt diesen Betrag in einer Nacht 

Ende März 1902 verlor der Schlossergehiilfe Julian Schuster in 
Graz sein Arbeitsbuch. Ob es Nestl gestohlen, gefunden oder dem 
Finder abgekauft hat, lässt sich nicht feststellen. Thatsache ist, dass 
Schuster den Verlust seines Arbeitsbuches am 3. April 1902 beim 
Stadtrath in Graz angezeigt hat, dass Nestl sich fortan den Namen 
Julian Schuster beilegte und dass dieser letztere am 1. Juli 1902 unter 
dem Verdachte, die von Nestl verübten Verbrechen begangen zu haben, 
verhaftet und dem Grazer Landesgericht eingeliefert wurde. 

Am 3. April 1902 trat Nestl unter dem Namen Julian Schuster 
bei Maria Glantschnigg vulgo Almbäuerin in Kemetberg, Bez. Voits- 
berg, im Stubalpengebiete am Fusse des bewaldeten Laudonkogels, 
als Knecht in Dienst. Er erzählte, Maschinenschlosser zu sein. Der 
schlechte Geschäftsgang zwinge ihn, anderswo Arbeit zu suchen. Er 
sei auch mit landwirtschaftlichen Arbeiten vertraut, denn seine Eltern 
hätten 2 Stunden ausser Graz eine Keusche besessen, die von seiner 
Mutter, nachdem der Vater, ein Raufer, erstochen oder erschlagen 
worden, verkauft werden musste. 

Eines Tages meinte er, wenn er nur seine Büchse hier hätte, 
dann wäre es viel lustiger. Er habe sie versteckt und zum Holen 
sei es zu weit. 

Auch über Viehzucht sprach er sachverständig. Einmal erzählte 


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Zwei Knaben als Raubmörder. 


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er, dass daheim ein Kalb fast todt zur Welt gekommen wäre, worauf 
seine Mutter gerufen hätte: „Johann, komm her und stich das Kalb 
ab!“ Kaum hatte er diese unvorsichtigen Worte gesprochen, als er 
feuerroth wurde und bei seinen Zuhörern den Verdacht erregte, Julian 
sei nicht sein wahrer Taufname. 

Nach den Wahrnehmungen der Maria Glantschnigg pflegte der 
angebliche Julian Schuster nach 6 Uhr Abends wildern zu gehen. 
Er gesteht, einem Holzknechte ein einläufiges Schrotgewehr abgekauft 
und dieses wiederholt zum Wildern benützt zu haben. — Wären ihm 
Hirsche oder Rehe schussgerecht gekommen, so hätte er sicherlich 
geschossen. 

Nestl blieb bis 10. Mai 1902 im Dienste der Maria Glantschnigg. 
Am 8. Mai 1902 trat daselbst als Taglöbner Johann Reinthaler 
in den Dienst Seit jener Zeit schlossen sich Nestl und Reinthaler 
eng aneinander und trieben sich bis zu ihrer am 5. Juli 1902 erfolgten 
Verhaftung gemeinschaftlich herum, nur auf Verbrechen sinnend, trotz 
ihrer Jugend ein Schreck für die Gegenden, die sie durch ihren 
Besuch unsicher machten; ein Raubmörderpaar, das an Gefährlichkeit, 
Verwegenheit und Skrupellosigkeit seinesgleichen sucht 

Johann Reinthaler war am 27. December 1886 in Lobming bei Voits- 
berg als der Sohn eines Bezirkskrankenkassen-Controleurs geboren, be¬ 
suchte durch 8 Jahre die Volksschule in Voitsberg und wurde dahn 
Fabrikarbeiter. Nach dem Zeugnisse des Gemeindeamtes Voitsberg steht 
die Familie im übelsten Rufe und soll die Mutter ihn und seine 7 Ge¬ 
schwister nach dem 1899 im Irrenhaus erfolgten Tode des Vaters zum 
Betteln und Stehlen angeleitet haben. Reinthaler selbst wird schon 
im Jahre 1900 als äusserst roher und arbeitsscheuer Bursche geschildert, 
der ein Jahr zuvor vom Gemeindeamte Voitsberg wegen boshaften Be- 
werfens eines Lastzuges polizeilich mit 2 Stockstreichen bestraft wurde'). 
Am 27. Februar 1900 verurtheilte ihn das Landes* als Strafgericht 
Graz zu 3 Monaten schweren Kerkers wegen verschiedener, in Gesellschaft 
seines Bruders Anton verübter Diebstähle. Am 27. December 1900 wurde 
Johann Reinthaler vom Bezirksgerichte Graz wegen Betteins zu 8 Tagen 
Arrest verurtheilt, seine Mutter Antonia aber, die von der Sicherheits» 
bebörde angezeigt worden war, ihre Kinder zum Betteln von Haus 
zu Haus verwendet zu haben, sowie seine Geschwister Ignaz und 
Anton freigesprochen. Antonia Reinthaler übersiedelte dann nach 

1) Nach § 273 des österr. Strafgesetzes sind die von Unmündigen begangenen 
Vergehen und Ucbertretungen der häuslichen Züchtigung, in Ermangelung dieser 
aber der Ahndung durch die Sicherheitsbehördc (hier das Gemeindeamt Voits¬ 
berg) überlassen. 


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VIII. Amschl 


Niederösterreich, wohin ihr Johann folgte, der am 21. Januar 1901 
vom Bezirksgericht Gloggnitz wegen Diebstahls eine Strafe von 
4 Wochen Arrest erlitt. Im März 1902 verübte er mehrere Diebstähle 
an seinen Mitarbeiterinnen in der Pappendeckelfabrik Stuppach bei 
Gloggnitz, wurde deshalb vom Bezirksgericht Gloggnitz am 2. April 
1902 in seiner Abwesenheit zu 4 Monaten Arrest verurtheilt, entzog 
sich äber dem Strafvollzug durch die Flucht, sowie er sich auch der 
vom Bezirksgericht Graz ihm wegen Betteins auferlegten 8 tägigen 
Arreststrafe durch die Flucht zu entziehen wusste Von Gloggnitz 
begab er sich in die Gegend von Bruck a. M., trat dort beim Bauer 
Thomas Scheikl in Lassing in Dienst, wurde am 15. April 1902 von 
einem Gendarm in Strasseck gesehen, dem er eiligst zu entrinnen 
suchte, jedoch festgehalten und dem Bezirksgericht Bruck vorgeftthrt, 
weil er unter seinem Rock ein Hemd verborgen hatte und sich im 
Besitze eines stiletartigen Messers befand. Auf dem Wege nach Bruck 
bot er dem Gendarmen die ihm abgenommenen 82 H als Geschenk 
für seine Freilassung an. Dieserwegen wurde er vom Bezirksgerichte 
Bruck am 19. April 1902 zu 14 Tagen Arrestes verurtheilt, die er am 
3. Mai 1902 verbüsste, worauf er dem Stadtamte Bruck überstellt 
wurde. Von dort kam er mittelst Schubes nach seiner Heimathgemeinde 
Voitsberg und trat am 8. Mai 1902 bei Maria Glantschnigg als Tag¬ 
löhner in Dienst. Mit Nestl schloss er bald Freundschaft. Dieser 
erzählte ihm, dass er sich in der Vorzeit nur durch Diebstähle fort¬ 
gebracht und mit falschen Documenten durchgeschlagen habe; er 
werde ohnehin nie erwischt und sei den Gendarmen schon öfter durch¬ 
gegangen. Es sei auch ganz bequem, auf der Strasse Weibsbilder 
anzufallen, sie abznwürgen und dann zu berauben; er kenne den 
Brauch der Weiber; diese haben das Geld entweder in einem Körbchen 
oder in den Gebetbüchern zwischen den Blättern. Nestl brüstete sich, 
zu Ostern in einer Nacht die bei Salmutter gestohlenen 140 K ver¬ 
braucht zu haben und schilderte dem Reinthaler das Vagantenleben 
so verlockend, dass beide beschlossen, sobald als thunlich das ihnen 
so verhasste Arbeiten aufzugeben und von Raub und Diebstahl ein 
müheloses Leben zu führen. 

Am 3. Mai 1902 trat Nestl beim Holzmeister Ferdinand Moser 
vulgo Engelbauer in Kemetberg als Holzknecht in Taglobn; über sein 
Zureden folgte ihm am 16. Mai 1902 Reinthaler dorthin nach. Nestl 
ging fleissig auf die Pürsch, wohin ihn Reinthaler begleitete. Einige 
Tage jagten sie im Kleeacker der Glantschnigg Hasen. Auf einem 
dieser Pürschgänge fand Nestl in einer Mühle zwei vermuthlich von 
Wilderem versteckte Gewehre, einen Doppellader und ein einläufiges 


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Zwei Knaben als Raubmörder. 


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Kugelgewehr, die er sich aneignete; seine Schrotflinte schenkte Nestl 
am 14. Juni 1902 dem Beintbaler. Im Besitze dreier Gewehre be¬ 
schlossen die beiden Freunde, ihren Plan auszuführen und die Arbeit 
aufzugeben. Nestl goss aus Blei, das er am 15. Juni 1902 in Lanko- 
witz gekauft hatte, 5 bis 6 Kugeln, die Reinthaler Zuschnitt, Pulver 
verschafften sie sich durch den kleinen Anton Moser, den sie baten, 
solches beim Vater zu nehmen und ihnen zu geben, und so verliessen 
sie denn am 16. Juni 1902 vor 4 Uhr Morgens heimlich ihren Dienst¬ 
platz bei Moser, um ihren Raubzug anzutreten, Nestl mit seinem 
Doppelgewehr, Reinthaler mit der Schrotflinte bewaffnet, beide Ge¬ 
wehre mit Kugeln geladen. 

Sie schlugen den Weg auf die Höhe der Stubalpe ein und hatten 
beide die Absicht, denjenigen, der ihnen unterkommt und 
voraussichtlich Geld bei sich haben dürfte, niederzu- 
schiessen und zu berauben. Dieser Absicht hatte Nestl bei 
Moser mehrmals Ausdruck verliehen und sie mit der Bemerkung be¬ 
gründet: „Ohne Geld können wir ja nicht fortgehen und das Arbeiten 
freut mich nicht“. 

Noch vor 4 Uhr Morgens erschienen beide Freunde bei der 
Grundbesitzerin Maria Bimhuber vulgo Adamjackl in Kemetberg, 
fragten, ob ein Mannsbild im Hause sei und gaben sich den Schein, 
Arbeit zu suchen. Sie baten um Milch, frühstückten und entfernten 
sich gegen die Stubalpe zu. Nach kurzer Zeit kehrte Reinthaler zu¬ 
rück, um Nestl’s beim Brodschneiden vergessenes Messer abzuholen, 
wobei er bemerkte, sein Messer dürfe man doch nicht verlassen. 

Gegen 7 Uhr früh trafen sie die vulgo Hochpuntschertochter 
Juliana Ofner. Da sie Gewehre trugen, war ihnen diese Begegnung 
nicht angenehm. Nestl meinte zur Ofner, sie werde sie wohl nicht 
verrathen. Juliana Ofnfer, die sich offenbar fürchtete, erwiderte, dass 
in ihren Krautgarten öfters ein schöner Hirsch komme, den sie schiessen 
könnten. Gegen 10 Uhr Vormittags kamen sie zum Gaberlwirthshaus 
auf der Stubalpenhöhe. Sie versteckten die Gewehre im Gebüsch. 
Nestl ging in s Wirthshaus, um Cigaretten zu kaufen und zu speculiren. 
Nach einigen Minuten kehrte er zu Reinthaler zurück, erzählte, dass 
sich im Wirthshause Bauern befinden, darunter auch ein Viehhändler, 
der gewiss Geld bei sich trage und den sie „nehmen“ können. Rein¬ 
thaler verstand sogleich, dass es sich um einen Raub handle und war 
einverstanden. Sie legten sich nun auf die Lauer und sahen mehrere 
Bauern, darunter auch den vermeintlichen Viehhändler. Da dieser sich 
in Gesellschaft befand, meinte Nestl, da könne man nichts machen, worauf 
sie in der Richtung gegen das sogenannte Soldatenhaus weiter gingen. 


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VIII. Amschl 


Am Sonntag den 15. Juni batten mehrere Bauern, darunter Os¬ 
wald Krammer vulgo Riegler aus St Martin, Bezirk Voitsberg, ihr 
Vieh auf die Stubalpe aufgetrieben 1 ). Sie übernachteten beim vulgo 
Neuhäuslwirth in Kreuzberg; und setzten am Morgen des 16. Juni 
ihren Weg auf die Stubalpe fort. Krammer kehrte unterwegs um 
9'/i Uhr Vormittags bei seinem Vetter Ignaz Schmölzer vulgo Gaberl- 
wirth ein und befand sich zu der Zeit im Wirtbshause, als Nestl dort 
Cigaretten kaufte. Er trug über dem Rock eine grosse braunlederne 
Tasche mit einem Ueberzug von Rehfell und Rehklauen, die einen 
sackleinenen Regenmantel, einen Jochriemen und etwas Fleisch ent¬ 
hielt, trank x j\ Liter Wein, ass vom mitgebrachten Fleisch, zahlte seine 
Zeche mit einer Krone und verliess etwa um V 2 II Uhr das Gaberl- 
wirthshaus. Er mochte 10 bis 15 Minuten gegen den Rappoldsberg 
gegangen sein, als die beiden Räuber seiner ansichtig wurden und 
sich im Tannendickicht verbargen. Nestl hockte sich nieder, hielt sein 
Gewehr mit beiden Händen, den Lauf nach aufwärts und flüsterte zu 
Reinthaler, der sich niedergesetzt hatte: „Ein Bauer ist’s, der muss 
jetzt vorbei!“ Während Reinthaler an seinem Gewehre herumgriff, 
ging dieses los, worauf Nestl ihm zurief: „Verfluchter''Tepp, jetzt 
schiesst er, dass es Lärm macht, dass uns alle hören!“ Als Rein¬ 
thaler sich darauf erhob, um zu schauen, ob der Bauer näher komme, 
stand Nestl auf, legte sein Gewehr auf den Bauer an und drückte 
aus einer Entfernung von ungefähr 30 Schritt los. Krammer fuhr 
mit beiden Händen gegen den Kopf, rief: „Geht’s! marschirt’s!“ und 
that einige Schritte gegen das Gaberlwirthshaus zurück. Nun feuerte 
Nestl einen zweiten Schuss gegen Krammer ab, welch letzterer den 
Beiden bereits den Rücken gekehrt hatte. Krammer stürzte nach vorn 
zu Boden. Nestl rief zu Reinthaler: „Geh hin, er liegt schon!“ Beide 
schritten nun auf Krammer zu, Reinthaler warf den im Todeskampfe 
zuckenden unglücklichen Bauer, der am Hinterhaupt, an Stirn und 
Schläfen blutete, die Augen aber noch offen hatte, auf den Rücken, 
zog ihm die Ledertasche über den Kopf herab, reichte sie dem Nestl, 
durchwühlte Krammer’s linke Hosentasche und entnahm ihr ein 
schwarzes Taschenmesser mit Schnapper und einen Schlüssel. Die 
beiden Burschen eilten dann in den Wald und durchsuchten die Tasche, 


II Der 15. Juni ist der Tag des heiligen Veit und der Tag des Auftriebs 
auf die Alpe, das wichtigste und fröhlichste Fest des Alpenbewohners. Die 
Bauern begleiten ihre Sennerinnen (auch Sclnvaigerinncn oder Brentlerinncn ge¬ 
nannt) und das Vieh auf die Alpe, die Sennerinnen bewohnen den Sommer über 
die Hütten und herrschen dort, viel umfreit und viel umworben, mit dem Wahl¬ 
spruch: „Auf der Alm da giebt’s ka Sündl“ 


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Zwei Knaben als Raubmörder. 


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fanden aber nur das Fleisch. Nestl warf die Tasche mit den Worten: 
„Ist nichts! der ist umsonst hin geworden, da hab’ ich nix kriegt!“ 
in ein Gebüsch. Diese Aeusserung harmonirt mit der cynisch-rohen 
Bemerkung, die Nestl nach seiner Einlieferung gegen den landes¬ 
gerichtlichen Gefangenaufseher Hermann Zielinski machte: „Ja, man 
wird so ein Viech nicht lang leiden lassen!“ 

Nestl und Reinthaler nahmen dann ihre Gewehre auf und liefen 
durch den Wald den Graben hinab. Unterwegs rief Nestl dem Rein¬ 
thaler zu: „Dummer Kerl, warum bist so traurig? Mir machte nix!“, 
gab dem Reinthaler vom geraubten Fleisch zu essen und meinte, es 
wäre ihm lieber, wenn Reinthaler vom Ganzen nichts wüsste. Das 
geraubte Messer gab Reinthaler dem Nestl, den Schlüssel warf er weg. 

In der Mittagsstunde kehrten die Besitzer Joseph Pöschl und 
Maria Krug vom Auftrieb auf das Stüblergut gegen das Gablerwirths- 
haus zurück. Zwischen diesem und dem Almwirth sahen sie auf der 
Erde einen Todten liegen, die Hände beiderseits wie ein Gekreuzigter 
ausgestreckt, die Beine über’s Kreuz. Neben ihm lag eine hölzerne 
Schnupftabakdose. Die beiden Besitzer trafen auf dem Wege den 
Besitzer Leopold Reibenbacher und den Knecht Mathias Assmann, 
die im Todten den Oswald Krammer erkannten. Assmann fand hinter 
Krammer’s Hut einen Viehpass, auf dessen Namen lautend, und brachte 
ihn zum Gaberlwirth, während Pöschl im Stüblerwirthshause die Auf¬ 
findung des Todten erzählte. Dort befand sich der Forstwart Sylvester 
Leitner, der telegraphisch die Anzeige an das Bezirksgericht Knittel¬ 
feld erstattete. Bei dem am nächsten Tage vorgenommenen gericht¬ 
lichen Augenschein wurde in Krammers rechter Hosentasche ein 
lederner Geldbeutel mit 10 K 72 H vorgefunden, der den beiden 
Raubmördern entgangen war. Die Tasche Krammer’s und den Zwilch- 
regenraantel fand der Jäger Johann Hübler am 1. August 1902 in 
Jungholz. 

Johann Reinthaler gesteht die That, wie sie hier ge¬ 
schildert ist Nestl dagegen erklärte sich anfänglich für ganz un¬ 
schuldig, behauptete, Reinthaler habe den Plan des Raubmordes aus¬ 
geheckt und zwei Schüsse auf Krammer abgegeben. Während Rein¬ 
thaler die Leiche durchsuchte, sei Nestl in den Wald geflohen. — 
Reinthaler soll nach der That sich geäussert haben: „Wegen des einen 
Mannes machte so nix, gesehen hat uns so Niemand“. Nestl habe 
Reinthaler meiden wollen, dieser aber sich nicht abschütteln lassen. 
Ja, Nestl behauptet, dass er dem Reinthaler Vorwürfe über die Blut- 
that gemacht habe. 

Nun ist aber Reinthaler gewiss noch der Bessere von Beiden und 


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VIII. Am sc hl 


sein Geständniss glaubwürdiger. Er besass nur seine einläufige Schrot¬ 
flinte, kann daher nur einen Schuss abgegeben haben, während Nestl 
aus seinem Doppelgewehr ganz leicht zwei Schüsse nacheinander ab¬ 
zufeuern vermochte. Erst in jüngster Zeit wurden durch die Umsicht 
des Forstwartes Sylvester Leitner drei Zeugen namhaft gemacht, die 
zur Thatzeit drei Schüsse hörten, der Pächter Florian Reiner, sein 
Sohn Felix und sein Knecht Franz Petschek. Dadurch erscheint die 
Wahrheit der Angaben Reinthaler’s bekräftigt. Beim Untersuchungs¬ 
richter in Graz gestand Nestl schliesslich, dass sich Beide auf die 
Lauer gelegt hätten, um den Mann, der sich im Wirthsbause befand, 
niederzuschiessen und zu berauben. 

Die vom Bezirksgerichte Knittelfeld geleitete Obduction ergab je 
eine Oeffnung der Hirnschale und des Hinterhauptbeines und gelangte 
zum Schlüsse, dass Oswald Krammer mit einem Hammer erschlagen 
worden sei. Da die Landärzte bei der Section im Innern des Schädels 
an verschiedenen Knochensplittern Metallglanz wahrgenommen haben 
wollten, sandte das Bezirksgericht diese Splitter nach Graz zur mikro¬ 
skopischen Untersuchung. Diese ergab, dass die Metallspuren von 
Blei herrühren, was den Verdacht einer Schussverletzung erregte. Die 
Grazer Gerichtsärzte Professor Kratter und Dr. Kautzner ver¬ 
langten die Einsendung des Schädels, der nach sorgfältiger Unter¬ 
suchung am Hinterhaupte genau die Einschussstelle aufwies. Ein 
Ausschussloch wurde nicht gefunden, das Projectil muss daher in der 
Hirnmasse stecken geblieben sein, woselbst es bei der Obduction un¬ 
begreiflicher Weise nicht gefunden wurde. Die Leiche zeigte auch 
am linken Unterarm eine offenbar von einem Streifschuss herrührende 
Verletzung. 

Die Mörder flohen nun durch den Stüblergraben nach Klein- 
Feistritz. Etwa um 1 Uhr Nachmittags kamen sie, die Gewehre frech 
am Rücken, zur Trattnerkeusche. Nestl fragte, wie weit es noch nach 
Zeltweg sei und ob der verfluchte Graben nicht bald ein Ende nähme. 
Beim vulgo Bärmüller erkundigten sie sich abermals um den Weg 
nach Zeltweg. Ungefähr 20 Minuten von der Ortschaft Klein-Feistritz 
entfernt war der beeidete Jäger Aegyd Eisbacher mit Streuaufladen 
beschäftigt, als er die beiden Bursche mit ihren Gewehren vorüber¬ 
gehen sah. Er eilte ihnen nach, forderte sie auf, stille zu stehen, 
worauf sie die Flucht ergriffen, Halt machten und den Jäger an sich 
herankommen Hessen. Nestl fragte nun, was er wolle, worauf der 
Jäger erwidernd fragte, in welchem Reviere sie das Recht zu jagen 
hätten. Nestl riss sein Doppelgewehr von der Schulter, spannte den 
Hahn, forderte den Jäger 3 oder 4 Mal auf, sich zu entfernen, rief 


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Zwei Kuaben als Kaubmörder. 


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schliesslich: „Gehend weg, ich sag’ Ihnen’s zum letzten Mal!“ und 
nahm hierbei sein Gewehr in Anschlag. Da Eisbacher vollständig 
unbewaffnet war, zog er sich langsam zurück, lief nach Hause, be¬ 
waffnete sich und verfolgte die beiden Bursche, die auf der sogen. 
Reisstrasse weiter geflohen waren, vergeblich. Zwischen 2 und 3 Uhr 
trafen sie die Schülerin Kunigunde Gruber. Nestl rief ihr zu: r Wir 
sind Wilderer, die Feistritzer sollen nur kommen, wenn sie den letzten 
Dreck geschissen haben wollen!“ Damals trugen sie keine Gewehre 
mehr. Sie dürften sie in der Nähe des Krumpengrabens versteckt 
haben. Trotz eifrigsten Suchens vermochte sie die Gendarmerie nicht 
zu finden. 

Nestl und Reinthaler sind diesfalls im Wesentlichen 
geständig. Nestl gesteht auch, dass er beim Anschlag auf den 
Jäger, den er als solchen erkannt hatte, den Hahn gespannt 
hielt Reinthaler behauptet, er habe dem Jäger den Raubmord an- 
zeigen wollen, sei aber von Nestl abgehalten worden, der sein Gewehr 
gegen ihn mit den Worten aufzog: „Bub’, renn’ nicht, sonst ist mir 
alles Eins!“ Durch diese Drohung eingeschüchtert, sei er bei Nestl 
geblieben, der ihm später wiederholt gesagt haben soll, „mitge¬ 
fangen, mitgehangen.“ 

Die beiden Burschen führten nun bis zu ihrer Verhaftung ihren 
Vorsatz, durch Diebstähle sich mühelosen Erwerb zu sichern, getreu¬ 
lich aus. Fast kein Tag verging ohne Einbruch. Sie brandschatzten 
die armen Landbewohner förmlich und entwickelten eine Verwegenheit, 
die für ihre Jugend beispiellos genannt werden muss. Hatten sie sich 
ihrer Gewehre entledigt, so besassen sie Messer und seit 26. Juni Re¬ 
volver, stets bereit, bei ihrer Betretung mit Waffengewalt sich all¬ 
fälliger Verfolger zu erwehren. 

Schon am 16. Juni Nachmittags unmittelbar nach dem Zusammen- 
stoss mit dem Jäger Eisbacher, wenige Stunden nach der Ermordung 
Krammer’s, brachen sie beim Besitzer Franz Karner vulgo Lex in 
Feistritz bei Zeltweg ein, nachdem sie den in einem Kellerfenster ver¬ 
steckten Hausthorschlüssel gefunden hatten. Sie kehrten dann in 
einem Dorfwirtbsbause bei Zeltweg ein, wo Reinthaler den Plan aus¬ 
heckte, die Wirthin zu überfallen und zu berauben, an dessen Aus¬ 
führung sie nur durch das Erscheinen einer zweiten Frau gehindert 
wurden. 

Am 18. Juni Vormittags bemächtigten sie sich des auf dem Fenster 
neben dem Eingang liegenden Schlüssels zum isolirt stehenden Hause 
des Pulverwerkbesitzers Johann Dietrich nächst Feistritz, sprengten 
mit einer Hacke die Kästen und Koffer auf und nahmen, was sie 


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VIII. Amscul 


nehmen konnten. Insbesondere gingen sie, wie überall, auf Uhren 
und Bargeld. Als der Pulverarbeiter Johann Kogler gegen 9 Uhr 
Vormittags nach Hause zurückkehrte, erfuhr er durch seinen Kame¬ 
raden Josef Hoffeiner, dass bei ihnen eingebrochen worden sei Kogler 
lief in’s Dorf, holte die zwei Burschen ein, von denen einer seinen 
Hut auf dem Kopf und zwei gestohlene Röcke auf dem Rücken trug 
und riss ihm Hut und Röcke herab. Die beiden Einbrecher kehrten 
sofort um, rissen ihre Taschenmesser heraus, öffneten sie und richteten 
die Spitzen gegen Kogler, der in Folge dessen zurücktrat, worauf die 
Beiden nach Knittelfeld flüchteten, wo Nestl eine der gestohlenen 
Uhren verkaufte und um den Erlös dem Johann Reinthaler einen 
Hut kaufte. — Dann fuhren sie nach Leoben, übernachteten dort am 
18. und 19. Juni, gingen nach Bruck, verkauften dort zwei Uhren, 
übernachteten in einem Heustall bei St Marein im Mürzthale und 
gingen am 20. Juni gegen Mittag nach Kapfenberg. Dort brachen 
sie in das alleinstehende Haus des Andreas Trippl in Deuchendorf 
ein, indem sie die verriegelte Hausthür mit dem Messer öffneten und 
die Wohnung durchsuchten. Hierauf gingen sie nach Bruck und fuhren 
nach Frobnleiten, wo sie übernachteten. Am 2t. Juni wanderten 
sie nach Graz. In Rohrerberg, Gemeinde Schattleiten, kroch Nestl 
durch das offene Fenser in das Haus des Johann Schöberl und stahl 
einen Winterrock und ein Hemd, während Reinthaler den Aufpasser 
machte. Sie zogen dann nach Graz, übernachteten dort vom 21. bis 
22. Juni und statteten über Nestl’s Vorschlag seinem einstigen Dienst¬ 
geber Johann Zötsch in St Gotthard bei Graz, wegen dessen er schon 
im Jahre 1900 bestraft worden war, einen Besuch ab. Nestl wusste, 
dass die Tenne ein mit einem Ziegel verschlagenes Loch besitze, durch 
das man in den Heuboden gelangt Sie entfernten den Ziegel, über¬ 
nachteten in der Tenne, stahlen am 23. Juni vom Hausboden Schinken 
und Würste und gingen auf Umwegen über den Rosenberg nach Graz. 
Unterwegs wurde Nestl in der Nähe des Stoffbauer vom Wachmann 
Gustav Laurer angehalten, erwiderte aber: „Wir sind Arbeiter, wir 
können gehen, wo wir wollen' 4 . Nachdem der Wachmann Beiden 
mit der Verhaftung gedroht hatte, entschlossen sie sich, ihm zu folgen. 
Vor dem Gasthause zur Rose warf Nestl sein Packet mit Wurst und 
Schinken weg und lief durch die Quellen- und Zuserthalgasse davon. 
Während der Wachmann ihm vergeblich nacheilte, ging auch Rein¬ 
thaler durch. 

Am 24. Juni zogen sie neuerdings auf einen Diebstahl aus und 
zwar erkoren sie sich die dem Nestl wohlbekannte Gegend von Atten- 
dorf hierzu. Dort drangen sie mittelst Nachsperre in das Wohnhaus 


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Zwei Knaben als Raubmörder. 


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des Mathias Weissl vulgo Schartenhiesl ein, nahmen eine im Bette ver¬ 
wahrt gewesene Ledertasche mit einer Hundertguldennote und ein 
steiermärkisches Sparkassabüchel, lautend auf 740 Gulden. Am 29. Juni 
Nachmittags fand der Winzer Johann Reiter im Kaiserwald Fetzen 
des Sparkassabuches und zwar einen, der den Namen Weissl trug. 
Reinthaler und Nestl beschuldigen sich gegenseitig, das Sparkassa¬ 
buch und die Brieftasche zerrissen zu haben. 

Die beiden Burschen hatten nun die Frechheit, nach Kemetberg 
zurückzukehren, um ihre zurückgelassenen Kleider zu holen. Am 
25. Juni etwa um 4 Uhr Morgens fand sie der Grundbesitzer Josef 
Pischler in seinem Heustall schlafend. Nestl-Schuster wünschte ihm 
guten Morgen und erwiderte auf Pischler’s Frage, wie sie daher 
kommen, bei der Nacht seien sie halt kommen, es sei so kalt ge¬ 
wesen; in der Nacht hätte der Hund einmal so geheult, — „ich hab’ 
glaubt, sie suchen uns“. Pischler bemerkte darauf, dass sie gesucht 
werden, weil sie den Oswald Krammer auf der Alm erschlagen haben. 
Nestl hielt sich hierüber nicht weiter auf, sondern sagte nur „mir not!“ 
Leider wagte es Pischler nicht, sie festzuhalten, sondern Hess sie ruhig 
zu ihrem früheren Arbeitgeber Ferdinand Moser ziehen. Dort traten 
sie keck, ohne sich anzumelden, in’s Zimmer und räumten den Koffer 
aus, der ihre Effecten barg. Moser war nicht zu Hause, seine Frau 
lag krank im Bette. Die Tochter, Maria Grabler, war überrascht, die 
beiden Flüchtlinge beim Ausleeren des nicht einmal ihnen gehörigen 
Koffers unvermuthet anzutreffen. Auf ihre Frage, wo sie jetzt immer 
gewesen, entgegnete Nestl, frech wie immer: „das brauchst Du jetzt 
gar nicht zu fragen“. Nach einigen Minuten entfernten sich die 
sauberen Gäste und Hessen einige Kleidungsstücke zurück, die Nestl 
im Uebermuthe vorher zerschnitt. 

Die beiden Vagabunden kehrten nun wieder nach Graz zurück 
und führten ein flottes Leben. Sie besuchten in Gesellschaft von 
Mädchen in den Nächten vom 26. zum 28. Juni verschiedene Ver- 
gnügungslocalitäten in Graz und gaben sich, der eine für einen reichen 
Pferdehändler, der andere für einen Bauernsohn aus. Nestl nannte 
sich nach seinem Vater „Hörzer“ (Hierzer) und gab in diesen Tagen 
mindestens 50—60 K aus. Der Kellnerin Maria Brodnik schenkte 
er 10 K. Reinthaler wurde als sein Stiefbruder vorgestellt. 

Am 27. Juni reisten sie nach Gloggnitz in der zugestandenen 
Absicht, einen Bauer, bei dem Reinthaler's Mutter früher gewohnt 
hatte, auszurauben, zu welchem Zwecke sie sich am 26. Juni 1902 
in Graz bei einem Trödler 2 Revolver gekauft hatten, die sie fortan 
stets bei sich trugen. Sie konnten aber ihr Vorhaben nicht ausführen, 


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VIII. Amschl 


weil Leute im Hause sich befanden und Gelegenheit mangelte. Am 
30. Juni reisten sie unverrichteter Dinge nach Mürzzuschlag, am fol¬ 
genden Tage nach Bruck und von da nach Peggau, um die Gegend 
von Semriach zu brandschatzen. 

Am 2. Juli um 9 Uhr Vormittags kamen sie zum Hause des 
Keuschlers Andreas Pensold auf der „Taschen“, fanden den über der Thür 
liegenden Schlüssel, plünderten die Kästen, aus denen sie die Sachen 
auf den Boden streuten und durchwühlten die Betten. Die 4 jährige 
Justine Pensold, die ihrer Mutter aus dem Garten durch- und in die 
Wohnung gegangen war, genirte sie hierbei nicht. Das Kind lief 
zur Mutter hinaus und rief ihr zu: „Mutter, grausliche BubenI“ Die 
Mutter aber schenkte dem Kinde kein Gehör. Die Diebe fanden zum 
Glück nur 28 K, einen Ring und 2 Cigarren, nicht aber die Brief¬ 
tasche mit dem Gelde. Gegen 5 Uhr Nachmittags öffneten sie das 
Hausthor der Juliane Reisinger vulgo Grabenseppl in Schrems bei 
Fladnitz mit der unter dem Dach in einer Stellage versteckten Schnalle, 
plünderten die Kästen und stahlen Geld, eine Uhr und ein Messer. 

Am 3. Juli zwischen 9 und 10 Uhr Vormittags öffneten sie die 
Hausthür der Keuschlerin Margarethe Hollantsch in Haufenreith auf 
gleiche Weise, stahlen Baargeld und eine Uhr. Sie wanderten nach 
Arzberg, zechten dort und wandten sich dann gegen Graz. Am 5. Juli 
gegen 11 Uhr Vormittags schlichen sie in das Haus des Vincenz 
Schweinzger vulgo Postmeister in Eisenberg, Gemeinde Grambach. 
Nestl erbrach mit einem Schusterhammer die versperrte Lade eines 
Kleiderkastens. Sie entwendeten Geld und Uhren im Gesammtwerthe 
von 76 K. Schon um Mittag machte sich die Gendarmerie an 
ihre Verfolgung. Um 5 Uhr Nachmittags traf Postenführer Friedrich 
Theierl die beiden Strolche in Hart, Gemeinde Raaba. Sie folgten 
ihm anfänglich willig, rissen aber bei der Ziegelei aus. Theierl fasste 
den Reinthaler, während Nestl im Wald gegen Petersbergen verschwand. 
Nachdem Theierl den Reinthaler gefesselt und den Bauernburschen 
zur Ueberwachung gegeben hatte, machte er sich mit mehreren Ar¬ 
beitern an die Verfolgung des Nestl. Die Ziegelmacher Friedrich Urdl 
und Michael Grach hatten ihn fast erreicht, als Nestl Kehrt machte, 
aus seinem Stiefelschaft einen Revolver hervorzog und ihn auf die 
beiden Arbeiter anlegte. Auf diese Weise gelang es Nestl, nach 
Graz zu entkommen, woselbst er seine Freundinnen aus den letzten 
Junitagen, Cilli Kohl und Maria Brodnik, in einer Kaffeeschänke in 
der Dominikanergasse aufsuchte. Der Gendarm Theierl war ihm bis 
zur städtischen Sicherheitsbehörde nach geeilt und machte sich auf die 
Verfolgung NestFs, wobei ihm der Wachmann Karl Wachschütz Assi- 


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Zwei Kuabcn als Raubmörder. 


197 


stenz leistete. Bei Reinthaler hatte man eine Gruppenphotographie, 
ihn, Nestl und Cäcilia Kohl darstellend, gefunden, weshalb die beiden 
Wachorgane sich in die Kaffeeschänke auf die Suche begaben. Nestl 
hatte sich bereits entfernt, wurde aber von Wachschütz bald in der 
Schulgasse getroffen, worauf ihn dieser verhaftete. Nestl-Hörzer 
suchte sich loszureissen, griff in seine innere Rocktasche nach seinem 
Revolver, konnte ihn aber nicht herausziehen, weil sich der Hahn in 
der Tasche verfangen hatte, versetzte dem Wachschütz mehrere Stösse, 
sodass dieser beinahe zu Fall gekommen wäre, bis Theierl herzukam 
und dem Nestl das Bajonett auf die Brust setzte. 

Die beiden Raubmörder wurden nun dem Landesgerichte Graz 
eingeliefert, hierauf nach Leoben überstellt, von dort aber nach Ent¬ 
scheidung über die Zuständigkeitsfrage wieder nach Graz befördert. 
Am 13. August hatte Nestl beim Kreisgericht Leoben einen Ausbruchs¬ 
versuch gemacht, indem er die Mauer über dem Fussboden durchbrach. 
Am 19. August erfolgte die Escorte nach Graz. Nestl wurde von 
zwei Gendarmen begleitet, Reinthaler von einem. Beide Gefangene 
waren gefesselt. Als die Escorte gegen 5 Uhr Nachmittags vor dem 
Landesgerichtsgebäude angelangt war und nach dem grossen Thore 
des Gefängnisstractes einbog, machte Nestl einen gewaltigen Sprung 
nach rechts in die Steyrergasse. Der Zimmerputzer Franz Egger sass 
gerade in einem Gasthause und sah einen von zwei Gendarmen ver¬ 
folgten Burschen in die Maigasse einbiegen. Egger setzte sich rasch 
aufs Rad und fuhr dem Burschen nach, der ihm in der Brockmann¬ 
gasse entgegenlief. Egger sprang vom Rad, packte Nestl, der ihm 
zuschrie: „Du Hund, lass mich aus!“ und der mit den Zähnen nach 
ihm biss, am Rock, versetzte ihm einen Schlag auf die Zähne und 
gab ihm, da Nestl ihm mit der rechten Hand das Gesicht zerkratzen 
wollte, einen Stoss in die Magengegend, sodass Nestl überwältigt und 
in’s Gefangenhaus gebracht werden konnte, das mit ihm einen der 
gefährlichsten Verbrecher aufnahm, denen sich je seine Thore öffneten, 
und der, höchst bezeichnend, bei seinem Eintritt dem Gefangenauf¬ 
seher zurief: „Ach was, a zwanzig Jahrl’n werdend halt werden, da 
is ja nix dahinter“. „Ja,“ meinte der Aufseher, „wenn’s nur nit gar 
der Strick wird!“ „Kann man a nix machen“, schloss Nestl. 

Die k. k. Staatsanwaltschaft Graz erhob auf Grund dieses Sach¬ 
verhaltes gegen Johann Nestl und Johann Reinthaler die Anklage 
wegenfVerbrechens des meuchlerischen Raubmordes und zwar gegen 
Beide als Mitthäter, wegen Verbrechens des versuchten Wilddiebstahls, 
wegen Verbrechens des qualificirten Diebstahls, wegen Uebertretung 
der Landstreicherei und des unbefugten Waffentragens, gegen Nestl 


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198 


VIII. Amschl 


allein überdies auch wegen Verbrechens der versuchten Nothzucht und 
des dreifach qualificirten Raubes an Anna Theissl, wegen bewaffneten 
Widerstandes gegen den in Ausübung seines Dienstes befindlichen, be¬ 
eideten Jagdaufseher Aegydius Eisbacher, wegen Verbrechens der Er¬ 
pressung, verübt durch gefährliche Bedrohung des Polizeiwachnianns 
Karl Wachschütz, der Arbeiter Grach und Urdl und des Zimmerputzers 
Egger, um die Unterlassung seiner Festnahme zu erzwingen, wegen 
Verbrechens der Urkundenfälschung, wegen Uebertretung des Betruges 
durch Herauslockung von Leihkauf, wegen Uebertretung der Falsch¬ 
meldung und des Fortkommens mit fremden Documenten. 

Die Hauptverhandlung vor dem Schwurgerichtshof in Graz fand 
am 12. und 13. November 1902 unter grossem Zulauf des Publicums statt. 

Johann Nestl und Johann Reinthaler erschienen in ihren Kleidern, 
die Beinkleider in hohe Röhrenstiefel gesteckt, Nestl mit einer schweren 
silbernen Uhrkette, daran eine grosse Silbermünze baumelte. Nestl 
trug sein flachsblondes Haar nach vorn sorgfältig in die Stirne ge¬ 
kämmt. Seine blauen Augen blickten keck umher, sein längliches 
Gesicht schien nicht unsympathisch, die fein gebogene, längliche Nase, 
die bartlosen, regelmässigen Lippen verliehen ihm ein hübsches Profil, 
seine Gestalt war für sein Alter gross, zwar schlank, aber kräftig und 
elastisch, seine Hände auffallend klein und wohlgeformt. 

Reinthaler ist grösser als Nestl, sein Aussehen kindlicher, seine 
Gestalt gröber, das Gesicht rund, die Lippen aufgeworfen, die Nase 
stumpf und etwas aufgestülpt, die Stimme tief und kräftig, wie die 
eines erwachsenen Mannes. 

Nestl benahm sich während der ganzen Verhandlung frech und 
selbstgefällig, Reinthaler weit anständiger, aber viel rückhältiger. 

Nestl gestand alle seine Thaten mit cynischer Offenheit ein, nur 
die Nothzucht und den Raub an Anna Theissl stellte er mit Ent¬ 
schiedenheit in Abrede. Er behauptete, die Erhebungen ob seines 
Alibis am Tage der That seien „lüderlich“ geführt worden; „i bin a 
nixnutziger Mensch, aber dös hab’ i net than.“ Er schämte sich offen¬ 
bar seines schlechten Geschmackes, nicht nur vor dem Publicum, 
sondern auch vor Reinthaler. Als ihn der Vorsitzende befragte, wie 
er sich in Hieflau und bei seiner Escorte ins Grazer Landesgericht 
der Fesseln so rasch entledigen konnte, erwiderte er mit selbstge¬ 
fälligem Lächeln: „Das ist meine Geschicklichkeit“. 

Bei Besprechung des Einbruches in die Baukanzlei des Stadt¬ 
baumeisters Wolf meinte er, „ich hab’ müssen einbrechen, weil ich ein 
Arbeitsbuch gebraucht hab’.“ Das Arbeitsbuch des Julian Schuster 
will er in Graz von einem Unbekannten um 6 K, jenes des Konrad 


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Zwei Knaben als Raubmörder. 


199 


Klampfer auf der Wanderschaft bei Leoben um 8 K gekauft haben. 
Dem Klampfer war es, als er am Fusse des Annaberges bei Leoben 
schlief, nebst 10 K gerade um jene Zeit gestohlen worden, als Nestl 
auf der Wanderschaft von Waidhofen [an der Ybbs nach Steiermark 
sich befand, also in der Zeit vom 16. bis 22. März 1902. 

Bei der Hauptverhandlung gestand Nestl ausdrücklich zu, zwei 
Schüsse auf Oswald Krammer abgegeben zu haben, nachdem Rein- 
thaler zuerst auf Krammer gezielt, geschossen, aber gefehlt hatte. Er 
selbst habe Krammer nicht durchsucht, sondern nur Reinthaler, was 
auch vollkommen glaubwürdig klang, da Nestl Krammer’s Jagdtasche 
durchsuchte, während Reinthaler den linken Hosensack, der umge¬ 
stülpt und heraushängend gefunden worden war, plünderte. 

Reinthaler behauptet dagegen, der Schuss sei ihm zufällig losge¬ 
gangen, erst auf Nestl’s zweiten Schuss sei Krammer zu Boden gestürzt. 

Nestl gestand auch, Weissl’s Sparkassabuch gestohlen zu haben, wo¬ 
bei Reinthaler bemerkte, „wenn wir nix haben, soll er auch nix habend 

Beim Diebstahl an Yincenz'Schweinzger in Grambach bei Graz am 
5. Juli 1902 haben sie sich eines Fiakers bedient, um an den Thatort zu 
gelangen; dies sei zu ihrer persönlichen Sicherheit nothwendig gewesen; 
sie haben sich öfters eines Fiakers bedient, um nicht erkannt zu werden. 

In der Untersuchungshaft hatte sich Nestl geäussert, es wäre das 
Beste gewesen, er hätte, wie der Bauer „hin“ gewesen ist, auch den 
Reinthaler erschossen, dann säss’ er heut nicht hier. — 

Die Geschworenen bejahten sämmtliche an sie gestellten Fragen 
und zwar nahezu alle einhellig. 

Nach dem österreichischen Strafgesetze (§ 52) ist anstatt der Todes¬ 
oder lebenslänglichen Kerkerstrafe auf schweren Kerker zwischen zehn 
und zwanzig Jahren zu erkennen, wenn der Verbrecher zur Zeit des 
begangenen Verbrechens das Alter von zwanzig Jahren noch nicht 
zurückgelegt hat; der Gerichtshof ist jedoch nach § 338 St. P. 0. be¬ 
fugt, die Strafe wegen des Zusammentreffens sehr wichtiger und über¬ 
wiegender Milderungsumstände bis auf drei Jahre herabzusetzen. 

Johann Nestl wurde zu zwanzig, Reinthaler zu zwölf Jahren 
schweren Kerkers, ergänzt durch ein hartes Lager vierteljährig, ver¬ 
schärft bei Nestl durch einsame Absperrung in dunkler Zelle, bei Rein¬ 
thaler durch Fasten am 16. Juni j. J. verurtheilt. Zugleich wurde 
ihre Anhaltung in einer Zwangsarbeitsanstalt nach verbüsster Strafe 
für zulässig erklärt. Beide traten ihre Strafe an und verzichteten 
auf jedes Rechtsmittel, Nestl mit der Bemerkung „nutzt eh’ nix, kann 
man nix machen!“ — Nach Schluss der Verhandlung wendete sich 
Nestl höhnisch lachend mit einer tiefen Verbeugung gegen das Publicum. 

Archiv für Kriminalanthropologie. XI. 14 


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IX. 


Ein Opfer platonischer Liebe. 

Von 

Hans Sehneickert, Rechtspraktikant in München. 

Am 6. Juni vorigen Jahres, Abends um 7 Uhr, verbreitete sich 
in der Halbmillionenstadt München wie ein Lauffeuer die Kunde, dass 
ein Grieche seiner Geliebten aufgelauert und sie erschossen habe. 
Einen näheren Grund hierfür wusste man in bestimmter Weise nicht 
anzugeben, zumal da das Motiv zur That Vielen heute noch ein 
Räthsel ist. 

I. Die Vorgeschichte dieses nicht wenig interessanten Kriminalfalles 
ist Folgende: 

Constantinos Kentros, geboren am 24. April 1869 zu Patras 
in Griechenland, kam im Jahre 1895 zum ersten Mal nach München, 
trat dort bei einem Friseur in Stellung, verliess aber bald darauf 
wieder diese Stadt und hielt sich u. A. auch einmal in Berlin auf. 
Im Jahre 1897 kam er wieder nach München und hielt sich hier 
dauernd auf bis zu seiner Verhaftung am 6. Juni vor. Jahres. Am 
1. August 1899 errichtete er ein selbstständiges Friseurgeschäft in der 
Herzogstrasse und gab sich auch jetzt ernsthaft mit dem Gedanken 
ab, als selbstständiger Mann zu heirathen. Bald nach diesem Zeit¬ 
punkte wurde er aufmerksam auf ein junges hübsches Mädchen, das 
öfters an seinem Laden vorbeikam und zufälliger Weise ihm gegen¬ 
über bei den Eltern wohnte. Es war die damals erst 15 Jahre alte 
Therese H., Tochter des Vorarbeiters H. Er grüsste sie, wenn er sie 
sah, ohne aber jemals den Muth gehabt zu haben, sie anzureden. 
Eine heftige Leidenschaft erfasste gar bald den jungen Griechen; er 
liebte das Mädchen, wie er des öfteren angab, ganz platonisch und 
mit der ernstesten Absicht, das Mädchen auch zu heirathen, da er es 
für ordentlich und sittsam hielt Den Leuten seiner Umgebung konnte 
er diese Absicht nicht länger verheimlichen und wurde jedes Mal 
leidenschaftlich erregt, wenn diese ihm unter den verschiedensten, einen 


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Ein Opfer platonischer Liebe. 


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Verzicht auf das Mädchen bezweckenden Einwänden seine Absicht 
auszureden suchten. Der Einwand, dass das Mädchen viel zu jung 
sei, dass es noch gar nichts von Liebe wisse und daher unmöglich 
eine Neigung zu ihm haben könne, brachte ihn am meisten aus seiner 
Ruhe, zumal er, wie er angab, durch das Verhalten des Mädchens zur 
Ueberzeugung kam, dass es auch eine Neigung zu ihm haben müsse. 
So legte er insbesondere das freundliche Danken des Mädchens beim 
Grüssen zu seinen Gunsten aus, will auch mit dem Mädchen, wenn 
es aus dem Fenster zu ihm herüber sah, günstig zu deutende Blicke 
und Zeichen gewechselt haben. Und als Therese H. in letzter Zeit 
als Buchhalterin in einem Geschäft eingetreten und daher seltener zu 
Hause war wie sonst, will er sie durch Zeichen — zum Fenster des 
Mädchens hin — gefragt haben, wo sie während des Tages sei, worauf 
er ebenfalls durch Zeichen die Antwort erhalten haben will, dass sie 
Buchhalterin sei. Daraufhin sei er ihr einmal nachgegangen und 
habe so erfahren, wo sie als Buchhalterin beschäftigt sei, und habe 
so auch die Zeit ihres täglichen Austrittes aus dem Geschäfte erforscht 
Von diesen gegenseitig gewechselten Zeichen will eine Zeugin, die 
Kentros zu beobachten Gelegenheit hatte, nie etwas gemerkt haben. 

Am 29. Mai vorigen Jahres fasste Kentros den Entschluss, den 
Vater des Mädchens um die Hand seiner Tochter zu bitten und lud 
ihn unter dem Vorgeben, etwas mit ihm sprechen zu wollen, ein, in 
seinen Laden zu kommen, was auch geschah. Als dieser Kentros’ 
Absicht erfuhr, erklärte er ihm die Unmöglichkeit der Erfüllung seines 
Wunsches, da seine Tochter noch zu jung und auch lungenleidend 
sei. Diese nicht erwartete Abweisung durch den Vater brachte Kentros 
in der Folgezeit der Verzweiflung nahe. Er vernachlässigte von jetzt 
an sein Geschäft, das Ijeben war ihm ganz gleichgültig. Acht Tage 
etwa vor der That fasste er Selbstmordgedanken, wurde aber, wie er 
selbst angab, durch seinen 13 jährigen Neffen, den er nach dem Tode 
dessen Vaters aus Griechenland zur Erziehung zu sich genommen 
hatte, und der ihn bat, ihn nicht allein hier zu lassen, wieder von 
diesen Gedanken abgebracht, ohne sie aber ganz aufzugeben. In seiner 
Verzweiflung wandte sich Kentros an einen in seiner Nähe wohnenden 
Geistlichen um Rath, der ihm, als er Kentros von seinem Entschluss, das 
junge Mädchen unbedingt heirathen zu wollen, nicht abzubringen glaubte, 
anrieth, das Mädchen einmal selbst zu fragen, ob es ihn wolle. Das war 
am Abend des 5. Juni, und am nächsten Tag befolgte Kentros diesen Rath¬ 
schlag und beging, als er sich durch eine unerwartete abweisende Ant¬ 
wort des von ihm jetzt zum ersten Male angeredeten Mädchens 
in allen seinen Hoffnungen getäuscht sah, die verbrecherische That. 

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IX. SCHNEICKERT 


Ueber die Tbat selbst sind noch folgende Einzelheiten bekannt 
und von Interesse: Am Abend des 6. Juni, kurz vor 7 Uhr, wartete 
Kentros auf die H., bis diese aus dem Geschäft kam, ging ihr nach 
bis zu der unweit von diesem Geschäft gelegenen Theklapost, wo die 
H. Briefe aufzugeben hatte. Als sie von da wieder auf die Strasse 
kam, trat Kentros auf sie zu, grüsste sie und redete sie hier zum 
ersten Mal an, etwa mit den Worten: „Fräulein Therese, ich habe ein 
paar ernste Worte mit Ihnen zu reden“. Das Mädchen aber machte 
eine abweisende Bewegung, um Kentros verstehen zu geben, dass sie 
nichts hören wolle. Dieses abweisende Verhalten der H., in dem 
Kentros, wie er angab, eine Verachtung seiner Person fühlte, brachte 
ihn in helle Verzweiflung, er zog einen Revolver aus der Tasche und 
feuerte aus unmittelbarer Nähe einen Schuss auf das Mädchen, das, 
ins Herz getroffen, nach einigen Augenblicken lautlos zu Boden stürzte. 
Ein zweiter Schuss, den Kentros auf sich selbst gerichtet hatte, war 
erfolglos, da die Kugel nur bis auf die Haut drang, ohne diese jedoch 
zu verletzen, wie sich nachträglich herausstellte. Dem ihn wider¬ 
standslos verhaftenden Schutzmann gegenüber entschuldigte er seine 
That mit dem Vorbringen, er sei in das Mädchen verliebt gewesen 
und sie wollten zusammen sterben. Während Postbedienstete das be¬ 
wusstlose und zum Tod verwundete Mädchen in das Postgebäude 
trugen, wo es alsbald seinen Geist aushauchte, entzog ein Schutzmann 
den Thäter den Angriffen der wüthenden sich ansammelnden Volks¬ 
menge und brachte ihn in einer Droschke in polizeilichen Gewahrsam. 

Ueber das Verhalten des Thäters vor und nach der That geben 
uns dessen Aussagen, soweit möglich durch Zeugen bestätigt, noch 
näheren Aufschluss: 

Zwei Tage vor der That steckte er einen Revolver zu sich, den 
er kurz vorher bei einem Tändler gegen einen anderen eintauschte. 
Er fühlte sich in der letzten Zeit vor der That lebensüberdrüssig, 
melancholisch, nervös gereizt, lief viel allein herum. Am Morgen des 
6. Juni, dem Tage der That, erhob er bei der hiesigen Sparkasse seine 
Spareinlage im Betrage von 230 Mark, damit sie sein hülfloser Neffe 
für den Lebensunterhalt oder für die Reise in seine Heimath verwenden 
könne. Im Einklang mit den von Kentros geäusserten Selbstmord¬ 
gedanken steht auch eine kurze Aufzeichnung, die er am gleichen 
Vormittag in sein Notizbuch in neugriechischer Sprache machte. Sie 
enthielt nach seiner Angabe, die mit der Uebersetzung eines Sach¬ 
verständigen übereinstimmt, den Gedanken, dass er durch den Ent¬ 
schluss des Vaters seiner Geliebten an den Rand des Grabes getrieben 
worden sei, und dass man seinen Leichnam beim Auffinden auf die 


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Ein Opfer platonischer Liebe. 


203 


Strassen Münchens werfen solle, womit er, wie er selbst erklärte, sein 
Einverständniss mit der Lehre der katholischen Kirche, die dem Selbst¬ 
mörder das kirchliche ßegräbniss verweigert, zum Ausdruck bringen 
wollte. 

Kentros’ Leumund war ungetrübt. Die Strafliste enthielt 
keinen Eintrag; nach seiner eigenen Angabe wurde er einmal mit 
6 Mark Strafe belegt, weil er einem Landsmanne, duroh den er sich 
beleidigt fühlte, eine Ohrfeige gab. Seine früheren Lehrmeister und 
Gescbäftskameraden bekundeten übereinstimmend, dass Kentros im 
Geschäft ein fleissiger, sparsamer und zuverlässiger Arbeiter gewesen; 
andere wussten auch zu bezeugen, dass er ein braver, redlicher und 
frommer Mensch gewesen sei, ferner dass er leicht reizbar sei, be¬ 
sonders wenn man an seiner Ehrenhaftigkeit zweifle. Auch Wider¬ 
spruch konnte er nicht gut vertragen. Dass er sparsam war, beweist 
sein selbstständiges schuldenfreies Geschäft, zu dessen Einrichtung er 
baare Darlehn aufnahm, die er bald wieder aus seinen Einnahmen 
zurückbezahlte. Die 230 Mark betragende Spareinlage rührte auch 
von seinen Arbeitseinkünften her; dabei unterstützte er noch seinen 
13jährigen Neffen und seine jetzt 70 Jahre alte Mutter, sowie seine 
Schwester, die beide in Griechenland verwitwet leben. Seine Lebens¬ 
weise war anspruchslos und nüchtern; im Genuss alkoholischer Ge¬ 
tränke war er sehr mässig, dagegen rauchte er stark Cigaretten. Auch 
bezüglich der Befriedigung sexueller Bedürfnisse konnte ein tadelns- 
werthes Verhalten des Kentros nicht nachgewiesen werden. 

Aus seiner Jugendzeit gab Kentros noch einige bemerkenswerte 
Daten an: Als Freiwilliger machte er den griechisch-türkischen Krieg, 
sowie die Expeditioninach Kreta mit. Er war als Kind immer schwäch¬ 
lich und nervös und machte auch mehrere Kinderkrankheiten durch, 
was seine greise Mutter, die zur Schwurgerichtsverhandlung hierher 
gereist war, auch bestätigte. Selbstmord oder Geisteskrankheiten traten 
in seiner Familie niemals auf; doch glaubten einige Zeugen, bei Kentros 
einen Hang zur Melancholie entdeckt zu haben. 

Die getödtete H. war ein unbescholtenes Mädchen. 

Aus dem Gutachten des Landgerichtsarztes Dr. H., der auch 
die Section der Leiche vorgenommen hatte, ist Folgendes hervorzuheben: 

Das 12 mm lange Geschoss war dem Mädchen in der Nähe der 
linken Brustwarze in’s Herz eingedrungen, durchbohrte die vordere 
Wand der rechten Herzkammer, die Scheidewand zwischen den beiden 
Herzkammern, sowie die hintere Wand der linken Herzkammer. Im 
Wundcanal wurde ein kleines Stück Draht aufgefunden, das von einem 
Kleidungsstück abgerissen und mit der Kugel eingeführt sein musste. 


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204 


IX. SCHNEICKEBT 


Die Geschlechtsteile des Mädchens waren in jungfräulichem Zu¬ 
stand; an der Lunge wurden einige Tuberkeln entdeckt. 

Ueber den körperlichen und geistigen Zustand des An¬ 
geklagten wurde angegeben, dass dieser bei seiner kleinen Statur ganz 
normal entwickelt und zur Zeit körperlich und geistig vollkommen 
gesund sei. Eine flache glänzende Narbe, in der Magengegend des 
Angeklagten wahrzunehmen, scheint der zweite Schuss, den er un¬ 
mittelbar nach der That auf sich gerichtet hatte, hinterlassen zu haben. 

Das Motiv zur That habe keine krankhafte Anlage zur Grund¬ 
lage gehabt, sondern lediglich einen durch die Abweisung verursachten 
Kummer; der Angeklagte habe sonach in einem erregten Zustande 
gehandelt, durch den seine freie Willenstfestimmung zwar beeinträchtigt, 
aber nicht ausgeschlossen worden sei. 

Oberarzt Dr. H. von der hiesigen Kreisirrenanstalt kam zu dem 
gleichen Resultate wie Landgerichtsarzt Dr. H. Er bezeichnete den 
Angeklagten als einen abnorm leidenschaftlichen Menschen, der, wie 
im gewöhnlichen Leben durch einen unbedeutenden Widerspruch auf¬ 
geregt, so durch die für ihn eine Verachtung seiner Person bedeutende 
Abweisung des Mädchens zu dessen Tödtung hingerissen worden sei. 

Am 28. October fand die Strafthat in einer etwa sechsstündigen 
Verhandlung vor dem oberbayerischen Schwurgericht in München seine 
Erledigung. Die den Geschworenen vorgelegten Fragen lauteten 1. auf 
Todtschlag, 2. auf mildernde Umstände; auf Antrag des Vertheidigers 
wurden noch zwei weitere Fragen diesen zugefügt: 3. auf vorsätzliche 
Körperverletzung mit nachgefolgtem Tod, 4. auf mildernde Umstände. 
Der Staatsanwalt beantragte, nachdem die Geschworenen die beiden 
ersten Fragen bejaht hatten, eine Gefängnissstrafe von drei 
Jahren sechs Monaten, welche dem Angeklagten auch zuerkannt 
wurden. 

II. Der an sich ganz einfache Thatbestand dieses Kriminalfalles 
giebt Veranlassung zur Erörterung einiger interessanter psycholo¬ 
gischer Fragen. 

Im Vordergrund steht natürlich die Frage: Hatte das junge Mäd¬ 
chen eine Ahnung von der leidenschaftlichen Liebe des Griechen? 
Die Eltern verneinen dies unter allen Umständen; directe überzeugende 
Anhaltspunkte sind auch keine dafür vorhanden. Ein Verkehr zwischen 
beiden bestand nicht; ob die angebliche geheime Verständigung durch 
Wechseln von Zeichen aus der Ferne in Wirklichkeit stattgefunden 
hat, hängt zunächst von der Glaubwürdigkeit des Kentros ab. Seine 
Aussagen sind, wie aus dem ganzen Verlauf des Strafverfahrens zu 
erkennen ist, durchweg glaubwürdig. Ein Widerspruch, auf den ich 


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Ein Opfer platonischer Liebe. 


205 


unten noch näher eingehen werde, fand sich allerdings in seinen An¬ 
gaben, wurde aber durch ihn selbst in zufriedenstellender Weise ge¬ 
löst Aber Unwahrheiten, die eine Besserstellung seiner schlimmen 
Lage hätten bezwecken sollen, hat Kentros eigentlich nie behauptet. 
Dass Kentros die H. griisste, wenn er sie sah, und diese dankte, ist 
nicht ohne Weiteres zu bezweifeln, ebenso nicht, dass Kentros zu dem 
Fenster, aus dem die H. schaute, hinblickte und Zeichen machte, um 
deren Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Dass diese aber die Zeichen 
bemerkte und sich Mühe gab, sie zu verstehen und zu beantworten, 
ist nicht leicht anzunehmen; denn wenn sie Kentros Zeichen beachtet 
und beantwortet hätte, so hätte Kentros sicher öfters Gelegenheit ge¬ 
funden, solche Zeichen zum Zwecke einer Verständigung mit der H. 
zu wechseln, und wäre Kentros durch die offensichtliche Bereitwillig¬ 
keit der H., mit ihm zu sprechen, auch zu mündlichen Unterredungen 
ermuthigt worden. Kentros hat aber nie mit dem Mädchen Worte ge¬ 
wechselt; sein Geständniss in dieser Richtung hat auch nie Jemand 
bestritten. Andererseits aber hätten, wenn Zeichen mit beiderseitigem 
Bewusstsein und Einverständnis gewechselt worden wären, Leute 
aus Kentros’ Nachbarschaft diese zweifellos bemerken müssen, da 
Kentros von seinem zu ebener Erde gelegenen Friseurladen aus zu 
einem höhergelegenen Stockwerke hin solche Zeichen unbeobachtet 
nicht leicht hätte machen können. Dazu kommt noch Kentros’ ausser¬ 
ordentliche Anlage zur Autosuggestion, die ihm bei seiner regen 
Phantasie und Einbildungskraft zu den optimistischsten Ueberzeugungen 
brachte. So behauptete auch Kentros, dass das Mädchen, von dessen 
Neigung zu ihm er felsenfest überzeugt war, die abweisende Antwort 
des Vaters erfahren haben und dadurch sehr traurig gestimmt worden 
sein müsse, da er es eines Tages weinend am Fenster stehen gesehen, 
die Augen mit dem Taschentuch verdeckend. 

Es ist also nicht anzunehmen, dass die H. die Liebe des Kentros 
zu ihr fühlte und erwiderte, während sie aber von dessen Neigung 
zu ihr sehr leicht Kenntniss erhalten haben kann, da ja Kentros mit 
dieser und jener Nachbarin öfters über dieses Thema sprach und kein 
Geheimniss daraus machen wollte. Der Vater der H., den Kentros 
bat, von seiner Unterredung mit ihm Niemandem etwas mitzutheilen, 
wird wohl kaum über diesen Punkt mit seiner jungen Tochter ge¬ 
sprochen haben. Leicht ersichtliche Gründe, warum das junge Mäd¬ 
chen die Liebe seines Verehrers nicht erwiderte oder bei unbestrittener 
Kenntniss derselben wohl auch nicht erwidert hätte, wären manche 
anzuführen; doch gehören diese nicht hierher. 

Dass die Abweisung durch den Vater Kentros ausser Fassung 


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IX. Schnkichert 


brachte, ist bei seinem schon erwähnten Naturell leicht erklärlich. 
Als dieser fühlte, dass der Gegenstand seiner idealsten Wünsche und 
Hoffnungen für ihn unerreichbar ist, batte das Leben keinen Reiz 
mehr für ihn. Alles um ihn her ist ihm jetzt gleichgültig; er ver¬ 
fällt in melancholische Grübeleien, die in natürlicher Folge zu Selbst¬ 
mordgedanken führen. Beim Anblick eines ihm bisher so geliebten 
Verwandten, seinem jungen Neffen, wird er dem überlegenden Be¬ 
wusstsein wieder näher gebracht, es kommen ihm, dem frommen, 
orthodoxen Christen, die Gedanken , an seine ihm so heilige Religion, 
und so schiebt er seine Selbstmordgedanken, dessen Verwirklichung 
er schon so nahe getreten war, noch einige Augenblicke auf, geht zu 
einem Geistlichen, vertraut ihm seinen Herzenskummer an,„klagt ihm 
seine bittere Noth und erhofft von ihm rettende Rathschläge. Dieser 
war sich nicht bewusst, dass er einem halbwabnsinnigen Menschen 
einen so verhängnisvoll werdenden Rath ertheilt Wäre Kentros nicht 
der Gedanke gekommen, als frommer Christ in der äussersten Noth- 
lage einen Geistlichen aufzusuchen, oder hätte ihm dieser den Rath, 
das Mädchen einmal selbst zu sprechen, nicht gegeben, wer weiss, 
ob Kentros allein den Muth gefasst hätte, das Mädchen unerwartet 
auf offener Strasse anzusprechen: an einsamer Stelle, ohne Aufsehen 
zu erregen, hätte er vielleicht als Selbstmörder sein Leben beschlossen. 
Doch sind in dieser Lage des Menschen Entschlüsse nicht mehr so 
abhängig von seinem sonst freien Willen und daher hinsichtlich ihrer 
Entstehung und Entwicklung nicht mehr controllirbar. 

Dafür, dass Kentros, als er zwei oder drei Tage vor der That 
den Revolver zu sich steckte, schon einen Entschluss fasste, auch die 
H. zu tödten, sind keine Anhaltspunkte vorhanden; es lässt sich an¬ 
dererseits aber auch nicht ohne Weiteres die Richtigkeit des Gedankens 
bestreiten, dass Kentros allmählich den Entschluss fasste, gemeinsam 
mit dem so leidenschaftlich geliebten Mädchen aus dem Leben zu 
scheiden, da ihm sein Besitz ja doch für immer vorenthalten erschien, 
er diesen aber auch unter keinen Umständen einem Anderen gönnte. 
Dieser Gedanke, in Verbindung mit der ungeahnten, ihn aufs Heftigste 
erregenden, bitteren Enttäuschung hinsichtlich der erwarteten Gegen¬ 
liebe des Mädchens, scheint mir für die Begehung der That ausschlag¬ 
gebender gewesen zu sein, als der von Kentros angegebene, dass er 
in der Abweisung des Mädchens lediglich eine Verachtung seiner 
Person fühlte. Dafür spricht auch die naturnothwendige Folgeer¬ 
scheinung einer leidenschaftlichen Liebe, die selbstsüchtige Eifersucht, 
dafür spricht ferner die innere Befriedigung und Seelenruhe nach der 
That — und besonders bei der Nachricht des eingetretenen Todes des 


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Ein Opfer platonischer Liebe. 


207 


Mädchens — sowie seine Ruhe während des ganzen Verlaufs der 
Schwurgerichtsverhandlung. 

Soviel über die inneren Beweggründe zur That. 

Es ist nun noch ein während des Strafverfahrens zu Tage ge¬ 
tretener Widerspruch in den Aussagen des Kentros aufzuklären. 
Wie schon erwähnt, waren Kentros’ Angaben im Allgemeinen glaub¬ 
würdig. Er war, wie die Zeugen ihn schilderten, ein braver, ehren¬ 
hafter Mensch, und fand auch, nachdem ihm sein ganzes Leben gleich¬ 
gültig war und er durch den Tod seiner für ihn unerreichbaren Geliebten 
eine gewisse innere Befriedigung empfunden hatte, nicht die geringste 
Veranlassung, durch eine falsche oder bloss günstigere Darstellung der 
Thatumstände eine Milderung seiner Strafe zu bezwecken. Kein Zeuge 
— allerdings mit Ausnahme des Vaters der Getödteten — konnte den 
Angaben des Angeklagten widersprechen. Der einzige Widerspruch 
in den Angaben des Kentros trat bei der Erzählung des genauen Her¬ 
gangs der Begegnung mit der H. auf. Bei dem wiederholten Verhör 
des Angeklagten in der Voruntersuchung stellte er in stets unverän¬ 
derter Weise seine Begegnung mit der H. vor der That dar, wie folgt: 

Ich wartete auf der Strasse, bis die H. aus dem Comptoir kam, 
trat grüssend auf sie zu und fragte sie, ob ich sie begleiten dürfe. 
Sie hat dies zwar zuerst abgelehnt, mir aber erlaubt, mit ihr zu 
sprechen, wenn sie ihre Aufträge bei der nahegelegenen Theklapost 
erledigt habe. Ich ging langsam hinter ihr nach und erwartete sie 
vor dem Postgebäude. Als sie von da wieder auf die Strasse kam, 
fragte ich sie, ob sie etwas von ihrem Vater erfahren habe, worauf 
sie dann antwortete: „Ja, alles, aber ich bin nicht schuld daran, ich 
bin seit dieser Zeit sehr traurig“. Mit den Worten: „Therese, ich kann 
nicht leben ohne Dich, es ist besser, wir sterben zusammen“ — richtete 
ich die Waffe zuerst auf sie und dann auf mich. 

Während Kentros in der Voruntersuchung den Vorgang bei der 
That öfters in der eben angegebenen Weise wiederholte, doch ohne 
hierbei je zu behaupten, dass die H. mit einem gemein¬ 
samen Tode einverstanden gewesen sei, bat er beim Beginn 
seiner Vernehmung in der Hauptverhandlung, die Erzählung des Vor¬ 
ganges dahin berichtigen zu dürfen, wie sie dem oben wiedergegebenen 
objectiven Thatbestand zu Grunde liegt Die frühere Erzählung des 
Kentros war zweifellos eine Folge seiner Autosuggestion. Bei seiner 
Schüchternheit machte sich Kentros gewiss viele Gedanken darüber, 
wie er die H. anreden, wie er ihr seine heisse Liebe eingestehen soll 
und wie er sie bei der Aussichtslosigkeit einer ehelichen Verbindung zu 
einem freiwilligen, gemeinsamen Tode überreden werde. So kam 


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208 


IX. Schneickebt, Ein Opfer platonischer Liebe. 


wohl der Gedanke des gemeinsamen Todes in seine erste Erzählung 
des Vorgangs herein; so rührte wohl -auch die Erwähnung der trau¬ 
rigen Stimmung des Mädchens wegen der Abweisung des Vaters in 
Kentros’ erster Erzählung [offenbar von dessen angeblicher Beobach¬ 
tung her, dass er das Mädchen einmal weinend am Fenster stehen sab. 
Andererseits muss man auch bedenken, dass die seelische Nüchternheit 
und die Ueberlegungsfähigkeit bei dem gleich nach der That erfolgten 
Verhör bei dem Thäter noch nicht zurückgekehrt sein konnte und 
jetzt noch die Autosuggestion eine um so grössere Wirkung ausüben 
musste. Die einmal gegebene Schilderung des Vorgangs bei der That 
wusste Kentros bis zur Hauptverhandlung stets consequent und wider¬ 
spruchslos zu wiederholen und vermied so durch eine vorzeitige Aen- 
derung bezw. Berichtigung seiner Erzählung eine nachtheilige Er¬ 
schütterung seiner Glaubwürdigkeit Sein Gefühl der Ehrenhaftigkeit 
Hess es aber nicht zu, in diesem einzigen Punkt von der Wahrheit 
abzuweichen, zumal deren Geständniss seine Lage kaum verschlimmern 
konnte; und so benutzte Kentros die letzte geeignete Gelegenheit, seine 
Vernehmung vor den über ihn zu Gericht sitzenden Geschworenen, 
um in diesem Punkte der Wahrheit auch die Ehre zu geben. Und 
dies that er unaufgefordert zu Beginn seiner Vernehmung. Das gute 
Vorleben, das unumwundene Geständniss und die unglückseUge Liebes- 
leidenschaft des Angeklagten stimmten seine Richter milde. 

Zu der Schwurgerichtsverhandlung war der Zudrang des Publi- 
cums gross. So sehr die Zuhörer ohne nähere Kenntniss des Falles 
den Thäter ob seines Verbrechens verfluchten, so sehr bemitleideten sie 
den jungen, unglücklichen Mann am Ende der Verhandlung, nachdem 
sie in deren Verlauf selbst erfahren hatten, dass es sich um einen ganz 
braven Menschen bandelte, der keine Anlagen zu Rohheiten, dagegen 
eine furchtbare, eine geradezu abnorme und doch nicht entwürdigende 
Liebesleidenschaft besass, die seine .Verantwortlichkeit nicht unbe¬ 
deutend minderte. 


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X. 

Das Vorleben des Angeklagten. 

Vom 

Ersten Staatsanwalt Siefert in Weimar. 

Am 8. November 1902 stand vor dem Schwurgerichte zu Weimar 
eine Verhandlung wegen gemeinschaftlichen Mordes gegen die folgen¬ 
den Personen an: 

1. Schlosser Arthur Behnert, 

2. Stallschweizer Oskar Richard Goldscbmidt von Dresden, ge¬ 
boren 29. Februar 1876, militärfrei, dreizehnmal wegen Betteins vor¬ 
bestraft, 

3. Bahnarbeiter Peter Fousse. 

Die Genannten hatten sich im Juni v. J. in der Herberge zur Heimat 
in Plauen getroffen. Behnert, welcher im December 1901 einen 
ßaubmord in Leipzig begangen hatte, engagirte die beiden anderen, 
mit ihm auf Raub und Mord auszugehen. Um sich vor Allem bessere 
Kleider zu schaffen, sollte zuerst ein Althändler beraubt werden, dann 
war ein Raubmord in Goslar und hierauf in Wien gegen einen Bankier 
geplant. Nachdem es in Gera, in Halle, auf dem Wege von der Rudels¬ 
burg nach Kösen, in Apolda nicht gelungen war, die beabsichtigte 
That auszuführen, wurde am 3. Juli v. J. die Ehefrau des Althändlers 
Harz in Jena von den Genannten überfallen. Goldschmidt sollte sie 
mit einem Hammer todtschlagen, fand aber nicht den Muth dazu und 
gab den Hammer an Behnert ab, der dann den tödtlichen Schlag aus¬ 
führte. Auch Fousse führte Schläge nach der Frau. Nachdem die 
Harz leblos in einer Ecke lag, machten sich die Drei daran, den Laden 
auszurauben und begaben sich dann in die eine Treppe hoch gelegene 
Wohnung. Sie befürchteten, dass der Ehemann Harz, welcher nicht 
heimisch war, zurückkehre und planten, ihn eventuell zu tödten. 
Goldschmidt stand vor der Stubenthür Wache und sollte den etwa 
herankommenden Harz festhalten. 


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210 


X. SlEFERT 


Ueber das Vorleben Goldschmidt’s war in der Voruntersuchung 
festgestellt, dass sein letzter Wohnort Apolda war, wo er bis 24. Januar 
v. J. beim Oekonomen Schrimpf gearbeitet habe, dass er öfters wegen 
Betteins bestraft sei, dass er nicht Soldat war. In letzterer Beziehung 
hiess es im Protokolle: „wegen Krankheit militärfrei“. Was war denn 
das für eine Krankheit? — fragte der Herr Schwurgerichts Vorsitzende 
den Angeklagten Goldschmidt, und dieser erzählte nun, dass er in 
Hubertusburg 3 Jahre im Irrenhause gewesen sei. Diese Mittheilung 
hatte die Aussetzung der Verhandlung auf den 10. November zur 
Folge und die Vorladung des Irrenarztes, welcher Goldschmidt in der 
Irrenanstalt behandelt hatte, sowie des Directors der Irrenanstalt in 
Jena als Sachverständigen. Jener Arzt war Medicinalrath Näcke, 
dieser ist der Geheime Medicinalrath Binswanger. 

In der am 10. November fortgesetzten Verhandlung stellte sich 
nun Folgendes heraus: 

Der Vater betreibt in Dresden einen kleinen Brennholzhandel. 
Aus der Ehe stammen 15 Kinder, von denen 10 ganz klein oder in 
den ersten Lebensjahren starben. Die Goldschmidt’schen Eheleute 
erfreuen sich eines guten Rufes, doch soll der Vater trinken. 

Richard Goldschmidt lernte erst im dritten Jahre laufen, er litt 
an der englischen Krankheit. In der Jugend hat er Diphtheritis, 
Scharlach, Blattern, Masern gehabt 

Seine Mutter hat ihn als stets vergesslich bezeichnet. Er habe, 
als er schon gross war, nur mit kleinen Kindern gespielt Verschiedene 
Frauen hätten, als er 10 Jahre alt war, gesagt, er sei nicht ganz 
richtig im Kopfe. 

In der Schule lernte er sehr schlecht, er war faul, nachlässig, 
unordentlich. Stundenlang kam er nicht nach Hause, sondern bummelte 
umher. Deshalb kam er mit dem 12. Lebensjahre der besseren Auf¬ 
sicht wegen in das Pestalozzistift Auch hier war er träge und seine 
Censuren waren immer schlecht Seine Oonfirmation erfolgte ein Jahr 
später als gewöhnlich. 

Nachdem er confirmirt war, kam er zu einem Bäcker in die 
Lehre. Schon nach 6 Wochen wurde er wegen Trägheit und Un¬ 
brauchbarkeit entlassen, worauf er 'j-i Jahr in die Siemens’sche Glas¬ 
fabrik ging. In dieser Zeit fing er an Schnaps zu trinken. 
Mehrmals setzte er die Arbeit aus, weshalb er entlassen wurde. Lange 
war er nun arbeitslos zu Hause, ohne Energie und Trieb sah er sich 
nicht nach Arbeit um. Endlich brachte ihn sein Vater in die Lehre 
zum Schornsteinfeger Naumann, einem sehr ordentlichen Manne, der 
sehr gut gegen den jungen Goldschmidt war. In dieser Lehre scheint 


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Das Vorleben des Angeklagten. 


211 


er 1 Jahr lang gewesen zu sein, aber er war auch hier faul, lief von 
der Arbeit fort und führte sich schlecht Entlassen, ging er zunächst 
wieder in die Glasfabrik, von wo er aber auch bald wieder fort¬ 
geschickt wurde. In der Folgezeit war er überall nur kurze Zeit 
beschäftigt und befand sich öfter auf Wanderschaft Ueberall log er, 
war faul, trank Schnaps und Bier, soviel er bezahlen 
konnte. Er wurde wegen groben Unfuges, Betteins und Trunkenheit 
mehrfach bestraft, auch der Correctionsanstalt in Rummelsburg über¬ 
wiesen. Durch den Geistlichen dieser Anstalt bekamen die Eltern 
wieder Nachricht von ihm; eines Tages kehrte er zu diesen zurück. 
Wieder sab er sich nicht um Arbeit um, mehrfach suchte er bei ganz 
jungen Mädchen Geschlechtsverkehr („Dummheiten“) zu erlangen. 
Die Mutter musste sich an die Polizei wenden, um ihn unterzubringen; 
er bekam auch eine Stellung. Aber auch in dieser blieb er nur kurze 
Zeit und wurde dann in die Arbeitsanstalt gebracht. Mehrfach wurde 
er hier wegen Faulheit und ungebührlichen Benehmens bestraft. Am 
2. Februar 1895 schreibt der Anstaltsarzt Dr. Raab nieder: 

„Goldschmidt macht hie und da den Eindruck eines schwachsinnigen 
Menschen. Ich ersuche den Herrn Anstaltsgeistlichen um sein Gut¬ 
achten über Goldschmidt’s geistigen Zustand auf Grund der im 
Unterricht gemachten Beobachtungen“ 
und der Geistliche erwidert: 

„Goldschmidt muss als schwachsinnig (wenn auch nicht im schlimmsten 
Grade) bezeichnet werden. Im Unterricht war er, wie mir gegen¬ 
über stets, zugänglich und willig, und vermochte deswegen immerhin 
leidliche Antworten zu geben; dagegen ist er sehr schwerfällig und 
hastig, geradezu und roh. Nach meiner Erfahrung ist G. durch 
Milde noch am besten zu lenken.“ 

Am 25. Februar wird Goldschmidt für „geistesschwach in Folge Schnaps¬ 
trinkens in jugendlichem Alter erklärt“. Tags darauf wurde er von 
der Arbeitsanstalt in das städtische Irren- und Siechenhaus gebracht. 
Hier lernte man ihn als einen vielfach frechen und unverschämten 
Menschen kennen, der die Pfleger und Kranken belästigte, während 
er gegen die Aerzte zuvorkommend und unterwürfig war. In gereizter 
Stimmung knotete er sich einmal das Halstuch um den Hals und war 
dabei so erregt, dass er isolirt werden musste. Er tobte und lärmte 
in der Zelle ununterbrochen einen Tag lang und verweigerte 1 Tage 
die Nahrung. 

Am 9. Mai 1895 wurde er in die Irrenanstalt zu Hubertusburg 
übergeführt. Dabei erklärte der Dresdener Oberarzt: 

„Sein Gesichtsausdruck ist apathisch, stumpfsinnig. Gereizt, wird 


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212 


X. SlEFERT 


er leicht hitzig, jähzornig und gewaltthätig gegen Andere. Sein 
Gedächtnissvermögen ist schlecht.-Leichtere abstrakte Be¬ 

griffe vermag er ziemlich gut zu definiren und weiss auch bei 
fingirten Beispielen die ethisch richtige Handlungsweise anzugeben, 

handelt aber im geeigneten Falle nicht demgemäss.-Er 

leidet an angeborener Geistesschwäche mit Reizbarkeit, Neigung zur 
Vagabundage, Trunk und verbrecherischen Ausschreitungen. Er ist 
unheilbar und gefährlich und dauernder Behandlung in einer ge¬ 
schlossenen Anstalt bedürftig.“ 

Unter dem 15. Januar 1896 wurde der Militär-Ersatz-Behörde über 
ihn bezeugt, dass er an unheilbarem Geistesgebrechen leide, und am 
30. April 1897 in Erbschaftssachen dem Amtsgerichte Dresden, dass 
er an unheilbarem Schwachsinn mit Erregungszuständen, zeitweise 
auftretender hochgradiger Reizbarkeit und einem pathologischen Hang 

zu verbrecherischen Excedirungen leide und deshalb-als seines 

Vernunftgebrauches beraubt zu erachten sei. 

Medicinalrath Näcke bezeichnet ihn als sehr frech und wider¬ 
spenstig. Er habe nach den übrigen Kranken mit Steinen geworfen, 
einmal versucht, einem Anderen Drahtstifte in den Kopf zu treiben. 
Wegen seines flegelhaften Betragens sei er zeitweise auf die Station 
der Unruhigen gebracht worden. Mit der Zeit habe sich seine Unruhe 
gelegt und deshalb sei er im Februar 1899 als „gebessert“ vom 
Personalbestände der Anstalt abgeschrieben worden. Am 6. Februar 
1899 Hess ihn die Arbeitsanstalt in Dresden wieder abholen; hier blieb 
er bis 24. April 1899. 

Seiner Behauptung nach hat sein Vater es durchgesetzt, dass er 
wieder auf freien Fuss kam. Dann hat er sich aber nicht lange in 
Dresden aufgehalten und ist wieder auf die Wanderschaft gegangen, 
wo er sich als Stallschweizer ausgebildet hat. 


Nach nochmaligem Gehör des Angeklagten Goldschmidt und nach 
der zeugenschaftlichen Vernehmung des Medicinalrathes Näcke gab 
der Letztere sein Gutachten über Goldschmidt ab. Die unmoralische 
That an sich besage noch nichts für Krankheit, es habe eine genaue 
Anamnese bis in die früheste Kindheit zurück einzusetzen, um zu 
sehen, ob die Unmoralität schon von Anfang an bestand oder erst 
später eintrat und letzteren Falls, ob dies pathologisch oder im Wesent¬ 
lichen durch das Milieu (Verführung, Verlotterung) bedingt war. Es 
frage sich, ob im concreten Falle wirkliche, declarirte Psychose und 
damit Unzurechnungsfähigkeit vorliege. Ohne Weiteres brauche man 
diese aber nicht auszusprechen. G. sei der Suggestion Anderer in 


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Das Vorleben des Angeklagten. 


213 


hohem Grade unterworfen. Er bezeichne den Angeklagten als ver¬ 
mindert zurechnungsfähig, es lägen mildernde Umstände vor. Auf 
Befragen erklärte der Sachverständige, dass, wenn er mildernde Um¬ 
stände ausscheiden solle, er den Angeklagten als unzurechnungsfähig 
bezeichnen müsse. G. sei ethisch depravirt, sein ethisches Niveau wenig 
über 0. 

Geheimer Medicinalrath Binswanger hatte aus der Vernehmung 
Goldschmidt’s und der Zeugenaussage des Herrn Näcke ein ab¬ 
schliessendes Urtheil darüber sich nicht bilden können, ob der Schwach¬ 
sinn Goldschmidt’s so ausgedehnt sei, dass er dessen Zurechnungs¬ 
fähigkeit ausschliesse. Er beantragte deshalb Beobachtung Goldschmidt’s 
in der Irrenanstalt, welchem Anträge vom Gerichtshöfe stattgegeben 
wurde. 

Die beiden anderen Angeklagten wurden von den Geschworenen 
als Mitthäter am Morde der Frau Harz schuldig erklärt und vom 
Gerichtshöfe zum Tode verurtheilt. 


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XL 


Sexoalpathologische Fälle. 

Von 

Dr. Siegfried Türkei, Wien. 

I. 

Der Umstand, dass der vorliegende Fall in seiner Art vereinzelt 
dasteht and, soweit mir bekannt ist, ein in seiner Aetiologie so 
klarer Fall noch nicht beschrieben ist, veranlasst mich zu dieser Ver¬ 
öffentlichung. 

Wohl haben Moll und Tarnowsky auf eine besondere Per¬ 
version des Geschlechtssinnes hingewiesen, die man bei hetero- und 
homosexualem Triebe findet und welche Moll als „Mixoskopie“ be¬ 
zeichnet hat 

Es finden sich nämlich mitunter Männer, die nicht durch den 
Coitus mit dem Weibe sich befriedigt fühlen, sondern die ihre Be¬ 
friedigung darin finden, dass sie einen dritten den Coitus ausführen 
sehen. 

Moll ist durch Analysis zur persönlichen Anschauung gelangt, 
dass diese Fälle eine Abart des von Krafft-Ebing so benannten 
Masochismus seien, indem er annimmt, es bestehe der Heiz dieser 
Mixoscopie für den Dritten vielleicht in dem Leiden, welches in ihm 
dadurch hervorgerufen wird, dass er das begehrte Weib in den Armen 
eines Andern sieht. 

Sacher-Masoch selbst habe bereits in seiner „Venus im Pelze 14 
dieses masochistische Gefühl folgendermaassen beschrieben: „Die Treu¬ 
losigkeit eines schönen Weibes facht meine Leidenschaft sehr an 44 . „In 
der Treulosigkeit eines geliebten Weibes liegt ein schmerzhafter Reiz, 
die höchste Wollust“. 

Tarnowsky hat Weiteres über einige homosexuale Fälle ähn¬ 
lichen Charakters berichtet. (Es handelte sich um zwei Knaben, die 
ein Mann dazu abgerichtet hatte, einander zu masturbiren; er selbst 
sah zu, wobei er sich mitunter am päderastischen Acte selbst be¬ 
theiligte.) 


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Sexualpathologische Fälle. 


215 


Der von mir im Folgenden beschriebene Fall hat mit den obigen 
vielleicht eine scheinbare und äusserliche Aehnlichkeit, unterscheidet 
sich aber im Wesen ganz bedeutend von denselben, was bei psycho¬ 
logischer Analyse der Genese und der Motive sofort zu Tage tritt 

Dr. A. F. ist 1870 in einer Provinzhauptstadt geboren. Seine Mutter, 
derzeit 64 Jahre alt, eine gewesene Opernsängerin, ist angeblich seit dem 
Klimax hysterisch (Stigmen, Anästhesien, Lähmungen, Einschränkungen des 
Gesichtsfeldes). Der Vater, ein höherer Staatsbeamter, sei angeblich höchst 
nervös und reizbar gewesen, habe in den letzten Jahren auffallende Ge¬ 
dächtnisschwäche gezeigt, litt in diesen Jahren auch an heftigen Neuralgien, 
wurde Morphinist und starb angeblich in einem apoplektischen Anfalle (1899). 

Dr. A. F. wurde im ersten Jahre der Ehe geboren. Drei weitere Kinder 
wurden todt zur Welt gebracht (Lues?). 

A. F. wurde als Kind von der Amme fallen gelassen, hatte angeblich 
Zahnkrämpfe, litt später an Bettnässen, unruhigem Schlafe (Epil. noct.?). 
Er besuchte die unteren Schulen mit gutem Erfolge und gelangte sohin in 
das Gymnasium. Im 13. Lebensjahre lernte er von einem Schulcollegen 
„masturbieren“, welchem Treiben er sich seither excessiv ergab. Er litt 
auch an häufigen Pollutionen. 

Seine Collegen aus jener Zeit schildern ihn als höchst reizbar, jäh¬ 
zornig und verschlossen. 

In Gesellschaft fiel er durch sein linkisches, schüchternes Benehmen 
und durch seinen lauernden Blick auf. 

Das Gymnasium absolvirte er mit Mühe und begann das Studium der 
Geschichte. 

Die Lectüre von populären Schriften über Nervenschwäche erweckte 
in ihm, der noch nie einen Coitus versucht hatte, die Angst vor der Impo- 
tentia coeundi. Dies suchte er auf folgende Art zu constatiren: 

Er beobachtete sich, ob er beim Anblicke schöner Frauen auf der Gasse 
erregt werde, und consultirte wegen des negativen Erfolges mehrere Aerzte, 
welche ihn angeblich zu einem „Versuche“ ermunterten. Der erste Versuch 
misslingt, wie er selbst sich ausdrückte, „da mich einige brutale Worte der 
Meretrix sofort ernüchterten. Möglich war auch eine Erregung überhaupt 
nicht vorhanden“. 

Auch in der folgenden Zeit sind einige Versuche, zu welchen er sich 
mit Mühe entschlossen hat, misslungen. 

Er consultirt brieflich einen „Nervenarzt“, welchem er in seinem auffallend 
schwülstigen Stile schreibt, dass „seine Ausschweifungen ihm das Kains¬ 
zeichen des Lasters auf sein Antlitz gedrückt“ hätten, „die blauen Ränder 
seiner Augen seien die sichtbaren Ringe jener höllischen Kette, die den 
Gefesselten auf ewig der Freiheit beraube“ u. s. w. 

Er fühlt sich von den Frauen so sonderbar beobachtet, provocirt ein¬ 
mal einen Excess in einem ihm bisher unbekannten Bordelle, indem er sich 
von der Inhaberin wegen seiner Impotenz, die man ihm ansehe, verlacht 
wähnt (Paronia masturbatoria? Paranoide Form der Neurasthenie?). 

Der Gedanke an seine Impotenz und die Furcht vor Verhöhnung lassen 
eine sexuelle Erregung praesente puella nie zu Stande kommen, während 
er absente puella an sexuellen Erregungszuständen leidet, die ihn oft zwingen, 
Archiv für Kriminalanthropologie. XI. 15 


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216 


XI. Türkei. 


über Hals und Kopf Arbeit und Studium im Stiche zu lassen und zur nächsten 
Meretrix zu eilen, jedesmal mit gleichem, negativen Erfolge. 

Ueber Consultation eines Nervenarztes in Prag, zu welchem Zwecke 
er von der Provinzhaupt- und Universitätsstadt unbegreiflicher Weise eigens 
nach Prag und nicht in das nähere Wien fuhr (vielleicht auch ein paranoider 
Zug), machte er eine Kaltwassercur mit Nach zweimonatlichem Aufenthalte 
kehrte er zurück und nahm seine Universitätsstudien wieder auf. 

Vom Theater spät Nachts heimkehrend, blickte er durch ein Glasfenster 
im Vorübergehen in das erleuchtete Dienstbotenzimmer im elterlichen Hause. 

Da wurde ihm nach seiner Angabe folgender Anblick: Das eine von 
den Mädchen hatte sich bereits zur Ruhe begeben, während die Andere, am 
Bettrande sitzend, mit ihr „hetzte, sie zwickte und unter den Armen kitzelte“, 
während sie sie mit der freien Hand festhielt. 

Der Anblick dieses „festgehaltenen, gekitzelten und sich unter krampf¬ 
haftem Lachen sich windenden Mädchens“ u. s. w. verursachte ihm eine Eja- 
culation mit „unsagbarem Orgasmus“. 

Eine erfahrene Prostituirte, welche er nach diesem Vorfälle und in 
Folge desselben provocandi causa fragt, „ob alte Greise sich nie tribadisdie 
Komödie aufführen lassen“, erbietet sich hierzu. Hierbei Erectio und Eja- 
culatio unter heftigem Orgasmus. Oeftere Wiederholung. 

Im 25. Jahre Rigorosen und Doctorat. Nach Alkoholgenuss (acute 
Intoxication) Krampfanfall mit Bewusstlosigkeit, Zungenbiss und Amnesie. 

Reise nach Paris. Anblick eines wirklichen Coitus inter virum et 
mulierem, den er, von Freunden verführt, in Paris zu sehen bekommt, er¬ 
regt Ekel und Uebelkeiten. 

Eine Stelle seines Pariser Tagebuches, an welcher er über sich als 
sexuelle Persönlichkeit meditirt, lautete: „Männer sind mir ein Greuel!“ 
ferner „Ich, der ich nie im Stande wäre, einem Lebewesen etwas zu 
Leide zu thun, werde aber durch den Anblick eines sexuell entbehrenden 
Weibes und ihres psychischen Leidens halb wahnsinnig vor Freude. Mein 
Wunsch wäre, einmal eine Nymphomanin durch Abstinenz zum Tode zu 
bringen.“ 

Er kauft sich in Paris sohin eine ganze Collection obseöner Bilder und 
Films von Kinematographen, welche später bei ihm gefunden werden und 
welche alle Tribaden darstellen. 

In seine heimathliche Provinzhauptstadt zurückgekehrt, lernt er in einem 
Vergnügungs-Etablissement zwei französische Chansonetten kennen, welche 
er für seine Zwecke gewann. Insbesondere legt er Gewicht darauf, dass 
„die Qual der Liebe“ hierbei deutlich zu Tage trete. Von einer Collegin 
der Variötdbflhne, w r elche hiervon Kenntniss erlangte und „solche französische 
Ausartungen“ brandmarken wollte, wurde die Anzeige erstattet und die Ge¬ 
sellschaft in flagranti ertappt, und zwar Dr. A. F. in einem Fauteuil sitzend, 
die zwei puellae nudae in cubiculo coitum inter virum et mulierem sed sine 
priapo non nisi symbolice id est motu et gemitu imitantes. 

Dr. A. F. wurde mit den zwei Mädchen verhaftet. Er wurde sohin 
auf freien Fuss gesetzt, soll sich jedoch einige Tage nachher erhängt haben. 
Gegen die zwei Mädchen soll die Anklage wegen Unzucht wider die Natur 
mit Personen desselben Geschlechtes erhoben w r orden sein. Es ist mir nicht 
gelungen, authentische Nachrichten über letztere Momente zu erhalten. 


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Sexualpathologische Fälle. 


217 


Ueber die Frage der geistigen Gesundheit des Dr. A. F. und 
über die Diagnose seiner möglichen Erkrankung (Epilepsie — Neu¬ 
rasthenie?) will ich als für den vorliegenden Fall nicht ausschliess¬ 
lich entscheidend nicht sprechen. Ueber das sexuelle Moment dieses 
von mir redigirten Falles sei es mir gestattet, nachstehende psycho¬ 
logische Bemerkungen anzuschliessen. 

Es ist eine bekannte, bereits von K rafft -Ebing und Anderen 
ausführlich besprochene Thatsache, dass das Erectionscentrum, jene 
Zwischenstation im Rückenmarke, auch hemmenden Einflüssen von 
Seiten des Gehirns unterworfen ist Insbesondere bei Neurasthenikern, 
Hypochondern u. A. wirkt oft die Angst vor Impotenz schon als hem¬ 
mende Vorstellung und macht den Act unmöglich, so auch bei Dr. A. F. 

Durch Zufall wurde Dr. A. F. sich nun beim Anblicke eines unter 
den in gewissem Sinne stimulirenden Reizungen des anderen Mädchens 
„sich windenden Weibes“ inne, dass dieser Anblick für ihn höchst 
positiv sexuell betont sei! Und mit einem bei Neuropathen 
so häufigen Trugschlüsse führt die zufällige Coexistenz 
der Thatsache, dass die stimulirende Person damals ge¬ 
rade ein Weib war, in seinem minderwerthigen Gehirne 
zu einer causalen Association, und seine Sexualität wird 
auf Bahnen gelenkt, welche dem Falle ein so eigenartig 
perverses und täuschendes Colorit verleihen. 

Ob es sich im vorliegenden Falle psychogenetisch um einen 
„psychischen Sadismus“ handelt, ist fraglich. Eine gewisse Analogie 
mit sadistischen Ideen lässt sich, bei Berücksichtigung der obcitirten 
Stellen aus dem Tagebuche, nicht leugnen. 

Der Leiter der psychiatrischen Klinik an der Wiener Landes¬ 
irrenanstalt, Docent Dr. Pilcz, der so freundlich war, den obigen 
Fall gesprächsweise zu begutachten, will für denselben die Bezeich¬ 
nung „Sadismus“ nicht gelten lassen, da das Moment eines physischen 
oder psychischen Leidens nicht klar genug zu Tage liege. 

Schliesslich ist dies jedoch kaum mehr als ein Streit um Namen 
und Worte. 

Sieht man selbst ganz von der Eventualität eines sadistischen 
Colorits des Falles ab, die Associations-, respective Irradiationsanomalien 
treten in dem besprochenen Falle sexueller Perversität mit einer sel¬ 
tenen, geradezu paradigmatischen Klarheit zu Tage und heischen 
nach einigen erläuternden Worten. 

Wie Friedmann 1 ) bereits gezeigt hat, sind eindrucksvolle sinn- 

1) Weiteres zur Entstehung der Wahnideen und über die Grundlage des 
Urtheils. Monatsschr. f. Psychologie u. Neurasthenie. 1897. 

15* 


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218 


XI. Türkel 


liehe Wahrnehmungen oder Körperempfindungen häufig bei wilden 
Völkern die Ursache falsch gebildeter Urtheile, abergläubischer Denk¬ 
gewohnheiten, ja ganzer Wahnsysteme, indem solche Eindrücke, 
unbekümmert um die Gesetze der Causalität, lediglich 
mit Rücksicht auf die Gleichzeitigkeit mit einer zweiten 
Vorstellung zu einem Urtheile verknüpft werden (nach 
Friedmann: Primärurtheile). 

Es ist diese associative Verknüpfung unbekümmert um die Ge¬ 
setze der Causalität ganz besonders charakteristisch für das kindliche 
Geistesleben zur Zeit des Gehirnwachsthums, sowie für die minder¬ 
entwickelte Denkkraft der Naturvölker. 

„Affecte, gesteigerte Vorstellungsfähigkeit, lebhafte Organempfin¬ 
dungen, minderwerthige Denkkraft begünstigen die Tendenz zu solchen 
Ideenverknüpfungen tt , durch welche ein causales Band zwischen 
zufällig coexistenten Vorstellungen, oder zwischen einer 
Vorstellung und einer coexistenten Lust- oder Unlust¬ 
empfindung geknüpft wird. 

Die Irradiation von Reizen bei psychischen Geschehnissen ist nun 
bei Degenerirten eine viel ausgiebigere, oft uncorrigirbare (Binet, 
Zingerle 1 ) und auf diese pathologische Association und Irradiation 
lässt sich eine grosse Zahl der Anomalien des geschlechtlichen Fühlens 
zurückführen, wobei ich die streitige Frage einer latenten Disposition 
unerörtert lassen will. 

Mit grosser Klarheit hat Schrenck-Notzing 2 ) diesen psychi¬ 
schen Process beschrieben. 

Die Erinnerung an die erste sexuelle Erregung und an alle äusseren 
begleitenden Umstände ist in der Regel begreiflicher Weise sehr leb¬ 
haft. Wenn nun ein zufälliger äusserer Reiz — also ein rein acci- 
dentielles Moment — zur Auslösung der natürlichen Reaction wirklich 
oder vermeintlich beiträgt, so erfolgt oft impulsiv und ganz kritiklos die 
associative Verknüpfung der Objectsvorstellung mit dem sexuellen Be¬ 
wusstseinsinhalte, die nun in der Regel auch nachträglich jahrelang 
keine Correctur erfährt. Die beiden associirten psychischen Elemente 
reproduciren sich gegenseitig und schliessen sich dadurch immer enger 
aneinander. * 

„Der durch festgewordene, pathologische Association mit den sexu¬ 
ellen Sphären verknüpfte Vorstellungscomplex ruft sexuelles Drängen 
hervor“, andererseits begleitet „der durch beinahe automatische Repro- 

1) Zur Psychogenese sexueller Perversitäten. Jahrb. f. Psychologie. 

2) Beiträge zur forensen Beurthcilung von Sittliehkeitsvergehen u. s. w. 
Archiv f. Kriminalanthropologie. I. 


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Sexualpathologische Fälle. 


219 


duction jeweilig über die Bewusstseinsschwelle gehobene Vorstellungs- 
complex alle sexuellen Körpervorgänge (Traumpollutionen).“ 

Es ist also die Möglichkeit gegeben, dass schon in den frühesten 
Jahren eine solche pathologische Association oder Irradiation sich 
bildet, und mit Rücksicht auf die hohe Werthigkeit sexueller Sensa¬ 
tionen einerseits, die psychische Defectuosität neuropathischer Indivi¬ 
duen andererseits, ist sie eine besonders feste (Zwangsdenken, vide 
Schrenck-Notzing 1. c.). 

Auf diese Weise erhalten oft ganz disparate Vorstellungen mit¬ 
unter sexuelle Betonung, und es knüpft das Individuum seine 
Sexualität an eine mit dem Geschlechtsleben in gar keinem 
Zusammenhänge stehendeVorstellung oder Handlung als 
causale conditio sine qua non. 

So hatte ein Patient Schrenck-Notzing’s regelmässig Erec- 
tionen beim Antritt eines Spazierganges, ein Patient Zingerle’s 1 ) bei 
Schularbeiten und Prüfungen, eine weitere Patientin desselben beim 
Ausführen von Diebstählen (ohne Rücksicht auf die Art des gestohlenen 
Gegenstandes — also kein Fetischismus). 

Die Vergangenheit hilft uns hier oft einzig und allein zum Ver¬ 
ständnisse der Gegenwart und so muss man zur Zusammenstellung einer 
brauchbaren Anamnese stets womöglich bis auf die Zeit der ersten 
bewussten sexuellen Regungen zurückgehen, um die Psychogenese des 
Falles zu erforschen oder um zu studiren, wann „eventuell latente 
psychopathische Momente“ zum ersten Male zur Geltung kamen. 

Im Straf-, respective Untersuchungsverfahren, dürfte jedenfalls 
nicht versäumt werden, nach der bezeichneten Richtung zu forschen, 
denn sie ist diejenige, die oft einzig zur psychologischen Lösung des 
jeweiligen Falles und sohin zur richtigen Beurtheilung in foro führt. 

II. 

M. S. Hereditäre Belastung nicht nachweisbar, 1868 in Ostprenssen ge¬ 
boren, übersiedelte in jugendlichem Alter mit seiner Famüie nach P. Besuchte 
mit zehn Jahren das österreichische Gymnasium, war in der I. und II. Classe 
Vorzugsschüler, fiel in der III. Gasse durch, wurde im Wiederholungsjahre 
von seinem Vater aus dem Gymnasium herausgenommen (wegen Schulschwän- 
zens während eines ganzen Monates), besuchte hierauf zwei Jahre eine Han¬ 
delsschule mit fraglichem Erfolge, wird wegen kleinerer Diebstähle im dritten 
Jahre ausgeschlossen. Wird sohin zu einem mit dem Vater befreundeten 
Theater- und Decorationsmaler in die Lehre gegeben, brennt durch; bleibt 
ein Jahr lang unbekannten Aufenthaltes, taucht sodann als Mitgüed einer 
„fahrenden Schmiere“ in Nordböhmen auf, gelangt als Chorist in ein Pro- 

1 ) Zingerle 1 . c. 


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220 


XI. Tübkel 


vinztheater, wo er wegen seiner besonderen musikalischen Begabung ge¬ 
schätzt wird. Er verlässt dieses Engagement und findet als Localkomiker 
in einem Vergnügungsetablissement der Hauptstadt Anstellung. Ist straf¬ 
rechtlich nicht unbescholten: „vier Mal wegen Raufexcesses, zwei Mal wegen 
Wachebeleidigung vorbestraft.“ 

In sexueller Hinsicht wäre zu bemerken: Wurde von der Naiven der 
fahrenden Bühne verführt, übte aber geschlechtliche Acte, wie er sich äusserte, 
nur „als körperliche Nothwendigkeit ohne Vergnügen“ aus. Vergewaltigt 
während sein es Aufenthaltes in der Hauptstadt ein 1 öjähriges 
Mädchen, das sich herbeigelassen hat, ihn zu besuchen (Anzeige 
wurde gegen ihn keine erstattet). Hierbei mächtiges Wollustgefühl. 
Hierauf etliche Nothzuchtsversuche an anderen Frauenspersonen, 
welche er jedoch jedes Mal in Folge Schreiens der Frauenspersonen aus 
Angst aufgiebt (keine Strafanzeigen). 

Er veranlasst nun Prostituirte, sich gegen gute Honorirung oft stunden¬ 
lang zu wehren und erst dann scheinbar seiner Gewaltanwendung weichen 
zu müssen. Ist in den Kreisen der Prosdtuirten unter dem Spitznamen 
„der Nothzüchter“ bekannt. 

Im Sommer 1899 trifft er im Garten eines Vergnügungsetablissements 
der Stadt V. ein junges Mädchen, welches er durch Geldversprechungen da¬ 
hin bringt, die Nacht bei ihm zuzubringen. Er macht sie jedoch mit den 
folgenden oder ähnlichen Worten aufmerksam, „sie möge an seinen Eigen- 
thümlichkeiten nicht Anstoss nehmen, er sei ein Sonderling“. 

In seiner Wohnung fesselt er plötzlich das im Bette liegeüde Mädchen 
und vergewaltigt es in diesem Zustande. Anzeige. Voruntersuchung wegen 
Nothzucht, Anklage und Verurtheilung wegen Beschränkung der persönlichen 
Freiheit 

Die obigen Daten ex vita stammen aus der Krankheitsgeschichte des 
seither wegen Cocainismus in einer Anstalt intemirten Patienten. 

Dieser Fall symbolischen Sadismus zeigt wiederum, dass Noth- 
zuchtsacte nicht selten auf sadistischer Basis beruhen')• 

Bereits veröffentlicht ist ein ganz analoger Fall von Kraf f t-Ebing, 
in welchem ein Mann nur ein einziges Mal beim Coitus ein Wollust¬ 
gefühl hatte, und zwar als er sich ein Stuprum gegen ein Mädchen 
zukommen liess. Kurze Zeit darauf übte er mit derselben Person 
nach deren Einwilligung den Beischlaf aus, ohne dabei ein Wollust¬ 
gefühl zu haben. 

(In einem Ehescheidungsprocesse der Gräfin K. kam ein ähnliches, 
noch nicht veröffentlichtes Moment zur Sprache. Ihr Gatte verlangte 
von ihr, dass sie sich an ein eigens zu diesem Zwecke angefertigtes 
Kreuz binden lasse, in welchem Zustande er sie gebrauchen wollte, 
da er nur bei Ausübung des Coitus an „willenlos gemachten Personen“ 
ein Vergnügen habe.) 


1) Moll, Die conträre Sexualempfhulung. 1891. 


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Sexualpathologische Fälle. 


221 


Die deutsche Literatur zählt solche Falle meistens zum Sadismus. 
Anders der Franzose Raffalovich *): 

„On a beaucoup abus£ en psychopathologie du sadisme et du 
masochisme. D6s qu’on döcouvrit Strange familiarite entre la volupte 
sexuelle assouvie ou inassouvie et la cruautg, la rage destructrice qui 
s’empare de certains etres humains aprßs le plaisir sexuel ou qui le 
remplace mCme, on crut avoir une des clefs du prob lerne de la sexu- 
alitA Le vrai sadisme cependant est une folie criminelle qui selon 
moi n’est qu’illusoirement liee au faux sadisme litteraire ou psycho- 
logique“. 

„L’homme qui enfonce des aiguilles ou des öpingles dans le corps 
de ses maitresses n’est pas du tout explicable de la möme mantere 
que l’homme ironique ou irritable qui donne des piqüres d’amour- 
propre aux femmes qui l’aiment“. 

Entre la cruautö que l’on ahne exercer et l’amour d’exöcuter un 
semblant de cruaute, il y a une diff6rence fondamentale que les ob- 
servations cliniques tendent ä obscurcir“. 

„L’homme qui r6clame de ses maitresses de ne pas se 
donner mais de se laisser prendre nesaurait 6treconfondu 
avec le d6trousseur de filles campagnardes, de fillettes, pari- 
siennes ou autres. L’homme qui recherche une factice con- 
qußte qui’l sait qu’ilaura, ou qui s’amuseädes symboles 
de victoire, est unfaux sadique, un fatigul, un ennuyö qui 
demande aux rapports sexuelles un intgrtt autre que le physique; le 
dätrousseur de Campagne ou de fortification est un brutal ;lle minotaure, 
le monstre qui dövore les enfants, qui ne peut avoir de volupte sexu¬ 
elle sans la souffrance reelle et non symbolique de sa victime, est 
le vrai sadique“. 

„Dans ce culte infernal, celui qua cherche la souffrance morale 
ou son Symbole n’est qu’un idolätre, en dehors des vrais croyants; 
les vrais croyants ne peuvent se passer de la souffrance corporelle 
reelle“. 

„II ne faut pas se tromper et prendre l’idolätre pour le croyant“ 

„L’un est taquin, vilain, ßgoiste, sans coeur, sans l'imagination 
de la Sympathie; l’autre est cruel, mächant, mauvais, avec une vio¬ 
lente force d’imagination destructrice. Entre le couard, le läche des 
lftches, et le nerveux, le timide capable de tonte« les belles actions, il 
y a moins de distance qu’entre le vrai et le faux sadique“. 

Eine Entscheidung, welche von diesen sich diametral gegenüber- 


1) Uranisme et Unieexualitä. 


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222 


XI. Tübxel 


stehenden Ansichten die richtige ist, lässt sich so allgemein nicht fällen, 
denn in der Praxis will und muss jeder Fall auf Grund der concreten 
Umstände und nach Erforschung der Psychogenese, nicht aber nach 
äusserlichen Merkmalen entschieden werden. 

Der Name ist ja, wie bereits erwähnt, schliesslich für die con- 
crete Beurtheilung ganz gleichgültig. 

III 1 ) 

Louis N., 38 Jahre alt, Sohn von Bauersleuten aus dem S&den Frank¬ 
reichs. Seine Mutter war sehr bigott und litt seit ihrem 45. Jahre an ex¬ 
statischen und visionären Krampfanfällen (la grande neurose?). 

Der Vater soll ein nur massiger (?) Alkoholiker gewesen und im Alter 
von 58 Jahren an Pneumonie gestorben sein. Dieser Ehe entstammte 
Louis N., welchem noch drei Geschwister folgten. Von diesen sollen noch 
2 Schwestern am Leben sein, die dritte Schwester, Marie N., durch Suicid 
im 14. Lebensjahre aus Furcht vor Strafe ihrem Leben ein Ende gemacht 
haben. Ueber die Kindheit und den Schulgang des Louis N. ist mir nichts 
Näheres bekannt. 2 ) 

Mit 17 Jahren übersiedelte er in die grössere Industriestadt M., wo er 
sich als Commis, dann als Copist und Schreiber bei einem Rechtsanwälte 
seinen Lebensunterhalt erwarb. 

Ungefähr in seinem 20. Lebensjahre machten sich neurasthenische Be¬ 
schwerden stärker fühlbar (Zwangsvorstellungen, z. B. Buchstabenkrankheit 
und Zwangshandeln); er wendet sich an einen Arzt, welchem er mittheilt, 
dass schon vor oder kurz vor der Pubertät der Anblick be¬ 
trübter oder erschreckter Gesichter für ihn mit dem Impulse 
zu lachen verbunden war, dass aber dieses Lachen mit seiner jewei¬ 
ligen, psychischen Stimmung keineswegs contrastirte, wie dies meist bei 
„Zwangshandeln“ vorzukommen pflegt, sondern, dass er dergleichen An¬ 
blicke psychisch stets als belustigend empfunden habe. 

An den ersten Fall dieses positiv mit Lustgefühlen betonten Anblickes 
könne er sich nicht erinnern, er falle aber lange vor seine Uebersiedlung 
nach M. 

Ueber Befragen giebt er an, dass zur Zeit der Pubertät sich 
zu dem bisherigen Lustgefühle, welches sich in „Lachen Luft 
machte“, auch sexuelle, ihm bewusst werdende Lustgefühle 
gesellten. Er hatte jedoch auch ohne Anblick von depressiven Affecten 
sexuelle Libido beim Anblick üppiger Frauengestalten gehabt, nur sei die¬ 
selbe mächtiger in der erwähnten Combination aufgetreten und sei er ,feinem 
Begehren dadurch entgegengekommen“, dass er sich derartige Vorstellungen 
psychisch reproducirte. 


1) Ich verdanke diesen noch nicht veröffentlichten interessanten Fall der 
Liebenswürdigkeit des in der Krankengeschichte erwähnten seither verstorbenen 
französischen Arztes, den ich w r ährcnd einer Ferienreise in München zufällig 
kennen lernte. 

2) Da der erwähnte Arzt verstorben, konnte ich hierüber keine Nachrichten 
erhalten. 


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Sexualpathologische Fälle. 


223 


Er nennt seine Empfindung hierbei: „un doux et merveilleux sentiment“. 

Er habe deshalb ungefähr in seinem 15. oder 16. Jahre seine zwei 
Schwestern beim Ankleiden oder schlafend gerne überrascht, nicht um Nudi- 
täten zu sehen, sondern nur, weil er bei deren erschrecktem Aufschrei leb¬ 
haftes Wollustgefühl, einige Male verbunden mit Ejaculation, gehabt habe. 
Bis zu seinem 19. Jahre habe er wohl onanift, aber keinen normalen Co¬ 
itus gepflogen. 

Louis N., dessen geistige Fähigkeiten in inteUectueller Hinsicht keine 
wesentlichen Defecte aufweisen sollen, findet später als Detectiv, ob im 
öffentlichen oder privaten Dienste, konnte ich nicht erfahren, Anstellung und 
wird zur Ueberwachung von Ladendiebstählen verwendet Mit 30 Jahren 
lässt sich Louis N. ärztlich untersuchen, wobei die erwähnten Einzelheiten 
durch Befragen in Erfahrung gebracht wurden. 

Ueber sein derzeitiges sexuelles Leben antwortet er ausweichend und 
wird misstrauisch, erklärt, er sei lediglich gekommen, um sich untersuchen 
zu lassen, ob er nicht an Tabes leide. 

Acht Jahre nachher wird er wegen eines peinlichen Missgriffes, be¬ 
gangen durch Beschuldigung der Gattin eines hohen Beamten, einen Dieb¬ 
stahl versucht zu haben, aus seiner Stellung entlassen. Er wendet sich nun 
neuerlich an den Arzt mit der Bitte, ihn zu hypnotisiren oder zu diesem 
Behufe nach Paris zu Charcot zu begleiten. Er eröffnet über Befragen, 
dass sich sein Zustand verschlimmert habe, dass er nur mehr 
beim Anblicke grosser psychischer Angstzustände sexuelle 
Erregung verspüre, dass er daher, wenn er nicht genügend 
wirkliche Diebe ertappte, ganz unschuldige Personen wreib- 
lichen Geschlechts wegen angeblich versuchten Diebstahles 
anhalten und verhaften liess, um sich an ihren vor Schreck und Auf¬ 
regung verzerrten Gesichtern zu weiden, wobei Ejaculation eintrete. Auch 
Hinrichtungen weiblicher Personen mitanzusehen, verursache ihm die 
gleiche Wollust, aber auch hier sei es nur die Todesangst der Delinquentin, 
die ihn errege, während er zu sensibel sei, um dem eigentlichen Hinrichtungs¬ 
acte Zusehen zu können. Auch seine Zwangsvorstellungen (Tiefenschwindel, 
Suicidimpnlse) quälen ihn bei Tag und in den schlaflosen Nächten. Er 
erhielt eine Empfehlung an Charcot, erhängte sich jedoch vor Antritt der 
Reise nach Paris. 

Dieser letzte Fall verdient besonders die Aufmerksamkeit des 
Kriminalisten, denn er ist ein werthvoller casnistischer Beitrag zur 
Psychopathologie der Anzeige, einem Capitel der Kriminalpsychologie, 
welchem bisher entschieden zu wenig (Beachtung geschenkt wurde. 


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XII. 

Statistisches über das Lynchen in Nordamerika. 

Von 

Dr. E. A. Spitzka in New-York. 

(Mit 1 Curve.) 

Die interessante Notiz Dr. Näcke ? s (dieses Archiv, S. 171—173) 
bedarf einer vielleicht unwesentlichen Berichtigung. Die Behauptung; 
dass das Lynchen in neuerer Zeit zu- statt abnimmt, entspricht näm¬ 
lich den Thatsachen nur ungenau. So z. B. hat in dem letzten Jahr¬ 
zehnt das Lynchen bedeutend abgenommen, was allerdings blos epi¬ 
sodisch aufgefasst werden könnte, da die Statistik eine Art periodische 
Schwankung, wie man es ja oft im Kriminal- und Irrsinnswesen findet, 
zeigt Unmittelbar nach dem Bürgerkrieg (1860—65) wurden auf¬ 
fallend viele Menschen gelyncht, und zwar beinahe ausschliesslich 
Neger. Dann aber nahm das gesetzlose Wesen beträchtlich ab, um 
wieder im Anfang der 90 er Jahre zeitweilig zu steigen. Die nach¬ 
stehende Tabelle (I) enthält sämmtliche bekannt gewordenen Lynch¬ 
fälle, sowie die Mordthaten und die Anzahl der gesetzlich zum Tode 
Verurtheilten in den Jahren 1886—1901. 

Tabelle I. 


Jahr. 

Lynchin gs. 

Gesetzlich 

verurtbeilt. 

Mordthaten. 

1886 

133 

83 

1,449 

1887 

123 

79 

2,335 

1888 

144 

87 

2,184 

1889 

175 

98 

3,567 

1890 

127 

102 

4,290 

1891 

192 

123 

5,906 

1892 

236 

107 

6,791 

1893 

200 

126 

6,615 

1894 

190 

132 

7,747 

1895 

171 

132 

7,900 

1896 

131 

122 

10,652 

1897 

166 

128 

9,520 

1898 

127 

109 

7,840 


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Statistisches über das Lynchen in Nordamerika. 


225 


Jahr. 

Lynchings. 

Gesetzlich 

verurtheilt. 

Mordthaten. 

1899 

107 

131 

6,225 

1900 

115 

—? 

5,637 

1901 

135 

_-p 

_,‘j> 


18SG 1887 1888 1889 l8«X» 1891 189ä 1893 1894 1895 189(51997 1898 1899 1900 1901 



„Lynchings“ in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, 1886—1901. 

Die Curve (Fig. 1) zeigt, dass (trotz der beträchtlichen Zunahme 
der gesammten Einwohnerzahl — 21 Proc. in dem Jahrzehnt 1890 
bis 1900 — die hier nicht mit in Anbetracht genommen worden) eine 
bedeutende Verminderung der „Lynchings“ seit 1892 stattgefunden hat. 
Das Minimum wurde im Jahre 1899 erreicht, und steigt seitdem all¬ 
mählich wieder. Es wird nach Jahren interessant sein, nachzuforschen, 
ob diese Steigerung fortläuft, um wieder zum gewöhnlichen Procent¬ 
satz zurückzufallen. Die hohe Zahl der Lynchings in den Jahren 
1891—1893 ist sehr auffallend und erinnert an eine Art Periodicität 
nach Art gewisser endemischer Erscheinungen. Auch ist die relativ 
grosse Anzahl der gelynchten Weissen in dieser Periode bemerkens- 
werth, nämlich 69 von 195 im Jahre 1891 oder 35,4 Proc. In den 
Jahren 1898 und 1901 waren blos 18,1 und 19 Proc. Weisse. Auch 
wurden in dem bewussten Jahr (1891) 6 Frauen gelyncht! Im Jahre 
1890 auch 1 Frau. (S. Tabelle II.) 

Tabelle II. 

(Gelynchte nach Rasse und Geschlecht.) 



Im Jahre: 1890 

1891 

1898 

1901 

Neger 

.90 

121 

102 

107 

Weisse 

.31 

69 

23 


Indianer . 

.4 

2 

2 

1 

Chinesen 

• • . • • 

2 

— 

1 

Mexikaner 

.1 

1 

— 

— 


126 

195 

127 

135 


(Darunter waren weiblich:) 

1 6 


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226 


XII. Spitzka 


Wie Dr. Näcke bemerkt, finden die meisten Lynchings in den 
Südstaaten statt; so waren es 1898, 118 solche von 127; in 1901, 
121 von 135. In dem letztgenannten Jahre gab es 16 Fälle in 
Mississippi, 15 in Alabama, 15 in Louisiana, 14 in Georgia, 12 in 
Tennessee und 11 in Texas; also 83 in nur 6 Staaten mit 12 Millionen 
Einwohnern. Die beste Erklärung hierfür liegt in der Thatsache, dass 
über 92,5 Proc. der Neger sich in den 16 Südstaaten, wo der Rassen¬ 
hass am stärksten ist, befinden. 

Die weitverbreitete Meinung, das die Neger meistens wegen un¬ 
sittlichen Angriffs auf Frauen gelyncht werden, ist irrthümlich. Die 
„Lynchers“ selbst verbreiten diese Ansicht zur Erklärung und Be¬ 
schönigung ihrer Handlungen. Unter den 127 Personen (darunter 
102 Neger), die in 1898 gelyncht wurden, gab es blos 16, welche 
solchen Angriffes beschuldigt waren, 7, einen solchen versucht zu 
haben und 1, welcher der Mitschuld verdächtig schien; also 24 im 
Ganzen = 18,9 Proc. Wegen Mordes wurden 61, des Mordes ver¬ 
dächtig 16 und wegen Diebstahls 6 weitere gelyncht 2 armselige 
Geschöpfe wurden „irrthümlicher Weise“ von dem rabiaten „Mob“ 
getödtet. Als weitere Gründe wurden angegeben: Schweinediebstahl, 
freches Benehmen gegen einen Weissen, Bestellung eines Glases Soda¬ 
wasser, Selbstverteidigung gegen den Angriff eines Weissen u. s. w. 
Brannte zum Beispiel eine Scheune nieder und vermutete man diesen 
oder jenen „Nigger“ als den Brandstifter, so knüpfte der „Mob“ ihn 
am ersten besten Baume auf und spickte den Körper voll Kugeln. 
Am Pfahle wurden wenigstens 14 Neger im Zeiträume 1893—1901 
verbrannt. Doch muss hier hervorgehoben werden, dass solche grau¬ 
same Misshandlungen und Torturen, wie sie in dem citirten Bericht 
der Dresdner Nachrichten (dieses Archiv, S. 171) erwähnt sind, wahr¬ 
haftig äusserst selten Vorkommen, und in diesem Falle nur in den 
schlimmsten und verwildertsten Gegenden. In dem „Mob“-wesen der 
Südstaaten kommt die böte humaine oft schnell zum Erwachen; 
die Weissen (besonders die niederträchtige Art, die man „White 
Trash“ 1 ) nennt) sind nur zu flinkfertig mit dem Schiesseisen und 
dem Galgenstrick. Dass die lose Gesetzesausführung in den Süd¬ 
staaten daran viel Schuld trägt, ist unzweifelhaft; doch wird auch 
oft eine „Lynchingbee“ durch das brutale Element zum Jux orga- 
nisirt und dann fällt oft ein ganz Unschuldiger in die Hände des 
aufgeregten Lynchmobs. Unter solchen Umständen hat natürlich 
ein wirklicher Verbrecher wenig Hoffnung, davon zu kommen, da- 


1) Weisser Abschaum, rcsp. Abfall; sogeu. „Grobzeug“. 


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Statistisches über das Lynchen in Nordamerika. 


227 


neben der Unschuldige seinem Schöpfer danken kann, falls ihm nichts 
„Lynchiges“ passirt 

Obgleich die Negerfamilien ziemlich kinderreich sind, vermehrt 
sich die Basse doch viel weniger als die weisse; ihre Anzahl ist des¬ 
halb — besonders seit dem Bürgerkrieg — relativ weniger und weniger 
geworden. Dies ersieht man aus der folgenden Tabelle III (nach 
„Statistics of the Negroes in the United States“, v. H. Gannett, Balti¬ 
more, 1894). Im Aussterben sind die Neger zwar nicht, doch ist die 
„Neger-Frage“ nicht das drohende Gespenst, als welches sie früher 
erschien. 

Tabelle III. 

Verhältnisse zwischen der weissen und schwarzen Bevölkerung, 
1790—1900. 


Jahr. 

Weisee. 

Neger. 

1790 

80,73 

19,27 

1800 

81,12 

18,88 

1810 

80,97 

19,03 

1820 

81,61 

18,39 

1830 

81,90 

18,10 

1840 

83,16 

16,84 

1850 

84,31 

15,69 

1860 

85,62 

14,13 

1870 

87,11 

12,66 

1880 

86,54 

13,12 

1890 

87,80 

11,93 

1900 

88,41 

11,59 


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XIII. 


Körperverletzung durch Röntgenstrahlen. 

Vom 

Ersten Staatsanwalt Nessel in Hannover. 

Ein juristisch wie medicinisch gleich interessanter Fall wurde 
von der Strafkammer des Landgerichts Hannover abgeurtheilt Er 
führte zur Bestrafung eines Arztes wegen fahrlässiger Körperverletzung 
begangen unter Verletzung seiner Berufspflicht (§ 230 Abs. 2 KStG. B.). 
Der Sachverhalt ist dieser: 

Eine 35 Jahre alte Dame war mit einem bartartigen Haarwuchs 
am Kinn behaftet Bereits 1896 wurde sie dieserhalb von dem Arzt 
N. N. behandelt, welcher mittelst Elektricität jeden Haarbalg einzeln 
ausbrannte und dadurch auch den Erfolg erzielte, dass die Haare 
schwanden und dauernd beseitigt schienen. Allein nach gewisser Zeit 
wuchsen die Haare vermehrt wieder. — Die Dame las in der Zeitung, 
dass es Aerzten gelungen sei, abnormen Haarwuchs durch Röntgen- 
strahlen zu beseitigen. Sie wandte sich daher aufs Neue an den 
schon erwähnten Arzt, der sich als Specialisten auf dem Gebifte der 
Röntgenstrahlen-Therapie bezeichnete. Dieser versicherte ihr, dass er 
schon in 12 bis 15 Fällen Patienten von gleichartigen Leiden durch 
Röntgenstrahlen befreit hätte. Nach sechs- bis achtmaliger Behandlung 
werde der Haarwuchs ohne sonstige nachtheilige Folgen beseitigt sein. 
Daraufhin willigte sie im Januar 1900 in die vorgeschlagene Kur, 
die in drei Perioden stattfand: 1) vom Januar an 7 Wochen lang, 
dann 4—6 Tage Unterbrechung, demnächst 2) 27 Sitzungen durch 
13 Wochen mit Unterbrechung von August bis October, 3) von Mitte 
October bis 3. November. — In dem ersten Kurabschnitt geschahen 
etwa 17 Bestrahlungen von 15—18 Minuten, zuerst 3 Mal, dann 2 Mal, 
zuletzt 1 Mal in der Woche. Mitte März stellten sich leichte Röthungen 
am Halse, im Gesicht und namentlich dem Kinn der Patientin ein. 
Deshalb die mehrtägige Unterbrechung. — Hierauf 27 Bestrahlungen, 
wie früher; nach einigen Sitzungen leichte, bald aber wieder ver- 


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Körperverletzung durch Röntgenstrahlen. 


229 


schwindende Verbrennungserscheinungen. Der Haarwuchs aber ver¬ 
schwand, sodass der Arzt im August die Kur für beendet erklärte. 
Nach wenig Wochen trat indessen Haarwuchs, wenngleich vermindert, 
wieder auf. Mitte October wurde die Kur deshalb fortgesetzt Der 
Arzt erklärte, er werde auf Grund von Mittheilungen, die ihm auf 
dem Pariser Aerztecongress geworden, nunmehr häufigere und längere 
Bestrahlungen vornehmen, womit die behandelte Dame einverstanden 
war. Dies geschah nun — 2 Tage ausgenommen — täglich. Es 
stellten sich schon am 27. October Hautverfärbungen ein. Trotzdem 
erfolgten weitere Bestrahlungen. Die Röthungen der Haut verstärkten 
sich und verbreiteten sich auf Hals und Brust; die Behandlung ging 
dennoch bis zum 3. November weiter, an welchem Tage das Kinn 
sich hochroth färbte, die Lippen schwollen und weiss wurden. Der 
Arzt sah dieses alles wohl, bestrahlte aber die Patientin nochmals, 
„weil der Erfolg so gut im Gange sei“, allerdings unter Verwendung 
einer Schutzvorrichtung für die Lippen. — Nach dieser letzten Sitzung 
verschlimmerte sich aber der Zustand des Fräuleins derartig, dass ihr 
Vater ihre weitere Behandlung untersagte. Die Schwellung der Lippen 
steigerte sich, andere Gesichtstheile schwollen auch an. Es traten 
heftige Gesichtsschmerzen ein, sodass am 8. November derselbe Arzt 
zu ihr gerufen wurde. Dieser constatirte erhebliche Schwellung des 
ganzen Gesichts vom Auge bis unter das Kinn, nannte dies eine leichte 
Verbrennung, die er in 4—6 Wochen zu heilen versprach. Er ver- 
ordnete mildernde Salben. Die Dame wandte sich wegen Unerträg¬ 
lichkeit der Schmerzen Mitte November an einen ihr verwandten 
Zahnarzt, der ihr einmal Carbolumschläge applicirte. Ende Januar 
gab der bisher genannte Arzt wegen unerfreulicher Auftritte mit dem 
Vater des Fräuleins deren Behandlung auf. Andere Aerzte traten ein, 
stellten eine schwere Verbrennung (dritten Grades) fest und vermochten 
erst nach Monaten die heftigen Schmerzen der Patientin zu beseitigen. 
Die Heilung ist bis heute aber keine vollständige, vielmehr sind an 
Kinn, Hals und Brust geröthete Wundflächen mit Narbenbildungen 
verblieben, die entstellend wirken. 

Auf Grund eines Gutachtens des Medicinalcollegiums der Provinz 
und eines solchen der Königlichen Wissenschaftlichen Deputation für 
das Medicinalwesen zu Berlin bat die Strafkammer zunächst objectiv 
festgestellt, dass die schweren Verbrennungen der Dame durch das von 
dem angeklagten Arzte angewendete Heilverfahren mittelst X-Strahlen 
verursacht seien. Die vom Angeklagten hiergegen gemachten Ein¬ 
wendungen, dass der Zustand seiner Patientin durch unzweckmässige 
Behandlung späterer Aerzte, namentlich auch durch die einmaligen 


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230 


XHI. Nessel 


Carboiumschläge erheblich verschlimmert sei, werden als rechtlich und 
thatsächlich belanglos erachtet; rechtlich, weil die etwaige concurrirende 
Fahrlässigkeit Dritter die Strafbarkeit dessen nicht beseitige, der durch 
sein eigenes fahrlässiges Handeln den Erfolg mit herbeigeführt habe, 
— thatsächlich, weil nach den medicinischen Gutachten keines der 
von anderer Seite angewendeten Mittel die bereits eingetretene Ver¬ 
brennung verschlimmert habe. Namentlich sei nach dem Obergutachten 
das Sichsteigem der Krankheitserscheinungen während der späteren 
sachgemässen Behandlung eine schon mehrfach bei Röntgenstrahlen- 
Verbrennungen gemachte Beobachtung. 

Anlangend die subjective Seite, so ist in der Behandlung mit 
X-Strahlen an und für sich, sowie in der Art ihrer Anwendung in 
der ersten und zweiten Kurperiode besonders eine Fahrlässigkeit nicht 
gefunden; auch ist die forcirte Benutzung derselben Mitte October 
nicht als Kunstfehler angesehen. Ferner ist der Annahme der Anklage 
dahin nicht beigetreten, dass der Angeklagte fahrlässig handelte, indem 
er es unterliess, seine Patientin auf die besondere Gefährlichkeit ver¬ 
stärkter Anwendung von X-Strahlen hinzuweisen. Dagegen folgt der 
Richter dem Gutachten der genannten Collegien dahin, dass der An¬ 
geklagte insofern fahrlässig handelte, als er Ende October trotz Auf¬ 
tretens von Verbrennungssymptomen erheblicher Art die Bestrahlungen 
fortsetzte. Ende October durch seine Patientin auf die Gesichts¬ 
verfärbung mehrfach aufmerksam gemacht, wäre es Pflicht des An¬ 
geklagten gewesen, die Dame einer eingehenden Untersuchung, nicht 
blos, wie geschehen, bei Auerlicht, sondern erneut auch bei Tageslicht 
zu unterziehen. Die Verbrennungserscheinungen hätten ihm bei An¬ 
wendung gehöriger Sorgfalt nicht entgehen können, er hätte dann die 
Bestrahlungen, wie in den ersten Abschnitten des Heilverfahrens, so 
lange aussetzen müssen, bis die Erscheinungen gänzlich geschwunden 
waren. That er das, wie festgestellt, nicht, setzte er vielmehr die 
„forcirte“ Behandlung ohne ausreichende Unterbrechung fort und hielt 
er selbst dann nicht inne, als er am 3. November die weisse Färbung 
und Schwellung der Lippen sah, so beging er, wie das Obergutachten 
der Wissenschaftlichen Deputation für das Medicinalwesen in Ueber- 
einstimmung mit dem gerichtsärztlichen Gutachten ausführt, einen den 
anerkannten Regeln der Wissenschaft zuwiderlaufenden Kunstfehler, 
durch den er die vorerwähnte, sich als Körperverletzung darstellende 
schwere Verbrennung verursachte. 

Bei der erforderlichen Sorgfalt habe er auch diesen Erfolg als 
mögliche Folge seines Thuns vorhersehen können. Denn wenn es 
ihm bei dem heutigen Stande der wissenschaftlichen Forschung über 


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Körperverletzung durch Röntgenstrablen. 


231 


Wesen und Wirkung von X-Strahlen auch nicht möglich gewesen sei, 
die eingetretene schwere Verbrennung in ihrer concreten Erscheinungs¬ 
form vor Augen zu haben, so hätte er doch sich sagen müssen, dass 
fortgesetzte Anwendung solcher Strahlen eine einmal bestehende Ver¬ 
brennung unter allen Umständen steigern und in höhere Verbrennungs¬ 
grade überführen werde. 

Die Behauptung, dass Specialisten in Fachzeitschriften Fortsetzung 
der Bestrahlung auch bei geringer Verbrennung der Haut anriethen, 
und dass dieses auch auf dem Pariser Aerztecongress empfohlen sei, 
könne den Angeklagten nicht schützen. Denn es sei in jedem Einzel¬ 
falle selbstständig die Anwendbarkeit solcher Methode zu prüfen und 
dann jedenfalls auszuschliessen, wenn die Empfindlichkeit der Haut 
des Patienten sie nicht vertrüge. Derartige besondere Empfindlichkeit 
sei dem Angeklagten vorliegenden Falls an seiner Patientin im Laufe 
der Cur immer wieder vor Augen getreten. 

Auch die Einwilligung der Dame in die fortgesetzte Bestrahlung 
schliesse die Strafbarkeit des Angeklagten nicht aus. Denn diese Ein¬ 
willigung sei nur unter der Voraussetzung sachgemässer Behandlung 
und des Nichteintritts des concreten rechtsverletzenden Erfolges ge¬ 
schehen. 

Das Reichsgericht bat am 4. December 1902 die Revision des 
Angeklagten gegen dieses Urtheil verworfen. Der Angriff namentlich, 
es sei widerspruchsvoll und unbegründet, das Verfahren forcirter Be¬ 
strahlung als einen Kunstfehler anzusehen, obzwar festgestellt werde, 
dass ärztliche Specialisten diese Therapie trotz Röthung und anderer 
Merkmale minderwerthiger Verbrennung empfehlen, ist mit der Be¬ 
gründung zurückgewiesen, diese Empfehlung habe schon wegen ihrer 
aus der Natur der Sache sich ergebenden Unbestimmtheit den An¬ 
geklagten der Verpflichtung nicht entheben können, die Besonderheit 
des einzelnen Falles, also bei der von ihm behandelten Dame deren 
Hautempfindlichkeit zu beachten. Dass dieses nicht geschehen sei, 
habe der erste Richter einwandsfrei für erwiesen erachtet 


Archiv für Kriminalanthropolo^ie. XI. 


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XIV. 


Vormundschaft Aber Verbrecher. 

Von 

Werner Bosenberg, 

Staatsanwalt in Str&ssbnrg i. E. 

Die Ehefrau Weibel, Besitzerin eines Bauernhofes in der elsässi- 
schen Landgemeinde Batzendorf, hat aus erster Ehe eine 33jährige 
Tochter Katharina, aus zweiter Ehe einen 18jährigen Sohn Joseph; 
beide Kinder leben zusammen im Hause ihrer Mutter. Am 21. August 
1902 gebar die Tochter Katharina ein uneheliches Kind. Als Erzeuger 
desselben bezeichnete sie ihren Stiefbruder Joseph, der sie angeblich 
verführt habe. Joseph Weibel gab zu, mit seiner Stiefschwester ge¬ 
schlechtlich verkehrt zu haben, behauptete jedoch, die Verführung sei 
von der Stiefschwester ausgegangen, welche 15 Jahr älter sei und 
schon vor 6 Jahren ein Mal unehelich geboren habe. Gegen beide 
Geschwister wurde Voruntersuchung wegen Blutschande eingeleitet. 
Im Laufe derselben entstanden Zweifel über die Zurechnungsfähigkeit 
der Angeschuldigten. 

Die Katharina Weibel kann 2 und 2 zusammenzählen, 4 und 4 
dagegen nicht Zehn Pfennige und fünf Pfennige vermag sie nicht 
zusammen zu rechnen; sie unterscheidet aber die verschiedenen Münz¬ 
sorten : Zehn- und Fünf-Pfennigstücke, auch Einmarkstücke. Sie weiss, 
dass wir „ditsch“ reden; von der Existenz einer französischen Sprache 
hat sie keine Vorstellung. Die Stadt Hagenau, welche in der Nähe 
ihres Heimatbdorfes liegt, ist ihr bekannt; dagegen sind Eisass- 
Lothringen, Deutschland, Frankreich und der Kaiser ihr unbekannte 
Begriffe. Sie kennt nur das ganz Naheliegende und Alltägliche; alle 
Dinge, zu deren Verständniss Ueberlegung und Combination gehören, 
sind ihr fremd. 

Der Bruder Joseph Weibel besitzt eine etwas höhere Intelligenz. 
Ein Einmarkstück kennt er allerdings nicht; so viel Geld hat er nach 
seiner Behauptung noch nie gehabt Er rechnet aber richtig 5 + 5 + 1 


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Vormundschaft über Verbrecher. 


233 


Pfennige = 11 Pfennige. Bei der Addition von 8+8 Pfennigen giebt 
er zuerst 18, später aber richtig 16 Pfennige als Resultat an. Der 
Kreis Hagenau, in welchem sein Heimathdorf liegt, ist ihm bekannt; 
für den Höchsten im Kreise hält er den Herrn Pfarrer. Was Elsass- 
Lothringen ist, kann er nicht näher beschreiben; dagegen weiss er, 
dass der Rhein ein Fluss mit vielem Wasser und mit einer Brücke 
ist, dass Strassburg eine Stadt ist und dass in Deutschland der Kaiser 
regiert 

Ueber den Geisteszustand der beiden Angeschuldigten wurde das 
Gutachten eines Sachverständigen erhoben. Letzterer erklärte, die 
Katharina Weibel sei ganz unzurechnungsfähig, die Zurechnungs¬ 
fähigkeit des Joseph Weibel sei zweifelhaft; jedenfalls müsse an¬ 
genommen werden, dass Joseph Weibel, der zur Zeit des geschlecht¬ 
lichen Verkehrs mit seiner Schwester erst 17 Jahr alt war, die zur 
Erkenntniss der Strafbarkeit erforderliche Einsicht nicht besessen habe. 
Auf Grund dieses Gutachtens wurde Joseph Weibel von der Straf¬ 
kammer freigesprochen und seine Unterbringung in einer Erziehungs¬ 
oder Besserungsanstalt angeordnet 

Dieser Fall giebt zu folgenden Betrachtungen Anlass: 

Joseph Weibel darf nur bis zur Vollendung des 20. Lebensjahres 
in der Erziehungs- oder Besserungsanstalt festgehalten werden (§ 56 
Absatz 2 St.G.B.). Nach seiner Entlassung, welche spätestens in 
5 /< Jahren erfolgen muss, kann er den geschlechtlichen Verkehr mit 
seiner Stiefschwester wieder aufnehmen und zahllose schwachsinnige 
Kinder erzeugen. Die Gerichts- und Polizeibehörden haben kein Mittel, 
um gegen die Geschwister Weibel wegen Blutschande einzuschreiten. 
Bestraft können die genannten Geschwister auch in Zukunft nicht 
werden. Die Katharina Weibel wird ihr ganzes Leben hindurch un¬ 
zurechnungsfähig bleiben und die Zweifel, welche an der Zurechnungs¬ 
fähigkeit des Joseph Weibel bestehen, genügen, um eine Verurtheilung 
desselben auszuscbliessen (Entscheidungen des Reichsgerichts in Straf¬ 
sachen Bd. 21 S. 131). In eine Irrenanstalt kann die Katharina Weibel 
gleichfalls nicht gesperrt werden. Die Familie Weibel wird die Unter¬ 
bringung niemals beantragen, weil sie die Arbeitskraft der Katharina 
Weibel nicht entbehren will; die Polizeibehörde darf die Unterbringung 
nicht anordnen, weil die Katharina Weibel nicht gemeingefährlich ist 
Dagegen ist es möglich, die Aufnahme der Katharina Weibel in eine 
Pflegeanstalt herbeizuführen. Die Staatsanwaltschaft kann die Ent¬ 
mündigung wegen Geistesschwäche beantragen. Das Gericht kann 
diesem Anträge stattgeben und der Katharina Weibel einen Vormund 
bestellen. Der Vormund hat für die Person des Mündels zu sorgen 

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234 


XIV. Kosenberg 


und den Aufenthaltsort desselben zu bestimmen. Der Vormund der 
Katharina Weibel ist also befugt, die Letztere in einer Pflegeanstalt 
unterzubringen. Will er von dieser Befugniss Gebrauch machen, so 
entsteht sofort die Frage: „Wer bezahlt die Kosten der Unterbringung?“ 
Die Entmündigte selbst besitzt kein Vermögen. Die Mutter Weibel ist 
nicht verpflichtet, die fraglichen Kosten zu tragen, weil ihre Tochter 
im Stande ist, sich selbst zu ernähren (§ 1602 B.G.B.). Die Gemeinde 
kann zur Erstattung der Pflegekosten gleichfalls nicht gezwungen 
werden; in Eisass-Lothringen gilt noch das alte französische Gesetz 
vom 24. Vendömiaire des Jahres II, welches lediglich eine moralische 
Verpflichtung der Gemeinden zur Unterstützung ihrer kranken und 
hülfsbedürftigen Angehörigen kennt 1 ). Der Bezirk hat allerdings 
Mittel, welche zur Unterhaltung der Pflegehäuser bestimmt sind; allein 
diese Mittel sind doch nur beschränkt Dieselben müssen in erster 
Linie zur Unterstützung von arbeitsunfähigen Personen verwendet 
werden; für die Unterstützung arbeitsfähiger Personen bleibt in der 
Kegel nichts übrig. Der Staat überlässt die Sorge für die Pflegehäuser 
den Bezirken; er selbst leistet keine Beiträge für den Unterhalt der 
genannten Anstalten. Es ist also möglich, aber zugleich sehr unwahr¬ 
scheinlich, dass die körperlich gesunde, arbeitsfähige und arbeitswillige 
Katharina Weibel, welche ein sicheres Unterkommen bei ihrer Mutter 
hat, überhaupt in einer Pflegeanstalt Aufnahme findet 

Nehmen wir nun an, die Katharina Weibel hätte denselben Grad 
von Intelligenz, wie ihr Bruder Joseph, so wäre sie im Stande, ihre 
Angelegenheiten als Dienstmagd oder Tagelöhnerin in den kleinen 
Verhältnissen ihres Heimathdorfes selbst zu besorgen. Ein genügender 
Grund zur Entmündigung läge nicht vor (§6 Ziff. 1 B. G. B.); ein 
Vormund könnte nicht bestellt werden; ein Zwang zur Unterbringung 
der Katharina Weibel in eine Pflegeanstalt dürfte nicht ausgeübt werden. 

Die Vorschriften des positiven Rechts reichen also nicht aus, um 
zwei Geschwister, deren Zurechnungsfähigkeit nicht festgestellt werden 
kann, an der fortgesetzten Verübung des Vergehens der Blutschande 
zu hindern! 

Es entsteht nunmehr die Frage: welche Reformen sind erforder¬ 
lich, um die geschilderten Mängel unserer Rechtsordnung zu beseitigen? 
Ein geeignetes Mittel, die Geschwister Weibel und andere, geistig 
minderwerthige Personen unschädlich zu machen, bietet die Einführung 
einer staatlichen Vormundschaft für alle diejenigen Verbrecher, bei 


1) Urtheil des Oberlandesgerichtes Colmar in der Juristischen Zeitschrift für 
Elsass-Lothringcn. 23. Bd. S. 139. 


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Vormundschaft über Verbrecher. 


235 


denen die Verhängung einer Freiheitsstrafe überhaupt keinen oder 
wenigstens keinen ausreichenden Schutz gegen den Rückfall gewährt. 

v. Massow hat vorgeschlagen, die Rechtsnormen des Privatrechts 
über die Bevormundung minderjähriger und geisteskranker Personen 
auch auf grossjährige und zurechnungsfähige Verbrecher auszudehnen. 
Bei Uebertretungen und kleinen Vergehen soll die Bevormundung einen 
Ersatz für die Freiheitsstrafe bilden; bei grösseren Delicten soll die 
Bevormundung eine Ergänzung der Freiheitsstrafe sein. Die Ent¬ 
mündigung grossjähriger Verbrecher soll keine obligatorische Maass¬ 
regel werden; vielmehr soll es ganz vom Ermessen des Gerichtes ab- 
hängen, dieselbe in geeigneten Fällen auszusprechen. Wenn der gross- 
jährige Verbrecher unter Vormundschaft gestellt wird, so erhält er 
einen Vormund, der einerseits für den Verbrecher sorgt, andererseits 
denselben beaufsichtigt. Der Vormund bestimmt die Wohnung und 
die Arbeitsstelle seines Mündels; er entscheidet, wieviel Geld das 
Mündel für sich und seine Familie verbrauchen darf; der Ueberschuss 
des Lohnes und der sonstigen Einnahmen wird vom Vormund auf der 
Sparkasse eingezahlt oder in anderer Weise zinsbar angelegt Der 
Vormund schreibt auch vor, ob das Mündel Abends ausgehen darf 
und wann es wieder heimkommen muss. Zuwiderhandlungen gegen 
die Gebote und Verbote des Vormunds werden vom Gericht mit der 
Disciplinarstrafe des Arrestes geahndet 1 ). 

Noch viel weiter gehen die Vorschläge, welche Professor Julius 
Vargha in seinem Werke „Die Abschaffung der Strafknechtschaft“ 
gemacht hat Vargha steht auf dem Standpunkt: alle menschlichen 
Thaten seien naturnothwendige Ereignisse; Jeder, der ein Ver¬ 
brechen begehe, sei ein „Unglücklicher, den der Zufall mit dem 
für seine momentane Widerstandskraft allzuheftigen Anreize zu einer 
strafgesetzwidrigen Handlung heimgesucht habe, welchem er unter 
den gegebenen Umständen unausweichlich unterliegen musste 2 ); der 
Verbrecher dürfe daher nicht als Bösewicht gemartert werden, 
sondern müsse als Unglücklicher gezähmt und erzogen werden 3 ); 
für den Unglücklichen solle die Strafe kein Uebel, sondern eine 


1) v. Massow, Reform oder Revolution. 2. Aufl. 1895. S. 125—126. 
Ferner: Die Stellung volljähriger Delinquenten unter Vormundschaft als selbst¬ 
ständige Strafart und als Zusatzstrafe, sowie die Ausdehnung und energische 
Handhabung der Vormundschaft über Minderjährige als Präventivmittel. Blätter 
für Gefängnisskunde. Redigirt von Wirth. 29. Bd. S. 3—18. 1895. 

2) Julius Vargha, Die Abschaffung der Strafknechtschaft. 1896,97. 2. Bd. 
S. 35, 718. 1. Bd. S. 235. 

3) Derselbe, 2.Bd. S.511. 


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236 


XIY. Rosenberg 


Wo hithat sein 1 ). Das gerichtliche Verfahren — der Strafbevor- 
mnndungs-Process — wird von Vargha in zwei verschiedene Ab¬ 
schnitte zerlegt: in das Straferkenntnissverfahren und in das Straf¬ 
vollstreckungsverfahren. Ersteres hat den Zweck, festzustellen a) ob 
der Angeklagte eine gesetzlich verpönte Handlung begangen hat, 
b) ob der Angeklagte einen abnormen, kriminell-gemeingefährlichen 
Charakter besitzt Wird festgestellt, dass eine gesetzlich verpönte That 
überhaupt nicht vorliegt, so spricht das Gericht den Angeklagten frei. 
Wird festgestellt, dass eine gesetzlich verpönte That vorliegt, aber der 
kriminell-gemeingefährliche Charakter des Thäters nicht für erwiesen 
erachtet, so ertheilt das Gericht dem Angeklagten einen Verweis. Wird 
zugleich die gesetzlich verpönte That und der kriminell-gemein¬ 
gefährliche Charakter des Thäters festgestellt, so verurtheilt das Gericht 
den Angeklagten zur Strafe der staatlichen Bevormundung 2 ). Das 
Strafvollstreckungsverfahren hat den Vollzug der Bevormundungsstrafe 
zum Gegenstand. Der als Vormund bestellte Strafvollzugsrichter 8 ) 
hat nach dem Grundsatz der Individualisirung gegen jeden Ver¬ 
urteilten diejenigen Beschränkungen der persönlichen Freiheit zu 
verhängen, welche im speciellen Falle am wirksamsten sind*). Die 
Einsperrung des Bevormundeten wird in der Regel überflüssig oder 
sogar schädlich sein, da die meisten Sträflinge auch ausserhalb eines 
Gefängnisses überwacht, gezähmt und erzogen werden können 5 ). Ueber 
den Zeitpunkt, in welchem die Bevormundung aufhören soll, hat nicht 
der Erkenntnissrichter, sondern der Strafvollzugsrichter zu entscheiden. 
Letzterer wird den Sträfling nur dann aus der Vormundschaft entlassen, 
wenn zuverlässige Gründe dafür vorliegen, dass der Sträfling nicht 
mehr gemeingefährlich ist 6 ). 

Vargha macht also keinen Unterschied zwischen zurechnungs¬ 
fähigen und unzurechnungsfähigen Thätern. Jeder, der den objectiven 
Thatbestand einer strafbaren Handlung verwirklicht, wird unter Vor¬ 
mundschaft gestellt, wenn er einen gemeingefährlichen Charakter hat. 
Die Jugend-, Irren- und Sträflingsbevormundung sind lediglich Unter¬ 
abtheilungen eines und desselben Rechtsinstituts, der staatlichen Vor¬ 
mundschaft über gemeingefährliche Personen 7 ). 

Gegen die Vorschläge von Mas so w sprechen folgende Bedenken: 
Das persönliche Verhältniss zwischen dem Minderjährigen und seinem 


2) Derselbe, 2.Bd. S.508. 

4) Derselbe, 2. Bd. S.504, 684. 
6) Derselbe, 2.Bd. S. 509. 


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lj Vargha, 2.Bd. 8.163—164. 

3) Derselbe, 2.Bd. S.508. 

5) Derselbe, 2.Bd. S.511, 665, 678. 
7) Derselbe, 2. Bd. S. 496, 512, 684. 


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Vormundschaft über Verbrecher. 


237 


Vormund ist ein ganz anderes als das persönliche Verhältniss zwischen 
dem Verbrecher und seinem Vormund. Der Minderjährige ist in Folge 
seiner Jugend und Unerfahrenheit vielfach ausser Stande, Nahrung, 
Kleidung und Obdach für sich zu beschaffen, sowie seinen Lebens¬ 
unterhalt selbst zu verdienen. Er befindet sich daher in materieller 
und moralischer Abhängigkeit von seinem Vormund. Hierzu kommt 
das höhere Alter des Vormunds, seine sociale Stellung und das ver¬ 
wandtschaftliche Verhältniss, welches häufig zwischen dem Vormund 
und dem Minderjährigen besteht. Alle diese Umstände wirken zu¬ 
sammen, um den Vormund in den Augen des Minderjährigen als eine 
Respectsperson erscheinen zu lassen, welcher der Minderjährige Achtung, 
Rücksicht und Dank schuldig ist. Der Verbrecher hingegen hat in 
den meisten Fällen die Hülfe eines Vormunds gar nicht nöthig, um 
sich Nahrung, Kleidung und Obdach zu verschaffen oder um seinen 
Lebensunterhalt zu verdienen. Er wird die Einmischung eines Vor¬ 
munds in sein Privatleben, in seine Wohnungs- und Arbeitsverhältnisse, 
in seine Einnahmen und Ausgaben nicht als Wohltbat, sondern als 
unnöthige Belästigung empfinden. Ein Verbrecher, der während einer 
längeren Zuchthaus- oder Gefängnisstrafe alle Lebensgenüsse entbehrt 
hat, kanp, auch gar nicht geneigt sein, sofort nach wiedererlangter 
Freiheit von einem fremden Manne sich vorschreiben zu lassen, wann 
und wo er arbeiten soll, wieviel er sparen muss, wie lange er im 
Wirthshaus sitzen darf. Ein Verwandter des Verbrechers wird nur in 
seltenen Fällen zum Vormund bestellt werden können, da die Ver¬ 
wandten in der Hegel demselben Milieu angehören wie der Verbrecher 
und daher keine grössere Garantie gewähren als dieser selbst Eine 
weitere Schwierigkeit bietet der Umstand, dass der Vormund des Ver¬ 
brechers häufig ausser Stande ist, die Befolgung seiner Gebote und 
Verbote zu controliren. Soll der Vormund etwa durch persönliche 
Nachtbesucbe sich überzeugen, ob ein trunksüchtiger Fabrikarbeiter 
oder ein liederliches Ladenmädchen am Sonntag Abend um 10 Uhr 
nach Hause gekommen ist? Er könnte dann leicht in Situationen 
gerathen, welche das Amt eines Vormunds zu einem sehr dornenvollen 
machen würden! Gänzlich verdorben würde das persönliche Verhältniss 
zwischen Vormund und Verbrecher, wenn der Vormund wegen Ueber- 
tretung seiner Gebote oder Verbote die Hülfe des Gerichts anrufen 
wollte. Der Vormund, der gegen einen rohen und jähzornigen Ver¬ 
brecher eine Arreststrafe wegen Ungehorsams erwirkt hätte, wäre 
beständig der Gefahr gemeiner Beschimpfungen, vielleicht sogar brutaler 
Misshandlungen von Seiten seines Mündels ausgesetzt. Die Bezahlung, 
welche v. Massow den Vormündern der Verbrecher gewähren 


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238 


XIV. Rosenbeiu; 


will 1 ), dürfte für die meisten dieser Vormünder nicht verlockend genug 
sein, um freiwillig die Mühen, Sorgen und Gefahren auf sich zu nehmen, 
welche mit der Beaufsichtigung von Verbrechern verbunden sind. 

Endlich kommt noch ein letzter Punkt in Betracht: Wenn der 
Vormund den Verbrecher überwachen soll, so muss der Verbrecher in 
der Nähe des Vormunds bleiben. Der Baum, in welchem der Ver¬ 
brecher arbeiten kann, ist also nur ein sehr beschränkter. Sache des 
Vormunds soll es sein, dem Verbrecher Arbeit zu verschaffen. Man 
denke sich nun in die Lage eines Vormunds, der in den engen Ver¬ 
hältnissen einer kleinen Stadt einem wegen Unterschlagung bestraften 
Schreiber oder Reisenden, einem wegen Diebstahls verurteilten Dienst¬ 
mädchen oder Ladenmädchen ein Unterkommen verschaffen soll. Dem 
Vormund wird eine Aufgabe zugemuthet, die er mit seinen schwachen 
Kräften vielfach überhaupt nicht lösen kann. v. Massow sagt nun 
freilich: die Schutzvereine werden dem Vormund helfen und im 
schlimmsten Falle kann der Vormund den Verbrecher in die Arbeiter- 
colonie schicken 2 ). Allein an vielen Orten giebt es keine Schutz¬ 
vereine; nicht jeder Schutzverein ist im Stande, Arbeit nachzuweisen; 
manche Schutzvereine unterstützen nur „würdige“ Verbrecher 3 ). In 
Arbeitercolonien finden nur männliche Personen Aufnahme; diese 
Colonien sind die letzte Zuflucht aller schiffbrüchigen Existenzen; 
zum dauernden Aufenthalte sind sie weder bestimmt noch geeignet 
Die Aufgabe, ständige und passende Arbeit für die bevormundeten 
Verbrecher zu beschaffen, lässt sich nur dann bewältigen, wenn Staat 
und Communalverband mit den Vormündern und freiwilligen Hülfs- 
vereinen planmässig Zusammenwirken. Die einfache Ausdehnung der 
für Minderjährige und Geisteskranke geltenden Vorschriften auf gross¬ 
jährige und zurechnungsfähige Verbrecher ist also unmöglich. 

Die Theorie von V arg ha enthält einen inneren Widerspruch. 
Wenn Alles, was geschieht, unter den gegebenen Verhältnissen ge¬ 
schehen muss, wenn Jeder dasjenige thut, was er unter den gegebenen 
Verhältnissen thun muss 4 ), so ist es nicht blos ungerecht, sondern 
auch unlogisch, dem unglücklichen Thäter für seine nothwendige 
Handlung einen gerichtlichen Verweis zu ertheilen 5 ). Der Verweis ist 


1) Blätter f. Gefängnisskunde. 29. Bd. S. 13. 

2) Ebenda. 29. Bd. 8. 14. 

3) Vgl. z. B. den IS. Jahresbericht des unterelsässisehen Gefangenen-Fürsorge- 
vereins für 1901—1902. S. 10. „Die Aufgabe des Vereins besteht darin, würdigen 
entlassenen Gefangenen die Rückkehr zu einem geordneten Lebenswandel zu 
ermöglichen/* 

4) Varglia, 2. Bd. S. 542. 5) Derselbe, 2. Bd. S. 503, 009, 603. 


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Vormundschaft über Verbrecher. 


239 


ferner bei Erwachsenen eine ganz zwecklose und wirkungslose Maass¬ 
regel. Der Ansicht von Vargha, das gelinde Strafmittel des Verweises 
bewähre sich erfahrungsgemäss vortrefflich 1 ), kann die Ansicht von 
Liszt entgegen gestellt werden, der mit vollem Recht sagt: „Für die¬ 
jenigen, deren Ehrgefühl stumpf geworden oder niemals rege gewesen 
ist, ist der Verweis des Richters eine Komödie ohne ernste Bedeutung, 
für den Ehrliebenden ist er eine tiefe Verletzung, eine schwere Krän¬ 
kung“ 2 ). Die Strafe des Verweises passt höchstens für jugendliche 
Personen, deren Charakter noch in der Entwicklung begriffen ist Ob 
der Verweis bei diesen etwas nützt, hängt zum grossen Th eil von der 
Persönlichkeit des Richters — von der Form und Würde seines Auf¬ 
tretens, von seiner Fähigkeit und Geschicklichkeit, mit jungen Leuten 
umzugehen — also von ganz zufälligen Umständen ab 3 ). Erwachsene 
Personen dagegen sind keine Schulbuben; sie dürfen daher auch nicht 
wie Schulbuben behandelt werden. Erwachsene Verbrecher werden 
sich schwerlich durch einen Verweis abhalten lassen, von Neuem straf¬ 
bare Handlungen zu verüben. Auch die Anordnung einer Vormund¬ 
schaft wird keinen grossen Eindruck auf dieselben machen. Wenn 
ihnen die Maassregeln des Strafvollzugsrichters unbequem werden, so 
verschwinden sie einfach von dem Schauplatz ihrer bisherigen Thätigkeit 
und tauchen an einem entfernten Orte unter falschem Namen wieder 
auf. Eine Marterstrafe haben sie ja für ihren Ungehorsam nicht zu 
befürchten; im schlimmsten Falle droht ihnen die „Wohlthat“ der 
Bevormundung in geschlossenen Räumen! V arg ha bestreitet, dass 
die bestehenden Marterstrafen eine abschreckende Wirkung hätten; 
das Motiv, welches die meisten Menschen von der Verübung strafbarer 
Handlungen abhält, soll nicht die Furcht vor der Strafe, sondern 
die Furcht vor dem Verbrechen sein 4 ). Diese Meinung wird durch 
die historische Thatsache widerlegt, dass stets eine ungeheure Ver¬ 
mehrung der strafbaren Handlungen eintritt, sobald die Polizei- und 
Gerichtsbehörden durch Krieg oder Revolution in ihrer Thätigkeit 
gehemmt bezw. gänzlich ausser Function gesetzt sind. Ein interessantes 
Beispiel hierfür bietet die Zunahme der Forstdiebstäble in Eisass- 
Lothringen während des Krieges von 1870—71. Als die deutschen 
Truppen Elsass und Lothringen besetzten, verliess ein grosser Theil 
der französischen Beamten das Land.^ Auch ein Theil der Forst¬ 
beamten ging fort; die zurückbleibenden Forstbeamten reichten nicht 

1) Vargha, 2.Bd. S.663. 

2) Zeitschr. f. die gesammte Strafrechtswissenschaft. !). Bd. S. 777. 

3) Ebenda. 22. Bd. S. 51 

4) Vargha, 2.Bd. S. 557. 


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240 


XIV. Rosenberg 


mehr aus, um die Waldungen zu beaufsichtigen. Bei manchen der 
Zurückgebliebenen mag auch der Zusammenbruch der bisherigen 
Staatsordnung den guten Willen zu einer energischen Handhabung 
des Forstschutzes beeinträchtigt haben. Die Folge dieser Zustände 
war eine grosse Verwüstung der Wälder, sodass die deutsche Regierung 
schliesslich Truppen gegen die Holzdiebe schicken musste 1 )* Warum 
haben nun dieselben Bauern, welche 1870 und 1871 Holz gestohlen 
haben, nicht auch 1869 und 1872 Holz gestohlen? Offenbar sind sie 
nicht durch die Furcht vor dem Verbrechen, sondern lediglich durch 
die Furcht vor der Strafe zurückgehalten worden. — In den Jahren 
1793 und 1794 haben zahlreiche Jakobiner in allen Theilen Frank¬ 
reichs die abscheulichsten Verbrechen verübt; diese Verbrechen hörten 
plötzlich auf, als Robespierre gestürzt und die Schreckensherrschaft 
beseitigt wurde. Warum haben dieselben Menschen, die unter dem 
Wohlfahrtsausschuss fortgesetzt gemordet, geraubt, geschändet und 
erpresst haben, nicht auch unter dem Directorium, dem Consulat und 
dem ersten Kaiserreich gemordet, geraubt, geschändet und erpresst? 
Die Furcht vor dem Verbrechen hat sie ganz gewiss nicht abgehalten, 
sondern einzig und allein die Furcht vor der Strafe! 

v. Massow und Vargha begehen denselben Fehler. Beide 
fassen die Vormundschaft über Verbrecher als ein Rechtsinstitut des 
Privatrechts auf, welches denselben juristischen Charakter haben soll 
wie die Vormundschaft über Minderjährige und Geisteskranke 2 ). Bei 
der Behandlung von Verbrechern aber kann nicht das Interesse der 
Individuen maassgebend sein, sondern nur das Interesse der Gesammt- 
heit. Die Rechtsnormen des Privatrechts gewähren dem Vormund und 
dem Vormundschaftsgericht keine ausreichende Zwangsgewalt gegen¬ 
über dem Mündel, wenn das letztere ein erwachsener und zurechnungs¬ 
fähiger Verbrecher ist. Die Vorschriften über die Bevormundung der 
Verbrecher müssen von dem Privatrecht vollständig getrennt und zu 
einem selbstständigen Recbtsinstitut des öffentlichen Rechts erhoben 
werden. Die Vormundschaftsbehörde muss mit der Generalvollmacht 
ausgerüstet werden, gegen den bevormundeten Verbrecher diejenigen 
Beschränkungen der persönlichen Freiheit zu verhängen, welche durch 
die besonderen Umstände des Falles geboten sind. Die genannte 
Behörde muss also die Befugniss haben, den dauernden oder vorüber¬ 
gehenden Aufenthalt des Verbrechers an bestimmten Orten zu ver- 

1) Lüning, Die Verwaltung des Generalgouvernements im Eisass. 1874. 
S. 141—143. 

2) v. Massow, Reform und Revolution. S. 125; Blätter f. Gefängnisskunde. 
29. Bd. S. 4. — Vargha, Die Abschaffung der Strafknechtschaft. 2. Bd. S. 496, 512. 


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Vormundschaft Aber Verbrecher. 


241 


bieten, z. B. den Aufenthalt von Familienvätern, welche ihre minder¬ 
jährigen Töchter oder Stieftöchter gemissbraucht haben, an dem Wohn¬ 
ort ihrer Familie, sowie von gewerbsmässigen Hehlern an dem Orte 
ihres früheren Geschäftsbetriebes, das Herumtreiben von Wilddieben 
in Wäldern oder von Taschendieben auf Jahr- und Wochenmärkten, 
den Verkehr von Baufbolden, Messerhelden, Spielern, Bauernfängern, 
Dirnen, Zuhältern und Dieben in Wirthschaften u. s. w. 1 ). Ein all¬ 
gemeines WirthBhausverbot lässt sich natürlich nur in kleinen Orten 
durchführen; allein auch in grossen Städten kann das Wirthshausverbot 
eine wirksame Maassregel sein, wenn dasselbe auf einzelne Locale 
oder auf einzelne Classen von Localen beschränkt wird. Dem gewerbs¬ 
mässigen Glücks- oder Falschspieler kann z. B. der Besuch gewisser 
Spielhöllen untersagt werden, der Dirne und dem Zuhälter der Besuch 
gewisser Balllokale* und Nachtcafös, dem Dieb und Einbrecher der 
Besuch gewisser Verbrecherkneipen. — Die Vormundschaftsbehörde 
muss ferner befugt sein, den Aufenthalt von Verbrechern an bestimmten 
Orten zu gebieten und jeden Wechsel des Aufenthaltsortes von ihrer 
Genehmigung abhängig zu machen. Sie muss also berechtigt sein, 
Gewohnheitsbettlem, Landstreichern, Dirnen, Zuhältern und anderen 
arbeitsscheuen Personen den Aufenthalt in einer bestimmten Gemeinde 
anzuweisen, desgleichen kranke und arbeitsunfähige Verbrecher — 
Trunksüchtige, Epileptiker, Krüppel u. s. w. — in bestimmten An¬ 
stalten unterzubringen. Das Zwangsdomizil des Verbrechers in einer 
bestimmten Gemeinde setzt allerdings voraus, dass die Vormundschafts¬ 
behörde im Stande ist, dem internirten Verbrecher innerhalb des an¬ 
gewiesenen Bezirks regelmässige und passende Arbeit zu verschaffen. 
Die Vormundschaftsbehörde kann solche Arbeit verschaffen, wenn ihre 
socialpolitische Thätigkeit nicht blos von Vereinen und Communalver- 
bänden, sondern auch vom Staate planmässig unterstützt und gefördert 
wird. Der Staat bewirtschaftet Forsten und Domänen; er beutet Kohlen¬ 
gruben und Steinbrüche aus; er betreibt Gewehr- und Munitionsfabriken, 
Porzellan- und Tabakmanufacturen, Brauereien und Druckereien, Eisen¬ 
werke und Sagemühlen; er verwaltet Eisenbahnen, Gefängnisse, Bade¬ 
anstalten, Kranken und Waisenhäuser; er baut Strassen, Brücken, Ca¬ 
näle, Häfen, Eisenbahnen, Kirchen, Schulen, Kasernen, Offizierkasinos, 
Irrenhäuser, Strafanstalten, Gerichts- und Verwaltungsgebäude u. s. w. 
Der Staat ist also in der Lage, arbeitsfähige Personen aus allen Klassen 
der Bevölkerung — Städter und Landbewohner, industrielle und land- 
wirtschaftliche Arbeiter, Dienstboten, Tagelöhner und Schreiber — in 


1) Vgl. Vargha, 2. Bd. S. 667. 


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242 


XIV. Rotenberg 


geeigneter Weise zu beschäftigen. Es ist auch gar nicht schwierig, 
den staatlichen Arbeitsnachweis für den einzelnen Fall zu regeln. Die 
Vormundschaftsbehörden berichten alljährlich, wieviel hülfsbedürftige 
Verbrecher vorhanden sind und welchen Berufsständen dieselben an¬ 
gehören. Der Staat setzt sodann die Gesammtzahl der Verbrecher 
fest, welche er in seinen Geschäftstrieben unterbringen will und ver¬ 
theilt dieselben auf die einzelnen Zweige der Staatsverwaltung: auf 
die Forst-, Domänen-, Strassen-, Eisenbahn-, Bau-, Finanzverwaltung 
u. s. w., hierauf bezeichnet er die Behörden und Beamten, welche die 
Verbrecher anstellen, beschäftigen und überwachen sollen. Die Liste 
der offenen Stellen wird nunmehr nach der Zahl der Einwohner oder 
nach der Zahl der bevormundeten Verbrecher in Unterabtheilungen 
zerlegt, welche den Unterabtheilungen des Staates — den Provinzen 
und Bezirken — entsprechen. Die Vormundschaltsbehörde überweist 
den unter ihrer Obhut stehenden Verbrecher, der nicht selbst Arbeit 
finden kann, derjenigen Verwaltungsbehörde ihres Bezirks, welche eine 
für den Verbrecher passende Stelle zu vergeben hat Sind alle ge¬ 
eigneten Stellen im Bezirk besetzt, so müssen die Communalverbände 
und die Hülfsvereine für das Unterkommen des Verbrechers sorgen. 
Der Staat kann im Aufsichtswege dahin wirken, dass Communal¬ 
verbände, Berufsgenossenschaften, Innungen, Gewerbevereine u. s. w. 
den gemeinnützigen Bestrebungen der Vormundscbaftsbehörde mög¬ 
lichst entgegenkommen. Der Staat kann auch noch in anderer Weise 
die Bemühungen der Vormundschaftsbehörde fördern: zahlreiche Bau¬ 
unternehmer, Holzhändler, Militärlieferanten, Bahnhofsrestaurateure, 
Domänenpächter u. s. w., die in ständiger Geschäftsverbindung mit 
dem Staate stehen, sind in manchen Dingen auf den guten Willen 
der Behörden angewiesen und daher auch ihrerseits geneigt, billige 
Wünsche und Forderungen der Behörden zu berücksichtigen. Der 
Staat kann nun diesen Personen bei Uebertragung von Arbeiten, Ab¬ 
schluss von Lieferungsverträgen, Mieth- und Pachtverträgen die Ver¬ 
pflichtung auferlegen, eine bestimmte Anzahl von bevormundeten Ver¬ 
brechern, die ihnen von den Behörden überwiesen werden, in ihren 
Betrieben zu beschäftigen. Werden alle diese Hebel in Bewegung 
gesetzt, so wird die Vormundschaftsbehörde niemals” in Verlegenheit 
sein, arbeitsfähigen und arbeitswilligen Verbrechern ein geeignetes 
Unterkommen zu verschaffen. 

Die Vormundschaftsbehörde muss auch berechtigt sein, dem Ver¬ 
brecher nicht blos örtliche, sondern auch zeitliche Beschränkungen 
seiner persönlichen Freiheit aufzulegen, z. B. das Herumtreiben von Dir¬ 
nen, Zuhältern, Einbrechern und Wilddieben zur Nachtzeit zu verbieten. 


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Vormundschaft über Verbrecher. 


243 


Die Vormundschaftsbehörde muss endlich die Ermächtigung be¬ 
sitzen, von dem Verbrecher den Nachweis regelmässiger Arbeit zu 
verlangen und eine bestimmte Art der Beschäftigung vorzuschreiben. 

Bei den sehr verschiedenartigen Elementen, welche unter den 
Verbrechern sich befinden, ist natürlich nicht zu erwarten, dass alle 
Verbrecher der Vormundschaftsbehörde blind gehorchen werden. 
Manche Verbrecher werden an verbotenen Orten sich auf halten; andere 
werden die ihnen zugewiesene Arbeit überhaupt nicht aufnehmen oder 
sehr bald wieder niederlegen; viele endlich werden durch einen eigen¬ 
mächtigen Wechsel ihres Wohnsitzes sich jeder Aufsicht zu entziehen 
suchen. Es sind daher strenge Disciplinarmittel nöthig, um die Auto¬ 
rität der Vormundschaftsbehörde aufrecht zu erhalten: Ordnungsstrafen, 
Arrest 1 )? vorübergehende Einsperrung in einer geeigneten Anstalt, 
endlich — als ultima ratio — die zeitlich unbegrenzte Internirung in 
einem Arbeits- oder Pflegehause. Nach dem Vorbild des französischen 
Bechts, welches dem ministöre public eine umfassende Mitwirkung 
auf dem Gebiete der freiwilligen Gerichtbarkeit einräumte 2 ), empfiehlt 
es sich, der Staatsanwaltschaft das Recht der Antragstellung und Be¬ 
schwerde in allen Angelegenheiten der öffentlich-rechtlichen Vormund¬ 
schaft zu gewähren. Den Verbrechern selbst muss natürlich ebenfalls 
das Recht der Antragstellung und Beschwerde zustehen. 

Selbstverständlich kann nicht jeder Mensch, der eine kleine 
Polizeiübertretung begeht, unter Vormundschaft gestellt werden. Diese 
Maassregel muss auf erhebliche Verletzungen der Rechtsordnung 
sowie auf diejenigen Personen beschränkt bleiben, bei welchen das 
öffentliche Interesse eine dauernde Ueberwachung erfordert. Die 
Aufhebung der Vormundschaft ist zulässig, wenn der Bevormundete 
durch längere gute Führung bewiesen hat, dass eine Beaufsichtigung 
nicht mehr nöthig ist 3 ). 

Was nun die Frage betrifft, ob die Vormundschaft über Ver¬ 
brecher einen Ersatz oder eine Ergänzung der bisherigen Freiheits¬ 
strafen bilden soll, so kommen folgende Erwägungen in Betracht: 

Der Gesetzgeber unterscheidet in § 51 des deutschen Gesetzbuchs 
verschiedene Classen von Thätern: Thäter, welche bewusstlos sind, 
und solche, welche nicht bewusstlos sind, ferner Thäter, deren Geistes- 
thätigkeit krankhaft gestört ist und solche, deren Geistestbätigkeit nicht 
krankhaft gestört ist, endlich Thäter, deren freie Willensbestimmung 
ausgeschlossen ist, und solche, deren freie Willensbestimmung nicht 

1) Vgl. Blätter f. Gefängnißßkunde. 29. Bd. S. 6. 

2) Art 83 des Code de procedure civile. 

3) Vgl. Vargba, 2.Bd. S. 509. 


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244 


XIV. Robenbebg 


ausgeschlossen ist Diese scharfe Trennung nnd Gegenüberstellung 
entspricht nicht den thatsächlichen Verhältnissen. Zwischen Bewusst¬ 
sein und Bewusstlosigkeit, zwischen Gesundheit und Krankheit be¬ 
stehen zahlreiche Uebergangsstufen, welche weder ganz der einen 
Kategorie noch ganz der anderen hinzugerechnet werden können. 
Zwischen den Fällen, in welchen die freie Willensbestimmung zweifel¬ 
los vorhanden oder ausgeschlossen ist, liegt ein Grenzgebiet, in welchem 
der Ausschluss der freien Willensbestimmung zweifelhaft ist. Solche 
Zweifel können namentlich in folgenden Fällen entstehen: 

1. Mehrere Sachverständige erstatten widersprechende Gutachten 
über den Geisteszustand des Thäters; keiner der Sachverständigen 
vermag das Gericht vollständig zu überzeugen. 

2. Mehrere Sachverständige erstatten übereinstimmende Gutachten 
über den Geisteszustand des Thäters; sie erklären den Thäter ent¬ 
weder für zurechnungsfähig oder für unzurechnungsfähig. Durch 
diese Gutachten wird die abweichende Ansicht des Gerichts zwar er¬ 
schüttert, aber nicht vollständig widerlegt und entkräftet. 

3. Mehrere Sachverständige erklären übereinstimmend, es liege 
ein zweifelhafter Fall vor, der auf der Grenze zwischen Zurechnungs¬ 
fähigkeit und Unzurechnungsfähigkeit stehe. 

ln allen 3 Fällen wird der Thäter nach dem Grundsatz in dubio 
pro reo regelmässig freigesprochen. Seine Einsperrung in eine Irren¬ 
anstalt kann jedenfalls dann nicht erfolgen, wenn die Sachverständigen 
ihn für zurechnungsfähig erklärt oder nur Zweifel an seiner Zurech¬ 
fähigkeit geäussert haben. In solchen Fällen darf der Thäter ungestraft 
sein gesetzwidriges Verhalten fortsetzen; er ist vor dem Gefängniss 
und vor dem Irrenhause in gleicher Weise sicher. Die Einführung 
der öffentlich-rechtlichen Vormundschaft bietet in diesem Falle das 
beste Mittel, um den Thäter trotz der gerichtlichen Freisprechung un¬ 
schädlich zu machen. Eine Ueberweisung des freigesprochenen Thäters 
an die Landespolizeibehörde, wie sie van Calker in seinem Gut¬ 
achten für den 26. deutschen Juristentag vorschlägt 1 ), ist nicht zu 
empfehlen. Es kommt vor, dass Gericht und Polizeibehörde über die 
Nothwendigkeit oder Zweckmässigkeit der Ueberführung des Thäters 
in eine Anstalt verschiedener Meinung sind, z. B. wenn widersprechende 
Gutachten über den Geisteszustand des Thäters vorliegen und das 
Gericht das Gutachten A, die Polizeibehörde das Gutachten B für 
richtig erachtet Bestehen solche Differenzen, so wird der Thäter 
überhaupt nicht in einer Anstalt untergebracht oder schon nach kurzer 


1) Vorlidlgen. d. 26. deutschen Juristentages. 2.Bd. (Gutachten.) 1902. S. 259. 


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Vormundschaft über Verbrecher. 


246 


Zeit wieder entlassen; die vom Gericht ausgesprochene Ueberweisung 
ist in diesen Fällen also eine ganz wirkungslose Maassregel. Ferner 
ist zu berücksichtigen, dass die zeitlich unbegrenzte Ueberweisung an 
die Landespolizeibehörde den Ueberwiesenen auf Lebenszeit des ge¬ 
richtlichen Schutzes beraubt und der schrankenlosen Willkür der Poli¬ 
zeibehörde ausliefert. Bessere G&rantieen für die Gesellschaft und für 
den Thäter selbst bietet der Vorschlag von Liszt’s, nach welchem 
das erkennende Gericht die Befugniss haben soll, den freigesprochenen 
Thäter einer Heil- oder Pflegeanstalt zu überweisen 1 ). Allein auch 
dieser Vorschlag passt nicht für alle Fälle. Häufig wird es zweck¬ 
mässig sein, an Stelle der Einsperrung in einer Anstalt andere Be¬ 
schränkungen der persönlichen Freiheit anzuordnen. Bei altersschwachen 
Greisen z. B., welche im Alter von 70 bis 80 Jahren noch ein Un- 
zuchtsdelict verüben, wird es vielfach ausreichen, dieselben ihrer Familie 
zu überweisen und ihnen das Verlassen der Familienwohnung, des 
Familienhauses oder des Familiengutes nur unter sicherer Bewachung 
zu gestatten bezw. ganz zu verbieten. Auch in dem oben erwähnten 
Fall Weibel ist das öffentliche Interesse vollkommen gewahrt, wenn 
dem Joseph Weibel das Betreten und der Katharina Weibel 
das Verlassen der Gemeinde Batzendorf verboten wird. Der Vor¬ 
schlag, alle diese Personen bei Gefahr für die öffentliche Sicherheit 
einer Heil- oder Pflegeanstalt zu überweisen, geht viel zu weit. Es 
kommt darauf an, dem freigesprochenen Thäter diejenigen Freiheits¬ 
beschränkungen aufzulegen, welche den besonderen Umständen des 
einzelnen Falles angepasst sind. Zur Verhängung solcher individuellen 
Maassregeln ist auch das erkennende Gericht nicht im Stande. Die 
Verhältnisse, welche zur Zeit der Urtheilsfällung bestehen, können sich 
ändern. Die Angehörigen eines freigesprochenen Thäters, welche 
denselben bei sich aufgenommen, verpflegt und überwacht haben, 
können sterben oder ihren Wohnsitz nach einem anderen Orte ver¬ 
legen ; sie können durch Unglücksfälle aller Art selbst in eine hülfs- 
bedürftige Lage gerathen, welche ihnen eine weitere Unterstützung 
und Beaufsichtigung des Thäters unmöglich macht; sie können es ab¬ 
lehnen, in Zukunft für den Thäter zu sorgen; sie können sich endlich 
bei der Bewachung des Thäters als unzuverlässig oder ungeeignet 
erweisen. Das Strafgericht muss sich also darauf beschränken, in 
allen Fällen, in welchen der objective Thatbestand einer strafbaren 
Handlung festgestellt wird, zugleich aber Zweifel an der Zurechnungs¬ 
fähigkeit des Angeklagten bestehen und das öffentliche Interesse eine 


1) Verhdlgen. d. 26. deutschen Juristentages, t. Bd. (Gutachten.) 1902. S. 299. 


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246 


XIV. Rosenberg 


Ueberwachung desselben erfordert, den Thäter unter öffentlich recht¬ 
liche Vormundschaft zu stellen. Sache der Vormundscbaftsbehörde 
ist es sodann, diejenigen Maassregeln zu treffen, welche den gegebenen 
Verhältnissen am besten entsprechen. 

Die Anordnung einer Vormundschaft kann nicht nur bei den¬ 
jenigen Personen zweckmässig sein, deren Zurechnungsfähigkeit zweifel¬ 
haft ist, sondern auch bei denjenigen Personen, welche notorisch un¬ 
zurechnungsfähig sind. Sie wird sogar häufig das einzige Mittel sein, 
um unzurechnungsfähige Personen, die nicht gemeingefährlich sind, 
an der Verletzung der bestehenden Rechtsordnung zu hindern. Ein 
Beispiel aus der gerichtlichen Praxis soll diese Behauptung näher er¬ 
läutern: H., 33 Jahre alt, Buchdrucker und Theaterstatist in Strass¬ 
burg, hatte mehrere Operngläser an einen Trödler verkauft Da Ver¬ 
dachtsgründe dafür Vorlagen, dass diese Operngläser im Theater 
weggenommen oder gefunden waren, so wurde eine Haussuchung bei 
H. angeordnet, welche eine grosse Menge gestohlener Sachen zu Tage 
förderte — 50 Theatertextbücher, 94 andere Bücher, 320 Ansichts¬ 
postkarten, 12 Packete Zucker, 4 Packete Lichter, ferner Thermometer, 
Kleiderbürsten, Spielsachen u. s. w., welche sämmtlich aus Strassburger 
Geschäften entwendet waren. Der Sachverständige erklärte H. für un¬ 
zurechnungsfähig, der Bezirkspräsident lehnte die Unterbringung in 
einer Irrenanstalt ab, da H. nicht gemeingefährlich sei. H. kann also 
ruhig weiter stehlen; er hat weder das Gefängniss noch das Irren¬ 
haus zu fürchten! Nehmen wir jedoch an, H. sei in eine Irrenanstalt 
überführt worden, so bleibe die Möglichkeit bestehen, dass der An¬ 
staltsarzt anderer Meinung ist als der Gerichtsarzt. In diesem Falle wird 
H. sehr schnell wieder entlassen werden. Ein Hinderniss, neue Dieb¬ 
stähle zu verüben, giebt es für ihn nicht. Wenn er ertappt wird, so 
lässt ihn das Gericht laufen, weil er geisteskrank ist, und die Ver¬ 
waltungsbehörde lässt ihn laufen, weil er geistig gesund ist 

Ein anderes Beispiel! Der Kaufmann Münter aus Strassburg, ein 
vielfach wegen Betruges vorbestraftes Subject, wurde vor der Straf¬ 
kammer in Frankfurt a. M. wegen Betruges angeklagt. Der Gerichts¬ 
arzt bezeichnete Münter als unzurechnungsfähig und gemeingefährlich; 
Letzterer wurde ausser Verfolgung gesetzt und in eine Irrenanstalt 
gebracht. Der Irrenarzt kam nach längerer Beobachtung zu der Ansicht, 
Münter sei nicht gemeingefährlich: auch seine Unzurechnungsfähigkeit 
sei zweifelhaft, Münter stehe auf der Grenze zwischen geistiger Gesund¬ 
heit und Geisteskrankheit In Folge dessen wurde Münter in das 
Landarmenhaus überführt, aus dem er nach kurzer Zeit entsprang. 
Er kehrte zu seiner Familie nach Strassburg zurück. Die Polizei- 


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Vormundschaft über Verbrecher. 


247 


behörde Hess ibn daselbst unbehelligt, da sie ihn nicht für gemein¬ 
gefährlich hielt. Münter hätte ungestört zahllose neue Schwindeleien 
verüben können, wenn nicht zufällig noch ein anderes Strafverfahren 
gegen ihn in Strassburg anhängig gewesen wäre und ein anderer 
Sachverständiger ibn in diesem zweiten Strafverfahren für zurech¬ 
nungsfähig erklärt hätte. 

Gegen Verbrecher, welche unzurechnungsfähig sind oder deren 
Zurechnungsfähigkeit zweifelhaft ist, kann natürlich das Disciplinar- 
mittel der Ordnungsstrafe nicht angeordnet werden. Es wird daher 
zweckmässig sein, nach dem Vorbild des § 361 Ziffer 9 St.G.B. zu 
bestimmen, dass diejenigen Personen, welche der Vormundschafts¬ 
behörde gegenüber sich verpflichtet haben, einen bevormundeten Ver¬ 
brecher zu beaufsichtigen, durch Unterlassung dieser Beaufsichtigung 
sich strafbar machen. 

Die Anordnung einer Vormundschaft kann ferner bei solchen Ver¬ 
brechern zweckmässig sein, deren Zurechnungsfähigkeit eine geminderte 
ist. v. Liszt und van Calker empfehlen, die gemeingefähr¬ 
lichen Personen dieser Classe in Anstalten unterzubringen’); die 
nicht gemeingefährlichen Angehörigen derselben Kategorie sollen ledig¬ 
lich eine geringere Strafe erhalten. Die Herabsetzung des Straf- 
maasses ist indessen nicht geeignet, die Gesellschaft vor Alkoholikern, 
Epileptikern und anderen geistig minderwerthigen Menschen zu schützen; 
dagegen bietet die öffentlich-rechtliche Vormundschaft ein wirksames 
Mittel, um die genannten Personen auch nach Vollstreckung der Strafe 
zu überwachen und nötigenfalls unschädlich zu machen. 

Die Anordnung einer Vormundschaft kann endlich bei Verbrechern 
zweckmässig sein, die vollkommen zurechnungsfähig sind, van Calker 
will rückfällige Verbrecher, bei denen trotz der Bestrafung ein wei¬ 
terer Rückfall zu erwarten ist, nach Beendigung des Strafvollzugs 
auf die Dauer von 1 bis 15 Jahren in einem Arbeitshause unter¬ 
bringen 1 2 ). Dieser Vorschlag ist viel zu radical und auch viel zu kost¬ 
spielig. Vor Kurzem wurde von dem Landgericht Strassburg eine 
Frauensperson zum siebenten Male wegen Diebstahls verurteilt. Die¬ 
selbe hatte dem Eigentümer des Hauses, in welchem sie wohnte, zwei 
Gänsestallthüren entwendet, um dieselben als Brennmaterial zu be¬ 
nutzen. Die fraglichen Thüren bestanden aus je 3 zusammengenagelten 
Brettern im Gesammtwerthe von 20 bis 30 Pfennigen. Nach mensch¬ 
licher Berechnung ist zu erwarten, dass nach Verbüssung der 4 Monate 

1) Verhandlungen des 26. deutschen Jnristentages. 1. Bd. S. 300. 2. Bd. S. 259. 

2) Ebenda. 2. Bd. S. 261. 

Archiv für Krimmalanthropologie. XI. 17 


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248 


XIV. Rosenberg 


Gefängniss, welche für diesen Diebstahl verhängt wurden, noch weitere 
Rückfälle folgen werden. Gleichwohl erscheint die Unterbringung der 
Verurtheilten in einem Arbeitshause nicht nothwendig. Das Interesse 
des Staates und der Gesellschaft ist vollkommen gewahrt, wenn die 
Vormundschaftsbehörde die Verurtheilte dauernd beaufsichtigt und zu 
regelmässiger Thätigkeit anhält; die Furcht vor dem Arbeitshause 
wird in der Regel genügen, um die Durchführung der von der Vor¬ 
mundschaftsbehörde erlassenen Befeblezu sichern. 

Die Vorschläge, welche v. Liszt zur Bekämpfung des gewerbs¬ 
mässigen Verbrecherthums macht ] ), treffen nur eine kleine Minderheit 
unter den rückfälligen Verbrechern. Die Zahl der Diebe z. B., welche 
das Stehlen gewerbsmässig betreiben, ist verhältnissmässig gering. Auch 
die rückfälligen Diebe sind zum grössten Theil Gelegenheitsdiebe; 
sie begehen Diebstähle, weil sie in ihrer moralischen Haltlosigkeit der 
Versuchung nicht widerstehen können, unter günstigen Umständen fremde 
Sachen sich anzueignen. Die Vormundschaft über grossjährige und 
zurechnungsfähige Verbrecher behält also auch dann praktische Be¬ 
deutung, wenn für gewerbsmässige Verbrecher besondere Vorschriften 
erlassen werden. Diese Vormundschaft bietet ferner die Möglichkeit, 
denjenigen Verbrechern, die während einer langjährigen Freiheitsent¬ 
ziehung die Kraft und die Fähigkeit des selbstständigen Denkens, 
Wollens und Handelns verloren haben, zunächst nur eine beschränkte 
Freiheit, einzuräumen und ihnen erst dann, wenn sie in diesem Stadium 
sich bewährt haben, die volle Freiheit wiederzugeben. 

Es bleibt nun noch die Frage zu erörtern: Welche Behörde soll 
die vormundschaftliche Gewalt über Verbrecher ausüben? Die Polizei¬ 
behörden sind gänzlich ausser Stande, bevormundete Verbrecher in 
geeigneter Weise zu überwachen. Dies beweisen die Erfahrungen, 
welche seit mehr als fünfzig Jahren in Preussen mit der Polizeiauf¬ 
sicht gemacht worden sind. Ein gewiss unverdächtiger Zeuge für die 
Wirksamkeit der polizeilichen Organe ist der preussische Minister des 
Innern. Derselbe hat am 22. Mai 1866 eine Verfügung über die 
Handhabung der Polizeiaufsicht erlassen, in welcher u. a. folgende 
Sätze Vorkommen: „Zahlreiche Erfahrungen bähen gelehrt, dass bei 
Handhabung der Polizeiaufsicht über entlassene Gefangene von vielen 
Polizeibehörden zu wenig auf die Besonderheit der ein¬ 
zelnen Fälle Rücksicht genommen wird. — Die aus den Straf¬ 
anstalten von Zeit zu Zeit eingehenden Jahresberichte enthalten fort¬ 
dauernd eine Anzahl Fälle, in welchen frühere Gefangene, welche mit 


1) Verhandlungen des 2<>. deutschen Juristentages. l.Bd. S. 295. 


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Vormundschaft über Verbrecher. 


249 


den besten Vorsätzen die Anstalt verlassen hatten, hauptsächlich 
nur durch die rücksichtslose Art und Weise, mit welcher 
viele Polizeibehörden die Polizeiaufsicht handhaben, in 
der Erlangung eines ehrlichen Broderwerbes wesentlich 
behindert oder geradezu eines mit vieler Mühe kaum er¬ 
langten ordentlichen Unterkommens wieder verlustig 
geworden und in Folge davon dem Rückfall von Neuem 
zugeführt worden sind“ *). 

Bei Berathung des Strafgesetzbuchs für den Norddeutschen Bund 
erklärte der Bundescommissar Präsident Dr. Friedberg im Reichstage: 
„Es ist eine, wenigstens in diesseitigen Landen, häufig gemachte Er¬ 
fahrung, dass die Polizeiaufsicht für die bestraften Personen, die in 
Fabriken oder als Dienstboten oder sonst ein Unterkommen gefunden, 
den Missstand herbeiführt, dass die auf die Polizeiaufsicht 
gestützte Nachfrage der Polizeibehörde sie gar leicht 
wieder aus dem Kreise der ehrlichen Personen vertreibt“*). 
In derselben Reichtagssitzung äusserte ein anderer) juristischer Sach¬ 
verständiger, der ehemalige Appellationsgerichts-Vicepräsident von Kirch- 
mann, die Stellung unter Polizeiaufsicht sei eine Brandmarkung des 
Verbrechers, die ebenso verderblich sei wie die frühere Kennzeichnung 
des Verbrechers durch ein auf der Stirn eingebranntes Mal 1 2 3 ). 

Die Strafgesetzbücher für den Norddeutschen Bund und für das 
Deutsche Reich haben die Vorschriften, welche das preussische Straf¬ 
gesetzbuch über die Polizeiaufsicht enthielt, etwas gemildert Die Polizei¬ 
aufsicht wurde aus einer obligatorischen Nebenstrafe in eine facul-. 
tative umgewandelt; die Zahl der strafbaren Handlungen, bei welchen 
auf diese Nebenstrafe erkannt werden konnte, wurde vermindert; die 
Dauer der Polizeiaufsicht wurde herabgesetzt; auch der Umfang 
der Polizeiaufsicht wurde beschränkt; das Recht der Ortspolizei¬ 
behörden, das Verlassen des Wohnorts und der Wohnung zur Nacht¬ 
zeit zu verbieten, wurde beseitigt Allein diese Reform ist ganz 
ungenügend. 

Auf einer Versammlung des Vereins deutscher Strafanstaltsbeamten, 
welche 1880 in Bremen stattfand, wurde von erfahrenen Gefängniss¬ 
und Polizeibeamten die Ansicht vertreten, die Polizeiaufsicht über ent¬ 
lassene Sträflinge nütze gar nichts, in manchen Fällen sei sie sogar 


1) Verhandlungen des Reichstags des Norddeutschen Bundes. 1. Leg.-Periode. 
JS70. 3. Bd. Nr. 5. S. 103. 

2) Reichstagsverhandlungen vom 5. März IST0. Steuogr. Bericht. S. 2IS. 

3) Stenogr. Bericht. iS. 21b. 

17 * 


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250 


XIV. Rosenbero 


schädlich gewesen 1 ). Die Mehrheit der Versammlung hat allerdings 
den Vorschlag, die Polizeiaufsicht ganz aufzuheben, abgelehnt und eine 
Verschärfung derselben befürwortet 

Ein anderer klassischer Zeuge — der ehemalige Ministerialrath 
Eugen von Jagemann in Karlsruhe — schreibt in seinem Handbuch 
des Gefängnisswesens: „Nichts ist zweckwidriger als das Er¬ 
scheinen des Schutzmanns bei dem Arbeitgeber, der da¬ 
durch selbst misstrauisch wird oder oft in die Lage kommt, den Ent¬ 
lassenen dem Mitarbeiter gegenüber nicht behalten zu können“ 2 ). 

Der Gefängnisgeistliche Braune in Görlitz hat in der Zeitschrift 
für die gesammte Strafrechtswissenschaft 1889 einen Aufsatz: „Wider 
die Polizeiaufsicht“ veröffentlicht, in welchem er auf Grund zahlreicher 
persönlicher Beobachtungen zu dem Ergebniss gelangt: „Es wird mit 
und ohne Polizeiaufsicht jedwedes beliebige Verbrechen begangen. Die 
Polizeiaufsicht kann daran Niemand hindern.— Die Polizeiaufsicht 
ist thatsächlich recht oft noch immer die Klippe, an 
welcher jeder Rettungsversuch scheitert, weil Handwerks¬ 
meister, Logiswirthe u. s. w. nicht geneigt sein können, Leute bei sich 
aufzunehmen, die sich mindestens Haussuchung bei Tage und bei 
Nacht müssen gefallen lassen“ 3 ). 

Karl Fuhr hat in seinem Werke: „Strafrechtspflege und Social¬ 
politik“ die Aeusserungen verschiedener Polizeibehörden über die Er¬ 
folge der Polizeiaufsicht zusammengestellt Das Polizeipräsidium 
Berlin, der Kreis Wolffenbüttel, das Landrathamt Koburg, das Kreis¬ 
amt Lauterbach, das Amt Delmenhorst haben erklärt, die Erfolge 
der Polizeiaufsicht seien gleich Null 4 ). Fuhr selbst kommt 
auf Grund umfassender Studien gleichfalls zu dem Ergebniss, dass 
die Polizeiaufsicht gar nichts genützt habe. 

In Band IX dieser Zeitschrift hat Hans Gross die Autobiographie 
eines Rückfälligen veröffentlicht Hier wird in schlichten und er¬ 
greifenden Worten erzählt, wie ein einfacher Mann aus dem Volke, 
der in seiner Jugend mehrfach bestraft worden ist, Jahre lang ernst 
lieh versucht, durch ehrliche'Arbeit sein Brod zu verdienen, aber 

1) Blätter f. Gcfängnisskunde. Redigirt von Gustav Ekerh 15. Bd. 1882. 
S. 62—64, 68. 

2) v. Holtzendorff und v. Jagemann, Handbuch des Gefängnisswesens. 
2. Bd. 1888. S. 127. 

3) v. Liszt und v. Lilienthal, Zeitschrift für die gesammte Strafrechts¬ 
wissenschaft. 9. Bd. S. 831. 

4) Karl Fuhr, Strafrechtspflege und Socialpolitik. Ein Beitrag zur Reform 
der Strafgesetzgebung auf Grund rcchtsvergleichender und statistischer Erhebungen 
über die Polizeiaufsicht 1892. S. 234—236. 


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Vormundschaft über Verbrecher. 


251 


immer wieder von den Polizeiorganen durch ungeschickte Nach¬ 
forschungen, grobe Verletzungen des Dienstgeheimnisses und willkür¬ 
liche Ausweisungen an der Gründung einer festen Existenz gebindert 
oder zur Aufgabe einer mühsam errungenen Stellung genöthigt wird l 2 ). 

Nach diesen Citaten kann es keinem Zweifel unterliegen, dass 
die Abschaffung der Polizeiaufsicht nur noch eine Frage der Zeit ist. 
An einen weiteren Ausbau dieses allgemein verurtheilten Rechtsinstituts 
ist nicht zu denken. 

Andere Verwaltungsbehörden sind gleichfalls nicht geeignet, die 
Vormundschaft über Verbrecher zu führen. Dieselben müssen den 
dienstlichen Anweisungen der ihnen Vorgesetzten Behörden Folge 
leisten. Diese Abhängigkeit könnte von der Regierung benutzt werden, 
um unbequeme politische Gegner, die von irgend einem Gericht ver- 
urtheilt und wegen ihrer Gefährlichkeit unter Vormundschaft gestellt 
worden sind, wirtschaftlich zu ruiniren oder der persönlichen Freiheit 
zu berauben. Dass die Gefahr eines solchen Missbrauchs der Amts¬ 
gewalt nicht blos graue Theorie ist, beweisen z. B. die wiederholten 
Versuche, welche der preussische Minister v. d. Heydt gemacht hat, 
um den liberalen Politiker Hans Viktor von Unruh aus seinen 
Stellungen in der Privatindustrie zu vertreiben 3 ). 

Die beste Vormundschaftsbehörde ist das Vormnndschaftsgericbt. 
Die Unabhängigkeit des Richterstandes bietet eine genügende Bürg¬ 
schaft dafür, dass die rechtlich unbegrenzte Gewalt, welche die Vor¬ 
mundschaftsbehörde über den Verbrecher erhalten soll, nicht für poli¬ 
tische Zwecke missbraucht wird. Das Vormundschaftsgericht besitzt 
ferner in den Gemeindewaisenräthen, welche kraft Gesetzes in jeder 
Gemeinde bestehen müssen 3 ), geeignete Organe, um die seiner Aufsicht 
unterstellten Personen in unauffälliger Weise zu überwachen. An 
manchen Orten wird das Vormundschaftsgericht sich auch der Hülfe 
von Armenpflegern und Fürsorgevereinen bedienen können. In den¬ 
jenigen Fällen, in welchen eine Mitwirkung der Polizeiorgane nicht 
zu entbehren ist, kann das Vormundschaftsgericht durch Ertheilung 
bestimmter und begrenzter Aufträge dafür sorgen, dass bei Erledigung 
der Aufträge berechtigte Interessen der bevormundeten Personen weder 
verletzt noch gefährdet werden. 

Die Beschränkungen der persönlichen Freiheit, welche hier 
empfohlen werden, sind nichts Neues und Unerhörtes. Nach § 39 

1) Archiv f. Kriminalanthropologie u. Kriminalistik. 9. Bd. 1902. S. 86—99. 

2) v. Poschinger, Erinnerungen aus dem Leben von Hans Viktor v. Unruh. 
1895. S. 171, 173, 175, 193. 

3) § 1849—1851 des Bürgerlichen Gesetzbuchs. 


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252 


XIV. Rosenberg 


des Strafgesetzbuchs kann Verurtheilten, welche unter Polizeiaufsicht 
stehen, der Aufenthalt an einzelnen bestimmten Orten von der höheren 
Landespolizeibehörde untersagt werden. Nach § 3 des Gesetzes über 
die Freizügigkeit vom 1. November 1867 kann Personen, welche 
innerhalb der letzten zwölf Monate wegen wiederholten Betteins oder 
wegen wiederholter Landstreicherei bestraft worden sind, der Aufent¬ 
halt in jedem anderen Bundesstaate von der Landespolizeibehörde 
verweigert werden. Nach § 5 desselben Gesetzes dürfen Personen, 
die niemals mit den Strafgesetzen in Konflikt gekommen sind, aus 
ihrem Wohnort ausgewiesen werden, wenn sie vor Erwerbung des 
Unterstützungswohnsitzes die Hülfe der Gemeinde in Anspruch nehmen 
müssen. 

§ 2 des Jesuitengesetzes vom 4. Juli 1872 lautet: „Die Angehörigen 
des Ordens der Gesellschaft Jesu oder die ihm verwandten Orden 
oder ordensähnlichen Kongregationen können, wenn sie Ausländer 
sind, aus dem Bundesgebiet ausgewiesen werden; wenn sie In* 
länder sind, kann ihnen der Aufenthalt in bestimmten 
Bezirken oder Orten versagt oder angewiesen werden.“ 
Auch diese Beschränkung der Freizügigkeit ist unabhängig davon, 
ob der Betroffene eine strafbare Handlung begangen hat oder nicht. 

Durch den Beleidigungsprocess Paalzow-Nickel in Berlin ist be¬ 
kannt geworden, dass die Lehrer in Trakehnen Urlaub erbitten müssen, 
wenn sie ein Nachbardorf besuchen wollen und dass sie bestraft werden, 
wenn sie in der Ferienzeit Urlaub nach Gumbinnen nehmen, oder 
nach Insterburg fahren. Warum soll ein bestrafter Verbrecher grössere 
Freiheit der Bewegung gemessen als ein unbestrafter Lehrer? 

Den gewerbsmässigen Dirnen ist in manchen Städten verboten, 
bestimmte Strassen und Plätze zu betreten, bestimmte Wirtschaften 
zu besuchen, zur Nachtzeit sich herumzutreiben u. s. w. Warum soll 
das Gericht dem gewerbsmässigen Zuhälter bei seiner Verurtheilung 
nicht die gleichen Beschränkungen auferlegen können, welche die 
Polizeibehörde den gewerbsmässigen Dirnen auch ohne Verurtheilung 
auferlegen darf. 

Nach der Gewerbeordnung kann die Verwaltungsbehörde bestraften 
und nicht bestraften Personen unter bestimmten Voraussetzungen den 
Betrieb einzelner Gewerbe verbieten, sowie den Gewerbebetrieb im 
Umherziehen untersagen 1 ). 

Nach manchen Landesgesetzen kann die Verwaltungsbehörde 
bestrafte und nicht bestrafte Personen in gewissen Fällen am Fischen 


1) Vgl. Gewerbeordnung vom 26. Juli 1900. § 35, 57, 57a, 57b. 


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Vormundschaft über Verbrecher. 


253 


und Jagen verhindern dadurch, dass sie ihnen den Jagdschein oder 
die Fischerkarte verweigert ')• 

Die Verbrecher, welche nach Verbüssung von Dreivierteln ihrer 
Strafe vorläufig entlassen werden (§ 23 Str. G. B.), erlangen nicht so¬ 
fort ihre volle Freiheit, sondern zunächst nur eine geminderte Freiheit. 
Zu jeder Veränderung ihres Aufenthaltsortes, zur Vornahme von Reisen 
u. s. w. ist die Erlaubniss der Polizeibehörde erforderlich. Auch das 
ganze Privatleben der vorläufig Entlassenen unterliegt einer ständigen 
Controlle durch die Polizeibehörde. Für Elsass-Lothringen bestimmt 
z. B. § 25 einer vom Oberpräsidenten und vom Generalprocurator am 
28. März 1872 gemeinschaftlich erlassenen Verfügung: „Zeigt ein 
vorläufig Entlassener sich arbeitsscheu, trunkfällig oder 
giebt derselbe in anderer Weise durch ungeordnetes Ver¬ 
halten Anstoss,so kann, falls eine sogleich zu erlassende eftte Ver¬ 
warnung erfolglos bleibt, seitens des Kreis- oder Polizeidirectors gemäss 
§ 24 Str. G. B. der Widerruf der Entlassung bei dem Generalprocurator 
in Antrag gebracht werden. Dasselbe findet statt, wenn der Entlassene 
mit übelberüchtigten Personen Umgang pflegt oder bei 
denselben Wohnung nimmt oder wenn er einen bestimm¬ 
ten Lebenserwerb nicht nachzuweisen vermag“ 2 ). Die vor¬ 
läufige Entlassung darf bekanntlich nur denjenigen Personen bewilligt 
werden, welche sich während der Strafverbüssung gut geführt haben 
welche also durch ihr Verhalten Hoffnung auf nachhaltige Besserung 
erweckt haben 3 ). Wenn sogar der gebesserte Verbrecher bei seiner 
Entlassung einer staatlichen Aufsicht unterworfen werden darf, so ist 
es nur recht und billig, dass der ungebesserte Verbrecher bei seiner 
Entlassung ebenfalls einer staatlichen Aufsicht unterworfen wird. 

Weitgehende Beschränkungen der persönlichen Freiheit enthielt 
auch das Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Social¬ 
demokratie vom 21. October 1878, welches zwölf Jahre lang im 
Deutschen Reiche Geltung gehabt hat. Nach diesem Gesetz batten 
die Gerichte die Befugniss, in gewissen Fällen neben der Verurthei- 
lung zu einer Freiheitsstrafe auf die „Zulässigkeit der Einschrän- 

1) Vgl. z. B. das elB.-lothr. Gesetz betr. die Jagdpolizei vom 7. Mai ISS!, 
§ 9, 11 und das els.-lothr. Gesetz betr. die Fischerei vom 2. Juli ISS 1. § 20, 24. 

2) Vgl. die fast wörtlich gleichlautende Verhaltungsvorschrift für beurlaubte 
Gefangene im Königreich Sachsen. Stenographische Berichte über die Verhand¬ 
lungen des Reichstags des Norddeutschen Bundes. 1. Leg.-Periode. 1S70. 3. Bd. 
(Anlagen.) Actenstück Nr. 5. S. 95. 

3) Verordnung des königl. sächsischen Ministeriums des Innern vom 5. August 
lb62. Verhandlungen des Reichstags des Norddeutschen Bundes. 1. Leg.-Periode. 
1S70. 3. Bd. Nr. 5. S. 92. 


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254 


XIV. Rosenrero, Vormundschaft über Verbrecher. 


kung des Aufenthaltes“ (§22) und auf „Untersagung des 
Gewerbebetriebes“ (§ 23) zu erkennen. Die Landespolizeibehörde 
war befugt, denjenigen Personen, bei welchen eine Einschränkung des 
Aufenthaltes auf Grund richterlichen Urtheils zulässig war, den Auf¬ 
enthalt in bestimmten Bezirken oder Ortschaften zu ver¬ 
sagen. Zuwiderhandlungen gegen diese Aufenthaltsverbote waren 
mit Gefängniss von einem Monat bis zu einem Jahre bedroht. Die 
Centralbehörden der Bundesstaaten durften ferner mit Genehmigung 
des Bundesraths für einzelne Bezirke oder Ortschaften sowie für die 
Dauer eines Jahres anordnen, dass Personen, von denen eine 
Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung zu 
besorgen war, der Aufenthalt in den Bezirken oder Ort¬ 
schaften versagt werden könne (§28 Ziffer 3). 

Der berühmte Dictaturparagrapb, der in Elsass-Lothringen durch 
Landesgesetz vom 30. December 1871 (§ 10) eingeführt und durch 
Reichsgesetz vom 18. Juni 1902 wieder aufgehoben wurde, ordnete 
an: „Bei Gefahr für die öffentliche Sicherheit ist derOber- 
präsident ermächtigt, alle Maassregeln ungesäumt zu tref¬ 
fen, welche er zur Abwendung der Gefahr für erforderlich 
erachtet.“ Dieser Paragraph ist von angesehenen Juristen und Parla¬ 
mentariern sowie fast von der gesammten öffentlichen Meinung in 
dem Sinne ausgelegt worden, dass der Oberpräsident bezw. sein Rechts¬ 
nachfolger, der Statthalter, eine unbegrenzte Gewalt besitze und dass 
weder Landesgesetze noch Reichsgesetze eine Schranke für seine Macht¬ 
befugnisse bilden *)• 

Bei Einführung der öffentlich-rechtlichen Vormundschaft für Ver¬ 
brecher handelt es sich also lediglich darum, eine Reihe von Rechts¬ 
vorschriften, welche ohne Ordnung und Zusammenhang in verschie¬ 
denen Gesetzen zerstreut sind, zu einem einheitlichen Rechtssystem zu 
vereinigen und dieses einheitliche System von Rechtssätzen auf die¬ 
jenigen Personen anzuwenden, welche durch erhebliche Zuwiderhand¬ 
lungen gegen die bestehende Rechtsordnung ihre Gemeingefährlichkeit 
bekundet haben. 

1) Vgl. Archiv für öffentliches Recht. 12. Bd. 1397. S. 539 ff. und Grenzboten 
vom 10. October 1901. Nr. 41. S. 67. 


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Kleinere Mitteilungen. 


a) Von Näcke. 


I. 

Ueber innere Stigmata bei schweren Verbrechern. Der 
Leser wird sich erinnern, dass ich im Jahrgange 1902, S. 153 dieser Zeit¬ 
schrift einen kurzen Auszug einer sehr eingehenden Arbeit von mir Ober „innere 
somatische Entartungszeichen“ gegeben habe. Der ausgezeichnete Kriminal- 
anthropolog und Irrenarzt Penta veröffentlicht nun in der Rivista di psicli. 
for. etc. 1902, p. 425 unter dem Titel: Alcune note su 35 autopsie di 
condannati“ die Sectionsergebnisse von 35 schweren Verbrechern aus ver¬ 
schiedenen Gefängnissen Italiens. Er weiss sehr wohl, dass diese Zahl zu 
klein ist, um definitive Schlüsse zu ziehen und ist daher sehr vorsichtig, wie 
[ meist i mmer , mit seinen Behauptungen. Vor allem ist es aber schade, dass 
das Material kein einheitliches ist (die verschiedensten Provinzen Italiens!) 
und keine Vergleiche mit Leichen gleicher Schichten und gleicher Herkunft 
geschahen. Trotzdem sind die Ergebnisse interessant genug und verdienen 
daher hier eine specielle Erwähnung. Merkwürdig war es zunächst, dass 
Brustfellentzündungen und -Verklebungen schmerzlos verliefen. Mit Recht 
(gegen Lombroso!) führt er diese Gefühllosigkeit zum sehr grossen Theile 
auf das Milieu, die Arbeit, Abhärtung gegen Schmerz u. s. w. und nicht 
blos auf ein endogenes Moment zurück, damit hängt auch die moralische 
Gefühllosigkeit zusammen. Aehnlich entsteht ferner die häufigen schwere 
und vorzeitige Gefässverkalkung, wie auch die häufige^ partiellen Hirnhaut¬ 
entzündungen, die häufige und frühe Demenz u. s. w. Das Gehirn und 
die Gefässe sind also durch das Milieu und den angeborenen Factor ge¬ 
schwächt, nicht am wenigsten durch das elende und lange Gefängnissieben. 
So erklärt sich auch z. Th. das durchschnittlich geringere Hirngewicht; 
z. Th. freilich auch ist es ab ovo so, wie die mannigfachen Anomalien an den 
Hirnwindungen, die oft atavistisch sind (? Näcke), beweisen. Desgleichen 
die Abweichungen der inneren Organe und an den Gefässen des Schädels. 
Diese „könnten“ wohl Stigmata andeuten. Damit hat Penta fast den- 
delben Schluss gezogen, wie ich aus meinen grossen, vergleichenden Unter¬ 
suchungen an Paralytikern. Dies muss speciell hervorgehoben werden, da 
neuerdings der bekannte Anatom und Anthropolog Prof. Stieda in Königs¬ 
berg, bei einer eingehenden Besprechung meiner Arbeit sich gegen die 
Aufstellung der von mir als mögliche Stigmata beschriebenen Abwei¬ 
chungen an den 5 inneren Hauptorganen aussprach. Hier glaube ich, über¬ 
schreitet er seine Function als Anatom. Wohl kann ein solcher mit mehr 


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256 


Kleinere Mittheilungen. 


Recht als ein Irrenarzt u. s. w. die Bedeutung einer Variation bez. ihrer 
Genese anfechten. Die klinisch - anthropologische Bedeutung 
der sogenannten Entartungszeichen steht aber heute durch 
unzählige Untersuchungen fest. Mögen die Herren Anatomen die¬ 
selben für gewöhnliche oder seltene Variationen ausgeben, sie auf diese oder 
jene Weise erklären, so können sie doch nie leugnen, dass 1., dieselben in 
den seltneren und schwereren Formen bei allen Entarteten häufiger Vorkommen, 
als bei sogenannten Normalen; 2., gern vergesellschaftet und zwar möglichst 
am Körper verbreitet sind und 3., mit dem Grade der Entartung an Häufig¬ 
keit und Schwere zunehmen. Damit allein ist ihre Bedeutung festgelegt, 
wobei man selbstverständlich nur allgemein spricht, in concreto stets 
sehr vorsichtig sein muss, da einmal ein Degenerirter scheinbar keine, 
ein Normaler viele Entartungszeichen aufweisen kann. Als „Signale“ für 
eine „mögliche“ Minderwerthigkeit des Centralnervensystems werden sie dem 
Kundigen aber stets wichtig genug sein und ihn zur näheren Untersuchung 
der Psyche u. s. w. direct auffordern. 


2 . 

Thierquälerei und Aberglaube. Unter obiger Spitzmarke lese 
ich im „Thier- und Menschenfreund“ 1902, Nr. 11 folgenden Passus, der 
wieder der „Allgemeinen Thierschutz-Zeitschrift“, Januar 1902, entlehnt ist. 
„In manchen Gegenden besteht der Glaube, dass der, welcher den 2. Schwanz¬ 
wirbel eines schwarzen Katers in den Mund steckt, unsichtbar wird. Den 
Schwanzwirbel gewinnt man auf folgende Weise: Man steckt den Kater 
gefesselt in einen halb mit Wasser gefüllten Topf und kocht das lebende 
Thier 3 Nächte hindurch langsam zu Tode. Dann löst man den Knochen 
aus dem Skelett des zu Tode gemarterten Thieres aus. Man kann den 
unsichtbar machenden Knochen noch auf eine zweite Weise gewinnen. Man 
steckt einen lebendigen Grünspecht in eine überall durchlöcherte Schachtel 
und vergräbt diese in einen Ameisenhaufen. Nach etwa 3 Monaten haben 
die Ameisen den Vogel aufgefressen. Man gräbt jetzt das Skelett aus und 
steckt in Gegenwart eines Freundes einen Knochen nach dem andern in 
den Mund, bis man durch den richtigen den Blicken des Freundes ent¬ 
zogen wird.“ 

Diese Mittheilung ist also ein Beitrag zum Aberglauben, der unter 
Umständen für den Richter wichtig werden kann. Finden sich nämlich bei 
einem Verbrecher unter anderem Knochenstücke, deren Zweck nicht auf der 
Hand liegt, so wird man an obige Möglichkeiten denken. Gerade das „Un¬ 
sichtbannachen“ spielt bekanntlich bei Dieben eine grosse Rolle, namentlich 
früher. Daher die vielen Vorschriften hierfür. 

Nicht das Factum aber als solches interessirt mich hier, sondern der 
psychologische Vorgang. Bei diesem, wie überhaupt bei jedem Aberglauben 
sind nun zwei Möglichkeiten gegeben. Entweder die betreffende Vorschrift 
entspringt zufällig im Gehirn eines Einzelnen als neues Phantasiegebilde 
und verbreitet sich durch ihn weiter. Oder aber: Es sind gewisse Erfah¬ 
rungselemente, die dem Unsinn zu Grande liegen. Letzteres halte ich für 
den gewöhnlichen, sogar vielleicht für den alleinigen Vorgang. Bleiben wir 
nun bei unseren obigen Beispielen stehen, so wäre zunächst zu fragen: 


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Kleinere Mittheilungeu. 


257 


wie kommt der Kater oder der Grünspecht dazu, eine so wunderbare Eigen¬ 
schaft, wie die der Tarnkappe zu liefern ? Der Kater ist ein scheues, flinkes 
Thier, das gern Nachtspaziergänge macht. Das, sowie das Funkeln der 
Augen und andere üble Eigenschaften, macht das Thier in den Augen des 
Volkes unheimlich. So wird es zum Gesellschafter der Hexen und Unholde. 
Das wäre also erklärlich. Beim Grünspecht ist dies aber nicht der- Fall, 
da es ganz andere Vögel giebt, die die Volksphantasie erhitzen. Warum 
gerade er, zumal er sehr einladend und also nicht abstossend aussieht? 
Aber weiter: nicht das Thier als solches kann unsichtbar machen, sondern 
nur ein bestimmter Tlieil desselben, hier ein Knochen, der im zweiten Falle 
humoristischer Weise sogar erst ausprobirt werden muss. Warum gerade 
ein Knochen? Warum gerade der 2. Schwanzwirbel des Katers? Letzteres 
könnte damit Zusammenhängen, dass er sich an einer versteckten und un¬ 
anständigen Stelle vorfindet. Denn gerade das Ekle, Niedrige, Stinkige 
wird vom Volke gern als heilbringend angesehen, daher in Salben u. s. w. 
verwendet. In beiden Fällen endlich muss erst das Thier auf grausame 
Art zu Tode geführt werden, bis man zum Wunderknochen gelangt. Wes¬ 
halb? Vielleicht zeigt sich hier die böte humaine in der Form der Jedem 
mehr oder minder innewohnenden Grausamkeit, die gerade bei Opferungen 
und Ritualien aller Art oft wahre Triumphe feiert. Dadurch soll die Wunder¬ 
kraft wahrscheinlich erhöht, wenn nicht gar erst erzeugt werden. Das sind 
so einige der hier möglichen Fragen. 

Schon an diesem einfachen Beispiele sieht man, wie viele psychologisch 
interessante Fragen an Einen sich herandrängen, und wie tief wir in die 
Volkspsyche und die Kulturanfänge hinabsteigen müssen, um einigermaassen 
die Elemente des Aberglaubens zu entwirren und unserem Verständnisse 
näher zu bringen. Hier vor allem würde eine Vergleichung ähnlichen 
Aberglaubens bei verschiedenen Völkern Noth thun, dann aber lohnende 
Einblicke in diese verzwickten Verhältnisse gewähren. Die Meisten lachen 
oder entsetzen sich bei Lesen abergläubiger Gebräuche, denken aber darüber 
nicht weiter nach. Der Gelehrte und Grübler hingegen hebt auch dies 
unscheinbare und weggeworfene Ding vom Boden auf und betrachtet es 
naturwissenschaftlich. Nur er versteht die abgebrochene Brücke des Ver¬ 
ständnisses wiederherzustellen und wenigstens einige Lichtstrahlen in das 
Dunkel der menschlichen Vorzeit zu werfen. 


3. 

Eine entartete Familie. Der Leser hat gewiss die Geschichte 
der berüchtigten Yukesfamilie in Amerika gelesen, die in ihren vielen ver¬ 
brecherischen u. s. w. Mitgliedern verschiedener Generationen dem Staate ent¬ 
setzliches Geld gekostet hat. Auch neuerdings wurden ähnliche Beispiele 
aus Frankreich berichtet. Jetzt veröffentlicht man in der Medical News 
(31. Mai 1902) *) aus Amerika den folgenden Fall, der des Aufhebens wohl 
werth ist. Die Stammmutter der Familie, eine Bordelhvirthin und Trinkerin 
zugleich, starb 1827, mit 51 Jahren. Ihre Nachkommen zusammen be¬ 
laufen sich auf 800 Personen, davon waren 700 wenigstens einmal bestraft 


1) Nach Notiz in den Archivcs d’anthropologie criminelle etc. 1902. p. 700. 


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258 


Kleinere Mitthcilungen. 


worden. Ausserdem waren 342 Nachkommen dem Trünke ergeben, 127 
waren Huren und 37 Personen zum Tode verurtheilt! Die Processkosten 
aller krimineller Akten dieser Familie hat dem Staate allein ca. 3 Millionen 
Dollars =12 Mill. Mark gekostet! 

Gewiss würden solche traurige Stammbäume sich in Masse vorfinden, 
wenn man die Stammtafel gewisser Verbrecher u. s. w. aufstellen könnte, 
was gerade aber hier bekanntlich schwer hält Man wird nicht leugnen, 
dass durch solche Ahnen ein schweres Degenerationselement in die Mitwelt 
gebracht ward und man wird mir wohl Recht geben, dass durch Ausmerzung 
der Stammeitem viel Unheil und Kosten erspart worden wäre. Freilich 
überwindet die übrige gesunde Welt solche Schäden, doch nicht ohne Ver¬ 
lust und Schmerzen. Immer wieder wird man an die Unschädlichmachung 
gewisser entarteter Elemente gemahnt, wie ich dies des Weiteren in einem 
grösseren Aufsatze über die Kastration bei gewissen Klassen von Entarteten 
(dies. Archiv, III. Bd., 1. H.) näher ausführte. Aber noch ein anderer Punkt 
verlangt besondere Erwägung. Wie ist diese hohe Kriminalität in unserem 
obigen Falle zu erklären ? Handelt es sich hier um Vorwiegen des angeborenen, 
endogenen Factors, oder des Milieus? Gewiss spielt das endogene Moment 
hier eine grosse Rolle. Es lässt sich aber nicht sicher behaupten ob die 
vorwiegende. In Säufer- und Verbrecherfamilien pflegt nämlich schon das 
Familienmilieu ein sehr desolates zu sein und das äussere Milieu ist meist 
dementsprechend. Wie hoch also das exogene Moment hier anzuschlagen 
ist, lässt sich nicht ohne Weiteres sagen; man müsste genau jeden einzelnen 
Fall daraufhin für dich betrachten. Trotzdem halte ich das endogene hier 
für wichtiger. Um mögliclist reine Naturexperimente zu erlangen, sehe 
ich nur 2 Wege: 1., Verfolgen der weiteren Carriöre von Findelkindern und 
2., Beispiele von schlechten Subjecten in guten, und von guten in schlechten 
Familien. Freilich wird auch nur eine sehr grosse Wahrscheinlich¬ 
keit so erreicht, mehr nicht! Im 1. Beispiele kann bei gleichem Milieu 
im Findelhause später doch eine Verschlechterung des Charakters durch 
ungünstiges äusseres Milieu eintreten und ein Kind der besten Familie kann 
nicht ganz von dem Contacte einer schlechten Umgebung immer bewahrt 
werden. Am klarsten liegt der Fall, wo in einer schlechten Familie plötz¬ 
lich ein Engel ersteht, was freilich selten genug ist. Wie ich schon in 
einer früheren Mittheilung (9. Bd. S. 364) sagte, ist das Verhalten von 
Waisenkindern nicht so beweisend, wie das von Findelkindern, 
weil jene wohl in einem späteren Alter aufgenommen wurden und also 
genug Gelegenheit hatten, mit einem schlechten Milieu in Berührung zu 
kommen. 


4. 

Zur Psychologie der Aufmerksamkeit und des Traumes. 

In den Dresdner Nachrichten vom 7. December 1902 lese ich Folgendes: 

* Ein interessanter Fall psychologischer Sinnestäuschung 
wurde jüngst in einer Münchener Gesellschaft erzählt. Ein Brautpaar sass 
beim Mondschein im Garten. Unter irgend einem Vorwand entfernte sich 
die Braut, während der an und für sich sehr sensible und mit lebhafter 
Phantasie begabte Bräutigam in Folge der anstrengenden geistigen Thätig- 


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Kleinere Mittheilungen. 


259 


keit des Tages plötzlich in einen Zustand starker Ermüdung und bald in 
tiefen Schlaf gerieth. Da traf ihn nun ein fürchterlicher Traum: Eines 
Mordes bezichtigt, wurde er vor Gericht geschleppt und schliesslich zum 
Tode verurtheilt. Er sah alle Einzelheiten der Todesvollstreckung an 
sich vorübergehen: mit verbundenen Augen wurde er aus der Zelle 
hinausgeführt, er hörte die Verlesung des Todesurtheils, das Gebet des 
Geistlichen, fühlte sich gepackt, auf das Brett geschnallt, unter die 
Guillotine geschoben — und — in diesem Augenblicke legte die inzwischen 
zurückgekehrte Braut, um den über den Tisch gebeugt Schlafenden zu 
wecken, ihre Hand auf sein Genick, — da machte eine jähe Herzlähmung 
seinem Leben wirklich ein Ende. — In diesem Fall war nun die Wirkung 
dieser Erzählung auf die Zuhörerschaft das psychologisch Interessanteste, 
der spannende Inhalt der Geschichte hatte Alle so sehr gefesselt, dass 
Niemand auch nur einen Moment daran dachte, wie denn der ganze Fall 
uns überhaupt überliefert worden sein konnte? ■) 

Die Sache ist also, wie der Schluss genugsam zeigt, nur ersonnen. 
Trotzdem ist sie lehrreich genug und giebt hier Veranlassung, kurz zwei 
interessante Punkte zu besprechen. Fassen wir gleich das Ende an, so 
hatte Niemand gleich die Unmöglichkeit der Erzählung bemerkt. Wie ist 
das möglich? Ganz parallel dazu laufen die oft genug gemachten Er¬ 
fahrungen, dass im Theater oder in einer öffentlichen Versammlung u. s. w. 
mitten drin ganz ruhig ein Unsinn gesagt werden kann, ohne dass es 
Jemanden auffällt. Die Erklärung hierfür kann nur folgende sein. Alles 
organische Dasein verläuft nicht in einer geraden, sondern in einer Wellen¬ 
linie. Genau so auch alles Psychische und insbesondere die Aufmerksam¬ 
keit. Letztere ist nie gleichmässig angespannt, auch nicht beim am 
schärfsten Denkenden, sondern zeigt fortwährend ein An- nnd Abschwellen 
der Intensität, die bis zu wahrer Intermittenz gedeihen kann, namentlich 
bei Denkungewohnten, wie wir denn oft in einer Versammlung, im Theater 
u. s. w. genug zerstreuten Gesichtem, sogar Schläfern begegnen. Jeder 
kann dies leicht an sich im Ermüdungszustande beobachten, oder wenn ihn 
der vorgetragene Gegenstand nicht sehr interessirt. Das Gleiche wird er 
aber auch unter entgegengesetzten Verhältnissen bei gewissenhafter Intro- 
spection finden. Dieses Flutuiren der Intensität hängt offenbar mit dem 
Stoffwechsel des Centralnervensystems zusammen. Je grösser der Reiz die 
Gehirnzelle trifft — angenommen, dass hier wirklich die Denkstätte ist — 
um so mehr muss nachher eine Ermattung eintreten, mag sie auch nur 
noch so kurze Zeit und verschiedenen Grades sein, bis der Stoffwechsel 
das Verbrauchte wieder ersetzt hat und ein neuer Reiz wirksam sein kann. 
Diese Reizgrösse wird aber gerade dort am grössten sein, wo alle Kräfte 
angespannt sind, wo wir mit Affect und höchstem Interesse zuhören, also 
z. B. im Drama. Dann muss sehr bald ein Punkt kommen, wo eine Ab¬ 
nahme der Aufmerksamkeit stattfinden muss und da dieser bei den meisten 
Zuhörern eventuell synchronisch eintritt, so ereignet es sich leicht, dass 
irgend eine ungehörige Aeusserung einfach überhört ward. Dies hat aber 
nicht nur grosses psychologisches, sondern auch juristisches Interesse. Be¬ 
kannt ist, dass wenn irgend zehn Leute irgend eine Rede u. s. w. anhören 

1) Vgl. Hans Gross, Kriminalpsychologie. Graz 1S98. S. 135. 


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260 


Kleinere Mittheilungen. 


und darüber berichten sollen, in Einzelheiten oft die grössten Widersprüche 
sich zeigen. Das ist namentlich bei Zeugen der Fall. Man spricht dann 
gewöhnlich von „Verhören“. Dies ist meist falsch. Es handelt sich ge¬ 
wöhnlich um ein momentanes Versagen der Aufmerksamkeit in eben ent¬ 
wickelter Weise und die Phantasie füllt die Lücke dann durch irgend eine 
unbewusste Association aus. Ein wirkliches Verhören könnte nur statt¬ 
finden, wenn der Hörer schlecht hört oder in einem Moment der Intensitäts¬ 
abnahme ein Wort nur halb hört und die Phantasie dies sofort umgestaltet. 
Häufiger als diese zwei Fälle ist aber der Modus der später eintretenden 
Erinnerungstäuschung oder des Erinnerungsdefects. Mit diesen Vorgängen 
mu38 also der Richter rechnen! Dieses Schwanken der Aufmerksamkeit 
erklärt weiter auch die gerade beim Anhören so oft brachliegende Kritik, 
wie genugsam die Discussionen nach einem Vortrag erweisen. Man erfasst 
eben meist nur die Hauptsache — auch das nicht immer! — und manche 
Nebenpunkte, Lücken, falsche Schlüsse u. s. w. übersieht man einfach. 
Aber auch beim Lesen kann Aehnliches, wie beim Hören passiren. Man 
liest — namentlich beim schnellen Lesen — nicht jedes Wort, wie man 
nicht jeden Buchstaben buchstabirt, sondern überspringt nicht selten Worte, 
besonders in geläufigen Sätzen, und ersetzt sie sich in Gedanken selbst. 
Dadurch kann eventuell ein rechter Unsinn entstehen, den man bisweilen 
erst am Ende des gelesenen Satzes sich klar macht, und der einen zur 
Wiederholung des Satzes zwingt. Gerade wenn Kinder vorlesen, die so 
leicht zerstreut sind, werden oft Worte weggelassen oder durch andere, 
nicht hergehörige ersetzt. Bei Kindern ist also das Phänomen besonders 
deutlich. An sich strengt das Lesen die Aufmerksamkeit sicher nicht so 
an, wie das Hören, daher arbeitet sie hier stetiger und besser und es be¬ 
steht dabei schärfere Kritik. 

Der zweite interessante Punkt ist der Vorgang beim Traume. Hier 
ist in der Notiz der Traum nur ersonnen. Er könnte aber w r ohl sicher 
sich so abspielen. Man weiss, dass im Traume die ganze Scala der ver¬ 
schiedenen Affecte, wie im Wachen sich abspielen kann, ja vielleicht noch 
tiefer packend, da ja eben die Gegenvorstellungen meist abgehen. Alle 
begleitenden körperlichen Symptome wie: Angstschweiss, unregelmässiges 
Athmen, können sich einstelien, ja der Affekt kann so gross sein, dass er 
in das Wachleben übergehen, Verbrechen, Wahnideen u. s. w. erzeugen 
kann ‘). Es wäre bei sehr sensiblen, nervösen, herzkranken u. s. w. Menschen 
daher sehr leicht möglich, dass z. B. in einer erträumten Hinrichtungsscene, 
wie oben, irgend eine Berührung des Nackens den Eindruck des Richt¬ 
schwertes macht und einen tödtlichen Herzschlag durch Angstaffect erzeugt. 
Bis jetzt ist allerdings, soviel ich weiss, solches noch nie passirt, aber mög¬ 
lich ist es gewiss. Solche schwere Träume dürften aber vorwiegend nur 
Nachts, besonders nach vollem Magen, Beengtsein des Mundes u. s. w. ent¬ 
stehen, selten beim Einnicken Abends bei Ermüdung (wie oben) oder gar 
in einem Nachmittagsschläfchen. Psychologisch sind die Träume in den 
beiden letzten Fällen mit denen in der Nacht nicht ohne Weiteres zu ver¬ 
gleichen, da eben vorher noch mehr frische Eindrücke stattfanden, als beim 

1) Siche Näheres darüber in meinem Aufsatze in diesem Archiv. 3. Bd. 
Heft 1, „Die forensische Bedeutung der Träume“. 


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Kleinere Mittbeilungen. 


261 ‘ 


Nachttraum und die Kritik gewiss länger fungirt. Dadurch wird aber sicher 
Manches verändert und bei der Traumpsychologie sollten deshalb nur die 
Nachtträume berücksichtigt werden. Ja aus ähnlichem Grunde sind für den 
Psychologen auch die Träume auszuscheiden, welche entstehen, wenn man 
erst schlief, aufwachte und nach Wiedereinschlafen träumte. In der Zwischen¬ 
zeit war die Phantasie erwacht und der Trauminhalt gefälscht. Gern 
scheinen sich bei Nachmittagsträumen sexuelle Sachen abzuspielen, offenbar 
durch den vollen Magen, Blase bedingt, auch durch den Alkohol, ohne 
den manche zu Mittag nichts essen können. Hier schweigt dann die Kritik, 
weil der Traum die Sinne kitzelt. Bei schrecklichen Träumen aber bäumt 
sich gewöhnlich noch eine Portion Kritik dagegen auf, so dass man der 
Sache skeptischer gegenüber steht und dann weniger stark mitgenommen 
wird, als wenn es Nachts geschieht, wo die Kritik meist auch schläft Auf 
alle Fälle haben aber die Traumpsychologen auf die Verschie¬ 
denheiten des Traumes Nachts oder am Tage bisher nicht 
geachtet. 


5 . 

Merkwürdige Untersuchungen über die Kraft der Urin¬ 
blase. Der ausgezeichnete englische Psycho-, Socio- und Kriminalanthro- 
polog Havelock-EUis veröffentlichte im American Journal of Dermatology 
(März 1902) eigentümliche Untersuchungen über die Blasenkraft. Bekannt 
ist, dass die Blase fortwährend sich bewegt und so zum echten „Spiegel 
der Seele“ wird, mehr als das Auge u. s. w. Die eigentliche Kraft aber 
maass Verf. an der vom Urinstrahl erreichten Entfernung von den Fuss- 
spitzen. Im Ganzen steigt die Kraft mit den Tagesstunden, doch ist ein 
täglicher Rhythmus fraglich; sicher aber ist ein wöchentlicher (wie auch 
bei den Pollutionen) und nach den Jahreszeiten (Maximum im August) vor¬ 
handen. Viele äussere Momente wirken mit; die deprimirenden wirken 
weniger als die reizenden. Das Seebad erhöht den Druck, auch das Ein¬ 
tauchen der Hand in kaltes Wasser, ebenso Spaziergänge, besonders aber 
geschlechtliche Erregungen. Bei einer Frau fand sich, dass die Wurfkraft 
noch grösser war, w'ie beim Mann. In der Kindheit ist sie stets grösser, 
als später. Da die Frau im Stehen oder Sitzen meist unter sich pisst, der 
Mann im Bogen, so kann die Harnspur gerichtsärztlich unter 
Umständen wichtig werden. —Diese Versuche sind, meint Ref., hoch¬ 
interessant. Freilich sind sie immerhin noch sehr roh, da die Aufmerksamkeit 
und Autosuggestion dabei nie auszuschliessen waren, und vor allem nie bekannt 
war, in welchem Füllungszustand sich die Blase befand, was doch von funda¬ 
mentaler Bedeutung ist. Besser — beim Manne freilich bedeutend schwieriger — 
wäre es vielleicht, das Maximum von Druckkraft an einem eingeführten Plethys- 
meter zu messen, wobei allerlei Reize wirken könnten. Hier würde man 
dann von der Urinmenge absehen und stets einen bestimmten Inhalt der 
Kautschukblase vor sich haben. Auch wäre besondere auf die interessante 
Einwirkung der Musik zu achten, die Ellis leider nicht untersucht Be¬ 
kannt ist ja, wie man Kinder und Pferde durch Töne leichter zum Harnen 
bringt, offenbar, weil sie als angenehmer Reiz wirken. 


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262 


Kleinere Mittheilungen. 


6 . 

Paradoxe Wirkung der Pubertät. Autonini und Carini 
beschreiben nach einem Ref. im Internationalen Centralbl. für Antkropol. u.s.w. 
1902, S. 336) eine mikrocephale Idiotin, deren Hirngewicht nur 372,0 be¬ 
trug und interessante Details am Schädel und Gehirn aufwies. Das Be¬ 
merkenswertheste ist aber der Umstand, dass die mit 20 Jahren Verstorbene 
als Kind wild, fast thierisch, mit verbrecherischen Neigungen behaftet sich 
zeigte und nach eingetretener Geschlechtsreife das Gegentheil ward: züch¬ 
tig, reinlich, ordnungsliebend. Das ist im höchsten Grade auffallend und 
geradezu paradox! Man weiss, dass die Geschlechtsreife schon für den Nor¬ 
malen eine Klippe, eine gewisse Gefahr darstellt. Noch viel mehr aber 
bei dem Entarteten, Desequilibrirten. Viele Fälle sogenannter Moral insanity 
treten erst nach der Geschlechtsreife deutlich in die Erscheinung und 
dort beginnt das eigentliche jugendliche Verbrecherthum. Auch ent¬ 
schieden geistige und intellectuelle Minderwerthigkeiten werden nach dieser 
Zeit deutlicher, ebenso wie auch gewisse krankhafte körperliche Anlagen dann 
zu Krankheiten erst auswachsen. Physiologisch ist dies ja auch ganz erklärlich. 
Sehr schwer dagegen der umgekehrte Vorgang, wie in obigem Beispiele. 
Wir können uns dann nur vorstellen, dass nicht unheilbare anatomische 
Verhältnisse dem ursprünglichen Charakter zu Grande lagen, sondern nur 
gewisse zeitweise Hemmungen, die durch den um die Zeit der Pubertät ein¬ 
tretenden, so überaus regen Stoffwechsel behoben wurden. Aehnliches sieht 
man bisweilen auf der Schule, wo bei einem ,,Dummen“ plötzlich „der 
Faden reisst“ und der Kopf heller wird. Dies zeigt sich auch manchmal 
bei scheinbaren Idioten, die eines Tages als Pseudoidioten sich entpuppen 
und fast normal werden. Freilich ist dadurch zunächst nur die Intelligenz 
betroffen; die Moral wird aber häufig auch mit berührt, da zwischen beiden 
entschieden ein gewisser Zusammenhang besteht. In unserem obigen Bei¬ 
spiele erscheint aber nur die Moral verändert. 


7. 

Mithilfe des Publicums bei Erkennung gewisser Ver¬ 
brecher. Eine sehr nachahmenswerte Einrichtung ist soeben in Dresden 
getroffen worden, wie uns in Folgendem die Dresdener Nachrichten vom 
13. December 1902 berichten: 

Seitens der Kriminalabtheilung der Königl. Polizeidirecdon ist eine neue, 
beachtenswerthe, den Kriminaldienst erleichternde Einrichtung getroffen worden. 
Im Hauptportal des Königl. Polizeigebäudes, Schiessgasse 7, ist an der linken 
Seite ein Schaukasten mit Photographien verschiedener Personen angebracht 
worden. Die ausgestellten Abbildungen sind meist in Haft befindliche, ge¬ 
meingefährliche Individuen, die über ihre Person zweifelhafte Angaben ge¬ 
macht haben, um das begangene Verbrechen zu verdecken. Ausser diesen 
Abbildungen sind noch Photographien von aufgefundenen Todten, deren Per¬ 
sönlichkeit sich nicht feststellen Hess, ausgestellt worden. Der Schaukasten 
ist für Jedermann zugänglich. Wer Auskunft zu geben vermag, wolle das 
der Kriminalpolizeiabtheilung, 1. Stock, Zimmer 37, melden. Die neue Ein¬ 
richtung, welche sicher vom Publicum Unterstützung finden wird und dazu 


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Kleinere Jlittheilungcn. 


263 


beitragen dürfte, gemeingefährliche Personen festzustellen, ist vom Vorstand 
der Kriminalabtheilung, Herrn Oberregierungsrath Köttig, in’s Leben gerufen 
worden. 

Es ist also eine Art Morgue, aber auf Lebende bezogen. Freilich 
werden nur relativ wenig Personen dort passiren und die Schaukästen be¬ 
sichtigen. Besser wäre es gewiss, Letztere an verschiedenen Punkten der 
Stadt, wo die Meisten verkehren, also besonders an deu Kreuzungspunkten 
von Strassen und an den Hauptplätzen aufzustellen. Zu erwägen wäre 
endlich noch, ob ein zeitweises Veröffentlichen der Verbrecherbilder in den 
gelesensten Zeitungen sich nicht empfehlen dürfte. Bei der heutigen Technik 
sind solche Zinkogravüren, die ganz roh sein könnten, billig herzustellen, 
wie gewisse, täglich illustrirt erscheinende Tagesblätter zu beweisen scheinen. 
Jedes Mittel, das in das Dunkel zweifelhafter lebender oder todter Persön¬ 
lichkeiten Licht zu verbreiten vermag, muss willkommen geheissen werden. 


8 . 

Nochmals: Pro und contra Todesstrafe. Von Medicinalrath 
Dr. P. Näcke in Hubertusburg. Loh sing hat in seinem Aufsatze über 
Todesstrafe und Standrecht (dies. Archiv, X. Bd. S. 305 ff.) so lichtvoll seine 
Argumente gegen die Todesstrafe vorgebracht, dass er mich beinahe zu 
seinem Standpunkte bekehrt und aus mir, dem Saulus, einen Paulus gemacht 
hat. Freilich, sage ich, beinahe! Ich nehme voraus, dass bei mir der „Affect- 
werth“ in dieser Sache auf ein Minimum gesunken ist, da man das von 
einem vorurtheilslosen Gelehrten verlangen muss und wie ich das schon oft 
betont habe. Sonst ist überhaupt eine Verständigung unmöglich und alle 
logischen Gründe prallen von dem Panzer der Affectlage wirkungslos ab. 
Eine von Lohsing's Hauptargumenten ist die Besserungsmöglichkeit der 
Verbrecher, und er giebt dafür sogar Beispiele, ohne uns leider zu sagen, 
ob sie zu jener Gruppe der kaltblütigen Mordbuben gehören, die ich allein 
im Auge hatte. Für die meisten anderen Mörder — von Affectverbrechem 
abgesehen —, welche zu Penta’s „Primitiven“ gehören, gebe ich die 
Besserungsmöglichkeit ohne Weiteres zu. Für Jene dagegen ist mir die 
Sache mehr als fraglich und was man von der Besserung schwerer Ver¬ 
brecher im Allgemeinen zu halten hat, wissen die Gefängnissdirectoren am 
besten und die Erfahrungen auf Sachalin, in Sibirien u. s. w. bestätigen es 
nur. Ich kann mir nicht helfen, ich muss bekennen und Lohsing wird 
mich entschuldigen, dass ich für solche traurige Mordbuben kein Mitleid ver¬ 
spüre und sie wie giftiges Gewürm niedertreten möchte, da sie ihrer Qua¬ 
lität als Mensch völlig entsagten. Es mag dies eine Art „Atavismus“ des 
Gefühls sein, noch ein Stück des aus talionis, aber so wie ich fühlen gewiss 
viele andere auch. Doch lassen wir dies auf sich beruhen! 

Ich muss Lohsing durchaus Recht geben, dass die Strafe in jeglicher 
Gestalt abschreckend wirkt und dies Moment habe ich leider entschieden 
unterschätzt. Schon dass die Verbrecher in den seltensten Fällen sich frei 
dem Gericht stellen, sondern die Strafe durch Flucht u. s. w. abzuwenden 
suchen, ist, meine ich, ein hinreichender Beweis für die Abschreckung und 
Furcht. Dies wird auch so bleiben, wenn wir mit der neuen Schule die 

Archiv für Kriminalanthropolofpe. XI. IS 


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264 


Kleinere Mittheilungen. 


Strafe einfach nur als „socialen Schutz“ betrachten und gerade die daraus 
fHessende Strafe auf unbestimmte Zeit dürfte noch mehr abschreckend wirken 
als die jetzigen Strafen. Ich bedaure, dass Lohsing nicht auf die wich¬ 
tige theoretische Frage eingegangen ist, ob der Staat ein Recht hat, 
eventuell die Todesstrafe zu verhängen, wie ich es glaube. Doch ist dies 
selbstverständlich eine rein juristische Sache, in der ich nicht mitreden darf. 
Wenn ich von „Justizmorden“ an irren Verbrechern sprach, so sollte dies 
Wort natürlich nur im volkstümlichen, nicht im juristischen Sinne ge¬ 
meint sein. 

Bezüglich der Guillotine sind die paar Fälle, welche Loh sing erwähnt, 
wo die Sache nicht klappte, den Tausenden wohlgelungener Hinrichtungen 
gegenüber kaum in Betracht zu ziehen und sie lassen die Guillotine trotzdem 
als die einfachste und wenigst grausame Art der Hinrichtung erscheinen. 
Wir preisen auch die Chloroformäthernarkose als die beste Art des Narko- 
tisirens, trotzdem auch hier immer noch Unglücksfalle Vorkommen. Was die 
„Elektro-Execution“ anbetrifft, so will ich hier der Kuriosität halber erwähnen, 
dass Hughes 1 ) die Guillotine deshalb bei schweren Verbrechern vorziehen 
möchte, weil sie das Gehirn, das, wie er mit Recht verlangt, in jedem Falle 
genau untersucht werden sollte, nicht so schädigt, wie die Elektro-Execution. 
Das könnte sich aber doch nur auf mikroskopische Veränderungen in den 
Nervenelementen beziehen. Bis jetzt haben wir immer noch relativ recht 
wenig genau untersuchte Verbrechergehime. Das aber lässt sich schon jetzt 
sagen uud ein Blick auf die Verbrechergehirne Benedikts beweisen dies 
schlagend — dass nämlich hier zwar nichts Specifisches sich vorfindet, 
wohl aber viel mehr Anomalien aller Art an den Gehirnwindungen, ferner ab¬ 
norme Lagerungen der Zellen, der Gefässe n. s. w., als an den der Nor¬ 
malen, genau dem Verhalten der häufigeren sogenannten Entartungszeichen 
entsprechend. Diese gröberen Verhältnisse schon — wahrscheinlich bestehen 
auch feinere mikroskopische, die bis jetzt aber nicht näher untersucht wurden 

— werden durch die Eleetro-Exeeution nicht geändert. Wenn aber jene 
abnormen Verhältnisse bei schweren Verbrechern so überaus häufig zu sein 
scheinen, so folgt daraus, dass auch die Disposition zum Verbrechen mehr 
(»der minder angeboren sein muss, ohne dass man deshalb Lombroso's 
„geborenen“ Verbrecher anzunehmen braucht. Denn selbst bei der grössten 
Disposition ist ein Verbrecher-sein-müssen nicht ohne weiteres zuzugeben. 
Aber schon bei Affektverbrechern müssen wir eine gewisse Disposition an¬ 
nehmen, wenn auch eine nur geringe, mehr bereits bei den „Primitiven“. 
Ist nun, wie ich glaube, bei den schwersten Verbrechern eine mehr oder 
minder grosse Anlage zum Verbrecherthum vorhanden, so würde daraus 
logisch — auch wenn es sich nicht um eine eigentliche Psychose handelt 

— ein neu es Argument gegen die Todesstrafe angeben. Dafür würde 
dann nur der grössere sichere sociale Schutz reden. Es ist weiter wohl 
einleuchtend, dass, je schwerer die Anlage ausgefallen ist, um so weniger 
Hoffnung auf Besserung vorhanden ist und das eben scheint bei Jenen be¬ 
sonders der Fall zu sein, die ich im Auge habe. 

Gering möchte ich das von Lohsing angeführte Verrohungsmoment 

1) Hughes, Medical aspeets of the Czolgosz case. Tlu* Alienist ad Neu¬ 
rologie. 1902. No. 1. 


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Kleinere Mittheilungen. 


265 


bei intramuraler Hinrichtung anschlagen. Es sind stets nur wenige Zuschauer 
da und nur Gebildete und nie habe ich gehört, dass diese dadurch in ihrer 
Moral geschädigt worden sind. Manche treibt ein rem wissenschaftliches 
Interesse hin. Das Uebrige sind Juristen und Journalisten. Letztere sollten 
allerdings principiell nie über den letzten Act im Leben eines Verbrechers 
berichten, da solche Berichte entscliieden nur der gemeinen Neugier und dem 
Eitzel nach Grausamen, das mehr oder weniger in jedem ruht, dienen. 
Einen Punkt, den ich nur berührt habe, hätte ich endlich gern von dem 
erfahrenen und viel belesenen Juristen Lohsing näher besprochen gesehen. 
Vielleicht thut er es nächstens einmal! Ich meine nämlich, wie es sich mit 
der von vielen Kriminologen und Juristen getheilten Ansicht verhält — die 
auch mir sehr sympathisch ist —, dass die Kriminalität im grossen Ganzen 
stets gleich bleibt und nur ihre Formen wechseln. Man will im Allgemeinen 
nur beobachtet haben, dass mit der Civilisation die Verbrechen gegen die 
Pereon ab-, die gegen das Eigenthum zunehmen. Und hier kommen wir 
dann auf die fundamentale Frage: Hebt die Civilisation das ethische Niveau 
der Menge oder nicht? Manche bejahen, andere verneinen es. Ich glaube, beide 
haben Recht. Sie kann die Moral, heben, muss es aber nicht. EYeilich 
sind das alles nur Muthmassungen und stricte Beweise pro oder contra sind 
bisher nicht vorgebracht worden und können es vielleicht auch nie werden. 

Nachtrag. Penta wirft in einer kürzlich erschienenen Arbeit (Pagine 
retrospettive. La pena di morte a Firenze dal 1328 al 1759 in Rivista 
mensile di psiclx. for. etc. 1903, p. 1) interessante historische Streiflichter 
auf die Todesstrafe. Es zeigt sich, dass überall zuerst der Dieb mit Tod 
bestraft wird, dann der Ehebruch der Frau, an dritter Stelle erst der Mord. 
Wie der Diebstahl wurde auch die Falschmünzerei bestraft. „Es steht also 
historisch fest“, sagt Verf., „dass die Todesstrafe eine Waffe der Tyrannei 
war und es noch ist“. Letzteres, in der Beschränkung der Todesstrafe, die 
ich wollte, ist es aber sicher nicht, sondern vor allem ist es die Sicherheit, 
die es wünschenswerth macht. Der Schluss des Verf., dass die Todesstrafe 
nicht abschreckt oder nur wenig, weil schwere Verbrecher sich dadurch nicht 
abhalten lassen, ist, wie ich jetzt zugebe, falsch, da sicher die meisten 
sich durch die Todesstrafe gewiss von schweren Verbrechen abhalten lassen. 
Dies gilt auch von jeder Strafe, auch dann, wenn sie als „socialer Schutz“ 
in Elinsperrung auf unbestimmte Zeit verwandelt wird, was für die Mehr¬ 
zahl der Verbrecher noch abschreckender wirken wird, als die früheren fest¬ 
gesetzten Strafen. Penta beklagt sich endlich an anderer Stelle (S. 69), 
dass Lohsing in seinem 2. Aufsatze nur deutsche Autoren angeführt habe, 
nicht aber die positive italienische Schule. Das, was von der letzteren für 
die Todesstrafe wichtig erscheint, habe ich in meiner Arbeit erwähnt, dass 
nämlich kranke Personen selbstverständlich nicht gerichtet werden sollen. 
Stellt man sich freilich auf den Standpunkt der Ultra-Lombrosianer, dass 
nämlich jeder Verbrecher krank ist, dann ist jede Todesstrafe Frevel. Der 
Grosskophta der Schule, Lombroso, erkennt aber trotzdem für gewisse 
Fälle, die sich ungefähr mit den meinigen decken, die Berechtigung der 
Todesstrafe an. Und Penta selbst hält ja seine grosse Classe der „Primi¬ 
tiven“ auch nicht für eigentlich krank. Wenn wir, was wohl das einzig 
Richtige ist, das Gros der Verbrecher als geistig zurechnungsfähig halten, 
so würden vom psychiatrisch-forensen Standpunkte, den ja gerade immer die 

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266 


Kleinere Mittheilungen. 


positive Schule betont, gegen Anwendung der Todesstrafe in gewissen Fällen 
kaum etwas einzuwenden sein. Bezflglich der von Lohsing hervorgehobenen 
Verrohung der zuschauenden Personen bei einer Hinrichtung, die ich, wie 
gesagt, bei der jetzigen Handhabung der Sache für sehr gering halte, will 
ich hier einen wohl einzig dastehenden Fall von Irrsinn nach Zuscbauen 
einer Hinrichtung der Curiosität halber erwähnen. Die Notiz, welche ich 
den Dresdener Nachrichten vom 20. März 1903 entnehme, lautet so: 

Zu einer in Olmütz vollzogenen Hinrichtung eines Mörders hatte sieb 
der Gemischtwaarenhändler Joseph Sadel eine Eintrittskarte verschafft, um 
den grausigen Act anzusehen. Er wurde durch die Hinrichtung so unge¬ 
mein aufgeregt, dass er irrsinnig wurde. Als er das Gerichtsgebäude Ver¬ 
liese, begann er sich höchst aufgeregt zu benehmen und schrie unaufhörlich, 
dass er gemordet habe und auch gehängt werden solle. Von diesem Ge¬ 
danken konnte er sich nicht mehr befreien und musste schliesslich der ärzt¬ 
lichen Beobachtung übergeben werden. 


• 9. 

Aerztliche Untersuchung der Heiratbskandidaten. Wie 
ich einer Notiz der Archives d’anthropologie criminelle u. s. w. 1903, 
S. 757 entnehme, müssen im Staate Dakota die Personen, die sich zu 
ehelichen gedenken, gesetzlich durch eine Jury von Aerzten auf so¬ 
matische oder geistige Fehler sich untersuchen lassen. Dies scheint ein 
ganz neues Gesetz zu sein und sein Ziel ist ein durchaus würdiges: das 
Volk so viel als möglich vor Entartung, Noth und Elend zu schützen. 
Freilich fürchte ich, dass das Ganze mehr auf dem Papier steht und dass 
sich genug Mittel und Wege werden finden lassen, um dem Gesetze ein 
Schnippchen zu schlagen, besondere im Lande des Dollars. Das Experiment 
ist aber auf jeden Fall interessant und wenn es, wie ich fürchte, fehlschlägt, 
so wird es doch sicher zunächst in Amerika noch weitere Versuche zeitigen, 
die, immer besser angestellt, vielleicht doch in erreichbarer Weise dem 
Ziele näher kommen. Schon der ausgezeichnete Brauch, der sich dort immer 
mehr und mehr einbürgert, dass nämlich von den Verlobten eine 
frisch abgeschlossene Lebensversicherung verlangt wird, 
die also eine medicinische Untersuchung voraussetzt, ist ein gutes Auslese¬ 
mittel, wenngleich dadurch auf der anderen Seite, wie Penot (Evolution 
du Mariage et Consanguinitö. Thöse de Lyon 1902) richtig bemerkt, die 
Zahl der Ehen, die jetzt schon abnimmt, noch mehr zurückgehen dürfte. 
Eine gewisse, auslesende Wirkung, in moralischer Hinsicht wenigstens, übt 
bei uns das Erforderniss des Heirathsconsenses im Heere und bei gewissen 
Beamtenkategorien aus. Interessant ist endlich der Umstand, dass im 
Lande der fast absoluten Freiheit Bills vorgebracht und sogar durchgebracht 
werden, die der persönlichen Freiheit des Einzelnen am schärfsten entgegen¬ 
treten. Ich erinnere hier an die verschiedenen Bills bez. der Castration ge¬ 
wisser Entarteten '), von denen eine bei einem Haare in einem Staate durch- 

1) Siehe hierbezüglich meine ausführliche Arbeit im 3. Bd. dieser Zeitschrift. 
Prof. v. Eh ren f e 1 d spottet zwar (Zuchtwahl und Monogamie. Politisch.anthropol. 
Revue. 1903. Nr. 2) über die „wohlwollenden Sanitätsräthe“, die „Züchtungs¬ 
erwägungen auf monogamische Eheschlüsse“ Vorbringen; die Amerikaner werden 
hoffentlich den Professor vielleicht eines Besseren belehren! 


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Kleinere Mittheilungen. 


267 


ging. Sicher werden diese und andere Anträge immer wiederkomraen, ver¬ 
bessert werden und einmal wirklich praktisch durchführbar sein, während 
das alte Europa solche angebliche Utopien nur belacht und erst, wie so 
häufig, Dezennien braucht, um das Gute aus Amerika sich anzueignen. 


b) Von Dr. Hans Schukowitz. 


10 . 


Galgenbriefe. Im Frank’schen Onomastikon aus dem Jahre 160-1 
findet man unter Anderem auch das damals geläufige Sprüchwort verzeichnet: 
Einem einen Galgen an’s Haus malen, will sagen: Der Hausinhaber gehört 
an den Galgen. Es bestand in der That um die Mitte des 17. Jahrhunderts 
in Deutschland und bei uns in Oesterreich die Unsitte, dass fahrendes Volk, 
nicht selten auch ein friedlicher Nachbar, dem oder jenem im Dorfe ein 
„Mordinstrument“ an die Wand malte. Später wurden eigene Formularien, 
Galgenbriefe genannt, von den Brief malern gedruckt, in die der Name 
des „Angeschwärzten“ eingesetzt wurde und die dann heimlich an dessen 
Hausthor oder Fensterladen geklebt wurden. Auch Wilhelm Stricker 
kennt diese Galgenbriefe. (Zeitschrift für deutsche Kulturgeschichte. Neue 
Folge II. Jahrg. 1873, S. 254 f.). Mir sind nun etliche solcher Drucke be¬ 
kannt geworden. Sie zählen heute zu den typographischen Seltenheiten und 
werden, wie die „Nürnberger Antiquitätenzeitung“ unlängst gemeldet hat, 
von Liebhabern mit 20—30 Mark per Stück bezahlt. Die zwei Exemplare, 
welche ich hier kurz beschreibe, sind in alte lateinische Codices der k. k. 
Universitätsbibliothek in Graz eingeklebt. Es sind schlichte Einblattdrucke 
in flüchtigen Schwabacher- und gothischen Typen. Bei einem umrahmt 
eine magere Holzschnittbordüre in nachlässiger Ausführung den kurzen Text. 
Das Papier ist dünn und brüchig, das Wasserzeichen des einen, ein ge¬ 
schlängelter Aal, verweist auf eine Nürnberger Officin. Die Grösse dieser 
Flugblätter wechselt zwischen 15—20 cm Höhe und 10 —15 cm Breite. 
Textlich stehen sich diese beiden Blätter ziemlich nahe. Nach der Schreib¬ 
weise und Sprache müssen wir sie in die Mitte des 17. Jahrhunderts zurttck- 
datiren. Auch dürften sie ziemlich sicher in bayrischen Orten gedruckt 
worden sein. Die beiden Texte lauten: 1. Derweilen N. N. widerrecht und 
sazzung wucherzins urgieret, arme leuth, als da seind handtwerckher, pfeiffer 
und adterlasser an die Schwellen setzet und ein böss Kebbsweib zuehelt, so ge¬ 
hört er an das Dreiholz („Dreibeinige Tier“, Rotier zu Spiegelberg in Schiller’s 
„Räubern“). Wer am Galgen vertrocknen soll, der ersäufet nit im Wasser. 

2. N. N. treibet unzuechten, stielt von der andern guth rückhet den 
Marstein (Grenzstein), schwöret falsch und führet Trügerisch maass und 
Waagen, also soll er an den Galgen und an das Radt. Gifft ist im nitt 
von nöthen. 

Beiden Briefen sind dann zum Schlüsse handschriftliche „Mordbrenner¬ 
zeichen“ beigefügt, die wohl das Signum der Ankläger bedeuten dürften. 



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268 


Kleinere Mittheilungen. 


Gegen diesen Rachebrauch in jener Zeit ist offenbar das Kölner Raths- 
edict vom Jahre 1652 gerichtet: Als wir hinbevor aus wichtig Ursachen 
und billiger Bewegniss den bössen Unfug verbothen, dass unterschiedlich 
Landstreicher und Vagabundi an Thor und Thür unser Bürger und Ein¬ 
gesessenen Feuer zette 1 und Galgenbriff anheften aus Rach und Teuffel¬ 
listen, so haben wir mit Trommelschlag anjetzo publizieren lassen, dass 
unser Stichmeister bei offenem Tag und nächtlich Zeitten solch Gesindel 
gefänglich verstricken und auf unser Thürme führen, bis solang von uns 
ein Arbiträr-Straff, Strafpfahl und Karrenschieben, ihnen erlassen werde. 
(Kriegk, Deutsches Bürgerthum im Mittelalter, 1868, S. 226). Die Galgen¬ 
briefe gehören ohne Zweifel in die Kategorie der Drohbriefe (Brandbriefe), 
die für den Kriminalisten von Werth und Interesse sind. 


c) Von Ernst Lohsing. 


11 . 

Stimmungsmacherei durch Ansichtskarten. Im Oktober 1902 
w urden mehrere Ausschussmitglieder der Wenzelsvorschusskassa in Prag in 
Untersuchungshaft genommen unter dem dringenden Verdachte, seit einer 
Reihe von Jahren Defraudationen begangen, bezw. ermöglicht zu haben, als 
deren Höhe man die Summe von ca. 14 000 000 Kr. ermittelt hat. Als die 
Hauptschuldigen sieht man den Geistlichen Drozd und einen gewissen Ko- 
hout an. „Drozd“ heisst auf deutsch „Drossel“, „Kohout“ = „Hahn“. Der 
Ansichtskartensport benützte dies, Karten in Verkehr zu setzen, deren Bild 
einen wohlversperrten Käfig darstellte, in dem sich ein Hahn und eine 
Drossel befanden, die mit „Drozd“ und „Kohout“ bezeichnet waren. Dieser 
Witz war zwar nicht schlecht, aber — man verzeihe das harte Wort — 
gemein und dies aus mehreren Gründen. Fürs erste sind Namenswitze 
stets die ordinärsten, weil bei ihnen jemand dem Gespötte ausgesetzt wird 
aus einem Grunde, an dem er thatsächlich unschuldig ist; denn für seinen 
Namen kann man niemanden verantwortlich machen. Fürs zweite war 
diese Ansichtskarte, welche übrigens die verschiedensten Variationen erlebte, 
die alle reissenden Absatz fanden, gemein aus dem Grunde, weil thatsäch¬ 
lich -— sehr gelinde gesprochen — gar kein grosser Muth dazu gehört, 
über Leute, die sich in Untersuchungshaft befinden, in solcher Weise her¬ 
zufallen ; denn gegen derartige Angriffe ist der Untersuchungshäftling aller¬ 
dings wehrlos, aber ehrlos macht ihn die Untersuchungshaft nicht. Auch 
der Untersuchungshäftling steht unter dem strafrechtlichen Schutze des§ 491 
des österreichischen Strafgesetzes, dem zu Folge eine Ehrenbeleidigung be¬ 
geht, „wer einen Andern öffentlich oder vor mehreren Leuten, in Druck¬ 
werken, verbreiteten Schmähschriften, oder bildlichen Darstellungen 
von was immer für einer Art, es sei namentlich, oder durch auf 
ihn passende Kennzeichen, ohne Angabe bestimmter Thatsachen, 
verächtlicher Eigenschaften zeiht, oder dem öffentlichen Spotte aus¬ 
setzt.“ Allerdings gestattet der 2. Abs. des §491 StGB, dem Schmähen¬ 
den, „um straflos zu werden, die Wahrheit seiner Angaben zu beweisen“; 
jedoch im vorliegenden Falle trifft dies nicht zu, da der Beweis, dass Leute, 
die Drozd und Kohout heissen, eine Drossel und ein Hahn sind, unmög- 


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Besprechungen. 


269 


lieh und strafprocessual ebenso unzulässig ist, wie wenn man einen minder 
intelligenten Menschen mit einem anderen der Zoologie entnommenen Namen 
belegt. Das eine muss man den Produzenten dieser Karten freilich lassen: 
Schlecht spekulirt haben sie nicht. Die Karten fanden reissenden Absatz; 
eie wurden auch seitens solcher Personen verkauft, die gewerberechtlich 
hierzu gar nicht befugt waren. Wer in den Oktobertagen 1902 durch die 
Strassen Prags ging, konnte den massenhaften Andrang des Publikums vor 
den verschiedenen Verkaufsstellen dieser Karten wahrnehmen; der konnte 
die Leute aber auch in mitunter recht derber Art auf die czechisch-kleri- 
kale Partei schimpfen hören. Und dennoch! Man braucht weder czechisch 
noch klerikal zu sein, um zuzugeben, dass einerseits für das Individuum 
nie eine Gesaiumtheit verantwortlich gemacht werden darf, andererseits eine 
Betrachtung der grossen Defraudanten der letzten Jahre lehrt, dass die 
Bekenner verschiedener Konfessionen und die Vertreter verschiedener Stände 
dies einträgliche Handwerk betreiben. Aber noch eines kommt in Befracht: 
Diese Ansichtskarten waren in aller Händen, wurden auf der Strasse, in 
Gast-, Kaffee- und Privathäusern besprochen und haben auf diese Weise 
auch auf die Stimmung der öffentlichen Meinung gewirkt, derselben öffent¬ 
lichen Meinung, deren ausgeloste Vertreter von der Geschworenenbank aus 
die Schuldfragen zu beantworten haben werden. Weit davon entfernt, zu 
behaupten oder auch nur zu glauben, dass die intelligenten Geschworenen 
der Hauptstadt siel» dem auf die öffentliche Meinung ausgettbten Drucke 
fügen werden, lässt sich doch nicht in Abrede stellen, dass hier ein Druck 
versucht wurde. Darum ist es anerkennenswert!!, dass die politische Behörde 
als Gewerbebehörde den Verkauf dieser Ansichtskarten eingeschränkt hat. 
Bemerkt sei, dass auf einigen dieser Ansichtskarten die Angabe des Druck¬ 
ortes, des Druckers und des Verlegers fehlte, was eine Übertretung des 
§ 9 des österreichischen IVessgesetzes ist. 


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Besprechungen. 


a) Bücherbesprechungen von Näcke. 

I. 

Baer, Ueber die Trunksucht, ihre Folgen und ihre Be¬ 
kämpfung. Die deutsche Klinik am Eingänge des 20. Jahr¬ 
hunderts. Berlin, Wien, Urban und Schwarzenberg 1902, 
71 Seiten. 

Wenn der Altmeister in Alkoholfragen wieder das Wort ergreift, so 
ist damit schon eo ipso gesagt, dass die Arbeit eine ausgezeichnete sein 
muss. Und sie ist es in der That. In grossen Zügen schildert uns Ver¬ 
fasser die physiologische und pathologische Einwirkung des Alkohols, die 
deletären Folgen desselben fiir das Individuum und das Volk, den Nieder¬ 
gang der Familie und der Nachkommenschaft, des Nationalwohlstandes, und 
bespricht endlich die verschiedenen dagegen empfohlenen Mittel. Sein 
Resuin£, dem sicher die Meisten nur zustimmen werden, lautet heribo B ttgli e h t 
r ... so gross auch der Erfolg zu sein scheint, so wenig halten wir das 
Enthaltsamkeitsprincip für dasjenige, was geeignet ist, die Trunksucht in 
einem Lande dauernd zu beseitigen oder auch nur wesentlich zu ver¬ 
mindern.“ Wie alle Fanatiker, so gehen sicher die Abstinenzler zu weit 
und werden ihr Ziel nie erreicht sehen! Nur eine vernünftige Einschränkung 
des Alkohols vermag zu nützen. Sehr richtig sagt Baer weiter: „ ... soll 
man deshalb den mässigen Alkoholgenuss verbieten, weil der unmässige 
schädlich und verderblich ist! . . . aber auch der massige Alkoholgenuss 
ist für viele Menschen ohne jeden Nachtheil und auch von unleugbarem 
Werth in verschiedenen Lebensverhältnissen und im Kampf im modernen 
Leben.“ Mit dem letzten Satze steht es allerdings im Widerspruch, wenn 
er früher sagt, dass auch nach täglich genossenen mässigen und kleinen 
Alkoholmengen früher oder später überall pathologische Organveränderungen 
sich einstellen. Das müsste erst bewiesen werden und ist sogar wenig wahr¬ 
scheinlich. Unter den Hunderten von Spitalleichen, bei denen Leber und 
Nieren, Herz gesund waren, ist gewiss ein ziemlicher Theil von solchen, die 
im Leben täglich ein mässiges Quantum Alkohol ohne Schaden für sich und 
ihre Organe nahmen. Einen grossen Werth legt Verfasser mit Recht auf 
Klarlegung des Alkoholschadens besonders in Schulen, auf Nüchternheit be¬ 
sonders der Beamtenwelt auch im Heere und in der Flotte, Bestrafung der 
öffentlichen Trunkenheit, Abschaffung der Trinksitten und Schaffung von 
Trinkerasylen. 

Noch einige weitere Punkte wollen wir anführen, wobei uns der ge¬ 
ehrte Verfasser einige kleine Meinungsverschiedenheiten nicht verübeln mag. 


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Besprechungen. 


271 


Leider giebt er uns keine Definition des „Trinkens“ im eigentlichen Sinne. 
Wie der Verein deutscher Irrenärzte s. Zt. richtig hervorhob, ist ein Trinker 
nur ein solcher, bei dem physisch und psychisch Zeichen des chroni¬ 
schen Alkoholismus nachweisbar sind. Vorher kann man einen solchen 
zwar vermuthen, nicht aber beweisen, sageich. Selbstverständlich gehen 
die Abstinenzler hier viel zu weit, indem sie womöglich Jeden für einen 
Trinker ansehen. Die Toleranz gegen Alkohol hängt eben von vielen Um¬ 
ständen ab. Mit Hecht betont Verfasser, dass, wenn auch der Alkohol die 
Hauptgefahr bildet, doch namentlich noch andere Substanzen, besonders der 
hochwerthige Amylalkohol wichtig ist und früher und schneller zum 
chronischen Alkoholismus führt. Dies wichtige Moment vergessen nur zu 
leicht die rabiaten Alkoholgegner und alberner Weise behauptete mir 
gegenüber Forel, Bier und Wein wären ebenso gefährlich wie Schnaps 
und enthalten ebensoviel Amylalkohol u. s. w.! Das ist absolut falsch! 
Zunächst kommt es doch auf die gleiche Alkoholmenge an, die Einer trinkt. 
Nun wird diese sicher beim Schnapstrinker meist eine grösser^ sein als beim 
Bier- und Weintrinker. Es ent hält aber der Schnaps ausserdem den so ge¬ 
fährlichen Amylalkohol, den Bier oder Wein nich t oder nur in ver¬ 
schwindender Menge enthalten, obgleich Forel mir weiss machen wollte, 
sie enthalten ebensoviel. Daraus geht hervor, dass cet. par. der Schnaps 
gefährlicher ist als Bier und Wein. Beim Absinth ist weiter be¬ 
kannt, dass das Absin thöl unendlich viel gefährlicher ist als der Alkohol 
und nach Magnan an den so früh schon auftretenden Krämpfen allein 
die Schuld trägt Mit Recht betont Baer, dass Alkohol „zu einem 
der wichtigsten und einem häufig lebensrettenden Heil¬ 
mittel“ gehört, was jeder Praktiker trotz Abstinenzler nur bekräftigen 
wird. Immerhin sind die Indicationen selten und der vorsichtige Arzt wird 
nur zur Noth dazu greifen. Wenn aber Baer weiter sagt, dass Alkohol 
„absolut contraindicirt bei allen Geistes- und Nervenkrankheiten“ ist, so geht 
dies zu weit. Leichtes Braunbier (1 — 1 */2 Proc.), */2 1 täglich wird 
sicher keinem Geisteskranken schaden, nicht einmal Epileptikern! Nie 
sah ich davon je Schaden, und bei den vielen Festlichkeiten, denen ich 
beiwohnte, habe ich vielleicht nur 2 oder 3 der Kranken gesehen, die 
etwas angeheitert waren. In den meisten preussischen Anstalten bekam 
oder bekommt noch der Kranke ’/2 1 Lagerbier in Flaschen, ohne dass 
darüber geklagt wurde. Aber freilich nöthig ist es nicht, und die Kranken 
gewöhnen sich dies Getränk sehr bald ab. Wir geben deshalb nur Ar¬ 
beitern je */a—l 1 Braunbier, sonst nur auf Privatgeld hin und mit Aus¬ 
schaltung der Trinker. Dass durch den Alkohol dermassen Mobilität und 
Mortalität steigt, wie Baer sagt, ist sicher, obgleich hier, wie bei Ver¬ 
brechen und Selbstmord, die Rolle des Alkohols procentualiter schwer zu 
fixiren ist, da es eben noch andere Momente dafür giebt. Wenn die 
Trunksucht wirklich zugenommen hat, so muss dies auch mit der Zahl 
der alkoholischen Psychosen der Fall sein. Dass aber überhaupt die 
Geistes- und Nervenki'ankheiten an Zahl wirklich zugenommen haben, ist 
stricte wissenschaftlich noch unbewiesen, wenn auch sehr wahrscheinlich. 
Zwischen beiden Behauptungen besteht aber eben ein kleiner Unterschied, 
der nur zu leicht vergessen wird! Bez. des Verhältnisses von Trunksucht 
und Armuth hat Verfasser völlig Recht, wenn er nicht mit den Abstinenzlern 


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272 


Besprechungen. 


alle Armuth aus jenen ableitet, obgleich dies wohl »ler häufigere Fall sein 
dürfte. Verfasser zeigt ferner, dass in Deutschland der Gesammtalkohol- 
consum in der letzten Zeit mehr abnimmt, auch der Branntweingenuss m 
den eigentlichen Schnapsländern, und Letzteres geschieht durch immer 
steigenden Bierconsum. Das wäre an sich ja von Vortheil, wenn nicht statt 
der leichten obergährigen die schweren untergährigen Biere überband nehmen 
würden. Als Hauptursachen für die Volkstrunksucht bezeichnet Verfasser 
vor Allem die Nachahmung, weniger die Armuth u. s. w., am wenigsten die 
Erblichkeit. Ich glaube nun, dass Baer letztere entschieden unterschätzt. 
Berühmte Kenner des Alkoholismus, wie z. B. Ferd, sagen: ne boit qui 
veut,d. h., um wirklich Säufer zu werden, gehört ein angeborenes 
Moment, das ich für sehr wichtig halte. Es ist z. B. bekannt, 
wie viel leider unter den Studenten auf der Hochschule getrunken wird. Von 
diesen bleibt aber sicher nur ein geringer Theil Trinker und zwar derjenige, 
welcher eben erblich irgendwie belastet war. Bei den Dipsoraanen ist dies 
nun noch viel deutlicher: um sich anhaltend verführen zu lassen, anhaltend 
die Andern nachzuahmen, gehört, glaube ich, eben dies endogene Moment, 
das meiner Ansicht nach bei keinem echten Säufer fehlt. Es Hesse sich 
also vielleicht nur über die Stärke desselben streiten. Aehnlich liegen ja 
bekanntlich auch die Verhältnisse bei den Gewohnheitsverbrechern, nur dass 
mir hier das endogene gegenüber dem exogenen Moment mehr als bei den 
Säufern zurückzutreten scheint. Bez. der Trinkerheilanstalten sei erwähnt, 
dass es deren in Deutschland z. Z. 24 mit 380 Betten für Männer und 50 
für Frauen, zusammen 430 Betten giebt, immerhin noch sehr wenig, obgleich 
damit ein erfreulicher Anfang gemacht ist. Wenn auch kein Parallelismus 
zwischen Verbrechen und Trunksucht besteht — die Ursachen zum Ver¬ 
brechen sind eben vielfach — so steht doch so viel sicher, dass letztere, 
und zwar die acute und chronische, Verbrechen vermehrt, namentlich die 
gewaltthätigen. Zunahme der Alkoholisten Ist nicht immer identisch mit 
solcher des Alkoholconsums im Allgemeinen. Baer fand unter den ge¬ 
fangenen Männern 53,6 Proc. Gelegenheits- und 46,8 Proc. Gewohnheits¬ 
trinker, unter den Weibern 39 Proc. und 61 Proc. Indirect wird das Ver¬ 
brechen dadurch befördert, dass die familiäre und pekuniäre Lage unter¬ 
graben wird. Das Schrecküchste bekanntlich ist und bleibt aber immer die 
traurige Nachkommenschaft der meisten Säufer. 

Wenn Verfasser gerade diese Arbeit so ausführlich besprach, so ge¬ 
schah es auch deshalb, um gleichzeitig hier verschiedene Punkte, die ihm 
der Besprechung werth schienen und ihm darum sehr am Herzen lagen, 
etwas klarzulegen, wozu sich hier die beste Gelegenheit darbot. 


2 . 

Mayet. Les stigmates anatomiques et ph ysiologiques de la dd- 
gdndrescence etc. Stork, Lyon -Paris, 164 Seiten. 

Verf. hat recht oberflächlich möglichst alle sogenannte Entartungszeichen, 
insbesondere die anatomischen und physiologischen (nicht aber die socio- 
logischen und die „innem“) aufgezählt, ohne auf ihre Genese näher einzu¬ 
gehen. Hierbezüglich ist die entsprechende Arbeit von Giuffrida-R u gge r i 


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Besprechungen. 


273 


viel inhaltsreicher und genauer. Besser steht es mit der Kritik, doch über¬ 
schätzt er entschieden den Werth der Degenerationszeichen. Die Biblio¬ 
graphie ist eine reiche, aber nicht vollständige, wie Verf. selbst zugiebt und 
selbst wichtige Specialarbeiten fehlen ganz. Die Ausstattung ist vor¬ 
nehm^ die Holzschnitte sind leider recht schlecht 

Um auf einiges Einzelne zu kommen, sei zunächst gesagt dass Verf.'s 
Definition von Entartung durchaus nicht neu, und wie alle Definitionen 
hier, mehr oder minder anfechtbar ist. „Die Entartung (sagt er) ist ein 
vererbter Zustand körperlicher und moralischer Minderwerthigkeit, des Herab¬ 
sinkens des ganzen Wesens mit der Tendenz zur Sterilität und raschen 
Verlöschung des entarteten Individuums und seiner Nachkommen.“ „Die 
geistige oder moralische Entartung ist nur ein Theil der Entartung. Letztere 
zeigt sich durch anatomische, physiologische, psychologische und sociologische 
Zeichen. Es ist Identität vorhanden zwischen den anatomischen und physio¬ 
logischen Stigmaten und den Pseudostigmaten . . . der Verbrecher, die durch 
Lombroso und einige andere italienische Schriftsteller beschrieben wurden.“ 
Das sind seine Hauptsätze. Er bestreitet also mit Recht irgend welche 
charakteristische Zeichen für die Verbrecher. Unter den Ursachen zur Ent¬ 
artung folgt er seinen Landsleuten, giebt aber auf den sogenannten Artheri- 
tismus und auf leichte Nervosität nur wenig Gewicht, viel dagegen auf 
tuberculöse Anlage. Im Hospitale fand Verf. 65 Proc. mit Entartungszeichen, 
auf dem Lande kaum 10—15 Proc. Das liegt gewiss nur an der subjek¬ 
tiven Untersuchung. Ref. z. B. fand bei Normalen so gut wie nie Stigmata 
fehlend. So lange nicht feststeht, was als solche zu gelten hat und von 
welchem Maasse ab, so lange werden stets Subjectivitäten mit unterlaufen 
und die einzelnen Statistiken sind miteinander daher nicht vergleichbar, 
was Lombroso u. s. w. freilich nicht beachten. Audi Verf. sagt uns nicht, 
von wann ab er irgend etwas als Stigma bezeichnet haben will, .nur, dass 
in geringem Grade es kein solches mehr ist Zur Feststellung der Schädel¬ 
asymmetrie empfiehlt Verf. das Vergleichen beider auriculobregmatischer 
Höhen miteinander. Die Ohranomalien hält Ref. im Gegensätze zu Verf. 
für nur wenig wichtig, da schon bei Normalen alles Mögliche hier vorkommt; 
ebenso leugnet er, dass die Hutchinson'scben Zähne immer, oder auch nur 
meist auf hereditäre Syphilis sich beziehen. Auf die Proportionsverhältnisse der 
Finger giebt Verf. nur wenig Werth, ebenso auf die Abdrücke der Finger¬ 
beeren. (Letztere möchte Ref. doch entschieden als wichtig hinstellen.) 
Die Schriftzeichen gelten ihm mit Recht nur bisweilen als Stigma. Die 
sogenannten „obstetrischen Zeichen“ von Larger hält er sehr richtig für 
riesige Uebertreibungen (die als solche aber gerade Lombroso passten). 
Zu den Stigmaten rechnet Verf. endlich auch alle möglichen Nervenkrank¬ 
heiten u. s. w. Das geht, meint Verf. zu weit und was eine wirkliche Krank¬ 
heit ist, sollte seiner Meinung nach kein eigentliches Degenerationszeichen 
darstellen. Sie kann mit solchen verbunden sein oder bei den Nachkommen 
solehe erzeugen, braucht es aber nicht. Man sieht aber auch hier wieder, 
wie schon der Begriff: Entartungszeichen, verschieden interpretirt wird! 


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274 


Besprechungen. 


3. 

Die Gesetze Hammurabi’s, Königs von Babylon um 2250 v. Gbr. 

Das älteste Gesetzbuch der Welt. Uebersetzt von Dr. H. Winkler. 

Der alte Orient, gemeinschaftliche Darstellungen u. s. w. 4. Jahrg. 

Heft 4 (1902) Leipzig, Hinricbs. 42 Seiten. 0,60 M. 

Unter den in Susa von den Franzosen 1897—99 ausgegrabenen Alter¬ 
tümern fand sich eine z. Th. verstümmelte Stele mit Keilinschrift des baby¬ 
lonischen, glorreichen Königs Hammurabi (Mitte des 3. Jahrtausends v. Chr.) 
vor, die vielleicht die wichtigste Keilinschrift überhaupt bis jetzt 
bedeutet. Denn, wie der Uebersetzer sagt, stellt dieses Corpus juris nicht 
nur „die älteste bis jetzt bekannte Urkunde dieser Art in der Entwicklung 
der Menschheit dar“, sondern „die Gesetze Hammurabi’s werden für die Kultur¬ 
geschichte künftig stets einen Merkstein darstellen.“ Und damit hat der 
Uebersetzer völlig Recht. Die vergleichende Rechtskunde, die Sociologie u. s. w. 
wird hier ganz neue Horizonte gewinnen und für lange Zeit wird diese 
alte Inschrift eine Quelle der Uranfänge menschlicher Kultur sein. Wir sehen 
hier in eine Urkultur hinein und Alles bestärkt uns, dass hier die Quelle 
für die Kultur in Aegypten und Israel zu finden ist. Merkwürdig sind 
namentlich die vielen Berührungspunkte mit der mosaischen Gesetzgebung. 
Es sind 282 Paragraphen oder Gesetze; in der Mitte fehlen aber einige. 
Wir sehen eine Gesellschaft, die schon sehr entwickelt ist und der Schutz 
für Handel, Landwirthschaft und Gewerbe ist geradezu erstaunlich. Das 
Lehnsrecht, die Sklaven, Halbfreie spielen eine Rolle. Die Erblichkeits¬ 
verhältnisse sind genau geregelt, ebenso die Prozessualien, die Hauptverbrechen 
geschildert, wobei Zeugen und Gottesurtheil auftreten, das Borgen, Ver¬ 
jähren u. s. w. wird geregelt, wie auch das Miethsrecht, der Zwischenhandel, 
die Schuldforderungen, der Ehevertrag, der Ehebruch, das Erbrecht, die 
Nebenfrauen, die Blutschande, die Adoption, das jus talionis u. s. f. besprochen. 
Sehr merkwürdig und barbarisch dünkt es uns, dass selbst bei relativ geringen 
Vergehen der Tod in verschiedenster Form und Verstümmelung steht. Geld¬ 
strafen stehen ganz zurück, sind aber nach dem Stande abgestuft Hier 
einige interessante Beispiele, als Lockspeise für den Leser: 5. „Wenn ein 
Richter einen Process leitet und eine Entscheidung fällt . . ., wenn später 
sich sein Process als fehlerhaft erweist, jener Richter im Processe, den er 
geleitet, als Ursache des Fehlers überführt wird, dann soll er die Anfechtungs¬ 
strafe . .. zwölffach geben und öffentlich soll man ihn von seinem Richter¬ 
stuhle stossen ...“ — 21. „Wenn Jemand in ein Haus ein Loch bricht 
(einbricht;, so soll man ihn vor jenem Loche tödten und einscharren.“ — 
128. „Wenn Jemand eine Ehefrau nimmt, aber keinen Vertrag mit ihr ab- 
scldiesst, so ist dieses Weib nicht Ehefrau.“ (Also Ehevertrag nöthig!) — 
145. „Wenn Jemand eine Frau nimmt und sie ihm keine Kinder schenkt 
und er beabsichtigt, eine Nebenfrau zu nehmen, wenn er die Nebenfrau 
nimmt und in sein Haus bringt, so soll diese Nebenfrau mit der Ehefrau 
nicht gleichstehen.“ — 157. „Wenn Jemand nach seinem Vater bei der 
Mutter schläft, so soll man beide verbrennen.“ — 196. „Wenn Jemand 
einem Andern das Auge zerstört, so soll man ihm das Auge zerstören.“ —- 
218. „Wenn ein Arzt Jemand eine schwere Wunde mit dem Operations¬ 
messer macht und ihn tödtet ... so soll man ihm die Hände abhauen.“ 


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Besprechungen. 


275 


4. 

Pfister, Strafrechtlich-psychiatrische Gutachten als Beiträge 
zur gerichtlichen Psychiatrie für Juristen und Aerzte. 
Stuttgart, Enke, 1902. 379 Seiten. 

Wie der Titel besagt, ist die vorliegende Sammlung psychiatrischer 
Gutachten zunächst nur für Juristen und Gerichtsärzte bestimmt und soll 
den Irrenärzten nichts Neues bringen. Seinen Zweck hat Verf. voll und 
ganz erreicht und der Psychiater wird wenigstens eine interessante Samm¬ 
lung von Krankengeschichten haben. Das Buch kann Juristen und Aerzten 
nur bestens empfohlen werden. Es ist überaus klar und anschaulich ge¬ 
schrieben, so dass jeder Laie es verstehen kann. Wichtiger ist es aber, 
dass Verf. überall den Leser auf die wichtigsten Punkte aufmerksam macht, 
besonders bezüglich der Epilepsie, des chronischen Alkoholismus, der Zu¬ 
rechnungsfähigkeit u. s. w. So wird das Werk eine Art von Lehrbuch 
der gerichtlichen Psychiatrie, freilich nur in ausgewählten Kapiteln. Verf. 
macht mit Recht auch auf den verschiedenen Werth der „Entartungszeichen“ 
als „Warnungssignale“ aufmerksam. Dem Ganzen schadet es natürlich 
wenig, wenn Verf. einige kleine Ausstellungen macht. So scheint Verf. z. B. 
noch die moral insanity anzunehmen, überschätzt das anfallsweise Bettnässen 
der Kinder als epileptisches Zeichen, ebenso den Eifersuchtswahn der Alko¬ 
holiker (der auch sonst vorkommt!), ist vielleicht mit der Diagnose: epilep¬ 
tische Aequivalente, larvirte Epilepsie etwas zu freigebig, ebenso mit der 
Annahme einer Kindererzeugung im Rauschzustände u. s. w. Die Ausstattung 
des Buches ist eine gute. 


5. 

Penot, Evolution du Äfariage et Consanguinitö- Th^se de Lyon, 
1902, Storck, 88 Seiten. 

1900 hat der Deutsche Peipers in einer ausgezeichneten Dissertation 
die schwierige Frage der Blutsverwandtschaft behandelt; 1902 thut es der 
Franzose Penot gleichfalls, wenn auch andere, in vorzüglicher Weise. Der 
Letztere hat seine Aufgabe aber dadurch erweitert, dass er einen sehr guten 
und weiten Ueberblick über die Entwicklung der Ehe giebt und hier zu 
der wohl jetzt trotz Westermarck’s von den Meisten acceptirten Hypo¬ 
these gelangt, dass die Monogamie ein künstliches Institut ist und wahr¬ 
scheinlich aus Promoskuität oder verwandten Zuständen hervorging. Es 
sind zu viel Ueberreste davon noch in Sitten, Legenden und Religionsge¬ 
bräuchen übrig geblieben. Das Patriarchat folgte dem Mutterrecht. Mit 
Recht führt Verf. auch an, dass noch jetzt der innerste Sinn des Mannes 
polygam ist. Im 2. Theile wird die Blutsverwandtschaft juridisch-ethnologisch 
behandelt, eingehend besondere bezüglich ihrer angeblichen Schäden an der 
Hand vieler Statistiken und Beobachtungen. In Frankreich giebt es 1 Proc. 
blutsverwandter Ehen, in Deutschland 1 : 150, für Berlin 1:125; im 
Alterthum waren sie überaus zahlreich. An sich ist die Blutsverwandt¬ 
schaft unschuldig, wie es scheint, und nur gute oder schlechte Erblichkeit 
erklärt die eventuellen schlechten Resultate. „Die latente Erblichkeit und 
der Atavismus erklären die Ausnahmen, wo die Erblichkeit zu fehlen scheint.“ 


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276 


Besprechungen. 


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Damit kann man sich gewiss nar einverstanden erklären. Interessant und 
wohl wahr ist endlich der Satz des Verf., dass der physiologische Werth 
eines Volkes nach den guten oder schlechten Resultaten der blutsverwandten 
Ehen ermessen werden kann. (Die ganze Frage hat eigentlich, wenn auch 
unbewusst, Hippokrates gelöst, wenn er sagt: „A sanis sana, a morbosis, 
raorbosa“. Ref.) 


6 . 

Die Memoiren einer Sängerin. Bukarest, Casanova. 2 kl. Bände. 

Wir haben hier ein anonymes Werk aus der zweiten Hälfte des vorigen 
Jahrhunderts vor uns, ohne Jahrangabe auf schlechtem Papier, in kleinstem 
Format gedruckt Der Herausgeber sagt, dass das Werk durchaus den 
Eindruck des Wahren und Selbsterlebten macht, und darin hat er sicher 
Recht, Unrecht aber, wenn er behauptet, es sei durchaus sittlich, weil es 
vor den vielen Gefahren der Liebe warne. Diese Sachen braucht das junge 
Mädchen, der gewöhnliche Mann nicht zu wissen, ebensowenig wie der 
Beichtvater trotz der Vorschriften des heiligen Liguori. Es ist vielleicht 
mit das unzüchtigste Buch bezüglich des Inhalts und der Darstellung, aber 
trotzdem ist es für den Psychologen, Psychiater, Richter u. s. w. von hohem 
Werthe, weil es, abgesehen von sehr vielen feinen, psychologischen Bemer¬ 
kungen deutlich zeigt, wie gross, auch ausserhalb der Bordelle, auch im 
ehelichen Verkehre, die sexuellen Perversitäten aller Arten sind, welche, wie 
Jean Bloch sehr richtig anführt, das Variationsbedürfniss in der Geschlechts¬ 
liebe bedingt. Freilich giebt es genug solcher Fälle, die angeboren be¬ 
dingt sind, mit Variationsbedürfniss also nichts zu thun haben. Hier sind 
es Perversionen, dort Perversitäten. Selbst wenn man aber ein gewisses 
Variationsbedürfniss in der Liebe zugesteht, so sind solche Auswüchse, wie 
sie in obigem Buche von anscheinend geistig Gesunden geschildert werden, 
frevel- und lasterhaft und selbst eine übermächtige Libido kann sie kaum 
entschuldigen. Man sieht übrigens auch, wie Verführung, Umgebung, 
schlechte Gesellschaft, laszive Lectüre u. s. w. den geschlechtlichen Reiz¬ 
hunger immer mehr steigern und zu Monstrositäten bringen. Ob dann auch 
der Charakter intact bleiben kann, ist mehr als fraglich. Die Verfasserin 
scheint sich aus dem Sumpfe aber doch emporgearbeitet zu haben, obgleich 
sie sich nicht über ihre Exzesse zu schämen scheint, sondern sie behaglich 
und breit schildert. (Sie soll übrigens die berühmte Sängerin Corona Schröder 
gewesen sein. Näcke.) 

7. 

Bloch, Beiträge zur Aetiologie der I’svchopathia sexualis. 

II. Bd. Dresden, Dohm 1903. 400 S. 10 Mk. 

Nachdem Verf. im 1. Bd. die allgemeine Aetiologie der sexuellen 
Anomalien, speziell der Homosexualität beschrieben hatte, kommen in diesem 
Bande der Reihe nach der Sadismus, Masochismus und die „complicirten“ 
sexuellen Aberrationen, wie: Fetischismus, Skatologie, Nekrophilie, Ineest, 
Statuenliebe u. s. w. zur Besprechung und zwar bezüglich der Aetiologie 
der verschiedenen Erscheinungsweisen und des ubiquitären Vorkommens. 
Das Ganze ist anregend, mit reicher Benutzung der Literatur geschrieben. 
Verf.’s Hauptsätze sind folgende: die klinisch-pathologische Betrachtung der 


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Besprechungen. 


277 


Psyckopathia sexualis ist eine falsche, da die letzte Ursache aller Erschei¬ 
nungen hier im geschlechtlichen Variationsbedürfnisse des Menschen liegt. 
Der Geschlechtstrieb ist durch äussere Einflüsse leicht bestimmbar und so 
kann Alles schliesslich erworben werden. Die häufige Wiederholung der¬ 
selben Perversion ist sehr wichtig, ebenso Suggestion, Nachahmung und der 
Unterschied des geschlechtlichen Fühlens bei Mann und Weib. Bei sexuellen 
Delicten sollte stets die r verminderte“ Zurechnungsfähigkeit in Anwendung 
kommen. Die beste General-Prophylaxe besteht im Abwehren der äusseren 
Einflüsse. — Gegen viele l*unkte des Verf.’s lassen sich Einwendungen 
machen. Er verwechselt immer: Perversion (was nur den angeborenen 
Hang bezeichnet) mit: Perversität, er leugnet mehr oder minder das An¬ 
geborensein der Homosexualität, des Sadismus, Masochismus, Fetischismus, 
u. s. w., indem er der psychologischen Theorie sich zuwendet. Ref. behauptet 
dagegen, sicher mit den meisten Kennern, das Angeborensein von Perver¬ 
sionen, die freilich als Perversitäten auch erworben sein können, aber die 
dann nur äusserlich Handlungen darstellen, nicht allein und innerlich bedingt 
sind, wie die Perversionen. 


8 . 

Aschaffenburg. Das 'erbrechen und seine Bekämpfung. 

Heidelberg HM) 3, Winter. 246 Seiten. 

Dieses relativ kleine, sehr vornehm ausgestattete Werk steht thurm¬ 
hoch über das gleiche, dickleibige Buch von Lombroso. Es ist ein Meister¬ 
werk deutscher Gründlichkeit und scharfer Kritik. Mit grösster Vorsicht 
wird vorgegangen und lieber ein non liquet ausgesprochen, statt in ufer¬ 
lose Hypothesen sich zu ergehen. Nach einer Einleitung werden in drei 
Abschnitten die socialen und individuellen Ursachen, sowie der Kampf 
gegen das Verbrechen knapp, aber erschöpfend vorgeführt. Ich freue mich, 
dass Verf. bei den meisten Dingen Meinungen äussert, die auch ich früher 
wiederholt getkan habe. Vor Allem wird fast in Allem Lombroso scharf 
abgewiesen, so bezüglich seiner Lehre des reo-nato, des atavistischen und 
epileptischen Hintergrundes des Verbrechens, der Identifizierung mit dem 
moral insane, der Aequivalenz von Verbrechen und Prostitution u. s. w. 
Auch das Tätowiren, Kothwälsch u. s. w. als Charakteristica des Verbrechens 
wird abgewiesen, ebenso eine specifische Psychologie. Sehr recht meint 
Verf., dass ein Verbrecher nur dann epileptische Züge zeige, wenn er an 
dieser Krankheit leide, was durchaus nicht immer der Fall sei. „Das Ver¬ 
brechen ist in erster Linie ein sociales Phänomen; jede Zeit hat die Ver¬ 
brechen, die sie selbst hervorbringt. Aber nicht jeder wird zum Verbrecher. 
Es gehört dazu zweifellos noch eine individuelle Veranlagung. Das 
ist der richtige Kern «ler Lombroso'sehen Lehre.“ Verf. wirft L. „ver¬ 
blüffende Kritiklosigkeit’ vor. Damit spricht er das denkbar vernichtendste 
Verdict über den Italiener aus. Verf. schildert, wie L. Wichtiges und Un¬ 
wichtiges, Falsches und Richtiges unter einander vermengt und sagt weiter: 
„Diese Unzuverlässigkeit seiner Veröffentlichungen entspringt zum Theil der 
unglaublichen Mannigfaltigkeit seiner Veröffentlichungen, die ein vertieftes 
Studium unmöglich machen, liegen aber wohl auch in einer oberflächlichen 
Veranlagung.’ Man siebt. Verf. drückt sich kaum weniger scharf über L. 


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278 


Besprechungen. 


aus, als neulich E. C. Spitzka, wie ich in einer kleinen Mittheilung sagte. 
Trotz dieser erneuten Abweisung wird Lombrosö ruhig weiter seine Laden¬ 
hüter anbieten. Er ist unbelehrbar und darin auch sehe ich einen semiti¬ 
schen Zug. Wie der Handelsjude mit seinen Waaren 10 mal zur Thür 
hinausgeworfen wird und das 11. Mal wieder hereinkommt, so auch Lom- 
broso mit seinen Theorien! 

Doch möchte ich hier das Wichtigste noch aus des Verf.’s Buche Vor¬ 
bringen. Ueberall prüft er die Statistiken auf ihre Fehlerquellen, überall 
giebt er reichlich aus eigener Erfahrung. Den Einfluss der Temperatur 
auf das Verbrechen bemisst er sehr gering und das mit Recht. Die Curven 
der Sittlichkeitsverbrechen bringt er mit einer sehr wahrscheinlichen perio¬ 
dischen Schwankung des Sexuallebens in Verbindung. Den Einfluss der 
Religion scheint Verf. zu unterschätzen. Ref. glaubt, dass wie die Con- 
fession, auch bei gleicher Rasse, von ziemlichem Einflüsse auf Kunst 
und Wissenschaft ist, so auch auf das Verbrechen. Noch mehr thut dies 
freilich die Rasse, obgleich, wie Verf. richtig bemerkt, es sehr schwer ist, 
exacte Beweise dafür zu erbringen. Wichtig, aber wenig erforscht, ist die 
Psychologie der Berufsarten. Sehr schön wird die furchtbare Alkoholgefahr 
geschildert, namentlich für die Nachkommen. Die Rausch-Verbrechen führen 
eher in’s Gefängniss als in’s Zuchthaus, hier sind mehr die Gewohnheits¬ 
säufer. Dass Tabak Verbrechen erzeuge, wie Lombroso sagt, ist unbe¬ 
wiesen. Verbrechen und Prostitution vereinigen sich häufig, sind also keine 
Gegensätze und keine Aequivalente; letzteres nur manchmal (Beweis? Ref.) 
Selten (? Ref.) erzeugt Noth Hurerei. Mit Recht verlangt er strenge 
Kasernirung und Controle der Dirnen (Ref. hat sogar Vermehrung der 
Bordelle verlangt). Zwischen Diebstahl und Getreidepreis besteht ein enger 
Connex; es ist dies aber nicht die absolute Höhe des Preises, sondern nur 
sein Steigen und Fallen. Vererbung verbrecherischer Neigungen lässt sich 
stricte nicht beweisen, nur die minderwerthige Anlage. Sehr wichtig ist 
die Rolle des Milieus, besondere die Erziehung. Kenntnisse schützen nicht 
vor Verbrechen, sind aber ein wichtiges Mittel im Kampfe um’s Dasein. 
Die Entartungszeichen erkennt Verf. an, scheint sie aber entschieden zu 
unterschätzen. „Die Psychologie des Verbrechens zu schreiben, 
sind wir einstweilen ausser Stande.“ Durchschnittlich steht der Ver¬ 
brecher intellectuell tiefer, als der Normale, und damit auch die Ethik, da 
zwischen beiden doch ein Connex ist. Die grössten Widersprüche kommen 
vor, sogar bei ein und demselben Verbrecher. Die Isolirhaft ist an Psychosen 
so gut wie unschuldig. Einen eigenen „ Gefängnisswahn “ giebt es nicht, 
ebenso wenig die sog. moral insanity. Verf. theilt die Verbrecher ein in: 
Zufalls-, Affects-, Gelegenheits-, Vorbedachts-, Rückfalls-, Gewohnheits- und 
Berufsverbrecher. Vor Allem muss der Noth und dem Alkohol gesteuert 
werden. Vernünftiger Weise sieht aber Verf. ein, dass bei uns völlige 
Abstinenz undurchführbar ist. Verwahrloste gehören in Erziehungsanstalten. 
Viel können auch leisten Haus, Schule, Kirche und Presse. Einen „freien 
Willen“ giebt es naturwissenschaftlich nicht; das. ist nur eine Illusion. 
Trotzdem besteht ein Verantwortlichkeitsgefühl. Die abschreckende Bedeu¬ 
tung der Strafe wirkt erzieherisch. Hauptsache ist Schutz der Gesellschaft. 
Der jetzige Strafvollzug ist ganz mangelhaft. Am besten ist das „irische 
Strafsystem“. Verf. spricht für die „bedingte Verurtheilung“, Versuchs- 


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Besprechungen. 


279 


weise Entlassung, vor Allem aber für die Abschaffung des Strafmaasses. 
Die Jugendlichen, vermindert Zurechnungsfähigen und Trinker müssen be¬ 
sonders behandelt werden. Der Verbrecher oder vielmehr das Verbrechen 
kann nur naturwissenschaftlich untersucht werden. 


9. 

Eulenburg, Sadismus und Masochismus. Wiesbaden, Bergmann 1902, 

89 Seiten. Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens XIX. 

In glänzender Diction, unter Heranziehung eines reichen geschichtlichen 
und literarischen Apparats behandelt Verf. Ursprung und Wesen des Sadis¬ 
mus und Masochismus — die er zusammen auch als Algolagnie bezeichnet 
— in ihren verschiedenen Stufen. Gemeinschaftlich ist beiden der Schmerz, 
der zum Wollustgefühl wird, selbst wenn es sich nur um psychischen 
Schmerz handelt. Die Algolagnie ist krankhaft und social und forensisch 
wichtig. Die Grausamkeit, Lust zur Zerstörung liegt in jedem Menschen; 
es giebt keine Lust ohne Schmerz und umgekehrt. Neben dem Hang zur 
Grausamkeit ist auch der frevelnde Hochmut gegen Gott und Autorität 
wichtig. Die atavistische Theorie weist Verf. mit Recht zurück, eher ist 
sie eine psychologische, indem „der Reiz zur Vorstellung von Wollustge- 
fühlen und zur Auslösung sexueller Impulse nicht direkt von den Sinnes¬ 
organen, sondern auf dem Umwege von solchen über die Vorstellung von 
Schmerzgefühlen“ geht. Sodann werden sehr fein das Leben des Marquis 
de Sade und Sacher-Masoch’s und ihre Werke analysirt, Nothzucht, Lust¬ 
mord, Necrophilie (die nicht immer sadistisch sind) und besonders eingehend 
der Flagellantismus betrachtet und endlich eine hochwillkommene, ziemlich 
grosse Literatur über die Algolagnie gegeben, wobei auch die belletristische 
berücksichtigt wird. — Verf. hätte nur einige Fragezeichen zu machen. 
Zunächst scheint Bloch Recht zu haben, wenn er überall die Algolagnie 
findet und sie, soweit Religion oder Krankheit nicht im Spiele sind, aus 
dem sexuellen Variationsbedürfniss erklärt. Es würde hier dann also eine 
lasterhafte und eine wirklich krankhafte originelle Algola¬ 
gnie zu unterscheiden sein. Bei der letzteren ist es aber weiter ein grosser 
Unterschied, ob der sadistische u. s. w. Akt nur präparatorisch 
ist oder den Coitus ganz ersetzt In letzterem Falle ist die Störung 
natürlich grösser als im ersteren. Verf. wettert gegen eine Ethik als „posi¬ 
tive Wissenschaft“. Ref. glaubt doch daran, wie an eine „Entwicklungs¬ 
ethik“. 


10 . 

Löwenfeld, Ueber die geniale Geistesthätigkeit mit beson¬ 
derer Berücksichtigung des Genies für bildende Kunst. 
Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens. Heft XXI. Wiesbaden, 
Bergenau 1903. 104 Seiten. 

Verf. erörtert sine ira et Studio auf’s Neue das schwierige Problem 
des Genies, spedell das des künstlerischen, indem er eingehend das Leben 
von 12 berühmten Malern (Lionardo, Michelangelo, Tizian, Rafael, Dürer, 
Holbein jun., Rubens, Rembrandt, Meissonier, Millet, Böcklin, Feuerbach) 
Archiv f&r Kriminalanthropologie. XI. 19 


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280 


Besprechungen. 


analysirt. Mit Recht erklärt er das Genie dem Talent gegenüber nicht 
als ein absolut Neues, verlangt aber für Ersteres das Hervorbringen 
eines Neuen, Originellen, für die Menschheit Nützlichen. Neben der reichen 
Phantasie ist Combinationsgabe nöthig, sehr viel auch Intellekt. Dabei ist 
es falsch, das Talent nur als receptiv zu behandeln. Die Gesetze des Genies 
sind die gewöhnlichen psychologischen. Fleiss ist fast stets nöthig. Vieles 
geht automatisch und unterbewusst vor, datier es den Anschein von Inspira¬ 
tion erweckt, was es aber nicht ist. „Die neuen genialen Ideen beruhen 
auf einem Plus associativer Leistungen“. Manche arbeiten mehr periodisch, 
andere mehr anhaltend. Der „Schaffensdrang“ ist immer intensiv, bleibt 
aber meist stets dem Willen unterthan. Beim Genie kommen gewöhnlich 
Disharmonien der Fähigkeiten vor (gerade so, wie bei jedem Andern! Ref.) 
Man darf w r ohl beim Genie im Allgemeinen sagen, dass seine 
Kraft im Gesunden, nicht im Kranken liegt, obgleich patholo¬ 
gische Züge sehr häufig sich beimischen. „Die Annahme der combinirten 
Vererbung latenter väterlicher und mütterlicher Fähigkeiten ist von grosser 
Tragweite, da sie uns das Auftauchen eines Genies in einer Familie erklärt, 
deren Glieder sich bisher, soweit bekannt, in keiner Weise auszeichneten“. 
(Diese Hypothese ist sehr billig, da man mit ihr alle möglichen anderen 
Eigenschaften erklären kann! Ref.) Es giebt ein- und vielseitige Genies. 
Verf. unterscheidet endlich 3 Arten von Genies. 1. Solche — wahrschein¬ 
lich die kleinste Gruppe — ohne ausgesprochene pathologische Züge; 

2. mit solchen als Begleiterscheinungen (ab ovo oder erst erworben) und 

3. das pathologisch bedingte Genie. Für Nr. 3 bringt freilich der verehrte 
Verfasser keinen Beweis vor, denn wo auch ab ovo pathologische Züge 
bestehen, ist dies, meint Verf. noch lange kein Beweis dafür, dass die den¬ 
selben zu Grunde liegenden organischen Veränderungen auch wirklich die 
Quelle der Genies seien. Es kann sich um reine „Juxtapposition“ handeln. 
Soweit also unser vorsichtiger und belehrender Autor. 

Hier möchte ich nur noch einige Anmerkungen mir erlauben. Wenn 
also das Genie meist, wie es scheint, gewisse pathologische Züge darbietet, 
so ist er darum selbst noch nicht pathologisch, selbst wenn ab ovo eine 
abnorme Gehirnorganisation vorliegen sollte, und Letzteres ist durchaus nicht 
immer leicht zu beweisen. Und im letzteren Falle ist der weitere Beweis, dass 
diese Gehimorganisation das Genie erzeugt, glaube ich, absolut nicht zu 
führen. Wenigstens w r üsste ich nicht wie das geschehen sollte! Bei der 
Definition vom Genie bin ich mit Verf. einverstanden. Doch giebt es auch hier 
Schwierigkeiten. Ueber die Begriffe: Originelles, Neues, kann man gewiss 
oft verschiedener Meinungen sein und nicht selten wird die Tragweite eines 
Gedankens oder Erfindung erst spät erkannt. Die Grenze zwischen 
Talent und Genie ist also keine absolut eindeutige. Weiter 
möchte ich mit Anderen, z. B. Morselli die Eintheilung der Genies in In¬ 
tellekt-, Gefühl-, Willensgenie, ja Muskelgenie u. s. w. befürworten, wobei 
allerdings der Begriff der Nützlichkeit mehr oder minder auf gegeben wird, 
ein Begriff, der ja auch strittig sein kann. Dann wäre Genie allerdings 
nur die höchste Spitze des Talents. Man könnte also einen Virtuosen, 
grossartigen Equilibristen u. s. w. auch dazu rechnen. Bez. der pathologischen 
Züge, resp. geistigen Minderwerthigkeiten bei so vielen Genialen muss man 
stets eine gewisse Variationsbreite annehmen, da sonst schliesslich unter 


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Besprechungen. 


281 


der Lupe jeder Normale desequilibirt erscheint. Verf. zeigt sich hierin sehr 
vorsichtig. Mit Recht führt er das neuerliche Studium des Genies auf Lom- 
broso zurück. Freilich sind dessen Werke über Genie, so über alle Massen 
traurig und oberflächlich, dass sie einen Gewinn kaum darstellen können. 
Verf. hat ihm eine ganze Reihe der falschesten Schlüsse nachgewiesen und 
wer s. Zt. die Zerpflückung einiger Kapitel des Lombroso'sehen 1. Buches 
seitensBinder's gelesen hat, wird genug daran haben. Nur dass Binder 
ihm grobkörniger begegnet, als Löwenfeld. Wie Lombroso mit Bio¬ 
graphien umspringt, Anekdoten auf tischt, die albernsten Schlüsse zieht u. s. w., 
ist geradezu haarsträubend. Natürlich wendet sich Löwenfeld mit Recht 
auch gegen Lombroso’s Lehre des Entstehens des Genies auf epileptischer 
Basis. Endlich möchte ich bez. Michelangelo’s erwähnen, dass sein Ver- 
hältniss zu Cavalieri auf Grund seiner Sonnette namentlich kaum anders 
als ein homosexuelles bezeichnet werden kann. Ob sein Verhältniss zu 
Vittoria Colonna wirklich nur ein platonisches war, möchte' ich noch 
bezweifeln, da ich solche Verhältnisse für fast unmöglich halte. 


11 . 

Berndt, Krankheit oder Verbrechen? Eine gemeinverständliche Dar¬ 
stellung des Geschlechtslebens, des Mordes, der Körperverletzungen, 
der Unfallserkrankungen, Geisteskrankheiten, des Hypnotismus u. s. w. 
in ihren Beziehungen zum Gesetz und zur öffentlichen Moral. Unter 
Anführung von über 200 gerichtlichen Entscheidungen. Mit zahl¬ 
reichen Illustrationen. 2 Bände, Leipzig, Wiest. 

Der etwas reclamenhafte Titel, sowie das Fehlen der Jahreszahl — 
1902 erschienen — nimmt zunächst gegen das Buch ein. Bei näherem 
Zusehen bemerkt man aber doch, dass Verf. ein recht brauchbares Buch 
der gesammten gerichtlichen Medicin für Laien, namentlich für Juristen und 
Geschworene, geliefert hat, was entschieden mit Freuden zu begrüssen ist, 
da die Laien von den Fachbüchern zu wenig haben. Berndt versteht es, 
kurz, prägnant die Hauptsache zu schildern, z. B. bezüglich der Psychosen, 
wobei zahlreiche Bilder, Fälle (zum Tiieil allerdings veraltete!) und inter¬ 
essante gerichtliche Entscheidungen die Sache erläutern. Letztere sind auch 
für den Fachmann interessant. Verf. stellt sich meist überall auf den rich¬ 
tigen Standpunkt, vertheidigt die Vivisection, das Impfen, zeigt die heutige 
Unmöglichkeit auf, Geistesgesunde in eine Anstalt zu sperren u. s. w. Leider 
nimmt er einen „geborenen 4 * Verbrecher und eine „geborene Hure“ mit Lom¬ 
broso an, nicht aber einen specifischen Verbrechertypus. Er unterschätzt 
entschieden den Werth der Entartungszeichen und vertheidigt leider das 
Schächtungsverfahren. Bei Anführung der Gesetzesstellen muthet es den 
Leser eigentümlich an, dass er auch das alte, verflossene, preussische Land¬ 
recht und das sächsische Bürgerliche Gesetzbuch mit citirt. Jeder Jurist 
wird in dem Buche viel Interessantes finden. Die Ausstattung ist gut. 
Manche Bilder erscheinen überflüssig und mehr auf das Sensationsbedttrfniss 
berechnet, wie auch die wöchentlichen oder heftweisen Lieferungen. 


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282 


Besprechungen. 


12 . 

Estadistica de la administracidn de justicia en lo crirainal 
durante el ano 1900 en la peninsula e islas adyacentes 
publicado por el Ministerio de Gracia y Justicia. 
Madrid, 1902. 

Hier liegt die officielle Verbrecherstatistik Spaniens ffir 1900 vor und 
sie bietet auch dem Fernerstehenden manches Interessante dar. Zunächst 
ist es sehr auffallend, dass ein Land wie Spanien, welches von Alters her 
durch seine Juristen berühmt war, in der Verbrecherstatistik so zurück¬ 
geblieben ist. Und sehr richtig sagt der Verf., dass eine gute Verbreeher- 
statistik der sicherste Barometer ist, um die Verbrecherneigung, das mora¬ 
lische Niveau, die Cultur, den Stand der Sitten und die zur guten Führang 
der Völker nothwendigen Reformen zu beachten. In der Constitution von 
1812 wurde eine solche zwar vorgesehen, aber nicht ausgeführt und erst 
viel später, unregelmässig und Bebr mangelhaft Statistik geübt, die ausser¬ 
dem wegen der verschiedenen Gesetzbücher schwer miteinander vergleichbar 
ist. So liegen Daten vor nur aus dem Jahre 1838, 1843, 1859 und 
1883—1889 vor- Schon diese grossen Zeiträume, wo nichts geschah, zeigen 
hinreichend den ganzen Jammer der spanischen Politik und Wirtschaft. 
Jetzt liegt nun ein neuer Bericht mit sehr vielen beigelegten Tabellen vor, 
die immer Rücksicht auf die früheren Daten nimmt und dadurch unser leb¬ 
haftes Interesse für das unglückliche Land erweckt. In dem Jahre 1900 
betrug die Verbrecherzahl der Frauen 13 Proc. der der Männer. Unter 
18 Jahren finden sich 8 Proc. Verbrecher vor. 39 Geistliche figuriren als 
Thäter von Vergehen und Verbrechen. 47 Personen wurden zum Tode 
verurtheilt, davon nicht begnadigt 18. 581 Selbstmorde wurden gemeldet, 

davon ausgeführt 407. Die Männer erschossen oder erhängten sich mit Vor¬ 
liebe, die Weiber (101 incl. Versuche) ertränkten und vergifteten sich. 
Mehr Verheirathete. Der häufigste Selbstmordmonat war December, dann Juli 
und April. Die meisten Verbrechen gegen die Person geschahen, wie schon 
a priori einleuchtet, in Andalusien, die wenigsten auf den Inseln. Seit 1896 
ist die Kriminalität immer mehr ansteigend, am meisten bei den Delicten 
gegen das Eigenthum. Recidive gab es 1843:8 Proc., 1859:12 Proc.. 
1883—87:6 Proc., 1895—99:4,9 Proc., 1900:5,60 Proc. Auch der Selbst¬ 
mord hat sehr zugenommen. 1838 sind nur 25 angegeben (sicher ab¬ 
solut falsche Zahl! Ref.), 1843:24; 1883:743; 1897:618; 1900: 551). 
Die Gründe dafür werden angegeben. Todesstrafen sind in Spanien im 
19. Jahrhundert nur sehr wenige ausgeführt worden. Bis 1883 ist nichts 
gemeldet, dann ist die Höchstzahl mit 23 im Jahre 1884: 1900:18 (ind. 
2 Weiber). Eine der Hauptursachen der Verbrechen sieht Verf. in den 
schlechten Schulverhältnissen. 1843 waren 58 Proc. Analphabeten und. 
1900:57 Proc, was einen schweren Vorwurf für Spanien bildet. Mit Recht 
sagt Verf., dass der Elementarunterricht, wenn gut geleitet, die solide Basis 
der Erziehung und der socialen Cultur abgiebt, das unfeldbare Gegenmittel 
gegen das Verbrechen. Das Fehlen der guten Schulcultur zeigt sich auch 
in der erschreckenden Zahl von Vergehen u. s. w. gegen den Staat und die 
Beamten. Die Spielsucht hat abgenommen und nur anscheinend das Duell. 

,,Der Nachlass religiöser Ueberzeugungen, die Vorbereitung auflösender Ideen, 


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Besprechungen. 


283 


der Alkoholismus und der Gebrauch verbotener Waffen beeinflussen schäd¬ 
lich die Menge zur Ausführung von Verbrechen.* 4 Dazu kommt noch mangel¬ 
haftes Gefängnisswesen. Sehr anerkennenswerth ist es, dass Verf. überall 
die Schäden aufdeckt, „lieber der Wahrheit, mag sie auch noch so traurig 
sein, den Tribut zollend, als sie mit rhetorischen Kunststücken verdeckend. 4 ’ 
Ref. fürchtet aber, dass noch auf absehbare Zeit Spanien innerlich und 
äusserlich dieselben Zustände bieten wird. 


13 . 

Morselli e de Sanctis: Biografia di un bandito, Giuseppe 

Musolino di fronte alla psichiatria ed alla sociologia. 

Con 8 tavole e 59 incisioni. Milano, Treves, 424 S. 5 Lire. 1903. 

Vorliegendes Buch zweier italienischer Irrenärzte und Psychologen ist 
nicht nur für die Kriminalanthropologie wichtig, sondern auch für die Psy¬ 
chiatrie, forense Medicin und Sociologie. Es handelt sich hier um den be¬ 
rüchtigten Banditen Musolino aus Calabrien, der wegen sieben vollendeter, sechs 
verfehlter Mordthaten, Diebstahls n. s. w. zu lebenslänglicher Zwangsarbeit 
verurtheilt wurde. Es dürfte wohl bisher der einzige so gründlich nach 
jeder Hinsicht untersuchte Verbrecher sein und die genauen Untersuchungs- 
methoden stellen gleichsam ein Handbuch dar, wie solche Menschen zu 
studiren sind. Dabei ist meist eine genügende Kritik vorhanden und grosse 
Erfahrung auf psychiatrischem Gebiete. Leider neigen Verf. trotz manchen 
Einwandes— wohl vornehmlich Morselli — sehr zu Lombroso’s Lehren, 
was dem Buche, wie Verf. glaubt, entschiedenen Abbruch thut. Die Aus¬ 
stattung des Buchs ist eine gute, die Zinkogravüren sind leider z. Th. schlechte. 

Bei der Wichtigkeit des Werkes müssen wir etwas näher darauf ein- 
gehen. Bei dem ungeheuren Processe waren 6 Sachverständige, meist be¬ 
rühmte Irrenärzte, thätig, drei für die Anklage, drei für die Vertheidigung. 
Das Resultat der drei ersten ist kurz folgendes. Joseph Musolino ist nur 
wenig belastet, zeigt anthropologisch den calabresischen Typus in Ueber- 
treibung, einige Entartungszeichen und eine leichte anatomische und functio- 
nelle Asymmetrie. Er ist nicht sehr kräftig, zeigt schnelle Veränderungen 
des Blutkreislaufs, leichte dynamometrische und ergographische Linksseitig- 
keit, eine ausgebreitete Hypalgesie der Haut, im Arme zeitweis rechts leichtes 
Zittern. Er ist epileptisch, wahrscheinlich partiell, hat aber nur selten An¬ 
fälle, scheinbar von einem Schlage am Kopfe aus der Kinderzeit herrührend. 
Er ist intelligent, ungebildet, stolz, eitel, rachsüchtig, seit der Jugend gewalt- 
tbätig, sehr erotisch, liebt die Seinen über alle Maassen, ist schlau, aber 
kein moral insane. Die Kopfwunde hat wahrscheinlich Körper und Geist 
beeinflusst und die Epilepsie erzeugt (leider aber nicht sicher zu erweisen! 
Verf.). Er zeigt die guten und schlechten Eigenschaften seiner Landsleute. 
Durch das Banditenleben (während ca. 2 1 /* Jahre) ist sein Charakter ver¬ 
ändert worden. Seine Verbrechen sind nicht nur durch Rachsucht diktirt, 
sondern auch Liebe u. s. w. Alles geschah mit Vorbedacht und meist aus 
dem Hinterhalt. Er verhält sich wie ein gewöhnlicher Verbrecher. Seine 
seltene Epilepsie hat den Intellekt nicht angegriffen, aber trotzdem Ver¬ 
änderungen gesetzt^ das „kriminelle Temperament“ erzeugt. (Beweis? Ref.) 


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284 


Besprechungen. 


Seine Verbrechen haben mit der Epilepsie nichts zn schaffen. Er ist weder 
ein epileptischer, noch paranoischer oder anderweit irrer, noch ein „geborener“ 
Verbrecher, auch kein Leidenschafts- oder Gelegenheitsverbrecher, sondern 
ein „Kriminaloider“, eine Fusion oder Combination der verschiedenen oben 
genannten Verbrecherarten. Eristein „Primitivei - “ (Penta) und Krimina¬ 
loider zugleich, der dann ein gewerbsmässiger Verbrecher (Bandit) ward. 
(Man sieht Verf. gebraucht ganz die Terminologie Lombroso’s, die wir 
nicht ohne Weiteres acceptiren). Er ist durchaus zurechnungsfähig, aber 
zählt zu den sehr Gefährlichen und Unverbesserlichen. Die Gegenpartei 
der Expertise hat wahrscheinlich die Untersuchung nicht so gründlich vor¬ 
genommen, kam z. Th. zu anderen Resultaten und hielt den Verbrecher für 
vermindert zurechnungsfähig. Ref. hält das Urtheil der ersten Experten für 
das richtigere. 

Die Untersuchung des Banditen ist, wie gesagt, meist sehr eingehend 
geschehen und namentlich das Psychologische sehr fein herausgearbeitet. 
Ein prächtiges Kapitel ist die Darstellung des Milieus, d. h. das von Land 
und Leuten in Calabrien. Ausgezeichnet sind im Allgemeinen die Bemer¬ 
kungen über die Epilepsie und ihren Einfluss auf die Psyche, ferner die 
über Zurechnungsfähigkeit u. s. w. Auch bezüglich der Sachverständigen- 
thätigkeit kann man manches Gute lernen, wie überhaupt wohl jeder Leser 
etwas finden wird, was ihn spedell interessirt. Hier wollen wir nur Einiges 
erwähnen, womit wir uns nicht einverstanden erklären können. Und eine 
gesunde Kritik ist nur nützlich. 

Verf. halten, wie die meisten ihrer Landsleute, an dem Begriff der „moral 
insanity“ fest, den wir im Allgemeinen nicht haben wollen. In der Lom- 
broso’schen Schule insbesondere gehört dieser Name fast zum täglichen Brote 
und wird sicher nie so missbraucht, wie gerade hier. Da Namen und Diagnosen 
zum sehr grossen Theile Sache des Geschmackes und der Gewohnheit, vor allem 
aber des Affects sind, so sind manche schwer auszurotten, so auch die „moral 
insanity“, die absolut keine Daseinsberechtigung hat. Mit Recht räumen Verf. 
dagegen dem Milieu eine grössere Rolle ein, als Lombroso. Mit Recht be¬ 
tonen sie ferner die grosse Wichtigkeit der individuellen (anatomischen und 
psychologischen) Variabilität der Menschen. Das vergessen eben leider so viele 
Kriminalanthropologen! Verf. glauben, dass der Mord recht wenig mit der 
ökonomischen Lage zu thun hat. Ref. glaubt, sie unterschätzen hier ent¬ 
schieden diesen Factor. Sicher haben damit auch die Camorra, Maffia u. s. w. 
etwas zu thun, trotz des Leugnens der Verf. Ganz entschieden Front zu 
machen ist aber bezüglich der Stellungnahme der Verf. betreffs der Epilepsie 
und Verbrechen, die sie zwar nicht ganz identificiren, wie Lombroso, 
aber doch einander sehr nahe stehend erklären. Es giebt epileptische Ver¬ 
brecher, die aber eigentlich nur Kranke sind, keine Verbrecher; andererseits 
sind die andern nur Verbrecher, haben aber von der Epilepsie gar nichts, 
wenn man nicht die uferlose Definition dieser Krankheit ä la Lombroso 
annehmen will. Lombroso hat also nichts bewiesen und nur Verwirrung 
in der Epilepsielehre angestiftet, ebenso wie mit seiner Lehre des atavistischen 
Ursprungs des Verbrechens. Lassen wir aber ruhig die Italiener sich in den 
unbewiesenen Lehren Lombroso's berauschen. Die Wissenschaft legt diese 
Sachen ad acta und wird später nur mit Lächeln davon lesen. Es ist be¬ 
dauerlich und wiederum ein Beweis für die ungeheure Wirkung der Suggestion 


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Besprechungen. 


285 


auch in der Wissenschaft, dass so scharfe Denker, wie Mors eil i und de 
Sanctis sich von ihrem wissenschaftlichen und nationalen Milieu nicht 
immer losmachen können, so auch hier nicht. Sie sind dann blind für 
Anderes und die verwegensten Behauptungen erscheinen ihnen schon als 
Beweise. Sie behaupten so auch, dass die primitiven Völker mehr Epilepsie 
und Entartung darbieten, als die fortgeschrittenen, was wenig wahrscheinlich 
ist. Vor Allem wissen wir hier über diese Dinge so gut wie nichts 
Sicheres. Alles, was Lombroso über die primitiven Völker sagt, ist, wie 
auch über Atavismus im Allgemeinen und Besonderen, nur zusammengefaselt! 
Leider folgen Verf. auch ihrem Meister bezüglich der Graphologie, wenn 
gleich nur mit Vorsicht. Sie finden in Musolino's Schrift Zeichen von Stolz, 
Herrschsucht, Grausamkeit! Ref. hat seine Meinung hierüber an anderer 
Stelle angebracht. Lombroso hat den Banditen als einen „genialen Ver¬ 
brecher“ bezeichnet (Musolino ein Genie? hört, hört! Ref.) und bringt dafür 
seine Gründe vor, warum solche geborene Verbrecher nicht die anthropo¬ 
logischen Zeichen der rei nati tragen. Unsere Verf. erwähnen dies nur 
kurz, statt der Schiefe der Erklärung, die nur die Vertheidigung des ge¬ 
borenen Verbrechers bezweckt, herauszuheben; ja sie scheinen damit sogar 
zu sympathisiren! Verf. glauben weiter, dass jeder Verbrecher krank oder 
anomal, dass jeder Verbrecher im Grunde „desequilibrirt“ sei. Ich glaube, 
dies ist zu weit gegangen; denn dann gäbe es keine Verbrecher mehr, nur 
Kranke oder zu Krankheit Disponirte, Strafe wäre ein Nonsens und das 
Krankenhaus der einzig richtige Ort für sie. Sicher sind sehr viele Ver¬ 
brecher minderwerthig, manche geisteskrank. Die Meisten aber sind 
verlotterte Elemente, die durchaus nicht „desequilibrirt“ 
zu sein brauchen, sondern sich noch in den so weiten Grenzen der 
geistigen u. s. w. Gesundheit bewegen können. Ein Leidenschaftsverbrecher 
ist z. B. deshalb noch lange kein „Desiquilibrirter“ und kann ganz normal 
sein. Wir müssten sonst alle Menschen zu diesen zählen, da in allen mehr 
oder minder ein „latenter Verbrecher“ steckt, also eine gewisse Anlage dazu, 
die nur bei dem Einen stärker, bei dem Andern schwächer ist. Verf. glauben 
nicht, dass ein Epileptiker wissenschaftlich gesunden Sinnes sein, aber 
wohl, dass trotzdem die juristische Zurechnungsfähigkeit bestehen kann, wie 
eben bei Musolino. Bei sehr seltenen Anfällen möchte Ref. Ersteres doch 
nicht ohne Weiteres bejahen. Praktisch nehmen endlich Verf. die verminderte 
Zurechnungsfähigkeit an, die sie aber theoretisch verwerfen. Wenn man 
aber sieht, dass auch in der Psychologie, wie in der Natur, überall Grad¬ 
unterschiede stattfinden, so würde Ref. auch theoretisch keinen Grund gegen 
die Annahme einer verminderten Zurechnungsähigkelt finden. 

Es wäre dem Ref. ein Leichtes, noch eine Reihe anderer Punkte so 
vorzunehmen, doch wollte er hier gerade wieder gewisse wichtige Momente 
besprechen, die den Lehren Lombroso's und seiner Schüler gegenüber 
immer wieder betont werden müssen, was freilich im Gegenlager sicher 
wenig Anklang finden wird, dafür aber hoffentlich um so mehr bei vor- 
urtheilslosen Praktikern und Gelehrten. Es gilt eben stets immer und immer 
wieder eine reinliche Scheidung zwischen Lombrosianern und Nichtlombro- 
sianem herzustellen. 


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286 


Besprechungen. 


14. 

Moll, Der Einfluss des grossstädtischen Lebens und des Ver¬ 
kehrs auf das Nervensystem. Zeitschr. für Pädagogische Psy- ' 
chologie, Pathologie und Hygiene, 1902. Berlin, Walther. H4 Seiten. 
Viel kritischer und vorsichtiger als Möbius tritt Moll uns selbst in 
seinen populären Schriften gegenüber; so auch hier. Er will zeigen, dass 
das Leben der Grossstadt (liier nur als Kultur-Centrum aufgefasst) durchaus 
nöthig ist und in sich selbst Heilmittel gegen ihre Schäden hat, die entschieden 
meist übertrieben werden. Wohl giebt es hier mehr Hirnarbeiter und Ent¬ 
artete, als auf dem Lande, daher hier auch mehr Geistes- und Nerven¬ 
krankheiten. Doch fehlen diese auch dort nicht und es steht der Beweis 
noch aus, ob selbige überhaupt in der Jetztzeit zugenommen haben, ob¬ 
gleich es wahrscheinlich ist. Wir haben zu wenig Statistiken aus Stadt 
und Land und über deren Leiden, und zu unsichere. Wegen der vielen 
Kopfarbeit erkranken relativ mehr Juden, fraglich ist aber die Rolle der 
erblichen Belastung und der Inzucht, (Letzteres wird von den Meisten aber 
bejaht. Ref.). Den Concurrenzkampf hält Verf. nicht für grösser in der 
Grossstadt (? Ref.), dagegen wohl die Gefahr des Lebens ausserhalb des 
Berufs, wobei der Alkohol nicht eine so übermässige Rolle spielt. Leider 
hält Verf. die Verwandtschaft zwischen Geistesstörung und Genie nicht für 
eine blosse Schrulle Lombroso's, mit Recht dagegen die Schulüberbiir- 
dung zum Theil für blosse Phrase. Wer davon tangirt wird, ist eben nur 
ab ovo minderwertliig. Es steht noch zu beweisen, ob Kinderselbstmord 
in Industrieorten und in den Städten häufiger sei. Die Hygiene ist auf 
dem Lande oft schlecht, so dass manche Grossstädte geringere Sterblichkeit 
und mehr Rekruten aufweisen als die Umgegend, z. B. Paris. Die Sittlich¬ 
keit der Grossstadt ist kaum schlechter, als auf den Lande. Der Verkehr 
bringt Nach-, aber auch Vortheile (z. B. hindert er die Inzucht). Eine 
nicht geringe Gefahr der Grossstadt liegt in der „doctrinären Hygiene“, 
z. B. in der Bazillenfurcht. Man sieht also, dass Moll den landläufigen 
Ansichten über die Gefahren der Grossstadt entscliieden widerspricht und, 
wie Ref. meint, mit vollem Rechte. 


15. 

Matiegka, Ueber das Hirngewicht, die Schädelcapacität und 
die Kopfform, sowie deren Beziehungen zur psychischen 
Thätigkeit des Menschen. I.Ueber das Himgewicht des Menschen. 
Sitzungsberichte der kgl. böhm. Gesellschaft der Wissenschaften in Prag, 
1902. 75 Seiten. 

In geradezu musterhafter und erschöpfender Weise behandelt der be¬ 
kannte tschechische Gelehrte das Hirngewicht des Menschen bezw. seiner ver¬ 
schiedenen, auf es wirkenden Factoren, wie Alter, Geschlecht, Körpergrösse, 
Musculatur und Knochen, Ernährungszustand, Beruf, Schädelinasse, Schädel¬ 
form, Rasse, Krankheiten, speciell Psychosen und Todesart, sowie die über¬ 
aus häufige Concurrenz mehrerer Factoren. Er bringt sehr reiche Statistiken 
aus Prag, zieht die gesammte Literatur heran und befleissigt sich überall 


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Besprechungen. 


287 


der grössten Vorsicht in seinen Schlössen. Am interessantesten ist natür¬ 
lich das Kapitel von Hirngewicht und Intelligenz, wobei von Neuem schlagend 
nachgewiesen wird, dass zwischen beiden ein enger Connex besteht, wenn 
gleich noch andere Factoren mitspielen, so auch zwischen Schädelmasse 
und Himgewicbt. Erst nach Lektion dieser schönen Arbeit (und auf solchem 
Grunde werden wir mit Freuden unsem tschechischen Brüdern die Hand 
reichen!) wird einem klar, wie unendlich viel Probleme sich hier erheben, 
wie kaum vergleichbar die vielen gelieferten Statistiken der Autoren sind 
und wie oberflächlich oft Schlüsse gemacht wurden. Von den vielen inter¬ 
essanten Resultaten der Arbeit seien nur folgende erwähnt. Deutlich ist 
Abnahme des H. (Himgewichts) mit dem Alter, und deutlich der Geschlechts¬ 
unterschied, deutlich die Zunahme mit der Körpergrösse, starken Muskeln, 
Knochen, besserem Ernährungszustand. Unter den Factoren, die bei der 
Intelligenz mitspielen, ist das H. der wichtigste, die Ausnahmen sind eben 
nur scheinbar. Auch der Beruf ist von Einfluss, selbstverständlich die 
Schädelmaasse und indirekt auch die Kopfform. Trotz Ammon’s, Wilser’s 
u. s. w. hat den Brachycephale ""cet. par. mehr H. als der Dolichocephale. 
Bei der Rasse spielen neben dem ethischen Factor noch das Milieu, Er¬ 
nährung, Grösse u. s. w. mit. Das Himgewicht der Irren ist im Ganzen 
kleiner und zeigt eine grössere Tendenz, von dem Mittelwerthe in beiden 
Richtungen hin abzuweichen, wie ja auch der Schädelindex. 


16 . 

Möbius, 1. Geschlecht und Krankheit. Marhold, Halle, 1903, 
39Seiten. 2. Geschlecht und Entartung. Ibidem. 1903, 45 Seiten. 

Wieder ein echter Möbius! Geistreich, anregend geschrieben, mit vielen 
unbewiesenen Behauptungen und manchen kühnen Hypothesen, sowie z. Th. 
mit direkt falschen Thatsachen. In der ersten Schrift sucht Verf. nachzu¬ 
weisen, dass die Männer häufiger als die Weiber durch ihr Handeln er¬ 
kranken und sterben, besonders wegen des Alkohols un<J der Lues, dass 
endlich bei den Weibern eine specifische Langlebigkeit wahrscheinlich nicht 
vorliegt. Die letztere Thatsache hat er aber durchaus nicht so wahrschein¬ 
lich gemacht. Es ist dies jedenfalls auch eine schwere Aufgabe! Die 
Wirkung der „inneren Secretion“ der Organe überschätzt Verf. entschieden; 
sie ist noch viel zu wenig bekannt. Das sind zum grossen Theil nur 
Hypothesen. Dass die Entfernung der Eierstöcke die Knochenerweichung 
stets aufhören lässt, ist noch zu beweisen. M. ist auch von der fort¬ 
schreitenden Entartung der Menschen überzeugt, was bisher stricte noch 
nicht bewiesen ist, ebensowenig wie die Zunahme der Geistes- und Nerven¬ 
krankheiten. Direct falsch ist es, wie M. sagt, dass Paralyse der Irren 
und Tabes stets auf Lues sich bezieht. Das sind so nur einige Punkte. 
In der zweiten Schrift schildert Verf. erst den „normalen Menschen“ (auch 
hier sind hier und da Fragezeichen geboten! Ref.). Als Entartungen studirt 
er nachher kurz die körperlichen und geistigen Abweichungen des Ge¬ 
schlechtstriebes. So den Hermaphroditismus (echter ist beim Menschen, so 
viel Ref. weiss, bisher unendlich selten gefunden worden), Hyperpadie, Gynä¬ 
komastie, Effeminatio, Infantilismus u. s. w. Es ist falsch, dass beim Infan¬ 
tilismus immer deutlicher Schwachsinn besteht. Falsch ist es auch, dass M. 


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288 


Besprechungen. 


mit Lombroso die Anlage zum Verbrecher- und Dirnenthum im Grunde für 
dieselbe hält; noch erst neuerdings haben Aschaffenburg und Baum¬ 
garten das widerlegt. In Vielem nähert sich leider M. Lombroso in bedenk¬ 
licher Weise. Ref. glaubt ferner durchaus nicht, dass jeder Homosexuelle 
oder Geniale ein Entarteter sei. Mit dem Worte „Entartung“ sollte man 
überhaupt nicht so freigebig sein wie M. Absolut gesunde und harmonische 
Menschen giebt es nicht So wäre noch manches andere zu rügen. Mit 
Recht verlangt endlich Verf. Abschaffung des § 175 und sieht als Haupt¬ 
factor der Entartung den Alkoholismus an. Hier, wie in dem Kampfe, 
gegen Syphilis und sociale Noth hat die Therapie einzusetzen 


17 . 

Meudes Martins, Sociologia Criminal. (Estudos) Lisboa, 1903 

Tavares Cardoso e Irmäo (portugiesisch). 

In klarer, kurzer und durchaus origineller Art schildert Verf. — 
Advocat in Lissabon — zuerst die alte und die neue Schule der Krimino¬ 
logie, prüft weiter die Kriminalstatistik, bringt die Theorien des Verbrechens 
vor und behandelt endlich eingehend die Behandlung des Verbrechers. Er 
steht durchaus auf dem neuen Standpunkte der positiven Schule, deren 
Resultate er voll annimmt. Wie er sich zu den schiefen Theorien Lom¬ 
broso’s stellt, geht nicht aus dem Buche hervor. In vielen Richtungen tritt 
er den Meinungen, welche in den romanischen Ländern herrschen, bei, wo 
wir ihm nicht folgen können. Einiges aus der interessanten Schrift sei 
hier angeführt. Die Literatur wird reichlich angeführt, doch finden sich 
hier trotzdem vielfach Lücken vor. So wird unter den deutschen Kriminal¬ 
anthropologen nur Albrecht und Liszt erwähnt, Baer, Näcke und 
Kurella weggelassen, ebenso unter den Italienern z. B. Penta und 
Puglia. Die Kriminalstatistik steckt in Portugal noch in den Kinderschuhen. 
Leider sieht Verf. die moral insanity als eigene Krankheit an, was sie 
sicher nicht ist.' Bei uns in Deutschland sind es nur wenige, die sie ver- 
theidigen. Mit Recht ist Verf. Determinist und leugnet den freien Willen. 
Leider will er aber von der verminderten Zureclmungsfähigkeit nichts 
wissen. Sein Ideal ist die sociale Vertheidigung gegen das Verbrechen bei 
einem Minimum persönlichen Leidens. Daher spricht er von der Todes¬ 
strafe überhaupt nicht, präconisirt aber für Unverbesserliche die Deportation. 
Leider glaubt er mit manchen Italienern, dass die Verrücktheit ein Atavismus 
sei, was wir Deutsche entschieden ablehnen, wie wir auch durchaus nicht 
jeden Verbrecher für einen Kranken halten. Mit den Romanen plädirt 
Verf. weiter für Centralanstalten für irre Verbrecher. Alle seine Argumente 
hat Ref. wiederholt widerlegt. Mit Recht weist Verf. die Existenz einer 
eigenen Gefängnisspsychose zurück, hält dagegen das Zellensystem für ab¬ 
solut unschädlich, was sie bei langer Dauer und Disponirten nicht ist. 
Warm tritt Verf. endlich für ein Patronat für Gefangene ein. 


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Besprechungen. 


289 


b) Bücherbesprechungen von Hans Gross. 

18 . 

Ueber die Beziehungen zwischen Spiritismus und Geistes¬ 
störung. Von Dr. R. Henneberg, Privatdoz. und Assistent an d. 
Psych. und Nervenklinik der Kgl. CbaritA 2. Abdr. a. d. Arch. f. 
Psych. u. Nervenkrankheiten. Bd. 34. A. Hirschwald, Berlin 1902. 
Der zur Zeit noch immer weit verbreitete Spiritismus berührt das 
Strafrecht in mehrfacher Weise. Vor Allem ist nicht zu zweifeln, dass mit 
demselben in ausgedehnter Weise Betrug verübt wird, indem sich Leute als 
„Spiritisten“ produciren und ihre Vorführungen gut bezahlen lassen, oder 
indem sie gläubige Leute zu Spenden der verschiedensten Art veranlassen 
oder sonst auf sie in benacbtheiligender Weise einwirken. Aber auch hier 
darf nicht zu weit gegangen werden, indem oft Leute mit ausgesprochen 
krankhafter Anlage, im Somnambulismus, in hysterischem Dämmerzustände 
u. s. w., Handlungen verüben, die strafbar aussehen, es aber nicht sind. 
Das wichtigste Moment dürfte aber darin liegen, dass durch spiritistische 
Experimente oft Geisteskrankheiten hervorgerufen werden, so dass von fahr¬ 
lässigem, oft sehr gefährlichem Treiben gesprochen werden kann. So nannte 
Charcot den Spiritismus geradezu den agent provocateur der Hysterie; in 
amerikanischen Irrenanstalten berechnet man bis zu 2 Proc. der Erkran¬ 
kungen auf Rechnung des Spiritismus, ja die Zahl der in den Vereinigten 
Staaten in Folge spiritistischer Manipulationen Erkrankten wird auf 10 000 
angegeben. Diese und zahlreiche ähnliche wichtige Daten bringt das an¬ 
gezeigte kleine Werk an der Hand zahlreicher Krankengeschichten in be¬ 
lehrender Weise. Verf. will zwar nur darthun, „dass die Beschäftigung 
mit dem spiritistischen Experiment unter Umständen nervöse und psychische 
Störungen auszulösen vermag“ — aber er bringt daneben noch so viele 
Mittheilungen und Ausblicke der verschiedensten Art, dass die Schrift auch 
für uns Kriminalisten als werthvoll und belehrend bezeichnet werden muss. 


19. 

Ueber Gefrierpunktsbestimmungen von Leichenflüssigkeiten 
und deren Verwendung zur Bestimmung des Zeitpunktes 
des eingetretenen Todes. Von Dr. Revenstorf, Assistent im anatom. 
Inst. des Hafenkrankenhauses von Hamburg. (Vierteljahrsschrift für 
gerichtl. Medicin XXV. 1). 

Wenn diese neue Methode auch nur den Gerichtsarzt betrifft, so ist 
sie doch, wenn sie sich bewährt, auch für den Kriminalisten so bedeutend, 
dass er davon Kenntniss zu nehmen hat. Wir erwarten eingehende Be¬ 
sprechungen dieser Methode von zuständiger Seite mit Interesse. 


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Besprechungen. 


20 . 

Alkoholismus und Erziehung. Von Franciscus Hälinel (Bib¬ 
liothek für modernes Geistesleben) Thüringische Verlagsanstalt, Eise¬ 
nach, Leipzig 1902. Jahrgang I Heft 5. 

Der Kampf gegen den Alkohol ist zweifellos eine der segensreichsten 
Thätigkeiten und wer sich demselben anschliesst, ist der beste Gehilfe im 
Kampfe gegen das Verbrechen. Die vorliegende Schrift wendet sich gegen 
den Alkoholmissbrauch der Jugendlichen und weist mit Recht darauf hin, 
wie sehr Zunahme von Alkoholgenuss und Steigerung der Kriminalität bei 
Jugendlichen zusammenhängt. Der Verf. bringt einige Zahlen aus deutscher 
Kriminalstatistik — die österreichische, wie sie Högel in diesem Archiv 
(Bd. 10 S. 1) darstellt, hätte dem Verf. noch sehr unterstützendes Material 
geboten. Ich will nur darauf hinweisen, dass Högel darthut, dass in 
Oesterreich die Zahl der im Jahre 1881 wegen Verbrechen Verurtheilten 
über 33000, im Jahre 1897 aber nur über 29 000 betrug, also nicht un¬ 
wesentlich gefallen ist; dagegen stieg in der gleichen Zeit die Zahl der 
verurtheilten Jugendlichen im Alter von 10—14 Jahren von 460 auf 812! 
Dass diese erschreckende Steigerung zum Theile auch dem Alkohol zuzu¬ 
schreiben ist, wird kaum zu leugnen sein, "wenn wir auch den ziffermässigen 
Antheil nicht ausrechnen können. 


21 . 

Praktische Strafanzeigen (Strafrechtsfälle) aus der Praxis 
der Staatsanwaltschaft gesammelt und für den akadem. 
Unterricht sowie für Referendare der Justiz und Ver¬ 
waltung unter Berücksichtigung des bürgerl. Gesetz¬ 
buches und fortlaufender Anführung der gesetzl. Vor¬ 
schriften, Verordnungen u. s. w. Bearbeitet von Helling, 
Staatsanwaltschaftsrath, kgL pr. Staatsanwalt beim L.-G. in Hildesheim. 
Hannover, Helwing. 1902. 

Der Titel dieses sehr brauchbaren Buches ist zwar lang, aber*er ent¬ 
hält auch alles, was Uber den Inhalt und den Zweck des Werkes zu sagen 
ist. Die einzelnen Fälle, über 300, sind alle der Praxis entnommen, oft in 
dem mangelhaften Style des Anzeigers, wodurch die Sache an Lebendig¬ 
keit bedeutend gewinnt. Am Ende jedes Falles sind die in Betracht kom¬ 
menden Gesetzesstellen angeführt, wodurch namentlich dem Anfänger die 
Behandlung sehr erleichtert wird. Durch diese, dem wirklichen Leben ent¬ 
nommene Form der Fälle wird nicht bloss die wissenschaftliche Frage ge¬ 
stellt: „wie ist der Fall zu entscheiden?“ sondern auch die praktische: 
„was ist überhaupt mit der Sache anzufangen?“ Ich glaube, dass sich 
das Buch auch zum akademischen Gebrauche trefflich eignet Auf österr. 
Universitäten kann beim Gebrauche die vergleichende Behandlung sehr 
nützlich werden, da zu den angegebenen deutschrechtlichen Gesetzesstellen 
erst die österreichischen gesucht werden müssen, was namentlich in den 
Seminaren mehrfachen Nutzen schafft. 


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Besprechungen. 


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22 . 

Internationales Verbrecheralbum. Von J. Travers, Polizeirath 
und Polizeiamtsvorstand, Herausgeber des Internationalen Kriminal¬ 
polizeiblattes. Mainz 1902. Selbstverlag des Herausgebers. 

Dieses internationale Album enthält 502 Abbildungen von Verbrechern 
der verschiedensten Länder, die nach Verbrechen geordnet sind (Mörder, Ein? 
brecher, Hochstapler, Sittlichkeitsverbrecher u. s. w.). Der Text enthält das 
Signalement des betreffenden Verfolgten, die Angabe von wem und in 
welchem Blatte er verfolgt wird. Der praktische Werth einer solchen Zu¬ 
sammenstellung ist um so zweifelloser, als es bekanntlich mühsam und 
schwierig, mitunter unmöglich ist, gerade eine bestimmte Person aus den 
unzähligen Polizei- und Spähblättern herauszusuchen; hat man die Leute 
in einem einzigen Buche vereinigt, so ist das Heraussuchen ebenso leicht 
als rasch zu bewerkstelligen. 

Abgesehen von diesem eminenten praktischen Werth ist dies Buch auch 
für den Kriminalanthropologen von grosser Wichtigkeit, denn ein halbes 
Tausend Verbrecherbilder sieht man nicht leicht irgendwo vereinigt. Der, 
wenn man so sagen darf, künstlerische Werth der einzelnen Bilder ist be¬ 
greiflicherweise sehr verschieden, er hängt davon ab, woher die Abbildung 
entnommen wurde, und findet man neben sehr simpeln, aber immer deutlich 
erkennbar wiedergegebenen Gesichtern solche, die geradezu vortreffliche Por¬ 
träts darstellen. Belehrend ist die, übrigens genügend bekannte Thatsache, 
dass Verbrecher keineswegs immer ausgesprochene Gaunerphysiognomien 
aufweisen. Neben einer Reihe von allerdings auserlesenen Galgengesichtem 
finden sich auch solche, welche selbst der erfahrene Kriminalist keineswegs 
von denen des ehrlichsten Menschen unterscheiden kann. Ein sorgfältiges 
Studium dieser Köpfe ist sehr lehrreich, für eine Neuausgabe des Buches 
möchte ich rathen, unter jeden Kopf ausser Nummer und Name auch ganz 
kurz das Debet zu setzen (Todtschlag, Wechselfälschung, Einbrach u. s. w.); 
es erhöht die Handlichkeit des Werkes bedeutend und macht keine wesent¬ 
liche Mühe. 

23. 

Archiv für slavische Philologie (v. Jagic) XXIV. Bd. S. 137, ent¬ 
hält eine ausgezeichnete Besprechung v. A. Landau über ein (in pol¬ 
nischer Sprache herausgegebenes) Buch von Anton Kurka über die 
polnische Gaunersprache. 

Diese Dinge sind für uns sämmtlich von grosser Wichtigkeit, und 
wenn sie in einer unverständlichen Sprache erschienen sind, so müssen wir 
für Besprechungen, besonders wenn sie so gut sind, wie die von Landau, 
hervorragend dankbar sein. _ 

24. 

Parens-Duchätelet, Die Prostitution in Paris. Ebne social-hygie¬ 
nische Studie, bearbeitet und bis auf die neueste Zeit fortgeführt 
von Dr. med. G. Martaus, EYeiburg i. Br. und Leipzig. E’r. P. 
Idony. 1903. 

Dieses vollkommen ernst und wissenschaftlich gehaltene Buch giebt in 


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Besprechungen. 


einer Reihe von Artikeln, die die wichtigsten Momente des Wesens der 
Prostituirten behandeln, belehrende und erschöpfende Auskunft über das 
Leben der Prostituirten in Paris, aber auch über diese Leute überhaupt, 
da das Eigentliche der Sache kaum irgendwo wiederholt verschieden sein 
wird. Da nun die Prostitution in so wichtigem Zusammenhänge mit den 
Verbrechern steht, so ist das Buch für den Kriminalisten, Kriminalsociologen, 
Kriminalpsychologen und Kriminalpolitiker von wesentlicher Bedeutung. 


25. 

„Zur Psychologie der Aussage.“ Experimentelle Untersuchungen 
über Erinnerungstreue. Von L. W il I i a m Stern, Privatdocent der 
Philosophie a. d. Universität Breslau. Mit 3 Bildern. Berlin 1902. 
J. Guttentag. 

Es giebt wenige Bücher, die in letzter Zeit erschienen sind, welche in 
gewisser Richtung für uns Kriminalisten wichtiger sind, als das angezeigte. 
Stern fasst das Erinnerungsproblem mit fester Hand an und zeigt uns, 
wie unsicher und schwankend die auch ganz normale Erinnerung der 
Menschen ist; er wählt hierzu geschickte ersonnene Proben, über welche gut 
Buch geführt wird und die vortrefflich in ihren Ergebnissen zusammen¬ 
gestellt erscheinen. Es hat auch den Anschein, als ob durch solche überaus 
fördernde Studien eine der für uns wichtigsten Fragen: die Scheidung des 
Wahmehmungsproblems von dem des Erinnerungsproblems der Lösung 
näher gebracht werden könnten. Die Bedeutung dieses Unterschiedes ist 
deshalb für uns so gross, weil wir die Verlässlichkeit oder die Fehler einer 
Aussage anders beurtheilen müssten, wenn wir die Probe auf Wahrnehmung, 
anders wenn wir sie auf Erinnerung machen; zum Mindesten finden wir 
dann, wenn wir auf Erinnerung proben, einen Anhaltspunkt in der seither 
verflossenen Zeit, während diese bei Untersuchung auf Wahrnehmung gleich¬ 
gültig bleibt Ich habe s. Zt 1 ) als oft benütztes Experiment einen Vorgang 
angegeben, bei welchem vor mehreren Zuschauern aus einer Flasche in 
mehrere auf einer Tasse stehende Gläser Wasser gegossen wird, worauf 
nach einiger Zeit die Zuschauer sagen sollen, was geschehen ist; Einzel¬ 
heiten, z. B. wie viel gegossen wurde, mit welcher Hand, in welcher Reihen¬ 
folge, ob es wohl Wasser war u. s. w. weiss selten Einer. Daran ist übrigens 
nichts Merkwürdiges, es werden nur Thatsachen bestätigt, die jeder Krimi¬ 
nalist längst weiss, aber wichtig wäre es für uns, zu wissen, ob die Leute 
die Vorgänge nicht gesehen oder wieder vergessen haben, d. h. ob die Fehler 
der Wiedergabe in der Wahrnehmung oder in der Erinnerung gelegen 
sind: haben die Leute also in unserem Beispiele nicht gesehen, dass ich 
z. B. beim Eingiessen in das zweite Glas etwas daneben gegossen habe, 
oder haben sie es wieder vergessen, oder, was auch möglich ist: haben 
sie es sinnlich wahrgenommen, aber nicht zum Bewusstsein gebracht? 
Ist das erste der Fall, so ist Zeitverlauf natürlich gleichgültig, denn hat 
Einer etwas nicht wahrgenommen, so weiss er davon nach einer Minute 
gerade so wenig, als nach 10 Jahren. Ist das zweite eingetreten, so werden 

1) „Krirainalpsyehologie.“ Graz 1S9S. S. 297. 


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Besprechungen. 


293 


wir sehr genau nachsehen, wie viel Zeit seit (1er Wahrnehmung verflossen 
ist, da die Erinnerung mit der Zeit stets schwächer wird; ist aber die dritte 
Möglichkeit vorhanden, so werden wir, wenn nicht viel Zeit vergangen ist, 
versuchen, durch entsprechende Hülfen und Unterstützungen die fraglichen 
Momente aus dem Unterbewusstsein in das eigentliche Bewusstsein empor¬ 
zuheben. Wichtig genug sind diese Fragen, und näher kommt man ihrer, 
wenigstens theilweisen Lösung einzig durch solche ausgezeichnete Arbeiten, 
wie die besprochene von Stern, und dann durch sogenannte „Zeugen- 
prttfungen“, wie ich sie in der genannten „Kriminalpsychologie“ und in 
meinem „Handbuch für Untersuchungsrichter“ angegeben habe, und wie sie 
dann 0. Klaussmann (in diesem Archiv Bd. I S. 39) genauer ausgeführt 
hat Sind diese Prüfungen für den jeweiligen einzelnen Fall wichtig, so 
liefern Arbeiten, wie die Stern’s sichere, allgemeine und theoretische Grund¬ 
lagen. Ich wollte, dass dieselbe Anregung zu weiteren Untersuchungen 
geben würde, würde aber wünschen, dass den weiteren Untersuchungen nicht 
Gegenstände, sondern Vorgänge zu Grunde gelegt werden. Stern 
hat seinen Versuchspersonen (lauter gebildete Leute) drei Bilder vorgelegt 
und sie 3 /4 Minuten lang ansehen lassen; dann mussten sie in gewissen 
Zeitabständen berichten, was sie noch davon wussten. Das entspricht aber 
den thatsächlichen Verhältnissen nicht, 90 Proc. des für uns Wichtigen sind 
Vorgänge. Lässt man nun die Versuchspersonen (aber verschieden nach 
Natur und Kultur) einen Hergang beobachten (z. B. eine Person tritt in 
das Zimmer, thut da einiges — etwa ein Fenster öffnen, in ein Buch sehen, 
einen Stuhl gleichrücken — und geht wieder fort) so hat man auch Proben 
für das Nebeneinander und Nacheinander. Ein solches Experiment von ver¬ 
schiedenen Versuchern mit verschiedenen Versuchspersonen vorgenommen, 
müsste höchst wichtige kriminalpsychologische Daten gewinnen lassen. 


26. 

Die Todesstrafe in einem neuen Reichsstrafgesetzbuch. Von 
Richard Katzenstein, Dr. jur. intr. Berlin. R. L. Prager. 1902. 
Verf. bekennt sich als Anhänger der Todesstrafe und sucht darzu¬ 
stellen, auf welches Maass dieselbe in einem neuen RStGB. eingeschränkt 
werden müsste. Er erörtert die meisten Gründe, die für und gegen die 
Todesstrafe aufgebracht wurden, und sucht letztere zu widerlegen. Neue 
Momente kommen nicht zum Vorschein. 


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Verlag von F. C. W. VOGEL in Leipzig. 


Soeben erschienen: 



Für Aeizte bearbeitet unter 
o o Mitwirkung Anderer o o 

von Professor Dr. G. Sultan und 
Privat-Dozent Dr. E. Schreiber 

in Göttingen. 



Mit 7*8 .Abbildungen. 

Preis eleg. gebunden Mk. 8.—. 


T herapie der K inderkrankheiten 

Encyklopädisch nach den neuesten 
Erfahrungen bearbeitet von 

Dr. Wilhelm Degre. 

Kaiser!. Rat in Wien. 

Preis Mk. IO—, geb. Mk. 11 25. 


Hyperämie als Heilmittel 

von 

Prof. Dr. Aug. Bier in Bonn. 

Mit IO .Abbildungen. 
Preis Mk. IO.—, geb. Mir. 11.25. 



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XV. 


Mord und Baubversuch oder Todtschlag und Aufgeben 
der Absicht, zu stehlen 1 ). 


Der im Jahre 1868 geborene Alois Jordan ist der aussereheliche 
Sohn einer Dienstmagd. Nachdem er mit bescheidenen Erfolgen die 
Volksschule besucht hatte, diente er von seinem 14. Lebensjahre bis 
zur Einreihung in das Heer auf Bauernhöfen und suchte nach erfüllter 
Wehrpflicht seinen Erwerb wieder als Dienstknecht. Zu Lichtmess 1891 
trat Jordan in den Dienst des Bauers Resch zu Kirchdorf. Dieser war mit 
seiner Arbeitsleistung zufrieden und hatte nur zu tadeln, dass Jordan 
sich an den Sonntagen zu betrinken pflegte. Ausser der Neigung zum 
Trünke zeigte Jordan üble Leidenschaften nicht, er war kein Spieler 
und Schürzenjäger und theilte nicht einmal den landesüblichen Hang 
zur Theilnahme an Raufbändeln und ärgerlichem Unfug. Nur einmal, 
als er im Gasthause von einem anderen gereizt war, Hess es sich hin- 
reissen, dem Gegner einige Schläge mit einem Stocke zu versetzen; 
er handelte hierbei allerdings mit einiger Heimtücke, weil er zum 
Angriff ausholte, als sich der Gegner dessen nicht versah. Die Be¬ 
kannten schildern im Uebrigen den Jordan als einen gutmüthigen Kerl, 
den man so weit brachte, als man ihn schob, als einen Menschen, der 
„zwar vernünftig redete“, aber manchmal „recht dumm dareinschaute 
und einen stieren Blick zeigte“. Die geistigen Fähigkeiten des Jordan 
erreichten gerade das Mittelmaass der Begabung der Leute seines Standes 
und seiner Umgebung. Der ungünstige Eindruck seiner äussern Er¬ 
scheinung wurde durch seine stets vernachlässigte Kleidung erhöht. 
Diese war zum Theil die Folge seiner steten Geldnoth; er Hess, was 
er verdiente, in der Schänke sitzen. Manchmal zwar nahm Jordan 
den Anlauf zur Sparsamkeit, aber er brachte es nie auf eine höhere 
Ersparniss als von 5 Mark, weil seine guten Vorsätze immer wieder 

1) Der Aufsatz stammt aus der Fetter eines Juristen, der mit dem Straf¬ 
verfahren gegen A. Jordan befasst war. 

Archiv für Kriminaianthropologie. XI. 20 


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294 Mord u. Raubversucli oder Todtschlag u. Aufgeben der Absicht, zu stehlen. 

schnell erlahmten. Der fortdauernde Geldmangel machte dem Jordan 
keine Sorge, er lebte stumpf in den Tag hinein. Davon, dass er dem 
Eigenthum anderer gefährlich war, wurde nie gehört. Jordan kam 
in den letzten Jahren der Uebung religiöser Pflichten nur in lauer 
Weise nach; er erblickte später in dieser Saumsal eine Hauptursache 
dafür, dass er sich so weit vergessen konnte, ein Menschenleben zu 
zerstören. 

Am Nachmittage des 23. August 1891 — eines Sonntags — ging 
Jordan in das von seinem Dienstort etwa eine halbe Stunde entfernte 
Dorf Steinach, um sich in dessen Schänken die Zeit zu vertreiben. 
Er gesellte sich zu Bekannten, zeigte aber, seinem Wesen gemäss, 
weder eine laute Heiterkeit, noch verrieth irgend etwas, dass er sich 
mit einem anderen Gedanken trug, als dem, die Stunden herumzu¬ 
bringen. Als es Abend wurde, verliess Jordan die bisherige Gesell¬ 
schaft, nachdem er vergeblich seinen Nebenknecht aufgefordert hatte, 
mit ihm eine andere Schänke, die Schänke des Wirthes Kraus, zu 
besuchen. Ehe er sich allein dorthin begab, machte er bei einer 
Krämerin kleine Einkäufe. Diese, die ihren Kunden kannte, wunderte 
sich darüber, dass er noch eine Mark besitze; er äusserte lachend: 
„ich habe aber auch recht gespart“. Es war 8 V 2 Uhr Abends, als 
Jordan das Gastzimmer des Kraus betrat. In diesem zechte seit ein 
paar Stunden der reiche Bauerssohn Stadler, der auf dem eine Viertel¬ 
stunde von Steinach entfernten Bauerngute seines Bruders wohnte. 
Stadler hatte, bevor er zur Schänke kam, seinem Bruder bei einer 
drängenden Feldarbeit geholfen; er ging von dieser weg zum Trünke 
und trug gegen seine Gewohnheit weder seine Uhr noch eine grössere 
Baarschaft bei sich. Stadler pflegte deshalb mehr Geld bei sich zu 
führen, weil er es liebte, Burschen, die sich an ihn heranmachten, die 
Zeche zu zahlen. Er kehrte oft schwer betrunken aus Steinach heim. 
Es kam nicht selten vor, dass Stadler unter wüstem, in ganz Steinach 
bekanntem Geschrei aus der Schänke heimkehrte; manchmal blieb er 
in Steinach unter irgend einem schützenden Dache bis zur Ernüch¬ 
terung liegen. — Jordan nahm nicht am Tische des reichen Bauers¬ 
sohnes Platz; er setzte sich zum kleineren Volke, sprach aber wenig 
mit seiner Umgebung. Einmal sagte er zu einem Nachbar: „ich mag 
den Stadler gar nicht leiden“ und verfiel dann wieder in sein Vor- 
sichdämmern. Als er sich von seinem Platze für eine Weile entfernte, 
um mit einem Bekannten an einem andern Tische zu plaudern, glaubte 
eine als Gast anwesende Tagelöhnersfrau zu beobachten, dass Jordan 
„mit grossen stieren Augen auf Stadler hinschaute“. Nach und nach 
leerte sich die Schänke; es blieben nur noch Stadler und Jordan als 


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Mord n. Raubversuch oder Todtschlag u. Aufgebot! der Absicht, zu stehlen. 295 


Gäste. Da stürmisches Regenwetter eingetreten war, forderte der Wirth 
Kraus den volltrunkenen Stadler auf, die Nacht in seinem Hause zu¬ 
zubringen. Stadler lehnte es ab. Auf einmal verliess Jordan seinen 
Platz und setzte sich an den Tisch des Stadler. Als dieser die aber¬ 
malige Aufforderung des Wirthes, dazubleiben, abermals abgelehnt 
batte, äusserte Jordan: „Hans ich bringe Dich heim“. Stadler er¬ 
widerte: „ich kenne Dich nicht“, aber Jordan sagte: „ich kenne Dich 
und weiss, wohin Du gehörst“. Der Wirth Kraus glaubte wahrzu¬ 
nehmen, dass Jordan dem Stadler „schön thue“; er sah und hörte, 
dass jener „mit aufgehobenen Händen“ den Stadler um einen Schluck 
Bier — der Vorrath des Wirthes war zu Ende — bat und für den 
vergönnten Trunk mit einem „Vergelt's Gott“ dankte. Etwa l Stunde 
lang sassen die beiden späten Gäste beisammen, ohne viele Worte zu 
wechseln; Jordan schien eine Zeit lang zu schlafen. Als sich Stadler 
endlich zum Gehen anschickte, schloss sich ihm Jordan an; Stadler 
war stark berauscht, Jordan machte den Eindruck eines angetrunkenen 
Menschen. 

Die Schänke des Kraus liegt an der von Westen nach Osten ver¬ 
laufenden Hauptstrasse des Dorfes Steinach. Etwa 100 Schritte vor 
ihr gegen Osten zu entfernt steht das Haus des Schmiedes Wagmann. 
Die Stirnseite dieses Hauses ist gegen die Hauptstrasse gerichtet, die 
Ostseite richtet sich gegen die von der Hauptstrasse abzweigende 
Strasse, die nach dem Dienstorte des Jordan und zum Bauernhöfe 
des Bruders des Stadler führt. Vor der Ostseite des Schmiedanwesens 
ist ein überdachter Arbeitsraum, die sogenannte Schmiedbrücke, in 
ebene Flucht mit dem Körper der abzweigenden Strasse. In der 
Schmiedbrücke stehen mehrere Ambosse und in der Regel Ackergeräthe 
aller Art. War Stadler betrunken, so liebte er es, sich unter dem 
Dache der Scbmiedbrücke zum Schlafe niederzulassen. Der Schmied- 
brticke gegenüber liegt der zum Gasthause des Wirthes Penninger ge¬ 
hörende Schankgarten. Dieser ist gegen die Strasse durch einen aus 
starken Pfählen errichteten Zaun abgeschlossen. An den Garten reiht 
sich nach Süden das ebenfalls an der abzweigenden Strasse erbaute 
Haus der Glaserseheleute Alois und Franziska Pachmann. Von dem 
Fenster des Schlafzimmers dieser Eheleute aus können Vorgänge, die 
sich bei der Schmiedbrücke abspielen, gut beobachtet werden; den 
Leuten, die im Schmiedanwesen wohnen, ist die Beobachtung nicht 
möglich, da das Dach über der Schmiedbrücke die Aussicht verhindert. 

Als in der Nacht des 23. August 1891 etwa um 2 Uhr herum 
der Dorfwächter von Steinach die Runde machte, sah er auf der 
Strasse vor der Schmiedbrücke zwei Mannspersonen stehen; er er- 

20 * 


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296 Mord u. Baubvereuch oder Todtschlag u. Aufgeben der Absicht, zu stehlen. 


kannte als die eine den Bauerssohn Stadler, der andere Mann war 
— dies steht fest — Jordan. Dieser andere „redete in den Stadler 
hinein“, dass er mit ihm heimgehen solle; Stadler erwiderte: „ich gehe 
nicht heim bei dem Regen, ich brauche Dich nicht, ich finde mich so 
heim.“ Der andere sagte darauf: „warum willst Du nicht mit mir 
gehen, jetzt habe ich so lang' auf Dich gewartet.“ Da diese Wechsel¬ 
reden in einem nicht erregten Tone fielen, hatte der Dorfwächter zu 
einem Einschreiten keinen Anlass; er setzte die Runde fort. Als er 
nach einigen Minuten wieder in die Nähe der Schmiedbrücke kam, 
hörte er aus Stadler’s Mund die Worte: „lass mir meine Ruhe und 
rede nicht so dumm daher“. 

Um diese Zeit herum erwachte die Glasersfrau Franziska Pach- 
mann aus dem Schlafe. Sie hörte von der Schmiedbrücke her die 
Worte: „gehen wir heim! nimm Deinen Hut, ich führe Dich heim“ 
und von derselben Stimme gesprochen die Worte: „steh auf, ich bin 
schon oft rauschig gewesen, aber so noch nie, dass ich nicht wieder 
hätte aufstehen können. Da hast Du Deinen Hut, gehen wir heim“. 
Zwischen diese Worte hinein fielen von einer anderen Stimme die 
Worte: „ich geh’ nicht heim, lasse mich gehen“. Eine kurze Weile 
nach diesen Reden und Gegenreden vernahmen die Pachmann und 
deren nun auch erwachter Ehemann die mit lauter Stimme gerufenen 
Worte: „geh’ her, ich firme Dich, dass Du noch nie so gefirmt wurdest“ 
und unmittelbar darauf „Patscher und Tuscher“, aus deren Schall die 
Hörer schlossen, dass heftige Ohrfeigen ausgetheilt wurden. An diese 
Patscher und Tuscher reihte sich die Frage eines Mannes: „was thust 
Du denn mit meiner Pfeife, lass mir meine Pfeife stehen“. Der Glaser 
Pachmann fürchtete, es werde nun zwischen den Streitenden zu ärgeren 
Thätlichkeiten kommen, und öffnete, um die Ereignisse besser sehen 
zu können, das Fenster des Schlafzimmers. Sogleich beobachtete er, 
dass ein Mann von der Scbmiedebrücke weg zum Zaun des Schank¬ 
gartens eilte, unter krachendem Geräusch einen Zaunpfahl aus der 
Erde riss und damit zur Schmiedbrücke zurücklief. Unverzüglich 
darauf hörte Pachmann „vier tüchtige Schläge“. Da er die Person, 
auf die die Schläge niederfielen, nicht sah, vermuthete er, dass sie 
einer auf dem Boden liegenden versetzt worden. Als Pachmann mit 
geschärften Augen hinsah, nahm er trotz der nächtlichen Dunkelheit 
wahr, dass der Mann, der zugeschlagen hatte, an dem Körper eines 
auf der Erde Liegenden „herumgriff“; der Ehefrau Pachmann machte 
es den Eindruck, als ob der Angreifer vor dem Geschlagenen kniee 
und an ihm „herummache“. Schon nach den ersten zwei Schlägen 
rief Alois Pachmann auf die Strasse hinab: „erschlage ihn doch nicht 


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Mord u. Raubversuch oder Todtschlag u. Aufgeben der Absicht, zu stehlen. 297 


ganz“; seine Worte verhallten entweder oder verfehlten ihren Eindruck. 
Es schien dem Pachmann, dass der Geschlagene, der röchelnde Töne 
von sich gab, vom Boden aufzustehen versuche; er sah, dass dessen 
Angreifer nochmals mit dem Zaunprügel ausholte und jenem ein paar 
Hiebe versetzte, dann den Prügel über den Zaun in’s Innere des 
Schankgartens warf und seinen Weg auf der abzweigenden Strasse 
gegen Süden zu fortsetzte. Die Leute im Schmiedanwesen wurden 
ebenfalls auf den bei der Schmiedbrücke entstandenen Lärm aus dem 
Schlafe geweckt; sie hörten eine Person röcheln und stöhnen, wie 
wenn sie erstickte, dachten aber, als Ruhe eintrat, nichts anderes, als 
dass Stadler unter dem üblichen Tumulte bei den Ambossen und 
Pflügen der Schmiedbrücke das Nachtlager aufgeschlagen habe. Am 
Morgen des 24. August wurde die Leiche des Stadler auf dem Strassen- 
körper vor der Schmiedbrücke gefunden; Stadler's Schädel war in 
Trümmer zerschlagen und sein Tod die unmittelbare Folge der augen¬ 
scheinlich mit voller Wucht gegen den Schädel geführten Streiche. 
Der Zaunpfahl, mit dem die Streiche geführt wurden, war über 1 */2 m 
lang und am oberen Ende, womit er auf den Schädel auftraf, 6 */2 cm dick. 

Jordan kam etwa 1 Stunde nach diesen Vorgängen in den seinem 
Dienstplatze benachbarten Stall, in dem der Knecht Meier eben die 
Pferde fütterte. Sein erstes Wort war: „heut' hab’ ich eine Gaudi 
gehabt“ und sich auf Meier's Schlafstelle hin werfend, erzählte er, er 
sei mit Stadler heimgegangen, und dieser über die Pflüge in der 
Schmiedbrücke gefallen, er habe den Stadler heimführen, dieser aber 
nicht mit ihm gehen wollen, er habe den Stadler mit der Hand nieder¬ 
geschlagen und dann mit einem Zaunprügel hübsch fest gehaut.“ 
Meier äusserte Zweifel, ob Jordan, der ihm betrunken zu sein schien, 
so kräftig habe zuschlagen können. Jordan erwiderte, Meier könne 
an der Schmiedbrücke die Blutlache sehen und fügte bei, er habe 
dem Stadler in die Westentasche gelangt, darin nur 1 Pfennig ge¬ 
funden, diesen aber darin gelassen; er habe in Stadler's Hosentaschen 
nicht gegriffen, obwohl Stadler nach reicher Bauern Art dort sein Geld 
in einem Täschchen getragen haben dürfte“. Während Jordan dies 
berichtete, athmete er tief; er verliess dann wankenden Schrittes den 
Stall und ging seiner Schlafstätte zu. Eben als er am 24. August 
mit den übrigen Dienstboten beim Mittagessen, dem er nur wenig zu¬ 
sprach, sass, wurde er von 2 Gendarmen verhaftet. Diese fanden bei 
ihm eine Baarschaft von 3 Mark 48 Pfennig; die Durchsuchung seiner 
geringen Habseligkeiten ergab nichts Verdächtiges. Als ein Gendarm 
den Jordan fragte, „warum er es gethan habe“, antwortete er: „er hat 
etwas gesagt, was mich ärgerte, dann habe ich ihm ein Paar hinauf- 


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298 Mord u. Raubversueli oderTodtselilag u. Aufgeben der Absicht, zu ßtehlen. 


gegeben“ und auf die weitere Frage: „was Stadler gesagt habe“, er¬ 
widerte Jordan: „was Letzes“ (dialectisch = etwas Verletzendes), 
schwieg aber, als der Gendarm weiter forschte: „hat er nicht gesagt, 
gelt’, möchtest mich ausrauben?“ 

Dafür, dass Stadler ausgeraubt wurde, fehlen Anhaltspunkte. Er 
trug am Abend des 23. August gegen seine Gewohnheit weder die 
Uhr noch eine grössere Baarschaft bei sich. In der Westentasche 
Stadler’s fand man 1 Pfennig, in der einen Tasche der Hose 1 Mark, 
in der anderen 60 Pfennig. Die Taschen der Kleider des Stadler 
waren nicht umgestülpt; in der inneren Tasche seines Rockes steckte 
eine fast werthlose Pfeife, deren Porzellankopf in Scherben ausein¬ 
ander gefallen war. Auch bei Jordan wurde nichts entdeckt, was von 
Stadler herzurtihren schien. Er hatte, ehe er in die Schänke des 
Kraus kam, 1 Mark im Besitze; seine Zeche bei Kraus war nicht er¬ 
heblich und der bei der Verhaftung in seinem Gewahr gefundene Baar- 
betrag von 3 Mark 48 Pfennig erscheint daher unverfänglich. Vor 
die Leiche des Stadler geführt, gestand Jordan unumwunden, den 
Stadler erschlagen zu haben, fügte aber bei: „genommen habe ich 
nichts“. 

Gegen Jordan wurde die Voruntersuchung geführt, weil er ver¬ 
dächtig schien, vorsätzlich und mit Ueberlegung bei der Ausführung 
den Stadler getödtet und die Beraubung des Stadler versucht zu haben. 
Jordan leugnete, den Vorsatz der Beraubung des Stadler gehabt und 
diesen, um ihn berauben zu können, getödtet zu haben; er gab bei 
den Vernehmungen als Angeschuldigter Folgendes an: 

„In der Schmiedbrücke standen drei Pflüge. Stadler, den ich 
bis dahin führte, riss sich von mir los und fiel über die Pflüge. Als 
ich ihn aus der Schmiedbrücke wieder herausbringen wollte, packte 
er mich vorne an der Brust und wollte mich zu Boden werfen. Ich 
fasste den Stadler gut an und warf ihn nieder. Der Zorn kam mich 
an, weil ich glaubte, Stadler sebaue mich für schlecht an, fürchte, 
dass ich ihm etwas nehme und gehe aus dieser Furcht nicht mit 
mir. Ich gab ihm zuerst mit der Hand 6—8 Schläge — zumeist in’s 
Gesicht — und in meinem Zorn mit dem Zaunprügel etliche Schläge. 
Stadler erhob den Kopf, dieser wurde daher von den Schlägen 
getroffen. Ich hatte nicht die Absicht, den Stadler zu tödten; ich 
wollte nur, dass er es spüre. Ueberhaupt habe ich bei meinem Vor¬ 
gehen nicht gewusst, was ich that, und nicht bedacht, was geschah. 
Meine Rache gegen Stadler war nicht so gross, dass ich mir dachte, 
er sollte todt werden. Stadler hat mir nichts gethan, gab mir auch 
keine Unrechte Rede. Ich weiss nicht, wie ich da hineingekommen 


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Mord u. Raubversueh oder Todtschlag u. Aufgeben der Absieht, zu stehlen. 299 

bin. Als ich von Stadler fortging, meinte ich: Jetzt hab’ ich ihn 
recht geh aut“; ich wusste nicht, dass ich ihn getödtet habe.“ 

„An das Ausrauben des Stadler dachte ich zuvor nicht. Ich ge¬ 
stehe aber, dass ich ihn aussuchte, nachdem ich ihm die ersten Schläge 
gegeben hatte. Genommen habe ich aber nichts und ich bin darnach 
recht froh gewesen, dass ich nichts genommen habe. Ich weiss 
nicht, ob ich in eine oder zwei Taschen griff; bei dem Aussuchen der 
Taschen wusste ich selbst nicht was ich that. Wegen des Geldes 
habe ich den Stadler nicht erschlagen, sondern nur aus Zorn, weil 
er mich vorne packte und vielleicht auch zu Boden werfen wollte.“ 

Jordan wiederholte vor den Geschworenen das, was er vor dem 
Untersuchungsrichter vorbrachte. Er wurde auf Grund des Wahr¬ 
spruchs der Geschworenen wegen eines V erbrechens des Mordes 
und des versuchten Raubes zur Todesstrafe verurtheilt. 
Die Verkündung des ernsten Urtheils schien auf Jordan einen merk¬ 
lichen Eindruck nicht zu machen; er legte ein Rechtsmittel gegen das 
Urtheil nicht ein. Bei den nach § 485 der Strafprocessordnung ver- 
anlassten Prüfung der Acten wurden in dem hierüber erstatteten Vor¬ 
trag einige Bedenken gegen die Richtigkeit der Beurtheilung der 
Schuldfrage aufgeworfen. Von diesen Bedenken seien aus dem Vor¬ 
trage die folgenden hervorgehoben. 

1. Wer Raub und Mord plant, der muss einen Beweggrund zu 
einem so folgenschweren Entschlüsse haben. Er wird sich zu einem 
solchen Unternehmen, von dessen Gelingen er die Besserung meiner 
wirtschaftlichen Lage erwartet, um so mehr entschliessen, je drücken¬ 
der er die Noth empfindet, aus der er sich befreien will. Die Anklage 
nimmt an, Jordan habe den verbrecherischen Vorsatz gefasst, um der 
steten Geldnoth abzubelfen. Es ist erwiesen, dass er nie über seine 
dürftige Lage klagte. Er war bedürfnisslos, hatte als Dienstknecht 
für Nahrung und Obdach nicht zu sorgen und der Lohn, den er em¬ 
pfing, reichte hin, ihm an den Sonntagen das Schein-Behagen eines 
trunkenen Zustandes zu verschaffen. Am 23. August 1891 besass 
Jordan noch eine Mark — Geld für ihn und seinen Bedarf genug. 
Erwägt man noch, dass Jordan ein Mensch war, der jeder Selbst- 
Thätigkeit entbehrte, so möchte sehr fraglich sein, ob er seinem Ge¬ 
hirne die Aufgabe zumufhen wollte, über die Ausführung von Raub 
und Mord nachzudenken und diese Thaten nach einem bestimmten 
Plane vorzubereiten. 

2. Die Anklage nimmt an, Jordan habe sich mindestens schon 
im Laufe des 23. August 1891 mit dem Entschlüsse der Beraubung 
und Ermordung des Stadler getragen. Diese Annahme' scheint eine 


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800 Mord u. Raubversucb oder Todtachlag u. Aufgeben der Absicht, zu stehlen. 


Stütze in einem Umstand zu finden, der einer gewissen Seltsamkeit 
nicht entbehrt. Jordan Hess seine Leibwäsche bei einer gewissen 
Wittwe Fuchs reinigen; er holte am Vormittage des 23. August ge¬ 
reinigte Wäsche bei der Fuchs ab. Diese fragte ihn, ob er am Nach¬ 
mittage nach Steinach gehe; er erwiderte: „ich muss noch hinauf, 
ich muss noch einen erschlagen“. Dass Jordan diese Aeusse- 
rung machte, steht durch das Zeugniss der Fuchs fest Als ihm der Unter¬ 
suchungsrichter die Aeusserung vorhielt, sagte er, „er hoffe'), dass er so 
nicht gesagt habe“. Die Anklage findet in der Aeusserung den Erweis 
dafür, dass „unbedacht über die Lippen trat, was Jordan in Gedanken 
bei sich wälzte“. Selbst angenommen aber, dass Jordan zur Zeit 
des Gesprächs mit der Fuchs zur Tödtung des Stadler entschlossen 
war, so konnte er doch nicht voraussehen, dass er überhaupt die Ge¬ 
legenheit haben werde, im Laufe des Tages mit Stadler zusammen¬ 
zutreffen. Es möchte auch einiger Widerspruch darin liegen, dass • 
die Anklage die Aeusserungen und Handlungen des S tad le r nachXor.'. 
dem Maassstabe der Beurtheilung eines ruhig überlegenden, planmässig 
vorgehenden Mörders bemisst, aber zugleich meint, der nämUcbe 
Kaltblüter habe vor einer ihm nur oberflächlich bekannten Frauens¬ 
person seinen Vorsatz, selben Tages noch einen zu erschlagen, aus¬ 
plaudern wollen. Jordan mag ein Mensch von geringer Denkkraft 
sein; so wenig begabt ist er sicher nicht, dass er vor einem Weibe tief¬ 
ernste Geheimnisse auskramte. Seine Aeusserung gewann im Lichte 
der späteren Ereignisse eine Bedeutung, an die er nicht dachte; sie 
ist nach den Umständen, unter denen sie fiel, mehr für eine rohe un¬ 
bedachte Rede als für ein Ueberquellen verbrecherischer Gedanken 
zu halten. 

3. Tritt man aber auch der Anschauung der Anklage über den 
ernsten Sinn der bezeichneten Aeusserung bei, so wird zugegeben 
werden müssen, dass Jordan, als er nach Steinach gekommen war, 
der Gelegenheit, mit Stadler zusammenzutreffen, nachgespürt haben 
wird. Wohl das Gegentheil geschah. Jordan verbrachte mehrere 
Stunden des Nachmittags des 23. August in der Gesellschaft junger 
Bursche; es fehlt jeder Beweis dafür, dass er auch nur darnach sich 
erkundigte, ob Stadler in Steinach sei und in welcher Schänke er 
zeche. Erst um die achte Abendstunde kam Jordan in das Gasthaus, 
in dem Stadler schon seit ein paar Stunden weilte; er ging dorthin, 
nachdem er vergeblich einen Nebenknecht zur Begleitung aufgefordert 
hatte. Man wird im Benehmen des Jordan kaum die vorbereitenden 


1) Vcrgl. dieses Archiv. Bd. VI. S. 126. Anmerkung. 


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Mord u. Raubversuch oder Todtschlag u. Aufgeben der Absicht, zu stehlen. 301 

Handlungen eines Menschen erblicken, der nach Steinach gegangen 
sein soll, um einen zu erschlagen. 

4. Die Anklage findet belastend, dass Jordan in der Schänke 
des Kraus zu einem Nachbar sagte, er möge den Stadler nicht leiden. 
Diese Aeusserung kann den Ausdruck eines tiefgründigen Hasses, 
sie kann ebensogut der Ausfluss einer vorübergehenden Missstimmung 
gewesen sein. Da alte Anhaltspunkte dafür fehlen, dass sich bis zum 
23. August 1891 die Lebensbahnen des Stadler und Jordan so ge¬ 
kreuzt haben, dass dieser gegen jenen Hass schöpfte, liegt die An¬ 
nahme nicht ferne, Jordan habe aus übler Laune gesprochen. Jordan 
wird auch im Bierdunste der Kneipe seine Gedanken — freilich die 
Gedanken eines engbegrenzten Gehirns — gesponnen haben. Es lag 
nahe, dass er an sein Dasein und das Dasein des reichen Bauern¬ 
sohnes den Maassstab legte, der dort zu Lande nicht selten angelegt 
wird und wonach man den Werth des Seins nach der wirtschaftlichen 
Fähigkeit, stets über die Mittel zu einem ergiebigen Trünke zu ver¬ 
fügen, misst. Nach diesem Maassstabe war freilich zwischen dem 
reichen Bauerssohne, der am andern Tische gröhlend zechte, und dem 
armen Bauernknechte, der unter kleinem Volke stumpfsinnig sein 
Glas leerte, ein gewaltiger Unterschied. Da mochte es den Jordan 
verdriessen, dass er vom reichen Stadler bisher der Zechbruderschaft 
nicht gewürdigt worden war; es lag nahe, dass sich Jordan’s 
Stimmungen in die Aeusserung zusammendrängten, er möge den 
Stadler nicht leiden. Die Aeusserung gleicht einer abgerissenen Scholle 
aus der Gedankenarbeit des Jordan; es möchte bedenklich sein, aus 
dem Sprengstücke viel zu schliessen, da man das Ganze nicht kennt, 
von dem es sich löste. 

Die Anklage führt in’s Feld auch die Beobachtung einer Zeugin, 
Jordan habe mit grossen, stieren Augen auf Stadler hingeschaut, und 
vermuthet, Jordan habe in diesem Augenblicke die bald darauf aus¬ 
geführte That erwogen. Die psychologische Richtigkeit der in der 
trüben Beleuchtung einer Dorfschänke gemachten Wahrnehmung einer 
Taglöhnersfrau kann auf sich beruhen. Die Anklage scheint bei 
ihrer Vermuthung in einigen Widerspruch mit sich zu gerathen. Nach 
ihr stand Jordan s Plan schon beim Gespräche mit der Wäscherin 
Fuchs fest; eine neue Erwägung des Planes war wohl nicht mehr 
nöthig. Daran aber, dass Jordan, nachdem er (angenommen) den 
Vorsatz der Ermordung Stadleris einmal gefasst hatte, mit stieren 
Augen gleichsam aus Mitleid nach dem nichts ahnenden Opfer hin¬ 
sah, ist wohl nicht zu denken; eine solche Gemüthstiefe ist einem 
Menschen, der Raub und Mord plant, kaum zuzutrauen. 


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302 Mord u. Kaubversuch oder Todtschlag u. Aufgeben der Absicht, zu stehlen. 

6. Ein besonderes Gewicht legt die Führung des Belastungsbe¬ 
weises darauf, dass sich Jordan nach dem Weggange der anderen 
Gäste an Stadler heranmachte und als Begleiter auf dem Heimweg 
anbot. Jordan begegnet dem daraus abgeleiteten Verdachte mit dem 
Einwande, dass er dem Stadler, wenn er dessen Geld hätte haben 
wollen, auf freiem Felde hätte auflauern und ihn dort hätte nieder- 
schlagen können. In der That, hätte Jordan so gehandelt, so würde 
ihn die regnerische Nacht und das einsame Feld wohl vor der Ent¬ 
deckung bewahrt haben. Bei einigem Nachdenken musste sich Jordan 
sagen, dass alle Welt sofort auf ihn deuten würde, wenn er den 
trunkenen Stadler heimführe und dieser beraubt und getödtet gefunden 
würde. Sofern also Jordan Schlimmes plante, verbot ihm die ge¬ 
wöhnlichste Vorsicht, in so auffälliger Weise auf Stadler’s Heiragehen 
zu warten, sich ihm unter einschmeichelndem Wesen zu nähern und 
in seiner Gesellschaft die Schänke zu verlassen. Nach der Unter¬ 
stellung der Anklage machte sich Jordan dieser Unbesonnenheit 
schuldig. Ehe man diese annimmt, darf vielleicht doch nach einem 
andern Beweggründe des Handelnd des Jordans gesucht werden. 
Diesem war es bisher nicht vergönnt gewesen, in die Zechrunde des 
Stadler aufgenommen zu sein. Damals bot sich die Gelegenheit zu 
näherer Bekanntschaft und die Möglichkeit, sich dem Stadler durch 
Leistung des Führerdienstes gefällig zu erweisen. Eine Politik dieser 
Art und solcher Zwecke lag dem engbegrenzten Kopfe des Jordan 
wohl näher als der von der Anklage unterstellte weitgreifende Plan, 
den Jordan ungeschickt genug eingefädelt und verfolgt hätte. 

6. Hält man mit der Anklage an der Anschauung fest, Jordan 
habe in verbrecherischer Absicht den Stadler begleitet, so wird von 
ihr zu beweisen sein, dass Jordan — seine Handlungen bis dahin 
lassen eine Planmässigkeit wenig ersehen — im entscheidenden Ab¬ 
schnitte, der der Ausführung seiner Vorsätze gegolten haben soll, 
planmässig und mit Bedacht vorging. Jordan musste sich auf einen 
Widerstand Stadler’s gefasst machen; er musste daher über die Mittel 
den Widerstand zu brechen, nachdenken und die Mittel bereit halten. 
Es ist festgestellt, dass Jordan damals das landesübliche, im Griffe 
feststehende Messer nicht bei sich trug und dass er, als er mit Stadler 
die Schänke verliess, nicht einen wuchtigen Stock oder Todtschläger 
bei sich führte; er also, dem die gegenüber der Wäscherin gebrauchten 
Worte als ein sicherer Erweis mörderischer Absichten ausgelegt wird, 
hatte seine Hände mit einem Werkzeuge zum Todtschlagen nicht be¬ 
wehrt. Daran, dass er den Stadler durch die Kraft der Arme allein 
verstummen machen könne, konnte Jordan wohl nicht denken. 


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Mord u. Baubversuch oder Todtschlag u. Aufgebon der Absicht, zu stehlen. 303 

7. Die Anklage nimmt an, Stadler habe Jordan’s Pläne dadurch 
durchkreuzt, daSs er in der Schmiedebrücke übernachten wollte; es 
wäre dem Jordan darum zu thun gewesen, den Stadler in’s freie 
Feld hinauszuführen. War Jordan’s Sinnen und Trachten auf das Geld 
gerichtet, so konnte er warten, bis der trunkene Mann in tiefen Schlaf 
verfiel und dann leicht — ohne morden zu müssen — den Schlafen¬ 
den bestehlen. Die Anklage verschliesst sich einer solchen Annahme; 
sie behauptet, dass Jordan, nachdem der Plan der Ausführung im 
freien Felde missglückt sei, den verwegenen Muth hatte, mitten im 
Dorfe, kaum hundert Schritt von der eben verlassenen Schänke ent¬ 
fernt, zu rauben und zu morden. 

Jordan — so nimmt die Anklage an — leitete den Angriff gegen 
Stadler mit den Patschern und Tuschern in das Gesicht des Stadler 
ein und griff dann nach der in- der inneren Rocktasche vermutheten 
Baarschaft Stadler’s. Die Anklage stützt.diese Annahme auf die Worte 
des Stadler: „Was thust Du denn mit meiner Pfeife, lass mir meine 
Pfeife stehen“; sie stützt diese Annahme nur auf diese Worte und geht 
hierbei von der immer erst noch zu beweisenden Absicht des Jordan, 
den Stadler zu berauben, aus. Da aber die näheren Umstände, unter 
denen die Worte fielen, unbekannt sind, kann aus ihnen ein so weit¬ 
greifender Schluss nicht gezogen werden. Gesetzt nnn aber auch, 
dass der Griff in die innere Rocktasche den Raubanfall einleitete, so 
liegt in dem weiteren Handeln des Jordan ein Umstand, der die Be¬ 
raubungsabsicht in Zweifel stellt. Stadler war durch die Schläge in’s 
Gesicht zu Boden gefallen. Jordan setzte das Durchsuchen der 
Taschen nicht fort, sondern verliess sein Opfer, zermarterte dann 
dessen Schädel und obwohl nun Stadler wehrlos geworden war, be¬ 
gnügte sich Jordan mit der Durchsuchung von einer oder zwei 
Taschen, nahm aber daraus nichts und unterliess, nach Weiterem zu 
suchen. Die Anklage kann nicht aufklären, warum Jordan von dem 
nach ihrer Anschauung gefassten Vorsätze zu rauben, abstand, obwohl 
ihn nichts an dessen Ausführung hinderte. 

9. Nach den vorstehenden Darlegungen scheint das Leugnen 
Jordan’s bezüglich des Vorsatzes der Beraubung und Ermordung 
immerhin Beachtung zu verdienen und dürften für die Wahrschein¬ 
lichkeit seiner Darstellung einige Gründe sprechen. 

a) Nach dem Zeugnisse des Dorfwächters steht fest, dass an 
der Schmiedbrücke eine Meinungsverschiedenheit zwischen Jordan und 
Stadler entstand, weil dieser von jenem nicht heimbegleitet werden 
wollte. Der Dorfwächter hörte, dass Stadler zu seinem Begleiter 
sprach: „lass mir meine Ruhe und rede nicht so dumm daher“. Es 


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304 Mord u. Raubvereuch oder Todtschlag u. Aufgeben der Absicht, zu stehlen. 


ist nicht bekannt, welche Worte des Jordan den Stadler zn diesem 
Ausbruche des Unwillens veranlassten/. Als Stadler sie äusserte, stand 
er noch auf seinen Füssen. Dass er bald darauf zu Boden fiel, ist 
aus den von der Zeugin Pachmann bestätigten Worten: „steh’ auf — 
ich war noch nie so rauschig, dass ich nicht wieder hätte aufstehen 
können, nimm Deinen Hut, gehen wir heim“ zu entnehmen. Jordan 
behauptet, er habe den Stadler vom Boden aufgerissen, Stadler dann 
ihn an der Brust gepackt und dadurch zu der Meinung verleitet, 
jetzt beabsichtige Stadler ihn niederzuzwingen. Diese Behauptung 
ist nicht unwahrscheinlich. Es ist möglich, dass Stadler seinem Un- 
muthe darüber Luft machen wollte, dass Stadler sein Vorhaben, 'mJc'. ?' 
dem Baume der Schmiedbrücke zu nächtigen, störte, es ist auch 
möglich, dass Stadler gegen den aufdringlichen Begleiter Misstrauen 
schöpfte, daher ihm mit Gewalt entgegentreten und die Lust zu einem 
Angriffe nehmen wollte. Berücksichtigt man ferner, dass Jordan 
gegenüber dem Gendarmen behauptete, Stadler habe „was Letz es“ 
zu ihm gesagt, und ihn dadurch geärgert, so dürfte der Schlüssel 
für die Worte des Jordan: „geh’ her, ich firme Dich, dass Du noch 
nie so gefirmt worden bist“, gefunden sein. Mit solchen Worten 
leitet kein Mörder sein meuchelndes Vorgehen ein; sie sind der Aus¬ 
druck einer plötzlich erregten, zur Gewalt gereizten Stimmung. Dieser 
entsprach die unverzüglich einsetzende That; es fielen unmittelbar 
auf diese Worte die Patscher und Tuscher der Handstreiche des 
Jordan. Wenn bei diesem thätlicben Aneinandergerathen Beider Stadler 
ausrief: „was thust Du denn mit meiner Pfeife?“ so braucht dem 
keineswegs ein Zugreifen des Jordan nach der Rocktasche oder Pfeife 
vorausgegangen zu sein; es ist ebenso gut möglich, dass der miss¬ 
trauisch gewordene Stadler die Empfindung zu haben glaubte, Jordan 
lange nach der Pfeife oder in die Rocktasche. 

b) Eben dieser Ausruf des Stadler giebt vielleicht das psycholo¬ 
gische Deutungsmittel bezüglich der Zornesstimmung, in der gehandelt 
zu haben Jordan fort und fort betheuerte; er betheuerte vor den Ge¬ 
schworenen, er sei deshalb so in Zorn geratben, weil er glaubte, 
Stadler halte ihn „für schlecht“ und habe den Verdacht, dass er von 
ihm ausgeraubt werde. Dafür, dass sich bei Jordan von den ersten 
mit der Hand geführten Streichen an die gewalttbätig erregte Stimmung 
steigerte und bis zum blindwüthigen Angriff auf Stadl er’s Leben er¬ 
hitzte, ist nach den übereinstimmenden Aussagen der Eheleute Pach¬ 
mann mit Grund anzunehmen; sie sahen, dass Jordan von der Schmied¬ 
brücke weg zum nahen Zaune sprang, eilends aus dem Zaungefüge 
mit grosser Kraftentfaltung einen Pfahl brach und rasch zur Schmied- 


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Mord u. Raubvereuch oder Todtschlag u. Aufgeben der Absicht, zu stehlen. 805 

brücke zurückgekehrt mit dem Pfahle die wuchtigen Hiebe austheilte. 
Vielleicht wendet man ein, dass Jordan’s Behauptung, ihn habe eine 
„letze“ Rede des Stadler geärgert und er „habe es desshalb gethan“ 
keinen Glauben verdiene, weil Jordan wohl kaum ein so feines Ehr¬ 
gefühl hatte, dass er sich durch die verletzende Rede eines Voll¬ 
trunkenen zu einer so schweren That hätte hinreissen lassen. Der 
Einwand scheint vor den Erfahrungen des täglichen Lebens nicht 
bestehen zu können. Zwar gehörte Jordan zu der niedersten Schichte 
ländlicher Arbeiter und im Dorf und Gau zu den Leuten, die 
wenig gelten, weil sie weder dm.Geld noch em liegendes Gut be¬ 
sitzen, aber gerade für solche Leute ist der Ruf der Ehrlichkeit ein 
Besitz, den sie ängstlich hüten. Der gute Ruf der Ehrlichkeit ist für 
diese Leute die Bedingung der Verwendbarkeit ihrer Arbeitskraft und 
die einzige Brücke, die sie gesellschaftlich mit dem Theile der Land¬ 
bevölkerung verbindet, der angesessen ist und darum als angesehen 
gilt. Und wenn damals auch in Folge des Alkoholgenusses der 
Nervenknäuel des Jordan etwas gelähmt gewesen sein mag, so er¬ 
fasste und empfand er doch gewiss rasch das Verletzende, das im 
Zweifel Stadler’s an seiner Ehrlichkeit steckte. 

c) An meiner der Darstellung des Jordan bezüglich der Veran¬ 
lassung der That günstigen Auffassung darf auch der Umstand nicht 
irre machen, dass er in die Westentasche des am Boden liegenden 
Stadler — vielleicht auch in zwei Taschen — langte. Man kennt 
diesen Umstand nicht auf Grund der Angaben der Eheleute Pach- 
mann — sie sahen nur, dass Jordan am Körper des Stadler „herum- 
macbte“, sondern nur aus Jordan’s Erzählung im Stalle des Knechtes 
Meier. Wäre sich Jordan dessen bewusst gewesen, dass er die Ab¬ 
sicht hatte, dem Stadler Geld zu nehmen, so hätte er diese Schlech¬ 
tigkeit verschwiegen; er konnte nach der landesüblichen Auffassung 
darauf rechnen, dass Meier den Raufhandel mit Stadler nicht miss¬ 
billigte, er wusste aber, dass er sich in den Augen Meiers und aller 
Dorfgenossen herabgesetzt hätte, wenn er den bestohlen hätte, den 
er im Raufhandel niederbezwungen hatte. Das angebliche Selbstbe- 
kenntniss des Jordan kann daher nicht für ein Anzeichen seiner räube¬ 
rischen Absicht, viel eher dafür gehalten werden, dass er die Durch¬ 
suchung der Taschen als einen Akt der Neugier, als eine ihn nicht 
belastende Thatsache ansab. Es ist ja möglich, dass, als Jordan den 
Stadler wehrlos sah, die Versuchung, dem Stadler Geld zu nehmen, 
blitzartig an ihn herantrat; dass er der Versuchung Widerstand leistete, 
ist aus dem Umstande zu entnehmen, dass er sich von Stadler’s Gut 
und Geld nichts zueignete, obwohl ihn nichts daran hinderte; die 


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306 Mord u. Raubversuch oder Todtschlag u. Aufgeben der Absicht, zu stehlen. 


Worte Jordan’s „er sei darnach recht froh gewesen, dass er nichts 
genommen habe“, deuten daraufhin, dass im damaligen Aufruhre seines 
Innern auch der Gedanke, den Stadler zu bestehlen, aufschoss, aber 
wieder zum Schweigen gebracht wurde. 

d) Jordan fasste am Schlüsse der Voruntersuchung seiner Dar¬ 
stellung die Ereignisse an der Schmiedbrücke in die Worte zusammen: 
„zuerst warf ich den Stadler zu Boden, dann gab ich ihm etliche 
Streiche mit der Hand, ich erwischte darauf einen Zaunprügel und 
gab ihn damit wieder etliche Hiebe. Ich wartete dann ein wenig und 
gab ihm wieder einige.“ Der Untersuchungsrichter fragte ihn, warum 
er denn noch einmal auf Stadler einschlug; er erwiderte: „ich weiss 
selbst nicht, wie ich da gewesen bin“. Soweit Jordan bei dieser Dar¬ 
stellung den äusseren Verlauf der Ereignisse schildert, ist er in 
Uebereinstimmung mit den Aussagen der Eheleute Pachraann. Was 
nun aber die inneren Beweggründe des Handelns des Jordan be¬ 
trifft, so möchte sich die Anschauung vertreten lassen, dass für die 
auf Mord- und Baubversuch erhobene Anklage ein jeden Zweifel aus- 
schliessender Beweis nicht erbracht ist Eine ruhig abwägende Prü¬ 
fung des ganzen Beweisstoffes gestattet, wie es scheint, die dem Jordan 
günstigere Anschauung, dass er ohne auf Raub- und auf Mord aus¬ 
zugehen, die That nur in jäh aufwallender, leidenschaftlich erregter 
Stimmung, die ihn der besonnenen Ueberlegung beraubte, ausgeführt 
habe. Freilich auch dann, wenn man in diesem Sinne die Waag¬ 
schale zu Jordan’s Gunsten sinken lässt, ist seine Verfehlung, der ein 
Menschenleben zum Opfer fiel, noch für ausserordentlich schwer zu 
halten. — 

Durch die Gnade des Staatsoberhaupts wurde die gegen Jordan 
ausgesprochene Todesstrafe in eine Zuchthausstrafe von fünfzehn Jahren 
gemildert. 

Nachschrift. Mit der Kunde, dass Stadler erschlagen wurde, 
trug sich rasch die von Jordan gegenüber der Wäscherin Fuchs ge¬ 
machte Aeusserung „er müsse heute noch einen erschlagen“ herum. 
Man gelangte zu dem Verdachte, dass ein Raubmord verübt wurde, 
um so mehr, als bei der Leiche des Stadler nur wenig Geld gefunden 
wurde und bekannt war, dass Stadler eine grössere Baarschaft bei- sich 
zu tragen pflegte. Das Volksgerücht gelangte noch am 24. August 
an den Untersuchungsrichter, der an einem von Steinach ziemlich 
entfernten Orte in einer andern Strafsache Untersuchungshandlungen 
vornahm. Es erklärt sich daher, dass die dem Jordan ungünstige 
Auffassung das ganze Strafverfahren bis zum Wahrspruche der Ge¬ 
schworenen beherrschte. Diese gehörten in der Mehrzahl den länd- 


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Mord aus eigenem Entschluss oder auf Anstiften? 


307 


liehen Kreisen an. Es würde der Erfahrung nicht widersprechen, 
wenn man annehmen wollte, dass diese Mehrzahl deshalb nicht ab¬ 
geneigt war, der strengeren Auffassung der Anklagebehörde beizutreten, 
weil ein Bauerssohn das Opfer der That des Jordan wurde. 


Mord aus eigenem Entschluss oder auf Anstiften ? 

Bei Uebersee, einer Station der Bahnlinie München—Salzburg 
mündet von Süden her das Thal der grossen Ache. In dem Thale 
liegen u. a. die Orte Piesenhausen und Unterwössen. Von Unterwössen 
aus führt, der Ache folgend, eine Strasse in westsüdlicher Richtung 
nach Klobenstein, dem Grenzdorfe Oesterreichs gegen Bayern; weiter¬ 
hin gegen Süden liegt der tirolische Ort Kössen. Eine andere Strasse 
in ostsüdlicher Richtung angelegt, führt von Unterwössen nach dem 
Dorf Oberwössen. Gegen dieses fällt der Südostabhang des etwa 
850 m hohen Eckthalerberges in nicht besonders jäher Weise ab. Der 
Süd- und Ostrücken dieses Berges trägt mehrere Almen; zu ihnen 
gehören die Donauer-, die Marti-, die Parsberg- und die Baumgartner- 
Alm. Von diesen Almen liegfo am weitesten gegen Westen hin die 
Donauer Alm. Ein Steig führt von ihr zu der 100 m höher und gegen 
Osten gelegenen Martl-Alm. Von der Martl-Alm leitet über steile Weide¬ 
hänge und theilweise durch einen lichten Buchenwald ein Steig zu 
der tiefer und östlicher gelegenen Parsberg-Alm. Bei den Hütten 
(Kasern) dieser Alm beginnt ein bequemerer Weg zu der am weitesten 
gegen Osten vorgeschobenen Baumgartner-Alm und von dieser aus er¬ 
reicht man auf einem mässig abfallenden Strässchen den Ort Ober¬ 
wössen. Die Weidegründe der Marti- und Parsberg-Alm sind durch 
einen Zaun getrennt, der von der Höhe des Eckthalerberges bis an 
dessen Fuss läuft und den bezeichneten Buchenwald durchschneidet. 
Der Zaun ist durch keine Thoröffnung durchbrochen; er entbehrt 
. auch der sonst im Gebirge üblichen Vorkehrungen, die das Steigen 
über einen Zaun erleichtern. Da das Klettern über den Zaun Zeit 
und Mühe verursacht und die Steige zwischen der Donauer-, Martl¬ 
und Parsberg-Alm steil sind, werden sie von den Leuten dieser Almen 
bei dem Gange nach Oberwössen nicht gerne benützt. Diese Almer 
eilen, zumal wenn sie Lasten nicht zu tragen haben, von ihren Almen 
pfadlos über die Weidegründe der Baumgartner-Alm und dem Sträss¬ 
chen nach Oberwössen zu. 

Die Martl-Alm gehörte dem Bauer Martin Gruber in Achberg, 
einem Weiler an der Strasse von Unterwössen nach Klobenstein. Ach- 


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308 Mord aus eigenem Entschluss oder auf Anstiften? 

berg ist von der Grenze eine halbe Stunde entfernt; die Martl-Alm ist 
von Achberg in IV 2 Stunden zu erreichen. Die Alm war auch im 
Sommer 1893 mit Vieh befahren, das unter der Aufsicht des Knechtes 
Joseph Schmuck und der Tochter Therese des Martin Gruber stand. 
Dieser hatte, wie in den Vorjahren, auch im Sommer 1893 mehrere 
Gelasse der geräumigen Almhütte an den Senner Sebastian Rappel 
von Piesenhausen vermiethet, der in ihnen Käse aus Milch bereitete, 
die er auf den benachbarten Almen zusammen kaufte. Der tüch¬ 
tige Rappel war ein wohlhabender Mann. Er hatte einen Theil seines 
Vermögens an Schuldner ausgeliehen, die er für sicher hielt, und 
pflegte stets eine grössere Baarschaft — 1500—2000 Mark — in Bank¬ 
noten und Gold bei sich zu tragen; verliess er die Alm nur für eine 
kurze Weile, so führte er die Baarschaft, in einer Brieftasche und 
Börse verwahrt, in der innem Tasche seiner Joppe bei sich. Dieselbe 
Tasche barg dann auch sein Notizbuch, worin er die Namen seiner 
Dahrlehnsschuldner und die Beträge verzeichnete, die er für gekaufte 
Milch schuldete und für verkaufte Käse zu fordern hatte. Die selt¬ 
same Gewohnheit des Rappel, stets eine grössere Baarschaft bei sich 
zu tragen, war dem Bauer Gruber, seiner Tochter Therese und dem 
Knechte Schmuck bekannt. 

Während Rappel in der ganzen Thalschaft den besten Ruf genoss, 
ging eine weniger günstige Rede über den Dienstknecht Schmuck. 
Dieser wurde im Jahre 1850 als der aussereheliche Sohn einer Dienst¬ 
magd von Oberwössen geboren, er führte, da seine Mutter einen ge¬ 
wissen Winterstetter heirathete, im Volksmunde den Namen: „Winter- 
stetter-Sepp“. Schmuck diente seit der frühesten Jugend bei Bauern 
des Achenthaies; seit dem Jahre 1883 war er bei dem Bauer Martin 
Gruber von Achberg bedienstet. Vermögenslos und in Folge eines 
Satthalses von einem abstossenden Aeussern hatte Schmuck keine 
Aussicht, durch die Ehe mit einem vermöglichen Mädchen ein eigenes 
Heim zu erwerben; es stand ihm bevor, um einen geringen Lohn die 
harte mühselige Arbeit eines Knechtes im Gebirge zu verrichten, so-* 
lange seine Kräfte Stand hielten. Wie so viele seiner Arbeitsgenossen 
suchte auch Schmuck nach der Plage der sechs Wochentage an den 
Sonntagen in den Freuden der Flasche Erholung und Betäubung. 
Er trieb sich dann in den Schänken herum, huldigte diesseits der 
Grenze dem Biere; jenseits der Grenzpfähle dem Wein und zettelte, 
wenn er betrunken war, schlimme Raufhändel an. Bei solchem wüsten 
Treiben verkam Schmuck mehr und mehr. Es focht ihn nicht an, 
dass er sich durch seinen Wandel um die Achtung der ordentlichen 
Leute brachte; sein Ehrgefühl war ebenso abgestumpft wie sein Sinn 


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Mord aus eigenem Entschluss oder auf Anstiften? 

für Recht und Gesetz unter seinem ^ange zum Wildern litt, dem er 
nachging, wo er konnte. Natürlich bot dem Schmuck der Aufenthalt 
in der Martl-Alm die beste Gelegenheit, in den nahen wildreichen 
Gehegen verbotenem Jagen nachzugehen. Verrath hatte er nicht zu 
fürchten: auch nicht von der Seite des Rappel. Mochte dieser auch 
gesetzmässig denken und handeln, so verleugnete er gewiss darin 
nicht die Natur des Gebirglers, dass er für das Wilderertreiben des 
Schmuck, wo nicht zustimmendes Mitgefühl, doch jedenfalls blinde 
Augen und stumme Zunge hatte. Es fiel daher dem Rappel gewiss 
nicht auf, dass Schmuck auch im Sommer 1893 auf die Alm Gewehre 
und reichen Schiessbedarf mitbrachte; es war übrigens in allen Kasern 
des Eckthalerberges bekannt, dass Schmuck wildere. 

Am Abende des 5. August 1893 — eines Samstags — äusserte 
der Senner Rappel zur Therese Gruber und zu Schmuck die Absicht, 
am nächsten Tage nach der Mittagsmahlzeit nach Oberwössen zu 
gehen; er versprach der Gruber, für sie ein leeres Bierfass an einen 
Wirth in Oberwössen zurückzubringen. Schmuck verliess nach diesem 
Gespräche die Alm, ging nach Achberg, brachte die Nacht im Hause 
seines Dienstherrn zu und begab sich am Morgen des 6. August nach 
Klobenstein; er verzehrte im Gasthause dort einige Schoppen Wein 
und enteilte, mit einer Flasche Wein versehen, „weil er wieder auf 
seine Alm zurück und die Therese Gruber ablösen müsse“. Es mag 
gegen die Mittagszeit gewesen sein, als Schmuck bei der Donauer- 
Alm anlangte; er bot der Almerin, der er angetrunken zu sein schien, 
einen Schluck Wein, lehnte aber ein längeres Plaudern ab, „weil er 
schauen müsse, dass er den Senner Rappel noch erwische, damit er 
von dessen Biervorrath noch ein paar Flaschen bekomme“. Eben 
als sich Schmuck anschickte, zur Martl-Alm anzusteigen, begegnete 
ihm die nach Achberg gehende Therese Gruber. Schmuck fragte diese 
ob Rappel noch auf der Alm sei; er sagte auf die Antwort des Mäd¬ 
chens, Rappel stehe im Begriffe, die Arbeitstracht gegen bessere Kleider 
zu vertauschen, „dann habe er Eile auf die Alm zu kommen, weil 
er von Rappel noch Bier haben wolle“ und ging mit raschen Schritten 
der Martl-Alm zu; er wird sie in etwa zehn Minuten erreicht haben. 
•Mittlerweile war schlechtes Wetter eingetreten; ein feiner Regen rieselte 
hernieder und um die Flanken des in der Stille eines Sonntagnach¬ 
mittags ruhenden Eckthalerberges krochen Nebel, die dicht genug 
waren, Dinge und Vorgänge schon auf kurze Entfernung zu verhüllen. 

Etwa eine Stunde später, nachdem Schmuck von der Donauer- 
zur Martl-Alm geeilt war, erschien er wieder bei der ersteren, sagte 
zu deren Sennerin „er habe auf der Martl-Alm etwas gegessen und 

Archiv für Kriminalanthropologie. XI. 21 


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Mord aus eigenem Entschluss oder auf Anstiften? 


Zeitung gelesen; es freue ihn nicht, droben allein zu sein, er sei 
schläfrig und möchte sich aufs Heu legen tt , und bat, man möge ihn 
wecken, wenn die Therese Gruber zurückkomme. Der Umstand, dass 
Schmuck im Heu der Donauer Alm schlafen wollte, fiel der Sennerin 
dieser Alm deshalb auf, weil Schmuck in der geräumigeren Martl- 
Alm ein besseres Lager gefunden hätte. Um drei Uhr Nachmittag 
kam, von Achberg zurückkehrend, Therese Gruber zur Donauer-Alm; 
sie verliess diese in Begleitung des Schmuck, der auf die Frage, ob 
er den Rappel noch getroffen habe, erwiderte: „nein, er war nicht 
mehr droben“. Im weiteren Verlaufe des Nachmittags erhielt die 
Martl-Alm, auf der Schmuck mit der Gruber schon längst wieder ein¬ 
getroffen war, den Besuch ihres Eigenthümere, des Bauers Gruber; 
dieser entfernte sich bald wieder, nachdem er sein Vieh beschaut hatte. 

Als der Abend vorrückte und der sonst so pünktliche Rappel 
noch nicht zurückgekehrt war, äusserte Therese Gruber lebhafte Be¬ 
sorgnisse um ihn; sie erinnerte sich daran, dass Rappel früher ein¬ 
mal auf dem Wege von Oberwössen zur Alm von einem Krampf¬ 
anfalle heimgesucht, zu Boden gestürzt und eingeschlafen war, und 
fürchtete, es möge sich dieses Ereigniss wiederholt haben. Schmuck 
suchte die Angst der Gruber zu beschwichtigen und meinte, Rappel 
sei eben von Kameraden beim Trünke zurückgehalten worden. Nachts 
zehn Uhr stieg Therese Gruber zur Donauer-Alm hinab, um deren 
Sennerin bei dem Abbinden eines Kalbes zu helfen; Schmuck schloss 
sich ihr an, obschon sie ihm bedeutete: „sie brauche ihn nicht, er 
solle auf der Alm bleiben“ und brachte die ganze Nacht im Heulager 
der Donauer Alm zu. Anderen Morgens ging Schmuck, angeblich 
um sich an einem Wallfahrerzuge nach Klobenstein zu betheiligen, 
gegen Achberg; er folgte aber nicht der zu einer frommen Uebung 
versammelten Schaar, sondern ging für sich nach Klobenstein, trank 
in mehreren dortigen Schänken Wein und traf erst am späten Nach¬ 
mittag auf der Martl-Alm ein. Bei dieser war einige Stunden vorher 
der Bauer Martin Gruber erschienen. Er ging nach Oberwössen, 
„um über Rappel Erkundigungen einzuziehen“, kehrte, als sie erfolg¬ 
los waren, zur Alm zurück und äusserte die Absicht, auf die Suche 
nach Rappel zu gehen; er unterliess es, den Schmuck auf die Suche* 
mitzunehmen, beauftragte ihn vielmehr, in der Nähe der Almhütte 
Gras zu mähen. Schmuck begann die Arbeit, stellte sie aber bald 
wieder ein, „weil ihm so schlecht und er krank sei“, und suchte die 
Liegestatt in der Almhütte auf. Gruber wurde später einmal gefragt, 
warum er den Schmuck nicht auf die Suche nach Rappel mitnahm; 
er erwiderte, „weil er gefürchtet habe, dass der in steter Geldnoth 


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Mord aus eigenem Entschluss oder auf Anstiften? 


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befindliche Knecht, wenn er Rappelt’s Leiche fände, in die Versuchung 
kommen könnte, dem Rappel seine Baarschaft abzunehmen“. Nach 
dieser Erwiderung scheint Gruber schon am Abende des 7. August 
es für wahrscheinlich gehalten zu haben, dass dem Rappel, sei es 
auf dem Wege nach Oberwössen, sei es auf der Heimkehr, ein Unfall 
zustiess. Es wäre daher vielleicht am nächsten gelegen, dass Gruber, 
den die Marti- und Parsberg-Alm verbindenden Steig und dessen Um¬ 
gebung absuchte; er unterliess dies und durchstreifte das Gehänge 
um den sogenannten Scfalierbachgraben. Dieser entspringt östlich der 
Martl-Alm; er ist eine von den Wildwassem in den Bergleib gerissene 
Runse, die jäh abschüssig zu Thal führt Gruber hätte sich sagen 
können, dass Rappel weder zum Wege nach Oberwössen noch zur 
Heimkehr das Steingerölle des gachen Grabens gewählt haben werde; 
sein Suchen blieb ohne Erfolg. Als gegen den Abend zu Gruber die 
Alm verlassen hatte, forderte seine Tochter den Schmuck auf, doch 
auch nach dem Senner zu suchen. Schmuck machte sich zögernd 
auf den Weg; auch er schritt dem Schlierbachgraben zu und auch 
er fand dort nicht, was er zu suchen vorgab. Im weiteren Verlaufe 
des Abends fragte die Gruber den immer stiller und einsilbiger ge¬ 
wordenen Schmuck, ob er denn Tags zuvor den Rappel gar nicht 
mehr gesehen habe; er antwortete: Ja, der Senner ist gerade von 
der Alm weggegangen, als ich zur Alm kam, er rief mir zu: ,Du 
weisst schon, wo der Schlüssel ist'.“ Diese Antwort stand im Wider¬ 
spruch mit der, die Schmuck am Tage vorher der Gruber bei dem 
gemeinsamen Aufstiege zur Martl-Alm gab; er sagte damals auf die 
Frage der Gruber, ob er den Rappel nicht getroffen habe, „nein, er 
war nicht mehr da“. 

Die Nachricht, dass der Senner Rappel vermisst werde, verbreitete 
sich rasch im Achenthale. Am Vormittage des 8. August 1893 erschienen 
die zwei Brüder, Bekannte und Freunde des Rappel auf der Martl- 
Alm, um eine grössere Streife zu halten; sie hatten den Weg über 
Achberg her genommen. Auch der Bauer Gruber war wieder zur 
Stelle. Er hiess abermals den Schmuck, die Mäharbeit bei der Alm¬ 
hütte fortzusetzen und machte sich dann mit mehreren Leuten auf 
die Suche; er mühte Bich hierbei abermals an den Gängen um den 
Schlierbachgraben ab. Andere Aelpler gingen den die Marti- und 
Parsberg-Alm verbindenden Steig ab. Unter ihnen war ein Dienst¬ 
knecht Gruber’s, Namens Nies, der auf die Suche den von Rappel 
öfter gefütterten Hund der Donauer-Alm mitnahm. Nies kam, den 
Weg verfolgend, bis in den lichten Buchenwald. Als er sich dem 
Zaune näherte, der als Grenze den Wald durchzieht, machte der Hund 

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312 Mord ans eigenem Entschluss oder auf Anstiften? 

einen Seitensprung. Nies ging dem Thiere nach und erblickte jen¬ 
seits des Zaunes, drei Meter von diesem entfernt, die Leiche des fiappel. 
Sie lag blutüberströmt gegen den abfallenden Bergabhang, die Füsse 
ganz nahe einem verwitterten Baumstumpfe, der ihr weiteres Abrollen 
aufzuhalten schien. Um die Leiche herum lagen der Hut, die Joppe 
und der Regenschirm des Verlebten. In der Nähe des Kopfes der 
Leiche steckte in einem Gebüsche Rappels blutbefleckter Rucksack, 
mit dem leeren Bierfasse, das nach Oberwössen getragen werden 
sollte. Der Oberkörper der Leiche war nur mehr mit Hemd und 
Weste bekleidet; beide Stücke waren gleich der abseits liegenden 
Joppe blutgetränkt- Die Taschen der Hosen waren nach aussen ge¬ 
stülpt und leer. In der inneren Tasche der Joppe steckte nur ein 
Notizbuch, das einen Kalender für das Jahr 1893 enthielt; es fehlten 
aus der Tasche RappePs Geldbörse und Brieftasche. Der Tode hatte 
noch die Fingerringe und eine Uhr; es war klar, dass derjenige, der 
ihn beraubte, seinen werthvolleren Besitz zu finden gewusst hatfe. 
Schnell sammelte sich Volk um die gefundene Leiche; auch Schmuck 
kam von der Alm herbei. Er sagte, als er beim Todten war: „schau, 
schau, da liegt er jetzt“ und fragte dann seinen Dienstherrn, ob er 
nicht vielleicht „eine Truhe“ (einen Sarg) bestellen solle. Der Dienst¬ 
herr beauftragte ihn, aus Oberwössen einen Sarg herbeizuschaffen; 
Schmuck machte sich unverzüglich auf den Weg. Nachdem Schmuck 
den Sarg bestellt hatte, besuchte er das Gasthaus in Oberwössen. 
Der Wirth und mehrere Gäste bestürmten den Schmuck mit Fragen 
über das Ende des Rappel; der anwesende Bürgermeister des Ortes 
fasste den Schmuck scharf in’s Auge und sagte zu ihm: „Du bist, 
scheint es, der letzte Mensch gewesen, der den Rappel gesehen hat, 
der kommt noch gewiss auf, der ihn umbrachte; es giebt noch eine 
Gerechtigkeit.“ Schmuck erwiderte nichts auf diese ernsten Worte; 
er hatte, als ihm ein anderer Gast in einer Mischung von Ernst und 
Scherz sagte: „Sepp, am Ende hast Du ihn umgebracht“, nur eine 
verlegene, nichtssagende Antwort Bald nach diesen Reden verliess 
Schmuck die Wirtschaft; er belud sich mit dem für Rappel bestimmten 
Sarg und ging bergan. Erinnerte sich Schmuck der Worte, die im 
Wirtbshause gefallen waren, so wäre es nicht zu verwundern gewesen, 
wenn unter seiner Traglast vielleicht seine Nerven mehr als seine 
sehnigen Arme litten. Schmuck war am Morgen des 9. August auch 
zugegen, als die Leiche des Rappel in den Sarg gelegt wurde. Die 
Brüder des Verstorbenen beobachteten, dass dem Schmuck „die Hals¬ 
adern so stark schlugen, als wollten sie springen“ und dass er am 
ganzen Leibe zitterte. „Armselig dreinschauend“ folgte Schmuck dem 


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Mord aus eigenem Entschluss oder auf Anstiften? 


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Volke, das dem in den Sarg gebetteten Senner nach Unterwössen 
hinaus begleitete. In diesem Orte wurde Schmuck vom Richter als 
der Ermordung und Beraubung des Rappel verdächtig für verhaftet 
erklärt; er äusserte, er sei unschuldig, obwohl mancher Verdacht gegen 
ihn spreche, seine Unschuld werde zu Tage kommen und er wollte 
sich vorerst gegen die Festnahme nicht beschweren. 

Die Leiche des Rappel wurde von den amtlichen Aerzten be¬ 
sichtigt und geöffnet. Sie zeigte drei von einem Schuss herrührende 
Verletzungen, nämlich: 

1. eine erste und grösste, im unteren Winkel des linken Schul¬ 
terblattes, 

2. ihr gegenüber, etwas tiefer, eine zweite unterhalb der rechten 
Achselhöhle, 

3. dieser gegenüber eine dritte an der Innenseite des rechten 
Oberarmes. 

Aus dem unteren Ende des rechten Oberarmes wurde eine runde 
Bleikugel von 14 mm zu Tage gefördert Die Aerzte gaben das Gut¬ 
achten ab, dass durch einen auf Rappel abgefeuerten Schuss, dessen 
Richtung von links oben aussen nach rechts unten ging, die Milz, die 
linke Lunge, die Leber und die rechte Niere des Getroffenen zer¬ 
rissen und dessen Tod durch Verblutung verursacht wurde. Es ge¬ 
lang den Nachforschungen der Beamten des Polizei- und Sicherheits¬ 
dienstes nicht, bei Schmuck auch nur einen Pfennig der Baarschaft 
zu finden, die Rappel ohne Zweifel bei sich trug, als der Tod ihn 
ereilte; diese Beamten fanden aber bei der Durchsuchung der Marti- 
Alm, theilweise mit einer dichten Heuschicht bedeckt, zwei Gewehre 
und Schiessgeräthe von mancherlei Art Von den Gewehren war eines 
ein Vorderlader, das andere ein Hinterlader nach dem System des 
österreichischen Militärgewehrs Wänzl. Die aus dem unteren Ende 
des rechten Oberarmes des Rappel herausgeschnittene Bleikugel von 
14 mm wurde vom Untersuchungsrichter einem Büchsenmacher vor¬ 
gelegt, der in seinem Gewerbe sehr tüchtig, ein erfahrener Jäger und 
eine Scheibenschütze ersten Ranges ist Der Fachman wies nach, 
dass die ihm vorgelegte Kugel die vier gleichen Züge zeigte, die 
dem Lauf eines Wänzl-Gewehrs eigenthümlich sind; er feuerte aus 
dem auf der Martl-Alm gefundenen Hinterlader eine der daselbst ge¬ 
fundenen Patronen ab, und die Kugel auch dieses Schusses zeigte an 
der Aussenseite genau dieselben Spuren, die an der aus dem Ober¬ 
arme des Rappel geschnittenen Kugel festzustellen waren. Der 
Büchsenmacher kam zu dem Gutachten, es könne zwar nicht bewiesen 
werden, dass die aus der Leiche entfernte Kugel gerade aus dem 


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Mord aus eigenem Entschluss oder auf Anstiften? 


auf der Alm gefundenen Hinterlader abgefeuert wurde, es sei aber 
für zweifellos zu halten, dass diese Kugel aus einem Hinterlader 
nach dem System Wänzl abgefeuert wurde. Die Untersuchung 
führte zu dem unanfechtbaren Ergebnisse, dass der auf der Martl-Alm 
gefundene Hinterlader dem Schmuck gehörte. Dieser kam Ende des 
Jahres 1892 zu dem Büdfenmacher Mühlberger von Klobenstein, der 
ihn seit langer Zeit als „den Winterstetter-Sepp“ kannte, theilte ihm 
mit, dass für ihn beim Wirth in Kossen ein Hinterlader liege und be¬ 
auftragte ihn, den Hinterlader abzuholen, zu kürzen und zu einem 
Abschraubgewehr umzuändern. Mühlberger holte den Hinterlader 
beim Wirth in Kössen, dem er von einem Schwager des Schmuck 
übergeben worden war, ab, kürzte ihn und änderte ihn zu einem Ab- 
schraubgewehr um; er händigte dieses am 8. Januar 1893 dem Schmuck 
ein und schrieb in sein Geschäftsbuch: „8. Januar 1893. Winterstetter- 
Sepp Wänzl Stutzen bezahlt 10 M., Rest 3 M. M Obwohl Mühlberger 
diese Thatsachen auf seinen Eid als richtig bestätigte und betheuerte, 
der auf der Alm gefundene Hinterlader sei der von ihm für Schmuck 
umgeänderte Wänzl-Stutzen und er habe ausser diesem ein anderes 
Gewehr nach dem Systeme Wänzl nicht in Arbeit gehabt, leugnete 
Schmuck diese Thatsachen rundweg ab. Erst als ihm Mühlberger 
gegenübergestellt wurde und auf seinen Behauptungen beharrte, äusserte 
Schmuck: „Jetzt erinnere ich mich. Ein mir fremder Mann, den ich 
öfter auf dem Wege nach Kössen begegnete, ersuchte mich, für ihn 
einen Wänzlhinterlader, den er mir gab, zu einem Abschraubgewehr 
umändem zu lassen. Ich entsprach dem Ersuchen und gab den von 
Mtthlberger umgearbeiteten Stutzen dem Fremden, mit dem ich auf 
der Moosgruber-Alm zusammentraf; es lag damals noch Schnee“. 
Diese Erzählung des Schmuck verdient keinen Glauben; sie ist ein 
Erzeugniss der Verlegenheit, in die er durch die Wucht der Aussage 
des Mühlberger gerieth. Nur zu erwähnen ist und nicht widerlegt zu 
werden braucht die weitere Behauptung des Schmuck, dass die auf¬ 
gefundenen Gewehre und das Schiessgeräthe erst nach der Einleitung 
der Untersuchung auf die Alm eingeschmuggelt worden seien, um 
ihn zu belasten und zu verderben. Freilich war dem Schmuck 
diese Art der Vertheidigung aufgedrungen, weil er leugnete — und 
noch heute leugnet, den Rappel getödtet und beraubt zu haben. 

Schmuck wurde vor die Geschworenen gestellt, weil er verdächtig 
war, vorsätzlich den Sebastian Rappel getödtet, die Tödtung mit Ueber- 
legung ausgeführt und dem Rappel mit Gewalt gegen ihn Sachen in 
der Absicht rechtswidriger Zueignung weggenommen zu haben (§§ 211, 
73, 249, 251 des StGB.). Die Geschworenen hielten den Schmuck 


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Mord aus eigenem Entschluss oder auf Anstiften? 


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für überführt, die ihm zur I^ast gelegten strafbaren Handlungen be¬ 
gangen zu haben. Das Gericht sprach gegen ihn die Todesstrafe aus. 
Das Urtheil wurde rechtskräftig. Bei den durch § 485 der Straf- 
processordnung veranlassten Prüfung der gesainroten Aktenlage wurde 
Folgendes erwogen: 

I. Schmuck wurde mit Recht wegen Raubmords verurtheilt. 

1. Sebastian Rappel ist, als er auf dem Wege nach Oberwössen 
begriffen war, an einer Stelle getödtet worden, die von der Martl-Alm 
aus in 10 Minuten erreicht werden kann. Die Kugel, die ihn tödtlich 
traf, wurde aus einem Gewehr.gejagt, das nach dem Systeme Wänzl 
hergestellt ist Ein solches Gewehr mit der dazu gehörigen Munition 
wurde auf der Martl-Alm gefunden. Schmuck besass seit dem 
8. Januar 1893 einen Wänzlhinterlader, der zu einem Abschraub¬ 
gewehr umgeändert war. 

2. Die Tödtung des Rappel erfolgte kurze Zeit, nachdem er die 
Martl-Alm verlassen hatte. Schmuck erreichte diese Alm zu einer Zeit, 
zu der sich Rappel entweder zum Gehen anschickte oder nur eine 
geringe Strecke von den Hütten der Alm entfernt war. Schmuck 
hatte als Wilderer Gewehr und Schiessbedarf stets in einer nahen 
Bereitschaft gegen Wild, das vom Kamme des Berges zu den Alm¬ 
gründen herabäste; er konnte sich damals rasch mit der Waffe ver¬ 
sehen, durch die er das Leben des Rappel zu vernichten vorhatte. 

3. Der in den Berghang eingeschnittene Weg theilt den Hang in 
eine ansteigende und eine abfallende Lehne. Rappel batte beim Gange 
zur Parsberg-Alm die ansteigende Lehne zur linken Seite. Die tödt- 
liche Kugel drang von linkB und von oben in den Körper des Rappel 
ein; sie wurde von einem Schützen abgefeuert, dessen Standplatz links 
und höher war. Es ist nicht festzustellen, ob Schmuck diesen Platz 
erreichte, ohne von Rappel gesehen zu werden, oder ob er ihm vor 
den Augen des Rappel zuscbritt. Da es dem Schmuck vom Wildern 
her zur zweiten Natur geworden sein dürfte, sich raubthierartig an 
seine Opfer heranzuscbleicben, so ist es möglich, dass er — vielleicht 
vom dunstigen Wetter begünstigt — den Standplatz gewann, ohne 
dass Rappel seine Nähe ahnte. Es ist aber auch für möglich zu 
halten, dass Schmuck vor den Blicken des Senners der Höhe zustrebte. 
Rappel hegte gegen den Almgenossen, mit dem er bisher ohne Groll 
und Streit unter einem Dache lebte, nicht den Verdacht einer ihm 
feindseligen Gesinnung; es hätte ihn auch der Umstand nicht beun¬ 
ruhigt, wenn er gesehen hätte, dass Schmuck ungescheut eine Schuss¬ 
waffe trug, weil er sich denken konnte, Schmuck wolle unter dem 
Schutze der sonntäglichen Stille sich dem Waidwerke hingeben. 


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Mord aus eigenem Entschluss oder auf Anstiften? 


4. Rappel wurde von der Kugel getroffen, kaum dass er über 
den Grenzzaun geklettert und in’s Waidegebiet der Parsberg-Alm ge¬ 
langt war; er bauebte das Leben, das er augenscheinlich von keiner 
Seite her für bedroht gehalten batte, an der Stelle aus, an die ihm 
eine zielsichere Hand das verderbliche Geschoss nachsandte. Seine 
Ermordung war das Werk weniger Secunden. Rasch war sein Mörder 
bei der Leiche. Die Beraubung war durch einen schnellen Griff in 
die Taschen des Todten möglich; der Räuber brauchte indessen sich 
nicht gar zu sehr zu beeilen, weil er von dem Platze der Lage der 
Leiche die Gegend genügend übersah. Schmuck konnte in einer ver- 
hältnissmässig kurzen Zeit auf der Martl-Alm wieder eingetroffen sein. 
Er erschien 1 Stunde, nachdem er von der Donauer- zur Martl-Alm 
geeilt war, auf der ersteren Alm wieder. Von dieser Stunde an, die 
für das Leben des Rappel so verhängnissvoll gewesen war, zeigte 
Schmuck die Unlust, allein auf der Martl-Alm zu bleiben, zwang ihn 
die Unruhe, die Nacht ferne von dieser Alm zuzubringen, irrte er 
umher und begannen heftige Stürme seine Brust zu durchtoben; er 
konnte von da an bis zu seiner Verhaftung es seinen Muskeln und 
Mienen nicht verwehren, dass sie das nach Aussen verriethen, was 
sein Inneres bewegte. Wohl nur zur Beschwichtigung des schon leise 
umgehenden Verdachts trotzte sich Schmuck die Kraft ab, den für 
die Leiche des Rappel bestimmten Sarg herbeizuschleppen. 

(5. Erwähnung nebensächlicher Anzeichen wider Schmuck und 
Erwägungen, die dafür sprechen, dass er die Tödtung mit Ueberlegung 
ausführte.) 

II. Wenn auch für erwiesen zu halten ist, dass Schmuck den 
Rappel tödtete und beraubte, so liegt doch ein Dunkel über der Frage, 
ob er aus eigenem Antrieb und Entschluss handelte oder ob ein anderer 
ihn zur Begehung der strafbaren Handlungen anstiftete. Der Ver¬ 
teidiger stellte in der Hauptverhandlung die von Schmuck selbst nie 
gewagte Behauptung auf, sein Schützling habe auf Anstiften des 
Bauers Martin Gruber von Achberg gehandelt. Die nähere Würdi¬ 
gung der Behauptung konnte in dem Processabschnitt, in dem sie 
erstmals auftauchte, unterbleiben, weil sie für die Frage der Verant¬ 
wortlichkeit des Schmuck gegenüber dem Gesetz und für die Bemessung 
der Strafe im Hinblick auf die bestimmte Strafdrohung des § 211 des 
Strafgesetzbuchs nicht in Betracht kam. Im jetzigen Abschnitte des 
Verfahrens aber ist die Schuld Verantwortlichkeit des Schmuck nach 
allen Seiten zu prüfen; es muss daher versucht werden, seinen Hand¬ 
lungen thunlichst bis zu den ersten Anfängen nachzugehen. 

1. Die wirtschaftliche Lage des Schmuck war ungünstig. So- 


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Mord aus eigenem Entschluss oder auf Anstiften? 


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lange er in der Vollkraft der Jahre war, reichte der vom Dienstherm 
bezogene Geldlohn und der Erlös, den er für ein erwildertes, zu einem 
Hehler verschlepptes Stück erzielte, knapp dazu aus, dass er in die 
Einförmigkeit seines Lebens an den Werktagen sonntäglich den gleissen¬ 
den Schein der Freuden des Alkohols werfen konnte; es drohte aber 
dem Schmuck von der Zeit an, da die Kraft seiner Arme schwand 
das schmale Brod des Armenhauses. Erwog er die am Ende noch 
erträgliche Gegenwart und die trübere Zukunft, so mochte allerdings 
der Gedanke verlockend wirken, dass er sich auf Kosten des Rappel 
seine Lage erheblich und für eine geraume Zeit verbessern konnte. 
Freilich konnte Schmuck die Gefahren nicht verhehlen, die ihm drohten, 
wenn er sich mit dem Gelde des Rappel bereicherte. Jedes Goldstück, 
das aus seiner sonst so armen Hand gekommen wäre, hätte ihn ver- 
rathen; er konnte aber auch daran nicht denken, dass er die von 
Rappel gewonnene Beute ausserhalb des Thaies ungestört hätte ge¬ 
messen können. Für ihn waren Uebersee und Kössen die Wendekreise 
der ihm vertrauten Welt; er hätte über sie hinaus den unbeholfenen 
Fuss in ein fremdes unverstandenes Land gesetzt. Schmuck war klug 
genug, solches zu erwägen; es ist wahrscheinlich, dass er bei den 
Erwägungen des Für und Wider es vorzog, in der bisherigen Armuth 
weiter zu leben und von einem Unternehmen zu lassen, das nicht 
ohne Gefahr war, wenn er es auf alleinige Rechnung wagte. 

2. Der Bauer Martin Gruber behauptete sich nur mit Mühe auf 
seinem stark verschuldeten Anwesen in Achberg. Dachte er über 
seine wirthschaftliche Lage nach, so war es nicht unmöglich, dass 
ihn der Gedanke durchfuhr, es wäre ihm geholfen, wenn er das Geld 
des Rappel hätte. Gab Gruber diesem Gedanken Raum, so thäte man 
ihm vielleicht nicht unrecht, wenn man annähme, dass er an ein 
gewaltsames Vorgehen gegen Rappel dachte; Gruber war keineswegs 
der jedem schlimmen Denken und Handeln abholde Mann, als der 
er lange Zeit hindurch galt. Es ist nach den Ergebnissen des Straf¬ 
verfahrens gegen Schmuck gewiss, dass dieser und Gruber seit Jahren 
gemeinschaftlich und in der verwegensten Weise wilderten; sie gingen 
hierbei mit einer solchen List vor, dass nicht einmal der Argwohn 
der Forstbeamten rege wurde. Gemeinsames Wildern ist gemeinsames 
Wagen. Es verkettet die Wagenden und reisst sie um so tiefer in 
die Verschwörung und den Trotz gegen die Rechtsordnung hinein, 
je länger und erfolgreicher sie die Wildbahn begehen. Wilderer 
achten um des kleinen Vortheils willen, den ein erlegtes Thier bringt, 
das eigene oft bedrohte Leben gering; es gilt ihnen noch weniger 
das Leben eines Anderen, zumal wenn es mit der Aussicht auf eine 


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Mord aus eigenem Entschluss oder auf Anstiften? 


reiche Beute aus einem heimlichen Hinterhalte sicher und rasch aus¬ 
gelöscht werden kann. Hält man es für wahrscheinlich, dass auch 
Schmuck und Gruber der entsittlichenden Wirkung des Wilderns ver¬ 
fielen, so dürfte die Unterstellung nicht schlechthin zurückzuweisen 
sein, die es für möglich hält, dass sie den — sei es vom einen, sei 
es vom andern hingeworfenen — Gedanken einer blutigen Gewalt¬ 
tat gegen Kappel nicht sofort von sich stiessen, sondern der Be¬ 
sprechung nicht für unwertb erachteten. Man könnte sich von der 
Annahme dieser Möglichkeit aus vorstellen, dass Schmuck und Gruber 
das etwa mahnende Gewissen schnell zum Schweigen brachten, die 
Vortheile erwogen, die das Gelingen der That versprach, die verhält- 
nissmässig geringen Schwierigkeiten, die der Ausführung entgegen¬ 
standen, und endlich den Umstand in Rechnung zogen, das keiner 
den Verrath des andern zu befürchten hatte. Stellt man sich solche 
Gedankengänge bei Schmuck und Gruber als möglich vor, so kann 
man zur weiteren Annahme gelangen, dass der anfänglich schüchtern 
aufgetretene Gedanke nach und nach eine festere Gestalt gewann und 
sohliesslich von den geldlüsternen Sinnen des Herrn und des Knechtes 
so Gewalt ergriff, dass die Ausführung beschlossen wurde. Waren 
— immer von der bezeichneten Unterstellung aus — Schmuck und 
Gruber im Einverständnisse so weit gediehen, dass das Schicksal des 
Rappel entschieden war und sie zur Vertheilung der Rollen gehen 
konnte, so wäre es nicht ferne gelegen, dass dem Gewehre des 
Schmuck die Aufgabe der Vollstreckung der Entscheidung zufiel und 
Gruber sich gleichsam die geschäftliche Abwicklung des verbreche¬ 
rischen Unternehmens zutheiite. Es wäre in dieser letzteren Beziehung 
nicht ausserhalb des Bereichs des Wahrscheinlichen, wenn man an¬ 
nähme, Gruber habe dem Schmuck die sichere Verwahrung seines 
Beuteantheils mit dem Hinweise darauf versprochen, dass aus seiner 
Hand das Geld und die Banknoten des Rappel unauffällig nach und 
nach in den Verkehr abfliessen würden und Schmuck habe darauf 
gerechnet, Gruber werde ihm künftig zu dem offen entrichteten Geld¬ 
lohn manche klingende Zubusse heimlich in die Hand drücken und 
ihn Zeitlebens auf dem Anwesen mitkommen lassen. 

3. Rappel äusserte am Abend des 5. August vor Schmuck die 
Absicht, am andern Tage nach Oberwössen zu gehen. Schmuck 
brachte die Nacht zum 6. August in Achberg zu. Es ist aus dem 
vorliegenden Aktenmateriale nicht zu entnehmen, ob Schmuck etwa 
zur Vorfeier der Sonntage auch andere Samstag-Nächte ausserhalb 
der Martl-Alm und in Achberg zubrachte, oder ob das, was er in der 
Nacht zum 6. August that, gegen seine Gewohnheit war. Wäre 


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letzteres festzustellen, so wäre die Deutung möglich, dass Schmuck 
mit einem Andern, einem Mitverschworenen, eine letzte, entscheidende 
Besprechung pflog. 

4. Der Bauer Gruber fand sich am Nachmittage des 6. August 
auf der Martl-Alm ein. Sein Kommen kann der Nachschau nach 
dem Viehstande gegolten haben; es fehlt an Anhaltspunkten dafür, 
dass die Nachschau nur ein Vorwand war. Wäre feststellbar, es sei 
ein Ausnahmefall gewesen, dass Gruber damals auf der Alm erschien, 
d. h. er einen Sonntag-Nachmittag zum Almbesuche benützte, so könnte 
ein Zusammenhang zwischen dem Kommen des Gruber und dem 
Ereignisse gefunden werden, das sich wenige Stunden vorher in der 
Nähe der Alm zutrug. 

5. Gruber ging am 7. August nach Oberwössen, wo er über den 
Verbleib des Rappel Erkundigungen einzog. Er behauptet, den Hin- 
und Rückweg pfadlos über die Almgründe genommen und den Ver¬ 
bindungssteig zwischen der Marti- und Parsberg-Alm nicht benutzt zu 
haben. Die Unterlassung dieser Benutzung w’ar mindestens unvor¬ 
sichtig. Rappel wurde vermisst Gruber konnte mit der Möglichkeit 
rechnen, es sei dem Senner gerade auf diesem Steig ein Unfall be¬ 
gegnet; er unterliess die Nachschau daselbst und wandte sich des 
Suchens halber wiederholt zu den Gängen des Schlierbachgrabens. 
Genau so handelte später auch Schmuck. ' Wer den Verdacht hegt, 
Gruber und Schmuck seien Mitwisser der That gewesen, durch die 
Rappel auf den Boden des Verbindungssteigs niedergestreckt wurde, 
könnte vermuthen, dass beide aus einer und derselben Furcht den 
bezeichneten Steg mieden. 

6. Die Brüder des Ermordeten sprechen die Vermuthung aus, 
es sei dem pruber die Stelle, an der am 8. August die Leiche ge¬ 
funden wurde, schon vor diesem Tage bekannt gewesen. Auf der 
Martl-Alm nämlich wurde das Notizbuch gefunden, das Sebastian 
Rappel im Jahr 1892 führte. Das Buch enthält auf der letzten Seite 
den Kalender für 1892. Sebastian Rappel hatte auf das Blatt vor 
dem Kalender die Namen seiner Darlehensschuldner eingetragen; 
einer der letzten, die untere Hälfte des Blattes einnehmenden Namen 
ist der des Martin Gruber; auf diesen bezieht sich der Eintrag: „von 
Marti Achberg 225 M.“ In der inneren Joppentasche der Leiche 
fand man RappeFs Notizbuch für das Jahr 1893. Auch dieses ent¬ 
hält auf der letzten Seite den Kalender für 1893, auch auf das Blatt 
vor diesem Kalender waren von der Hand des Rappel die Namen 
von Darlehensschuldnern eingetragen. Die Namen sind — der Mehr¬ 
zahl nach — dieselben, die im älteren Notizbuche verzeichnet stehen, 


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Mord aus eigenem Entschluss oder auf Anstiften? 


aber im Notizbuche für 1893 fehlt, weil weggerissen, die 
untere Hälfte der Blattseite, auf der an der entsprechenden 
Stelle des Blattes im Buche für 1892 der „Marti von Achberg“ als 
Schuldner eingeschrieben ist. Aus dieser ihnen auffällig scheinenden 
Thatsache glauben die Brüder des Rappel, der Bauer Gruber habe 
dessen Leiche „gefunden“ und rasch aus dem Notizbuche die Stelle 
gerissen, die sich auf sein Schuldverhältniss bezog. Dem Gruber 
blieb die von Rappel’s Brüdern gegen ihn erhobene Beschuldigung 
nicht unbekannt, er suchte sie durch die Behauptung abzuwehren, 
dass er im Aufträge seines Gläubigers an einen Dritten 200 Mark 
gezahlt habe und von der ursprünglichen Summe nur noch 25 Mark 
schulde. Der Dritte, ein Mann von einer unantastbaren Ehrlichkeit 
stellt in Abrede, von Gruber für Rechnung des Verlebten 200 Mark 
empfangen zu haben. Man kann also — zumal im Hinblick auf 
Gruber’s ungünstige Vermögenslage — mit einer hoben Wahrschein¬ 
lichkeit glauben, dass Rappel, als er starb, noch die volle Summe zu 
fordern hatte, dass er den auf Gruber bezüglichen Eintrag aus dem 
älteren Notizbuch in das für 1893 übertrug und bis zu seinem Tode 
keinen Anlass hatte, die übergetragene Stelle zu beseitigen, dass also 
die Beseitigung erst nach seinem Tode erfolgte. War das Letztere 
der Fall, so geschah die Beseitigung von Jemand, der vom Vorhanden¬ 
sein der Stelle erst kurz vor der Beseitigung erfuhr oder schon längst 
Kenntniss hatte und geschah sie im Interesse der Person, auf die 
sich die Stelle bezog. Es ist möglich, dass, wie die Brüder des 
Rappel vermuthen, Gruber zufällig die Leiche fand und diese Ge¬ 
legenheit zur Beseitigung der Stelle benützte, sei es, dass er zuvor 
das Notizbuch durch blätterte und darin den ihn betreffenden Eintrag 
entdeckte, sei es, dass er vom Vorhandensein des Eintrags schon 
wusste und nach ihm suchte. Die Frage soll ununtersucht bleiben, 
ob Gruber beim Anblicke der zufällig gefundenen Leiche sofort 
die ruhige Selbstbeherrschung gewann, um, sei es aus Neugier, sei es 
zu einem bestimmten habsüchtigen Zwecke, das Notizbuch des todt vor 
ihm liegenden Senners zu durchblättern. Jedenfalls hätte Gruber — 
so möchte man meinen — nach der Beseitigung der ihm lästigen Stelle 
keinen Grund mehr gehabt, den Fund der Leiche zu verheimlichen. 
Niemand würde gegen ihn aus der Thatsache allein, dass er den 
Fund bekannt gab, einen Verdacht abgeleitet haben. Gruber unter- 
liess die Bekanntgabe; es steht fest, dass er wiederholt die Gegend 
beim Schlierbachgraben um den Vermissten abzusuchen schien. Mög¬ 
lich ist es ja, dass er so handelte, um, wenn später einmal die That¬ 
sache der Beseitigung der Stelle ruchbar werden sollte, dem Verdachte 


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Mord aus eigenem Entschluss oder auf Anstiften? 


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der Tbäterschaft der Beseitigung auszuweichen; es ist aber auch das 
für möglich zu halten, dass Gruber bei dem Absuchen den Verbin¬ 
dungssteig aus einem andern Grund, als nur dem mied, weil er sich 
der Beseitigung der ihn belastenden Stelle bewusst war. Man wird 
die Vermuthung der Brüder des Rappel für minder wahrscheinlich 
in dem Grade halten, in dem mau mehr zu der Annahme geneigt 
sein möchte, dass Gruber um die Leiche mehr wusste, als was jene 
vermuthen. Dies führt zur Aufwerfung der Frage, ob nicht auch der 
Vermuthung Raum gegeben werden könnte, dass schon Schmuck 
die fragliche Stelle beseitigt habe. Allerdings, wenn man 
glaubt, Schmuck habe die Tödtung und Beraubung des Rappel aus 
eigenem Entschluss und für eigene Rechnung ausgeführt, dann möchte 
kaum wahrscheinlich sein, er habe nebenbei daran gedacht, auftrags¬ 
los ein Interesse des Gruber wahrzunehmen. Dagegen gewänne die 
Sache ein anderes Licht, wenn man Gründe für die Anschauung zu 
haben glaubt, dass Schmuck im Einverständnisse mit Gruber handelte. 
In der Beseitigung der fraglichen Stelle könnte ein bedeutsames An¬ 
zeichen dafür zu finden sein, dass das ganze verbrecherische Unternehmen 
mit dem Beirath und im Interesse auch des Gruber zu Stande kam und dass 
bei dessen Vorberathung auch nicht einmal die verhältnissmässig unbe¬ 
deutende Einzelheit des Bestehens des Bucheintrags ausser Rechnung blieb. 

7. Es wurde schon öfter betont, dass es bisher nicht gelang, zu 
ermitteln, wohin die erhebliche, dem Rappel geraubte Baarschaft ge¬ 
langte; sie muss aus der Hand des Schmuck sehr bald in ein sicheres 
Versteck gebracht worden sein. Die Annahme liegt nahe, dass das Versteck 
in Achberg ist, dem einzigen Orte, mit dem Schmuck Beziehungen hatte. 

III. Würdigt man die unter Nr. 1 bis 7 vorgetragenen Erwägungen, 
so wird man sich zwar hüten, in Beziehung auf den Bauer Gruber 
die Behauptung zu wagen, er habe den Schmuck zu den von ihm 
begangenen strafbaren Handlungen angestiftet, aber man wird immer¬ 
hin es für wenigstens möglich halten, dass Schmuck unter der Theil- 
nahme eines Andern handelte. Kann man aber nur auch entfernt an 
das Vorhandensein dieser Möglichkeit glauben, dann dürfte das Thun 
des Schmuck eine Beurtheilung zulassen, die ihn wenigstens vor der 
Vollstreckung der ausgesprochenen Strafe bewahrt. Schmuck leugnet; 
es ist fast zu vermuthen, dass ihm die Rücksicht auf den die Zunge 
bindet, den er als seinen Genossen verrathen müsste. Entginge der 
Genosse der Strafe und zöge er die Vortheile der That, so wäre der 
abwägenden Gerechtigkeit kaum entsprechend, wenn Schmuck allein 
und mit dem höchsten Opfer des Lebens büssen müsste. — 

Durch die Gnade des Staatsoberhauptes wurde die gegen Schmuck 
ausgesprochene Todesstrafe in lebenslängliches Zuchthaus umgewandelt. 


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XVI. 


Ein Fall schwerster Beschuldigung eines Unschuldigen. 

Erläutert durch die Kriminalanthropologie. 

Von 

Prof. C. Lombroso und Dr. A. Bonelli. 

Uebersetzt von Benvenuto Tonelli in Prag. 

Am 12. Januar 1. J. verschwand plötzlich aus der Familie Zucca 
die sechsjährige Tochter Veronika, welche kurz zuvor — um 5 Uhr 
Nachmittags — von Vielen mit einem jungen Mann Namens Conti, 
der vorher von ihrem Vater entlassen wurde, in freundschaftlichem 
Gespräche gesehen ward. Es fiel daher der Verdacht auf Conti, da 
man einen Racheakt vermuthete; er wurde verhaftet, wegen Mangel 
an Beweis aber bald darauf wieder auf freien Fuss gesetzt. 

Nach zwei Monaten fand man im Keller des Palazzo Paesana 
in einer strohumflochtenen Kiste eine mit Moder bedeckte Kindesleiche 
die dem Alter und der Gestalt nach derjenigen der Verschollenen 
entsprach; thatsächlich wurde bei genauer Untersuchung die Leiche 
als die der Veronika Zucca agnoscirt 

Die Kleider waren verschoben, sodass man die unteren Extremi¬ 
täten und Geschlechtstheile sehen konnte; hier fanden sich viele Wunden 
vor, welche von einem Federmesser herrührten; auch an der vorderen 
Brustwand konnte man tiefe und zahlreiche Wunden konstatiren. 

Der kleine Leichnam war bereits in Verwesung begriffen. Irgend¬ 
welche Veränderungen an den Geschlechtstheilen und am After Hessen 
sich nicht nachweisen, im oberen Antheil des Mastdarmes fanden sich 
Kothmengen vor. 

Nun schritt man neuerlich zur Verhaftung Conti’s, doch musste 
man ihn wiederum in Freiheit setzen, da er jetzt sein Alibi nach¬ 
weisen konnte. 

1) Anmerkung des Herausgebers. Ich veröffentliche hiermit die 
zwei Abhandlungen des berühmten Verfassers, obwohl ich davon überzeugt bin, 
dass derselbe auch hier in seinen Schlüssen und Annahmen viel zu weit geht. 

H. Gross. 


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Ein Fall schwerster Beschuldigung eines Unschuldigen. 


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Gleichzeitig mit dem Vorhergenannten wurde der Vater der Er¬ 
mordeten Zucca verhaftet, weil er der nichtlegitime Vater des Kindes 
war und bei der Agnoscirung der Leiche ausgerufen hatte: „Und 
was wird man jetzt von uns sagen!“ Doch auch dieser musste ent¬ 
haftet werden, da jedweder Beweis gegen ihn fehlte. 

Alle Nachforschungen nach dem Schuldigen blieben erfolglos, 
bis man durch einen an die königliche Quästur gerichteten anonymen 
Brief, in welchem ein gewisser Cosetti des Mordes beschuldigt er¬ 
schien, auf diesen aufmerksam wurde, und durch einige Anzeichen 
bestärkt, zu seiner Verhaftung schritt 

Als Verdachtsgründe dienten: 

1. die vor 10 Jahren erfolgte Schwängerung eines Weibes — 
welcher Verdachtsgrund wohl bei sehr vielen Leuten vorläge —; 

2. die Auffindung eines Taschenmessers in Cosetti's Tasche, wie 
es von den meisten Kutschern zur Ausübung ihrer Profession be¬ 
nützt wird; 

3. wohnte er in dem Palaste, in dessen Keller die kleine Leiche 
aufgefunden wurde, und 

4. wurde ihm ein Ausspruch, den er am Auffindungstage zu 
einer Gruppe von Menschen gemacht hatte, zur Last gelegt. Er sagte 
nämlich zu einer Zeit, als die Leiche noch mit Moder bedeckt war 
und daher nicht deutlich gesehen werden konnte: „die Leiche müsse 
Wunden aufweisen“. 

Als weiterer Verdachtsgrund diente die Auffindung einiger Blut¬ 
flecken in seinen Leintüchern, welche angeblich von einer Hautab¬ 
schürfung herrührten, die sich der Beschuldigte durch einen mehr¬ 
stündigen Ritt zugezogen hätte; ferner wurde dasselbe Stroh, wie im 
Pferdestalle, in dem der Angeklagte seinen Arbeiten oblag, in seiner 
Wohnung aufgefunden. 

Schliesslich, so unglaublich es klingt, hielt man die Auffindung 
einiger Samenflecke (sperma) am Fussboden seines Zimmers für äusserst 
wichtig, trotzdem man von Cosetti wusste, dass er ein Anafrodisiacus 
sei — vorzeitig gealtert und unfähig, Spermatozoen zu erzeugen; 
ausserdem bewohnte zur selben Zeit noch ein kräftiger Soldat dasselbe 
Gemach. — 

Noch erfolgloser und hinfälliger erscheinen alle diese wichtigen 
Verdachtsgründe durch die psychologisch-anthropologische Unter¬ 
suchung des Angeklagten, besser gesagt, des verleumdeten Cosetti. 

Dieser, von Profession Kutscher, war ohne jedwede erbliche Be¬ 
lastung; denn sowohl seine Grosseltern väterlicher- und mütterlicher¬ 
seits, als auch seine Eltern starben im vorgerücktesten Alter und zwar 


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XVI. Lombroso und Bonelli 


mit 90 und 99 Jahren, ohne nervöse Anomalien, verbrecherische 
Neigungen aufzuweisen, oder gar Verbrechen begangen zu haben. 

Cosetti war ein nur mässiger Trinker und ausser einen Lungen¬ 
emphysem und einem Tripper körperlich normal. 

Er war von ruhigem, heiterem Aussehen, hatte stets ein wohl¬ 
wollendes Lächeln auf den Lippen und eine ganz eigene Gutmüthig- 
keit im Blick, daher ein Aussehen, das ihn jedem sich Nähernden 
sympathisch machte. Das Haupthaar ist frühzeitig ergraut; er weist, 
ausser stärkerer Entwicklung der Unterkieferwinkel, die seinem Ge¬ 
sichte die Form eines Fünfeckes gaben, keine weiteren Degenerations¬ 
zeichen auf; 1.70 m hoch, von entsprechendem Körpergewicht — 72 kg 
— bietet er keine Schädelanomalien dar. 

Thatsächlich ergab die Schädelmessung mittlere Capacität — 
grösste Circumferenz 545; Schädelcapacität 1531; Schädelindex 94 — 
ausgesprochener Kurzschädel, den Piemontesen eigen; kleinster Stirn¬ 
abstand 125, Jochabstand 134, Gesichtsindex 44. — Ebenso regel¬ 
mässig sind die Functionen. 

So zeigt er thatsächlich in den verschiedenen Empfindungsquali¬ 
täten keine Abweichung; die taktile Empfindlichkeit ergab, mit dem 
Estesismesser von Weber gemessen, 3 mm links, 2.5 rechts; die all¬ 
gemeine, mit dem Schlitten von Dubois-Reymond gemessen, 85 
rechts, 78 links; die Schmerzempfindung 55 rechts, 45 links; ohne 
unempfindliche Bezirke und ohne Abweichung vom Normalen. 

Auch die Urinanalyse ergab nicht die Resultate, welche wir bei 
geborenen Verbrechern zu finden gewohnt sind; das specifische Ge¬ 
wicht betrug 1021; die Erdphosphate verhielten sich zu den Alkali¬ 
phosphaten wie 1.28:3.0. Die Sehnenreflexe verhältnissmässig schwach, 
die Hautreflexe spärlich, die Hodenreflexe verschwunden. Es war 
kein Tremor vorhanden. 

Das nicht sehr eingeschränkte Gesichtsfeld ergab einige Sko¬ 
tome, welche sicherlich dem Missbrauche von Alkohol zuzu¬ 
schreiben sind. 

Psychologisch erscheint er uns als ein Mann von mittlerer Intelli¬ 
genz, sogar ein wenig darunter, ruhig und ehrerbietig bis zur Unter- 
thänigkeit; absolut unfähig, irgend welche Initiative zu ergreifen, neigte 
er nicht im Geringsten zur Streitsucht, weshalb er von seinen Genossen 
des Oefteren geneckt wurde. 

Stets verwies er sich als ein guter Bruder und Sohn, war bäuer¬ 
lich unbeholfen, furchtsam, und gerieth bei den geringsten Vorwürfen 
seines Brotgebers wie ein Kind in Verlegenheit. (Siehe elektrische 
Algometrie von Lombroso 1880). 


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Ein Fall schwerster Beschuldigung eines Unschuldigen. 325 

Er nahm grössere Mengen Wein zu sich, vermied es jedoch, 
Branntwein zu trinken. 

Frühzeitig, wie alle starken Weintrinker, verlor er den Geschlechts¬ 
trieb, was ihn vielen Hänseleien seiner Kameraden aussetzte; doch 
auch schon früher konnte er ohne vorhergegangene längere Vorbe¬ 
reitungen geschlechtlich nicht viel leisten; früher ein Mann von kühler 
Veranlagung, frühzeitig Anafrodisiacus geworden, gehörte er trotzdem 
nicht zu jenen, welche sich der langen Liebesentbehrungen wegen 
kurzen Excessen oder gar perversen Neigungen hingeben. 

Bis zum Geize sparsam, beklagte er sich im Kerker zumeist nur 
über den Verdienstentgang. Seinem Handwerke, welchem er mit Eifer 
nachging, blieb er stets treu, wechselte es nie, wie es bei echten Ver¬ 
brechernaturen der Brauch ist. 

Wie es scheint, suchte man ihm während seiner Haft mit nicht 
ganz korrekten Mitteln ein Geständniss zu erpressen, jedoch vergebens. 

So oft ihm im Kerker unsererseits sein vermeintliches Verbrechen 
vorgehalten wurde, das viele in Zweifel zogen, leugnete er — aber 
ruhig, ohne heuchlerische Unterwürfigkeit und ohne excessiven Wider¬ 
spruch. 

„Wie kann man mir eine solche Schuld zur Last legen, der ich 
von meinen Genossen sogar geneckt wurde, weil ich niemals ein Weib 
anrühre“, pflegte er zu sagen. 

Und als man ihm vorwarf, dass er in Widersprüche gerathe, die 
jedoch geringfügig waren (so z. B. sagte er einmal, dass er eines 
bestimmten Tages im Laden des Opfers gewesen wäre — ein anderes 
Mal aber wieder, dass das nicht der Fall gewesen sei —) gab er 
zur Antwort: „Sie, meine Herren, haben ein vorzügliches Gedächtniss; 
ich aber bin ein armer Mann von schwachem Erinnerungsvermögen, 
so dass Sie mich oft in Verlegenheit finden werden, weil ich diesen 
Sachen, denen ich keinen Werth beimaass, nicht Rechnung trug, und 
darüber keine Aufzeichnungen machte“. 

Nach einigen Monaten begannen in den letzten Tagen des März 
die Seelenqualen und der beständige Aufenthalt in der Gefängniszelle 
ihr Zerstörungswerk. Cosetti zeigte Bich sehr unruhig, schlaflos, durch 
die Zellenhaft bedrückt, und äusserte, dieselbe würde ihm sicherlich 
eine Lungenentzündung zuziehen. Darauf folgten schwere Träume, 
später ein maniakalischer Anfall, bei welchem sich Cosetti die Kleider 
vom Leibe riss. In dem Wahne glaubte er die Pferde des Marquis 
in Begleitung seines Herrn in einen Abgrund gelenkt zu haben. Auch 
sah er sich zum Tode verurtheilt, wähnte in den Gefängnisswachen 
seine Henker und zerbrach hierbei die ganze Kerkereinrichtung. 

Archiv für Krimin&lanthropologio. Xf. 22 


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XVI. Lombroso und Bonelli 


Später in Gesellschaft Anderer in einem grösseren Zimmer unter¬ 
gebracht und mit Opium behandelt, beobachtete man schon nach zwei 
Tagen nur noch Hallucinationen, meistens nur während der Nacht 
und eine merkliche Zerstreutheit bei ihm. 

Als man ihn schliesslich wegen Mangel an Beweis aus der Haft 
Hess, traten bei ihm des Morgens Schwindelanfälle auf; auch war 
eine theilweise Ideenverwirrung, Schwierigkeit im Gedankenausdruck 
und eine enorme Kräfteabnahme zu bemerken, so dass'er ganz ent- 
muthigt ausrief: „Nun bin ich ein todter Mann und gänzlich zu Grunde 
gerichtet !“ Als Beweis seiner ausserordentlich sanften Sinnesart diene 
der Umstand, dass er weder gegen die Quästur, noch gegen die 
Kerker Wachen irgendwelchen Groll hegte, obwohl er genügend Gründe 
dazu haben mochte. Von den Kerkerwachen, von denen es bekannt 
ist, dass sie sich in Zartheit und guter Behandlung nicht gerade her- 
vorthun, pflegte er zu sagen: „Sie haben mich wie einen Sohn be¬ 
handelt“. 

Diese anthropologische, biologische und psychische, auf das ge¬ 
naueste durchgeführte Untersuchung würde an und für sich genügen, 
um Cosetti von dem Verdachte eines erblich belasteten Verbrechers, 
d. i. eines Individuums, das aus reiner sadistischer Wollust im Stande 
gewesen wäre, ein kleines Mädchen zu ermorden, freizusprechen. Doch 
wollen wir trotz alledem der Sicherheit wegen den Beweis, den die 
experimentale Methode liefern konnte, beibringen. 

Zu diesem Zwecke wurde dem Cosetti unter Beihülfe des 
Dr. Audenino der Patrici-Mosso’sche Handschuh angelegt und man 
nahm an demselben einige idrosphygmographische Untersuchungen vor. 
Beim Rechnen konnte eine leichte Herabsetzung des Blutdruckes con- 
statirt werden. Dagegen, bei Vorweisung von Schädeln, Portrait» und 
Abbildungen von Gesichtern, auch solchen von Kindern in bereits 
verwestem Zustande, die ungezählte Wunden auf wiesen (Le s 8 er’s 
Atlas), konnten keine Blutdruckschwankungen ermittelt werden. Auch 
beim Anblick des Bildnisses des Opfers Zucca blieb die Blutdruck- 
curve normal. Nur der Anblick eines mit einer Radierklinge mon- 
tirten Federmessers ergab eine vier oder fünf Pulsschläge andauernde, 
leichte Depression. 

All dies genügt, um die Unfähigkeit Cosetti’s, einen Mord begehen 
zu können, nachzuweisen und seine vollständige Unschuld an den 
Tag zu fördern. 

Dieser erscheint eines Verbrechens beschuldigt, das nur Sadisten, 
die degenerirtesten Irren (Vacher, Verzegni u. s. w.), die verthiertesten 
Verbrecher und jene, welche auf der höchsten Sprosse der Stufenleiter 


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Kriminelle Suggestionirung an einem schwachsinnigen Alkoholiker. 327 


des Verbrecherthums stehen und in sich die meisten psychischen und 
physischen Merkzeichen vereinen, begehen können. Daraus ist ersicht¬ 
lich, dass die Kriminalanthropologie, wenn sie einerseits zur Entdeckung 
des Verbrechers führt, auch andererseits zur Entlastung des Unschul¬ 
digen dienen kann. Aus alledem ergiebt sich die thatsächliche Folge¬ 
rung, von welch’ ausserordentlicher Wichtigkeit die genauesten Unter¬ 
suchungen der intimsten Seelenvorgänge, wie jene durch den Sphyg- 
mographion von Mosso, sind. 

Von welch’ eminenter Bedeutung diese positiven und streng wissen¬ 
schaftlichen Untersuchungen — sei es nun das genaue Studium des 
Stoffwechsels, welcher in unserem Falle nichts Abnormales zeigt, sei 
es das Studium der Sensibilität, der Craniometrie, sowie auch Physio¬ 
gnomik, gegenüber den polizeilichen, wenn auch noch so genauen 
Nachforschungen (wie z. B. die Schwängerung eines Weibes u. s. w.) 
— sind, bleibt für Jedermann ersichtlich. Letztere sind gegen die 
durch die Kriminalanthropologie riesenhaft zu Tage geförderten Be¬ 
weise geradezu kleinlich zu nennen. 

Angenommen, dass auch diese Untersuchungen an und für sich 
nicht genügen, der Prüfung des intimen und vollständigen Lebens¬ 
wandels eines Individuums durchzuführen, so ergänzen sie sich so 
vollkommen, dass ein Zweifel unzulässig erscheint 

Demnach erscheint es uns ein Verbrechen, in all den Fällen, wo 
ein berechtigter Zweifel auftaucht, den obgenannten wissenschaftlichen 
Untersuchungen nicht Rechnung tragen zu wollen. 


Kriminelle Snggestionirnng an einem schwachsinnigen 

Alkoholiker. 

Von 

Prof. C. Iiombroso und Dr. A. Bonelli. 

1. Am t. März 1901 bemerkte Lucia Tassino, welche zur Brunnen¬ 
stube des Nachbars Tissore Wasser schöpfen ging, nahe bei einem 
Hause, dem Tissore gehörig, dass vom Brunnen zu diesem auf eine 
Distanz von 150 m der ganze Boden mit Blutgerinsel und Blutspuren 
bedeckt war. Am folgenden Tage bemerkte die obgenannte Frau in 
Gesellschaft ihrer Nachbarin R., dass die erwähnten Blutspuren eine 
dunklere Färbung angenommen batten. Da sie vermutheten, dass 
Jemand, um das Wasser zu verunreinigen, getödtete Tbiere in den 
Brunnen geworfen habe, suchten die beiden mit einem gewissen ßocca 
und seinem Knechte, mit den nöthigen Geräthschäften versehen, im 
Brunnen nach und zogen eine menschliche Leiche hervor, welche nach 

22 * 


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XVI. Lombroso und Bonelm 


den in ihrer Tasche Vorgefundenen Papieren als die eines gewissen 
Ferreri Giovanni von Montanaro agnoscirt wurde. 

Man überführte den Leichnam in das Haus der Tissore, wobei 
der bei der Auffindung und Uebertragung anwesende Ortsvorsteher 
in demselben noch zahlreichere und frischere Blutspuren, als am Wege 
zum Brunnen vorfand. Der bei der Leiche als Wache zurückgelassene 
Carabiniere Tontanini fand während der Nacht an einem Kabeltau 
neben blutgetränktem Heu ein braunes Haar, welches, als dem Opfer 
gehörig, erkannt wurde. 

Als man die Nachbarn befragte, wann sie die beiden Brüder 
Tissore zum letzten Male gesehen hätten, gaben sie an, die Genannten 
wären am 28. Februar zurückgekebrt; man sah zuerst Giovanni in 
Begleitung eines Fremden durch’s Fenster einsteigen, denen eine Stunde 
nachher Giuseppe folgte. 

Die Tassino, welche nicht mit Sicherheit angeben konnte, ob die 
Blutspuren von vorhergegangenen Tagen herrtibrten, da sie diesen 
Weg vor dem angeführten 1. März nicht zurückgelegt hatte, glaubte 
dessen sicher zu sein, dass die Blutspuren an jenem Tage ihr sehr 
frisch erschienen. 

Die am 4. März erfolgte Leichenschau ergab, dass der Tod vor 
mehreren Tagen eingetreten sei und mittels eines stumpfen Gegen¬ 
standes durch Schläge auf den Hinterkopf und das Gesicht und einen 
Schlag auf das Brustbein, welches inwendig gesprengt wurde, wobei 
die Brusthöhle mit Blut gefüllt wurde, verursacht worden ist 

Der Leichnam war schon in leichter Verwesung begriffen; man 
fand noch an der Nase frisches Blutgerinsel und ein wenig Todten- 
starre war noch zurückgeblieben (Dr. Ereves). — 

Die in der Gegend über Ferreri erfolgten Bechereben ergaben, 
dass derselbe nach Flüssigmachung seiner Habe am 20. Febr. 800 Fr. 
bei sich trug, mit denen er nach Amerika auszuwandern beabsichtigte; 
im Bordell von Chivasso traf er mit Giuseppe Tissore zusammen; 
nachdem die Beiden Freundschaft geschlossen, wurden sie am folgen¬ 
den Tage, den 21. Februar, in einigen Wirthshäusern trinkend und 
dann noch in einigen Molkereien zu später Stunde gesehen, wobei 
sich Ferreri über den Gefährten beklagte, der ihn ohne Grund so weit 
gelockt habe. 

Am 22. sah man Tissore, dem es vorher an Geld gefehlt hatte, 
so dass er genöthigt war, seinen Schwager um eine Lire anzugehen, 
in Bordells Geld verschwenden und seine Schulden zahlen. 

Weiters miethete er die Prostituirte Ada um 20 Lire, reiste mit 
ihr nach C'orina und Casalborgone, bewirthete dieselbe in der ver- 


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Kriminelle Suggestionirung an einem schwachsinnigen Alkoholiker. 329 


scb wenderischsten Weise, schenkte ihr eine Puppe, und zahlte auch 
fernstehenden Bekannten das Getränke. 

Ara Nachhauseweg lärmte er derart durch die Strassen von Chi- 
vasso, dass er den Verdacht des Stadtrichters erregte, welcher in 
diesem Falle Nachforschungen anordnete. 

Da Tissore in kurzer Zeit das erbeutete Geld verprasst hatte und 
den Verdacht, der auf ihm lastete, kannte, floh er nach Nizza, wo 
am 7. März seine Verhaftung erfolgte; zwei Tage vorher, am 5. März, 
schritt man zur Verhaftung seines Bruders, des 23 jährigen Giovanni, 
und zwar aus dem Grunde, weil der schlechte Leumund, die öffent¬ 
liche Stimme und der Thatort des Verbrechens die beiden Brüder als 
Thäter kennzeichnete. 

Vor die Geschworenen gebracht, leugnete sowohl Giuseppe, als 
auch Giovanni lange hartnäckig; endlich beim dritten Verhör am 
20. August, einsehend, dass die Menge der Beweisgründe und Zeugen¬ 
aussagen niederschmetternd waren, kündigte Giuseppe an, eine General¬ 
beichte ablegen zu wollen. 

Er gab an, dass der Mord an Ferreri durch die beiden Arbeiter 
Martinengo und Boulan in seinem Brich (Brunnenstube) vollführt 
wurde; sie hätten sich in seine ganze Baarschaft getheilt, nachdem 
Ferreri getödtet und in den Brunnen geworfen worden war. Er selber 
hätte dabei nichts anderes gethan als den Aufpasser gespielt und den 
Anschlag vorbereitet. 

Die Idee wäre ihm von der Prostituirten Ada eingeflösst worden, 
welche ihm mitgetheilt habe, sie hätte bei Ferreri eine Summe von 
über 2500 Lire gesehen; sie habe beigefügt, dass im Falle er nicht 
den Anschlag durchführe, Boulan und Martinengo dazu bereit wären. 

„Ferreri war u , so sagte Giuseppe, „bei obgenannter Prostituirten, 
ich rief ihn um 3 Uhr Nachmittags heraus und führte ihn, wie man 
weiss, über die Abhänge; wir erwärmten uns bei Caramellino, tranken 
bei Mattion und stiegen dann zur Brücke von Taiteria herab, wo 
uns zwei Taglöhner von Chivasso, Boulan und Martinengo, erwarteten. 
Mit Boulan war ich erst seit Mittwoch bekannt, an welchem Tage 
er mir durch Ferreri am Marktplatze vorgestellt wurde, worauf wir 
auf einen Branntwein gingen. 

Boulon traf mich am 21. in Begleitung des Ferreri, nahm mich 
bei Seite und sagte: „Lasse ihn nicht entkommen .... wir müssen 
ihn berauben .... und im Falle Du dazu nicht fähig bist, komme 
ich und Martinengo zu Hülfe.“ 

Darauf kamen wir überein, uns am Thatorte einzufinden. Wir 
trafen uns um 1 Uhr Nachts, stiegen zur Brunnenstube herab; es war 


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XVI. Lombroso und Boneljli 


spät, ich öffnete die Thüre; Martinengo gab mir die Schwefelhölzer 
um die Laterne anzuzünden — es war eine Stalllaterne. 

Wir traten ein und tranken noch zwei von den Taglöhnern mit¬ 
gebrachte Flaschen Wein; dann verliess ich den Ort, um Wache zu 
halten und sah, wie Boulan mit einem Schlage in den Rücken das 
Opfer zu Boden streckte. Ich trat wieder ein, sah Ferren röchelnd 
auf dem Boden liegen und sagte zu den Anwesenden: „man muss 
nicht so grausam sein“. JJm ihm den Rest zu geben, ergriff Boulan 
einen Knittel, der von mir aufgefunden wurde und führte einen furcht¬ 
baren Hieb gegen den Kopf des Opfers, worauf Martinengo dem¬ 
selben mit den Füssen auf den „Magen“ sprang und ihm denselben 
eindrückte. 

Dann schüttelte er ihn bei den Füssen, um zu sehen, ob er wirk¬ 
lich todt sei. Unterdessen nahm Boulan das Geld an sich, während¬ 
dem ich an der Ecke des Hauses Niano aufpasste. Sodann holte ich 
einen Sack, da„ aber dieser zu klein und ein anderer nicht aufzufinden 
war, brachten wir Ferreri nicht hinein. 

Nun kamen wir dahin überein, dem Ermordeten, den Sack mit 
einem Steine beschwert, an die Füsse zu binden. Ich suchte einen 
Stein, brachte ihn in den Sack und rollte Beides zum Brunnen; 
während dessen wickelten die Beiden den blutigen Leichnam in den 
eigenen Mantel, übertrugen ihn zum Brunnen und warfen ihn hinein. 

Nach wenigen Augenblicken kehrten Martinengo und Boulan 
auf die Tenne zurück, letzterer trug unter seinem Arm den Mantel; 
beide gaben mir ein Zeichen, worauf ich mit eintrat. 

Martinengo beseitigte mit Heu die Blutflecken und deckte sie 
mit Heu zu; auf einer Bank theilten wir das Geld: 1200 Lire in 
Banknoten und zwar zu 100, zu 50, zu 25 und zu 10 Lire — 
60 Lire in Silber und die Uhr. Letztere verlangte Martinengo, weil 
er, wie er sagte, nie eine besessen habe; um sie zu erhalten, gab er 
mir und Boulan 5 Lire, worauf wir weggingen; beim Kreuze trennten 
wir uns. Die Beiden wendeten sich durch die Wälder gegen Chivasso; 
ich, fast laufend, schlug die Richtung gegen die Strasse ein und 
gelangte um 3 Uhr Morgens bei der Molkerei meiner Tante Ursula 
Tissore-Ferro an; dieser Hess ich das Geld sehen und sagte, ich hätte 
es gestohlen. Sie machte mir Vorwürfe. Darauf ging ich zur Mol¬ 
kerei des Elia, liess den Maulesel vor ein Wägelchen spannen, mich 
nach Gassino bringen; ich gelangte von dort auf dem Wagen von 
Gobetto nach Chivasso und trat des Abends bei Ada ein, die schon 
von allem unterrichtet war; mit ihr habe ich das Geld des Ferreri 
verprasst. 


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Kriminelle Suggestionirung an einem schwachsinnigen Alkoholiker. 331 


Boulan traf mich am 25. und sagte zu mir: „Du hast übel 
daran gethan, mit jener Prostituirten Dein Geld zu verthun!“ — — 

Bei diesen Worten, als kämen sie aus dem Munde eines heiligen 
Evangelisten, schlossen sich geräuschvoll, wie zu einer Belagerung, 
die Thüren des mit Zuschauern gefüllten Gerichtssaales, um so der 
Complicen habhaft zu werden. — Leider griff man aber fehl und 
verhaftete irrthümlicher Weise den Bruder des Martinengo; kurz darauf 
sah man den Irrthum ein und musste denselben freigeben, so dass 
er schon am nächstfolgenden Tage wiederum ruhig in seinem eigenen 
Bette schlafen konnte. 

Nach Wiederaufnahme des Processes fuhr Tissore fort, seinen 
Bruder zu entlasten und mit noch grösseren Details seine drei vor¬ 
genannten Complicen zu beschuldigen. 

Ada und Boulan leugneten hartnäckig ebenso, wie sie es auch 
im Mai 1902 beim Verhöre vor den Geschworenen thaten. 

2. Martinengo, genannt Marghi, 35 Jahre alt, Taglöhner, der 
keine andere Vorbestrafung als die eines Jagdfrevels aufzuweisen 
hatte, dessen Vater und Grossmutter Alkoholisten waren und dessen 
Mutter und Urgrossmutter an Neuritis gelitten batten, leugnete An¬ 
fangs standhaft, indem er behauptete, besagte Nacht in seinem Hause 
verbracht zu haben. 

Im vierten Verhöre jedoch, nach einmonatlicher Kerkerhaft, mit 
Tissore confrontirt, der in ihn drang, dass er gestehen möge, sagte 
er: „Nun schiebt man alle Schuld auf mich, obwohl Du das Ganze 
mit Boulan verbrochen hast und jetzt auf Andere wälzen willst Es 
mag sein, wie Du sagst, vielleicht bin ich dabei gewesen, nehmen 
wir an, es wäre wahr“. 

B§i einem fünften Verhöre ohne Beisein des Tissore und dann 
auch in den folgenden wiederholte er auf’s Genaueste die von Tissore 
erfundenen Beschuldigungen und fügte denselben Angaben über Stunden, 
Daten und genaue Beschreibungen der Gegenstände bei. So giebt er 
z. B. an, mit dem Taglöhner Boulan kurz nach Feierabend um 8 Uhr zu¬ 
sammengetroffen zu sein, der zu ihm von einem Unternehmen sprach, 
bei dem sich für den Durst etwas gewinnen Hesse. Darauf traf er 
gegen 10 Uhr Abends an der Brücke von Taiteria mit dem Opfer 
und Tissore zusammen. Boulan machte Miene, den Mord an Ort 
und Stelle zu vollführen, aber Tissore erklärte sich damit nicht ein¬ 
verstanden; so schritt man denn weiter und machte schliesslich den 
Abstieg zur Brunnenstube des Tissore, wo man um Mitternacht ankam 
und eine Flasche Wein trank. 

Im Hause des Tissore eingetreten, zündete derselbe eine mit 


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XVI. Lombboso und Bonelli 


Draht umflochtene Laterne an, worauf man Ferren abermals zutrank; 
nun führte Boulan einen Schlag gegen Ferren und warf ihn zu 
Boden; dann drückte er ihm zu wiederholten Malen mit dem Knie 
den Brustkorb ein, bis man ihn nur mehr röcheln hörte. Aus Er¬ 
barmen brachte nun Tissore einen Stock aus Holz oder Eisen herbei, 
und mit diesem gaben die Betheiligten dem Opfer den Rest Dann 
brachten alle drei den Ermordeten zum Brunnen, wo man ihm einen 
Stein an die Füsse band und hinabwarf, ohne das Aufschlagen des 
Körpers am Wasser zu hören. Nach vollbrachter That kehrte Mar- 
tinengo allsogleich, ohne Uhr oder irgendwelche Entschädigung er¬ 
halten zu haben, nach Hause zurück. 

Letztere Behauptung steht im Widerspruch mit jener des Tissore, 
welcher angiebt, ihm ein Drittel des Geraubten und noch obendrein 
die Uhr gegeben zu haben. 

Alle diese Behauptungen hielt Marghi mit grosser Hartnäckigkeit 
auch vor den Geschworenen aufrecht, und behauptete ausserdem, 
Boulan unter den Andern gesehen zu haben; Letzteren kenne er vom 
Gasthause Tissani her. 

Er beschrieb die Blutspuren, die sich im Zimmer befanden, die 
er mit einer Handvoll Heu weggewischt zu haben angab und den 
Tisch, neben welchem das Opfer zu Boden geworfen ward. 

3) Wie kam man darauf, dass dies alles falsch sei? 

Martinengo, der seinerzeit an Neuritis litt und sich an einem der 
That vorhergegangenen Tage eine Fussverrenkung zugezogen hatte, 
war seither gar nicht aus dem Hause gekommen. Boulan war einer 
der besten Arbeiter von Chivasso, kräftig und unermüdlich. 

Sein Alibi wurde von einer Gruppe von Personen nachgewiesen, 
die Spielens halber in seinem Hause anwesend waren und als nähere 
Details angaben, in den letzten Tagen des Carneval einen Strauss 
von Kunstblumen in den Händen von Boulan’s Kindern gesehen zu 
haben. 

Die Unschuld Boulan’s und Martinengo’s wurde schliesslich auch 
vor den Geschworenen durch den Bruder und Mitschuldigen des 
Giovanni Tissore nachgewiesen, welcher ohne Widerspruch zu finden, 
erklärte, dass der einzige Mörder des Ferreri sein eigener Bruder sei, 
der ihn am 21. im Schlafe mittels eines Hammers getödtet habe. 
Er selbst half demselben am 28. in der Nacht den Leichnam zu 
übertragen und in den Brunnen zu werfen, um die Entdeckung zu 
verhüten. 

Die Unschuld des Boulan wurde durch die Kriminalanthropologie 
erwiesen; kein Verwandter desselben war geisteskrank oder Verbrecher 


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Kriminelle Suggestionirung an einem schwachsinnigen Alkoholiker. 333 


gewesen und bei keinem fand Alkoholmissbrauch statt Boulan bat 
das Aussehen eines gutmüthigen Menschen: breite Stirn, frühzeitigen 
Kahlkopf, kleine Unterkieferknochen, schönen Mund; er ist ein ruhiger 
Mensch und hat in seinem Leben nur^ eine Strafe abgebüsst, und 
diese eines Vergehens halber, das dem Anthropologen nicht als solches 
erscheint (er versetzte einem Carabiniere eine Ohrfeige, in dem Glauben, 
derselbe hätte seinen Vater misshandelt). 

Boulan, ein tüchtiger Arbeiter, war nicht nur für seine Person 
als Brotbäcker thätig, sondern vertrat auch abwesende und erkrankte 
Gesellen. Selbst geliebt, liebte er Frau, Gefährten und Kinder zärt¬ 
lich wieder. 

4. Wie kann man sich den seltsamen Fall (Martinengo) erklären, 
dass ein Unschuldiger sich selbst und andere ohne einen andern Be¬ 
weggrund anklage, als um sich aburtheilen zu lassen? 

Dies erscheint uns als ein so seltsames Problem, dass es in seiner 
Eigenart kaum einen analogen Fall aufweist und nur theilweise 
durch Studium des Charakters des eigenartigen Selbstanklägers und 
seines Verleumders erleuchtet werden kann. 

Martinengo hat eine erdfahle Hautfarbe, ein mit frühzeitigen 
Furchen bedecktes Gesicht, er ist 1,60 m hoch, Spannweite 1,70 m; 
Plattschädel, Monocephale 145 Occ. 

Im Urin finden sich keine pathologischen Bestandtheile, speci- 
fisches Gewicht 1021, das Verhältniss der Phosphate 3:1 (normal), 
Chloride 9,5Proc.; Pupillenstarre, ungleiche Pupillen, Zunge mnd Lippen 
nach rechts abweichend, Zittern der Hand, Astasie, Abasie, lebhafte 
Patellarreflexe, Haut- und Hodenreflexe fehlen, Schreibstörung, die 
auch in den sechs Monate alten Untersuchungsprotokollen ersichtlich 
ist; Unsicherheit, Trägheit, Fehlerhaftigkeit im Ausdruck, Bradifasie, 
Dysartrie, vollkommene Schmerz- und Tastunempfindlichkeit, so dass 
es unmöglich ist, bei ihm die Tast- und Schmerzempfindung zu messen, 
während er behauptet, dass ihm ein in die Achselhöhlen angelegter 
Thermometer ein unerträgliches Brennen verursache; auf seinen Lippen 
erscheint ein immerwährendes Lächeln, auch dann, wenn ihm Vor¬ 
würfe gemacht werden, oder wenn in ihm die Idee schmerzhafter 
Gefühle in den Gelenken und in der Magengrube künstlich hervor¬ 
gerufen wird; Martinengo bietet einen seltsamen Fall krankhaften 
Wohlbefindens dar, weshalb er seines Aufenthaltes im Kerker nicht 
gewahr wird; in Gesellschaft Anderer gebracht, beklagt er sich und 
behauptet, sich in der Einzelzelle sehr gut zu befinden, in welcher 
er sich durch lange Stunden mit einem Buche in der Hand zu be- 


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XVI. Lombboso und Bonelli 


schäftigen glaubt, in der That aber vermag er irgendwelche Auskunft 
über den Inhalt nicht zu geben. 

Von Zeit zu Zeit wird er von Hallucinationen befallen, in welchen 
er Schatten und dergleichen sieht; des Abends stellt sich bei ihm 
Geistesverwirrung ein, in welcher er in das Bett und wieder aus dem¬ 
selben springt und die zwei Bettdecken für 10 bis 12 zählt; öfters 
wird er von langandauernden choreatischen Anfällen heimgesucht, 
worauf er in tiefen Schlaf sinkt 

Er beharrt, wie bereits erwähnt, auf den genannten Aussagen; 
als eines Tages vor den Geschworenen von der möglichen Mitthäter- 
scbaft des Giovanni Tissore die Rede war, beschuldigte er ohne Weiteres, 
sof wie die zwei Anderen auch diesen der That; und als Giovanni vor 
den Geschworenen kurzweg erklärte, dass nur er mit seinem Bruder 
den Leichnam übertragen habe, sagte Martinengo: „Ich weiss, was 
ich weiss; vielleicht habe ich zu Hause geschlafen, vielleicht war ich 
gar nicht dabei“. . . . Und zu mir gewendet: „Vielleicht bin ich allein 
zur Brunnenstube herabgestiegen, aber Weiteres weiss ich nicht“ 

Ein Rechtsanwalt fragte ihn: „War ich auch bei der Brunnen¬ 
stube des Tissore?“ Und er antwortete mit seinem schläfrigen Lächeln: 
„Ich glaube ja, aber es war dunkel“. 

In jenem durch Alkoholmissbrauch kindlich gewordenen Sinn 
prägten sich alle vom Untersuchungsrichter ohne Absicht hervorge¬ 
rufenen Eindrücke, sowie die vom vermeintlichen Mitschuldigen aus¬ 
gehenden, als auch die von den Kerkerwachen hervorgerufenen, wie 
in Wachs *ein, — uftd einmal suggestionirt durch jene phantastische 
Pseudologik, die Geistesschwachen eigen ist, versah er seine Erfin¬ 
dungen mit den kleinsten Details, wie z. B. die Behauptung seiner 
Anwesenheit bei dem Morde, auf der er hartnäckig bestand, als ob 
diese Aussage wahr wäre, doch nicht derart, dass ein geübter Unter¬ 
suchungsrichter bei den vielen Widersprüchen den Mangel an Erinne¬ 
rungsvermögen nicht bemerkt haben könnte. 

Als man ihm vor den Geschworenen ein Paar in einem Loche 
aufgefundener Hosen vorwies, von denen behauptet wurde, dass sie 
Boulan’s Eigenthum wären, gab er auf Befragen, was Boulan trug, 
als er den Hügel herabstieg, an, Letzterer hätte in einem Bündel ein 
Paar Hosen mitgebracht, später aber behauptete er, er wisse nicht, 
was der Inhalt des Bündels gewesen wäre 1 )« 

1) Auch der Richter, von der Schuld des Angeklagten eingenommen, be¬ 
merkte nicht nur die Geistesschwäche und die Sinnesverwirrung des Martinengo 
nicht, sondern zog auch die Schriftstötung, die in den Unterschriften der Unter- 
suehungsprotokollc ersichtlich war, mit der gleichzeitig auftretenden Dysartrie 


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Kriminelle Suggestionirung an einem schwachsinnigen Alkoholiker. 335 


Als man an Martinengo die Frage stellte, welche Grösse und 
Körperbeschaffenheit Ferreri hatte, antwortete er in seiner gewöhn¬ 
lichen stockenden Weise, er wäre gut gebaut, vier Finger kleiner ge¬ 
wesen als er (also unter der Mittelgrösse), währenddessen bekannt 
war, dass Ferreri von hoher Statur gewesen ist, und fügte bei, er 
wäre eher dick gewesen. In noch andere Widersprüche verwickelte 
er sich vor den Geschworenen; so gab er z. B. an: „Als der Ermor¬ 
dete beim Brunnen niedergelegt wurde, banden wir ihm einen andert¬ 
halb Spannen langen und eine Spanne breiten Stein an die Beine* 4 
(wogegen in der That der Stein viel umfangreicher war). 

Am folgenden Tage meinte er sich nicht erinnern zu können, ob 
man dem Todten einen Stein an die Füsse gebunden habe und fügte 
bei, der Brunnen wäre offen gewesen (er ist aber gedeckt) und hätte 
Wasser enthalten, obwohl er vorher behauptet hatte, er wäre trocken 
gewesen. — 

Bei allen Verhören beharrte Martinengo darauf, keinen Kreuzer 
vom Gelde des Ferreri erhalten zu haben; dagegen gestand er im 
Kerker einer Wache, solches in einem Loche des Magazins, wo er 
arbeitete, versteckt zu halten. 

Als darauf die genaueste Nachsuchung gehalten wurde, fand man 
weder besagtes Geld, noch das bewusste Loch vor, weshalb wir ruhig 
annehmen können, die Worte Martinengo’s wären das Resultat der 
Suggestion des Polizeisoldaten Ladista. 

Alles dies, verglichen mit dem nicht widerlegten Alibi des Marti¬ 
nengo und Boulan, mit Bezug auf ihren unbescholtenen Lebenswandel, 
der auch in hervorragender Weise durch die anthropologische Unter¬ 
suchung erwiesen wurde, führt zum sicheren Nachweis, dass die 
Aussagen dieWirkung der Suggestion Anderer sind und 
der Autosuggestion zugeschrieben werden müssen. 

Als man ihn aus dem Kerker entliess, überzeugte ich mich selbst 
von seiner grossen Suggestionsfähigkeit; um diese zu erproben, sug- 
gestionirte ich ihm im Kerker, er befände sich im Gasthofe „zur Sonne.“ 

Damals schien es, er wäre dieser Suggestion nicht zugänglich, 
da er mich verneinend angrinste, so wie es auch schien, dass er den 
Schmerz des elektrischen Stromes nicht empfand. Als er nach zwei 
Monaten vollkommen geistesverwirrt war, behauptete er, im Gasthaus 
„zur Sonne“ gewesen zu sein, wo ihn Zauberer mit glühendem Eisen 

nicht in Betracht, weshalb er keine Untersuchung des abnormalen Geisteszustandes 
des Angeklagten anordnete. Diese Prüfung wurde erst wenige Tage vor den 
Plaidoyers durch den scharfsinnigen Advocaten Poddigne, den Vertheidiger des 
Angeklagten, beantragt. 


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XVI. Lombroso und Boneli.i 


(phantastische Pseudologik) den Bauch, die Augen und Hände durch¬ 
bohrt hätten. Eine solche Suggestion kann nur durch die Lectiire 
eines Buches, oder durch ein Gespräch hervorgerufen werden, wie in 
jenem Mädchen, das den Bürgermeister von Graz der Schändung 
anklagte, nachdem sie einen solchen Fall vorlesen hörte. Eine der¬ 
artige Suggestion wird um so intensiver, wenn man, wie in unserem 
Falle, die Kerkerhaft, dann die ruhige, aber doch strenge Stimme des 
Richters und schlimmer noch die Einflüsterungen der Kerkerwachen 
in Rechnung zieht 

Im Allgemeinen übt an und für sich ein jeder, mit einer grösseren 
Autorität Ausgestatteter auf die meisten einen beherrschenden Einfluss, 
umsomehr auf die Geistesschwachen, und gar, wie in unserm Falle, 
auf ein durch übermässigen Alkoholmissbrauch degenerirtes Indi¬ 
viduum aus. 

Es ist bekannt, dass die furchtbare Anklage gegen die Juden von 
Tisza-Eszlär von einem jüdischen Knaben ausging, der vorerst von 
einem ungarischen Kommissär durch Peitschenhiebe zu Vorbringung 
der Anklage gezwungen, später, von den gemachten Aussagen über¬ 
zeugt, dieselben mit genauesten Details solange aufrecht hielt, dass 
er im Stande war, Richter und Geschworene die längste Zeit hinter’s 
Licht zu führen. 

Viele, schreibt Bertillon (Congresd’Anthropologie criminelle 1896) 
sind solcher Suggestion verleumderischer Aussagen auch ohne Hyp¬ 
nose fähig. 

Ottolenghi fand dieses Phänomen zumeist bei Schwachsinnigen 
und Blöden, weil sie an moralischem Defect leiden (La Suggestione 
S. 297 Torino 1900) und Sullivan mehr bei Paralytikern. 

5. Die Grausamkeit des Tissore, der eine so blutige That aus 
eigener Initiative begangen hatte, und dann in so kurzer Zeit eine 
bedeutende Summe Geldes verschleuderte, weiters die Hartnäckigkeit 
und Beharrlichkeit, mit welcher er fortfuhr, drei Unschuldige so schwer 
zu belasten, welche Handlungsweise zu seiner eigenen Entlastung 
wohl nur wenig dienlich sein konnte, kann man nur dadurch erklären, 
dass er aus reinem Vergnügen am Verbrechen die schreckliche That 
beging und daran Freude fand, seine Umgebung leiden zu sehen. 
(In der That verleumdete er vor den Geschworenen sowohl Carabi- 
niere, als auch Kerkerwachen). 

Alle diese Charakterzüge, wie wir sie bei den erblich Belasteten 
und pathologisch veranlagten Individuen bemerken, vereinigen sich 
in Tissore zu einem vollkommenen Bilde des geborenen Verbrechers, 
so dass der Hinweis auf die unwiderstehliche Macht der ererbten 


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Kriminelle Suggestionirung an einem schwachsinnigen Alkoholiker. 337 

krankhaften Anlage genügt. Wie aus der Abstammung und dem 
Stammbaum ersichtlich ist, leitet Tissore sowohl von väterlicher als 
auch von mütterlicher Seite seine Herkunft aus einer Familie ab, in 
der unter verschiedenartigen Formen die nervöse Entartung überwiegt. 
Er hat väterlicherseits einen Vetter, Namens Bocca, welcher im Irren* 
hause als Tobsüchtiger starb. Eine Cousine — Ursula Scagna — 
starb ebenfalls im Irrenhause. Mütterlicherseits starb der verkrüppelte 
Grossonkel Sprozio Carlo als Selbstmörder; ein anderer Vetter, Felice 
Dettoma war blödsinnig und ertrank; ein weiterer Vetter, Bocca, taub¬ 
stumm, starb in der Anstalt; der Grossonkel, Carlo Sprozio, war Alko¬ 
holiker und Müssiggänger. Eine Schwester war blödsinnig; die andere 
floh aus dem Hause und sein Bruder war schon öfters vorbestraft. 

Giuseppe litt schon als Kind an nächtlichem Aufschrecken und 
Somnambulismus; älter geworden, erhob er sich öfters nächtlicherweile 
von seinem Lager, wandelte im Zimmer umher und batte den Hang, 
sich aus dem Fenster zu stürzen; in einer Nacht rettete man ihn nur 
mit knapper Noth, als er sich im Hemde mit dem wiederholten Rufe, 
der Schwarze stünde hinter ihm, aus dem Fenster stürzen wollte, so 
dass er von seinen Verwandten mittelst einer Leiter vom untern Stocke 
aus herabgeholt werden musste. 

In der Schule erwies er sich mehr als ungestüm und menschen¬ 
scheu; er mied jeden Verkehr mit Seinesgleichen, gerieth in grosse 
Aufregung, wenn man ihn bei seinem Namen Tissore rief, und be- 
harrte eigensinnig darauf, nicht so genannt werden zu wollen. Mit 
10 Jahren wurde er von einem wuthkranken Hunde gebissen und 
nachdem er in Turin die Pasteur*sehe Impfmethode durchgemacht 
hatte, gab man ihn einer Gastwirthin in Pflege. Nach wenigen Tagen 
berichtete diese, der Knabe wäre in der Nacht von Krämpfen befallen 
worden, wobei er mit den Zähnen fletschte, Tags darauf grosse Nieder¬ 
geschlagenheit zeigte und jedwede Nahrung verweigerte. 

Der Knabe litt zeitweise an epileptischen Schwindelanfällen und 
Kopfschmerzen; so wurde er z. B. mit 13 Jahren zu einem Bäcker in 
die Lehre getban, wo er einen Schwindelanfall erlitt, dabei fiel und 
einen Arm brach. 

Unruhig und unbeständig, versuchte er sich in manchem Hand¬ 
werk: Brotbäcker, Tischler, Waldhüter, Landmann u. s. w.; er ermüdete 
bald, arbeitete nur unbeständig, ohne feste Zeiteintheilung vertragen 
zu können. Oeftere Male setzte er sich mit den übrigen Familien¬ 
mitgliedern zum Mittagstisch, sprang plötzlich und unvermittelt auf, 
verliess das Haus und kehrte, ohne eine Erklärung für solche Hand¬ 
lungsweise abzugeben, zurück. Zu Hause zeigte er sich nicht sehr 


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338 


XVI. Lombboso und Bonelij 


liebevoll gegen die Mutter, noch weniger gegen den Vater; eines 
Tages sogar, als der Vater ein Paar Schuhe ausbesserte, verbot er 
es diesem, und als sich derselbe solch 7 seltsamem Beginnen widersetzte, 
erhob er die Hand, um ihn zu schlagen. 

Mit zwanzig Jahren gerieth er mit einigen Genossen in Streit, 
welche ihn mit einem Gartenmesser am Kopfe verwundeten, wobei 
er nicht nur Verletzungen der behaarten Kopfhaut, sondern auch 
Schädelbeinbrüche davontrug. — Er war öftere Male wegen Diebstahl 
und Beschimpfungen vorbestraft — 

Giuseppe bietet ausser den vernarbten Schädelknochenbrüchen 
nur drei Anomalien dar: die carrarische Linie an der Hand, die Fistel¬ 
stimme bei de7 Wiedergabe seiner erfundenen Possen und eine Asym¬ 
metrie der linken Gesichtshälfte; da erstere aber im Vereine mit den 
Schädelknochenbrüchen sehr in die Augen springend ist, erweist sie 
sich als äusserst wichtig zum Nachweis des krankhaften moralischen 
Empfindens eines Epileptikers, wovon die Schwindelanfälle und die 
darauffolgenden Krämpfe das erste Anzeichen waren. Dies erklärt 
den Drang des Individuums, das Böse um des Bösen willen zu thun, 
die Wollust, in welcher er in juridischer Form an den drei Mitange¬ 
klagten einen zweiten, nicht weniger grausamen Mord beging als den 
ersten. Dieser moralische Defect unterstützt ihn und treibt ihn un¬ 
widerstehlich an, durch Verleumdungen Advocaten und Sachverstän¬ 
dige an sein Lügengewebe glauben zu machen. 

Ein Bild seiner vollkommenen Sorglosigkeit kann man sich 
machen, wenn man bedenkt, dass er den Ermordeten, so wie es scheint, 
durch 7 Tage in seiner Wohnung bei fast offenen Thüren liegen 
Hess, sich zu allererst Vergnügungen hingab, statt zuvor für seine 
eigene Sicherheit zu sorgen. 

6. Viele Thatsachen, die bei Gericht unbeachtet blieben, wie z. B. 
der Besitz der Uhr des Opfers in den Händen des Bruders Giovanni, 
welche er bei Annäherung der Carabiniere in den Schnee geworfen 
haben will, der Besitz des Mantels des Ermordeten, sein hartnäckiges, 
durch ein Jahr lang andauerndes Schweigen vor den Geschworenen, 
beweisen seine Mitschuld. 

Die Kriminalanthropologie zeichnet ihn seiner erblichen Be¬ 
lastung wegen zum vollständigen Typus eines geborenen Verbrechers: 
die frühzeitigen, zahlreichen und tiefen Furchen im Gesichte, die 
Stenokrotaphie, die markanten Kinnbacken und sein frühzeitiger und 
rückfälliger Hang zum Verbrechen. 

Angenommen, dass man den Erzählungen der beiden Brüder 
Glauben schenkte, erregt es immerhin Verwunderung, dass ein am 


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Kriminelle Suggestionirung an einem schwachsinnigen Alkoholiker. 339 

21. Ermordeter, der schon am Tage und Orte der That viel Blut 
verloren hatte, noch am 28. auf die Distanz von 150 m viele Blut¬ 
spuren hinterlassen konnte und zwar sowohl als Blutgerinsel, als auch 
in Form von Flecken und Lachen. Auch bei der Autopsie wurde 
noch eine grosse Menge Blutes, innerlich und äusserlich des Brust¬ 
korbes vorgefunden. 

Wie durch den Meteorologen Professor Balbi officiell festgestellt 
wurde, war am 21. die Temperatur —15°, und die nächsten vier 
Tage —3o; der Brunnen hatte +12°; am 3. und 4. März +1°. 

Auf die alte Erfahrung von Hewson gestützt, geht aus dem 
Ganzen hervor, dass, wenn man das Blut vor dem Gerinnen gefrieren 
lässt, dasselbe beim Aufthauen wieder flüssig und roth wird und 
dann in gewöhnlicher Weise gerinnt (Lezimi di Fisologia Vol. I, 
S. 150); es kann sich daher unter solchen Umständen noch lange 
nach dem Tode Blutgerinsel bilden. 

Da es sich um die Angaben eines lügnerischen Diebes handelt, 
ist es wahrscheinlicher, dass auch hier wiederum eine neuerliche Lüge 
vorliegt, wie auch kaum anzunehmen ist, dass der schwächliche und 
feige Giuseppe den Mord allein vollführt und die ganze Summe des 
geraubten Geldes verprasst hätte. 


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XVII. 


Die Schreckreaction vor Gericht. 

Von 

Nervenarzt Dr. Diehl, Lübeck. 

Unter Schreckreaction im Sinne der hier zu behandelnden Frage 
verstehe ich den triebartigen Vollzug einer Handlung, die unmittelbar 
unter der Einwirkung des Schrecks erfolgt und zugleich der intellektu¬ 
ellen und ethischen Lage des Individuums nicht entspricht Dabei 
wird dem so Handelnden die Inkongruenz zwischen der vollbrachten 
That und seiner Auffassung vom Rechtthun fast im Augenblick des 
Vollzuges bewusst, worauf sich meist ein anhaltendes, quälendes Un¬ 
lustgefühl geltend macht. 

Wenn ein mächtiges Gefühl oder ein Affect, gleichviel ob freu¬ 
diger oder trauriger Natur, im Menschen unvermittelt aufsteigt, tritt 
als erstes eine plötzliche Hemmung im Ablauf der Vorstellungen ein. 
Der ruhige Gedankengang, das folgerichtige Sch Hessen wird schroff 
unterbrochen. Die Vorstellungskette reisst ab, wo der Zorn wild auf¬ 
braust, wo der Jubel losbricht, wo die Leidenschaft keine Schranken 
kennt, und der Schreck die Glieder lähmt. Für all die verschiedenen 
Qualitäten des Affects gilt als erste, gemeinsame Wirkung dieser Riss 
im Vorstellungsverlauf; erst nach diesem Vorgang macht sich die Ver¬ 
schiedenheit der Wirkung geltend, je nach dem, ob ein Lust- oder 
Unlustaffect einsetzte. Der frohen Wallung folgt ein Ansturm von 
Vorstellungen, die wesentlich auf den freudigen Ton gestimmt sind, 
und heitere, weit ausschauende Phantasiegebilde drängen in rascher 
Folge heran. Die plötzliche Freude verklärt die Lebensauffassung 
weit über die Grenzen hinaus, wo der Gegenstand der Freude über¬ 
haupt Einfluss haben kann. Befindet sich das Gemeingefühl in froher 
Lage, so erscheint auch das wirklich Unerquickliche in freundlicherem 
Lichte. Anders beim Unlustaffect; da leuchten nicht bunte Vor¬ 
stellungen in reicher Fülle auf. Die eine Vorstellung, welche den 
Unlustaffect hervorrief, klebt im Bewusstsein gleichsam fest; sie be¬ 
hält die Oberhand und duldet nur, dass ihr verwandte, trübe Vor- 


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Die Schreckreaction vor Gericht. 


841 


Stellungen sich angliedern. Treffend nennt Wundt dieses Phänomen 
im Affectleben die Selbsterbaltung des Bewusstseins gegen 
die Macht der Eindrücke. Die Nachwirkung eines starken Ge¬ 
fühles empfinden wir als Stimmung. Wie sich die Tendenz zur 
Trägheit im ersten Vorstellungsspiel nach der traurigen Affectwirkung 
zeigte, so hat die Stimmung nach Unlustaffecten ebenfalls eine aus¬ 
geprägte Neigung, dem Menschen beharrlich nachzugehen. Es liegt 
nahe, in dieser Erscheinung ein zweckmässiges Walten der Natur zu 
erblicken. Die nachdrückliche Mahnung, sich der Widerwärtigkeiten 
im Leben zu erwehren, dem Schädlichen wachsamer auszuweichen, 
wird stets ungleich werthvoller für die Erhaltung des Individuums sein 
als der Antrieb zur einfachen heiteren Gestaltung des Lebens. 

Wenn durch den Affect nun schon die Denkrichtung, die Stim¬ 
mung u. s. w. in hohem Maasse gestört wird, so werden Handlungen 
gewiss einer besonderen Beurtheilung zu unterziehen sein, sobald sie 
unter der Macht eines starken auflodernden Gefühls, eines Affectes, 
vollzogen sind. Diese Wahrheit hat die Gerichtspraxis im Allgemeinen 
längst anerkannt, und die mildernden Umstände werden ihrer Forde¬ 
rung zum Theil gerecht. 

Im Folgenden möchte ich auf eine ganz specielle Affectwirkung 
eingehen, die bisher, wie mir scheint, nicht genügend berücksichtigt 
war, und die gewiss nicht nur in vereinzelten Fällen zu ungerechter 
Beurtheilung Anlass gegeben hat. Um klarzustellen, was ich unter 
Schreckreaction als Affecthandlung verstanden haben möchte, gehe 
ch zur Besprechung von Fällen über, die sich ohne Weiteres bei 
geistig normalen Menschen ereignen können. 

Wegen Berufung auf einen hohen Posten hat sich Herr X. seinem 
Vorgesetzten vorzustellen. [Dieses ist für seine ganze Zukunft von 
entscheidender Bedeutung. Im Arbeitszimmer wartet er lange ver¬ 
geblich. Die harte Geduldsprobe lässt Herrn X. nicht länger ruhen; 
er wandert auf und nieder, betrachtet sich die Wanddecoration u. s. w. 
Es fälllt der Blick auch auf das Bauchservice und der passionirten 
Baucher interessirt im Moment die Qualität der Cigarren. Er nimmt, 
ohne sich der Unschicklichkeit seines Thuns dabei recht bewusst zu 
werden, eine aus dem Cigarrenbecher und untersucht eben auf Sumatra¬ 
deckblatt — da öffnet sich die Thüre und der Vorgesetzte tritt ein. 
Der wichtige Moment ist da. Mit dem Augenblick, wo die Thüre 
geht, fährt Herr X. zusammen; er ist ganz Beamter, correct zur 
Stelle. Dass er nicht dabei ertappt werden darf, wie er seine Neu¬ 
gierde an der Cigarre befriedigt, ist ihm nach seiner ganzen Auf¬ 
fassung von Standeswürde und correctem Benehmen selbstverständ- 

Archiv für Kriminalanthroplogie. XI. 

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342 


XMI. Diehl 


lieh. Es erledigt sich die Sache für ihn so, dass er die Cigarre in 
der Hand behalten kann, um sie unvermerkt in die Tasche gleiten 
zu lassen. Ein Zurücklegen des in elementarer Reaction Genommenen 
ist ausgeschlossen; die Situation macht Herrn X. zum Entwender 
gegen seinen Willen. Er erlebte, wie ich’s ausdrücken möchte, eine 
Schreckreaction. 

Dem Arzt begegnet es nicht selten, dass eine seiner Bestimmungen 
vom Patienten vergessen wird. Ist der Arzt streng und sein Ver- 
hältniss zum Kranken nicht zu vertraut, so erwächst aus solcher Ge¬ 
legenheit für den Patienten leicht eine Situation, die eine grosse Dis¬ 
position zu Schreckreactionen schafft Ein jüngst erlebtes Beispiel 
gab mir den directen Anstoss zu dieser Arbeit. 

Frau Dr. X. behandle ich wegen eines sehr schmerzhaften chro¬ 
nischen Nervenleidens. Sie ist eine feingebildete, hochstehende Frau 
ohne nervöse Reizbarkeit, ohne Launenhaftigkeit Die einzelnen Be¬ 
handlungsarten werden wochenweise angewandt um dann für gewisse 
Zeit durch andere ersetzt zu werden. Gegen die heftigen Schmerzen 
wandte Patientin in mehreren Abschnitten mit gutem .Erfolge Pyra- 
midon an. Während einer elektrischen Sitzung fragte ich sie bei¬ 
läufig: Nicht wahr, Sie haben das Pyramidon in der letzten Woche 
nach Vorschrift genommen? „Jawohl, Herr Dr., so, wie Sie’s be¬ 
stimmt hatten.“ Diese Antwort kam so gehemmt und unfrei heraus, 
mit solch verlegenem, suchendem Blick der Patientin, dass ich gleich 
von ihrer Unrichtigkeit überzeugt war. Als ich die Frage eben ge¬ 
stellt hatte, fiel mir bei, dass ich im Irrthum war; es war gar nicht 
die Periode zum Gebrauch des Mittels. Die Patientin ist sehr ge¬ 
willt, alle Verordnungen gewissenhaft durchzuführen. Bis dahin hatte 
ich über keine Unterlassungssünde bei ihr zu klagen. Der Schreck 
über die unvermuthete Frage und das sich aufdrängende Schuld¬ 
gefühl liess bei Frau Dr. X. gar nicht den Verdacht aufkommen, 
dass ich mich geirrt hätte. Sie antwortete unüberlegt aus Notwehr, 
die aus einem ganz gesunden Erhaltungstriebe entsprang. Wäre die 
Frage nicht so unvermittelt an die Patientin herangetreten, so hätte 
sich der Sachverhalt sicher klargestellt. Ich überging die Angelegen¬ 
heit gleich, um nicht durch die Correctur meines eigenen Versehens 
die Dame auf ihre unwahre Angabe direct hinzuweisen. Für den 
Rest des Zusammenseins hielt das unfreie, verlegene Benehmen der 
Frau an; man merkte wohl, dass sie sich wegen der Lüge unglück¬ 
lich fühlte. Als ich nach 3 Tagen wieder einsah, kam es zur 
Aussprache. Frau Dr. X. erzählte gleich, dass sie die Unwahrheit 
sagte, dass sie sicli so sehr deshalb schäme; sie verstehe nicht, wie 


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Die Schreckreaction vor Gericht. 


343 


das kommen konnte. Sie habe sich in den Tagen damit gequält; 
ihr Mann habe gerathen, mir die Sache anseinanderzosetzen. Frau 
Dr. X. halte ich für unfähig, eine Unwahrheit dieser Art mit Vor¬ 
bedacht vorzubringen. 

In den vorstehenden Fällen war die Folge der durch den Schreck 
modificirten Handlung belanglos, weil die Situation eine relativ ein¬ 
fache war. Dass durch geringe Aenderungen in derselben ganz 
andere Effecte unter dem gleichen psychischen Vorgänge erzielt 
werden können, ist einleuchtend. Als letztes Beispiel führe ich einen 
Fall an, der zu einer gerichtlichen Entscheidung führte und in dem 
ich als psychiatrischer Sachverständiger zu wirken hatte. Alle nicht 
direct zur Sache hier gehörigen Umstände bei dem in mancher Rich¬ 
tung interessanten Fall übergehe ich. 

Die 32 jährige Bureauvorstehersfrau D. aus W. wohnte im glei¬ 
chen Hause mit der Händlersfrau K., die ihrem auswärts arbeitenden 
Mann nachmittags den Kaffee zu bringen hatte. Während dieser 
Stunde wurde ihr kleines Kind eingeschlossen und allein in der Woh¬ 
nung zurückgelassen. Als es nun Pfingsten 1899 kränkelte, bat Frau 
K. Frau D., während ihres Fortseins beim Kinde zu wachen. Das 
that Frau D. bereitwillig und des öfteren. Mit Frauenneugier musterte 
Frau D. die in der K.'schen Wohnung befindlichen Sachen. Eines 
Tages machte sie sich mit Schuhen zu schaffen, die zum Verhandeln 
in einer Kammer untergebracht waren. Dabei zog sie sich die ver¬ 
schiedenen Paare an, um etwas Passendes für sich heraus zu finden. 
Alle Paare waren für sie zu gross. Als sie sich das letzte Paar an¬ 
gezogen hatte, hörte sie plötzlich auf der Treppe Schritte. Man kam, 
und sie hatte die fremden, ihr viel zu grossen Schuhe an, an deren 
Entwendung sie keineswegs gedacht hatte. Sie scheute sich, ent¬ 
deckt zu werden; denn sie hatte „doch mit deren (der Frau K.) Schuhen 
nichts zu thun.“ In der Verlegenheit lief sie schnell aus dem Zimmer 
in ihre Wohnung. Da packte sie nun die Angst wegen der aus¬ 
geführten Schuhe, die sie doch zurückbringen musste und wollte. 
Sie lauerte bis zum Abend an der Thüre, ob Frau K. nicht für kurze 
Zeit die Wohnung verlasse; dann hätte sie die Schuhe schnell zurück- 
gesetzt Ihr Harren war vergeblich. Um 8 Uhr kam ihr Mann nach 
Hause, der sie streng behandelte und dem sie aus Furcht vor schlimmen 
Scenen nichts über den Vorgang sagen konnte. In ihrer Noth zog 
sie die entwendeten Schuhe an, weil sie diese so am besten vor dem 
Manne verstecken konnte. Sie fand keine Ruhe in der Nacht und 
am nächsten Tage glückte es ihr nicht, das Entwendete zurück zu 
bringen. Am Abend kam Frau K. zu Frau D. und stellte sie gleich 

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XVII. Drern, 


wegen des Diebstahls zur Bede. FrauD. bekannte ohne Lügen, und 
es wurde Anzeige erstattet, da der Erklärung der D. kein Glauben 
geschenkt werden konnte. Der Verdacht gegen Frau D. war durch 
ein Vorkommniss verstärkt, das sich zu eben derselben Zeit aufklärte. 
Im Februar 1898 nahm Frau D. einer Hausbewohnerin H. 6 silberne 
Löffel aus einem Korbe. Ein Jahr später benutzte sie diese bei einem 
Geburtstagskaffee, an dem Frau K. die schönen silbernen Löffel be¬ 
wunderte. Nach längerer Zeit sah Frau K. bei Frau H. Löffel in 
der gleichen Art und sagte ihr, dass sie bei Frau D. die gleichen 
Löffel gesehen habe. Frau H. erzählte dann, dass von ihren 10 sil¬ 
bernen Löffeln, 6 vor einem Jahr weggekommen seien, dass sie bisher 
aber keinen Verdacht auf Frau D. hatte. Frau K. versicherte, dass 
es nach Form und Grösse die gleichen Löffel sein müssten und die 
Untersuchung ergab dann bald, dass Frau D. die Löffel bei Frau H. 
weggenommen hatte. Nach diesem Erlebniss, welches in den Tagen 
der Schuhentwendung aufgeklärt wurde, hatte Frau K. besonders 
starken Verdacht auf Frau D., deren Entschuldigungs- und Erklärungs¬ 
versuche nicht von ihr anerkannt wurden. Durch Nachforschungen 
hat sich ergeben, dass sich die Entwendung der Schuhe so zugetragen 
hat, wie Frau D. sie selbst beschrieb; sie ist mehrfach am Abend 
und an dem Tage beobachtet worden, wie sie an der Thüre auf¬ 
lauerte, um einen Moment zum Zurücktragen der Schuhe zu erhaschen. 
Als Frau D. der beiden Entwendungen halber in Anklagezustand ver¬ 
setzt war, verlangte der Mann Untersuchung auf ihren Geisteszustand; 
seine Frau sei nicht normal gewesen, als sie die Löffel wegnahm. 
Solche Handlung entspreche durchaus nicht ihrer Erziehung, ihrer 
materiellen Lage, ihrer sonstigen Gewissenhaftigkeit Den Rahmen 
der vorgezeichneten Aufgabe müsste ich um vieles überschreiten, 
wollte ich auf die nähere Besprechung des Löffeldiebstahls eingehen. 
Ich begnüge mich, zu berichten, dass trotz eifriger Erforschung der 
Umstände und eingehender Untersuchung des Geisteszustandes nichts 
zu finden war, was mir die Berechtigung gegeben hätte, im Gutachten 
für die Zuerkennung der Woblthat des § 51 des StG.B. zu stimmen. 
Für die Beurtheilung der zweiten Entwendung, der Schuhe, befand 
ich mich in der gleichen Lage, obwohl mit grossem Widerstreben. 

Wer gerichtliche Gutachten zu machen, hat und sich seine Gut- 
achtenthätigkeit erhalten will, weiss genau, wie sehr er sich dem zu 
fügen hat, was gerichtlicherseits anerkannt und vereinbar ist. Der 
Psychiater z. B. wird nicht nach einer psychologischen Analyse der 
Verbrecherseele gefragt, sondern nur, ob der vorliegende Fall das 
enthält, was im Gesetzesparagraphen ansgedrückt ist. Es wäre sehr 


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Die Schreckreaction vor Gericht 


345 


■undiplomatisch, wollte man sich auf dem Felde, wo Jurist und Arzt 
sich einigen sollen, auf einen principiellen Standpunkt stellen. Wir 
Aerzte fügen uns den richterlichen Vorlagen und müssen uns ge¬ 
dulden, wenn Recht nicht so gesprochen wird, wie es uns nach 
•der psychologischen Analyse scheinen muss. Langsam, sehr langsam 
findet die Rechtsprechung den Weg zu uns. Wir freuen uns, über¬ 
haupt die Hand im Spiele haben zu dürfen und haben allen Grund, 
vorsichtig von unserem Zugelassenwerden Gebrauch zu machen, damit 
das übergrosse Misstrauen gegen uns schwindet Wir wissen, dass 
für den Juristen die psychologische Ausbildung einstens auf den 
Studienplan gesetzt wird; erst dann haben wir zu erwarten, dass wir 
verstanden werden und das mit ärztlichem Auge finden sollen, was 
der Richter bereits vermuthet, und nicht wie jetzt, misstrauisch wittert 
Derartige Betrachtungen hatten mich zu leiten, als ich im Gutachten 
nicht für die Anwendung des § 51 des StG.B. in Bezug auf den zweiten 
Diebstahl eintrat Dass Frau D. zur Zeit der Handlung, als sie durch 
die nahenden Schritte aufgeschreckt wurde, nicht die normale Hand¬ 
lungsfähigkeit besass, ist nicht zweifelhaft; sie befand sich aber auch 
hier nicht in einem Zustande von speciell juristisch anerkannter Be¬ 
wusstlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistesthätigkeit, durch 
welche ihre freie Willensbestimmung ausgeschlossen war. Für den 
im Sinne der Schreckreaction Handelnden fehlt die richterliche Zu¬ 
stimmung der Unzurechnungsfähigkeit im Moment der Handlung; 
für die Anerkennung derselben soll hier geworben werden. Trotz 
des Schlusses des Gutachtens trat ich in der mündlichen Verhandlung 
des Schwurgerichts in W. als Sachverständiger mündlich für die 
Exculpation im zweiten Falle ein. Ich hatte nicht zu Richtern, son¬ 
dern zu Menschen zu sprechen, die sich durch die Schilderung der 
seelischen Verfassung im Moment der Schreckreaction zur Freispre¬ 
chung bestimmen Hessen. Die Einmischung in die Rolle des Ver- 
theidigers und die scheinbare Inconsequenz konnte ich mir jenes Mal 
bewusst und reulos zu Schulden kommen lassen. 

Bei der Betrachtung der verschiedenen angeführten Beispiele er¬ 
kennt man leicht, dass der Schreck die gleiche psychische Situation 
schuf, eine Situation, die eine normale Handlungsfähigkeit aus- 
schliesst Wie eingangs angeführt, ist durch den Schreckaffect die 
Vorstellungskette jäh abgerissen; zur Bildung des Urtheils und der 
Willensentschliessung steht nicht das normale Maass von bestimmen¬ 
den Factoren zu Gebote. Der Vollzug der Handlungen erfolgt auf 
Regungen hin, die unter ruhigen Verhältnissen keinen entscheidenden 
Einfluss haben könnten. Aus der eigenen Erfahrung wird jeder wohl 


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XVII. Diehi., Die Schreekreaction vor Gericht. 


die Beispiele ergänzen können, und es bedarf nur geringen Nach¬ 
denkens, um zu erkennen, wie bald eine harmlose Situation durch 
ein ungünstiges Zusammentreten von äusseren Umständen derart zu¬ 
gespitzt werden kann, dass sie folgenschwer wird oder ein gericht¬ 
liches Nachspiel hat Hätte Herr X. eine Rarität aus einer Münz¬ 
sammlung statt einer Cigarre impulsiv verschwinden lassen, so wäre 
seine Lage sehr verschärft worden. Darin lag für Frau D. keine 
Schuld, dass sie sich an der Rückgabe der Schuhe behindert sab, 
weil sie wusste, dass ein offenes Aussprechen über die Schreckreac- 
tion keinen Glauben finden würde — wegen des belastenden Vor¬ 
falles mit den Löffeln. — Es ist einleuchtend, dass im Grunde die 
Schreekreaction eine Affecthandlung ist; aber sie ist eine Affect- 
handlung ganz besonderer Art, die noch nicht ihre officielle Bestäti¬ 
gung gefunden hat Einer solchen möchte ich hier das Wort reden. 
Der Schreck bewirkt in solchem Fall nicht eine krankhafte Stö¬ 
rung der Geistesthätigkeit, sondern eine normale Störung im Ablauf 
der Seelenfunctionen, wodurch aber ebenfalls eine freie Willens¬ 
bestimmung ausgeschlossen ist 


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XVIII. 


Aus dem Institut für gerichtliche Medicin der Universität Leipzig. 

Weiteres Uber die Identificirung von Scharten spuren. 

Von 

Prof. Dr. Sockel. 

(Mit Tafel I, II.) 

Das Bedürfnis nach Realien im Beweisverfahren und nach deren 
sachgemässer Ausnützung ist ein mehr und mehr wachsendes. Das 
geht nicht nur hervor aus der auch in Deutschland jetzt weit höheren 
Bewerthung der gerichtlichen Medicin, sondern auch daraus, dass 
anderen Zweigen der praktischen Kriminalistik, so besonders der 
Photographie und der Chemie, eine steigende Beachtung zugewendet 
wird. Auch in diesem Archiv ist mehrfach (Gross 1 ), Paul 2 ), 
Schütze 3 ), Lelever 4 )) darauf hingewiesen worden, wie wenig zu¬ 
verlässig Zeugenaussagen im Vergleich zu objectiven Befunden sind, 
und wie schwerwiegende Beweise selbst aus den scheinbar unbedeu¬ 
tendsten objectiven Merkmalen nicht selten sich ergeben. Der Beweis¬ 
werth derartiger Realien, die man als Spuren im weitesten Sinne 
bezeichnen kann, geht sogar so weit, dass sie ganz allein, ohne 
Unterstützung durch Zeugenaussagen, im Stande sind, eine einer 
strafbaren Handlung verdächtige Person zu überführen bezw. zu 
entlasten. 

Die Verwerthung thatsächlicher Befunde im Beweisverfahren er¬ 
fordert häufig die Zuziehung von Sachverständigen, denen es obliegt, 
dem Richter die stumme Sprache der Objecte gewissermaassen zu ver- 

1) Gross, Zur Beweisfrage. Dieses Archiv. 8. Bd. und Handb. f. Unter¬ 
suchungsrichter. 3. Auf!. 

2) Paul, Ein neues Verfahren zum Nachweis von Urkundenfälschungen. 
Dieses Archiv. 5. Bd. 

3) Schütze, Beiträge zur Lehre des Sachbeweises u. s. w. Dieses Arch. 9.Bd. 

4) Leie wer, Beweisführung über die Umstände einer Sehussabgabc u. s. w. 
Dieses Archiv. 9. Bd. 


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XVIII. Kockel 


dolmetschen. Je weniger hierzu r die subjective Ansicht der Sachver¬ 
ständigen erforderlich ist, um so grösser wird die Beweiskraft der 
„Spuren“ sein, besonders dann, wenn auf Grund anschaulicher, vom 
Sachverständigen mit Hülfe geeigneter Methoden dargestellter Präparate 
der Richter in der Lage ist, die Befunde zu controlliren und aus eigener 
Anschauung auf ihren Werth zu prüfen. 

Bei der hohen Bedeutung, die den verschiedenen Sorten von 
„Spuren“ zukommt, erscheint daher jede neue Mittheilung thatsäch- 
licher Beobachtungen gerechtfertigt, vor Allem, wenn dieselben in einer 
gewissen Anzahl und, obwohl an sich gleichartig, doch unter wech¬ 
selnden Bedingungen gemacht worden waren. Denn gerade unter 
diesen Verhältnissen muss sich ergeben, ob die zur Klarstellung der 
Befunde eingeschlagenen Verfahren allgemein anwendbar sind, sowie, 
ob durch sie Beweismittel von hohem Werthe, an die die strengsten 
Anforderungen gestellt werden können, zu Tage gefördert werden. 

Von diesen Erwägungen ausgehend, möchte Verf. nicht unter¬ 
lassen, nochmals auf die in einem früheren Bande dieses Archivs 1 ) 
behandelten Schartenspuren zurückzukommen, da sich im Laufe 
der letzten Jahre mehrfach Gelegenheit bot, die bereits gewonnenen 
Erfahrungen unter sehr verschiedenen, von den früheren abweichenden 
äusseren Umständen anzuwenden, wobei sich die Nothwendigkeit 
herausstellte, das Verfahren zu vervollkommnen und zu vertiefen. 

Von den zur Beobachtung gelangten Fällen, sollen hier drei be¬ 
sprochen werden, deren jeder in mehrfacher Hinsicht werthvolle und 
praktisch wichtige Ergebnisse geliefert hat 

I. A. war verdächtig, über hundert junge Birken, die an einem 
mit Kies beworfenen Bahndamme standen, in der Nacht abgehauen, 
gestohlen und als Pfingstmaien verkauft zu haben. Durch Zeugen¬ 
aussagen wird festgestellt, dass A. am Abend vorher ein geliehenes 
Beil geschliffen und dieses einige Tage später dem Eigenthümer zurück¬ 
gesandt hat. A. behauptet, die Birken, die er in der Stadt verkaufte, 
auf der Fahrt dahin von einem Unbekannten gekauft zu haben. 

Die auf Anordnung der Staatsanwaltschaft ca. 4 Wochen nach 
dem Diebstahl am Thatorte durch Absägen entnommenen Birken¬ 
stümpfe zeigten, dass die meisten Bäumchen dicht über dem Boden 
abgehackt worden waren. Nach sorgfältiger Säuberung der Stümpfe 
mit Bürste und Pinsel wurden diejenigen von ihnen ausgesucht, an 
denen gut ausgeprägte Hackflächen sich fanden; letztere mussten zum 


1) Kockel, Vcber die Darstellung der Spuren von Messeracharten. Dieses 
Archiv. 5. Bd. 


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Weiteres über die Identificirung von Schartenspuren. 


349 


Theil durch Abtragen kleiner Stammtheile freigelegt werden. Die so 
gewonnenen Objecte wurden in natürlicher Grösse bei seitlich einfal¬ 
lendem Bogenlicbt photographirt. 

Die auf den Hackflächen vorhandenen Schartenspuren (vgl. 
Tafel I, auf der unter 3—8 einige der wichtigsten Hackflächen wieder¬ 
gegeben sind) stellten sich bald als kammartige Erhebungen, bald als 
rinnenförmige Vertiefungen dar, je nachdem die Beilscbneide das Holz 
schräg mit oder schräg gegen die Faser durchtrennt hatte. Dem¬ 
entsprechend erschienen dort, wo die Bäume nur angehauen worden 
waren, die Schartenspuren auf der der Axe des Stammes näher ge¬ 
legenen Fläche erhaben, auf der dazu gehörigen distalen Fläche da¬ 
gegen vertieft. 

Unter den Schartenspuren sprangen am meisten die mit a und e 
bezeichneten in die Augen: a ein hoher, breiter Doppelkamm (bezw. 
Doppelfurche) von 4,5 mm Breite, e eine drei- oder viertheilige Spur 
von 3,5—4 mm Breite. Zwischen beiden waren neben anderen feinen 
noch einige gröbere Schartenspuren ß, y, d vorhanden, von denen 
ß, als die feinste, manchmal vermisst wurde. Die Spuren a—e waren 
auf einigen Hackfläcben (z. B. 5 auf Taf. I) sämmtlich vorhanden, 
während in der Mehrzahl nur die nach a (6, 7, 8 auf Taf. 1) oder 
die nach e zu gelegenen Spuren (3, 4 auf Taf. I) vertreten waren. 

Schon aus der Form der Schartenspuren, noch sicherer aber 
aus ihrer Breite und ihren Abständen von einander ergab sich 
mit Bestimmtheit, dass sie sämmtlich von ein und demselben 
Beil herrührten. 

Von besonderem Werthe war es nun, dass sich aus einigen der 
Hackflächen, an denen entweder das nach a zu gelegene periphere 
(6, 7, 8 auf Taf. 1), oder das jenseits e befindliche, stielwärts gerichtete 
Schneidenende (3, 4, auf Taf. I) zum Abdruck gekommen war, mit 
völliger Sicherheit feststellen liess, wie lang die Schneide des 
benützten Beiles war. 

Die für diese Feststellung erforderlichen Zahlen wurden durch 
directe Messung der Abstände der Schartenspuren erhalten; die 
Verwerthbarkeit der so gewonnenen Maasse ist völlig zweifelsfrei, 
da an Beil-Hiebflächen die Abstände der einzelnen Schartenspuren 
mit den Abständen der bezüglichen Scharten selbst immer überein¬ 
stimmen müssen. Denn beim Hacken wird nicht, wie beim Schnei¬ 
den mit dem Messer, ausser dem Druck ein Zug ausgeübt, sondern 
es wird die Schneide des Beiles stets senkrecht zu ihrem Längsver¬ 
laufe in das Holz eingetrieben. Das ist ersichtlich aus den Hack¬ 
flächen 4, 5, 7, 8 auf Taf. I, die an ihrer Basis Abdrücke langer 


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350 


XVIII. Kockel 


Strecken der Beilscbneide zeigen; gleichzeitig aber ergiebt sieb aus 
der schwach kreisförmigen Krümmung der Spuren auf Hackfläche 5 
(Taf. I) mit Sicherheit, welche Spuren von dem Stielende, und welche 
von dem peripheren Ende der Beilschneide herrühren müssen. 

Addirt man die Abstände der Schartenspuren und fügt die Brei¬ 
ten der einzelnen, mit a—e bezeichneten Spuren hinzu, so ergiebt 
sich als Schneidenlänge des benutzten Beiles 74—75,5 mm. Die 
Schwankungen in den gewonnenen Zahlen sind einerseits dadurch 
bedingt, dass völlig genaue Messungen bei der oft wenig scharfen 
Begrenzung der Schartenspuren nicht möglich waren, hauptsächlich aber 
dadurch, dass die Birkenstümpfe und mit ihnen die Hackflächen beim Ein¬ 
trocknen einer verschieden starken Schrumpfung anheimgefallen waren. 

Auch die Schneidenlänge des in Frage kommenden Beiles liess 
sich nicht mit völliger Exactheit feststellen, da die beiden Enden der 
Schneide etwas abgerundet waren: die Schneide mass ca. 75 mm, 
war also, unter Berücksichtigung der genannten Fehler, die gleiche, 
wie die desjenigen Beiles, von dem die an den Birken 
befindlichen Hackflächen herrührten. 

< Das fragliche Beil zeigte die Spuren frischen Schleifens, doch 
war nachdem die Schneide an mehreren Stellen stark deformirt wor¬ 
den: sie war vielfach abgeplattet, nach beiden Seiten umgebogen, 
schartig. Um diese verschiedenartigen Verunstaltungen der Schneide 
zur Anschauung zu bringen, wurden mit der Beilschneide Gipsplatten 
so lange geschabt, bis die ganze, leicht gebogene Schneide mit ihren 
sämmtlichen Scharten zum Abdruck gekommen war. Es wurde hierzu 
ein besonders construirter kleiner Apparat benutzt: auf einem Brett, 
auf dem die zu schabende Gipsplatte befestigt war, war seitlich eine 
eiserne Schiene angebracht, an der, wie an einem Lineal, das Beil 
entlang geführt wurde. 

Hierbei war es nöthig, mehrere solcher Platten bei verschiedener 
Haltung des Beiles anzufertigen, um sowohl die Defecte der Schneide als 
deren Umbiegungen nach der einen, wie nach der anderen Seite zur 
Darstellung zu bringen. Abb. 1 und 2 auf Taf. I sind die bei seit¬ 
licher Beleuchtung aufgenommenen Pbotogramme zweier derartiger 
Platten, die, bei einer Neigung des Beiles von ca. 45° geschabt, die 
auf beiden Seiten der Schneide befindlichen Verbiegungen und De¬ 
fecte zur Anschauung bringen. 

Unter den auf Platte 1 vorhandenen Spuren springt bei weitem 
am deutlichsten die mit a bezeichnete hohe Doppelspur hervor, die 
einer, auf der einen Seite des Beiles befindlichen, schon vor dem 
Schleifen vorhanden gewesenen Doppelscharte entspricht. 


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Weiteres über die Identificirung von Schartenspuren. 


361 


Um unter den übrigen, sehr zahlreichen Schartenspuren der Gips¬ 
platten eine Oriendrung zu ermöglichen, wurden die auf den Hack¬ 
flächen vorhandenen Spuren auf die Gipsplatten je nach ihren Ab¬ 
ständen von einander und nach ihren Entfernungen von den beiden 
Schneidenenden (vgl. die Abb. 3, 4, 6, 7, 8) eingezeichnet. Dass hier¬ 
bei u. A. besonders Hackfläche 5 Auskunft darüber gab, welche 
Spuren vom Stielende, und welche vom peripheren Ende der Beil¬ 
schneide erzeugt worden waren, wurde bereits besprochen. 

Bei diesem Verfahren ergab sich, dass die auf zahlreichen Hack¬ 
flächen vorhandene grobe Doppelspur a sowohl rücksichtlich ihrer 
Form und Breite, als auch rücksichtlich ihres Abstandes vom peri¬ 
pheren Schneidenende völlig sich deckte mit der gleichartigen Spur 
auf Gipsplatte 1. Auch für die mit ß—e bezeichneten Spuren der 
Hackflächen fanden sich auf den Schabeplatten Analoga, unter denen 
insbesondere d auch durch die Zweitheilung (Platte 2) und e durch 
die Drei- oder Viertheilung (Platte 1 und 2) den bezüglichen Spuren 
der Hackflächen sich übereinstimmend erwiesen. 

Wie die Vergleichung der Photogramme der Hackflächen mit 
denen der Schabeplatten zeigt, sind auf diesen, besonders gegen das 
Stielende der Schneide hin, viel reichlichere Schartenspuren vorhanden, 
als auf jenen. Ausserdem fehlt auf den Schabeplatten eine deutliche, 
in Abb. 5 mit einem Pfeil markirte Spur zwischen a und ß, die in¬ 
dessen auf Abb. 6 und 8 nicht vorhanden ist. Ueberdies endlich 
sind über e hinaus auf Abb. 5 nur feine, auf Abb. 3 und 4 dagegen 
ausserdem 'mehrere grobe Spuren vertreten. Es ergiebt sich aus 
diesen Befunden, dass die Beilschneide an einigen Stellen nicht nur 
während des Abhackens der Bäume, sondern auch später Gestalts¬ 
veränderungen erfahren hat, was nicht wunderbar ist, wenn man be¬ 
rücksichtigt, dass die Birken auf Kiesboden standen und dicht über 
dem Boden abgehackt wurden, sowie, dass der Beschuldigte seiner 
Angabe gemäss die „gekauften“ Birken mit dem [Beile behauen 
hatte. 

Trotz alledem waren mehrere charakteristische Scharten (a—c) 
in der Beilschneide unverändert geblieben und Hessen mit vollster 
Bestimmtheit erkennen, dass die Birken mit dem zur Unter¬ 
suchung vorgelegten Beil, das der Angeklagte am 
Abend vor dem Diebstahl geschliffen hatte, abgehackt 
worden waren. 

A. wurde zu 6 Monaten Gefängniss verurtheilt. 

II. B. stand in dem dringenden Verdachte, einem Verwandten 
während dessen Abwesenheit von Hause eine grössere Geldsumme 


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352 


XVIII. Kockel 


aus der verschlossenen Kommode gestohlen zu haben. Von der 
Platte der erbrochenen Kommode waren von dem Dieb mit einem 
Messer mehrere grosse Spähne abgeschnitten worden, um den Riegel 
des Schlosses freizulegen. Die abgeschnittenen Spähne sowie das 
mit Schnittflächen versehene Stück der Kommodenplatte wurden nebst 
zwei, dem Angeschuldigten gehörigen Taschenmessern dem Verfasser 
zur Untersuchung übergeben. 

Die zu prüfenden Holztheile, die in greller Seitenbeleuchtung 
bei schwacher Vergrösserung (1,1:1) photographirt wurden (Taf. II, 
Abb. 9, 10, lt), wiesen an verschiedenen Stellen Schartenspuren 
auf. Am deutlichsten traten zwei grobe, auf den Abb. 9, 10, 11 mit 
a und ß bezeichnet« Schartenspuren hervor, ausserdem waren noch 
mehrere feine y, d, e, 'C, rj) vorhanden'). 

Zur Darstellung der Scharten der dem Angeschuldigten gehö¬ 
rigen beiden Messer wurden mit den vier Klingen derselben vier 
verschiedene Gipsplatten geschabt; unter diesen wies allein die mit 
der grossen Klinge des einen Messers erzeugte zwei grobe, nahe bei¬ 
sammen liegende Schartenspuren (a und ß in Abb. 12, Taf. II) auf, 
die den auf den Holzschnittflächen vorhandenen groben Spuren zu 
entsprechen schienen. Ueberdies waren auf der Gipsplatte mehrere 
feine Schartenspuren vorhanden, die in Abb. 12 mit y — rj bezeichnet 
sind. So weitgehend die rein morphologische Aehnlichkeit zwischen 
den beiden groben Spuren a und ß auf der Gipsplatte und den Spu¬ 
ren a und ß auf den Qolztheilen war, so konnte doch der sichere 
Nachweis der Identität der Gipsplatten- und der Holz-Schartenspuren 
nur an der Hand von Messungen erbracht werden. 

Hierbei durften naturgemäss die Abstände zwischen den Scharten¬ 
spuren auf den Holzschnittflächen nicht, wie in Fall I, ohne Weiteres 
mit den Abständen der Schartenspuren auf der Gipsplatte verglichen 
werden. Denn die Abstände der Schartenspuren auf den Schabe¬ 
platten stimmen stets genau mit den Abständen der Scharten selbst 
überein, da beim Schaben der Gipsplatten die Messerklinge senkrecht 
zu der Richtung steht, in welcher geschabt wird. Beim Ein- 
und Durchschneiden von Holz dagegen bildet die Schnittrichtung 
mit der Messerschneide fast nie einen rechten, sondern meist einen 
mehr weniger spitzen Winkel, so dass die Spuren der Scharten auf 

1) Leider war es dem Verfasser in Folge anderweiter Verfügung über die 
Untersuchungsobjecte nicht möglich, von denselben besondere, für die Druck¬ 
wiedergabe bestimmte photographische Aufnahmen anzufertigen; die Abbildungen 
9—11 auf Taf. II geben daher die feinen Schartenspuren zum Theil nur wenig 
deutlich wieder. 


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Weiteres über die Identificirnng von Schartenspnren. 


353 


Messerscbnittflächen in Holz immer etwas näher beisammen liegen 
werden, als die Scharten selbst 

Es war daher nöthig, ans den durch Messungen gewonnenen 
Entfernungen der Scbartenspuren zu berechnen, wie sich ihre Ab* 
stände zu einander verhalten. Die an der Qipsplatte wie an 
den Holzschnittflächen erhaltenen Zahlen waren dann mit einander 
zu vergleichen. 

Die Messungen wurden mit Hülfe eines, in halbe Millimeter ge- 
theilten Maassstabes so ausgeführt, dass an den groben Schartenspuren 
a und ß nicht die Mitte, sondern der eine oder andere Band als 
Ausgangspunkt gewählt wurde; waren die Schartenspuren auf den 
Holzschnittflächen gekrümmt (wie bei 9 a), so wurden die Abstände 
der Parallel-Tangenten gemessen. 

Um Weitschweifigkeiten zu vermeiden, sollen im Folgenden ledig¬ 
lich die bei 9 a, 10 und 11 ermittelten Maasse und Verhältnisszahlen 
mit den bezüglichen, an der Gipsplatte erhaltenen Werthen in Parallele 
gestellt werden; es sei jedoch hervorgehoben, dass die Ergebnisse 
bei 9 b, c, d genau die gleichen waren. 



Abstande der Scharten¬ 
spuren in mm 

Verhältnisszahlen 


a — ß i 

ß-y 

y- s 

S-8 

a ß : ßy 

ßy.yi 

yd : de 

Schnittfläche am Kommoden- 
theil, Abb. 9, bei a. . . . 

3,0 

3,0 

i 

1,0 

1,0 

1,0 

3,0 

1,0 

Gipsschabeplatte, Abb. 12 . . 

4,0 

4,0 

1,25 

1,0 

1,0 

3,2 

1,25 


Abstände der Scharten¬ 
spuren in mm 


Verhältnisszahlen 



a-ß 

ß-y 

y—d 

d —f 


aß-.ßy 

ßy.yS 

yd : de 

Schnittfläche am Kommoden- 
theil, Abb. 10 . . . . 

2,5 

1,8 

1,0 

1,0 

4,0 

1,4 

1,8 

1,0 

Gipsschabeplatte, Abb. 12 . 

4,0 

2,5 

1,25| 

1,0 

5,0 

1,6 

2,0 

1,25 


Abstände der Scharten¬ 
spuren in mm 


Verhäl tnisszah 1 en 




a ~ß 

ß-y 

Y-* 

e—T} 

aß\ßy 

ßy.yi 

Schnittfläche am 
Abb. 11 . . . 

Holzspahn, 

3,0 

2,8 

1,5 

6,7 

1,08 

WT 

Gipsschabeplattc, 

Abb. 12 . . 

4,0 

| 4,0 

, 

2,25 

10,5 

1,0 

| 1,8 


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354 


XVIII. Kock el. 


Bei der Vergleichung der Verhältnisszahlen, die durch Division 
der einzelnen Spurenabstände auf der Gipsplatte (Abb. 12) erhalten 
wurden, mit den Verhältnisszahlen, die aus den Abständen der Scharten¬ 
spuren auf den Holztheilen berechnet wurden, war zu berücksichtigen, 
dass die Messungen an den Holzschnittflächen nicht mit der gleichen 
Genauigkeit ausführbar waren, wie an den Gipsplatten. Denn die 
Spuren auf Holzschnittflächen sind stets weniger scharf begrenzt, als 
die auf Gips-Schabeplatten, da beim Durchschneiden das Holz an den 
Stellen, wo eine Scharte in der Schneide sich befindet, sich stets etwas 
auffasert Ein weiteres, die Messungen an den Holzschnittflächen er¬ 
schwerendes Moment lag in dem vorliegenden Falle darin, dass die 
Schartenspuren öfters verschiedene Krümmung (besonders in 
Abb. 11) besassen, ein Umstand, der dadurch bedingt war, dass beim 
Schneiden mit dem Messer pendelnde Bewegungen ausgeführt wurden. 

Unter Berücksichtigung ,dieser Thatsachen war die Abweichung 
der bezüglichen Verhältnisszahlen von einander als eine unerhebliche 
zu bezeichnen; es musste als feststehend angesehen werden, dass die 
Abstände der einzelnen Schartenspuren auf den Holzschnittflächen 
sich zu einander verhalten, wie die Abstände der bezüglichen Scharten¬ 
spuren auf der mit der grossen Klinge des einen Messers des B. ge¬ 
schabten Gipsplatte (Abb. 12). 

Da es als ausgeschlossen gelten musste, dass ausser dieser noch 
eine andere Messerklinge existirt, die dieselben Scharten besitzt, so 
wurde das Gutachten mit völliger Sicherheit dahin abgegeben, dass 
die Holzspähne von der Kommode mit der grossen Klinge des einen 
Messers des B. abgeschnitten worden waren. 

B. wurde zu 2 Jahren Zuchthaus verurtheilt 

III. C. hatte um Mitternacht ein an einer öffentlichen Promenade 
gelegenes Gasthaus verlassen und war beobachtet worden, wie er ins 
Gebüsch trat. Bald danach hörte der Beobachter das Brechen eines 
Astes und sah gleich darauf C. aus dem Gebüsch hervortreten. Als 
der Zeuge nach der Stelle ging, fand er die abgebrochene Krone 
einer der am Wege stehenden jungen Linden am Boden liegend. In 
derselben Nacht waren unweit von diesem Ort in den städtischen An¬ 
lagen ca. 30 hochstämmige Rosen theils abgeschnitten, theils abge¬ 
brochen worden. 

Verfasser erhielt die abgeschnittenen Rosenstämmchen sowie die 
Kronentheile des Lindenbäumchens, überdies aber zwei Messer des 
Angeschuldigten C. zur weiteren Prüfung zugesandt 

Bei der Besichtigung der kleinen Klinge des einen Messers ergab 
sich, dass der Schneide einige feine, grünliche Partikel anhafteten, die 


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Weiteres über die Identificirung von Schartenspuren. 


355 


bei der mikroskopischen Untersuchung als völlig übereinstimmend 
mit der Rinde junger Rosenstämmchen sich erwiesen. Leider konnte 
jedoch diesem Befunde keine Bedeutung beigemessen werden, da, 
wie sich aus den Akten ergab, der in der betreffenden Stadt an- 
gestellte Gärtner mit den beiden Messern des Angeklagten Probe¬ 
schnitte in Rosenholz ausgeführt hatte. Es blieb daher nichtB weiter 
übrig, als an den Rosenstamm-Schnittflächen noch Schartenspuren zu 
forschen und diese in der bereits besprochenen Weise mit den Scharten¬ 
spuren der beiden Messer des Angeschuldigten C. zu vergleichen. 

Von den Rosenstämmchen wiesen nur vier (Taf. II, Abb. 13, 14, 
16, 17), von den Kronentheilen der Linde (Taf. II, Abb. 15) nur ein 
Stück Schnittflächen auf, die für die Untersuchung brauchbar waren, 
und auch an diesen waren die Schartenspuren so fein, dass es nöthig 
erschien, sie im seitlich einfallenden Bogenlicht bei zweifacher 
Vergrösserung zu photographiren. 

Unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die an den Kronen- 
‘theilen der Rosen befindlichen Schnittflächen, Abb. 13, 16, 17, durch 
Schnitte mit der Faserrichtung, die an dem Stammtheil Abb. 14 vor¬ 
handene Schnittfläche durch Schneiden gegen die Faser erzeugt 
worden waren, Hess sich genau feststellen, welche Theile der Schnitt¬ 
flächen den der Spitze, und welche den dem Hefte zugekehrten 
Theilen der Messerklinge entsprachen; ein Gleiches war an der Linden- 
kronen-Schnittfläche Abb. 15 möglich (vgl. die Pfeilmarken an den 
Photogrammen). 

Es ergab sich so, dass die sämmtlichen der genannten Schnitt¬ 
flächen in den dem Hefttheil der Klinge entsprechenden Bezirken 
eine einfache Spur a auf wiesen, an die sich spitzenwärts eine mehr- 
theilige Spur ß, und auf den Schnittflächen Abb. 13 und 14 noch 
die Spuren y und anschlossen. Die mehrtheilige Spur ß bestand 
aus zwei gröberen seitlichen und einer mittleren feinen Erhebung; 
zwischen ß und y befand sich überdies, ersterem unmittelbar anlie¬ 
gend, auf Fläche Abb. 13 eine flache, wenig scharf begrenzte Spur 
(mit x bezeichnet), die auch auf den Flächen Abb. 15, 16 und 17 
deutlich zu erkennen war. 

Diese Befunde reichten zunächst aus, darzuthun, dass die Schnitt¬ 
flächen an der Linde und die an den Rosenstämmchen mit einem 
und demselben Messer erzeugt worden waren. 

Um nun zu ermitteln, ob die Schnittflächen von einer der drei 
Klingen der beiden beschlagnahmten Messer herrührten, wurden mit 
den Klingen in der früher beschriebenen Weise Gips-Schabeplatten 
hergestellt, wobei sich ergab, dass die sehr groben Schartenspuren 


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356 


XVIII. Kockel 


der Klinge des einen und der grossen Klinge des zweiten Messers 
in keiner Hinsicht den spärlichen, äusserst feinen Schartenspuren der 
Kosenstänimchen bez. der Lindenkrone entsprachen. 

Für eine genaue Feststellung der Scharten der kleinen Klinge 
des zweiten Messers erwies sich Gips als unbrauchbar, da die sehr 
feinen Scharten dieser Klinge in dem relativ grobkörnigen Gips nicht 
hinreichend deutliche Spuren hervorriefen. Es wurde daher mit Hülfe 
einer Mischung von Wachs und Zinkweiss (s. u.) eine andere 
Schabeplatte hergestellt, auf der die feinen Schartenspuren der kleinen 
Klinge weitaus besser zum Ausdruck kamen. Auch diese Platte 
wurde im seitlich einfallenden Bogenlicht bei genau zweifacher Ver- 
grösserung photographirt (Taf. II, Abb. 19). 

Unter den auf der Wachsplatte vorhandenen Schartenspuren war 
am deutlichsten eine ungefähr in der Mitte befindliche (ß), die aus 
einem mittleren, sehr feinen, und zwei seitlichen, heft- und spitzen- 
wärts mehr flach abfallenden Kämmen bestand. Heftwärts von ß 
war unter mehreren feinen eine stärker vorspringende Spur o er¬ 
kennbar, spitzenwärts von ß eine gedoppelte Furche y, der sich als 
nächste deutlichere Spur ein flach prominentes, mehrfach getheiltes 
Band d anschloss. Zwischen ß und y, ersterem dicht anliegend, fand 
Bich ein breites, wenig erhabenes Band x. Die gleichen Scharten¬ 
spuren wiesen Probeschnitte auf, die mit der kleinen Klinge in grünem 
Birkenholz ausgeführt wurden (Abb. 18). 

War es schon nach den bisherigen Befunden in hohem Maasse 
wahrscheinlich, dass die Schnittflächen an den Bosen und der Linde 
von der kleinen Klinge des zweiten Messers des C. herrührten, so 
erschien es zur weiteren Klarstellung doch nöthig, Messungen vor¬ 
zunehmen. Diese wurden so ausgeführt, dass vermittelst einer, mit 
zwei feinen Spitzen und Nonius versehenen sog. Schublehre sowohl 
die Abstände der Schartenspuren direct an den verschiedenen Ob¬ 
jecten (Rosenstämmchen, Lindenkrone, Probeschnittfläche, Wachsplatte), 
als auch zur Controlle an den bei genau zweimaliger Vergrösserung 
aufgenommenen Photogrammen gemessen wurden. Diese Vorsichts¬ 
maassregel erschien bei der fast minutiösen Beschaffenheit der Unter¬ 
suchungsobjecte dringend geboten. Die Abstände der Scbartenspuren 
wurden auf einer,'jliese entweder rechtwinklig (Abb. 14, 15, 16, 17, 
Probeschnitt Abb. 18, Wachsplatte) oder spitzwinklig (Abb. 13) kreu¬ 
zenden geraden Linie gemessen. 

Aus denselben Gründen, die bei Besprechung des II/Falles dar¬ 
gelegt worden sind, war es auch hier nöthig, zu berechnen, wie 
sich die Abstände der Schartenspuren auf den Untersuchungsobjecten 


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Weiteres über die Identificirung von Schartensparen. 


357 


zu einander verhalten; die gewonnenen Zahlen waren zu ver¬ 
gleichen mit den bezüglichen Verhältnisszahlen, die aus den Ab¬ 
ständen der Schartenspuren auf der Wachsplatte und auf der Probe¬ 
schnittfläche (Abb. 18) berechnet wurden. 

Die erhaltenen Maasse und die aus ihnen ermittelten Verhältniss¬ 
zahlen sind aus den folgenden beiden Tabellen ersichtlich: 



Abstände der Schartenspuren 
in mm 

Verhältnisszahlen 



a-ß 

Breite von ß 

ß—y 

y-* 

aß-.ß 

ß-ßy 

ßy:yS 

Rosenschnittfläche, A bb. 

,13 

3,6 

1,8 

4,0 

1,5 

2,0 

0,45 

2,7 

Rosenschnittfläche, « 

14 

2,0 

1,0 

2,2 

0,8 

2,0 

0,45 

2,8 

Rosenschnittfläche, * 

16 

1,2 

o,c 

— 

— 

2,0 

— 

— 

Rosenschnittfläche, * 

17 

1,7 

0,8 

— 

— 

2,1 

— 

— 

Lindenschnittfläche, * 

15 

0,7 

0,4 

— 

— 

1,8 

— 

— 

Probeschnittfläche, * 

18 

1,8 

0,8 

1,8 

— 

2,2 

0,44 

— 

Wachsschabeplatte, * 

19 

2,2 

1,0 

2,4 

0,9 

2,2 

0,42 

2,7 



Abstände der Sehartenspuren 
in mm 

Verhältnisszahlen 



a-ß 

ß—y 

/—8 

aß: ßy 

ßy.yS 

Rosenschnittfläche, 

Abb. 13 . 

3,6 

4,0 

1,5 

0,9 

2,7 

Rosenschnittfläche, 

* 14 . 

2,0 

2,2 

0,8 

0,9 

2,8 

Probeschnittfläche, 

* 18 . 

1,8 

1,8 

— 

1,0 

— 

Wachsschabeplatte, 

* 19 . 

2,2 

2,4 

0,9 

0,9 

2,7 


Berücksichtigt man die minutiöse Beschaffenheit der Unter- 
suchungsobjecte und die nicht immer ganz scharfe Begrenzung der 
Schartenspuren, durch die eine völlig exacte Messung überaus er¬ 
schwert war, so war die Abweichung einiger der bezüglichen Verhält¬ 
nisszahlen von einander als eine unerhebliche zu bezeichnen. Es 
musste vielmehr als feststehend angesehen werden, dass die Abstände 
der einzelnen Schartenspuren auf den Schnittflächen der vier Kosen- 
stämmchen und des Lindenzweiges sich zu einander verhalten, wie 
die bezüglichen Abstände auf der Probeschnittfläche und der Wachs¬ 
schabeplatte, die vermittelst der kleinen Klinge des zweiten Messers 
des C. erzeugt worden waren. 

Da es ausgeschlossen erscheinen musste, dass ausser der kleinen 
Klinge dieses Messers eine zweite Messerklinge existirt, welche genau 
die gleichen und gleichweit von einander entfernten Scharten be¬ 
sitzt, so wurde das Gutachten dahin erstattet, dass die Schnittflächen 

Archiv für Kriminalanthropoiofcie. XL 

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358 


XVIII. Kockel 


an den Rosenstämmchen und an dem Lindenzweig zweifellos von 
der kleinen Klinge des zweiten Messers des C. herrührten. 

C. wurde zu 8 Monaten Gefängniss verurtheilt 

Die im Vorstehenden mitgetheilten Beobachtungen haben in erster 
Linie für die Technik bei der Identificirung von Messer- bezw. Beil¬ 
scharten werthvolle Ergebnisse geliefert 

Zunächst hat sich herausgestellt, dass nicht Gipsplatten, sondern 
Platten aus einer Mischung von Wachs und Zinkweiss das ge¬ 
eignetste Material für die Herstellung der Schabeplatten sind, da sie 
nicht nur die Spuren der groben, sondern auch der feinsten Scharten 
in vollkommener Weise darstellen lassen. Die Wachs-Zinkweiss¬ 
mischung wird bereitet, indem 100 Theile geschmolzenen weissen 
Wachses mit 75 Theilen Zinkweiss auf dem Wasserbade innig ver¬ 
rührt werden; das Ganze wird durch Mull koliert und in ca. 1 cm 
dicke Platten gegossen. Das Schaben der Wachs-Zink weissplatten 
vermittelst der zu prüfenden Messerklingen wird in der bereits früher 
beschriebenen Weise auf einem Schlitten-Mikrotom vorgenommen. 

Das Photographiren der Schnittflächen und Schabeplatten 
wird am besten im seitlich einfallenden Bogenlicht ausgeführt, wobei 
zwischen Bogenlampe und Object ein ca. 10 cm im Durchmesser haltender 
Condensor eingeschaltet wird. Sind die Objecte klein und die Scharten¬ 
spuren sehr fein, so empfiehlt es sich, bei genau zwei-, ev. dreifacher 
Vergrösserung zu photographiren. 

Für die Aufnahmen eignen sich am meisten hart arbeitende 
Platten; Verf. benutzte bei Fall I und III ausschliesslich Graphos- 
platten von Gebhardt in Berlin. Bei Verwendung dieser Platten 
ist eine nur massig stark seitliche Beleuchtung für die Gewinnung 
contrastreicher Negative völlig ausreichend; derartige Aufnahmen 
haben den Vortheil, dass sie der Schlagschatten entbehren, durch 
die die Conturen der gröberen Schartenspuren auf den Photogrammen 
stets verdeckt werden. 

Nach Fertigstellung der Papiercopieen schneidet man die, die 
Schnittflächen darstellenden Theile derselben heraus und klebt sie 
auf Carton auf; es werden dann an den Photogrammen sofort die 
zur Orientirung über die Schartenspuren nöthigen Maasse in der auf 
den Tafeln ersichtlichen Weise vermerkt, wobei ständig die Objecte 
selbst zum Vergleiche herangezogen werden müssen. 

Für die Messung der Breite und der Abstände der Scharten¬ 
spuren erwies sich am geeignetsten eine sog. Schublehre, die mit zwei 
feinen Spitzen und mit Nonius ausgerüstet war, so dass Grössen bis 
herab zu 0,1 mm ohne Weiteres sich ablesen Hessen. 


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Weiteres über die Identificirung von Schartenspuren. 


359 


In der Einfügung der Messungen in das Verfahren liegt seine 
hauptsächlichste Vervollkommnung. Denn unter Zuhülfenahrae der 
Messungen ist die Identificirung von Schartenspuren unter allen Um¬ 
ständen mit völliger Sicherheit, ja mit mathematischer Exactheit 
möglich, selbst wenn dieselben sehr fein und in ihrer Form wenig 
charakteristisch sind. Gerade die metrischen Feststellungen, die ent¬ 
weder direct oder unter Vermittelung einfacher Verhältnissrechnungen 
verwerthet werden, sind es, die die Methode zu einem ein wands¬ 
freien, weitgehenden Anforderungen durchaus entspre¬ 
chenden Beweismittel machen, das von subjectiven Empfin¬ 
dungen und Deutungen völlig unabhängig ist. 

Dass die Identificirung der Schartenspuren nicht etwa blos ein 
theoretisch construirtes Verfahren ist, sondern für die praktische 
Rechtspflege unter sehr verschiedenen Bedingungen von hohem Werthe 
sein kann, das geht aus den besprochenen drei Beobachtungen wohl 
zweifelsfrei hervor. Denn die Beweisführung war nicht nur — wie 
in der früher mitgetheilten Beobachtung — in einem Falle von Sach¬ 
beschädigung ausschlaggebend, sie war es auch in einem Falle von ein¬ 
fachem und in einem Falle von Einbruchsdiebstahl. In sämmtlichen drei 
Fällen hätte die Anklage angesichts des sonstigen, theilweise recht dürf¬ 
tigen Beweismaterials zum Mindesten einen sehr schweren Stand gehabt. 

Voraussetzung für erfolgreiche und einwandsfreie Feststellungen 
über Schartenspuren ist, dass das fragliche Material in möglichst 
grossem Umfange dem Sachverständigen übergeben wird. Denn öfters 
wird es nicht die einzelne Hack- oder Schnittfläche sein, aus der 
sichere Ergebnisse zu gewinnen sind, sondern eine grössere Anzahl 
solcher, mit Schartenspuren versehener Flächen. Auch kann es Vor¬ 
kommen, dass gerade unter den anfänglich eingelieferten Objecten 
die für die Beurtheilung ausschlaggebenden sich nicht befinden, so 
dass weiteres Untersuchungsmaterial zur Stelle geschafft werden muss. 
Dabei ist es meist gleichgültig, ob die fraglichen Schnitt- oder Hiebflächen 
mehrere Wochen den atmosphärischen Einflüssen ausgesetzt waren, da 
die Schartenspuren verhältnissmässig recht lange deutlich sich erhalten. 

Wenn Verfasser Gelegenheit fand, die Identificirung von Scharten¬ 
spuren neuerlich in umfassenderer Weise zu bearbeiten, so ist das 
nicht in letzter Linie dem Umstande zu danken, dass das Unter¬ 
suchungsmaterial in allen Fällen ein vollständiges war. Verfasser 
möchte daher nicht unterlassen, den Herren von der Königlichen 
Staatsanwaltschaft zu Leipzig für das verständnisvolle und überaus 
liebenswürdige Eingehen auf die in dieser Form noch wenig berührte 
Frage auch an dieser Stelle herzlichen Dank zu sagen. 

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360 XVIII. Kockel, Weiteres über die Identifieirung von Schartenspuren. 


Erklärung der Tafeln. 

Tafel I. 

Fall I. (Die Photogramme sind in natürlicher Grosse hergestellt.) 

Abb. 1: Gipsplatte, hergestellt durch Schaben mit dem um ca. 45° nach 
der einen Seite geneigten Beil. 

Abb. 2: Gipsplatte, hergestellt durch Schaben mit dem um ca. 45° nach 
der anderen Seite geneigten Beil. 

Abb. 3: Hackfläche mit der Spur des südwärts gerichteten Schneiden¬ 
endes. 

Abb. 4: Hackfläche mit der Spur des südwärts gerichteten Schneiden¬ 
endes und Abdruck eines Theils der Beilschneide. 

Abb. 5: Hackfläche mit dem Abdruck des grösstenTheilsderBeilschneide. 

Abb. 6: Hackfläelie mit der Spur des peripheren Schneidenendes. 

Abb. 7 und 8: Hackflächen mit der Spur des peripheren Schneidenendes 
und längeren Abdrücken des peripheren Theils des Beilschneide. 

Tafel II. 

Fall II. (Die Photogramme sind bei einer Vergrösserung von 1,1:1 hergestellt) 

Abb. 9: Stück von der erbrochenen Kommode mit mehreren Schnitt¬ 
flächen, das bei a, b, c und d die charakteristischen, messbaren 
Schartenspuren aufweist. 

Abb. 10 und 11: Schnittflächen an zwei von der erbrochenen Kommode 
stammenden Holzspähnen. 

Abb. 12: Gipsplatte, hergestellt durch Schaben mit der grossen Klinge 
des einen Messers des Angeschuldigten B. 

Fall III. (Die Photogramme 13—19 sind bei genau 2facher Vergrösserung her- 
gestellt) 

Abb. 13, 16, 17: Schnittflächen an den Kronentheilen dreier Rosen- 
stämmchen; das Holz ist mit der Faser durchschnitten. 

Abb. 14: Schnittfläche am Wurzeltheile eines Rosenstämmchens; das 
Holz ist gegen die Faser durchschnitten. 

Abb. 15: Schnittfläche an einem Lindenzweige; das Holz ist mit der 
Faser durchschnitten. 

Abb. IS: Probeschnitt (mit der Faser) in grünem Birkenholz, ausgeführt 
mit der kleinen Klinge des zweiten Messers des C. 

Abb. 19: Wachs-Zinkweissplatte, hergestellt durch Schaben mit der 
kleinen Klinge des zweiten Messers des C. 


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XIX. 


Gode Hammnrabi vor 4000 Jahren. 

Von 

Oefele in Bad Neuenahr. 

Wo wir die periodische Literatur der letzten Tage aufschlagen, 
welche sich mit altorientalischen Fragen beschäftigt, überall tritt uns 
ein Hinweis auf den neugefundenen „Code Hammurabi“ entgegen. 
In Frankreich hat die gegenwärtige Regierung schwere Kämpfe gegen 
das Ordenswesens auszufechten. Das unparteiische Ausland hat mit 
wachsendem Widerwillen die theatralischen Widerstandskundgebungen 
der Nationalisten beobachtet und damit die französischen Orden ge¬ 
ringer und geringer eingeschätzt Da erschien D616gation en Perse 
unter Anderem mit dem Code Hammurabi. Der wissenschaftliche 
Ruhm dafür gebührt einem französischen Dominicanerabte Namens 
V. Sch eil, der jetzt in den wissenschaftlichen Journalen aller Länder 
aufrichtig beglückwünscht wird. Die Herausgabe und erste Be¬ 
arbeitung des Code Hammurabi muss für den unparteiischen Be- 
urtheiler als grosser Sieg für die wissenschaftliche Berechtigung der 
Ordenspartei in Frankreich erscheinen. Doch dies nebenbei. Hugo 
Win ekler, der uns Deutschen dieses Gesetzbuch rasch zugänglich 
machte, sagt in der Oriental. Liter.-Ztg.: „Der Code Hammurabis 
wird künftig in der Geschichte der Menschheit als eine der ersten 
und bedeutendsten Urkunden seine Stelle einnehmen“. Bekanntlich 
sind lange Zeit die meisten Alterthümer nach England und zwar vor 
Allem nach London gewandert Wer in der Fülle der Originale 
arbeiten wollte, musste darum für Hieroglyphen- und Keilschriftfor¬ 
schung eine Reise nach London unternehmen. Wer nicht in London 
gearbeitet hatte, war nicht Fachmann, sondern höchstens Dilettant. 
Da begann auch ein internationaler Widerstand gegen England als 
Herrin der Weltmuseen. Die Ausgrabungen der deutschen Orient¬ 
gesellschaft unter dem Protectorate des Königs von Preussen sind 
bekannt Die Vorderasiatische Gesellschaft strebt ähnliche Ziele an 


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362 


XIX. Oefele 


Wollen wir aber von anderen Ländern, z. ß. Amerika, absehen, so 
war Frankreich in der Lage, sich für Persien ein ausschliessliches 
Recht zu Ausgrabungen zu sichern. Auch für die Bearbeitung der 
Funde nimmt Frankreich die Beschränkung auf seine Bürger in An¬ 
spruch. Es scheint dies der Gegensatz zur bekannten englischen 
Forderung der offenen Thüre zu sein. Aber der Franzose weiss 
seine Reservatrechte in ritterlichster Weise zu handhaben, besonders 
wenn die Funde in dieser Schnelligkeit allgemein publicirt werden, 
wie es in der Dölögation en Perse der Fall ist 

Dölögation en Perse. Mömoires publica sous la direction de 
M. J. Morgan. Tome IV. Textes elamites-sömitiques, 2. Serie 
accompagnöe de 20 planches hors texte, par V. Sch eil, 0. P. Paris, 
E. Leroux. 1902. 200 S. 4°. 

Hierin ist als Hauptstück die erstmalige Publication des in Susa 
ausgegrabenen Code Hammurabi enthalten. 

Von den kleineren Funden seien aus dem Schlüsse des Bandes 
16 Contrakttafeln aus Mal-amir erwähnt, nach Sch eil der Zeit um 
1000 v. Chr. angehörig. Dieselben sind zwar nicht kriminalistisch, 
aber immerhin juristisch interessant Da sie im richtigen Contraktstil 
mit Anführung der Gesetzesparagraphen abgefasst sind, so lässt sich 
aus ihnen erkennen, dass zeitweise auch in den Strafbestimmungen eine 
Verschärfung der Gesetze Hammurabi’s im Gebrauch war. Wie ich 
mich überhaupt an Winckler's Auszüge halte, so sei auch von 
den 6 Käufen des Attapirgimmasch der erste wiedergegeben mit 
Winckler: 

50 Qa Saatfeld gehörig zu Dimdischachalteri, Theilbesitz von 
Anikilandi, den er mit Zitanatu, der Tochter von Kunene hat An- 
stossend an Pusuppa und Kiririruchuzirra. Bei vollem Verstände und 
aus freiem Willen hat er das Feld (durch Verkauf?) an Attapirgim¬ 
masch gegeben. Wer Einspruch erhebt, dem soll man Hand und 
Zunge abschneiden. Beschworen bei Schalla. 

An obige grundlegende Publication von Sch eil schliessen sich 
in den wenigen Monaten eine Reihe weiterer Publicationen von Ge¬ 
lehrten, welche für den Forscher der Rechtsgeschichte beachtet werden 
müssen. Natürlich kann ich nur auf das verweisen, was mir be¬ 
kannt wurde, und das ist nur ein kleiner Bruchtheil. 

Im Journal des Savants 1902. Octobre erschien der erste Artikel: 
R. Dareste, Le code babylonien d’Hammurabi, welcher November 
etc. fortgesetzt wird. 

Unter dem 5. November in der Beilage Nr. 254 zur Allgem. Zeitung 
berichtet Bruno Meissner über dies älteste Gesetzbuch der Welt. 


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Code Hannnurabi vor 4000 Jahren. 


363 


Dass mit Heft 4 des Jahrg. 4 des „Alten Orient“ Hugo 
Win ekler für 60 Pf. dem deutschen Leser eine deutsche Ueber- 
setzung zugänglich gemacht hat, ist schon referirt. (Jetzt 2. Auflage). 

Im 7. und 8. Hefte der englischen Gesellschaft für biblische 
Archäologie hat der bekannte, stets hülfsbereite englische Keilschrift- 
forscher am British Museum, Theopb. G. Finch es, Hammurabi’s 
code of laws gebracht 

In der Orientalistischen Literaturzeitung vom 15. Januar 1903 
findet sich dann eine lange Besprechung Winckler’s über Dele¬ 
gation en Perse. 

Da die Gesetze Haramurabi’s, wie sich erweisen lässt, anderthalb 
Jahrtausende — also ähnlich lange wie das römische Recht — in 
Geltung waren, so ist es eigentlich natürlich, dass uns auch sonst 
Theile des Gesetzbuches überliefert sind. 

Besonders wichtig sind davon die im British Museum mit Dt 81 
und Rm 277 bezeichneten Stücke aus Sardanapal's Bibliothek, 
welche in die Lücke von ungefähr 34 Paragraphen gehören und von 
Scheil und Winckler verwertbet wurden, nachdem sie schon früher 
von Bruno Meissner in den „Beiträgen zur Assyriologie“ ver¬ 
öffentlicht waren. 

Die Habilitationsschrift von F. E. P eis er in Königsberg vom 
Jahre 1890 „Jurisprudentiae Babylonicae quae supersunt“ beschäf¬ 
tigte sich auch mit Rm 277 und mit dem Londoner Stücke K 4223, 
ausserdem mit zwei Berliner Bruchstücken. 

Das Londoner Stück Bu 91—5—9, 221 ist Orientalistische Lite¬ 
raturzeitung 1898, S. 108 kurz erwähnt. 

Nach diesen Proben müsste auch vermuthet werden, dass Alles, 
was Bezold’s Katalog als „Grammatical paradigms concerning legal 
subjects“ aufzählt, zu Hammurabi’s Gesetzen gehört. Es sind ausser 
den erwähnten Stücken in der Kouyunjik-Collection des British Museum 
K 8321, K 8905, K 10144, K 10 483. K 10 485, K 11571, K 13244, 
Sm 26, Sm 1008a, Sm 1642, Sm 1672. 

Die Bibliothek des Assyrerkönigs würde uns darnach 15 Bruch¬ 
stücke mit Textstücken aus dem Code Hammurabi erhalten haben. 

Die beiden Berliner Bruchstücke VA. Th. 991 und 1036 sind 
neubabylonisch geschrieben, was so ganz ungefähr datirt der Zeit 
des bekannteren Nebukadrezar’s entspricht. 

Ausser diesen Gesetzen Hammurabi’s sind neubabylonische Ge¬ 
setze in 82—7—14, 988 ebenfalls einer Keilschrifttafel des British 
Museum bekannt, welche F. E. Peiser im Sitzungsberichte der Berlin. 
Akad. 1888. XXXVIII veröffentlicht hat. 


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364 


XIX. Oefele 


Damit ist vielleicht für Forscher der Rechtsgeschichte ein all¬ 
gemeiner Literaturnachweis gegeben, um detaillirtere Special-Unter¬ 
suchungen anzustellen. 

Interessant ist es, dass uns auch das Bildniss Hammurabi’s 
erhalten ist und zwar zweimal. Eine Widmung an Aschera für das 
Leben Hammurabi’s, des Königs von Martu befindet sich in London 
im British Museum. Nach einer Aufnahme von W. A. Man seil 
& Co. in London hat Bezold Seite 41 in Ninive und Babylon (Ver¬ 
lag von Velhagen und Klasing) das Reliefbild Hammurabi’s von 
dort wiedergegeben und war ich durch das Entgegenkommen des 
Verlags aus diesem allgemein orientirenden, reichlich illustrirtem 
Buche in der Lage den ältesten Gesetzgeber in Conterfey den Le¬ 
sern vorzuführen. Seite 29 wird auch ein Theil des Textes dieses 
Denkmals gegeben. 

Fast in derselben Haltung ist auch Hammurabi an der Spitze 
des Code Hammurabi abgebildet Dieses Bild hat Win ekler auch 
den Gesetzen des Hammurabi vorgesetzt. Ausser diesem Bilde vor 
dem sitzenden Sonnengotte hat Hammurabi seine Gesetze mit einem 
Berichte über seine Thaten eingeleitet und beschlossen. Wir erfahren, 
dass sein Vorfahre Sumulail und sein Vater Sinmuballit war, dass 
er in Sippar regierte und vielleicht Babylon erst begründete, dass 
sein Reich Assur und Ninive einschloss und vieles andere. 

Im I. Buch Mose wird Hammurabi in der hebräischen Um¬ 
änderung als Amraphel mit Abraham in Beziehung gebracht. Da¬ 
durch und durch andere keilschriftliche Belege lassen sich Hammurabi 
und Abraham gegenseitig relativ datiren. Bei Kautzsch ist Ham¬ 
murabi noch 1650 v. Chr. angesetzt Winckler setzt wegen der 
700 Jahre vor der Amarnazeit 2250 v. Chr. an, Bezold in Ninive 
und Babylon 2200. Jedenfalls lebte nach allen neueren Belegen 
Hammurabi vor dem Jahre 2000 v. Chr. 

Aufgestellt war die Gesetzestafel ursprünglich in E-Barra, dem 
Sonnentempel von Sippar. Von einem Duplicate ist ebenfalls in Susa 
ein Bruchstück gefunden worden. Sicherlich waren also für das Be- 
dürfniss der verschiedenen Reichstheile eine grössere Anzahl Exem¬ 
plare vorhanden. Die späten Abschriften mit Bibliothekvermerken 
ergeben ausserdem, dass der Code Hammurabi auch vollständig wie 
jedes andere Literaturerzeugniss in einer Serie handlicher Bibliotheks¬ 
tafeln abgeschrieben wurde. Das gefundene Exemplar könnte aber 
die Urschrift sein. Auch im 14. Kapitel des 1. Buch Mose herrscht 
ein König Kedorlaomer von Elam, 12 Jahre bis zum Jordangebiete, 
und Hammurabi müsste darnach zeitweise Vasall dieses Elamiten ge- 


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Code Hammurabi vor 4000 Jahren. 


365 


wesen sein. Zwischen Hammurabi und Nebukadrezar I. wurde 
Babylonien vom Reiche Elam aus (mit der Hauptstadt Susa) wieder¬ 
holt erobert und geplündert. Schuturnachunte und Kudurnachunte, 
die Könige von Elam, haben dabei wichtige und selbst schwer trans«- 
portable Gegenstände aus Babylon nach Elam verschleppt. Bei den 
französischen’Ausgrabungen in Susa, der alten Hauptstadt Elams und 
nachherigen Hauptstadt des alten Perserreichs, sind merkwürdiger 
Weise nicht als wichtigste Funde elamitische Alterthümer, sondern 
vor Allem diese Beutestücke aus dem alten Babylonien gefunden 
worden, darunter der Code Hammurabi. Theilweise haben die Er¬ 
oberer der Beute ihren Namen einmeisseln lassen, theilweise wurde 
nur dafür vorbereitet. So sind auch dem gefundenen Code Hammurabi 
5 Reihen Text ausgemeisselt, welche der Lücke der §§ 65—100 ent¬ 
sprechen. Davon abgesehen befindet sich der Code Hammurabi in 
sehr gutem Erhaltungszustände. Auch von dieser Lücke sind durch 
die besprochenen Parallelüberlieferungen sofort drei Paragraphen 
ergänzbar gewesen. Die Hoffnung ist somit keine geringe, in ab¬ 
sehbarer Zeit den lückenlosen, altbabylonischen Gesetzescodex zu 
besitzen. 

Um beurtheilen zu können, was das heisst, müssen wir flüchtig 
die ganze alte babylonische und semitische Geschichte streifen. Eine 
alte Völkerkammer, aus welcher immer wieder neue jugendfrische 
Naturvölker in die Culturgebiete einströmten, war Arabien. Auf Baby¬ 
lonien stürmten aber auch mehrfach aus dem Norden und Westen 
theils indogermanische, tbeils turaniscbe Völker ein. Wir können alle 
diese Völkerbewegungen nur aus den babylonisch-assyrischen Be¬ 
richten und theilweise aus der Bibel erschlossen. Ein anderes Cultur- 

% 

reich im Westen, das meist nur über seine eigenen Geschicke Auf¬ 
schluss giebt, ist Aegypten. Die ältesten erschliessbaren Bewohner 
Babyloniens sind die nichtsemitischen Sumerer. Eine auch noch 
vorgeschichtliche Einwanderung dorthin aus Arabien ergab die alte 
babylonisch-assyrische Bevölkerungsschichte, welche jedenfalls ganz 
Vorderasien überschwemmt hatte und bis an das mittelländische Meer 
reichte, so dass die Sprache dieser Völker zur internationalen Diplo¬ 
matensprache werden konnte. Hammurabi gehört aber schon einer 
zweiten herrschenden Schichte semitischer Völker an, welche von 
Arabien aus ebenfalls Vorderasien bis zum Mittelmeer überschwemmten, 
den sogenannten Kanaanäern. Ihr westlichster Zweig sind die Phö- 
niker, von denen Herodot ausdrücklich bestätigt, dass sie aus 
Arabien von den Küsten des rothen Meeres eingewandert sind. Ihre 
letzte Machtentfaltung zeigt sich in Karthago und Spanien. Ein 


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366 


XIX. Okfele 


Nachzügler dieses Völkerschubes ist die Einwanderung der Israeliten 
in Palästina. Danach folgt die aramäische Völkerwanderung, denen 
die Chaldäer als Begründer des neubabylonischen Reiches und im 
Westen die Syrer angehören. In die christliche Zeitrechnung fällt 
dann die Ausbreitung der eigentlichen Araber, welche mit der Re¬ 
ligionsbewegung Muhammeds zusammenfällt. 

Hammurabi muss nun als Herrscher kanaanäischer Nationalität 
betrachtet werden, welcher das alte babylonisirte Sumererreich be¬ 
herrschte. Hammurabi mit seinen kanaanäischen Stammesgenossen 
beherrscht dies Reich ebenso, wie der deutsche Grossmeister mit 
seinen Deutschherren es gegenüber den Wenden und Polen that Die 
Gesetze sind wohl die alten Landesgesetze, welchen nur besondere 
Rechtsnormen zwischen dem kanaanäischen Lehensadel und der alten 
Bevölkerung eingefügt wurden. Der § 40 mit den vorhergehenden 
Gesetzen zeigt deutlich, dass ein grosser Theil des Grundbesitzes nur 
im männlichen Besitze eines heerespflichtigen Lehensträgers sein 
durfte, während aller anderer Besitz zwischen den verschiedenen Be¬ 
völkerungsschichten frei veräusserbar war. In diesen Vorzugsrechten 
des kanaanäischen feudalen Kriegeradels darf auch das neue Recht, 
soweit es Hammurabi schuf, begründet sein. 

Abgesehen davon liegt eine sehr demokratische Staatsverfassung 
vor. Alle Handlungen und Unterlassungen, wodurch ein Einzelner 
oder die Gesammtheit geschädigt wird, scheint als Verbrechen zu 
gelten. Auch Rechtsverletzungen entsprechend dem modernen bürger¬ 
lichen Gesetzbuche sind theils an sich, theils durch rechtliche Be¬ 
stimmungen in die Begriffe von Diebstahl, Betrug, Hehlerei und ähn¬ 
liches hineingezwungen, so dass jeder verlorene Process den Ver¬ 
lierenden zum Verbrecher stempelte. Den Consequenzen dieser Rechts¬ 
auffassung gegenüber bei unbeschränkter Haftung jedes Einzelnen für 
die Folgen aller Handlungen und Unterlassungen muss es auffallen, 
dass der Begriff des Staatsanwaltes völlig fehlt. Schon nach § 1 
erscheint jeder Bürger die Rolle des Staatsanwaltes mit weitgehenden 
Befugnissen zur Verhaftung u. s. w. übernehmen zu können. Dabei 
muss er aber die volle Verantwortung für Missgriffe übernehmen. 
Ein moderner § 193, wie heute in Deutschland, stand ihm nicht im 
mindesten zur Seite. Nach § 2 wird dieser freiwillige Staatsanwalt 
im Verurtheilungsfalle des Beschuldigten finanziell am Processaus- 
gange interessirt. Ausser für diesem Ankläger gab es aber auch eine 
Haftpflicht des Richters nach § 5 für falsche Urtheile aus Rechts- 
irrthum und z. B. auch eine Haftpflicht des Operateurs nach §§ 21$ 
bis 220 und 221 für misslungene Operationen. 


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Code Hammurabi vor 4000 Jahren. 


367 


Die einzelnen Abschnitte dieser Gesetze habe ich schon im Archiv 
referirt. 

Weiter ergiebt sich aber ein Vergleich mit dem Gesetze Moses 
auf Tritt und Schritt von selbst und schon alle Handlungen, welche 
Abraham vornimmt, sowie vieles andere im alten Testamente, voll¬ 
zieht sich genau nach diesen Gesetzen. Die Codificierung des Ge¬ 
setzes Moses ist aber nach der Bibel mindestens ein halbes Jahr¬ 
tausend nach der Zeit Hammurabi’s datirt. Nach den Ueberein- 
stimmungen kann die Gesetzgebung am Sinai also nur entweder als 
spätere Codificirung der gemeinsamen kanaanäischen Stammesgesetze 
oder als modificirte Annahme der für ganz Vorderasien gebräuch¬ 
lichen babylonischen Gesetzgebung betrachtet werden. Wahrschein¬ 
lich ist sie theils das eine, theils das andere. Für das Verständniss 
des biblisch-talmudischen Rechtes in der ältesten Form ist in Zukunft 
der Code Hammurabi unentbehrlich. 

Aber das Gleiche ist der Fall für das abendländische Recht 
Einmal ist der Code Hammurabi, wie wiederholt betont, überhaupt 
das älteste Recht, welches uns codificirt vorliegt. Dann war dasselbe 
sicherlich nicht ohne Einfluss für die Rechtsentwicklung im Westen. 

Durch die Keilschriftbelege ist die Continuität der Gesetze 
Hammurabi’s für das Zweistromland durch mindestens anderthalb Jahr¬ 
tausende verbürgt. Die eigentümliche Honorarabstufung für ärzt¬ 
liche Leistungen ist aber selbst noch in der Zendavesta und den zu¬ 
gehörigen Schriften erweislich. Schon dies zeigt, dass zum mindesten 
Theile der Gesetzgebung über Perser, Hellenismus, Parther und selbst 
Muhammedanismus weiter bestanden haben. x Andererseits ist aber be¬ 
kannt, dass sich etruskische und babylonische Cultur enge berühren, 
wenn auch die directen Fäden noch wenig ersichtlich sind, welche 
hier von Asien nach Europa führen. Auch die babylonische Cultur 
und die Phöniker stehen untereinander in Beziehung. Das römische 
Reich ist aber im Westen des mittelländischen Meeres theils der Erbe 
der Etrusker, theils der Punier. Auch hierin ergeben sich Finger¬ 
zeige für die Beziehungen zwischen Code Hammurabi und dem 
römischen Rechte. So kurz nach der Auffindung des Textes kann 
ich über den Grad dieser Beziehungen kein Urtheil abgeben. Ich 
kann nur darauf hinweisen und vermuthen, dass, wo Ansichten der 
Opferanatomie und anderes, was zur Medicin gehört, gemeinsamem 
Urquell entsprungen sind, auch Beziehungen in der Rechtsgeschichte 
bestehen müssen. 


Druck von J. B. Hirsch fehl in Leipzig. 


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Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik. Bd. XI 


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Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik. Bd. XI 


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Verlag von F. C. W. Vogel in Leipzig. 




































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Archiv für kriminal- A7 

anthropolo^ie und v. 11 

kriminal istik. 


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