ARCHIV
FÜR
KRIMINAL - ANTHROPOLOGIE
UND
KRIMINALISTIK
MIT EINER ANZAHL VON FACHMÄNNERN
HERAUSGEGEBEN
VON
Prof. Dr. HANS GROSS
KÜKTUirDDREISSIGSTER BAND.
LEIPZIG
VERLAG VON F. C. W. VOGEL
1909.
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Inhalt des fünfnnddreissigsten Bandes.
Erstes und zweites Heft
ausgegeben 14. Oktober 1909.
Original-Arb eiten. Seite
I. Heimweh und Verbrechen. Von K. Jaspers. 1
II. Zeugenaussagen über Schlußfolgerungen. Eine Mitteilung aus der
Praxis von Prof. Dr. Hans Reichel.117
HL Die Prügelstrafe, besonders in sexueller Beziehung. Von Medizinal¬
rat Prof. Dr. P. Näcke ..120
IV. „Zeugenaussagen“. Von Prof. Dr. Buchliolz.128
V. Ein Verbrecherpaar. Mitgeteilt von Dr. Anton Glos.130
VI. Von dem internationalen Kongreß für angewandte Photographie in
Dresden 1909. Vom Polizeipräsidenten Köttig.134
VH. Polizeistunde und Polizei Verordnung. Von Landgerichtsdirektor
Rotering.: . . . \ ..146
VIII. Varia. Von A. Abels ..16S
Kleinere Mitteilungen.
Von A. Abels:
1. Indische Schleichgifte (Abrus precatorius L.).177
2. Das südamerikanische Pfeilgift Curare als „Zigeunergift“ . . 180
Bücherbesprechungen.
Von H. Pfeifer:
1. Die Selbstmörder.183
Zeitschriftenschau.
Drittes und viertes Heft
ausgegeben 25. November 1909.
Original-Arbeiten.
IX. Forensisch-psychiatrische Kasuistik. Von Kurt Boas.195
X. Strafanzeigen psychisch abnormer Personen. Von Dr. Otto Wal ln er 249
XI. Psychologie der Verbrecherehre. Von E. Kleemann.263
XH. Zeitungsnotizen als Quelle für volkskundliche und kriminalistische
Untersuchungen. Von Dr. Albert Hellwig.276
XIII. Die Unzucht mit Tieren. Von Dr. med. Kurt v. Sury . . . . 293
XIV. Aus den Erinnerungen eines Polizeibeamten. Von Hofrat J. HölzJ 317
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IV
Inhaltsverzeichnis.
Seite
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XV. Ein jugendlicher Raubmörder. Von Dr. Rud. Huber.
XVI. Über Kurpfuscherei und Aberglauben und ihre Beziehungen zum
Verbrechen. Von Prof. Dr. med. Th. Lochte ... • ... 327
XVII. Zwei Fälle von Brandstiftung. Mitgcteilt von Dr. W. F. Hesselink 340
XVIII Zur Psychologie der sadistischen Messerstecher. Von Mcdizinalrat
Prof. Dr. P. Näcke.343
XIX. Experimentelle Beiträge zur Bewertung einiger chemischer Blutproben.
Von Dr. S. Mita aus Tokio.361
Kleinere Mitteilungen.
Von Prof. Dr. P. Näcke:
1. Paradoxe Erotik.374
2. Entstehung der sekundären Geschlechtsmerkmale.375
3. Kulturfortschritt in der Tätowierkunst.375
4. Sclbstanzeige von Verbrechern.376
Bücherbesprechungen.
Von H. Fehlinger:
1. Dr. Hugo Forcher, Bezirksrichter: Rück fallstatistische Stu¬
dien, unter besonderer Berücksichtigung der österreichischen
Rückfallstatistik.377
2. Alfred Holt Stone: Studies in the American Race Problem 378
3. Edward Carpenter: The Intermediate Sex.378
Von Prof. Dr. P. Näcke:
4. Eulenburg: Schülerselbstmorde.378
5. Hrdlika: Physiological and medical observations among the
Indians Southeastern United States and Northern Mexico . . 379
6. France: Pflanzenpsychologie als Arbeitshypothcsc der Pflanzen¬
physiologie . ^.379
7. Birnbaum: Über psychopathische Persönlichkeiten .... 380
8. W. v. Polenz: Der Büttnerbauer, Roman.380
Von H. Groß:
9. E. Siemerling: Geisteskrankheit und Verbrechen .... 380
10. Paul Ebert: Das Sterben armer Sünder.381
11. Maurice Parmelee: The principles of Anthropology and
Sociology in their relations to criminal procedure.381
12. Dr. Erich Pomme: Die „Vorstellungstheorie“ und ihre Logik 381
13. Ernst Rüdin: Über die klin. Formen der Seelenstörungen
bei zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe Verurteilten .... 381
14. Albert Coenders: Strafrechtliche Grundbegriffe, insbeson¬
dere Täterschaft und Teilnahme.382
15. Eugen Hasler: Die jugendlichen Verbrecher im Straf- und
Strafprozeßrecht mit bes. Berücksichtigung des Vorentw. zu
einem schw. St.G.B. und der Zürcher Strafprozeßreform . . 383
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Vorwort.
Schon lange haben die mit unglaublicher Grausamkeit und rück¬
sichtsloser Brutalität ausgefllhrten Verbrechen (Mord und Brandstiftung)
Interesse erregt, die man von zarten Geschöpfen, jungen und gut¬
mütigen, noch ganz im Kindesalter befindlichen Mädchen ausgeführt
sah. Der Widerspruch zwischen Tat und Täterin, die Motivlosigkeit
oder unzureichende Motivierung und darum das Rätselhafte und
Unverständliche der Ereignisse erregten Mitgefühl oder Abscheu.
Längst hat man einstimmig einen Teil der Individuen als
schwachsinnig oder moralisch idiotisch erkannt. Durch geringe An¬
lässe erregte Affekte oder blinde Impulse führen bei ihnen die Tat
herbei. Vor mehr als 100 Jahren hat man daneben als eigene Ur¬
sache schon das Heimweh betrachtet. Durch die Arbeit von
Wilmanns „Heimweh oder impulsives Irresein“ ist die Frage nach
der Bedeutung dieses Zustandes für Verbrechen und der psychia¬
trischen Auffassung desselben wieder angeregt worden, nachdem sie
lange geruht hatte. Da Behauptungen gegen Behauptungen stehen^
ohne daß die Art der Fälle überhaupt allgemein gekannt ist, er¬
scheint es angebracht, eine zusammenfassende Bearbeitung des spär¬
lichen Erfahrungsbestandes auf diesem Gebiet zu liefern, die vielleicht
ein wenig zur Klärung der Fragen beitragen, sie allerdings nicht
lösen kann.
Zu diesem Zwecke wurde zunächst historisch untersucht, was
für Anschauungen über das Heimweh und seine Bedeutung geherrscht
haben. Dieser Teil gewann ein gewisses selbständiges Interesse.
Es erschien nicht überflüssig, auf diesem ganz kleinen Gebiet eine
Vorarbeit für den künftigen Historiker der Psychiatrie zu leisten,
zumal da deutlich wurde, daß das Heimweh früher in der Auffassung
.der Arzte eine viel größere Bedeutung hatte als heutzutage.
Ferner wurde versucht, die bis jetzt beschriebenen Fälle von
Verbrechen aus Heimweh, die zum Teil in schwer zugänglichen
Archiv für Kriminalanthropologie. 85. Bd. 1
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Schriften zerstreut sind, zusammenzustellen. Die Beschreibungen
entsprechen zwar znm großen Teil nicht den Anforderungen der
modernen Psychiatrie; kaum ein Fall ist dabei, bei dem man nicht
noch Fragen über Tatsächliches beantwortet haben möchte. Doch
stellen sie das einzige Erfahrungsmaterial für unsere Frage dar.
Zudem haben die Fälle durch ihre Eigenart und Seltenheit soviel
Interesse, daß ihre fast vollkommene Vergessenheit nicht berechtigt
ist. Bei der Spärlichkeit der Beobachtungen, aber auch aus histo¬
rischem Interesse, sind ältere Fälle, die nur sehr kurz berichtet sind,
ebenfalls wiedergegeben.
Immerhin kommen Ereignisse solcher Art auch heute noch vor,
wie die in wenigen Jahren beobachteten zwei Fälle aus der Heidel¬
berger Klinik beweisen. Der erste wurde von Wilmanns schon
veröffentlicht, der zweite wird in dieser Schrift seine Stelle finden,
neben einigen anderen, die nur nach den Akten wiedergegeben
werden können. Für ähnliche zukünftige Fälle das Vergleichs¬
material möglichst vollständig an die Hand zu geben und die Ge¬
sichtspunkte zu erörtern, die bei ihrer Auffassung in Frage kommen,
ist der Hauptzweck dieser Arbeit.
Herrn Dr. Wilmanns spreche ich für die Anregung und Unter¬
stützung bei der Arbeit meinen Dank aus. Er hat mich auf einen
großen Teil der Literatur aufmerksam gemacht und mir sein Gut¬
achten über Apollonia S. überlassen. Insbesondere aber stammt die
Auffassung, daß es zu Verbrechen führende Heimwehverstimmungen
gibt, auch ohne daß die Täterinnen intellektuell oder moralisch
schwachsinnig sind, von ihm.
Herrn Prof. Nissl danke ich, daß er mir die Erlaubnis gab,
an seiner Klinik zu arbeiten und ihre Hilfsmittel zu benutzen und
Herrn Dr. Longard für gütige Überlassung zweier Gutachten, die
in der folgenden Arbeit wiedergegeben sind.
Geschichte der Heimwehliteratur.
Das Wort „Heimweh“ ') ist in dem schweizerischen Dialekt des
17. Jahrhunderts entstanden, zum ersten Male durch die ärztliche Fach¬
literatur in der Schriftsprache gebraucht, aber trotzdem Schweizer
Dialekt geblieben und erst in der Zeit der Romantik in den allge¬
meinen deutschen Sprachgebrauch übergegangen. Nicht nur durch
1) Vgl. Kluge (Literaturverzeichnis).
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Heimweh und Verbrechen.
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diese Wortentstehung ist die Geschichte der Lehre vom Heimweh
im Anfang eng verbunden mit der allgemeinen Literaturgeschichte.
Neben den medizinischen Arbeiten entstanden im 18. Jahrhundert,
den sentimentalen Neigungen der Zeit entgegenkommend, auch
eine Menge populärer Beschreibungen der Heimwehkrankheit,
die ihrerseits auf erstere zurückwirkten, sodaß im weiteren Verlauf
eine Mischung poetischer Sohriftstellerei mit medizinischer Beobach¬
tung und Kritik entstand, die zwar historisch interessant, für unseren
speziellen wissenschaftlichen Zweck aber recht unerfreulich erscheint.
Im 17. Jahrhundert wurde die Heimwehkrankheit als Nostalgie
entdeckt. Bald wurde sie ein beliebtes Thema, das zahllose Arbeiten,
insbesondere Dissertationen, hervorrief. In der Krankheitslehre ge¬
wann sie eine anscheinend enorme Verbreitung. Überall wird sie
als schweres, oft tödliches Leiden erwähnt. Selbst Auenbrugger,
der Entdecker der Perkussion, gibt für die Nostalgie einen besonderen
Befund an. In vielen allgemein-medizinischen Lehrbüchern — psychia¬
trische gab es damals noch nicht — fand sie ihren Platz, als noch
keine forensische Beobachtung vorlag.
In dieser Form wurde die Nostalgie in der französischen Lite¬
ratur bearbeitet in einer großen Reihe von Schriften bis zur letzten
von Benoist. Ethnographische Gesichtspunkte, Bedeutung des Klimas,
die körperlichen Erscheinungen, die Rolle der Nostalgie beim Mili¬
tär werden eingehend dargestellt. Von einem forensischen Falle
kann man in der französischen Forschung nichts finden. (Über
Marc s. unt.)
Anders in Deutschland. Während in Frankreich die Nostalgie¬
literatur trotz ihres Umfanges in 100 Jahren fast auf demselben
Standpunkt steht, knüpft sich in Deutschland der Fortschritt an die
Forschung über die forensische Bedeutung der aus Heimweh began¬
genen Verbrechen. Es entstanden klare Fragestellungen, entgegen¬
gesetzte, sich bekämpfende Meinungen, die eine Stellungnahme der
meisten Psychiater der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Folge
hatte. Dann schwand das Interesse für das Heimweh mehr und
mehr. In gerichtlich-psychiatrischen Werken wird es noch immer
kurz erwähnt. Zustände, die früher dahin gerechnet wurden, waren
durch die Entwicklung der Wissenschaft abgetrennt worden, bis es
zu unserer Zeit fast der Vergessenheit anheimfiel.
Nach dieser allgemeinen Übersicht folge eine spezielle Darstel¬
lung der Entwickelung der Nostalgielehre. Zunächst handelt es sich
um die Heimwehliteratur in dem ganzen Umfange, den sie durch
die Ausdehnung des NostalgiebegrifFs auf viele andere Krankheiten
l*
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gewann, dann um ein Reterat der französischen Arbeiten und schlie߬
lich um die Entwickelung der forensischen Auffassung. Diese Drei¬
teilung ist berechtigt, weil die einzelnen Gebiete nur wenig Einfluß
aufeinander übten; französische und deutsche Arbeiten bleiben fast
ganz ohne Fühlung. Auf die forensische Forschung wirkte wohl die
alte Lehre von der Nostalgiekrankheit, aber sie gewann doch eine
ganz unabhängige selbständige Entwickelung.
Im Jahre 1678 verfaßte Jo an. Hofer 1 ) unter seinem Lehrer
Joan. Jac. Harder in Basel als Dissertation eine kleine lateinische
Arbeit, in der er ein „neues Thema“ ergreift, das noch von keinem
Arzt beschrieben sei. Es handle sich um eine Krankheit, die in
Schweizer Mundart Heimweh, in Frankreich mal du pays heiße.
Er prägt dafür den Namen Nostalgia. In 12 Thesen gibt er in
präziser Weise seine Anschauungen wieder, die in Methode und Re¬
sultat ein Ausdruck damaliger medizinisch-wissenschaftlicher Arbeits¬
weise sind.
Von „glaubwürdigen Leuten" hat er zwei Fälle erfahren, die
ihm neben anderen Reminiszenzen die Erfahrungsgrundlage für seine
Arbeit abgeben.
Ein juger Student aus Bern erkrankte in Basel, fieberte, bekam
Angstzustände, schwere Symptome traten hinzu und man erwartete schon
seinen Tod, als der Apotheker, der auf Vorschrift des Arztes ein Klysma
geben wollte, den Zustand erkannte, ihn für Heimweh erklärte und be¬
hauptete, es gebe kein anderes Mittel als die Rückkehr in die Heimat.
Zusehends besserte sich der Mann, war auf dem Wege ganz wohl und
kam gesund in Bern an. .
Der zweite Fall betrifft ein junges Mädchen, das krank ins Spital
gebracht auf alle Fragen, alle Heilversuche immer nur die Worte her¬
vorbrachte „ich will heim, ich will heim“. Zu Hause genas es in wenigen
Tagen ohne Anwendung von Heilmitteln.
Hofer bemerkt, daß vor allem junge Leute von der Nostalgie
ergriffen würden, besonders solche, welche zu Hause nur mit sich
1) Der antiken Welt waren Gefühle des Heimwehs nicht fremd. Odysseus
wird von ihnen gequält und trotz äußeren Wohlergehens fortgetrieben, Itbaka
zu suchen. In Griechenland, insbesondere in Athen, galt die Verbannung für
das größte Übel. Ovid fand später viele Klageworte für seine Sehnsucht nach
Rom, das Desiderium patriae. Die verbannten Juden weinten an den Wasser¬
bächen Babels Zions gedenkend. Wenn es sich hier auch immer um komplexe
Gemütszustände gehandelt hat, spielte doch wohl das Heimweh in unserem Sinne
dabei eine Rolle. Trotzdem fehlt Wort und Sache sowohl bei Hippokrates wie
Galenus (Kluge). Dante spricht in seiner Göttlichen Komödie von der Abend¬
stunde, wo des Schiffers Herz voll von Heimwehtrieben weich wird. Doch beginnt
erst mit Hofer die eigentliche Heimwehliteratur.
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Heimweh und Verbrechen.
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lebten, niemals unter Menschen gingen. Solche können sich, wenn
sie von Hanse fortkommen, nicht an die fremden Sitten gewöhnen.
Sie können die heimatliche Milch nicht entbehren, sehnen sich Tag
und Nacht nach Hanse und, wenn ihr Wunsch nicht erfüllt wird,
werden sie krank.
Durch vorausgebende andere Krankheiten, veränderte Lebens¬
weise, Änderung der Luft und fremde Gebräuche wird der Ausbruch der
Nostalgie befördert. Als Zeichen, die ihren Eintritt befürchten lassen,
nennt er: Abneigung gegen die fremden Sitten, Neigung zur Melan¬
cholie aus Anlage, große Aufregung über kleine Scherze und Späße,
die man mit ihnen macht, Fernbleiben von den fremden Vergnügungen.
Symptome der ausgebrochenen Nostalgie sind: dauernde Traurigkeit,
alleiniges Denken an die Heimat, gestörter Schlaf oder dauerndes
Wachen, Abnahme der Kräfte, Verminderung des Appetits und des
Durstes, Angstgefühle, Herzpalpitationen, beschleunigte Atmung,
Stupor, kontinuierliches und intermittierendes Fieber.
Interessant sind die Vorstellungen, die Hofer über Ätiologie,
Pathogenese und Sitz des Heimwehs entwickelt. Als Sitz betrachtet
er den innersten Teil des Gehirns, der aus unzähligen Nervenfibrillen
besteht, in denen die Lebensgeister (Spiritus animales) beständig
auf- und abwogen. Das Wesen der Krankheit besteht in einer ge¬
störten Einbildungskraft, wobei die Lebensgeister nur einen Weg
durch den Streifenhügel wandeln, in dem die Idee des Vaterlandes
ihren Sitz hat, und so in der Seele nur diese Idee wachrufen. Da¬
durch werden sie endlich ermüdet, erschöpft, verwirrt, und bewegen
sich ungeschickt, so daß sie verschiedene Phantasmen hervorrufen.
Dies fast beständige Erzittern (vibratio) der Lebensgeister in den
Fasern des Hirnmarks, in denen die Spuren der Vaterlandsideen
eingeprägt sind, hat zur Folge, daß sie von anderen Dingen nicht
mehr bewegt werden, oder daß, wenn es einmal geschieht, die mit
den Gedanken ans Vaterland beschäftigte Seele keine Acht darauf
hat. Die Symptome der Nostalgie entstehen, weil die gebundenen
Lebensgeister nicht mehr in die anderen Teile des Hirns gelangen
und deren natürliche Funktionen unterstützen können. Der Appetit
wird nicht mehr wachgerufen, der Magensaft verliert an Lösungs¬
vermögen für die Speisen, der Chymus tritt in roherem Zustande ins
Blut, in dem dicklichen Serum entstehen weniger Lebensgeister als
früher, und die wenigen werden wegen der dauernden Ekstase des
Geistes im Hirn aufgezehrt. Daher versiegen die Willens- und
Reflexbewegungen, die Blutzirkulation wird verlangsamt, das dickere
Blut verursacht den trägeren Herzschlag, dehnt die Gefäße und ruft
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I. K. Jaspers
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die Angst hervor. So tritt schließlich der Tod ein. Mit den Worten:
„das kann alles durch die Einbildungskraft allein geschehen,“ schließt
Hofer diesen Absatz.
Die Prognose richtet sich danach, ob man die Kranken in die
Heimat zurückbringen kann oder nicht. Die Therapie bezieht sich
auf die Besserung der gestörten Einbildungskraft und auf Milderung
der Symptome. In bezug auf erstere, wenn sie noch keine festen
Wurzeln gefaßt hat, empfiehlt er ein Purgans, wodurch der Ballast
der rohen Stoffe aus den Verdauungswegen entfernt werde. Zur
Milderung der Symptome rühmt er verschiedene Mixturen.
Im Anschluß an diese Arbeit von Hofer erschienen im Laufe
der Zeit mehrere Dissertationen, die, soweit das aus Referaten zu
schließen ist, nichts wesentlich Neues enthalten. (Verhovitz 1703.
Tackius 1707). Zwinger (1710) gab die Arbeit Hofers in er¬
weiterter Form heraus und ergänzte sie durch einige kurz erzählte
Fälle. Er betont, daß die Ursache des Heimwehs eine rein psychische
sei und oft durch Zufälle, wie das Anhören des Kuhreihens, her¬
vorgerufen werde. Seitdem spielt der Kuhreihen in der Heimweh-
literatur eine große Rolle 1 ).
Eigenartig ist der Aufsatz „von dem Heimweh“, den der durch
seinen vermeintlichen homo diluvii testis berühmte Scheuchzer in
seiner Naturgeschichte des Schweizerlandes geschrieben hat. Die
eigentliche Ursache des Heimwehs ist nach ihm die Änderung des
Luftdrucks. Die Schweizer leben in den Bergen in feiner leichter
Luft. Ihre Speisen und Getränke bringen auch in den Körper diese
feine Luft hinein. Kommen sie nun in das Flachland, so werden
die feinen Hautfaserchen zusammengedrückt, das Blut wird gegen
Herz und Hirn getrieben, sein Umlauf verlangsamt und, wenn die
Widerstandskraft des Menschen den Schaden nicht überwindet, Augst
und Heimweh hervorgerufen. Daß besonders junge Leute mit feiner
Haut und solche, die mit Milch genährt sind, erkranken, dient ihm
als Stütze seiner Ansicht. Zur Behandlung empfiehlt er auf Grund
seiner Meinung neben psychischer Beeinflussung Transport auf höher
gelegene Berge und innerliche Darreichung von Stoffen, die „zu¬
sammengepreßte Luft enthalten“, um von innen den Druck im
Körper zu erhöhen, z. B. Salpeter, Pulver, jungen Wein. Anhangs¬
weise spricht er vom Heimweh der Walfische, die in südlichen
l) Auch im Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller wird er besprochen
in Beziehung auf die Stelle im Teil, wo Attinghausen Rudens warnt, wie er sich
dereinst „mit heißen Thräncn“ „nach dieses Herdenreihens Melodein“ sehnen
werde. (Kluge.)
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Heimweh und Verbrechen.
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Gewässern ebenfalls infolge Drnckänderungen an diesem Übel er*
kranken.
In einem späteren Artikel, wendet er sich mit Spott gegen den
Rostocker Professor Detharding. In einer Arbeit Disp. de Aere
Rostockiano 1705 schreibt dieser von der Schweizer Lnft, die durch
ihre Ungesund- und Grobheit die Gemüter der Einwohner ganz
dumm mache. Aus eben dem Grunde bekämen die Schweizer das
Heimweh, weil sie eine reinere und gesündere Luft nicht vertragen
könnten „gleich denen Widhopfen, welche an den stinkenden Mist
gewohnt, anderswo nicht leicht zunehmen.“
Diese ergötzlicheMeinungsverscbiedenbeit zwischen Scheuchzer
und Detharding wird von Zedier 1735 noch einmal wieder auf¬
gerollt, aber nicht genug, 1781 wird in Krünitzens Enzyklopädie
in einem breitspurigen Aufsatz die alte Streitfrage nochmals behan¬
delt, um dann endgültig zur Ruhe zu kommen (nach Kluge, ebenso
das folgende).
Im Anschluß an Hofer, Zwinger, Scheuchzer erscheinen
nun zahlreiche populäre Beschreibungen. 1716 wird in Breslau ein
Aufsatz gedruckt von der Nostalgie oder dem sogen. Heimwehe.
1740 spricht Keißler in einer Reisebeschreibung vom sogen. Heim¬
weh, welches sonderlich den Bernern anbängt. 1755 sind in einer
Leipziger Wochenschrift 32 Seiten lang zu lesen „moralische Gedanken
vom Heimweh“. Die Ende des Jahrhunderts erschienenen Werke von
Stilling, (das Heimweh, Roman) und von Ul. v. Salis, (Bildergalerie
der Heimwehkranken) beschäftigen sich mit dem Himmelsheimweh
und ähnlichem, eine Parallelisierung vermeintlich verwandter oder
gar identischer Gefühle, die, von Dichtern manchmal benutzt, noch
in der neuesten Broschüre Maacks: Heimweh und Verbrechen eine
merkwürdige Rolle spielt.
In der ärztlichen Literatur wird die Nostalgie zu einem immer
von neuem erwähnten und beschriebenen Krankheitsbegriff, der für
lange Zeit einen selbstverständlichen Platz im nosologischen System
genießt: Haller 1754. Linne genera morborum 1763. Dieser
führt unter der Klasse „morbi mentales“ der ordo „pathetici“ das
genus „Nostalgia“ auf J ). Er schafft die schwedische Übersetzung
Hems juka. von Swieten erklärte das Heimweh für eine Ursache
der Melancholie und des Skorbuts, die durch eine Veränderung der
schwarzen Galle entstehe 2 ). Hervorragende Mediziner vom Ende
des 18. Jahrhunderts scheinen es regelmäßig zu erwähnen, so
1) zit. nach Hettich. 2) zit. nach Benoiat.
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I. E. Jaspbbs
Cullen (Edinburg) als Art der Melancholie, Sauvages (Montpellier)
ebenso, Sa gar (Wien) als ein genus der vesaniae. Dieser erzählt
von sich selbst (Syst. morb. sympt. S. 732 Zit. nach Vogel), daß
er am Heimweh gelitten habe, mit Ekel, Verstopfung, Wassersucht,
Schlaflosigkeit und Schwäche. Sobald er in sein Vaterland zurück¬
kam, genas er ohne Arznei. Sauvages stellte vier Symptome auf:
morositas, pervigilio, anorexia, asthenia 1 )- Roth 1768. Medizin.
Handlexikon 1782.
Es erschienen immer wieder auch selbständige Arbeiten, (Pensöes
d’un allemand sur la nostalgie 1754, Hueber 1755) und namhafte
Arzte gehen ausführlich auf diese Krankheit ein. Der berühmte
Auenbrugger findet in seinem „Inventum novum etc.“ (1761) eine
Veränderung des Perkussionsschalles bei Heimwehkranken, einen
„Sonitus obsourus“ auf der einen Seite und bei ihrer Sektion kon¬
stant eine Verwachsung und Vereiterung der Lungen. Vor einigen
Jahren sei die Krankheit in der österreichischen Armee sehr oft,
jetzt seltener beobachtet, seitdem die Soldaten das Versprechen be¬
kommen, nach Ablauf ihrer Dienstzeit in ihre Heimatstaaten zurück-
kehren zu können.
J. B. Zimmermann (1774) 2 ) betont, daß das Heimweh zwar
von den Schweizern sich allein zugeeignet würde, aber auch sonst
an vielen Orten vorkäme. Es sei beobachtet bei burgundischen
Soldaten, bei den Schotten sei es nichts Seltenes. Ganz besonders
häufig sei es bei den der Pressung widerstrebenden Soldaten in
England. Kaum in die Heimat zurückgelangt, würden sie mit Ge¬
walt auf ein anderes Schiff geschleppt und Tausende fänden den
Tod an Nostalgie. Die plötzliche Rückkehr ins Vaterland tue thera¬
peutische Wunder. Zimmermann erzählt einen Fall, der später
noch manchmal wiederholt wird.
„Ein ans Bern gebürtiger Student der Medizin in Göttingen geriet
im Heimweh auf den Gedanken, die größte Pulsader im Leibe solle
ihm zerspsingen. Darum getraute er sich fast gar nicht mehr sein
Zimmer zu verlassen. Am gleichen Tage jedoch, als er von seinem
Vater zurückberufen wurde, hüpfte er ganz Göttingen im Triumphe
durch, nahm von allen Bekannten Abschied, und am dritten Tage be¬
stieg er mit außerordentlicher Munterkeit den Winterkasten in Kassel.
Da er doch zween Tage vorher bei dem Anblick der kleinsten Treppe
in Göttingen den Atem aus dem Bauche zog. Später an einem anderen
1) zit. nach Benoist
2) Derselbe, der durch seine Werke über die Einsamkeit literarhistorisch
bekannt ist.
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Heimweh und Verbrechen.
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Orte ist er noch einmal an Nostalgie erkrankt, nun ist er zn Hause
munter und gesund“.
Carthäuser (1771) hält Seheuchzers Erklärung durch Luft¬
druckänderung für sehr einleuchtend, doch könne diese allein nicht
ausreichen. Auch psychische Einflüsse allein könnten die Nostalgie
herbeiführen und heilen.
Schließlich hat 1783 der Göttinger Professor Blumenbach im
Anschluß an eine Schweizerreise längere Bemerkungen über das'
Heimweh gemacht. Er findet es ohne mindeste Überlegung klar,
daß es eine wahre Gemütskrankheit sei, die bloß in den inneren
Sinnen und nieht, wie der sonst verdiente Scheuchzer meinte, in
mangelnder Bergluft ihren Grund habe. Einige Kantone und zwar
die gebirgigsten werden nicht von Heimweh befallen, z. B. Glarus
Am stärksten haben die Appenzeller, ein bloßes Hirtenvolk, darunter
zu leiden. Die Ursache der Nostalgie liegt in der allen Menschen
eingepflanzten Prädilektion für das dulce natale solum. Der emp¬
findliche Kontrast ist genügend, um erst Einsamkeit, Sehnsucht,
Schwermut, schließlich Wahnsinn auszulösen. Es entsteht rasch
Appetitlosigkeit und Prostration, aber ebenso unglaublich schnell ist
die Erholung. Es scheint, als wenn in solchen Zuständen, wie über¬
haupt beim Wahnsinn, der Körper wie eine Uhr gleichsam suspen¬
diert ist, um nachher wieder in Gang zu kommen. Blumenbach
bemerkt, daß Schweizer auch im Herzen der Schweiz das Heimweh
bekommen. Schließlich erzählt er einige oft wiederholte Geschichten:
Eine Anzahl Entlibucher betrieb in Paris eine Sennerei. Als diese
Arbeit aufhörte, verfielen sie in Heimweh. Ähnlich ging es Lappen
mit Renntieren in Madrid. Als die Tiere tot waren, erkrankten sie.
Grönländer sollen 1636 in Kopenhagen in verzweiflungsvoller Sehn¬
sucht nach der Heimat mit Kajaks nach Amerika gefahren sein, wobei
die meisten umkamen. Die Zurückgebliebenen starben an Nostalgie.
Nordländer und Schweizer sind für diese Erkrankung bevorzugt.
Als Ursache sei die Gewöhnung an großartige Natureindrücke und
die Simplizität der Sitten anzusehen.
Nach Blumenbach erscheint noch ein Artikel von Diez in
der deutschen Enzyklopädie 1790. Dieser lehnt sich an Auen-
brugger an, meint aber, daß die Schweizer ganz besonders häufig
befallen würden. Dies schiebe Haller auf die Staatsverfassung
und die Gewohnheit, nur unter sich zu verkehren und zu heiraten.
In Ersch und Grubers allgemeiner Enzyklopädie 1828 werden im
Artikel „Heimweh“ alte Auffassungen wiederholt, und dazu erzählt,
daß 1813 bei der Belagerung von Mainz eine Typhusepidemie in Ver-
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1. K. Jaspers
bindung mit Heimweh gehaust habe und dureh letzteres beträchtlich
verschlimmert sei.
Außer diesen kurzen Artikeln bringen in Deutschland die Jahr¬
zehnte nach Blumenbach keine Heimwehschriften. In Frankreich
dagegen beginnt jetzt die Reibe vieler Dissertationen über diesen
Gegenstand. Die Mehrzahl derselben sind nicht zugänglich. Der
Vollständigkeit wegen sind sie im Literaturverzeichnis zusammen-
’ gestellt. Erst 1821 ersehien von dem bekannten Arzte Napoleons,
Larrey, eine vielgenannte Arbeit „Über den Sitz und die Folgen
der Heirawehkrankkeit“, die durch zweimalige Übersetzung ins Deut¬
sche auch hier das Thema Nostalgie wieder in Fluß brachte.
Larrey hatte auf mehreren Feldzügen Napoleons, besonders
auf dem russischen, seine Erfahrungen gesammelt. Aus seinen
Krankengeschichten tritt uns ein schwacher Reflex der gewaltigen
Leiden entgegen, denen damals zahllose Menschen zum Opfer fielen.
Larrey behauptet, wie bei allen Irren, so wichen auch bei den
Heimwehkranken zuerst die Geistesverriohtungen, dann die der Sinne
und der willkürlichen Bewegung von der Regel ab. Auf der Höhe
der Geistesverwirrung sehen die Kranken aus der Ferne lachende
und entzückende Gemälde an dem Orte ihrer Heimat, wie rauh und
öde diese in der Tat auch sein möge. Nach ihrer Aussage kommen
ihre Verwandten und Freunde ihnen in reichen Kleidern und mit
den freundlichsten Gebärden entgegen. Der Ablauf der Krankheit
soll in drei Stadien vor sich gehen. 1. Stadium: Aufregung, Stei¬
gerung der Wärme auf dem Kopfe, gehobener Pulsschlag, regellose
Bewegungen, Röte der Bindehaut, unsteter Blick, hastiges und nach¬
lässiges Sprechen, Gähnen, Seufzen, Verstopfung, herumziehender
Schmerz, 2. Stadium: Drnck und Gefühl von Zwang in allen Teilen,
Magen und Zwerchfell verfallen in eine gewisse Trägheit, Symptome
von Magen-Darmentzündung, das Fieber wird heftiger. 3. Stadium:
Schwäche, allgemeines Sinken der Kräfte, Traurigkeit, Seufzen,
Tränenvergießen, Abscheu vor Nahrungsmitteln und klarem Wasser,
Selbstmord oder allmähliches Erlöschen der Lebenskraft. Auf diese
Weise hat Larrey auf dem Rückzüge von Moskau eine große
Menge seiner Gefährten hinscheiden sehen. Als Sektionsbefund gibt
er an: Oberfläche des Gehirns, Pia und Arachnoidea entzündet, mit
Eiter belegt, Hirnsubstanz angeschwollen und härter als normal.
Arterien angefüllt mit schwarzem flüssigem Blut. Als sekundär be¬
trachtet er die Überfüllung der Lungen, Erweiterung des Herzens,
Ausdehnung des Magendarmkanals durch Gas und Rötung der Schleim¬
haut. In derselben Arbeit beschreibt Larrey einige Kopfverletzungen
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Heimweh und Verbrechen.
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und findet zwischen deren Folgen und der Heinawehkrankheit eine
weitgehende Ähnlichkeit.
Seine Übersetzung der Larreyschen Arbeit in Friedrichs
Magazin begleitet Amelung mit einigen kritischen Bemerkungen
(1830). Das Heimweh Larreys könne ganz aufgehen in die zwei
Krankheiten des Nervenfiebers und der Melancholie. Es sei deren
Ursache wie andere kummervolle Affekte, z. B. Liebesweh, sei aber
keine eigene Krankheit. Außerdem kann das Heimweh als Symptom
einer jeden Krankheit auftreten. „Ein jeder der schon einmal in der
Fremde bedeutender erkrankte, wird mit mir übereinstimmen, daß
man nie größere Sehnsucht nach der Heimat fühlt, als wenn mau
sich unwohl befindet, und daß diese Sehnsucht in dem Grade steigt,
je härter man erkrankt, während sie in gesunden Tagen vielleicht
ganz unbekannt war“. Also sei das Heimweh nicht als Morbus
genuinus anzusehen, sondern jederzeit entweder als Ursache oder
Symptom eines Nervenleidens.
Derselben Auffassung wie Amelung ist Georg et (1831).
Das Heimweh ist keine Krankheit, sondern bloß eine Ursache von
verschiedenen Affektionen, deren Behandlung sogar von dem Um¬
stande, der zu ihrer Entstehung Veranlassung gegeben hat, unab¬
hängig sein kann.
In merkwürdigem Gegensatz zu diesen kritischen Bemerkungen
steht die etwa gleichzeitige Ansicht Fried reiche (Handbuch der
gerichtl. Psychologie, Leipzig 1835). Bei der Erklärung des Brand¬
stiftungstriebes aus einer Feuer- und Lichtgier findet er, daß auch
die Nostalgie daraus abzuleiten ist. Der Bewohner des Gebirges,
der ja vorzugsweise vom Heimweh ergriffen wird, sei ein ideellerer,
geisteskräftigerer Mensch, wozu er durch den vorwaltenden Einfluß
des Lichtes und des Sauerstoffes im Gebirge werde. In das Tal
versetzt, sei er auf einmal seinen ideellen Potenzen der vorwalten¬
den Lichtsphäre entrissen und so sei das Heimweh nichts anderes
als die Sehnsucht nach dem der Seele verwandten Lichte. Daher
auch die vielen Brandstiftungen aus Nostalgie.
Es folgen in der nächten Zeit drei große zusammenfassende
Arbeiten von Schlegel (1835), Zangerl (1. Aufl. 1820, 2. 1840)
und Jessen (1841). Viele Angaben früherer Autoren werden, nicht
immer mit genügender Kritik, zusammengestellt, manches Neue hin¬
zugefügt. Als wesentlichen Fortschritt dieser Arbeiten darf man
wohl betrachten, daß sie den ernstlichen Versuch machen, ein ein¬
gehenderes psychologisches Verständnis des Heimwehzustandes zu
gewinnen.
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I. K. Jaspkbs
Schlegels Schrift ist überfüllt mit Dichterstellen, er beschäftigt
sich eingehend mit dem Heimweh verschiedener Völker ') und der
Soldaten 1 2 ). Er behandelt auch die forensischen Fragen. Das Neue was
er bietet, ist ein Versuch psychologischer Auffassung. Nach einigen
Bemerkungen, daß der Arzt sich nie über die gemeine Linie erheben
werde, wenn er nicht unablässig Psychologie in enger Verbindung
mit Physiologie als Grundwissenschaft seines Studiums erforsche,
betont er, daß die Ursache der Heimw.ehkrankheit allein in jenem
Empfindungszustand der Seele, den wir Sehnsucht nennen, bestehe,
dagegen weder in Entbehrung der gewohnten- Bergluft, noch in
einer instinktartigen Vorliebe für das Geburtsland gefunden werden
könne. Die Wirkung auf den Körper sei die unbefriedigter Sehn¬
sucht überhaupt. Doch nicht alle Menschen haben die Anlage, in
den Zustand der Sehnsucht zu geraten. „Wie ist nun der Ursprung
der Heimatsliebe zu erklären, da sie kein eigentlicher Naturtrieb,
auch keine bloße Frucht der Gewohnheit, noch weniger eine Folge
von Überlegung ist? Die Heimatsliebe hat ihre ersten Keime in den
ersten Empfindungen und Vorstellungen des jugendlichen Alters. So
wie da auf das zarte Gemüt, auf das reizbare Gefühl, auf die leb¬
haftere Einbildungskraft alle Umgebungen einen tieferen Eindruck,
einen unverlöschlicheren machen als in späteren Jahren, so hinwieder
lebt der junge Mensch sich gleichsam tiefer und inniger in alle
seine Umgebungen hinein. Er belebt alles, auch das Leblose mit
seinen Vorstellungen. Er macht spielend Freundschaften wie mit
Kinderpuppen so mit Gesträuchen, Wohnungen, Bergen und Winkeln.
Jeder Tageszeit, jeder Jahreszeit, jeder häuslichen und außerhäus¬
lichen Beschäftigung lauscht er ihre innerste Natur, ihren feinsten
Reiz ab, der erwachsenen Personen kaum empfindbar ist. Gleichsam
1) Bougainville berichtet von einem Ot&heiter, der im botanischen
Garten zu Paris beim Anblick des Brotfruchtbaums in Entzücken geriet und
keine Ruhe hatte, bis er die Rückkehr erreichte. Die Nostalgie der Völker
Sibiriens wird nach Delaportes’ Reisen eines Franzosen berichtet. Nach
Frorieps Notizen vom Jahre 1832 werden die Leute des Orahvolks auf
Madagaskar melancholisch, wenn sie eine Zeitlang von Hause fort sind. Viele
nehmen bei einer Reise etwas Erde des heimatlichen Bodens mit und flehen die
Gottheit an, daß es ihnen vergönnt sein werde, selbige wieder an ihren Ort
zurückzubringen. Die Indianer Südamerikas gedeihen in den Wäldern bei
Hunger und Strapazen, in den Missionen bei regelmäßiger Nahrung sterben
sie dahin.
2) 1745/46 erkrankte in Philippeville ein ganzes Bataillon Niederbretagner
epidemisch an Nostalgie. Die Leute starben massenhaft, der Rest mußte in die
Heimat zurückgeschickt werden.
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Heimweh und Verbrechen.
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wie eine geistige Pflanze schlägt er mit seinem Gerollte Wurzeln
und Ranken in und uro alle Dinge seiner Jugendwelt. Er wächst
gewissermaßen mit dem was ihn umgibt zusammen und wird eins
mit demselben. Weil sich sein ganzes Wesen allem auf das zarteste
anschmiegt, wird hier auch alles seinem Wesen vollkommen zusagend.
Je älter aber der Mensch wird, desto mehr wird er auf sich selbst
zurückgedrängt, er hat andere Bekanntschaften und Freundschaften
als die mit toten unbelebten Wesen, Zeiten und Umständen. Er kann
sich nicht mehr Spielen und Träumen hingeben, er gehört den Sorgen,
die ihn gegen Außendinge gleichgültiger machen. So wird der Er¬
wachsene, in Geschäften und Zerstreuungen aller Art verloren, ge¬
wissermaßen blinder gegen die Außenwelt. Er Übersieht vieles, was
das Kind einzeln durchdringt und beobachtet, was ihn umfängt, macht
weniger tiefen Eindruck. Aber die ersten Eindrücke aus der frühe¬
ren Zeit sind noch unerloschen und verlöschen nicht, wenn sie auch
verdunkeln. Sie können nicht ganz verschwinden, denn sie hatten
auf die bleibende Gemütsstimmung und die nachherige Geistesrich¬
tung den folgenreichsten Einfluß und der erwachsene Mensch ist
nur zu dem aufgewachsen, wozu er im zarten Beginn des Lebens
und der ersten Selbsttätigkeit wird. Daher bleibt ihm auch in
späteren Jahren, oft ohne es zu wissen, Vorliebe zu dem, was ihm
am frühesten tief zugesagt hatte. Daher kann er in späteren Jahren
in der Fremde reizendere, schönere Naturen finden, aber sie er¬
greifen ihn weniger als die Natur der Heimat, mit welcher sein
ganzes Wesen einig ist. So erklären wir uns, warum noch Greise
eine heftige Sehnsucht nach den Plätzen ihrer Kinderspiele und
Männer beim Anblick der Gegend, wo sie ihre Jugend verlebten,
ein Gefühl haben, welches sich nicht beschreiben läßt und mit keinem
anderen Gefühl verglichen werden kann“.
Das Buch von Zangerl (nur in der vervollständigten Ausgabe
von 1840 mir zugänglich) verzichtet nicht auf poetische Auslegungen
und Ergänzungen, doch ist er damit beträchtlich sparsamer als
Schlegel.
Junge sensible Individuen sind besonders disponiert zur Nost¬
algie. Diese Krankheit stellt er nicht wie die meisten Autoren zur
Melancholie, sondern betrachtet sie als etwas Besonderes, sowohl
wegen der Art des Objektes der traurigen Leidenschaft als auch
wegen ihrer furchtbaren Heftigkeit und ihres zerstörenden Einflusses
auf die Gesundheit.
Er stellt der Nostalgia die Apodemialgia, das Hinausweh,
gegenüber.
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I. K. Jaspebs
Die Nostalgie läßt sich einteilen in ursprüngliche (bei Gesunden
entstandene) und abgeleitete (aus anderen Krankheiten hervorge¬
gangene), in psychische und somatische und komplizierte, in offen¬
bare, verheimlichte und simulierte.
Als Vorbote des einfachen offenbaren Heimwehs kann Nacht¬
wandeln auftreten. Tiroler sahen beim Nachtwandeln ihre Heimat
und kamen drei Monate später mit Nostalgie ins Spital. (Dasselbe
nach Jessen von Isferdink beobachtet.)
Die Symptome entwickeln sich in folgender Weise: der Kranke
spricht gern von seiner Heimat oder ist wortkarg, ernst, nachdenkend
und traurig. Anfangs wagte er es kaum, sich selbst die Ursache
seiner Leiden zu gestehen und bemüht sich ernsthaft, dieselben zu
bekämpfen. Er glaubt die Stimmen geliebter Personen in den
Stimmen der ihn umgebenden Menschen wiederzufinden. Der Schlaf
flieht ihn. Tritt er doch ein, sieht er im Traume seine Familie, und
erlebt die glüeklichen Tage der Vergangenheit, um beim Erwachen
in ein umso tieferes Meer von Traurigkeit zu versinken. Er wird
empfindlich, verdrießlich, unzufrieden, erträgt kleine Neckereien und
Ungemächlichkeiten mit Unwillen. Er sucht die Einsamkeit auf,
alles Übrige wird ihm gleichgültig. Seine Stille wird nur zuweilen
von tiefem Atem und Seufzen unterbrochen.
Längst haben sich zu den psychischen Symptomen körperliche
gesellt. Diese laufen in drei Stadien ab. Im ersten bemerkt man
traurigen Blick, blasse Wangen, die psychischen Symptome sind
jedoch auffallender. Im zweiten tritt verminderte Eßlust, kachekti-
sehes Aussehen, mühsame und schlechte Verdauung ein. Sekretion
und Exkretion sind gestört. Matter Puls, klopfender beschleunigter
Herzschlag, Abnahme der Temperatur, Abmagerung, allgemeines
Sinken der Kräfte. Im dritten Stadium stellt sich hektisches Fieber,
Abzehrung und Durchfall ein. Wassersucht führt dann bald zum
Tode. Und noch im Tode denkt der Kranke an seine heiß ersehnte
Heimat.
Kurz bespricht Zangerl seiner Einteilung entsprechend die
anderen Arten von Heimweh, empfiehlt z. B. beim verheimlichten
das Belauschen, erinnert beim simulierten an das Wort Senecas
„curae leves loquuntur, ingentes stupent“. Beim komplizierten be¬
merkt er, daß sich das fieberhafte Heimweh vom Nervenfieber
unterscheide durch die unglaublich schnelle Erholung, die bei ge¬
gebener Hoffnung, in die Heimat zurückkehren zu können, eintrete.
Bei der Schilderung der Entstehungsweise der Nostalgie findet
Zangerl in echt intellektualistischer Psychologie, daß zunäehst das
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Heimweh und Verbrechen.
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Vorstellungs vermögen, dadurch die Gefühlssphäre, schließlich das
Begehrungsvermögen ergriffen werde. Der Kranke wird erst nach¬
denkend, vergleicht seine jetzige Lage mit der früheren in der Heimat
und kömmt zu dem Schlüsse, daß diese jener vorzuziehen sei. In¬
folge dieser Vorstellung und der unangenehmen Eindrücke, die er
in der Fremde empfindet, erwacht das Gefühlvermögen, er fühlt,
daß alles, was seinem Herzen teuer war und Nahrung gab, jetzt
mangle und daraus entsteht dann das lebhafte Begehren, der beiße
Wunsch, in sein früheres heimatliches Glück zurüokzukehren. Wird
diesem Wunsche nicht entsprochen, so folgt eine Reihe körper¬
licher Leiden.
Hat der Kranke einmal die Vorzüge der Heimat vor der Fremde
erkannt, so erlangt die Tätigkeit des Vorstellungsvermögens eine
einseitigere Richtung, nur jene Bilder, die Bezug auf das Vaterland
haben, werden reproduziert. Durch diese Einschränkung wird er für
alle anderen physischen und geistigen Eindrücke gleichsam unzu¬
gänglich gemacht. Der Verstand wird gehemmt. Diese einseitigen
und so gearteten Vorstellungen rufen nach und nach einen Gemüts¬
zustand herbei, in welchem der Kranke verstimmt, traurig, ver¬
drießlich ist, nur noch Gefühl für sein Vaterland bat, an keinen
Vergnügungen mehr teilnimmt, die Einsamkeit sucht.
Durch die eine dominierende Vorstellung und durch die Macht
der beherrschenden Gefühle wird die ganze Tätigkeit des Begeh¬
rungsvermögens angeregt und auf die Erfüllung eines einzigen
Wunsches gerichtet, nämlich heimzukommen, auch wenn der Tod
ihm droht oder ewiger Kerker.
Sekundär wird der Körper ergriffen. Durch die unausgesetzt
einseitige Tätigkeit der Seele entsteht Schlaflosigkeit, lebhaftes
Träumen, Kongestionen zum Kopf, Kopfschmerzen. Durch die Macht
der deprimierenden Gefühle wird die Vitalität des gesamten Gefäß-
und Nervensystems herabgesetzt. „Je mehr die Einbildungskraft
durch ihre angestrengte Tätigkeit die Nervenkraft an sich zieht,
desto mehr wird letztere antagonistisch den größeren Nervenge¬
flechten des Unterleibs entzogen, somit auch das ganze Geschäft
der Reproduktion in Unordnung gebracht.“
Andere Ansichten von der Entstehung der Nostalgie (Hofer,
Seheuchzer, Larrey) weist er zurück.
Des weiteren zählt Zangerl eine Reihe erregender Ursachen auf,
denn das Heimweh schlummert nicht selten wie das Feuer unter
der Asche und es ist unglaublich, welch eine geringe Veranlassung
oft zureicht, es in helle Flammen ausbreehen zu lassen. Solch
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I. K. Jaspers
erregende Momente seien plötzliche Eindrücke, die die Erinnerung
an die Heimat wecken, ein Brief, der Anblick von Landsleuten, der
Nationaltracht, der vaterländischen Tiere. „Doch von allen erregen¬
den Ursachen wirkt keine mit einem solchen magischen Zauber
als die vaterländische Musik“. Bei den Schweizern ist es der Kuh¬
reihen, bei den Tirolern das Jodeln und die Kuhglocken, bei den
Steyrern der Wechselgesang über die Berge, bei den Schotten die
Sackpfeife.
Die Tatsache, daß die nördlichen und die Gebirgsvölker am
meisten von Heimweh ergriffen würden, gibt wieder den Anlaß
zu einer psychologischen Erörterung. „Die psychische Ursache liegt
in der ungleichen Ausbildung der Seelentätigkeiten dieser Völker
Jeder Mensch fühlt das Bedürfnis einer psychischen Tätigkeit. Seine
Seele fordert Nahrung. Wird sein Verstand ausgebildet, so fehlt es
seiner Seele nie an neuen Stoffen zur genußvollsten Tätigkeit.
Ebenso steht seiner Einbildungskraft, wenn sie geübt und in ge¬
höriger Richtung befriedigt wird, ein unermeßliches Feld zu immer
neuen Reizen und Genüssen zu Gebote. Nun sehen wir aber, daß
der Verstand der Bewohner der nördlichsten Gegenden und hoher
Gebirge im allgemeinen nicht in jener Richtung ausgebildet ist, um
in höherer Geistesbeschäftigung Reiz zu finden. Dagegen sind ihm
von frühester Jugend an Gefühle der Hauptgenuß des Lebens. Ab¬
gesondert wie er lebt, heftet sich sein Herz nur an seine Familie,
seine Herden, Wiesen und Alpen, diese einzigen Gegenstände seiner
Liebe, seiner Aufmerksamkeit und Vertraulichkeit. Diese bilden
den ausschließlichen Kreis seiner Vorstellungen, Empfindungen und
Wünsche. Diese prägten sich unauslöschlich seiner beschränkten
Phantasie ein und bildeten die Summe des unentbehrlichsten Lebens¬
genusses.
Wird ein Mensch dieser Art aus dem kleinen Kreise seiner
Familie, aus dem Schoße seines einsamen und einfachen Lebens
herausgerissen, so ist er nicht imstande, sich in die neuen Verhält¬
nisse zu fügen, die fremden Gegenstände aufzufassen und zu ver¬
arbeiten. Andererseits entbehrt er alles, was seinem Herzen und
seiner Phantasie teuer ist, alles was ihm die Hauptquelle des Ge¬
nusses war, und findet für den ungeheuren Verlust nirgends Ersatz.
So mangelt seiner SeelA Stoff zur Tätigkeit. Was den Verstand und
die Einbildungskraft erregen und in Übung setzen könnte, dafür
fehlt die Empfänglichkeit, und was für das Herz Nahrung wäre,
dazu fehlt der Stoff. Die Folge dieses Zustandes ist eine fürchter¬
liche Leere, eine unüberwindliche Langeweile, der bald die Sehn-
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Heimweh und Verbrechen.
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sucht nach der Heimat folgt. Alle anderen Vorstellungen und
Empfindungen verlöschen und die ganze Seelenkraft ist in dem
einzigen Gefühle der Heimsehnsucht zusammengedrängt.
Ähnliche Ansichten hat schon Alibert (Physiologie des passions
tome II. Brüssel 1825 p. 223. zit. nach Jessen), von dem Zangerl
anscheinend unabhängig ist, geäußert: Die Liebe zur Heimat zeigt
6ich mit der größten Energie bei den ganz unzivilisierten Völkern.
Die Lebensweise des Wilden ist durchaus geeignet, seine ersten
Beziehungen zu verstärken, welche eine süße Gewohnheit ihm teurer
macht als sein Leben. Der Instinkt, welcher ihn stets zur Natur
zurückführt, läßt ihn in der Welt nichts erblicken als die Gegenden,
wo er seine Beute erhascht, den Bach, welcher seinen Durst gestillt,
das Moos, worauf er ausgeruht, die Hütte, worin er geschlafen hat.
Der wiederholte Eindruck dieser Gegenstände, um so stärker je weni¬
ger sie abwechseln, identifiziert ihn mit denselben und bildet un¬
merklich die unzerstörbaren und rührenden Bande, welche die ein¬
fachen Völker an ihr Geburtsland fesseln.
Es folgt nun bei Zangerl eine eingehende Betrachtung des
Heimwehs bei verschiedenen Völkern, dann einige Bemerkungen
über Dauer und Ausgang der Krankheit. Sie kann in Heilung
übergehen, in andere Krankheiten (Melancholia attonita, Tuber¬
kulose, Krebs, Abortus, Nervenfieber) oder in den Tod, sei es durch
die Krankheit selbst oder durch Selbstmord. Schließlich kann sie
auch die Ursache von Verbrechen werden.
Der Leichenbefund gibt wenig Aufschluß, die erhobenen Be¬
funde (Larrey, Auenbrugger, Ebel, Devaux) rühren von
Komplikationen her.
Die dritte größere Arbeit hat P. Jessen zum Autor. Er faßt
die Angaben früherer Schriftsteller noch einmal mit einer gewissen
Kritik zusammen. Er wiederholt die Erzählungen merkwürdiger Heim¬
wehhandlungen von Negern, von dem Otaheiter usw., insbesondere
gibt er eine sehr eingehende Zusammenstellung der Symptome des
Heimwehs, auf die man sich in forensischen Fällen wohl berufen hat.
Das Verlangen nach der Heimat oder, weil auch bei Verände¬
rungen des Wohnortes vorkommend, nach den früheren Verhält¬
nissen erzeugt Unzufriedenheit mit der Gegenwart. Der Mensch
wird mutlos, niedergeschlagen, teilnahmlos und gleichgültig. Die
Unlust zur Arbeit steigert sich bald zur Unfähigkeit. Das Nerven¬
system wird krankhaft empfindlich. Der verdrießliche Kranke ver¬
abscheut die fremden Sitten, erträgt Scherze, Neckereien und das
geringste Ungemach nur mit dem größten Unwillen.
Achriv für Krimmal&nthropologie. 86. Bd. 2
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Während die wahre Ursache der Verstimmung aus Scham ver¬
heimlicht wird, schützt der Patient andere Übel vor. Still, in sich
gekehrt, einsilbig, wortkarg, verdrossen wie er ist, sucht er gern
die Einsamkeit und überläßt sich auf Spaziergängen in Feld und
Wald seinen sehnsüchtigen Gefühlen und den Träumen seiner
Phantasie.
In Blick, Miene und Körperhaltung liegt der Ausdruck des
Mißmutes, der Schwermut. Die Gesichtsfarbe wird blaß, das Auge
matt, häufig tränend, es wird nur mühsam geöffnet gehalten. Das
Atmen wird schwer, unterbrochen, von häufigem Seufzen begleitet,
der Puls ist unregelmäßig. Bei leichtester Anstrengung, geringster
Gemütsbewegung klopft das Herz. Der Appetit schwindet, Ver¬
dauung und Ernährung, Sekretion und Exkretion werden gestört.
Unter Kongestionen zu Kopf und Brust tritt Blässe, Kälte, Ab¬
spannung, Abmagerung, Entkräftung auf. Von den Organen wird
besonders der Magen beteiligt. Auch der Geschlechtstrieb soll
schwinden.
Die Schlaflosigkeit wird von leichtem Schlummer mit Träumen
von der Heimat unterbrochen. Nachtwandeln, bei dem der Kranke
sich in die Heimat versetzt fühlt, soll Vorkommen. Im weiteren
Verlauf stellen sich Delirien, Halluzinationen, Abstumpfung der Sinne,
allgemeine Unempfindlichkeit ein. Hektisches Fieber kommt hinzu.
„Der Tod erfolgt an gänzlicher Erschöpfung, Marasmus oder Tabes
nervosa“.
Der tödliche Ausgang soll bei ausgebildeter Nostalgie die Regel
sein. Auch plötzlicher Tod, wie asphyktisch, sei beobachtet (bei
Soldaten, die am selben Tage starben, als ihnen der Abschied ver¬
weigert wurde).
Unwiderstehliche und blinde Triebe treten bei Nostalgischen
auf, um sich aus der traurigen Lage zu befreien. Sie begehen
Selbstmord, stürzen sich aus dem Fenster, setzen sich den größten
Beschwerden und Gefahren aus, schreiten zu Gewalttätigkeiten,
Brandstiftung und anderen Verbrechen.
Im Anschluß an Alibert und Zangerl findet Jessen eine
Hauptursache des Heimwehs in der Enge des Horizontes. Wer zu
geistig freiem selbsttätigem Leben erwacht ist, vermag überall
auf der Welt seine eigene Existenz mit der Umgebung in Einklang
zu setzen. Wer zu solcher Selbsttätigkeit nicht gelangt ist, bleibt
gleichsam mit der ihn umgebenden Außenwelt verwachsen, alle Ge¬
fühle und Gedanken sind in ihr festgewurzelt und nur auf die
nächste Umgebung, Wohnung, Garten, Gewerbe, Familie gerichtet.
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Heimweh und Verbrechen.
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Entfernung aus der Heimat ist dann nicht mit einem Verlust von
äußerlichen Dingen verbunden, sondern mit einem Losreißen von
allem, worin der Mensch bisher gelebt hat, und mit seiner Heimat
verliert er gleichsam die Hälfte seines Ich. Aus diesem Grunde
werden Kinder und junge Leute am schmerzlichsten durch die
Entfernung aus der Heimat berührt und besonders solche, deren Er¬
ziehung und Unterricht vernachlässigt wurde.
Der Ausbruch der Nostalgie erfolgt um so leichter, je größer
der Kontrast der neuen Verhältnisse gegen die alten ist, je mehr
die Entfernung aus der Heimat eine gezwungene und je weniger
Hoffnung auf Rückkehr vorhanden ist. Sie wird befördert durch
Ungemach aller Art, Strapazen, Mißgeschick, ganz besonders aber
durch körperliche Krankheit.
In bezug auf das Wesen der Nostalgie kritisiert Jessen die
Ansichten von Hofer, Friedreich, Larrey, Broussais (der
1828 die Affektion des Gehirns in der Nostalgie für die Folge
primärer gastrischer Entzündungen erklärte) und Amelung. Er
selbst findet besonders auffallend, daß die Nostalgie so schnell und
sicher töte, während die Melancholie das Leben selten gefährde,
daß bei der Nostalgie im Gegensatz zur Melancholie alle Organe
gestört und ihre Lebenskräfte erschöpft werden und schließlich,
daß die Nostalgie durch Beseitigung der Krankheitsursache so schnell
und sicher geheilt werden könne, während die Melancholie sich
lange hinziehe. Hieraus schließt er, daß bei der Nostalgie vor¬
wiegend Medulla oblongata und Rückenmark als Träger des instinkt¬
artigen Seelenlebens ergriffen seien, während bei der Melancholie
das Gehirn als Sitz der bewußten Gemütstätigkeit den Locus morbi
darstelle. Aus dieser Theorie erklärt er die Prädisposition un¬
kultivierter Menschen und junger Individuen mit vorwiegend unbe¬
wußtem Seelenleben, die Möglichkeit des Sohlummerns der Nostalgie,
die dann plötzlich geweckt, aber auch ins Unbewußte zurückgedrängt
werden kann, das Nachtwandeln und die körperlichen Folgeer¬
scheinungen. Er hält die Auffassung Hofers für gut, dessen
Lebensgeister, zu Unrecht vergessen, das unbewußte Seelenleben
repräsentieren, daß zwar zum Bewußten in mannigfachen Beziehun¬
gen stehe, aber gleichwohl ein selbständiges Dasein führen könne.
Im Laufe der Zeit waren neben diesen größeren Schriften auch
eine Reihe von Dissertationen über Nostalgie erschienen, die unter
unvollständiger Wiederholung älterer Angaben ein schematisches
Krankheitsbild entwerfen mit Ätiologie, Symptomatologie, Diagnostik,
Prognose, Therapie, ohne daß man ihnen einen eigenen Wert zu-
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sprechen könnte. (Andresse, Grundtmann, Matthaei,
Chatelain).
Es scheint, daß trotz der zahlreichen Heimweharbeiten, ob¬
gleich auch in fast allen Lehrbüchern die Nostalgie kurz notiert
war, dieser Krankheitsbegriff in der Mitte des Jahrhunderts in
ziemliche Vergessenheit geraten war, wenigstens meint L. Meyer 1 )
(1855), daß das Heimweh noch weniger Berücksichtigung als in den
Kliniken in den klinischen Handbüchern finde, worauf Damerow
in seinem Referat der Meyerschen Arbeit die Literatur rekapituliert
und hinzufügt, daß mit dem Aufhören der Ursachen des Heimwehs
wegen der veränderten Reise- und Lebensverhältnisse und Anschau¬
ungen auch die Literatur darüber nachgelassen habe, wie das bei
manchen anderen nach näheren oder entfernteren Ursachen benannten
psychischen Krankheitsarten der Fall sei.
Meyer nun veröffentlicht 1855 5 Fälle von Wahnsinn aus
Heimweh.
Ein von jeher stilles, langsames, unbehilfliches Mädchen von
24 Jahren nimmt nach langem Zureden von Braunschweig aus einen
Dienst in Berlin an. Sie kam zum ersten Male aus dem Elternhause,
betrieb die Vorbereitungen zur Abreise schwerfällig und war noch am
Tage der Abreise ängstlich. In Berlin wurde sie durch Besuche des
dort anwesenden Bräutigams und die freundliche Behandlung in der
ersten Zeit aufgeheitert, doch die Ängstlichkeit wich auch nach mehreren
Wochen nicht von ihr. Sie wurde mit der Arbeit so schlecht fertig wie
in den ersten Tagen. Oft saß sie verträumt im Winkel und weinte.
Appetitabnahme, schlechtes Aussehen. „Es sei ihr so schwer in den
Gliedern gelegen, daß sie sich zu jeder Arbeit habe zwingen müssen.
Sie sei traurig gewesen ohne zu wissen warum. Alles sei ihr fremd
vorgekommen. Dann sei es ihr wieder gewesen, als sei sie nur von
Bekannten umgeben, daß jeden Augenblick Mutter oder Schwester berein-
treten müsse.“ Stimmen der Leute hielt sie für solche heimatlicher
Bekannter, bis sie sich vom Irrtum überzeugte. Eine Nacht sah sie
Mutter und Schwester umhergehen. Die nächste Nacht wieder. Sie
stand auf, um der Schwester Geld zur Rückreise zu geben, wurde auch
tatsächlich mit mehreren Talern in der Hand ins Bett zurückgebracht.
Eines Tages blieb sie im Bett, hatte Gliederschmerzen, Schwere im
Kopf und im ganzen Körper, sprach wenig, aß nichts, kam in wenigen
Tagen sehr herunter, fühlte sich zu schwach zum Erheben, stand aber
nachts auf und phantasierte. Bei der Untersuchung starrer Blick, ver¬
fallenes Aussehen, schmerzlicher Gesichtsausdruck. Unaussprechliche
Schwere in Kopf und Gliedern ohne Schmerzen. Druck am Herzen,
daß der Atem benommen werde. Obstipation. Bei der Exploration wird
sie lebhafter und munterer. Im Laufe von 10 Tagen gelang es durch
freundliche Aufmunterung der Umgebung, sie aus dem Erstarren immer
1) Später Professor in Göttingen.
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Heimweh und Verbrechen.
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mehr herauszubringen. Zuweilen noch Angst, leichtes Weinen. Sie
wird die Nostalgie wohl gänzlich überwinden, meint Meyer, sodaß
man ihre Krankheit als Akklimatisationskrise anffassen dürfte.
Nach der Schilderung scheint es am wahrscheinlichsten, daß
cs sich bei dem Mädchen um eine vielleicht durch Heimweh be¬
förderte cyclothyme Depression gehandelt hat.
Der zweite Fall betrifft ein Mädchen, das in der zwei Monate
dauernden Depression die Angehörigen sah, glaubte, vergiftet zu werden
und beleidigende Stimmen hörte. Von einer typischen Heimweh¬
psychose liegt nichts vor. Die übrigen Patienten sollen an Nostalgie
mit Verfolgungswahn, mit ekstatischer Manie und Halluzinationen
gelitten haben, ohne daß Heilung beobachtet wurde.
Schon Damerows Kritik betont, daß die Fälle sämtlich zweifel¬
haft seien. Es ist möglich, daß der ausführlicher referierte Fall
jenen seltenen Vorkommnissen nahesteht, wo junge Mädchen, die
zum ersten Male von Hause kommen, zunächst Heimweh haben, aus
dem sich dann eine Psychose entwickelt, die auch bei Rückkehr
nach Hause nicht heilt, sondern einen selbständigen Ablauf vom
Typus einer cyclothymen Depression nimmt. Doch ist die Zu¬
gehörigkeit solcher Fälle zum manisch-depr. Irresein in engerm Sinne
zweifelhaft, sie könnten vielleicht in das Übergangsgebiet zwischen
dieser Krankheit und den degenerativen Reaktionen fallen.
Neben seinen Krankengeschichten gibt Meyer eine kleine
launige Abhandlung über die Nostalgie. Der schwärmerischen Vor¬
stellung vom Heimweh der Schweizer werde die Poesie abgestreift
dnreh die Erfahrung, daß die armseligsten Bewohner einsamer Nord¬
seeinseln, ferner Eskimos ebenso an diesem Übel laborieren, das
von gewissen Zuständen der Gesellschaft abhängig sei und mit der
Ausbreitung und Entwickelung der Kultur immer mehr verschwinde.
In den Kliniken, wo man scharf ausgesprochene Symptome und
klare Fälle liebe, werde die Nostalgie selten beobachtet. Aber für
diese Vernachlässigung des zarten Gastes, zu dessen Ergreifen mehr
phantasiereiches Umfassen des Ganzen als scharfes Beobachten und
Klassifizieren des Einzelnen gehöre, rächt er sich wie ein neckischer
Geist nicht selten an dem erfahrenen Praktiker, verwirrt ihm die
Pulslehre, entschlüpft unter verschiedenen Verwandlungen. Eine
solche Spukgeschichte hat Meyer unter seinem Lehrer Marcus in
der medizinischen Klinik in Würzburg erlebt.
Dieser stellte einen 16jährigen ziemlich kräftigen Burschen vor,
der aus einem Schwarz Wälder Dorfe gebürtig, seit 4 Wochen in Würz¬
burg war, um sein Handwerk zu lernen. Er war so bedenklich er¬
krankt, daß man ihn wegen Nervenfieber in die Klinik brachte. Mehrere
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Tage vor der Aufnahme hatte er nichts gegessen, war abgeschlagen
in den Gliedern, mußte sich legen, klagte Uber Kopfschmerzen. Jetzt
schien der Kranke sehr schwach, lag ohne sich zu rühren auf dem
Rücken, Augen und Mund geöffnet, antwortete nur auf wiederholte
Fragen und sehr unvollständig. Er forderte weder Speise noch Trank
und aß nur, wenn ihm der Löffel an die Lippen gesetzt wurde. Die
objektiven Symptome waren weniger beunruhigend, der Kopf nicht
übermäßig heiß, ein kleiner weicher Puls von normaler Frequenz. Nach
verschiedenen Debatten einigte man sich, die Erscheinungen als gelinde
Vorläufer eines Typhus zu betrachten. Einige schlugen schon Coupier-
methoden vor, als plötzlich Marcus dem Kranken lächelnd auf die
Wange klopfte und ihn kräftig anredete, „Bürschle, wenn du tüchtig
essen und einen Schoppen Wein trinken willst, so soll dich morgen der
Stelhvagen heimbringen“. „Als ich mittags in den Saal kam, spazierte
der Typhuskranke lustig umher, er hatte seinen Schoppen geleert und
seine nicht geringe Portion gegessen, fühlte indes noch einigen Hunger.“
In den Lehrbüchern käme die Nostalgie noch schlechter weg
wie in den Kliniken, sie werde kurz erwähnt und unbestimmt
geschildert. Ihr Verlauf könne durch Darniederliegen aller Funktionen
tödlich werden. Es könne auch das erste Stadium der eigentlichen
Stimmungskrankheit überwunden werden, oder auch es können sich
wie bei allen Geisteskrankheiten (lypcmanie systematisöe) die ent¬
sprechenden Vorstellungsweisen zu mehr weniger bestimmten Kom¬
plexen entwickeln. Die Nostalgie vvandle sich dann in Verfolgungs¬
wahnsinn, ekstatische Tobsucht, hypochondrische Melancholie usw. um.
Aber man darf die Nostalgie nicht verwechseln mit der aktiven
Sehnsucht eines bewußten energischen Geistes, mit der sie keine
Ähnlichkeit hat. „Der Jammer des Exilierten, dem der Sieg einer
feindlichen Partei das Vaterland geraubt, die Trauerlieder eines Ovid,
selbst die kläglichen Episteln Ciccros aus der Verbannung haben
nichts gemein mit der betäubenden Hilflosigkeit eines Nostalgischen.
Wir haben schon oben die Lächerlichkeit berührt, das Heimweh als
die Sehnsucht eines zarten Gemüts nach der erhabenen Szenerie
und dem idyllischen Leben einer heimatlichen Landschaft aufzu¬
fassen. Der beschränkte Bildungsgrad und die meist träge Natur
der an Nostalgie Leidenden eignet sich am wenigsten für eine der¬
artige ästhetische Auffassung. Nimmt die Poesie demnach das Heim¬
weh in diesem Sinne zum Vorwurf ihrer Darstellungen, so ent¬
sprechen die Empfindungen, welche jene Vorstellungen erwecken,
am allerwenigsten den Empfindungen des Heimwehs. Das Heimweh
ist eine passive asthenische Geisteskrankheit, ihre Symptome sind
Symptome eines individuellen Mangels, sind Schwächesymptome.
Es scheint in seiner ersten Entfaltung mehr die Reaktion des Ge-
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Heimweh und Verbrechen.
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raütes gegen die Hilflosigkeit einer schwachen und seiner gewöhn¬
lichen Stütze beraubten Intelligenz zu sein. Es ist ein testimonium
paupertatis“. Daher liegt die Ursache der Nostalgie in bornierten
Ortsverhältnissen und Beschäftigungen. Es handelt sich meist um
eine stabile, sich im Kreise derselben Beschäftigung drehende Be¬
völkerung, in welcher die Disposition zum Heimweh am reichlichsten
entsteht. Das isolierte Leben, der Stumpfsinn prädisponiert. Dem
entsprechen Beobachtungen beim Militär. Im Garderegiment zeichne
sich die westfälische Kompagnie intensiv und extensiv durch ihre
Nostalgie aus. In Westfalen leben die Leute auch in isolierten
Bauernhäusern hinter Bäumen und Hecken in sehr beschränktem
Horizont. Solche unter dem Einflüsse derselben eintönigen Formen
beschränkt gewordene Individuen verfallen in eine Art Betäubung,
wenn man sie plötzlich in eine ganz neue Welt bringt. Es ist zu
verwundern, daß dies nicht häufiger geschieht. „So wenig ihr Ge¬
schmack den Widerwillen gegen eine fremde Speise überwinden
kann, so wenig ist ihr Gehirn imstande, die große Menge fremd¬
artiger Objekte zu bewältigen.“
Was die mitgeteilten 5 Fälle betrifft, so handelt es sich um
Dienstmädchen, die ihre Heimat zum ersten Male verließen, um in
Berlin ihr Fortkommen zu finden. Alle waren sogenannte gemüt¬
liche, zu rührenden Herzensergießungen geneigte Wesen. Durch die
stark kontrastierenden Verhältnisse und die anfänglichen Mißhellig¬
keiten, die zum Teil wohl schon Symptome der Krankheit waren,
kam diese zum Ausbruch, deren eigentlicher Grund von allen ver¬
borgen wurde oder dessen sie sich vielleicht auch gar nichb mehr
bewußt waren. Das ist so bei allen Melancholischen, sie teilen eher
alles andere mit, als die Veranlassung ihrer Krankheit. Sind doch
schon im normalen Seelenleben die tiefsten Schmerzen solche, über
welche man den Grund der Schmerzen vergißt. Schließlich hatten
alle 5 Patienten Halluzinationen oder Illusionen von Eltern, Ge¬
schwistern oder sonstigen näheren Bekannten.
Soweit Meyer. Obgleich er das Thema von großen Gesichts¬
punkten anzusehen versuchte, insbesondere die Beziehung des patho¬
logischen Heimwehs zur physiologischen Begrenztheit des Horizonts
wie Zangerl erkannte, vermochte seine Arbeit doch nicht eine
selbständige Heirawehpsychose sicher zu stellen. In Deutschland
ist nach ihm keine größere Arbeit über die Nostalgie erschienen.
Die Blütezeit der Heimwehliteratur war mit den drei größeren
Schriften von Zangerl, Sohlegel und Jessen vorüber. Es wurde
noch hier und da erwähnt, aber in größeren Kreisen immer mehr
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I. E. Jaspers
vergessen. Die Heimwehpsychose verschwand fast ganz and die
Fragen beschränkten sich auf das forensische Gebiet.
Immerhin ist es von Interesse, einige der Orte auch bei hervor¬
ragenden Psychiatern, zu verzeichnen, wo die Nostalgie noch ein
Dasein fristete.
Längst hatte sie einen Platz in den Lehrbüchern gefunden.
Esquirol erwähnt den Selbstmord aus Heimweh. In deutschen
Lehrbüchern wird die Nostalgie meist als Unterform der Melancholie
aufgezählt. Buzorini (1832) unterscheidet das wenn auch heftig ge¬
steigerte Heimweh, das doch mit Beseitigung der Ursache schwindet,
von den aus diesem Heimweh entstehenden selbständigen Krankheiten.
Bird (1836) macht auf die Nostalgie als auf ein eindrucksvolles
Beispiel von der Wirkung der Seele auf den Körper aufmerksam,
gibt ihr sonst keine selbständige Stellung, sondern betrachtet sie als
eigenartige Form der Melancholie. Ebenso Guislain, der ihr Vor¬
kommen bei der Armee im Krieg, bei Reisenden, in Klöstern und
Gefängnissen erwähnt. Er selbst habe es in Belgien nicht beob¬
achtet. Als Ursache von Geistesstörungen wird das Heimweh von
Schüle aufgeführt. In Griesingers Lehrbuch findet es als Unter¬
art der Melancholie ebenfalls eine Stelle in allen Auflagen. Ins¬
besondere geht er auch auf die forensische Beurteilung ein.
Emminghaus führt die Nostalgie als eine durch spezifische
psychische Ursachen bedingte Seelenstörung auf, die sympto-
matologisch zur Gruppe der Melancholie gehöre. Sie komme be¬
sonders bei jungen Landmädchen weiblichen Geschlechts vor und
könne .je nachdem Formen von einfacher trauriger Verstimmung
mit Zwangsvorstellungen, Schwermut und Angst, Sinnestäuschungen,
Wahnideen, Melancholie mit Zerstörungsimpulsen annebmen. Im
letzten Falle führe sie zu Gewalttaten, Brandstiftung und Mord
Pflegebefohlener Kinder. Appetitmangel, Schlaflosigkeit, Furcht und
Angst in der Nacht seien häufige Symptome. Bei Arndt (1883)
erscheint die Melancholia nostalgica. Meynert (1890) sagt von der
Nostalgia, daß sie sich als besondere Ursache mit der Amentia ver¬
binden könne und noch Mendel in seiner Abhandlung über Melan¬
cholie in Eulenburgs Realenzyklepädie referiert das alte Bild der
Nostalgia als Varietät der Melancholie, bei der sich lebhafte Hallu¬
zinationen von der Heimat, Angst, Seufzen, Hitze des Kopfes, Puls
beschleunigung, Nahrungsverweigerung, Abmagerung einstelle und
nach melancholischen Delirien der Tod durch Phthise oder Selbst¬
mord erfolge. Auch in die englische Literatur ging das Krankheits¬
bild über. Kellogg (1897) schreibt, daß die Nostalgie unter der
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Heimweh und Verbrechen.
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Melanoholia simplex einea besonderen Platz verdiene. Sie trat in
Armeen epidemisch auf, der Patient magert ab, hat Visionen der
Heimat, verzweifelt, begebt Selbstmord, Mord oder Brandstiftung
oder stirbt in einem deprimierten Zustand und Marasmus.
Französische Heimwehliteratur.
Die französische Literatur geht ihre eigenen von der deutschen
getrennten Wege. Ihre Arbeiten beruhen meist wie die deutschen
auf dem ersten Nostalgieautor Hofer, berücksichtigen aber nicht
die späteren deutschen Schriften. Insbesondere bleibt ihnen die
forensische Heimwehfrage ganz fremd, mit Ausnahme Marcs. Dieser
referiert in seinem Werke „Geisteskrankheit in Bezieh, z. Rechts¬
pflege" die Ansichten des Masius ziemlich wörtlich, ohne etwas
Neues hinzuzfügen. Im übrigen zeichnen sich die französischeu
Arbeiten durch viel Poesie, gewandte lebendige Darstellung, aber
auch durch Einseitigkeit und Kritiklosigkeit aus.
Nach der langen Reibe kleinerer Schriften, die im Laufe des
Jahrhunderts meist als Thesen erschienen, wurden in den siebziger
Jahren zwei umfangreiche Arbeiten (Haspel und Be noist) ver¬
öffentlicht, die in ziemlich verschiedener Weise die Einzelheiten der
früheren zusammenfassen. Es wird genügen, wenn wir nach einer
kurzen Übersicht der älteren diese beiden etwas eingehender
referieren, um ein Bild der französischen Forschungen zu gewinnen
Eine vollständige Besprechung aller würde wegen der Unzugäng¬
lichkeit der meisten auch kaum möglich sein.
Pinel soll die Nostalgie in einer eigenen Arbeit behandelt
haben. Esqpirol erwähnt sie. Nach den vielen kleineren
Schriften zu Beginn des Jahrhunderts erschien 1821 die oft zitierte
Arbeit Larreys, die durch zweimalige Übersetzung auch eine Ver¬
breitung in Deutschland erfuhr und deren Inhalt schon wieder¬
gegeben wurde. Die vielen weiteren Schriften sind aus dem Literatur¬
verzeichnis zu ersehen. 1856 konstatiert Brierre de Boismont
13 mal Nostalgie als Ursache des Selbstmords. 1858 schreibt
Legrand du Saulle eine Studie über die Nostalgie, deren
ästhetischer Reiz in einem kurzen Referat nicht vviedergegeben
werden kann, deren wissenschaftliche Bedeutung im übrigen nicht
groß ist. Die ersten Eindrücke des zarten Jugendalters müssen sehr
lebhaft sein und mit großer Kraft der Seele innewohnen, daß die
schönsten Gegenden der Welt nicht die bescheidenen Orte, wo wir
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die Augen zuerst öffneten, zum Vergessen bringen können, ln
dieser Sehnsucht, die der Quell reiner und süßer Freuden ist, liegt
auch der Keim einer traurigen Seeleneffektion, unter der wir in
verschiedenem Grade leiden, von der aber niemand ganz befreit
bleibt. „Keine Jahreszeit begünstigt so die Entwickelung des Heim¬
wehs wie der Herbst. Das Fallen der Blätter, die Öde des Landes,
die kurze Zeit, die die Sonne den Horizont erleuchtet, der unauf¬
hörliche Regen, der schnelle Witterungswechsel und die feuchte
Kälte fixieren tatsächlich oft unseren Geist auf melancholische Ge¬
danken. Die Tagesstunde, die am meisten Anlaß zur Rückkehr des
Gedankens an geliebte Gegenstände bietet ist der Sonnenuntergang
dieser Augenblick, in welchem der Mensch eine Art ganz be¬
sonderer Müdigkeit, ein Unbehagen und eine ganz undefinierbare
Verlassenheit empfindet.“ Die eigentliche Nostalgie tritt besonders
in dem „Alter der Illusionen“ auf. Der junge Student, der Rekrut
leiden daran. Der typische Ablauf wird nach Müsset in drei
Stadien bis zum Tode geschildert. Wie eine Pflanze, die in fremde
Erde versetzt ist, welkt der Patient dahin. Für die Therapie ver¬
langt Legrand du Saulle ein zartes Vorgehen, um zum Herzen
des Patienten zu sprechen und sein Vertrauen zu gewinnen. Man
dürfe durchaus nicht austoßen. Der gemütskranke Mensch empört
sich gegen die Vernunft, wenn sie mit hoher, strenger und gro߬
artiger Stirn an ihn herantritt.
Die jetzt folgenden Arbeiten von Petrowitscb, Jansen,
Decaisne enthalten wieder in alter Weise Beobachtungen von
Krankheiten, bei denen Heimweh vorkam und die danD einfach
zur Nostalgie gerechnet wurden (Phthise, Typhus, Ikterus bei Jansen)
und bei P. werden neben körperlichem Verfall bis zum Tode, neben
Illusionen und Halluzinationen allerhand Monomanien, Dypsomanie
usw. als Folgen des Heimwehs behauptet.
Vivier in seiner Monographie über Melancholie schließt sich
der alten Auffassung an, daß die Nostalgie eine Unterform dieser
Krankheit ist. Er zählt die Symptome auf: reservierte und schweig¬
same Haltung, lange, faltige Gesichtszüge, Haarausfall, Abmagerung,
geringes Fieber, Appetitlosigkeit, trockener Husten, Kräfteverlust,
Bettlägerigkeit, Mutacismus, Sprechen mit sich selbst, Inkohärenz,
hohes Fieber, Tod. Die Nostalgie käme vor im Heer, bei einfachen
Völkerschaften und bei Freiheitsberaubung.
Die beiden Arbeiten von Haspel nnd Benoist erschienen auf
eine Preisfrage der Akademie im Jahre 1873. Weil Benoist als
der Vorgeschrittenere erscheint, besprechen wir zuerst Haspel.
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Heimweh und Verbrechen.
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Dieser hat auf Grund einer 40jährigen Erfahrung als Militär¬
arzt und einer sehr eingehenden Berücksichtigung der französischen
Literatur ein mit zahlreichen eigenen Beobachtungen versehenes
Werk veröffentlicht, das wohl das umfangreichste ist, das je über
das Heimweh geschrieben wurde.
Er hält die Nostalgie für eine sehr häufige Krankheit, wenn sie
auch durch die modernen Verkehrsverbindungen und den Ausgleich
der Unterschiede der Länder und Sitten abgenommen hat. Er be¬
klagt sich, daß man sie übersehen habe über das Studium der kör¬
perlichen Folgen, ja man habe sogar das Heimweh, die eigentliche
Ursache, für das Sekundäre gehalten. Hieraus geht der Standpunkt
des Verfassers deutlich hervor. Wo er überhaupt Heimweh findet,
hält er dieses für die eigentliche Krankheit. Was je als zusammen¬
treffend mit Heimweh beschrieben wurde, trägt er zusammen und in
der Absicht, alle Erscheinungsformen zu berücksichtigen, beschreibt
er neben der „einfachen Nostalgie ohne Komplikationen von seiten
der Organe des Körpers“ die „akute zerebrale Nostalgie“ (dazu
rechnet er die Fälle Larreys), mit Konvulsionen, Bewußtseinsver¬
lust usw., die „chronische zerebrale Nostalgie“, ferner die „akute“
und „chronische gastrointestinale“. Er konstatiert ihren ungünstigen
Einfluß auf den Ablauf von Pulmonal- und Pleuralaffektionen, ins¬
besondere auf die Phthisis, bei der schon Laönnec die Wirkung
trauriger Gemütsbewegungen betont habe. Weiter sollen Herzaflfek-
tionen, selbst Klappenfehler und Aneurysma durch Nostalgie ent¬
stehen. Corvisart habe Herzerscheinungen nach Kummer gesehen
und er schließt sich dessen Mahnung an, den „moralischen Menschen“
nicht zu vernachlässigen. Schließlich soll es noch eine „hektische
Nostalgie“ geben. Endlich steht das Heimweh in Beziehung zum
Ablauf epidemischer Krankheiten, die dadurch sehr verschlimmert
werden.
Alle diese einzelnen Gruppen werden von Haspel eingehend
in großer Breite geschildert. Viele „Beobachtungen“ sind eingestreut.
Diese sind kurz, ohne Methode in der Untersuchung, für moderne
Zwecke unbrauchbar. Trotzdem will er durch sie die „wenig ge¬
nauen Beobachtungen der Ärzte des ersten Kaiserreichs“ (Larrey,
Desgenettes, Broussais, Laurent und Percy) ergänzen.
Das Vorwort, mit dem Benoist de la Grandiöre sein Buch
eröffnet, ist vertrauenerweckend. Er will kein literarisches, sondern
ein medizinisches Bild der Krankheit geben und die Zitate aus
Dichtern durch Beobachtungen von Ärzten ersetzen. Doch sind diese
Beobachtungen in keiner Hinsicht besser als die seiner Vorgänger;
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I. K. Jaspers
sie sind zahlreich, aber alle so allgemein und novellistisch gehalten,
daß man nicht einmal die Überzeugung gewinnt, es liege eine Krank¬
heit vor, oder wenn dies der Fall ist, sie rühre vom Heimweh her.
Er faßt, was seine Vorgänger geschrieben haben, zusammen, das
Heimweh bei verschiedenen Völkern, seine Ursache in Alter, Ge¬
schlecht, Erziehung, sozialer Stellung. Er schildert in plastischer
Weise die Symptome der psychischen Alteration, vermeidet, alle
möglichen Krankheiten zur Nostalgie zu zählen, sondern betrachtet
sie als zufällige Komplikationen. Daß ein pathologisch-anatomischer
Befund dem Heimweh entspräche, bestreitet er, betrachtet es als
eine Neurose des Gebietes des Zentralnervensystems, wo die Ein¬
bildungskraft ihren Sitz habe. Ziemlich eingehend berührt er die
Geschichte der Heimwehlehre. Das Heimweh als Ursache von Ver¬
brechen kennt er nicht.
Das Buch Benoists hat auch in Deutschland Anerkennung
gefunden. Es ist in der allgem. Zeitschr. f. Psychiatr. eingehend
referiert und neuerdings sogar in Ziehens Lehrbuch angeführt.
Nach Benoist ist die Nostalgie in der französischen Psychiatrie
nicht vergessen worden, Dagonet (Traite des maladies mentales
1876,p. 218} beschreibt sie, Ansichten von Pinel, Larrey, Benoist
referierend, eingehend als lypömanie nostalgique.
Proal 1 ) findet das Heimweh bei Kindern als Ursache von
Selbstmord. Bei der Rückkehr der Zöglinge ins Lyzeum nach den
Ferien entstehe manchmal ein Kummer bis zum Lebensüberdruß.
Er führt Renan an, der in seinen „Souvenirs d’enfance“ erzähle,
daß er im Lyzeum krank wurde und nabe daran war, an Heimweh
zu sterben. Besonders furchtsame und zarte Naturen werden er¬
griffen, die den Verkehr mit den fremden oft raoquanten Kameraden
nicht vertragen. Auch Lamartine soll so heftig an Heimweh ge¬
litten haben, daß er daran dachte, sich das Leben zu nehmen.
In der französischen Literatur hat das Heimweh der Soldaten
ein bevorzugtes Interesse erregt, haben doch besonders die Militär¬
ärzte sich mit dem Thema beschäftigt. Es scheint auch tatsächlich
im Heere eine Rolle zu spielen. Was darüber heutzutage gesagt
werden kann, findet sich bei Stier 2 ). Nach ihm gilt die Nostalgie
in der französischen und italienischen Armee noch heute als eine
selbständige sogar häufige Krankheit, die in Frankreich als Nostalgie
persistante sogar dienstunbrauchbar macht.
1) L'education et le suicide des enfants, Paris 1907. p. 55.
2) Fahnenflucht und unerlaubte Entfernung. Halle 19U5. p. 13 ff.
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Heimweh und Verbrechen.
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Entwickelung der forensischen Auffassung.
Die Geschichte der forensischen Heimwehlitertnr ist eng ver¬
knüpft mit der Lehre von der Pyromanie. Man beobachtete bewußt
seit Ende des 18. Jahrhunderts die rätselhaften Handlungen von
Kindern und von Individuen in der Pupertätsentwicklung, die nicht
an einer der bekannten und benannten Geistesstörungen litten.
Solche Fälle wurden damals, der Neigung der Zeit nach Rätselvollem
und Seltenem folgend, in ziemlich großer Anzahl veröffentlicht. Und
bald begannen Arzte und Psychiater auf Grund solcher Beobach¬
tungen Begriffe zu bilden, die zu langwierigen Kontroversen führten,
bis sie wieder der Vergessenheit anheimfielen.
Die Tatsache, daß manche Verbrechen Jugendlicher aller ver¬
ständlichen Motivierung entbehren und daß die betreffenden bei ein¬
gehender Untersuchung nachher doch keine geistigen Störungen
mehr erkennen lassen, führte Platner zur Aufstellung seiner
Amentia occulta. Er konnte sich nicht entschließen, diese Men¬
schen für zurechnungsfähig und gesund zu halten, er kannte keine
Krankheit, in die er sie einordnen konnte, also machte er aus dem
Dilemma, daß die vermutete Störung nicht zu erkennen ist, die
Krankheit Amentia occulta.
Derselbe P. brachte auch schon eine Tatsache in noch jetzt
gültiger Weise zum Ausdruck, daß diese jugendlichen Verbrecher
sich noch in der Entwicklungsperiode befinden und der psychischen
Reife entbehren. Er konstatierte 'die „Fatuitas puerilis“ und billigte
den Inkulpaten die „venia aetatis“ zu.
Seine Amentia occulta begegnete heftigen Widersprüchen und
war bald aus der Literatur verschwunden. Anstatt dessen schloß
Henke aus '20 Fällen, die er aus Platner und Kleins Annalen
zusammenstellte, daß bei Jugendlichen in der Pubertätsentwicklung
oft eine Neigung zum Brandstiften vorhanden sei, und Meckel
machte daraus einen Brandstiftungstrieb. Ein einzelnes Symptom
war zu einer Krankheit gemacht worden.
Dazu paßten Begriffe, die seit Esquirol in Frankreich sich
entwickelt batten, die Monomanie raisonnante und die Monomanie
instinctive. Unter ersterer Krankbeitsbezeichnung wurden Persön¬
lichkeiten verstanden, die auf den Beobachter einen vernünftigen
Eindruck machten, aber an „partiellem Wahnsinn“ litten, unter letz¬
terer ebensolche, die unerklärliche triebartige Handlungen ausführten.
Jetzt ist die Monomanie instinctive zum impulsiven Irresein gewor¬
den. Damals fand sie, wie gelegentlich jetzt dieses, eine sehr ver-
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lockende Anwendung auf die merkwürdigen jugendlichen Brandstifter,
und Marc schuf für diesen Spezialfall der Monomanie instinctive
den Namen Pyromanie.
Wie man sich über die Existenz eines Brandstiftungstriebes ein¬
mal klar zu sein glaubte, vermutete man als Ursache eine triebartige
Lust am Feuer. Bald waren auch entsprechende Beobachtungen da.
In der Freude junger Leute an Feuer und glänzenden Gegenständen,
bei denen ein von Lustgefühlen begleitetes Anstaunen der Flamme
nicht selten ist, entdeckte man einen krankhaften mit der Pubertäts¬
entwicklung zusammenhängenden Trieb zumFeuer (z. B. Friedreich).
Eine einwandfreie derartige Beobachtung scheint dagegen nicht vor¬
zuliegen ‘). So verband sich falsche Begriffsbildung mit ungenauer
oder verfälschter Beobachtung zu einem in der Geschichte der
Psychiatrie mächtig gewordenen Irrtum.
Doch in Deutschland regte sich schon früh die Kritik. Flem-
raing (1830), Meyn, Richter, Casper bekämpften die Lehre von
der Pyromanie und sie blieben Sieger.
Bei diesem über Jahrzehte sich hinziehenden Streit wurde die
Kasuistik vermehrt und wurden insbesondere die Faktoren aufgedeckt,
die bei den kriminellen Handlungen der Pubertätsjahre in Frage
kommen. Man erkannte die Abschattierungen zwischen Frevel¬
kindischem oder kränklichem Affekt, Verstandesschwäche, leichter
Verwirrung und völliger Unfreiheit (Richter). Man suchte sich Klar¬
heit zu verschaffen über die Reihe der Affekte, die mitwirken:
Rachsucht, Bosheit, Haß, Neid, Mutwillen, den Drang, seine Persön¬
lichkeit geltend zu machen. Man fand die Mitwirkung von Ver¬
stimmungen, Beängstigungen und schließlich in einer Reihe von
Fällen betonte man die ausschlaggebende Bedeutung des Heimwehs.
Nur mit dieser letzteren Seite der Fragen beschäftigen wir uns im
folgenden eingehender.
Zum erstenmale wird das Heimweh als mitwirkend bei Ver¬
brechen in Kleins Annalen 1795 erwähnt. „Die meisten Brand¬
stiftungen rühren von Mädchen her, welche aus dem väterlichen
Hause in fremde Dienste gegeben werden.“ Auch wird schon die
l) Vgl. übrigens Emminghaus, der die Sucht nach Feuer als vielen Kindern
eigentümlich bezeichnet. Diese gierige Spielerei lassen sich gesunde Kinder leicht
abgewöhnen. Doch nennt er auch eine krankhafte Sucht nach Feuer, wo trotz
aller Strafen die Neigung zum Anzünden fortbesteht. Dieser Trieb bei Kindern
wird aber von Emminghaus wohl nicht zur Erklärung von Brandstiftungen
verwertet.
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Heimweh und Verbrechen.
31
Bedeutung der Jugend, der Einfalt bemerkt und es werden Vorschläge
an Pfarrer zur Ermahnung junger Dienstboten gemacht.
Dochdie eigentliche Begründung der Lehre vom Heimweh in
forensischer Beziehung rührt von Platner her. In dem Gutachten
über eine jugendliche Brandstifterin') geht er auf die Faktoren ein,
die an dem Zustandekommen des Verbrechens mit gewirkt haben.
Er findet mehr den Charakter der kindischen Einfalt als den der
Bosheit, nicht Zorn und Rachgier, sondern allein den Zweck, bei der
in dem Hauswesen der Dienstherrschaft entstehenden Bestürzung
und Verwirrung den Abschied zu erhalten, um zu den Eltern zurück¬
zukommen. Er beschreibt diese aus Hilflosigkeit und Furchtsamkeit
zusammengesetzte Anhänglichkeit an das elterliche Haus, die ver¬
bunden mit der Abneigung vor dem Leben unter fremden Leuten,
in den Kindern, zumal vom weiblichen Geschlecht, gerade die aller¬
heftigste und in Wahrheit auch die allernatürlichste Leidenschaft ist,
welche sehr oft selbst in sonst beherzten Knaben, wenn sie auf einer
auswärtigen Schule oder zur Erlernung der Kaufmannschaft in die
Fremde geschickt werden sollen, bald in die heftigste Betrübnis,
bald in die entschlossenste Widersetzlichkeit überzugehen pflegt. Er
unterscheidet dieses Heimweh von dem Schweizer Heimweh, der
Nostalgie, in ihrer gelehrten medizinischen Bedeutung.
Neben dem Heimweh betont er den Einfluß der Pubertätsent¬
wickelung, einer Zeit, in der ein närrischer Kopf, nebst den zuweilen
daraus entstehenden verzweifelten Entschlüssen und tollkühnen Hand¬
lungen, öfter von geheimen Beunruhigungen der Nerven und des
Gehirns als von einer moralisch bösen Gemütsart herrührt.
Als Hauptfaktor betrachtet er aber die psychische und moralische
Kindheit, die kindische Einfalt. Die Inkulpatin ist nicht imstande,
das Heimweh, „diese mit der ganzen Natur und Empfindungsart
eines Kindes und besonders eines Mädchens verwebte Leidenschaft“,
zu bekämpfen. Bei dem unvernünftig ergriffenen Mittel dachte sie
nur allein an sich und an den Wunsch, bei ihren Eltern zu bleiben,
nicht an das Unglück, das dadurch für andere entstehen konnte.
Sie dachte nicht an die Gesetze der natürlichen und christlichen
Sittenlehre, die die Entstehung eines so sinnlosen Gedankens so¬
gleich zu unterdrücken vermöchten. Als ein unerfahrenes und un¬
verständiges Kind war sie nicht fähig, die außer ihrem Plane liegen¬
den zufälligen Folgen des Feueranlegens, das Unglück der dadurch
geschädigten Menschen in Erwägung zu ziehen, dazu wäre einerseits
1) Vgl. den Fall ßoßwein.
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mehr Kenntnis des Wertes der zeitlichen Güter, mehr Aufmerksam¬
keit auf Glückseligkeit und Elend der Welt und auf den in dieser
Rücksicht unterschiedenen Zustand der Menschen, andererseits ein
höherer Grad von moralischer Überlegung und Selbständigkeit er¬
forderlich gewesen. Solche Kinder lassen oft die kleinsten Einfälle
zu den heftigsten Affekten werden und führen sie vermöge der
ihnen eigenen gedankenlosen Einseitigkeit durch die kühnsten Wag¬
stücke mit Gefahr für sich und, ohne boshafte Absicht, mit Gefahr
für andere aus. So habe auch die Inkulpatin ihr eigenes Unglück
ebensowenig wie das anderer in Betracht genommen.
Schließlich meint Platner, daß sich die an Heimweh leidenden
Kinder, wie auch zuweilen Blödsinnige und Narren, unwiderstehlich
gedrängt fühlen, durch einen starken sinnlichen Reiz, wie ihn der
Ausbruch einer großen Flamme hervorbringt, das drückende Gefühl
der Niedergeschlagenheit zu bekämpfen.
Nachdem, wie bemerkt, Henke (Kopps Jahrb. 1817) an der
Hand von 20 Fällen eine besondere Neigung zum Brandstiften bei
Knaben und Mädchen im Pubertätsalter nachgewiesen hatte, wobei
neben der Hauptursache der Entwicklungsvorgänge verschiedene
Motive, unter anderem auch das Heimweh eine Rolle spielten, machten
Meckel 1820 und Masius 1822 daraus zwar einerseits einen be¬
sonderen Brandstiftungstrieb, trennten jedoch von den Fällen, in
denen dieser vorliege, diejenigen ah, wo Bosheit, Zorn, Ärger, Rache,
Heimweh im Spiele sind. Nach Meckel genügt der Zustand des
Heimwehs allein, erst recht die dadurch entstandene Krankheit, die
Unzurechnungsfähigkeit der jugendlichen Brandstifter zu erweisen,
während Masius nicht das Heimweh als solches, sondern auf dem
Boden desselben erwachsene krankhafte Zustände die Unzurechnungs¬
fähigkeit bedingen läßt. Solcher unterscheidet er zwei:
Einmal könne das Heimweh einen an Melancholie grenzenden
schwermütigen Zustand mit beängstigenden Gefühlen erzeugen; dabei
könne der Gedanke, durch den Anblick einer großen Flamme die
innere Angst zu bekämpfen, zum unfreiwilligen Drange werden und
in eine unfreie Handlung übergehen. Die Kinder entwichen dann
nicht, fühlten sich hingegen nach ihrer Aussage von der heftigsten
Angst befreit. Andererseits kann nach Masius bei dem noch ohne
gehörige Überlegung handelnden Kinde das Heimweh einen heftig
gereizten Gemütszustand mit Zorn und Trotz hervorrufen und so die
Idee der Brandstiftung als eines Mittels, aus dem verhaßten Dienst
zu kommen, erregen, die dann in dem gereizten mindestens an Un¬
freiheit grenzenden Zustande ausgeführt wird.
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Heimweh und Verbrechen.
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Aber Masius betont, daß das Heimweh bei weitem nicht immer
solche Wirkungen anf das Gemüt habe, sondern es lege sich der
kindischen Einfalt das Feueranlegen oft bloß als ein Mittel dar, um
aus dem Dienst entlaufen und zu den Eltern zurflckkehren zn
können. Auch werde das Heimweh manchmal vorgeschützt, wo
Rachsucht u. dergl. der eigentliche Grund waren.
Auf ähnlichem Standpunkt wie die beiden genannten Autoren
steht Vogel (1825). Auch er führt neben dem Brandstiftungstrieb
das Heimweh besonders an als Grund der Unzurechnungsfähigkeit.
Er hebt besonders hervor, daß das Heimweh die verschiedensten
Grade annehmen hönne, daß nicht jedes Verlangen in die Heimat
eine gesetzwidrige Handlung entschuldige, daß dies dagegen wohl
der Fall sei beim echten Heimweh, der Nostalgia, wenn es sich zu
furchtbarer Höhe, zum wütendsten Wahnsinn oder zur tiefsten Sehwer¬
mut steigere.
Flemming (1830, Horns Arch. 1. Bd. p. 256 ff. zit. nach Hettich)
bestreitet die Meinung des Masius, daß die Brandstiftung zur
Lösung der Angst bei Heimweh erfolgen könne. Er hält sie viel¬
mehr immer für ein Mittel, um nach Hause zurückzukehren, hervor¬
gegangen aus der Überlegung, mit Zerstörung der häuslichen Ver¬
hältnisse der Dienstherrschaft werde auch das Dienstverhältnis auf¬
gehoben. Flemming bestreitet überhaupt die Existenz der Pyro¬
manie und ließ dieser vermeintlichen Krankheit auch keinen Platz
beim Entstehen der Brandstiftung aus Heimweh.
Daß, wenn die Pyromanie auch sonst Vorkommen möge, sie
jedenfalls bei den Verbrechen aus Heimweh keine Rolle spiele, be¬
wies Hettich (1840). Da nicht nur Brandstiftungen, sondern auch
Mord und Brandstiftung vom selben Individuum oder uur Mord aus
Heimweh begangen würden, könne die Ursache davon eben nicht
in einer Pyromanie, sondern nur im Heimweh selbst liegen, sei es
nun, daß wirkliche Verbrechen, um nach Hause zu kommen, vor¬
lägen, oder auf dem Boden des Heimwehs erwachsene unzurechnungs¬
fähige Zustände. Hettich stellt die beiden Sätze auf: 1. Das
Heimweh kann einfach wie alle exzitierenden oder deprimierenden
Affekte und Leidenschaften als Liebe, Zorn, Kummer usw. Begehung
solcher Verbrechen, welche als Mittel dienen, sieh einer unange¬
nehmen Lage zu entledigen, also zu einem selbstsüchtigen Zwecke
verübt werden, veranlassen, ohne dadurch Zurechnungsunfähigkeit
zu bedingen, so wenig als jene Zustände. 2. Das Heimweh kann
aber entweder für sich oder in Verbindung mit anderen Umständen
Jugend, Entwicklungsperiode, vorangegangene oder zurzeit vor-
Archiv für Krimmalanthropologie. 85. Bd. 3
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handene Krankheiten) eine Alteration erzeugen, welche sich als
wirkliches Irresein, oder wenigstens als das erste Stadium desselben
(Mania affectiva, folie raisonnante, moral insanity) ausspricht, somit
eine vollkommene oder teilweise Aufhebung der Zurechnungsfähig¬
keit bedingt.
Bei Beurteilung der Heimwehfalle rät Hettioh zu beachten:
erblichp Anlage, Alter, Geschlecht (das weibliche herrscht vor)
lymphatische Konstitution. Als negative Merkmale dürfen nicht in
Anspruch genommen werden: ein besonderes Temperament, die
Versetzung in eine bessere Lebensweise, und eine geringe Ent¬
fernung vom Heimatsort.
In den Handbüchern der gerichtlichen Psychologie wird regel¬
mäßig die Nostalgie erwähnt, sei es für sich, sei es unter der Pyro¬
manie. Mende z. B. wiederholt, daß der unwiderstehliche Trieb,
sich durch eine außerordentliche Begebenheit von dem unerträg¬
lichen Gefühle eines tiefen Unbehagens zu befreien, eine ma߬
gebende Rolle spiele. Er beschreibt, wie das Heimweh dieses Un¬
behagen hervorruft, wie es eine beständige geistige Unruhe und
tiefe Traurigkeit schafft, die den Patienten für alles Außere gleich¬
gültig macht. Sein Vorstellungsvermögen wird schwach, die Ge¬
danken verwirren sich. In diesem Zustand wird der fast blinde
Trieb allmächtig, sich aus seiner gegenwärtigen Lage herauszu¬
reißen und der Drang, in die früheren Verhältnisse zurückzukehren.
Zur Befriedigung dieses Triebes greift er, ohne auf anderes die
mindeste Rücksicht zu nehmen, da ihm alle Beurteilungsfähigkeit
geschwunden ist, zu den tollsten Mitteln, die ihn selber und andere
in große Gefahr bringen und wohl gar ins Verderben stürzen.
Mende betont, daß bei solchen Heimwehakten von Bosheit keine
Rede sein könne.
Friedreich referiert in dem Kapitel über die Zurechnungs¬
fähigkeit der Heimwehkranken Ansichten von Zangerl, Platner,
Mende und Meckel. Er fordert die Beachtung des Grades des
Heimwehs zur Entscheidung der Zurechnungsfähigkeit.
Marc gibt nur die Ansichten von Masius über Heimweh wieder.
Auch Griesinger verlangt einen solchen Grad von Heimweh,
bei dem die allgemeinen Merkmale einer psychischen Krankheit
vorhanden sind, zum Zustandekommen der Willensunfreiheit.
Wilbrandt (1858) sagt vom Heimweh, daß es als vollständig
ausgesprochene Krankheitsform unter die Psychosen und zwar unter
die Melancholie zu rechnen ist. So wenig indessen jeder Trübsinn
als Geistesstörung zu betrachten sei, so wenig auch jedes Heimweh.
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Heimweh und Verbrechen.
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Beide führen in ihrer Steigerung zu Geisteskrankheit. Da aber das
Heimweh in hohem Grade die Zurechnungsfähigkeit ganz aussohließe,
können auch geringe Grade desselben, bei welchen der Grund der
Verschuldung weniger in böslicher Absicht als in dem vorhandenen
Heimweh zu suchen sei, einen Strafmilderungsgrund abgeben.
Flemming (Allgem. Ztschr. f. Psychiatr. 1855) ist der An¬
sicht, daß Heimweh auch stärksten Grades die Strafe nicht aus¬
schließe, daß man vielmehr nachweisen müsse, Heimweh sei die
Ursache einer echten Geistesstörung geworden.
Richter findet bei seinen Brandstiftern sehr oft den Wunsch
aus dem Dienst zu kommen und Heimweh. Doch bringt er nur
wenig Fälle, wo dieses im Vordergründe steht. Bei diesen unter¬
scheidet er nach Platner den Affekt Heimweh von der Krankheit
Nostalgie, dem Schweizerheimweh. Letzteres macht sicher, ersteres
oft unzurechnungsfähig.
Entgegen der kritischen und vorurteilsfreien Art Richters geht
Casper in großer Einseitigkeit in seiner Abhandlung, das „Gespenst
des sog. Brandstiftungstriebes“ darauf aus, alle früher der Pyromanie
zugereohneten Handlungen als psychologisch wohl verständliche
Verbrechen darzustellen. Das Heimweh werde, wie bekannt, von
jungen Verbrechern sehr oft als Veranlassung der Tat angegeben.
Eine eigentliche Nostalgie mit den charakteristischen Symptomen
habe er dabei nicht beobachtet. Heimwehstimmungen kämen vor,
aber zu nostalgischen Gemütsverstimmungen käme es bei dem keine
nachhaltigen Eindrücke gestattenden Kindes- und Jugendalter kaum.
Es handle sich meist um Trägheit und Arbeitsscheu, um Wider¬
willen gegen einen barten Dienst, um Drang nach Freiheit und
Ungebundenheit. Da erscheine die Brandstiftung ihm gar nicht
zweckwidrig, er finde nichts von Verkehrtheit und Unzurechnungs¬
fähigkeit. Es handle sich um Bubenstücke arbeitsscheuer, leicht¬
sinniger, ungezogener und unerzogener Mädchen und Knaben. Heim¬
weh und den Wunsch, aus dem Dienst zu kommen, erklärt er in
bezug auf Brandstiftung für fast ganz zusammenfällend.
Die Kenntnisse über jugendliche Brandstifter in mustergültiger
Weise kritisch zusammenfassend hat Jessen (1860) auch des Heim¬
wehs gedacht, das neben Rachsucht, Furcht, Unzufriedenheit und
Mutwillen zu den für dies Verbrechen ursächlichen Affekten gehört.
Er weist darauf hin, daß man nur einen reinen Affekt Heimweh
nennen dürfe, daß dieser sowohl in normalen als auch in abnormen
Geisteszuständen auftrete und an sich keine pathognomische Be¬
deutung habe. Der Nachweis, daß eine Handlung aus Heimweh
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I. K. Jaspers
hervorgegangen sei, beweise weder die Gesundheit noch die Krank¬
heit des Handelnden. Übrigens scheine das Heimweh durchaus
nicht eine der häufigsten Veranlassungen von Brandstiftungen zu
sein, wie das wohl behauptet würde. An vier referierten Fällen
(nach Zangerl, Richter und Hohnbaum) weist er den allmäh¬
lichen Übergang vom Heimwehaffekt zur Psychose nach. Er schließt
daraus, daß das Heimweh sowohl im normalen Zustand wie als
Symptom von psychischen Störungen, die zwischen diesem und der
ausgebildeten Melancholie liegen, Vorkommen kann. Heimweh ent¬
steht oft aus der Präcordialangst, besonders nahe Beziehungen hat
es zum Wunsch, aus dem Dienst zu kommen, von dem es jedoch
prinzipiell geschieden werden muß.
Auch in neuere forensisch-psychiatrische Werke ist das Heimweh¬
verbrechen übergegangen. Kirn (Maschkas Handb. IV. Bd. p.260,
1882) erwähnt bei der in der Pubertätszeit auftretenden eigenartigen
Melancholie, daß diese nicht grade selten in Verbindung mit Chlorose
bei jungen Mädchen im Dienst eintrete. Sie äußere sich dann inhalt¬
lich als Heimweh (Nostalgie) und führe, wenn sie unbeachtet bleibe,
zu unwiderstehlichen Zwangshandlungen, namentlich Brandstiftung.
Krafft-Ebing führt unter der Gruppe der an psychischer
Depression Leidenden die Heimwehkranken auf, die aus einfacher
schmerzlicher Verstimmung, aus Angstgefühlen oder Zwangsvor¬
stellungen verbrecherische Akte begehen.
Für Mönkemöller ist das Heimweh nur ein Symptom. Er
schreibt: „Ist die Pubertätsentwickelung durch körperliche Anomalien
gestört, am häufigsten durch schwere Grade der Bleichsucht, so
werden leicht psychische Verstimmungen ausgelöst, die mit quälen¬
der Angst und einem ungeheuren inneren Drucke einhergehen.
Dieses Druckgefühl entladet sich nicht selten durch triebartige
Handlungen. Grade um diese Zeit macht sich die unter dem krank¬
haften Drucke befindliche Psyche besonders gern in Brandstiftungen
Luft. Das Heimweh, welches bei den jugendlichen Kranken als
Symptom dieser krankhaften Verstimmungen aufzufassen ist und
eine gewisse Ähnlichkeit mit der Melancholie hat, treibt sie von
dem Orte fort, an dem sie sich grade befinden und wird dann als
böswilliges Verlassen des Dienstes, als Vagabondage mißdeutet.“
Ferner meint Mönkemöller, daß das Heimweh auch in stärkstem
Maße hei Schwachsinnigen auftrete, endlich, daß es häufig vorge¬
täuscht werde.
Der Vollständigkeit wegen sei noch eine kleine Broschüre von
Maack erwähnt „Heimweh und Verbrechen“. Es ist eine populäre,
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Heimweh und Verbrechen.
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nur halb ernst zu nehmende Schrift, die das Heimweh als einen
Suggestivzustand auffaßt, in dem durch eine gesteigerte psychische
Empfänglichkeit die Gedanken an verbrecherische Taten leichter
zur Ausführung gelangen. Aber nicht nur das heimwehkranke
Mädchen in der Pubertät, sondern in gewissem Grade jeder Mensch
befinde sich infolge seines Himmelsheimwehs in solchem Auto-
suggestivzustand.
In den neuesten Lehrbüchern der gerichtlichen Psychiatrie von
Cr am er und Ho che ist über Heimweh nichts zu finden.
Dagegen sind in kriminalpsychologischen Werken einige be¬
merkenswerte Ausführungen.
Kraus referiert in Wesentlichen Jessen. Er bezweifelt nicht,
daß echtes Heimweh innerhalb geistiger Gesundheit Ursache von
Verbrechen werden könne, wenn auch ein solcher Fall in seiner
eigenen Erfahrung nicht vorgekommen sei, und bei Jessens Fällen
somatische Quellen nicht ausgeschlossen werden können. Das
Heimweh sei von dem Wunsche, aus dem Dienst zu kommen,
schwer ganz zu trennen.
Groß, der sich auf Meckel beruft, hält Heim weh verbrechen
Ihr außerordentlich häufig. „Man denke an Heimweh in allen Fällen,
wo kein rechtes Motiv für eine Gewalttat zu finden ist und wo man als
Täter einen Menschen mit den oben genannten Qualitäten (Leute
aus kulturfernen Gegenden, die eben in Dienst gekommen sind)
vermutet“. Solche nostalgische Kranke gestehen nach seinen Er¬
fahrungen die Tat leicht, das Motiv des Heimwehs niemals, weil
sie es wahrscheinlich selbst nicht wissen. Nach seiner Meinung ist
in jedem Falle der Arzt zu fragen, wenn man Heimweh als Grund
des Verbrechens vermutet.
Feine Bemerkungen finden sich auch bei Stade „Frauentypen
aus dem Gefängnisleben“. Ihm ist die jugendliche Brandstifterin
aus Heimweh eine bekannte Figur. Für manches weiche, unge-
fertigte, vielleicht auch mangelhaft erzogene junge Menschenkind
ist es ein überaus schroffer Wechsel, wenn es gleich nach Austritt
aus der Schule auch das Elternhaus verläßt, um in dienende Stellung
zu gehen. Die Durchschneidung aller bisherigen Bande ruft das
Gefühl völliger Haltlosigkeit und bittersten Heimwehs hervor, einen
Zustand, der schließlich den Charakter von etwas Pathologischem
gewinnen kann. Ein quälendes Heimweh von solcher Stärke ver¬
setzt das junge Wesen fast in eine Art von Zwangszustand. Furcht
vor üblem Empfang im Elternhause, Scham und Eitelkeit wegen
rascher Stellenaufgabe verhindern es, einfach seinen Dienst zu ver-
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1. K. Jaspers
lassen. Die Brandstiftung erscheint als das bequemste Auskunfts-
mittel. Ist das Haus abgebrannt, ist cs ja mit dem Dienst vorbei.
Stade findet die Täterinnen durchaus nicht geistig beschränkt, er
findet in den Verbrechen die Charakteristika des weiblichen Han¬
delns, die Verfehlung aus einem Überschwange des Gefühls, aus
bloßen Gemütsimpulsen und augenblicklichen Stimmungen.
Wir sind am Ende unseres historischen Referates. Die Ge¬
schichte des Heimwehs ist mehr eine Geschichte von Irrtümern als
die Geschichte haltbarer Anschauungen, die jetzt irgendwie fest ge¬
gründet wären. In der älteren Literatur wurde Heimweh manch¬
mal in weitestem Sinne genommen. Die Gefühle, die jeden Men¬
schen sein Leben lang an seine Heimat fesseln, die eigentümlichen
Gemütsbewegungen, die jemanden nach langer Abwesenheit bei der
Rückkehr ins Vaterland erfüllen, das Heimweh der Naturvölker,
Psychosen, bei denen Heimweh geäußert wurde, körperliche Krank¬
heiten, bei denen dasselbe geschah, schließlich die Hilflosigkeit
noch fast im Kindesalter stehender junger Menschen, wenn sie in
die Fremde kommen usw., alles dies wurde gemeinsem behandelt,
obgleich wohl manchmal keine andere Ähnlichkeit vorhanden war
als die, daß der Sprachgebrauch in allen Fällen dasselbe Wort
zur Bezeichnung wählte. Während diese Literatur endgültig
ausstarb, lebte die Lehre vom Heimweh fort in forenisohen
Arbeiten, die den Kreis ihrer Betrachtungen auf die Heimwehver¬
stimmungen junger Menschen beschränkten, die, früh in Dienst
gekommen, manchmal in diesen Verstimmungen zu Verbrechen ver¬
anlaßt werden. Damit ist nicht mehr jeder beliebige Zustand ge¬
meint, den die Sprache Heimweh nennen würde, sondern nur
diese charakteristische Verstimmung junger Wesen, die in fremden
Dienst kommen. Mit dieser werden wir uns weiterhin beschäftigen.
Das Erklärungsbedürfnis des menschlichen Geistes hat, seitdem
über dies Thema geschrieben wurde, auch gleich „Theorien“ auf¬
zustellen versucht über das Wesen des Heimwehs. Es ist vielleicht
von Interesse, diese für unsere Auffassung so naiven Anschauungen,
die doch gar nicht so weit zurückliegen, hier noch einmal zu wieder¬
holen. Hofer sah das Wesen des Heimwehs in der Beschränkung
der Lebensgeister auf die Bahnen für die Ideen des Vaterlandes im
Hirnmark, Scheucbzer erklärte es durch veränderten Luftdruck,
durch Zusammenpressung der Hautfäserchen usw., Larrey durch
Gehirnausdehnung, Broussais durch primäre gastrische Störungen,
die die Gehirnaflfektion zur Folge hätten. Friedreich betrachtete
die Nostalgie als Sehnsucht zum Licht und Sauerstoff bei erhöhter
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Heimweh und Verbrechen.
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Venosität des Blutes, wodurch die Brandstiftungen verständlich
würden. Jessen schließlich, dem Hofers Lehensgeister als Aus¬
druck für das unbewußte Seelenleben imponieren, verlegt das Heim¬
weh als unbewußten Zustand in die niederen Nervenzentren (Medulla
oblongata und Rückenmark) im Gegensatz zur Melancholie, die als
bewußter Gemütszustand in der Hirnrinde entstehe.
Trotz dieser teilweise abstrusen Gedanken findet man gelegent¬
lich bei den alten Autoren gute, besonders psychologische Be¬
merkungen (z. B. Zangerl, Jessen, viele besonders in der
forensischen Literatur).
Bemerkenswert erscheint auch, daß schon früh (Amelung,
Georget) ganz richtige kritische Anschauungen ausgesprochen wurden,
die alles Unsinnige von sich wiesen. Wir dürfen wohl die Heim¬
wehlehre im 19. Jahrhundert, abgesehen von der forensischen und
ganz besonders die französische als einen Ausläufer veralteter Ge¬
dankenrichtungen auffassen, die sich, wie manchmal, in einigen
Köpfen noch halten, während vorgeschrittenere Kritik sie längst
abgetan hat.
Bevor wir nun auf die forensischen Fälle eingehen, möge irh
nächsten Kapitel das Wenige Platz finden, was wir über das normale
oder auch an der Grenze des Psychopathischen stehende Heimweh,
welches nicht zu Gewaltakten führte, beibringen können.
Das nicht zur Entladung in Yerbrechen
führende Heimweh.
Trotzdem soviel von Heimweh geschrieben ist, die veröffentlichten
Fälle betreffen fast nur solche, die zum Verbrechen führten und bei
denen die Vorgänge retrospektiv untersucht und beurteilt wurden.
Bei Jessen (Art. Nostalgie) findet man einen kurzen Fall beschrie¬
ben, der nicht zur verbrecherischen Entladung führte.
„Ein in Schleswig geborenes und von Pflegeeltern schlecht er¬
zogenes Mädchen wurde von Heimweh befallen, als sie nach erreichtem
15. Lebensjahre in derselben Stadt bei einer rechtlichen, gutmütigen
und nachsichtigen Herrschaft in Dienst trat. Obgleich sie sich über
nichts beklagte und keine Veranlassung zur Unzufriedenheit batte, wurde
sie still, in sich gekehrt, einsilbig, verschlossen, unlustig zur Arbeit,
weinte viel, suchte Einsamkeit, verlor die Eßlust. Sie schien selbst
nicht zu wissen, was ihr eigentlich fehle, konnte aber in ihrem Dienste
nicht bleiben und war wieder gesund, sobald sie zu ihren Pflegeeltern
zurückkehrte“.
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I. K. Jaspers
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In medizinischen Schriften habe ich keinen anderen Fall von
Heimweh gefunden. Dagegen besitzen wir von Ratzel 1 ) eine
Selbstschilderung von so feiner psychologischer Darstellung, daß
ihre eingebende Wiedergabe in diesem Zusammenhänge berechtigt
erscheint, wenn auch eine medizinische Beobachtung im engeren
Sinne nicht vorliegt. Da Ratzel auf anderen Gebieten ein so aus¬
gezeichneter Forscher war, gewinnt seine Darstellung etwas mehr
Wert als die eines beliebigen ungeschulten Menschen. Man könnte
wünschen, eine ärztliche Ergänzung, die sich auf Konstitution und
Eigenschaften des ganzen Menschen erstreckte, zu haben. Doch wird
man auch ohne das wohl annehmen dürfen, von ihm die Schilderung
eines normalen aber intensiven Heimwehs zu besitzen.
Ratzel kam zum erstenmal aus seinem Elternhause zur Lehre
in eine Apotheke eines entfernten Dorfes. Von seinen Eltern wurde er
hingebraeht. Die Trennung im Zimmer der fremden Apothekersleute
stand drohend bevor. Bei der Mahlzeit waren die „Bissen so sonderbar
schwer, ihre Süße so aufdringlich, fast anwidernd, und sie schienen im
Munde zu wachsen“. Obgleich seiner gesunden Natur die Freude an
den Farben des Quarkkuchens nicht schwand, verdichtete sich doch
seine schmerzliche Verstimmung zu einer „Vision ausschließlich in die
Höhet
Das grau tapezierte Zimmer, worin ich stand, hatte seine Decke
verloren, seine Wände waren ungeheuer weit nach oben gewachsen, die
blauen Wellenlinien darauf schlängelten sich ins Unendliche hinaus
und brachen endlich nackt wie Drähte in der Luft ab. Ich kam mir
wie in einem Schornstein vor, der oben nicht ganz fertig ist, und
richtig, nun schauten auch von ganz weit oben her die Sterne herein, von
denen ich gelesen hatte, daß man sie bei Tage durch einen Schornstein
erblicke. Je höher das Zimmer wurde, desto langsamer ging es mit
dem Quarkkuchen. Diese Vision schnürte mein ganzes Ich und damit
natürlich auch meine Kehle zusammen. War es ein Wunder, daß mir
plötzlich zwei heiße Tränen über die Wangen liefen, da ich fühlte wie
ich immer länger und schmäler wurde? Es legte sich mir jetzt auch
eine sonderbare Schwere auf die BruBt und den Leib“.
Der Wagen mit seinen Eltern rollte die Chaussee entlang fort. Es
war Sonnenuntergang. Die Stimmung in der Landschaft nahm ihn ge¬
fangen : „Ich wüßte heute nicht zu sagen, was daran mit der Stimmung
in meinem Innern harmonierte. Den heißen Augen und Wangen mag
die stille Abendluft wohlgetan haben, die allmählich kühler wurde, und
daß die Nacht so zögernd kam, mag als Hinausdehnen dieses Tages
gefühlt worden sein, denn der morgen kommende war ja der erste in
der Fremde“.
„Der erste Abend in einem fremden Hause gehört für ein junges
Gemüt zu den geheimnisvollsten Erlebnissen. Was mag alles in diesem
1) In den „Grenzboten“ 1904 nnd wieder abgedruckt in „Glücksinseln und
Träume“. 1905. Artikel „Heimweh".
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Heimweh und Verbrechen.
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Dunkel liegen. Wenn dieses junge Gemüt wund ist, gibt es nichts
Lindernderes als den Schleier, in den sich abends die fremde Welt hüllt,
denn er legt eine Wand um das Gemüt. Die Fremde bleibt draußen,
sie berührt mich nicht mehr, sie läßt mich endlich, endlich allein mit
mir. Wie kühlt das die Augen, so weit offen in ein Dunkel zu schauen,
wie schwinden die Entfernungen, die mich von den Lieben trennen,
wenn alles das Nächste und Nahe hinuntergesunken ist, das sich sonst
zwischen uns drängt!
Heimweh! Wer dich nicht kennt, wie vermöchte der die Tiefe der
Schmerzen zu erfassen, die du bringst? Unmöglich kann er sich eine
Vorstellung von dir machen, so wenig wie sich jemand die Liebe ein¬
bilden kann, der sie nicht erlebt hat. Heute, wo lange, lange mein
Heimweh hinter mir liegt, unter so viel anderen Lebenserfahrungen fast
begraben, freue ich mich, auch dieses Leiden durchgemacht zu haben.
Wohl ist die Freude keine stolze Freude, denn, um offen zu sein, be¬
siegt habe ich das Heimweh nicht. Es verließ mich einfach eines Tages,
als es meine Seele wie ein Vampir ausgesogen hatte. Aber dieser Tag
leuchtet wie ein ewiger Sonnenaufgang in meinem Leben und das frohe
Licht seiner Erinnerung wird mir nie verblassen.
Ick bin niemals tränenreich gewesen, aber weiß der Himmel, wie
es kam, ich hatte damals trockenen Auges beständig das Gefühl zu
weinen, doch ging dieses Weinen nach innen und mein ganzes Wesen
wurde vertrfint. Mein Auge blickte trüb, die Welt lag so sonderbar
bläulich, so einförmig und einfarbig vor mir, sie war mir so gleich¬
gültig, ich kam mir wie in Wasser gesetzt vor. Wenn ich sprechen
sollte, legte sich mir ein eiserner Ring um die Kehle. Ich konnte jedoch
handeln und da mich mein junger Beruf dazu zwang, wurde ich glück¬
licherweise jeden Augenblick inne, daß ich noch ein Mensch von Fleisch
und Bein, kein tränendurchfeuchtetes Gespenst sei. Ich richtete nun
mein Leben so ein, daß es von Morgen bis Abend in demselben Rahmen
und .denselben Zeitabschnitten dahinfloß wie das meiner Lieben in der
Heimat. Soweit es möglich war, begleitete ich sie im Geist zu allen
Genüssen und Arbeiten des täglichen Lebens, stand mit ihnen auf und
setzte mich mit ihnen zu Tische, weilte in ihren Zimmern und wandelte
in ihrem Garten. Ich begann nichts, ohne sie im Geiste zu fragen,
und vollendete nichts, ohne es ihnen in Gedanken vorznstellen und mich
ihres Urteils zu freuen. Wenn etwas von Westen herüberhallte, klang
es mir wie ein Gruß. Ich horchte den ganzen Tag in ihrer Richtung
hinaus und ließ Gedanken über Gedanken in den Abendhimmel steigen/
„Und es flog das Rasseln der Eisenbahn, auf deren Lokomotive sich
meine Gedanken schwangen, um sie immer und immer wieder heimwärts
zu lenken, wie eine Kette von müden Windstößen widerwillig hoch
durch die Luft, und jeder Raubvogelruf klang wie ein Klagen. Nahrung
für mich! Das Fädlein Fremdsein und Alleinsein fand kein Ende. Ich
spann zu allen ruhigen Stunden daran fort, es war ein düsterschönes Ge¬
fallen an diesem planlosen Phantasieren, das mich selbst immer tiefer ein¬
spann und alle Menschen um mich her draußen ließ, während dieselben
Fäden, die ich mir ums Haupt zog, die Bäume und die Pflanzen, die
Wolken und die Sterne mitumspannen und an mich heranzogen. Dieses
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I. K. Jaspers
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willkürliche Aussondern des Nahen und .Heranziehen des Fernen, dieses
Vergesellschaften und Befreunden mit einer fernen reichen Welt war
nun im Grunde doch nur ein beschönigendes Ausstaffieren der selbst¬
gewollten Einsamkeit“.
„Es war ein seltsames Doppelleben von dem ich zwar recht wohl
fühlte, daß es wie alles Doppeltselige nicht bestimmt war zu dauern, in
das ich mich aber für den Augenblick um so tiefer einzuspinnen strebte.
Es war eine höchst unbillige, ja eine unkluge Teilung meines Innern:
das Beste in die Ferne, den trüben Rest an die Nähe. In diesem Alter
ist das Gefühl der Pflicht schwach entwickelt, sonst hätte diese sich
einer solchen Teilung widersetzen müssen. Aber so kam es, daß ich
alles tiefe Fühlen und alles Mitdenken und Miterleben mit Seelenanteil
der Heimat vorbehielt, mit allem mechanischen Tun, aller Handwerks¬
mäßigkeit, allem Auswendiggelernten meine nächste Umgebung abspeiste.
Die ganze Liebe ins Erinnern, so daß für das Tun des Tages nichts
mehr übrig blieb“.
„Das, „wer nie sein Brot mit Tränen aß“ ergreift mich, wenn ich
es lese oder höre, heute wie am ersten Tag und wird nie seine Wirkung
verlieren. Doch meine ich, wenn ein Dichter das Elendgefühl besungen
hätte, das uns vor dem Tageslicht bangen, das uns den Morgen ver¬
wünschen und die Nacht segnen macht, das uns darum das Verlassen
des Lagers wie ein Hinaustreten aus warmer schützender Hütte in einen
stürmenden Wald von Widerwärtigkeiten und Gefahren fürchten läßt,
er würde aus den Tiefen von noch viel mehr Herzen herausgesprochen
haben und von noch viel mehr verstanden worden sein. Dort hängen
die Kleider, zieh sie nicht an, du hast es aufgegeben, anderen Menschen
zu begegnen! Hier liegt die angefangene Arbeit, berühre diesen Sisyphus-
stein nicht, er wird zurückrollen, wie du ihn auch bewegst! Es gibt
kein Heil als das Bett, wo du dem Schicksal die kleinste Angriffsfläche
bietest; es sind Augenblicke wo du dich nicht einmal zu strecken wagst;
gekrümmt zu liegen, die Decke Uber die Augen gezogen, das gibt das
letzte Gefühl von Sicherheit“.
In dieser andauernden eigenartigen Verstimmung kam es zu einem
Selbstmordversuch, dessen psychologische Entstehung meisterhaft geschil¬
dert ist.
„Ich fühlte mich berechtigt, geistig zu wandern und hoffte es mit
der Zeit noch dahin zu bringen, meine sterbliche Hülle allein hier zu
lassen und mit der Seele dort zu weilen, wo es sie hinzog. Die Be¬
schäftigung mit den Giftstoffen der Apotheke war sehr geeignet zu Be¬
trachtungen über die tötenden und die bloß betäubenden Mittel. Es
schien mir ja gar nichts so Unvermitteltes und Unvorbereitetes mehr, was
man Sterben nannte. Ist Sterben denn notwendig immer der Tod?
Was wissen wir denn überhaupt vom Tode? Das Sterben allein ist
gewiß, vom Tode der dahinter steht, wissen wir nichts. Wie wenn sich
nun die freigewordene Seele aufschwänge und zu den lieben Orten flöge,
an denen ohnehin meine Gedanken weilen. Dann wäre ja der Tod das
Schönste, was zu denken ist. Körperlich bin ich für vier lange Jahre
an diese Stelle gebunden, seelisch steht mir die Welt offen. Versuche
ichs nicht einmal zu fliegen? Hier steht in steinernen Krügen Kirsch-
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Heimweh und Verbrechen.
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lorbeerwasser, ein blausäurehaltiges Präparat, dessen scharfer Duft etwas
Elegantes hat. Der Totenkopf Uber dem altmodisch geschnörkelten
„Aqua laurocerasi“ schreckt mich nicht, der Blausäuregehalt des Destil¬
lats ist nicht sehr stark, vielleicht ist die Wirkung nur Betäubung.
Traum und Rückkehr, vielleicht allerdings auch Sterben. Was macht
mir das für einen Unterschied! Ein langer Zug und noch einer, ich
meine beim zweiten schon die Hände zittern zu fühlen, doch stelle ich
den Krug ordnungsmäßig an seinen Platz und steige wie im Traum die
Kellertreppe hinauf.
Ich erwache aus meinem langen Schlaf die Glieder zerschlagen,
der Kopf dumpf, aber mit unzweifelhaftem Lebensgefühl“. Die Leute
sind um ihn versammelt, Briefe liegen da. „Der erste Gedanke, der
mir halbwegs klar wird, ist die Erwägung, daß es noch Menschen gibt,
denen mein Dasein nicht gleichgültig ist“. Aber das Glücksgefühl der
Genesung war ihm nicht vergönnt auszukosten. „Habe ich nicht frevent¬
lich diese Krankheit heraufbeschworen, ich fange an, wie ein Fremder
auf meine Tat hinzusehen und ich schäme mich derselben vor diesen
Fremden, ich wünsche, daß sie verborgen bleibt“. Es überfiel ihn ein
so heftiges Gefühl der Reue, daß er sich selbst hätte entfliehen mögen
und er weinte Tränen der Scham.
Diese Erlebnisse Ratzels haben zweifellos Berührungspunkte
mit den Heimwehznständen unserer Verbrecberinnen, die wir später
kennen lernen werden. Doch sind auch maßgebende Unterschiede
vorhanden. Die reiche Veranlagung Ratzels führte zu einer Diffe¬
renzierung der Gemütsbewegungen, wie wir sie später nicht finden
werden. Sein beobachtender Verstand, seine Tatkraft hindern ihn,
daß er ganz zugrunde geht. Die Entstehung des Selbstmordver¬
suches, der halb gewollt, halb nicht gewollt wurde, mit den kindlich¬
naiven Überlegungen ähnelt sehr den ähnlich unreifen Gedanken¬
gängen der Heimwehverbrecherinnen. Wir werden später noch manch¬
mal auf Ratzels Schilderungen zurüokkommen.
Im Anschluß hieran mögen einige Stellen aus einem Briefe an¬
geführt sein, den ein junges Mädchen nachträglich über ihr Heimweh
in der Pensionszeit schrieb.
„Ich erinnere mich, daß ich am ersten Morgen nicht einmal ein
Hörnchen herunterkriegen konnte und daß mir das die ganze Zeit hin¬
durch schwer wurde“. „Ich fühlte mich überhaupt so beengt, daß ich mich
auch rein äußerlich genierte etwas zu essen. Nachmittags der Kaffee
schmeckte mir immer am besten, da fühlte ich mich relativ am wohl-
sten“. „Ich fühlte mich immer bedrückt, hielt mich für ganz unfähig,
ich fühlte, daß ich allen Pensionärinnen vollständig unterlegen war in
jeder Beziehung und doch fühlte ich, falls ich von jenem Druck befreit
wäre, würde es anders sein“. „Es war eigentlich so, daß ich zu einem
viehischen Wesen durch Verhältnisse, die so lächerlich waren, herab¬
gedrückt wurde. Und ich konnte nicht dagegen an.“ „Geschlafen
habe ich stets gut, nur wachte ich morgens meist vor der Zeit auf, um
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I. E. Jaspebs
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dann Briefe zu schreiben. Die Menschen, mit denen ich dort verkehrte,
sind mir eigentlich fremd geblieben, weil ich vollkommen urteilsunfähig
war und nur wußte, daß ich dort nicht sein mochte. Ich war ein totes
Wesen, das empfand ich, nur zu Hause war fttr mich Leben. Ich hatte
einen Egoismus in der Richtung, daß ich nur mich ftlhlte und bejammerte
und verachtete“.
Das Mädchen, das diese Darstellung ihres Heimwehs gab, war da¬
mals noch auf kindlicher Entwicklungsstufe, körperlich gesund, doch
sehr zart, geistig zwar interessiert aber wenig leistungsfähig. Sie war
früher ungern in die Schule gegangen, war manchmal aus der Schule
nach Hause gelaufen, aus Heimweh zur Mutter, täuschte sogar trotz
tadellosen Charakters gelegentlich Krankheit vor, um zu Hause bleiben
zu dürfen. Nachdem sie aus der Pension zurückgekehrt war, fühlte
sie sich viel wohler, blieb aber schüchtern und wenig selbstbewußt.
Als Braut machte sie trotz im ganzen sehr glücklicher Verhältnisse
wegen einiger gemütlicher Unzuträglichkeiten einen längeren leichten
Depressionszustand durch, bei dem sie viel schlief, ungern allein, mor¬
gens manchmal ängstlich war, zuweilen fürchtete, gemütskrank zu werden.
Die morgens beim Aufwachen entstehende Ängstlichkeit, sorgenvolle
oder hoffnungslose Stimmung, die schon beim Ankleiden schwindet, hat
sie auch später manchmal bekommen. Hypomanische Zustände sind
nie beobachtet, sie ist ein sensitives, gemütsweiches Geschöpf, im prak¬
tischen Leben nüchtern und real denkend, geistig wenig aktiv, doch
von vielseitigen Interessen und mehr als durchschnittlicher Fähigkeit zur
Einfühlung. Zurzeit ist sie körperlich und geistig vollkommen gesund,
wenn auch im ganzen etwas schwächlich.
Es ist bedauerlich, daß vom Heimweh nur so wenig Tatsäch¬
liches bekannt ist. Ärztlich beobachtet und veröffentlicht wurden, wie
gesagt, nur solche Fälle, die durch Entladung in Verbrechen dazu
aufforderten. Die wahrscheinlich zahllosen Fälle schweren Heimwehs,
das die Befallenen unsagbar quält, bei denen auch manchmal ver¬
brecherische oder doch unsittliche, mit dem Wesen der Kranken
kontrastierende Impulse auftreten mögen, sind bisher der Öffentlich¬
keit entgangen. Es ist möglich, daß manches junge Wesen im Heim¬
weh durch solche Impulse heftig erschreckt wird, sehr wahrschein¬
lich aber leiden viele unter der Abstumpfung des Gefühls für alles,
was nicht die Heimat und das Elternhaus angdht. Die Worte „ich
war ein totes Wesen, ich verachtete mich“, erscheinen recht bezeich¬
nend. Fast jeder hat einmal Heimweh, wenn auch in geringem
Maße empfunden. Manche mußten es wie eine Krankheit durch¬
machen. Das ist so häufig, daß man sich in seinem Bekanntenkreise
leicht von Fällen erzählen lassen kann, in denen das Heimweh merk¬
würdige Gestaltungen annahm, übertriebene Gefühlsausbrüche, schleu¬
nige Reisen usw. zur Folge hatte. Leider ist es mir nicht gelungen,
solche Fälle zu gewinnen. Ihre Veröffentlichung mit möglichst ein-
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Original fram
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Heimweh und Verbrechen.
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gehender Schilderung wäre wohl für die Klärung auch der foren¬
sischen Fälle von großer Wichtigkeit.
Die Verbrechen aus Heimweh. Geschichtserzählungen und
Beurteilung.
Wir erzählen zunächst einen noch nicht veröffentlichten Fall *)•
Da er wohl der bisher am besten beobachtete und an Menge der
Zeugenaussagen reichste ist, mag die Ausführlichkeit in der Wieder¬
gabe berechtigt sein.
Apollonia S. wurde 1892 als 3. Kind eines Steinhauers geboren.
Sie hat S Geschwister von 1 */ a bis zu 18 Jahren. Die Eltern leben
in ärmlichsten Verhältnissen vom täglichen Verdienst. Der Vater soll
zuweilen etwas trinken, die Mutter hat einmal einen Diebstahl be¬
gangen, doch läßt sich sonst Ungünstiges über beide nicht aussagen.
Die Frau ist seit langem nicht unehrlich, der Mann nicht eigentlich
trunksüchtig, sondern tut seine Pflicht. Die Erziehung der Kinder wird
aber als eine mangelhafte bezeichnet.
Apollonia machte alle Klassen der Schule durch. Die Angaben der
Lehrer und Geistlichen schwanken etwas. Von den einen wird sie zu
den ziemlich guten, mittelbegabten Schülerinnen, von anderen zu den über
mittelbegabten, von dritten (Vikar) zu den schlechtesten Schülerinnen
gezählt. Über mangelnden Fleiß, ja Faulheit wird mehrmals geklagt,
der Lehrer aber, der sie sieben Jahre unterrichtete, sagt: Das Mädchen
war stets fleißig und konnte ich mit ihr alle Zeit zufrieden sein.
Ihr Benehmen war immer schüchtern und zurückhaltend, bei Strafe
war sie leicht beleidigt und trotzig, bei Tadel sehr empfindlich und
länger als andere Kinder unzugänglich und unzufrieden. Von Eigensinn
und Starrköpfigkeit sei aber nicht die Rede gewesen.
In den letzten Schuljahren besorgte sie die Wartung ihrer jüngeren
Geschwister, die mit großer Liebe an ihr hingen. Zuletzt hat sie den
Haushalt sozusagen allein geführt, da die Eltern meist beide auf Erwerb
aus waren. Sie wird von Eltern und Angehörigen einstimmig als still
und bescheiden, fleißig und artig bezeichnet, Neigung zu Lüge, Unehrlich¬
keit, zu Grausamkeit oder Quälereien ihrer Geschwister zeigte sie niemals.
Als Apollonia 14 jährig die Schule verließ, zwangen sie die elenden
häuslichen Verhältnisse sogleich zu fremden Leuten in Dienst zu gehen.
1) Die folgende Darstellung nach dem Gutachten von Wilmanns, den dar¬
nach noch erhobenen vielfachen Zeugenaussagen und den späteren Beobachtungen
in der Klinik. Die Einzelheiten wurden in chronologischer Folge angeordnet,
ohne daß bei jeder die betreffende Zeugenquelle namhaft gemacht wäre. Woher
die einzelnen Angaben stammen, gebt aus dem Zusammenhang ungetähr hervor.
Das Wichtigste stammt aus dem Munde der Täterin in vielen Verhören, das
Übrige von den zahlreichen Zeugen, deren einzelne Nennung keinen Zweck hätte.
Was als Vermutung hinzugefügt wurde — übrigens nur weniges — ist leicht als
solches zn erkennen.
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Sie ging gern and freute sich auf die Stellung. Die Eheleute Anton
waren wohlhabende Leute, die sie gut behandelten. Kost und Unter¬
kommen waren bedeutend besser als sie es gewohnt war. Die drei
Kinder waren freundlich und zutraulich zu ihr. Ihre Pflichten waren
nicht größer als diejenigen, die schon seit Jahren auf ihr geruht hatten.
Trotz alledem hatte sie gleich vom ersten Tage an arges Heim¬
weh, sie sehnte sich nach ihren Eltern und den ärmlichen Verhältnissen
zurück. Als sie die Mutter, die sie gebracht hatte, verließ, brach sie
in Tränen aus und alle folgenden Tage sah man sie ihren Schmerz im
Weinen stillen. Bald verlangte sie dringend nach Hause. Das Ehepaar,
auf das sie einen guten Eindruck machte, tat alles, um ihr den Auf¬
enthalt angenehm zu machen. Man sprach ihr gütlich zu, die Frau
suchte sie mit Kuchen zu erfreuen, der Mann versprach ihr ein Paar
Schuhe, wenn sie sich ordentlich führe. Doch auf jeden Zuspruch fing
sie an zu weinen oder sie änderte ihr Wesen nicht und gab keine
Antwort.
Bald ließen ihre Leistungen nach. Sie vernachlässigte ihre Arbeit,
kümmerte sich wenig um die Kinder, wurde mürrisch, unfreundlich und
widerwillig. Zwar tat sie, was ihr aufgetragen war, manchmal mußte
man es ihr mehrere Male sagen, niemals tat sie es freudig und an der
nötigen Genauigkeit ließ sie es fehlen. Für die Kinder hatte sie kein
Interesse, spielte nicht mit ihnen, nie sab man sie im Verkehr mit
ihnen lachen oder Scherze machen. Wenn sie unbeaufsichtigt war, blieb
sie ganz untätig.
Ihr Appetit war gering; es kam zuweilen vor, wenn man zu Tische
ging, daß sie weinend abseits stand und sich weigerte, etwas zu essen.
Manchmal wurde sie dazu gebracht, sich zu setzen und etwas zu ge¬
nießen. Vereinzelte Male hat sie gar nichts gegessen und aß erst, wenn
die Frau ihr nachher etwas mitgab.
Sie besuchte während ihrer Dienstzeit die Fortbildungsschule. Hier
fiel sie dem Lehrer nicht als trübsinnig oder unglücklich auf. Einer
Mitschülerin erschien sie traurig, sie habe auch nach der Schule nicht
die Gesellschaft der übrigen gesucht. Eine andere erklärt die Ap. für
frech, sie habe viel gelacht und sie wegen eines Fehlers beim Schreiben
geneckt.
Am ersten Sonntag (22. 4.) nach dem Diensteintritt (17. 4.) ging
sie nach Hause. Als ihre Herrschaft ihr das gestattete, war sie sehr
erfreut und lachte, was später kaum mehr vorgekommen ist. Als sie
zu Hause ankam, war sie außerordentlich froh, sie küßte und herzte
ihr jüngstes Brüderchen, dann fing sie an zu weinen, und als sie sich
ausgeweint hatte, sagte sie, sie könne sich gar nicht eingewöhnen und
bat die Mutter flehentlich, sie nicht wieder fortzuschicken. Diese schlug
ihr den Wunsch sofort bestimmt ab, ebenso der Vater und Ap., ein¬
gedenk der Schläge, die ihr Bruder Eugen erhalten hatte, als er mehr¬
mals wegen Heimweh aus dem Dienste fortgelaufen war, fügte sich ins
Unvermeidliche. Sie hörte auf zu weinen, ohne Abschied ging sie fort.
Die Mutter begleitete sie noch ein Stück Wegs.
Am Abend hörte sie von der Ehefrau Anton, daß in der Medizin für
den kleinen Knaben Gift sei. Der Apotheker habe gesagt, man dürfe dem
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Heimweh und Verbrechen.
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Kinde nicht mehr als einen Löffel geben, wenn es zwei Löffel bekäme,
täte es nicht mehr aufstehen. Am nächsten Mittwoch (25. 4.) vor¬
mittags war die ganze Familie zum Streumachen auf dem Felde. Sie
allein war zu Hause. Wieder ergriff sie heftiges Heimweh. Da kam
ihr der Gedanke: Wenn ich dem A. jetzt mehr als 2 Löffel voll gebe,
so stirbt er und ich darf wieder nach Hause gehen. Um dem Kinde
keine Flecken ins Kleid zu machen, legte sie ihm Lumpen unter das
Kinn und gab ihm dann mehrere Eßlöffel Arznei. Von verschütteter
Flüssigkeit beschmutzte Tücher und die Flasche versteckte sie dann
sorgfältig. Ihre Absicht, das Kind zu töten, schlug aber fehl. Die
Arznei schadete offenbar nicht.
Die Dienstherrin hatte nun schon bemerkt, daß Ap. nach dem
ersten Besuche zu Hause viel trauriger geworden war und sagte ihr
deshalb, wenn sie sich nicht eingewöhnen könne, könne sie nach Hause
gehen. Dasselbe wiederholte sie einige Tage später. Beide Male er¬
hielt sie keine Antwort.
Am nächsten Sonntag (29. 4.) rief Ap. einen fremden Mann, der
in der Richtung nach ihrem Heimatsdorfe ging, an und bat ihn aus¬
zurichten, daß einer von ihren Eltern sie doch jeden Sonntag besuchen
möchte. Am selben Tage kam ihre Schwester Tekla, eine Kranken¬
pflegerin, zu ihr zu Besuch, redete ihr zu und tröstete sie, sie selbst
habe auch früh fort müssen und jeder müsse sich an den Dienst gewöhnen.
Nachher war Ap. entschieden munterer, doch das hielt nicht an.
Am nächsten Sonntag (6. 5.) wurde ihr Verlangen, nach Hause zu
dürfen, abgeschlagen. Man bemerkte wohl, daß es ihr leid tat, doch
blieb sie stumm und klagte nicht. Ihre Stimmung blieb fortgesetzt
finster und traurig. Einmal bat sie, man möchte sie doch mit aufs
Feld nehmen, zu Hause allein bekomme sie zuviel Heimweh.
Während sich nach außen in der nächsten Woche ihr Zustand eher
besserte, tauchte, 'als nun die Sehnsucht nach Hause hoffnungslos wurde,
wieder der Gedanke in ihr auf, sich des jüngsten Kindes zu entledigen
um, auf diese Weise überflüssig geworden, nach Hause geschickt zu
werden. In der Überzeugung, daß sie auch am nächsten Sonntag keinen
Urlaub bekommen werde, beschloß sie am Samstag Abend, in der
folgenden Nacht das Kind in den Fluß zu werfen, um so am Sonntag
ungehindert nach Hause gehen zu können.
Mit diesem Gedanken ging sie um l l 2 $ Uhr ins Bett und schlief
bald ein. Sie erwachte, als es schon hell wurde. Sofort erhob sie
sich mit der Absicht, die Tat auszufübren, zog Unterrock, Kittel, Ober¬
rock und Strümpfe an und schlicli vorsichtig und leise die Stiege
hinunter durch die Küche und die Kammer in das Schlafzimmer ihrer
Herrschaft. Ohne diese zu wecken, hob sie den Knaben aus dem
Kinderwagen und gelangte durch Kammer und Küche, durchs „Ehrle“,
die Waschkammer, den Stall und die Futterkammer ins Freie. Alle
Türen ließ sie offen, sie sagt, das Kind sei wach gewesen, habe die
Augen offen gehabt und nicht geschrieen. Schnell lief sie mit ihm zum
Fluß, über die Brücke aufs andere weniger steile Ufer und warf es dort ins
Wasser. Ohne sich weiter umzusehen, eilte sie auf demselben Wege
zurück, entkleidete sich und legte sich ins Bett.
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Eine Viertelstunde später sprang ihr Herr die Treppe hinauf and
schrie, das Kind sei fort. Sie zog sich wieder an, beteiligte sich am
Suchen des Kindes, war ruhig und verriet durch nichts ihre Schuld. Gleich
frühmorgens 3 3 /< Uhr erschien der Vater des Kindes beim Polizeidiener
und teilte mit, daß sein jüngster Sohn in dieser Nacht geraubt worden sei.
Da bei näheren Nachforschungen auf niemanden ein Verdacht fiel, so
nahm man an, daß einer der Eltern das Kind beiseite geschafft hätte,
und am nächsten Tage wurden beide als am meisten verdächtig fest¬
genommen. Bei deren Abführung ins Gefängnis brach die zurück-
bleibende Ap. in Tränen aus. Der Mord erregte im Dorfe das größte
Aufsehen, der Geistliche in der Kirche betete für die Entdeckung des
Täters.
Aber erst drei Tage später bei einer neuerlichen Vernehmung
legte Ap. eiD Geständnis ab, indem sie angab, was eben erzählt wurde.
Sie fügte hinzu: „Sie wisse, daß sie ein großes Unrecht begangen und
daß sie durch ihr Leugnen ihre Herrschaft ins Gefängnis gebracht
habe, sie würde die Tat gleich am Montag gestanden haben, habe aber
gefürchtet, eingesperrt zu werden. Sie sei sich wohl bewußt gewesen,
daß das Kind seinen Tod im Fluß finden werde, aber sie habe eben
um jeden Preis nach Hause gewollt. Daß man einen Menschen nicht
töten dürfe, wisse sie, sie kenne die 10 Gebote. Daß sie deswegen
mit dem Tod bestraft würde, habe sie nicht gewußt, wohl aber, daß
man sie einsperren würde“. Den Vergiftungsversuch leugnete Ap.
anfangs und erfand eine Geschichte, sie habe mit einer Stopfnadel
gegen das Glas gestoßen, sodaß die Medizin ausfloß, diese habe sie mit
einem Tuche aufgewischt usw. Später gestand sie auch diese Tat.
Die Eheleute Anton wurden sofort auf freien Fuß gesetzt, Ap.
verhaftet. Die Leiche des kleinen Jungen war inzwischen im Flusse
gefunden.
Das Heimweh, das offenbar durch den Schrecken über die Furcht¬
barkeit der Tat, über das Unglück, das sie heraufbeschworen hatte,
durch die Furcht vor der Entdeckung und endlich durch ihre Fort¬
führung ins Gefängnis in den Hintergrund gedrängt worden war, ent¬
wickelte sich allmählich wieder, ohne aber wohl die verzweifelte Schwere
wieder zu erreichen. In der ersten Zeit ihres Aufenthalts im Gefängnis wir
sie sehr deprimiert und hat viel geweint. Nach dem Grunde gefragt,
sagte sie: „ich will heim u , sonst sprach sie nicht. Bald ging es ihr
besser. Sie erfüllte fleißig, willig und anstellig die ihr übertragenen
Pflichten.
Das Rätselhafte der Tat, der Widerspruch zwischen ihrem gut¬
mütigen Charakter und kindlichen Wesen und der Grausamkeit des
Verbrechens veranlaßten die Einholung eines Gutachtens zunächst vom
Bezirksarzt uud auf dessen Antrag von der Heidelberger Psychiatrischen
Klinik.
Beobachtung in der Klinik: Körperliche Untersuchung: 14jähriges
kleines, grazil gebautes Mädchen in gutem Ernährungszustand. Noch
kindliche Formen, die Brüste wenig entwickelt, Schamhaare spärlich,
Achselhaare kaum angedeutet. Die Menstruation ist noch nicht ein¬
getreten.
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Heimweh and Verbrechen.
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Ap. zeigte sich als ein außerordentlich schüchternes und scheues
Kind. Während der ersten Tage, an denen sie noch im Bett gehalten
wurde, sprach sie überhaupt nicht aus eigenem Antrieb. Ihre Stimmung
schien traurig und ängstlich, sie weinte viel vor sich hin. Zur Be¬
antwortung selbst einfachster Fragen war sie nicht zu bewegen. Sie
suchte von selbst keinen Verkehr mit anderen, sondern wich jeder An¬
näherung aus. Dabei war sie aber nicht unfreundlieh und unzugäng¬
lich, sondern sie folgte im Gegenteil jeder Aufforderung, die an sie ge¬
stellt wurde und verrichtete die ihr übertragenen kleinen Hausarbeiten
nicht nur zur vollsten Zufriedenheit, sondern bezeigte für ihr Alter
ungewöhnlichen Fleiß und Ausdauer. Bei den Explorationsversuchen
brachte sie schließlich auf langes Drängen halb weinend mit leiser
Stimme einige Worte heraus, fuhr man sie scharf an, brach sie in
Tränen aus und man erreichte nichts. Dabei hatte man niemals den
Eindruck, daß dieses Verhalten aus bösem Willen, aus Trotz oder Ver¬
stocktheit zu erklären wäre, sondern vielmehr aus einer übergroßen
kindlichen Schüchternheit, Beklommenheit und Ängstlichkeit. Bestätigt
wird diese Vermutung durch eine Äußerung der Angeklagten der
Pflegerin gegenüber, zu der sie allmählich ein größeres Vertrauen faßte
und der gegenüber sie ihre Scheu einigermaßen überwand. Ihr gab
sie auf den Vorhalt, den Ärzten doch besser Auskunft zu geben, weinend
zur Antwort: „Wenn die Ärzte mich fragen, steigt es mir immer so
auf, daß ich dann nichts mehr herausbringe“. Im Laufe der 6 Wochen
überwand Ap. zum Teil ihre Furchtsamkeit und gab schließlich sogar
ausführlichere zusammenhängende Antworten. Über ihre Straftat macht
sie unter lautem Schluchzen dieselben Angaben wie früher. Als Motiv
gab sie wieder an, sie habe so arges Heimweh gehabt, daß sie nicht
mehr gewußt habe, was sie tun solle; sie würde nach Hause gelaufen
sein, der Vater würde sie aber nur geschlagen" und wiedergebracht
haben, wie er es mit dem Eugen gemacht habe, der aus Heimweh
einige Male aus dem Dienste und nach Hause gelaufen sei. Schließlich
habe sie gedacht, wenn eines der Kinder stürbe, dürfe sie nach Haus,
deshalb habe sie sich an dem Kind vergriffen. Sie habe gehofft, es
käme nicht heraus, als aber ihre Herrschaft ins Gefängnis gekommen
sei, habe sie alles gestanden. Nach Aufforderung schrieb sie über den
Hergang der Sache in sauberer Schrift orthographisch richtig folgendes auf:
„Meine Mutter hat gesagt, ich soll zu Antons in den Dienst Ich
bin gerne hingegangen. Meine Mutter hat mir meine Sachen gepackt
und ist mit mir nach N. gegangen. Die Kinder sind nicht gleich zu
mir gegangen. Den zweiten Tag habe ich das Heimweh bekommen,
am weißen Sonntag bin ich heimgegangen. Wie ich heim gekommen
bin, war meine Mutter in die Kirche gegangen. Mittags bin ich mit
meiner Mutter nach G. gegangen. Unterwegs habe ich zu ihr gesagt,
ich hätte es gut bei Anton, aber ich hätte das Heimweh, ich möchte
wieder heim. Die Mutter sagte: sie könnte mich nicht daheim brauchen.
Um 4 Uhr bin ich wieder allein nach N. zurückgegangen, aber ich
habe immer noch Heimweh gehabt. Am Sonntag nach dem weißen
Sonntag hat mich meine Schwester besucht. Ich habe zu ihr gesagt,
ich hätte das Heimweh. Sie hat gesagt: sie hät auch zu fremden
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Leuten gemußt. Ich soll recht beten und fleißig und gehorsam sein,
dann würde das Heimweh vergehen. Wie sie fort ist, bin ich mit
ihr bis nach F. gegangen. Wie ich von ihr fort bin, habe ich wieder
das Heimweh bekommen. Acht Tage nachher habe ich zu Antons
gesagt, sie sollen mich einmal heimlassen, sie haben gesagt, sie nehmen
die Kinder auch nicht alle Sonntag, ich solle dableiben und es sei
auch schon spät. Am andern Sonntag ist mir der Gedanke gekommen,
das jüngste Kind fortzutun. Ich habe gedacht, wenn das Kind fort
ist, dann darf ich heim. Am Sonntag morgen um 3 Uhr habe ich
das Kind geholt und habe es in den Fluß geworfen und dann bin
ich wieder ins Haus zurückgegangen. 3 Tage nachher habe ich e3
erst gesagt, daß ich das Kind fort habe. Ich habe es darum nicht
gleich gesagt, weil ich dachte, ich werde eingesperrt. Gleich nachher
hat mich der Schutzmann ins Gefängnis gebracht. Nachher hat es
mich sehr gereut, daß ich das getan habe. 10 Wochen nachher hat
mich der Schutzmann hierher gebracht“.
Die Kenntnisse des Mädchens entsprechen wohl im allgemeinen ihrem
Alter und ihrer Vorbildung. Im Rechnen übersteigen ihre Kenntnisse und
Fähigkeiten das gewöh^krf^TI^~>«^hr beträchtlich. Ihre Kenntnisse
auf anderen GebietejK^ÄMmrffigj^v^^Krieg 1870/71 weiß sie nichts,
außer Deutschland/gön säe mwNltalicn CmKFrankreich und nach langem
Stocken Schlesien ftlff'LäudÄr. Europas ang^A. In ihrer engeren Heimat
weiß sie besser fcjesclrern.** s?e -Mwlvit niJ Nebenflüsse des Neckars,
kennt den Katzei\ucke L dj^^ j^inwohnerarf 1 ihres Dorfes, nennt eine
große Reihe von rajärfer» und StädteflNachbarschaft, sie kennt
Himmelsrichtungen, ' j^l^aen jKalender, die religiösen
Zeremonien, sie weiß, wa^HSIP^tf^den Äck||ii baut. Aufgefordert,
einen Aufsatz über Ostern zu schreiben,. .lieü^ljpe folgendes Schriftstück:
„An Ostern bin ich mit meiner Schwester in T. gewesen. Da
war es sehr schön. Das Wetter war auch sehr schön. Wir haben
auch allerlei schöne Sachen gesehen. Es waren noch viele anderen
von unserm Dorf dabei. Wir waren auch in der Kirche. Der Herr
Pfarrer hat sehr schön gepredigt. Die Natur war sehr schön. Bäume
und Blumen haben geblüht. Es hat uns sehr gut gefallen. Wir
waren sehr müde wie wir heimgekommen sind. Heidelberg, den
31. August 1906. Ap. SA
Auch die gewöhnlichen moralischen Begriffe sind der Angeklagten
nicht fremd. Sie weiß, daß man seine Feinde lieben soll, daß man
nicht lügen und nicht stehlen darf usw. Fragen, die ihr ihre
jetzige Lage in Erinnerung bringen, wie z. B. nach ihrer Heimat,
ihren Eltern und Geschwistern oder solche, die irgendwie in Be¬
ziehung zu ihrer strafbaren Handlung stehen, lösen jedesmal einen
neuen Tränenerguß aus. Doch ist ihr Reueaffekt zwar im Augenblick
sehr tiefgehend, aber flüchtig und nicht nachhaltig. Von einer eigent¬
lichen, auf völliger Einsicht in die Tragweite und die Bedeutung der
Tat beruhenden tiefen Reue, kann wohl nicht die Rede sein. Zeichen
von häßlichen Charaktereigenschaften traten in der Klinik nie hervor.
Auch als sie ihr scheues Wesen abgelegt hatte, blieb sie artig und be¬
scheiden. Niemals suchte sie durch Erzählungen der Straftat Interesse
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za erwecken, sondern suchte diese ängstlich vor den Mitkranken geheim
zu halten. Erwähnte eine der Pflegerinnen auf ärztliches Geheiß diese
Dinge, so brach sie gleich in Tränen aus. Sie vertrug sich gut mit
den Kranken, war nachgiebig und lenksam. Trotz vieler Anlässe zu
Streitigkeiten beteiligte sie sich nicht' daran, nur einmal beklagte sie
sich mit Recht Aber die Gehässigkeiten eines moralisch sehr tiefstehenden
Mädchens. Überhaupt beurteilte sie die Umgebung richtig, schloß sich
mit Vorliebe den besonnen arbeitenden Kranken an und half ihnen ohne
Aufforderung.
Ihre Stimmung, die anfänglich so sehr deprimiert war, hellte sich
allmählich etwas auf. Die traurigen Verstimmungen wurden seltener
und traten vorzugsweise abends auf, wo sie dann auch häufig die
Nahrung verweigerte, nüchtern zu Bett ging und stundenlang vor sich
hinweinte. Sie klagte dann regelmäßig über Heimweh. Allmählich trat
dieses ganz zurück. Zwar rollten ihr, sobald man ihre Heimat er¬
wähnte, sofort die Tränen über die Backen, sich selbst überlassen, be¬
sonders bei ihrem Zusammensein mit den Pflegerinnen und Kranken,
wurde sie heiter und frisch. Vorübergehend konnte sie sogar ganz ver¬
gnügt plaudern.
Auch über ihre Zukunft machte sie sich Gedanken. Der Arzt
hatte ibr gelegentlich erklärt, daß, selbst wenn der Richter sie frei¬
sprechen sollte, sie doch nicht nach diesen Vorgängen in Freiheit
werde bleiben dürfen. Die Mutter könne sie bei ihrer Armut nicht
brauchen und in Dienst werde sie der Richter kaum mehr lassen.
Wenige Tage später erklärte sie der Pflegerin, wenn sie doch nicht
wieder heimdürfe, so wolle sie gern hierbleiben und in der Küche helfen.
Mit den erwähnten Ausnahmen war Appetit und Schlaf ungestört,
das Körpergewicht nahm von 76 auf 80 Pfd. zu, um dann wieder auf
79 zu sinken. Irgendwelche Zeichen, die auf Epilepsie oder Hysterie
schließen ließen, wurden nicht beobachtet.
Das Gutachten konstatierte das Vorliegen einer Heimwehmelancholie,
die in solchem Grade als krankhafte Störung der Geistestätigkeit im
Sinne des § 51 St. G. B. zu betrachten sei.
Von Interesse für die Auffassung unseres Falles sind die Ein¬
wendungen des Staatsanwalts, die gegen das Gutachten erhoben wurden.
Er betont als für den Charakter der Täterin bezeichnend, daß sie
durchaus nicht freiwillig das Geständnis abgelegt habe, sondern erst
nach längeren seelischen Einwirkungen, wobei ihr vorgehalten wurde,
ein wie großes Unrecht sie tue, durch ihr Leugnen ihre Herrschaft ins
Gefängnis zu bringen. — Beim Verhör sei Ap. durchaus nicht still und
scheu gewesen, sondern habe präzise Antworten gegeben. Sie leugnete
rasch und enschieden, erst beim Geständnis wurde sie langsamer und
zurückhaltender. — Es wird die auf Tatsachen begründete Feststellung
vermißt, daß das Heimweh der Ap. so stark war, daß die sonst beim
geistig vollwertigen Menschen wirkenden psychischen Hemmungen ver¬
sagten und sie dadurch zur Verübung der Tat hingerissen wurde.
Freilich stehe die Grausamkeit der Tat in keinem Verhältnis zum
Motiv. Das letztere erkläre sich aber aus dem beschränkten Gesichts¬
kreis der jugendlichen Täterin.
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Infolge dieser Einwände wurde von einer anderen Autorität ein
erneutes Gutachten erbeten. Ap. wurde in das Amtsgefängnis des
neuen Aufenthaltsortes überführt. Hier weinte sie unaufhörlich, ver¬
weigerte oft die Nahrung, sprach nichts, man bekam nur ein „ja“,
oder „nein“ oder „ich weiß nicht“ aus ihr heraus.
Der neue Gutachter schließt sich seinem Vorgänger vollkommen
an. Er nimmt ein quantitativ sehr heftiges Heimweh an, das einen
psychisch abnormen Zustand von der Art einer melancholischen De¬
pression darstelle, von so großer Intensität, daß die freie Willens¬
bestimmung im Sinne des § 51 St. G. B. ausgeschlossen sei.
Auf Grund dieses erneuten Gutachtens wurde das Verfahren ein¬
gestellt und Ap. kam auf den Rat von Wilmanns als Dienstmädchen
in die psychiatrische Klinik Heidelberg am 6. 11. 06, wo sie sich zur
zeit noch befindet.
Fast Jmmer hat sie ihre Arbeit ordentlich verrichtet, war fleißig
und willig gegenüber ihren Vorgesetzten. Nachdem sie anfangs noch
sehr schüchtern gewesen war und öfters über Heimweh klagte, wurde
sie bald lebhafter, trumpfte wohl auch gelegentlich auf: „Ich lasse mir
von den Wärterinnen nichts gefallen“.
Zeitweise war sie mürrisch, arbeitete nicht mehr so viel, stand
herum und klagte über Heimweh. Eines Tags lag sie im Bett, hatte
keinen Appetit, klagte über Schmerzen auf der Brust. Objektiv wurde
kein Befund erhoben, Temperatur normal. Am nächsten Tag stand sie
ohne Erlaubnis wieder auf, sagte, es ginge ihr gut, sie könne schon
wieder arbeiten.
Zuweilen trifft man sie weinend an, sie weint einen halben
Tag ohne genügende Gründe anzugeben, z. B. sagte sie einmal,
der Pfarrer habe vom Weinberge gepredigt, das habe sie so ange¬
griffen. Eine besonders tüchtige Pflegerin, der sie vor den
anderen nahesteht und der gegenüber sie sich im Gegensatz zu
den übrigen auch nie Widersprüche erlaubt, gab an, daß Ap. ihr
manchmnl angedeutet habe, weswegen sie so weine. Sie denke an ihr
Verbrechen, das sie nicht vergessen könne. Sie habe auch mehrere
Male gesagt, wenn sie aus der Klinik komme, wolle sie sich etwas
antun. Anderen gegenüber hat Ap. solche Andeutungen nie gemacht.
Im Laufe der Zeit meinte Ap., sie wolle nicht immer Hausmädchen
bleiben, sondern das Nähen lernen. Letzteres tat sie mit Geschick bei
einer Krankenwärterin.
April 1907 trat zum ersten Male die Menstruation auf. Sie war
sehr müde, aber sonst normal.
Im Juni war sie manchmal sehr gereizt, schlug die Türen laut zu,
machte Schwatzereien unter dem Personal, gab den Wärterinnen
„schnippische Antworten“, wenn sie eine Arbeit verrichten sollte oder
wenn sie etwas gefragt wurde. Einen Tag aß sie fast gar nichts, sagte,
man habe ihr etwas ins Essen getan, sie könne fast nichts mehr sehen.
Später sagte sie darüber, sie habe gemeint, man habe ihr Schlafpulver
hineingegeben, um sie zu ärgern. (Sie hat oft gesehen, daß die Pat.
Medikamente in den Mahlzeiten bekommen.)
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Heimweh und Verbrechen.
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Von ihren Verstimmungen, die manchmal alle Wochen kämen,
sagte sie, sie dauerten */2—1 Tag, sie weine ohne Grund, denke an
nichts, sei nur traurig, habe keine Angst dabei. Die letzten Tage vor
dem Unwohlsein sei sie meist gereizt „Ich mag dann nichts hören“.
Sie merke dann, daß die Regel wiederkomme. Am ersten Tage der
Menstruation sei sie traurig, weniger gereizt, am 2. Tag wieder ganz wohl.
Sie bat sich, abgesehen von dem Erwähnten, immer zur Zufrieden¬
heit betragen. Die Oberwärterinnen und die Pflegerinnen äußern sich
sehr günstig über sie, alle halten sie für einen guten Charakter, nur
sei sie gelegentlich etwas gereizt und trotzig. Ärzten gegenüber be¬
steht immer noch die Schüchternheit, sie spricht wohl, aber man merkt
immer ihre Befangenheit Den andern Mädchen gegenüber soll sie
lebhaft sein.
Vor kurzem schrieb Apollonia einige gereizte und sentimentale
Briefe an ihre Schwester. Solche Äußerungen, die Art ihrer Ver¬
stimmungen, ihre schnippischen Antworten, die Vergiftungsidee usw.
erinnern an das, was man wohl hysterischen Charakter nennt, weil
diese Abnormität häufig bei Hysterischen zu finden ist. Man wird
natürlich weit entfernt sein, darauf die Diagnose „Hysterie“ zu gründen.
Es handelt sich um allgemein psychopathische Eigentümlichkeiten, die
auch außerhalb des begrenzteren Kreises der Hysterie häufig Vorkommen.
Einen analogen, doch nicht ganz so klaren Fall veröffentlichte
Wilna an ns. Da er leicht im Original nachzusehen ist, mag er
hier nur in ein paar Stichworten referiert werden.
Eva B. l3 2 /3 Jahre alt. Über Charakter und Unterricht wird nur
Günstiges ausgesagt. Eltern, Lehrer, Gefängnisverwalter rühmen sie
einstimmig. Leumund der Familie tadellos. Gute Erziehung. Um
Ostern kam sie zum ersten Male einige Stunden vom Heimatsort in
Dienst. Pfingsten flehte sie die Mutter unter Tränen an, daheimbleiben
zu dürfen. 14 Tage später erster Versuch, das anvertraute Kind zu
töten, 4 Wochen später zweiter Versuch, der durch frühzeitiges Er¬
wachen eines anderen Kindes vereitelt wird. Bei den Taten plan¬
mäßiges Vorgehen. Vorher Klagen über Brustschmerzen und Stechen
im Rücken, vielleicht simuliert. Nach der Tat machte sie einen rat¬
losen verzweifelten Eindruck. Später schüchtern, doch ruhig-heiteres
Wesen und kindlich-sorglose Stimmung. Mangel einer nachhaltigen
Reue. Bei den Vernehmungen viele Widersprüche, doch bleibt ihre
Angabe, daß sie unter allen Umständen aus dem Dienst entlassen sein
wollte, immer dieselbe. Nur kurze Zeit Leugnen, bald Geständnis *)-
Wilmanns Gutachten nahm an, daß sich Eva B. mit Wahrschein¬
lichkeit in einem willensunfreien Zustande infolge von Heimweh be¬
funden habe.
1) Diesen Fall, den Wilmanns eingehend untersuchte, hat auch Aschaffen¬
burg gesehen. (Gaupp’s Cbl. 1908, p. 354.) Er hat sich nicht davon überzeugen
können, daß das Kind nicht schwachsinnig sei. Er soll Bie jedoch nur eine
halbe Stunde kurz untersucht haben. Das genügt bei einem schüchternen Kinde
uicht, um ein maßgebendes Urteil abgeben zu können.
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Den Staatsanwalt') überzeugte die Begründung dieser Anscbauung
nicht. Es wurde ein weiteres Gutachten und schließlich ein Obergut¬
achten von einer dritten Persönlichkeit eingefordert. Beide hielten die
Täterin für zurechnungsfähig. Ein Heimweh sei nicht bewiesen, von
Eva B. nur W. gegenüber angegeben. Dagegen sei die Unlust am
Dienst sicher gestellt. Um nichtige Motive, um ein paar Glas Bier
würden von Erwachsenen Meineide und Morde begangen, es sei darum
wohl annehmbar, daß auch Eva B. aus verbrecherischem Willen heraus
gehandelt habe. Insbesondere wurde hervorgehoben, daß ein patho¬
logisches Heimweh sich durch Symptome verraten müßte. (Appetitver¬
lust, Schlafstörungen usw.)
In den Gründen des Gerichts wird u. a. angegeben: Die Gutachten,
welche Zurechnungsfähigkeit annehmen, vermögen eine hinreichende
psychologische Erklärung nicht zu geben. „Nach dem anerkannten
Satz vom zureichenden Grunde angewandt auf die menschliche Hand¬
lung, müssen die Gründe einer Handlung schwer genug sein, um die bei
einem sittlich und verständlich normalen Menschen die der Entschließung
entgegenstehenden Bedenken aufzuwiegen“. Zur Erklärung des schreien¬
den Widerspruchs zwischen Motiv und Schwere der Handlung reiche
die noch nicht reife sittliche und verständliche Entwicklung der Täterin
nicht aus. Die Fälle, in denen um geringe Ursachen schwere Ver¬
brechen begangen werden, gehörten den eigentlichen Verbrechernaturen
an. Um eine solche handle es sich nach den zahlreichen Zeugenaus¬
sagen bei Eva B. nicht. W.s Meinung, die Tat sei der Ausfluß eines
bis zur Ratlosigkeit gesteigerten Heimwehdrange3, erschien annehmbar.
Nach dem Grundsatz in dubio pro reo, der auch bei § 51 St.G.B. gelte,
erkannte das Gericht auf Freisprechung.
Eva B. ist, nachdem sie eine Zeitlang zu Hause war, nun schon
längere Zeit wieder als Dienstmädchen in Stellung. Man hat nichts
Ungünstiges über sie gehört, sie arbeitet fleißig.
Um, soweit es die bisher bekannten Krankengeschichten ge¬
statten, bei diesen Heimwehzuständen das Typische vom Individuellen
unterscheiden zu können, mögen zunächst eine Anzahl Fälle Platz
finden, die darin mit Ap. wie Eva B. übereinstimmen, daß eine
intellektuelle oder moralische Minderwertigkeit nicht bewiesen und
unwahrscheinlich ist. Der folgende Fall hat manche Ähnlichkeit
mit Eva B.
Spitta: Prakt. Beiträge zur gerichtsärztl. Psychologie. Rostock
und Schwerin 1855. S. 25. Heimweh. Melancholie. Tötung.
R., Tochter eines Kuhhirten, kam Ostern 1850, 13 Jahre alt, auf
Wunsch der Eltern als Kindermädchen zu einem Schäfer.
Nach 14 Tagen besuchte sie ihre Eltern. Abends kehrte sie zurück.
Der Schäfer bezeugt mit ihr zufrieden gewesen sein. Sie habe auch
1) Die im Verlaufe des Prozesses geäußerten Ansichten mögen kurz referiert
werden, weil ihre Kenntnis in künftigen Verfahren vielleicht von Wert sein
könnte.
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Heimweh und Verbrechen.
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immer guten Appetit and gesunden Schlaf gehabt. Trübsinn oder Weinen
habe er nicht bemerkt. Doch schon am folgenden Tage verlangte sie
wieder zu ihren Eltern, weil sie Magenschmerzen habe. Der Besuch
wurde ihr nicht gestattet. Sie ging darum heimlich nach Hause, nach¬
dem sie ihr bestes Zeug angezogen, ihre übrigen Sachen aber zurück¬
gelassen hatte.
Am folgenden Tage kehrte sie in Begleitung einer Tante zu ihrer
Herrschaft zurück, erklärte aber, daß sie auf keine Weise länger dort
bleiben werde. Da auch die Herrschaft keinen Wert mehr darauf legte,
löste sich das Dienstverhältnis.
Schon am 17. April nahm sie wieder einen Dienst bei der Tage¬
löhnerfrau 6. in S. an. Sie war zunächst zufrieden und schien gern
hinzugehen. Am Montag 22. April besuchte sie ihre Eltern, um ihre
Wäsche zu wechseln, blieb nur kurze Zeit und sprach sich zufrieden aus.
Am 25. Mai ließ sie ihrem Vater sagen, er möge ihr doch etwas
entgegenkommen, da sie ihn zu sprechen wünsche. „Die Mutter, die
ihrem Manne hiervon nichts sagte, stellte in der Voraussetzung, daß
ihre Tochter nach Hause zurückkehren werde, einen Stock zu ihrer
Züchtigung zurecht. Wirklich erschien die Tochter auch abends, und
als sie auf die Frage der Mutter nach ihrem Begehr nicht gleich ant¬
wortete, vielmehr auf die Äußerung, jsie wolle wohl schon wieder aus
dem Dienste laufen, zu weinen anfing, ward sie von der Mutter mit
dem Stocke tüchtig durchgeprügelt und wieder nach S. zurückgeschickt“.
Die Inkulpatin' erklärte, daß sie damals schon den Wunsch gehegt,
wieder nach Hause zu kommen, daß sie eben ihrem Vater die Mitteilung,
daß sie es dort gar nicht länger auszuhalten vermöge* habe machen
und ihn bitten wollen, er möge sie wieder nach Hause nehmen. — Der
G-. hatte sie vorgelogen, ihr Vater habe sie gebeten, ihm abends, wenn
er zum Holzholen ausginge, etwas entgegenzukommen, um mit ihm
zu sprechen.
Ihr lebhafter Drang nach dem elterlichen Hause fiel der Herrschaft
auf. Oft stand sie abends und über Tags plötzlich auf, lief aus dem
Hause und ging am Torfschauer auf und ab, nach der Richtung des
Heimatsdorfes blickend. Einmal sagte sie, dort sei es doch besser. Auf
näheres Fragen meinte sie dann nur, die Häuser seien dort schöner.
Durch solche Beobachtungen veranlaßt, fragten die Eheleute das Mäd¬
chen Öfter, ob es ihr denn bei ihnen auch wohl gefiele, was sie stets
bejahte und hinzufügte, das Essen und Trinken sei noch besser als zu
Hause. Wegen des plötzlichen Hinauslaufens befragt, schützte sie Durch¬
fall vor. Sonst gibt der Mann an, die R. habe gut gegessen und ge¬
schlafen, sei nicht merkbar traurig gewesen und habe nicht geweint.
Sie habe sich stets gut betragen, sei ordentlich, folgsam und arbeits¬
lustig gewesen. Der Frau schien es mitunter, namentlich auch am
Abend des 27. April so, als wenn die R. geweint hätte. Allein Inkul¬
patin stellte dies in Abrede, schob die Tränen auf den stattgehabten
Rauch und erklärte sich mit ihren Verhältnissen durchaus zufrieden.
Die R. selbst bezeugt, daß sie abends nicht habe einschlafen können,
auch manchmal an beängstigenden Träumen gelitten habe, morgens aber
sei der Schlaf gut gewesen.
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56
I. K. Jaspebs
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Am nächsten Sonntag, 28. April, war sie wieder za Hause and durfte
sogar die Nacht dort bleiben. Von neuem erklärte sie, es in ihrem
Dienste gar nicht aushalten zu können, und bat, wieder zu Hause die
Gänseherde hüten zu dürfen. Doch die Mutter war dagegen. Auf deren
Befehl, wiewohl sichtlich ungern, machte Bie sich wieder nach S. auf.
Die Mutter ist von ferne bis zu einem am Wege liegenden Teiche
nachgegangen, weil ihr unerklärlich bange gewesen sei, die Dirne möge
sich ein Leid antun.
Als sie am Montag, 29. April, morgens wieder bei ihrer Herrschaft
war, wurden ihr die Kinder zur Wartung übergeben, doch sie scheint
nicht mehr bei der Sache gewesen zu sein: als der 2-jäbrige Junge
einmal nmfiel, ließ sie ihn unbekümmert liegen und wurde deswegen
zurechtgesetzt.
Nach einiger Zeit kam sie in den Garten und sagte, das Kindchen
läge in der Wiege und stöhne, sie wisse auch gar nicht, was ihm fehle,
sie habe ihm nichts getan. Das Kind starb in kurzer Zeit. Die auf¬
geregte Mutter bedeutete ihr, sie könne nur fortgehen. Nun könne sie
sie nicht mehr gebrauchen. Sie erwiderte, dann wolle sie erst ihre
Mutter holen, denn das Kind habe es von selbst bekommen.
Obgleich das tote Kind längst begraben war, steigerte sich der
Verdacht der unglücklichen Mutter, daß das Kindsmädchen daran schuld
sei. Das gerichtliche Verfahren wurde eingeleitet und nach vielen
Widersprüchen legte die Täterin endlich ein Geständnis ab.
Am 22. Mai behauptete sie noch, durch einen Zufall, den sie ein¬
gehend beschreibt, die Wiege umgeworfen zu haben. Am 30. Mai err
klärte sie unter Weinen und mit der Versicherung, die Wahrheit sagen
zu wollen, sie habe gedacht, wenn sie das Kind schlecht behandle,
werde man sie gehen lassen, dann habe sie es mehrere Male auf den
Boden geworfen.
Schließlich kam sie zu folgenden Angaben, bei denen sie im wesent¬
lichen blieb. An jenem Morgen sei der Wunsch fortzukommen plötz¬
lich recht lebhaft in ihr aufgetreten, sie habe nach Wegnahme des
deckenden Tuches dem Kinde wohl 10 Faustschläge an den Kopf, ins
Gesicht, auf Nase und Mund gegeben, darauf habe sie es aus der Wiege
genommen und zweimal mit dem Hinterkopf auf den Boden geschlagen.
Da das Kind Kot unter sich ließ, habe sie es gereinigt und ein neues
Hemde genommen. Bald habe sie dem Kinde dann noch einen Schlag
in den Nacken gegeben, sodann habe sie den Mund mit den Fingern
zugehalten, auch das Kind um die Rippen gefaßt und in der Wiege
geschüttelt. Wiederholt äußerte sie sich, ihre Absicht sei Tötung des
Kindes gewesen, weil ihr dies als das sicherste Mittel erschien, fortzu¬
kommen.
Im Laufe der Zeit brachte sie im Gefängnis immer mehr Klagen
über ihre Herrschaft und die Behandlung bei ihnen vor, die in Wider¬
spruch mit ihren eigenen früheren Angaben und denen der Herrschaft
selbst stehen. Es scheint, als wollte sie auf diese Weise eine bessere
Motivierung finden. Immer wieder äußerte sie ihre Sehnsucht nach
dem elterlichen Hause. Als der Gerichtsdiener sie ins Gefängnis ab¬
führte, machte sie einen vergeblichen Versuch, ihm zu entlaufen. Ein-
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Heimweh und Verbrechen.
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mal bat sie, einen Gesang ans dem Gesangbnche auswendig lernen za
dürfen, den sie den Richtern rezitierte, nm wieder frei zu kommen.
Als ihr Verbrechen betrachtete sie, daß sie das Kind geschlagen habe.
Sie vergoß Tränen, aber anscheinend mehr aus Unbehaglichkeit über
den Arrest als aus Reue. Als man ihr das große Unrecht vorhielt, er¬
klärte sie unter Weinen dies einzusehen, versprach niemals wieder vom
rechten Wege abzuweichen, und bat, daß man ihr ihr Unrecht und ihre
große Sünde vergeben möge.
Sie machte auf das Gerichtspersonal den Eindruck eines ganz im
Kindesalter stehenden Mädchens mit guten Geistesanlagen. Ihre Ant¬
worten waren schnell und treffend. Ihre Äußerungen bei den Verhören
konnten fast wörtlich wiedergegeben werden. Sie legte einen guten und
raschen Verstand an den Tag. Sobald auf ihr Unrecht die Rede kam,
fing sie an zu weinen. Zu einer wahren Reue schien es nicht gekommen
zu sein.
Über ihren Charakter sagt der Vater, daß sie gelegentlich einen
Trieb zur Widersetzlichkeit zeigte, doch nie log, mit ihrer jüngeren
Schwester immer in Frieden lebte und sich selbst überlassen, ein heiteres
Gemüt zeigte. Die Mutter bezeichnet sie als friedfertig und wahrheits¬
liebend. Sie sei fleißig und folgsam gewesen. Dasselbe bestätigen
andere.
Der Lehrer äußert sich, sie habe wenig Fleiß, Aufmerksamkeit und
Auffassungskraft bewiesen, woran besonders ihre Harthörigkeit schuld
sein möge. Sie sei stets still und einsam für sich gewesen, habe mit
ihren Mitschülerinnen in Frieden und Eintracht gelebt, während des
Gebetes aber wenig Aufmerksamkeit gezeigt. Die Unwahrheit habe sie
nie gesagt.
Das zarte Geschöpf hat von Jugend auf öfter am Magen gelitten.
Vor 5 Jahren hat es ein Kopfgeschwür gehabt, das ihm Harthörigkeit
verursachte und noch jetzt einen Ausfluß aus dem Ohre bewirkte.
Das Gutachten schließt angeborenen Schwachsinn aus. Es erklärt
die Inkulpatin für unzurechnungsfähig zur Zeit der Tat infolge heftigen
Heimwehs bei körperlicher Krankheit und kindlicher Entwicklungsstufe.
Das Urteil ist nicht mitgeteilt.
Das kindliche Wesen der Täterin ist sehr auffallend. Sie führt
insofern hinüber zu den beiden jungen Kindern (9*/2 und 10 Jahren),
über die später referiert werden wird. Es ist ein Mangel, daß
Spitta die Täterin nur nach den Akten begutachtete, ohne daß
Psychiater oder auch nur ein Arzt sie untersucht hätte.
Dieser Fall wurde von Fieraraing (Allg. Zeitschr. f. Psychiatr.
XII, S. 470 ff. 1855) einer Kritik unterzogen, deren Inhalt merk¬
würdige Ähnlichkeit mit den Ansichten einiger der Gutachter Eva
B.s hat. Er findet kein einziges von den Symptomen deutlich aus¬
gesprochen, welche als charakteristisch für das Heimweh gelten. Die
Inkulpatin ist im Hause ihrer Dienstherrschaft überhaupt nicht krack
gewesen, hat die Mahlzeiten mitgemacht und gut geschlafen. Von
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1. K. Jabpb&s
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Niedergeschlagenheit, Traurigkeit, Weinen wurde nichts bemerkt. Es
beruhe daher das Erachten, daß ein höherer Grad des Heimwehs vor A
liege, durch den die Freiheit der Selbstbestimmung schwer gefesselt
sei, auf sehr unsicherer Grundlage.
Hettich 1840. I. Fall. Mord aus Heimweh 1 ).
Marie Katharina M., 16 Jahre alt, war körperlich schwächlich, litt seit
langem an skrophulösen Beschwerden, Augenleiden, Schnupfen, Schwellung
der Oberlippe usw. Mit 14 Jahren hatte sie ein halbes Jahr lang fast täglich
Erbrechen. Oft wurde sie von Nasenbluten befallen, mit Anschwellung
und Verstopfung der Nase. Zugleich fühlte sie dann Hitze im Kopf,
Druck an den Schläfen und an der 3tirne und Kälte in den Füßen. Sie
hatte noch nicht menstruiert nnd befand sich überhaupt in einem ge¬
hemmten Entwicklungszustand.
Im elterlichen Hause war sie immer munter und heiter, oft zum
vielen Schwatzen aufgelegt, aber fleißig und gehorsam. Auffallend war
ihr ausgeprägter Trieb zu religiösen Übungen.
Vom Pfarramte bekam sie das Zeugnis guter Fähigkeiten und guter
Fortschritte. Sie habe Aufmerksamkeit und Empfänglichkeit gezeigt,
der Gerichtsarzt kommt nach der Untersuchung zu dem Schluß r daß
der Kreis Ihrer Vorstellungen und ihres Auffassungsvermögens in nichts
über den bei einer älteren Dorfschülerin gewöhnlichen hinausgehe, und
daß Reflexion, Beurteiluug und berechnende Klugheit nur in geringem
Maße bei ihr entwickelt seien“.
Zwei Jahre vor dem Verbrechen stand sie schon einmal ein
V 2 Jahr lang in ihrem Geburtsorte bei dem Lindenwirt 0. in Dienst.
Dieser rühmte sie als flink, fleißig, dienstwillig. Sie wäre für ihn durch
ein Feuer gesprungen.
Nachdem sie wieder über ein Jahr lang zu Hause gewesen,
trat sie März 1830 in einer nur wenige Stunden von ihrem Geburtsort
entfernten Oberamtsstadt in Dienst bei einem Weingärtner Br. Hier
wurde ihr insbesondere die Pflege der beiden Kinder von 1 und 6 Jahren
an vertraut.
Nach dem Zeugnis der Br.schen Eheleute zeigte sie sich in ihrem
Dienst immer gutwillig zur Arbeit, ohne Widerrede, wollte immer mehr
tun als ihr befohlen wurde, war liebreich gegen die beiden Kinder und
"bei diesen beliebt. Ihre Frau bemerkte keine böse Neigung an ihr und
hatte an ihr eine wahre Freude. Als ein Beweis ihres kindischen Wesens
wird angeführt, daß sie sich in diesem Dienste vor dem ins Haus
kommenden Kaminfeger fürchtete und vor ihm ebenso wie das 6 jährige
Kind, das sie zu hüten hatte, davonlief.
Gleich in den ersten Tagen ihres Aufenthalts in der Stadt wurde
sie vom Heimweh ergriffen und dieses nahm von Tag zu Tag zu. Als
begünstigende Momente zum Entstehen des Heimwehs lassen sich die
Veränderung in ihren psychischen und äußeren Lebensverhältnissen im
März und April anführen, nämlich ihr Übergang aus der freien Luft
1) Wegen der großen Seltenheit der Dissertation Hettichs und der guten
GeschichtBerzählung wird der Fall ausführlich, meist wörtlich wiedergegeben.
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Heimweh und Verbrechen.
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des Dorfes in die eingescblossene der Stadt, aus dem beweglichen
Leben in ihrer Heimat zu Hause unter vielen Geschwistern und meist
auf dem Felde unter Menschen in die Stube des Weingärtnets Br., in
welcher sie fast anhaltend und sehr oft allein mit den zwei kleinen
Kindern sich aufzubalten und an der Wiege des kleineren Kindes zu
sitzen und zu spinnen hatte, wo sie nur selten aus dem Zimmer kam
und mit anderen Mädchen außer ihrer Landsmännin Sch. keinen Um¬
gang hatte.
Am 2. Tage ihres Aufenthalts in der Stadt äußert sie gegen die
. Dienstmagd W., daß sie an Heimweh leide und spricht mit derselben
in der ersten Zeit viel und traurig von ihrer Heimat. Der Magd Karo-
line, der Bie durch ihr betrübtes Außere auffällt, gesteht sie dasselbe.
Am 8. oder 9. Tage wird sie von ihrer Dienstfrau mit rotgeweinten
Augen angetroffen, sie bringt unter einem Strom von Tränen eine fin¬
gierte Erzählung vor. Am 14. Tag bricht sie beim Ankommen und
Abschied ihrer Schwester in lautes heftiges Weinen aus. Von jenen
ersten Zeiten an kam sie, wenn sie allein war, mit ihren Gedanken an
allerlei herum und mußte oft denken, wie sie es mache, daß sie heim¬
komme. — Mehrere Mägde sahen sie, wenn sie Milch von ihrer Herr¬
schaft in die betreffenden Häuser brachte, immer düster, schweigsam
und in sich gekehrt. Dem Arzt, der wegen schwerer Krankheitsfälle
oft das Haus besuchte, fiel das immer düstere in sich Gekehrte, Teil-
nahmlose des Mädchens auf.
In der Charwoclie (der vorletzten vor ihrem Verbrechen) zur Zeit des
schweren Krankheitsanfalles jenes Kindes sagte sie zur Magd W. (gegen
die sie sonst immer geäußert hatte, daß sie jenes Kind so gern habe, es
sei so gescheit) ihr Kind sei so kfank, ihrer Frau seien schon zwei Kinder
am Zahnen schnell weggestorben. Wenn nun dieses Kind auch sterbe,
so dürfe sie doch heim. Das letztere sagte sie in der letzten Woche
oft, gewöhnlich zweimal täglich zur ihrer Landsmännin Sch., auch ein¬
mal zu Margar. P. Das charakteristische Zeichen des Heimwehs, das
Streben des Kranken, sein Leiden zu verbergen, sprach sich bei der M.
in folgenden Umständen aus: am Tage vor ihrem Verbrechen nach¬
mittags traf sie ihre vom Felde heimkehrende Dienstfrau wieder mit
rotgeweinten Augen an, wobei sie ihr Geweinthaben verleugnete. Sie
verneinte Öfters das Heimweh auf Befragen, erschien in Gegenwart ihrer
Dienstherrschaft oder anderer Personen oder auf der Straße heiter, das
Bestreben, ihr Gefühl zu unterdrücken, wurde noch gesteigert durch
die Scheu, ausgelacht zu werden, wie ihr von ihrer Dienstfrau und den
•Gespielinnen angekündigt war. Umso stärker wurde sie von jenem
Gefühl befangen, wenn sie allein war. Von ihrer Dienstfrau wegen
ihrer trüben Miene befragt, lachte sie wieder. Ebenso, bei Besuchen
aus der Heimat, von Heimweh und Tränen überwältigt und berufen,
lachte und weinte sie abwechselnd.
Es wird erwähnt, daß sie auffallend wenig bei ihrer Dienstherr¬
schaft gegessen habe.
Die Qualen des Leidens wurden bei der M. noch dadurch gesteigert,
daß ihr die Rückkehr in ihre Heimat, welche sie gegen den Willen
ihrer Eltern verlassen hatte, teils gewissermaßen durch moralischen
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I. E. Jaspers
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Zwang, teils durch die Furcht, vor ihrem als sehr strenge und rasch
im Strafen bezeichnetem Vater Übel empfangen und wohl gleich zurück¬
geschickt -zu werden, gleichsam abgeschnitten war. Nachdem sie dessen
ungeachtet einen Versuch zu entkommen, den sie durch eine einfältige
Notlüge zu beschönigen suchte, gemacht hatte, zog ihre Dienstfrau den
Schlüssel zu der Kammer, wo ihre Kleider aufbewahrt waren, ab und
nun wagte sie vollends nicht mehr, ohne Kleider und Lohn in ihre
Heimat zurückzukehren.
Ihr Leiden hatte so einige Wochen gedauert, als ihr mit dem Mitte
März eingetretenen Erkranken, besonders aber mit dem am Charfreitag
erschienenen höchst gefährlichen Krankheitsanfall des jüngeren Kindes,
dessen Wartung und Pflege ihr Hauptgeschäft bildete, und um dessent-
willen sie eigentlich in Dienst genommen war, ein Hoffnungsstrahl an¬
brach. Ihr gegen mehrere Personen geäußerter und in den Verhören
eingestandener Wunsch, das Kind möchte an dieser Krankheit sterben
und die darauf gebaute Hoffnung, alsdann nach Hause zu kommen,
wurde noch genährt durch die fortdauernde sichtbare und auch ärztlich
konstatierte Schwächlichkeit des Kindes, sowie durch den ihr bekannten
Umstand, daß früher zwei Kinder der Br.schen Eheleute im nämlichen
Alter am Zahnen gestorben waren.
Am 2. und 3. April, an welchen Tagen sie mehrmals zur Kirche
ging, fiel der Dienstfrau ihr häufiges Seufzen unter der Arbeit beson¬
ders auf. Es war nach der Erklärung der M. die Folge des steten
Denkens an ihre Mutter und daran, wie diese gewollt, sie solle zu
Hause bleiben, sie selbst aber'ihren Willen nicht befolgt habe.
Während sie bis zum Ostermontag in der Wohnstube ihrer Dienst¬
herrschaft in einem Bette mit dem älteren Kinde geschlafen hatte,
mußte sie von da an allein in einer Dachkammer, deren Fensteröffnungen
weder mit Fenstern noch mit Läden versehen waren, schlafen. Hier
wirkte noch die Furcht und die Kälte nachteilig auf sic ein. „Ferner
fielen in jene Tage bedeutende Bewegungen und Schwankungen in der
Atmosphäre“.
Am Donnerstag 7. April morgens beim Aufstehen befiel sie das
Heimweh besonders heftig und es stieg ihr zum ersten Male der Gedanke
an eine Tötung des Kindes auf. Es fiel ihr ein, daß sie einmal in ihrer
Heimat gehört habe, man müsse von Vitriolöl sterben und sie wolle
davon dem Kinde geben. Das Vitriolöl kam ihr nur aus einer dunklen
unbestimmten Erinnerung her in den Sinn, sie kannte es durchaus nicht
näher, sie dachte sich unter demselben ein Mittel, durch welches das
Kind ruhig einschlafen und sterben werde. Jene beiden Gedanken
kamen ihr zumal in die Seele. Den Vormittag über kämpfte sie mit
diesem Gedanken und nach ihren späteren Aussagen kreuzten sich bei
ihr von nun an folgende Ideen. Sie dachte, der Gedanke werde ihr
wieder vergehen, konnte ihn aber nicht aus dem Kopfe bringen. Daß
ihr Vorhaben eine Sünde sei, daran dachte sie auch. Hinsichtlich der
Strafbarkeit hatte sie aber ganz dunkle verworrene Vorstellungen. Auch
dauerte sie wohl das Kind, aber sie sah dasselbe aus den oben ange¬
gebenen Gründen ohnedies als dem Tod verfallen an, und es kam ihr
eben immer wieder: „jetzt kann es nicht mehr anders sein“. Sie wußte
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Heimweh und Verbrechen.
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sich nicht mehr anders zn helfen. Keine andere Empfindung kam in
ihr empor, als der Gedanke, jetzt heimzukommen. Auch kam ihr der
Gedanke, vielleicht käme ihre Mutter bald sie abzuholen, damit aber
immer wieder heftigeres Ergriffenwerden vom Heimweh, und, zumal nun
bei dem sich ankündigenden Herannahen des Frühlings, von der Er¬
innerung, wie sie jetzt, wenn sie zu Hause wäre, auf dem Felde mit
ihren Leuten schaffen dürfte.
Nachmittags, als die Br.schen Eheleute wieder aufs Feld gegangen
waren und sie, allein mit den Kindern zurückgeblieben, an der Wiege
saß, ergriff sie das Heimweh auf das Peinlichste, sie mußte immerfort
weinen, immerfort denken, wenn sie bis Sonntag nicht heimkomme, so
müsse sie sterben. Endlich kam es ihr mit einem Male „sie wolle es
doch tun“. Sie ging, Vitriolöl zu kaufen, in eine Apotheke, es wurde
ihr versagt, weil es etwas Arges sei. Aber der Gedanke, Vitriolöl zu
kaufen, verließ sie nicht mehr. Sie mußte, so oft sie allein war, aus
Heimweh weinen und denken, ob sie es tun solle oder nicht. Und es
kam ihr eben immer wieder: „Jetzt kann es nimmer anders sein“. Als
sie am späten Abend die Milch noch in einige Häuser tragen mußte,
dachte sie, sie könne jetzt das Vitriolöl mitnehmen. Sie erhielt es in
einer anderen Apotheke und stellte bei der Nachhausekunft das Kölbchen
in eine Ecke auf die Bank in der Küche. Sie aß mit ihren Leuten zu
Nacht und spann nachher noch. Während Br. den Abendsegen las,
dachte sie wohl, sie sollte es bleiben lassen.
Nachdem sie von 9 * 2 —12 Uhr geschlafen hatte, mußte sie von da
an wachen bis an den Morgen und vor dem ärgsten Heimweh weinen.
Als sie nun am Freitag aufstand, kam ihr eben der Gedanke: „Du tust
es doch, dann darfst du heim“. Um 5V-2 Uhr von ihrer Kammer in
die Wohnstube herabgekommen, traf sie die Kinder im Bette. Die
Eltern beide waren ausgegangen. Das jüngere Kind schlief noch. Das
ältere schlief, während sie sich ankleidete, wieder ein. Sie ging das
Kölbchen in der Küche zu holen. In diesem Augenblicke fing das
kleine Kind zu weinen an. Sie kommt zurück mit dem Kölbchen, geht
grade auf die Wiege zu und gießt dem Kinde von dem Vitriolöl einen
Schluck in den Mund.
Sogleich, nachdem sie dem Kinde das Vitriolöl eingeschüttet hatte,
überfiel sie, als sie das am Mund und Kinn des heftig schreienden
Kindes Herabgeflossene abwischen wollte und es sich nicht abwischen
ließ, die Reue und der Jammer. Als sie die nach wenigen Minuten sich
verbreitenden zerstörenden Wirkungen des Vitriolöls auf Mund, Kinn
und Hals des Kindes und auf Tuch und Kopfkissen erblickte, wußte sie
sich vor Jammer nicht mehr zu helfen. Das lebhafte Mitleid mit dem
Kind und dessen Mutter, das vorher ganz tot in ihr gewesen war, er¬
wachte. Sie rief die Hausbewohner, die Nachbbarn eilig herbei, damit
man noch helfe, wenn es möglich sei. Zugleich erwachte aber auch die
Furcht in ihr, daß man Verdacht auf sie werfen möchte Die Frage, ob
sie dem Kinde etwas gegeben habe, verneinte sie mit anscheinender Ruhe,
versicherte aber dabei, daß sie ganz allein bei dem Kinde gewesen sei.
Bei der Erklärung des Wundarztes, daß das Kind sterben werde und
daß dem Gerichtsarzte eine Anzeige gemacht werden müßte, erschrak
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I. K. JA8PEB8
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sie, jammerte and weinte, faßte sich jedoch bald wieder. Dem Arzte
erschien sie wie sonst düster, in sich gekehrt.
Zu ihrer Landsmännin Sch. kam sie zwischen 7 nnd 8 Uhr morgens
in rechter Angst, sodaß sie die Worte fast nicht herausbringen konnte.
Übrigens besorgte sie noch Geschäfte, z. B. im Stall, am Brunnen, bis
das Gericht ankam. Über ihr an jenem Morgen nnd auch am Morgen
des nächsten Tages fortgesetztes einfaches Leugnen aller Wissenschaft
von dem Hergang des Todes des Kindes, Uber die sodann am Nach¬
mittage des letzteren Tages nnd, obschon mit größter Mühe, noch am
3. Tage versuchte halb wahre, halb erdichtete Darstellung des Her¬
gangs, daß sie nämlich dem Kinde ans reiner Unkenntnis, um es beim
Weinen zu beruhigen, etwas von dem zur Schuhwichse erkauften Vitriolöl
an den Mund gebracht habe, äußerte sie später: sie habe eben geglaubt
mit diesen Angaben sich helfen zu können. Sie habe anfänglich so
hartnäckig ihre Handlung geleugnet, weil sie sich so arg geschämt
habe und wegen der Sünde.
Als die M. später nach Stuttgart gebracht worden war, um von
einer Deputation des Kgl. Medizinalkollegiums beobachtet zu werden,
äußerte sie gegen die Mitglieder desselben: daß sie von der vollbrachten
Tötung des Kindes an das Heimweh verlassen habe, weil sie immer
habe an das denken müssen, was sie getan habe. Sie versicherte, jenes
Gefühl des Heimwehs nicht mehr zu haben. Dabei war höchst auf¬
fallend, daß bei Nennung ihres Geburtsortes oder ihres elterlichen
Hauses oder ihrer Mutter im Verlaufe des Gesprächs ein Strom von
Tränen aus ihren Augen brach. Das Gefühl des Heimwehs schien
mit einer wehmütigen Scheu vor ihrer Heimat wegen des Geschehenen
teils im Konflikt teils in Verbindung zu Btehen.
Gutachten: Der psychische Zustand der M. war bei der Tat ein
auf der äußersten Grenze des Übergangs zum Irresein stehender, ein
Zustand der in seiner Wirkung, bei der im Drange des krankhaften
Gefühls und des Triebs sich zu retten höchst beschränkten Fähigkeit,
das hierzu ergriffene Mittel richtig vorzustellen und zu würdigen, dem
wirklichen Irresein nahezu gleich zu taxieren ist.
Straferkenntnis: In Berücksichtigung sehr verminderter Zurechnung
4 Jahre Arbeitshausstrafe.
Besonders bemerkenswert erscheint, wie das Heimweh in diesem
Falle ohne allen Zweifel ist, wie das Zustandekommen der ver¬
brecherischen Tat ähnlich einer Zwangshandlung auf dem Boden
des Heimwehs geschildert wird, (im Jahre 1840, wo man Zwangs¬
vorgänge noch nicht kannte) ferner, daß nach der Tat das Heimweh
sofort schwindet, indem es von Reue und anderen Gemütsbewegungen
ganz verdrängt wird. Beträchtlich anders ist der folgende von Richter
veröffentlichte Fall:
Richter: „Über jugendliche Brandstifter“ 1844.
Juliane Wilhelmine Krebs war 14 Jahre alt. Von 7 Geschwistern
war eine Schwester am Fuße lahm, ein Bruder taubstumm und am
ganzen Körper gelähmt. Vor ihrer Geburt hatte die Mutter einen
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heftigen Schreck durch den Anfall eines Hundes, sodaß sie bettlägerig
wurde. Sie war von jeher klein und schwächlich, von skrophulösem
Habitus. Längliches, bleiches Gesicht, aufgetriebener Unterleib, belegte
Zunge. Bis zum 8. Jahre Enuresis nocturna. Von Kind auf kränklich,
häufig Kopfschmerzen, besonders nach Körperanstrengungen. Sie litt
öfter an geschwollenen Halsdrttsen, Ohrenreißen, Ohrensausen, Ohren¬
ausfluß. In der Schule bemerkte man an ihr Nervenreizbarkeit und
Kopfkongestionen. Durch die Kopfschmerzen wurde sie häufig am
Schulbesuch verhindert. Ihre körperliche Entwickelung befand sich zur
Zeit der Tat noch auf kindlicher Stufe: keine Scham- und Achselhaare,
unentwickelte Brustdrüsen, noch keine Menstruation.
Ihre Eltern sind gute, fleißige Leute, die für ihre Erziehung besorgt
waren. Wegen der Ärmlichkeit ist ihr keine ärztliche Behandlung zuteil
geworden. Die letzten zwei Sommer vor ihrem Diensteintritt hat sie
die Kühe gehütet.
Sie ist der Liebling ihrer Eltern und Geschwister, wird als fried¬
fertig, sanft und folgsam, ihren Eltern zugetan, ohne Bosheit geschildert.
Schullehrer und Geistlicher loben sie einstimmig. Ihre Verstandes¬
leistungen sind normal. Sie hat die nötigen Schulkenntnisse, doch sei
ihr Verstand nicht besonders ausgebildet. Sie sei in geistiger Hinsicht
ein großes Kind.
Vier Tage vor der Tat trat sie ihren Dienst als Kindermädchen,
eine Stunde vom heimatlichen Dorfe entfernt, in wehmütiger Stimmung
aber doch gerne an. Sie kam zum erstenmal aus dem Elternhause,
schnell fühlte sie sich bei den fremden Leuten ganz anders, unfreund¬
licher und rauher behandelt als zu Hause, sie wird angetrieben „fix zu
machen“. Mit ihrer Neigung, sich auszusprechen und zu schwätzen,
findet sie bei der Hausfrau keinen Anklang, sondern wird barsch ab¬
gewiesen. Dazu hatten fremde Leute kurz nach dem Diensteintritt ihr
eingeredet, daß sie in eine schlechte Stellung käme. Schließlich war sie
gar nicht gewohnt, allein zu sein, sie war über Tag mit den vielen Ge¬
schwistern zusammengewesen und hatte nachts auch mit einet Schwester
im Bett geschlafen. Infolge aller dieser Dinge wurde sie zurückgeschreckt,
wurde bange und sehnte sich nach Hause. Diesen Zustand von Ängst¬
lichkeit und Heimweh scheute sie sich merken zu lassen. Aber wenn sie
allein war, beim Wasserholen, abends im Bett, da mußte sie sich aus¬
weinen. Um das zu verbergen, wusch sie sich nachher mit kaltem Wasser
die Augen. Sie verlor den Appetit. Am Tage vor dem Brande aß sie so
wenig, daß die Hausfrau fragte, es sei ihr wohl bange. Ihre bezeich¬
nende Antwort war: „Nein, mir ist nicht bange, auf den Sonntag will
ich einmal nach Hause gehen". Später hat sie angegeben, daß es ihr
allerdings sehr bange gewesen sei, aber sie habe sich geschämt, es zu
sagen. Gleich nachher habe sie hinausgehen und sich ausweinen müssen.
Zeugen, die deutlich die einzelnen Symptome der Verstimmung wahr¬
genommen haben und angeben, behaupten, nach Heimweh direkt gefragt,
davon nichts gemerkt zu haben.
Am Tage der Tat, vier Tage nach dem Diensteintritt, erwartete
das Mädchen ihre Mutter, die ihr eine Lade für ihre Sachen bringen
sollte. Als sie das ihrer Herrin erwähnte, wurde sie abgewiesen, sie
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habe gar keine Lade nötig. In dieser Erwartung war sie mittags beim
Wasserholen allein, als sie plötzlich deutlich die Stimme ihrer Matter
hörte. Sie blieb stehen and sah sich um. Als sie merkte, daß sie sich
getäuscht hatte, brach sie in heftiges Weinen ans. In solcher Stimmung
kam ihr noch am selben Tage plötzlich der Gedanke, Fener anzulegen.
Sie wußte auch sofort, wie sie es machen wollte, ohne an etwas anderes
zu denken. Sie wurde getrieben von dem Gefühle der Bangigkeit, sie
habe sich nicht anders zu helfen gewußt. Der Gedanke wich nicht von
ihr, nach drei Stunden führte sie ihn aus. Sie warf eine glühende
Kohle auf den Boden, wo, wie sie wußte, brennbares Viehfutter lag.
Dann habe sie etwa gedacht: „Mag es nun brennen oder nicht, im letz¬
teren Falle habe es auch nichts zu bedeuten“. An die möglichen Folgen,
an das Verbrecherische ihrer Tat, an die große Gefahr für das in der
Oberstube liegende Kind habe sie nicht gedacht.
Nach der Tat beschäftigte sie sich mit häuslicher Arbeit. Als Feuer¬
lärm entstand, half sie mit retten. Auf Befragen leugnete sie, den
Brand gelegt zu haben. Als sie, von ihrer Herrschaft nach dem Brande
gleich entlassen, zu Hause ankam, war sie krank. Sie hatte alle Eßlust
verloren, klagte über Schmerzen in Kopf und Gliedern und mußte einige
Tage zu Bett liegen. In der letzten Zeit vor dem Diensteintritt und
während desselben war sie ohne Krankheitsgefühl gewesen.
Vom Gendarm befragt, gestand sie nach beharrlichem und hart¬
näckigem Leugnen die Tat. Als sie verhaftet war, wurde durch ihr
elendes Befinden das Verhör wiederholt verhindert, sie hatte heftiges
Ohrensausen, „als ob es wittere“. Eine Haftgenossin sagte aus, daß sie
«inmal aufgesprungen sei und gerufen habe: „da laufen sie herum, die
Luders“. Ein andermal „Herrgott, was war das für ein Knall in meinen
Ohren“. Die frühere Bangigkeit und Sehnsucht soll sie im Gefängnis
nicht mehr empfunden haben. Sie zeigte Reue. Schon beim Ausbruch
des Feuers war sie erschreckt und hatte Gewissensbisse. Später gab
sie an, es sei eine schlechte, sehr schlechte Tat, sie wolle es in ihrem
Leben nicht wieder tun.
Es handelt sich um einen viel schwerer pathologischen Fall als
den vorhergehenden. Die Handlung ist eine deutlich impulsive. Die
Neigung zur Steigerung normaler Verstimmungen ins Psychotische
zeigt sich auch in der Andeutung einer Haftpsychose.
Kürzer erzählt Kaupier folgende Tat: (Friedreichs Blätter f.
gerichtl. Medizin 1886).
Die Schneidertochter N. H., 13 72 Jahre alt, verübte dreimal Brand¬
stiftung.
Die Eltern leben in engen Vermögensverhältnissen, erfreuen sich
aber des besten Leumunds. 8 Geschwister, davon keines gestorben.
Der Lehrer schildert H. als braves, gutes Mädchen, von mittleren Fort¬
schritten und guter Begabung. Sittliches Betragen I., Klassenplatz 13
unter 32. M. H. war verschlossen, sehr leicht erregbar, sie hatte keine
Freundinnen, blieb immer zu Hause. Sie mußte die kleinen Geschwister
besorgen, auch nachts. Nach Angabe der Eltern war sie im allgemeinen
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Heimweh und Verbrechen.
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gesund, aber nachts sehr unruhig, ist oft aufgestanden, herumgegangen
und erst auf Anrufen aufgewacht. In letzter Zeit viel Nasenbluten.
Körperliche Untersuchung: Größe 136 cm, mager, aufgeschossen,
Vergrößerung der Schilddrüse. Brustdrüsen gering entwickelt. Keine
Achsel- und Schamhaare. Herzstoß stark und in größerem Umfang fühl¬
bar. Beim ersten Ton Geräusch, Klappentöne stark klingend. Sie ist
noch nicht menstruiert. Klagen über Druck in der Herzgegend, wenig
Appetit, angehaltener Stuhl.
Dieses Kind kam am 25. Mai zum ersten Male vom elterlichen
Hause weg zu ihrem Oheim B., anscheinend in einem nahen Dorf. Das
kinderlose Ehepaar ist vermögend, von bestem Ruf und hätte das Mäd¬
chen gern behalten. Der Oheim gibt an, daß M. H. wenig gegessen
habe, daß sie nachts sehr unruhig war und daß sie Heimweh hatte.
Unter solchen Umständen hat sie am 27., 28. und 31. Mai in der Be¬
hausung ihrer Verwandten Stroh, Reisig und Heu angezündet. Sämt¬
liche Brände sind am Tage gelegt, sogleich endeckt und im Entstehen
gelöscht worden. Anfangs leugnete sie die Brandstiftung, dann hat sie
gestanden. Zu Zorn oder Rache lag nicht der mindeste Grund vor, sie
selbst sagt, sie sei wegen länger dauernder Brustschmerzen in Auf¬
regung gewesen und habe nicht die klare Besinnung gehabt, ferner,
sie habe Heimweh nach den Kindern gehabt und habe um jeden Preis
wieder nach Hause zurückgewollt. Die Brustschmerzen bestätigt die
Untersuchung, das Heimweh der Oheim.
Schließlich sei hier noch mit wenigen Änderungen ein Gutachten
über eine junge Brandstifterin aus den 90er Jahren angereiht 1 ).
Diese steht durch Rätselhaftigkeit, durch unklare Angaben betreffs
Heimweh und durch Fehlen krankhafter Symptome Eva B. und dem
Fall Spitta nahe.
Magdalene Rüsch war von April bis September 1895 zum
ersten Male in Dienst. Sie gibt an, dort habe sie es gar nicht aus-
halten können und habe viel Heimweh gehabt. Von Dezember 95 bis
April 96 war sie zu Hause, dann kam sie von neuem in Stellung. Ob¬
gleich sie es hier sehr gut hatte, legte sie am 5. Mai an vier verschie¬
denen Stellen Feuer, und zwar in einem Kleiderschrank, auf dem Speicher
ebendaselbst an einem Korb mit Wäsche, in einer Kiste und endlich an
dem Strohsack ihres Bettes. An den folgenden Tagen warf sie in den
Briefkasten eines Hauseinwohners Drohbriefe, durch die der Schein er¬
weckt wurde, daß verschiedene Personen bei der Brandstiftung im Spiele
seien. An den ersten Tagen leugnete die Rüsch die Tat, später ge¬
stand sie ein. Vor der Tat ist an dem Mädchen nichts Besonderes auf-
gefallen, direkt nach der Tat eilte sie nach unten und meldete das
Feuer, welches gelöscht wurde. Nach der Tat soll sich die Rüsch voll¬
kommen unauffällig und ruhig benommen haben.
Einen direkten Grund für die Brandstiftung konnte die Rüsch
nicht angeben, sie sagt, sie habe es bei ihrer Dienstherrin gut gehabt,
- ( -
1) Dasselbe wurde von Herrn Dr. Longard gütigst für diese Arbeit zur
Verfügung gestellt.
Archiv für Kriminal&nthropologio. 85. Bd. 5
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I. K. Jabpkks
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doch habe sie nicht mehr dienen wollen, sie hätte nach Hanse gewollt,
habe Heimweh gehabt, nnd habe sich durch den Brand die Möglichkeit
verschaffen wollen, nach Hanse zn kommen. Die Drohbriefe habe sie
geschr eben, nm den Verdacht von sich abznlenken.
Die Dienstherrschaft stellt der Rllsch ein gntes Zeugnis aus, sie
sei treu und fleißig gewesen und habe sich um niemanden gekümmert.
Sie habe häufig Heimweh gehabt, doch habe sie nie über Unzufrieden¬
heit geklagt oder den Wunsch nach Hause zu gehen geäußert. Der
Pfarrer des Heimatsortes stellt ihr ein vorzügliches Zeugnis aus. Sie
sei allzeit brav und fleißig gewesen und konnte als Muster für ihre
Mitschülerinnen gelten. Auch nach der Schulzeit habe er nur Gutes
von ihr gehört, die Eltern seien durchaus brave Leute. Dasselbe vor¬
zügliche Zeugnis gibt ihr die Lehrerin, sie habe sich durch Fleiß und
besondere Leistungen sowie durch gutes Betragen in jeder Hinsicht aus¬
gezeichnet. Dasselbe geben der Bürgermeister des Heimatsortes und ihr
Vater an. Allen ist es ein Rätsel, wie die Angeklagte zum Verbrechen
gekommen ist, und sie können sich nur denken, daß sie in einem Zu¬
stand von Geistesstörung die Tat begangen hat.
Die Inkulpatin, 16 Jahre alt, ist ein wohlproportioniert gebautes
Mädchen. Die inneren Organe sind gesund. Zeichen einer organischen
Nervenstörung bestehen nicht. Zeichen von Schwangerschaft sind nicht
vorhanden. Das Jungfernhäutchen ist gelappt ohne Narbe und Einrisse
mit weiter Öffnung. Die Rüsch hat die Periode in den Tagen der
Verhaftung erwartet, dieselbe blieb aus. Ebenso blieb sie aus Mitte
dieses Monates. Vorher war sie angeblich regelmäßig da, sie will nie¬
mals eine Liebschaft gehabt haben.
Die Rüsch macht einen ruhigen, stillen und bescheidenen Eindruck.
Die Aufseherin meldet, daß sie ein vortreffliches Verhalten an den Tag
lege, und sich durch ihr Betragen vor allen Gefangenen auszeichne. Sie
liest, schreibt und rechnet gut, auf alle Fragen gibt sie prompte und
sinngemäße Antworten. Ihr Gedächtnis ist gut, ebenso ihr Urteil. Sie
hat keine krankhaften melancholischen Ideen. Ihre Umgebung und die
Lage, in der sie sich befindet, beurteilt sie richtig. Ihre Antworten, ihr
Verhalten, ihr Tun und Treiben lassen nicht im mindesten vermuten,
daß sie beute geistig nicht völlig normal ist.
Bei den ersten drei Besuchen leugnete sie hartnäckig, daß ihre
früheren Angaben, sie hätte das Feuer angelegt, um nach Hause zu
kommen, auf Wahrheit beruhen. Sie habe sich vom Polizeikommissar
einschüchtern lassen und habe dieses auch gesagt, weil sie gehofft hätte,
sie würde nach diesem Geständnis nicht in Untersuchungshaft behalten,
sondern sie dürfte dann zu den Eltern. Sie leugnete hartnäckig die
Vorsätzlichkeit und betont besonders dieses Wort. Offenbar hatte sie
sich auf den Begriff und die Ausrede einstudiert. Sie stellte stets den
Vorgang so dar, sie hätte immer Angst gehabt, es könne jemand zu ihr
kommen, da der Schlüssel zu ihrem Schlafzimmer fortgekommen sei.
Sie habe täglich deshalb unter ihr Bett geleuchtet, wobei der Strohsack
sich entzündet hätte. Oben auf dem Speicher hätte sie aus dem Schrank
etwas holen wollen und dabei seien im Schrank die Kleider in Brand
geraten. Wie das Feuer an den Wäschekorb kam, weiß sie nicht an-
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Heimweh und Verbrechen.
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zugeben. Die Drobzettel habe sie geschrieben, um den Verdacht von
sich abzulenken. Daß letzteres so schlimm sei, habe sie nicht gewußt,
sondern erst von ihrer Mutter gehört. Heimweh habe sie nicht gehabt.
Bei einem 4. und 5. Besuch gesteht sie die Brandstiftung teilweise zu,
sie hätte häufig starkes Heimweh gehabt, so auch an dem fraglichen
Abend. Tags zuvor sei sie zu Hause gewesen, habe auch zu Hause ge¬
schlafen. Da sei abends das Heimweh wieder über sie gekommen und sie
habe die Kleider angesteckt, damit ihre Herrin sie als unbrauchbar nach
Hause schicke. Einen gefährlichen Brand habe sie nicht verursachen
wollen, deshalb habe sie auch sofort Hilfe geholt.
Sie gibt an, stets gesund gewesen zu sein. Krampfartige Zustände
habe sie nicht, auch sei sie niemals verwirrt. Auch an dem fraglichen
Abend sei sie bei Sinnen gewesen. In Untersuchungshaft werde sie
ganz verwirrt, sie denke stets Uber die Sache nach und grüble, was sie
sagen solle, sie wisse es selbst nicht.
Das Gutachten lautete: Magdalene H. ist offenbar ein braves Mäd¬
chen von tadelloser Führung, Motive zur Tat fehlen völlig oder sind
unbekannt. Man ist gezwungen Heimweh als Motiv anzusehen. Magda¬
lene ist 1. zurzeit geistig völlig gesund, 2. es besteht aber die Möglich¬
keit, daß sie zur Zeit der Begehung der Tat sich nicht im Besitze der
klaren Überlegung und freien Willensbestimmnng befunden hat.
Das Verfahren wurde eingestellt.
Katamnestische Erhebungen blieben erfolglos ')•
1) Den bis jetzt erzählten Fällen schließt sich die packende Darstellung
von Kurz „Die blasse Apollonia“ an (Das Arcanum und andere Novellen, Reclam
Nr. 4175). Nach den Angaben von Isolde Kurz in ihrer Biographie des Dich¬
ters hat diesem ein wirkliches Ereignis vorgeschwebt, das er in seiner Jugend
erlebte. Sein Vater hat in dem Prozeß als Richter fungiert. Die Novelle mag
kurz referiert sein:
Ein Mädchen von seltsam rührender Blässe, das „blasse Appele“, war in
gleichgültig kühler Umgebung aufgewachsen, hütete als Kind die Schafe, hatte
Neigung zur Einsamkeit, weinte oft ohne Grund. Mit 15 Jahren kam sie als
Kindermädchen in Dienst. Obgleich nur eine Stunde von Hause entfernt, ergriff
sie das heftigste Heimweh, sie vergaß das ärmliche Häuschen, das schlechte
Essen, das rohe Betragen der Ihrigen. Die Heimat wurde das Feenland ihrer
Gedanken. Einen Entschluß zum Entlaufen gab sie aus Furcht vor dem Vater
wieder auf. Kummer bei Tag und schlaflose Nächte untergruben ihre Gesund¬
heit. Da kam sie auf den Gedanken, wenn das Kind stürbe, würde sie als un¬
nütz nach Hause geschickt werden. Zufällig hörte sie im Wirtshaus wie Leute
sich unterhielten, daß man an Vitriolöl sterbe. Es verging ihr alles Denken und
Fühlen, sie sah starr drein, nur ein dunkler Trieb beherrschte sie, nur eine
Stimme rief es ihr beständig ins Ohr „sie müsse es tun“. Nach vollbrachter
Tat ließ die Starrsucht ihres Gemütes nach. Auf den Knien liegend schluchzte
sie und gab auf Fragen nur eine Antwort: „Heim“. Ein völlige Verwandlung
ging bald mit ihr vor. Sie zeigte keinen Widerwillen gegen Gefangenschaft und
Kerker, keine Sehnsucht mehr zu den Ihrigen. Sie erlitt den Tod auf dem
Blutgerüst.
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I. K. Jaspbbs
Betrachten wir nun die bisher erzählten sieben Fälle gemeinsam.
Es sind die einzigen bis jetzt bekannten, bei denen intellektueller
und moralischer Schwachsinn mit überwiegender Wahrscheinlichkeit
ausgeschlossen werden kann.
Man muß dabei den Unterschied zwischen Schwachsinn und
kindlicher Entwicklungsstufe klar gegenwärtig haben, ersterer ist ein
irreparabler Defekt, letztere eine normale Etappe im Entwicklungs¬
prozeß der menschlichen Psyche. Diese wird mit Sicherheit über¬
wunden, kann aber etwas Abnormes durch die Verlangsamung der
Entwicklung erhalten. Die Ursache dieser Hemmung kann die Be¬
schränktheit der geistigen Einflüsse, die Enge des Milieus — physio¬
logische Entwicklungshemmung — oder eine degenerative Ver¬
anlagung sein. Im Einzelfalle ist es wohl manchmal schwierig, die
prognostisch so wichtige Unterscheidung zwischen Schwachsinn und
kindlicher Entwicklungsstufe durchzuführen. In zweifelhaften Fällen
kann erst der Verlauf entscheiden. Doch wird die Forderung be¬
rechtigt sein, daß man bei jungen Mädchen von 13—16 Jahren, um
die es sich für uns hier handelt, den Schwachsinn erst nachweisen,
— wie das in den Fällen, die später referiert werden sollen, ge¬
schehen ist — das Vorhandensein einer kindlichen Entwicklungs¬
stufe dagegen als näherliegend betrachten muß. Ein kindlicher Zu¬
stand des Seelenlebens ist in dieser Zeit entweder selbstverständlich
oder, wenn noch dazu ein körperlicher Infantilismus nachweisbar ist,
als Entwicklungshemmung leicht zu verstehen. Man darf dann nicht
gleich auf Schwachsinn schließen, zumal wenn das Urteil der Lehrer
und Pfarrer und anderer Beobachter keinen besonderen Tiefstand
der Schulleistungen und der Denkfähigkeit ergibt und die psych¬
iatrische Intelligenzprüfung keine auffallenden Defekte nachweisen
kann. Die Lebensführung, das Verhalten der Motive, im späteren
Leben vielleicht eines der wichtigsten Erkennungsmittel der Imbe¬
zillität, darf in kindlichem Alter noch nicht durchweg in diesem
Sinne verwendet werden. Es wäre dogmatisch, nach der Art der
Tat und ihrer Ausführung ohne andere Grundlage leichten Schwach¬
sinn zu konstatieren. Diese Diagnose ist nicht widerlegbar und nicht
beweisbar, jedenfalls hemmend für eine eingehendere Analyse der
Fälle. Leichter Schwachsinn ist überhaupt ein Terminus, über den
man sich in endlose Streitigkeiten verlieren kann. Ein klar definier¬
ter Zustand ist er wenigstens für den nicht, der unsere Heimweh¬
verbrecher, weil manche imbezill sind, alle unter denselben bringt.
Es müßte denn sein, daß er die Überwiegende Mehrzahl der Men¬
schen mit dieser Bezeichnung versähe.
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Heimweh und Verbrechen.
69
Während wir also meinen, daß von Imbezillität in den 7 Fällen
nicht die Rede sein könne, ist das Vorhandensein einer kindlichen
Stufe des Seelenlebens allerdings charakteristisch. Schon Platner
erkannte die kindische Einfalt, die „Fatuitas puerilis“ in den hier¬
her gehörigen Fällen. Später wurde sie oft als das Maßgebende
für die Entwicklung mancher Verbrechen erwähnt. Ein Zusammen¬
werfen mit Imbezillität würde einen Rückschritt bedeuten, der schon
gewonnene Differenzierungen zur Vergessenheit brächte. Die Nei¬
gung, überall Schwachsinn anzunehmen, ist der Auffassung der Heim¬
wehverbrechen schädlich.
Die immerhin schon vorgerücktere Stufe kindlichen Seelenlebens,
in der die Heimwehverbrecberinnen leben, ist charakterisiert durch
ein Überwiegen des Gemütslebens über das Verstandesleben. Die
Affekterregbarkeit ist eine stärkere, die Affektsohwankungen sind
größer als in späteren Jahren. Obgleich Denkprozesse, Verständnis
allgemeinerer Begriffe schon eine Rolle spielen, ist ihre Gefühls¬
betonung doch noch zu gering, um ihnen unter allen Umständen
die Wirksamkeit im Handeln zu sichern, die ihnen in späteren
Jahren zukommt. Wenn auch altruistische Gefühle, insbesondere
Mitleid, gelegentlich lebhaft sind, ohne allerdings nachhaltige Wir¬
kung zu haben, wiegen doch egoistische Triebe vor. Zur Erreichung
von Lust- oder zur Vertreibung von Unlustgefühlen werden leicht
impulsive Handlungen begangen, bei denen in erstaunlicher Weise
eine Unfähigkeit, den Erfolg zu übersehen, hervortritt. Unter nor¬
malen, gleichmäßigen Verhältnissen zeigt das Kind an der Grenze
der Pubertät wohl schon eine dem Erwachsenen ähnliche ethische
Entwicklung. Aber unter dem Einfluß mächtiger Affekte treten
plötzlich, der Umgebung meist ganz rätselhaft, die geschilderten
Eigentümlichkeiten hervor. Kränkung, Einschüchterung, Verzweif¬
lung, besonders das Heimweh können solchen Einfluß haben.
Enge soziale Verhältnisse, das Leben auf dem Lande, fern von
dem Leben der Kulturzentren, lassen den kindlichen Seelenzustand
wohl länger bestehen. Soweit Angaben darüber vorliegen, sind
unsere Heimwehverbrecher Landmädchen, Kinder armer Eltern. Be¬
merkenswert aber ist, daß, wo darüber etwas bemerkt ist, die Eltern
guten Leumund genießen und daß den Kindern eine gute Erziehung
zuteil wurde. Nur Appollonia soll es darin schlechter gehabt haben.
Man wird bei der Lektüre der Fälle noch zahlreiche Zeichen kind¬
lichen Seelenlebens bemerkt haben; so die natürliche Furchtsamkeit,
die Scheu vor dem Alleinsein, dem Alleinschlafen, der Dunkelheit,
ferner dre kindliche Schüchternheit und Verlegenheit. Außerdem
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I. K. Jaspebs
finden sich noch einige Zttge, die Lust am Lägen, Schadenfreude,
Neigung zum Verleumden, kleine Entwendungen, die ebenfalls der
kindlichen Seele eigentümlich sind >), und die, wenn sie gelegentlich
Vorkommen, ohne daß man triftigere Gründe hätte, nicht für eine
moralische Minderwertigkeit sprechen dürfen.
Das Alter schwankt zwischen 13 und 16 Jahren. Fünf von den
sieben haben noch nicht menstruiert, zeigten auch sonst keine Zeichen
der Pubertätsentwicklung. Eine (Rüsoh) hat schon die Regel ge¬
habt. Bei den anderen kann kaum ein Zweifel sein, daß es
sich um richtige Kinder handelt. Vielleicht ist bei einigen die Ent¬
wicklung in abnormer Weise zurückgeblieben. Wo das Abnorme
beginnt, ist schwer zu sagen. Wie man sieht, handelt es sich nur
um Mädchen. Auch die späteren Fälle betreffen nur solche. Ver¬
brechen aus Heimweh bei Knaben sind noch nicht beschrieben 2 ).
Bei der Rüsoh ist die Periode schon vor der Tat dagewesen,
dann zeitweise ausgeblieben. Sie befindet sich zweifellos in der
Pubertätsentwicklung. Es ist immerhin möglich, daß auch bei einigen
der übrigen diese schon im Beginn ist. Den Jahren nach dürfte
man es erwarten. Vielleicht resultiert daraus gelegentlich eine eigen¬
tümliche Kombination von kindlichem Wesen mit dem beginnenden
psychischen Veränderungen der Mannbarkeitsepoche. Da diese auch
in mehreren der späteren Fälle mit zur Erklärung herangezogen
werden muß, mag ihre Bedeutung eine kurze Würdigung finden.
In der alten Literatur waren Störungen der Entwicklungs¬
periode, verspäteter Eintritt derselben usw., sehr verbreitet als Er¬
klärung rätselhafter Verbrechen, insbesonder der Brandstiftung. War
doch für manche die Pyromanie schon gewiß, wenn Unregelmäßig-
I) Vgl. Emminghaus.
' 2 ) Nachträglich wird mir dnreh Herrn Dr. Wilmanns ein Fall bekannt von
einem jugendlichen Brandstifter aus Heimweh, einem 17 jährigen Jungen. Aus
dem Gutachten mag angeführt sein: Körperlich zart und schwächlich, in der
Entwicklung zurückgeblieben, Schambaare fehlen. Sehr mangelhafte Intelligenz.
Lügenhaft, suggestibel, gutmütig und verschlagen zugleich. Nächtliche moto¬
rische Reizerscheinungen (Kopfdrehungen, Wälzen, Schreien) ohne Erinnerung,
Hypalgesie. Keine Zeichen von Epilepsie oder Hysterie. — Dieser Junge legte
im Dienst zweimal in impulsiver Weise Feuer, einmal als er abends nach Hause
kam und es ihm einfiel, daß er keine Strohseile mehr drehen brauche, wenn er
das Stroh in der Scheune anzünde, das zweite Mal als ihm nachmittags ein Heim¬
weh überfiel. Er meinte, er dürfe heim, wenn das Haus abgebrannt sei. — Nach¬
her Leugnen, keine Reue, nur auf ernste Worte Tränenströme. Während der
Beobachtung in der Klinik sorglos, zu Neckereien aufgelegt, ohne Bewußtsein
seiner trostlosen Lage. — Der Fall reiht sich den später zu erwähnenden an,
in denen das Heimweh zurücktritt gegenüber einer schwachsinnigen Impulsivität.
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Heimweh und Verbrechen.
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keiten der Menstruation nachzuweisen waren. Dem gegenüber macht
schon Ideler darauf aufmerksam, daß diese sehr häufig ohne allen
störenden Einfluß auf die Seelentätigkeiten Vorkommen und nur dann
ein wichtiges Symptom sind, wenn sie ein Glied in der ganzen
Kette der Entwicklungshemmungen darstellen, welche dem geistigen
wie dem körperlichen Leben entgegentreten. Schließlich gebe die
Seelenverfassung, in unserer Ausdrucksweise die degenerative Dis¬
position, den Ausschlag, ob diese Störungen in das freie Selbst¬
bewußtsein eingreifen oder nicht. Die Autoren (z. B. Emminghaus,
Krafft-Ebing, Kraepelin) stimmen darin überein, daß die Puber¬
tätsepoche die Zeit der stärksten Wirkung erblicher Entartung ist
und das bei weiblichen Individuen noch mehr als bei männlichen.
Bei ihnen soll die erbliche Belastung überhaupt größere Bedeutung
h aben (Krafft-Ebing,Emminghaus), die Evolutionsperiode greift
tiefer in das ganze Dasein ein als beim Manne und wird schließlich
oft durch Ernährungsstörungen (Anämie, Chlorose) kompliziert.
Normaler Weise schon zeigt sich in dieser Entwickelungszeit
(Schüle, Krafft-Ebing, Kraepelin) eine lebhaftere Tätigkeit
der Einbildungskraft mit Neigung zu Schwärmereien und Empfind¬
samkeit. Bei der größeren gemütlichen Erregbarkeit und der sich
bemerkbar machenden Reizbarkeit werden die Stimmungsschwankungen
oft übermächtig und es entstehen unüberlegte, impulsive Handlungen.
Daß die Pubertätsperiode in bezug auf freie Willensbestimmung
manchmal einen Rückschritt bedeutet, meint Ideler (1857): In
dem kindlichen Gemüte tritt oft der Vernunftgebrauch, das sittliche
Unterscheidungsvermögen stärker hervor, als während der Stürme
und Leidenschaften, welche zuerst in der Pubertätsepoche hervor¬
brechen. In der Jugend überflügelt die Entwickelung des Gemüts
die des Geistes fast immer beträchtlich und erklärt dadurch die
vielen Unbesonnenheiten, zu welchen in gleichem Umfange nicht
einmal der Knabe sich fortreißen läßt.
Es wurde schon betont, daß in der Entwickelungszeit besonders
degenerative Individuen stark mitgenommen werden. Zwar ist von
hereditärer Belastung nur bei Juliane Krebs die Rede, doch kann
man bei den anderen aus ihrem Verhalten wohl auf die Zugehörig¬
keit zu der Gruppe psychopathischer Kinder schließen. Bei der
einen werden Nervenreizbarkeit, Kopfkongestionen, Schwächlichkeit,
bei der anderen somnambule Zustände, nächtliche Unruhe usw. er¬
wähnt. Es ist bekannt, daß solche Entartete zu abnorm lange an¬
haltenden Verstimmungen neigen, die zu kurzdauerndem Psychosen
sich ausdehnen können. Bei der gesteigerten psychischen Morbidität
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I. K. Jaspers
wirken besonders depressive Gemütsbewegungen, wie Schreck, Fnrcht
oder wie das Heimweh.
Gerade bei den Degenerierten wirken nun auch körperliche
Krankheiten oft mehr auf die Psyche als wie bei Normalen. 4 von
den 7 Fällen sind entschieden kränklich, (Krebs, Hettioh I, Spitta,
Kaupier). Solche Individuen sind zweifellos weniger widerstands¬
fähig, besonders wenn im Dienst Anforderungen über ihre Kräfte
hinaus gestellt werden. Moreau (Irrsein im Kindesalter) bemerkt
die überaus gesteigerte Sensibilität, welche die chlorotischen Kinder
auszeichuet. Bei diesen schwächlichen Wesen sei ein Mißverhältnis
zwischen ihrer Sensibilität und ihren physischen Kräften vorhanden.
Ihr Nervensystem erleide Erschütterungen, die unproportional seien
zum Allgemeinbefinden und sie beständig in einer Art Überspanntheit
des Geistes erhalte, aus der dann eine gewisse Nervosität hervorgehe.
Durch Aufzählung dieser 4 Momente, kindliche Art des Seelen¬
lebens, Umwälzungen beginnender Pubertätsentwickelung, psycho¬
pathische Veranlagung und körperliche Krankheit, glauben wir das
Wichtigste berührt zu haben, was, im Einzelfalle das eine mehr, das
andere weniger, zur Entstehung einer Heimwehverstimmung prä¬
disponiert. Wir sind der Meinung, daß diese Momente in einzelnen
Fällen auch genügen, um die schweren Grade des Heimwehs, die
zu Gewaltakten führen, hervorzubringen. Im folgenden werden wir
Fälle referieren, in denen als wesentliche Grundlage für die Ent¬
stehung des Verbrechens auch der Schwachsinn mit heranzuziehen
ist, oder eine schwerere konstitutionelle Verstimmung die Basis ah-
gibt, oder auch einfache moralische Minderwertigkeit vorliegt. In
den bisherigen glauben wir mit den erwähnten Punkten auszukommen,
wenn wir in der Gesamtpersönlichkeit nach den Ursachen der Hand¬
lung suchen. Hier Schwachsinn anznnehmen, erschiene uns gezwungen
und dogmatisch.
Nachdem wir uns für die typischen Fälle die wichtigsten
psychiatrischen Gesichtspunkte klar gemacht haben, besteht nun die
Aufgabe, ihre Anwendbarkeit in weiteren Fällen zu prüfen, die Ab¬
wandlungen des Heimwehs und die Komplikationen zu verfolgen.
Wir werden finden, wie das Heimweh an Bedeutung neben anderen
Punkten zurücktritt, ohne sie ganz zu verlieren und schließlich, wie
es auch Fälle gibt, die äußerlich dem Heimweh außerordentlich
ähneln, wo man von demselben jedoch kaum eine Spur entdecken
kann. Alle folgenden Krankengeschichten unterscheiden sich darin
von den bisherigen, daß die Individuen wahrscheinlich entweder
intellektuell oder moralisch minderwertig sind. Der Defekt mag
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Heimweh und Verbrechen.
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aber manchmal gering sein und die Trennung von den früheren
Fällen ist keine scharfe.
Zunächst folgt das Referat des eindrucksvollen Gutachtens
Hohnhaums (Henckes Ztscbr. f. Staatsarzneik. 1837, 24. Erg.
Heft, p. 55). Die Täterin ist sittlich zweifellos intakt, dagegen
scheint intellektuell ein leichter Defekt zu bestehen.
E. F. H. ist 16 3 /4 Jahre alt, ein Großvater endete nach zehn¬
wöchiger grundloser Melancholie durch Selbstmord, der Vater soll nerven-,
mitunter geisteskrank sein.
Ihre geistige Bildung ist gering, das Schreiben hat sie wieder ver¬
lernt, ihre Fähigkeiten waren geringe, eigentlich krank war sie nie,
abgesehen von sechs Blutschwären auf dem behaarten Teile des Kopfes,
aber schwächlich und leicht angegriffen. Sie besaß einen ihrem Alter
entsprechenden wohl proportionierten Körperbau, sanfte Zöge und
bleiche Gesichtsfarbe. Die Menses sind noch nicht eingetreten. Zu¬
weilen hat sie Nasenbluten.
Das Tanzen verursachte ihr stets einige Tage Angst und Hitze.
Umgang hat sie nur mit wenigen Schulkameradinnen gehabt. Eine
weitere freundschaftliche Zuneigung außer zu diesen und ihren Ver¬
wandten hat sie nicht empfunden. Sie war meist zu Hause, ging selten
aus und auch nur dreimal zum Tanzen. Sie soll immer feig und
furchtsam gewesen sein und ein schwaches Gedächtnis gehabt haben.
Sie war still und friedlich und hat sich nie mit jemandem tiberworfen.
Von Zorn, Rachsucht, Bosheit hat man nie etwas gemerkt.
Zum ersten Mal kam sie im Juli zu einer Frau Forstkommissar
H. in R. in Dienst. Sie fand gute Aufnahme und anfänglich soll es
ihr gefallen haben. Aber schon nach acht Tagen fühlte sie sich unwohl
und ging mehrere Tage zu ihren Eltern zurück. Als sie wieder zu
ihrer Herrschaft kam, konnte sie ihre Sehnsucht nach Hause trotz aller
Mühe nicht beschwichtigen. Sie hatte öfters eine plötzliche Angst, ein
Brennen und Drücken vom Magen bis zum Kopf aufsteigend, das kam
alle drei bis vier Stunden und dauerte '/ 2 —1 Stunde. Es war noch
nie so schlimm gewesen, aber schon seit einem Jahre hin und wieder
vorgekommen. Die Arbeit verrichtete sie gern, nur wurde es ihr dabei
immer weich ums Herz, sie fühlte sich einsam, weinte im Stillen, infolge
ihrer Sehnsucht war sie machmal verdrießlich und ärgerlich, wurde auch
später in der Arbeit nachlässiger. Als sie zum Erntefest bei ihren
Eltern zu Besuch wer, sagte sie zu ihrer Mutter, daß sie lieber sterben
wolle, als wieder nach R. gehen. Zur Rückkehr gezwungen, wurde
ihr jetzt jede Stunde bei den fremden Menschen zur Last. Sie erklärte
ihrer Dienstfrau, wenn es nicht früher anginge, müsse sie zu Lichtmeß
gehen. Diese drohte ihr, sie werde sie durch den Amtsdiener wieder
holen lassen.
Aus Furcht bat sie, man möchte sie nicht in der unheimlichen
Bodenkammer allein, sondern bei den Kindern schlafen lassen — zu
Hause hatte sie stets bei ihrer Mutter im Bett geschlafen — sie wurde
abgewiesen, sie solle sich nur mit Sorgen hinlegen, dann werde sie
in der Kammer schon schlafen. In einer Nacht vom 3. zum 4. Oktober
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1. K. Jabpehs
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schlief mit ihr eine Tagelöhnerfrau, da schlief sie ruhiger. Am 4. Oktober
brannte es im Pferdestall. Das Feuer wurde gelöscht (sie war wahr¬
scheinlich unschuldig daran). Dabei lag es ihr auf dem Herzen wie
ein Zentner, sie zitterte an allen Gliedern und konnte kaum die Beine
fortsetzen, sie konnte den ganzen Tag nicht essen und fühlte sich zn
Tode krank. Am 6. Oktober, nachdem sie in der Nacht vom Feuer
geträumt, am Abend vorher von der Demoiselle P. gekränkt war (es
sei ihr die H. viel zu schlecht um mit ihr zu reden) und nachdem sie
den ganzen vorherigen Tag todkrank war und bis zum Abend nichts
gegessen hatte, beging sie die Tat. Am frühen Morgen batte sie auf¬
stehen müssen, um ihre Notdurft zu verrichten, dabei wurde es ihr
ganz schlimm, wie es zuvor noch nie gewesen. Es hätte ihr mögen
das Herz abdrttcken, doch sagte sie nichts davon, weil man so etwas
stets der Sehnsucht zuschrieb und sie schalt. Sie legte sich nach
kurzer Zeit wieder hin und legte dann das Feuer an. Warum sie es
getan, kann sie nicht sagen, ob sie einen Gedanken dabei gehabt,
ebensowenig. Sie sei ganz wirr im Kopf gewesen, ob sie daran ge¬
dacht habe, daß das Forsthaus abbrennen solle, kann sie nicht sagen,
aber sie meint kindlich aufrichtig, daß sie wohl nichts anderes habe
denken können. Nochmals nach dem Motiv ihres Handelns gefragt,
sagt sie, sie sei sich selbst nicht klar bewußt, dann meinte sie, sie
habe gedacht, daß sie nach dem Abbrennen des Forsthauses wieder
nach Hause dürfe, denn sie habe sich sehr nach Hause gesehnt und
es sei ihr gewesen, als könne sie es bei fremden Leuten nicht mehr
aushalten. Das freie Bewußtsein erhielt sie erst in dem Augenblicke
wieder, wo sie die Treppe herunterging und das Feuer leuchten sah
und knistern hörte.
Nur ein Gedanke erfaßte sie jetzt, abscheulich und verbrecherisch
gebandelt zu haben. Im ersten Verhör leugnete sie aus Furcht vor
Strafe. Bald gestand sie. Ihr Gedanke war: Gott wird dir dieses
doch wieder vergeben, du hast ja nichst Böses getan. Der ärztliche
Beobachter gibt an: sie bezeigte sich sanft, still, arbeitsam, folgsam, sie
stellt sich ferner als schwach im Kopfe dar, sie ist furchtsam, fromm,
aufrichtig, ehrliebend, kindlich, unverdorben und verabscheuet das
Verbrechen.
In bezug auf den Augenblick der Tat sagt der Gutachter: die
fürchterlichen Schmerzen am Morgen selbst, die dadurch bedingte
körperliche und geistige Schwäche, das Dunkel der Nacht, die Kälte
der Luft, die Stille und Einsamkeit des Hauses, sollte alles dieses nicht
imstande gewesen sein, ein körperlich krankes, im Gemüt tief erschüttertes,
der Verzweiflung nahes Mädchen von 17 Jahren für einige Augenblicke
besinnungslos zu machen Auffassung als Mania acutissima.
Zweiter Gutachter: Wegen krankhafter Neigung zur Brandstiftung
unter Mitwirkung von Heimweh unzurechnungsfähig.
Die wichtigsten Punkte sind: auffallende Entwickelungshemmung,
körperlich schwächliches Geschöpf mit hereditärer Belastung und
psychopathischen Erscheinungen in der Kindheit. Von jeher furcht¬
sam und von kurzdauernden Angstzuständen geplagt. Nach dem
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Heimweh und Verbrechen.
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Dieusteintritt Heimweh, Steigerung der depressiven Erscheinungen
ins Psychotische, in der zwar das Heimweh als wesentlich hervor-
tritt, doch im entscheidenden Moment der Tat, die sie in einem
Zustand von Verwirrung beging, von gegenstandsloser Angst ver¬
drängt wird. . Man sieht bei ihr die kindliche Naivität, die kind¬
liche Furcht vor dem Alleinsein, die Scheu sich auszusprechen.
Bei ihrer Verstimmung ist die Kombination von äußerer Ver¬
anlassung durch Heimweh mit endogener Angst deutlich. Die
Handlung ist durchaus impulsiv, verursacht durch einen Angstanfall
mit Verwirrung der Gedanken und unklarer Erinnerung. Leider
ist über den weiteren Verlauf nichts berichtet und wie in allen Heim¬
wehfällen eine sichere endgültige Diagnose nicht möglich.
Ist in diesem Falle das Heimweh nur ein Moment, das zur Ent¬
wicklung der Verstimmung und Angst beiträgt, so gibt es auch solche,
die durch die äußeren Umstände den Heimweh verbrechen ähnlich
sind, aber nur überwiegend endogene Angstzustände darstelten, die
wohl duroh die ungünstigen Verhältnisse im Dienst befördert wer¬
den, jedoch ohne daß ein Heimweh dabei mitzusprechen scheint. Ein
solcher Fall bei einem geistig und körperlich zurückgebliebenen
Mädchen ist folgender 1 ):
Rosa B., 16 Jahre alt, Laufmädchen, ist angeklagt, an zwei ver¬
schiedenen Tagen im Erdgeschoß des Hauses ihrer Herrschaft an einem
Papiersack und an einer Kiste Feuer gelegt zu haben.
Die Untersuchung des Mädchens hatte folgendes Ergebnis: Die
Mutter sagt, daß Geisteskrankheiten und Nervenkrankheiten in der
Familie ihres Wissens nicht vorgekommen seien. Von ihren sieben Kin¬
dern seien sechs ganz normal, nur die Angeklagte Rosa zeige ein selt¬
sames Verhalten, welches sie sich nicht erklären könne. Sie habe zwar
schon in der Schule ziemlich gut gelernt, doch sei sie jetzt in den Stel¬
lungen wenig anstellig. Die Leute klagten, man könne ihr schwer etwas
beibringen, körperlich sei sie zurückgeblieben, die Periode habe sich noch
nicht eingestellt. Auch in ihrem Wesen sei sie kindisch. Sie spiele
mit den kleinsten Kindern, sei läppisch, sie lache viel unmotiviert, sinne
viel. Sie sei furchtbar ängstlich und schreckhaft, seit Jahre sehr
nervös. Sie schrecke oft zusammen und zucke dann mit den Extremi¬
täten. Sie meine, man wolle ihr etwas. Nachts rufe sie manchmal, es
sei jemand im Zimmer. Man müsse sie dann beruhigen. Während sie
bei der Herrschaft gewesen sei, habe sie oft über große Angst geklagt,
besonders darüber, daß sie immer brummen höre. Es müsse ein Kerl
im Keller sein.
Die Rosa E. ist ein schwächliches, schlecht entwickeltes Mädchen,
das entschieden jünger aussieht als sie ist. Ihr Schädelbau ist etwas
klein und schmal. Lähmungserscheipungen fehlen. Hervorzuheben ist
1) Gutachten des Herrn Dr. Longard mit sehr geringen Abänderungen.
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I. K. Jaspers
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besonders, daß sie nicht sehr ausgeprägte, doch deutliche veitstanz-
ähnliche Bewegungen — Zuckungen in der Gesichtsmuskulatur und in
den Armen — an sich hat. Sie macht einen kindlichen, unerfahrenen
Eindruck. Die Frage, ob sie schon die Periode, das Blut gehabt habe,
versteht sie nicht. Indes sind ihre Scbulkenntnisse ganz leidlich gute.
Sie rechnet gut und gibt gute Auskunft Uber ihre Familie und ihre
Vergangenheit. Auf Befragen sagt sie, daß sie immer sehr ängstlich
sei. Nachts sehe sie manchmal Lichtschein und glaube, es sei ein Ge¬
spenst im Zimmer. Sie rufe dann die Mutter. Bei ihrer Herrschaft habe
sie immer sehr große Angst gehabt, sie habe im Erdgeschoß Holz klein
machen müssen. Wenn sie nun allein gewesen sei, habe sie, sobald sie
mit Holzzerkleinerung aufgehört habe, etwas brummen hören. Sie habe
immer geglaubt, ein Kerl sei im Keller, sie habe dann entsetzliche
Angst bekommen. In dieser Angst habe sie das Feuer angelegt. Sie
habe gehofft, dann nicht mehr in den Keller gehen zu brauchen. Sie
wisse sehr wohl, daß man gerichtlich fttr eine solche Handlung bestraft
werden könne, jedoch wisse sie dies erst, seitdem ihre Mutter nach der
Tat ihr dies öfters vorgehalten habe. Sie verspricht, etwas Derartiges
nicht mehr zu tun.
Gutachten: Wir haben cs hiermit einem entschieden minderwertigen,
körperlich und auch geistig zurückgebliebenen Wesen zu tun, welches
noch auf kindlichem Standpunkte steht. Besonders ist das Letztere der
Fall in bezug auf ihre Neigungen, ihr Denken, Empfinden und ihre Ur¬
teilsfähigkeit. Sie ist ein in krankhafter Weise reizbares, nervöses
Mädchen, was durch die bestehende Chorea auch äußerlich zum Ausdruck
kommt. Hand in Hand mit diesem Zurückgebliebensein und diesem ner¬
vösen Zustand geht eine große Ängstlichkeit, wie sie ja bei Kindern
häufig hervortritt. Sie hat eine kindliche und krankhafte Phantasie,
welche in ihr auf dem Wege der Illusion Angstzustände und ängstliche
Ideen hervorruft, die durch einen ruhig ab wägenden geklärten Verstand
nicht beeinflußt und richtig gestellt werden können. Das Mädchen hat
zu früh das Elternhaus verlassen, und zu früh eine Stellung eingenommen,
in welcher sie unbeaufsichtigt tätig sein mußte. Durch diese Illusionen
und Angstzustände kam das Mädchen zu der Tat, wegen der sie sich
jetzt verantworten muß. Die Angeklagte ist nun geistig doch so be¬
schaffen, daß erwartet werden kann, daß in Zukunft ihr jetzt noch be¬
stehender geistiger Schwächezustand weniger hervortritt. Für vorliegen¬
den Fall ist es wahrscheinlich, daß sie sich zur Zeit der Tat in einem
krankhaften Zustande ihrer Geistestätigkeit im Sinne des § 5 t St.G.B.
bestand. Auch dürfte § 56 St.G.B. hier Anwendung finden können.
Das Verfahren wurde eingestellt.
In ähnlicher Richtung wie der Fall Hohnbaums weicht die
J. S. Philipp vom typischen Heimweh ab, doch kommt bei ihr
zur intellektuellen Schwäche vielleicht auch eine geringere sittliche
Widerstandsfähigkeit. Richter (Jugendliebe Brandstifter) erzählt
von ihr:.
Johanne Sophie Philipp, 14 Jahre alt, Landmädchen, war als
kleines Kind kränklich, jetzt von schwächlicher und skrophulöser Kon-
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Heimweh und Verbrechen.
77
stitution, lang aufgeschossen. Schmaler Brustbau, Skoliose, Anschwellung
der Schilddrüse und des linken Augenlides. Sie hatte Askariden. Seit
längerer Zeit schon klagt sie Uber Schwäche, Mattigkeitsgefühl, Kopf¬
schmerz, besonders früh beim Aufstehen, wo es ihr auch immer „schlecht
und drehend“ war. Sie war sehr verschlafen, schlief abends früh ein
und konnte morgens nicht aufstehen.
Die Kegel ist noch nicht eingetreten. Die Schamhaare beginnen
zu wachsen. Um die Brustwarzen einige Erhebungen.
Sie soll früher lebhaft und heiter gewesen sein. Seit der Tat hat
sie diese Stimmung ganz verloren. Von manchen wird sie als unordent¬
lich, empfindlich, leicht heftig, zu Beschönigungen und kleinen Lügen
geneigt, aber von anderen als folgsam, fleißig, verträglich, ruhig, frei
von Bosheit und Rachsucht, gutartig, doch von schwachem Charakter ge¬
schildert. In der Schule zeigte sie schwache Anlagen und wenig Über¬
legungsgabe, wurde jedoch mit guten Zensuren entlassen. Die Eltern
sind ordentliche Leute, sie genoß eine gute Erziehung.
Ca. 3 Wochen vor der Tat kam sie zum ersten Mal in Dienst.
Sie hatte in heftigem Grade Heimweh, weinte viel, lief viel nach Hause
auch ohne Erlaubnis, ließ sich aber willig zurückschicken. Später schien
sie sich einzugewöhnen, besonders wenn sie von Hause kam, war sie
guten Mutes. „Es sei ihr allemal wohl, wenn sie zu Hause gewesen
sei“. Auf ernstliches Zureden und Drohungen hatten die Äußerungen
des Heimwehs in den letzten Tagen abgenommen.
Am Sonnabend (1. V.) war ihr besonders schlecht zu Mute. Am
Abend wurde sie wegen ihres heimlichen Besuchs bei ihren Eltern aus¬
gezankt. Am selben Abend faßte sie den Entschluß Feuer anzulegen
und nahm zu dem Zwecke ein Töpfchen mit sich. Am Sonntag morgen
um 6 Uhr geweckt, war es ihr schwach und drehend im Kopfe. Sie
kleidete sich an, holte in das Töpfchen glühende Kohlen und legte im
Heu der Scheune Feuer an. An ihre eigenen Sachen dachte sie nicht.
Obgleich sie diese leicht hätte retten können, verbrannten sie.
Anfangs leugnete sie die Tat. Erst nach einigen Tagen legte sie
ein umfassendes Geständnis ab. Nach den Motiven gefragt, erklärte sie:
„Ich weiß keinen Gund, weshalb ich das getan habe. Meine Dienst¬
herrschaft hat mir nichts zuleide getan. Schon am Sonnabend abend
war es mir, als ob jemand bei mir stände und mir sagte, daß ich Feuer
anlegen sollte. Und es war mir an diesem Abend sehr schlecht und
drehend im Kopfe. In diesem Zustande nahm ich das Töpfchen in der
Absicht Feuer anzulegen“. Am nächsten Morgen sei es ebenso gewesen.
Früher sei ihr niemals ein solcher Gedanke gekommen. Dem Arzt gab
sie an, daß sie die Strafbarkeit des Verbrechens gekannt habe. Sie ge¬
stand ein, daß sie gehofft habe, durch den Brand nach Hause zu
kommen, daß sie bis in die letzte Zeit im stillen die Sehnsucht nach
Hause gehabt habe, und noch habe. Später leugnet sie, am Morgen
der Brandstiftung Heimweh gehabt zu haben oder den Glauben gehegt
zu haben, durch solche Handlung wieder nach Hause zu kommen, es
sei ihr an diesem Morgen nur drehend im Kopf gewesen. Wie sie zu
dem strafbaren Gedanken gekommen sei, wisse sie nicht.
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1. K. Jaspers
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Sie wurde verurteilt und in eine Korrektionsanstalt gebracht. Von
hier wird berichtet, daß sie gedrückt und nicht wieder frohsinnig ge¬
worden sei. Offenbar habe sie Reue, sie zeige sich schüchtern und
folgsam, sei willig und gutartig und zeige spärliche intellektuelle Kräfte.
Sie verlange nach der Heimat, aber nicht unter krankhaften Symptomen.
Über die Motive zur Tat mache sie noch dieselben Angaben wie früher.
Es scheint der Direktion, daß sie während und unmittelbar nach der
Tat von der Vorstellung der Sünde, die sie begehe, verlassen gewesen
sei. Der Anstaltsarzt gibt an, daß sie deprimiert sei, periodische An¬
wandlungen von Gewissensbissen habe, gutes Betragen, Weichheit des
Willens wechsle ab mit kindischer Aufgeregtheit. Körperlich sei sie
gesund, nachdem die Würmer abgetrieben seien, nur hätten sich Kon¬
gestionen in Kopf und Brust durch Herzschlag, Puls und Gesichtsrötung
kundgegeben. Alle Symptome von Geisteskrankheit fehlen.
Bei dieser Täterin macht sieh im Unterschied von den vorigen
eine größere Planmäßigkeit in der Ausführung der Tat geltend, ohne
daß von einem Kampf der Motive die Rede wäre. Vielleicht mag
dieser Umstand in Verbindung mit einigen der Zeugenaussagen über
ihren Charakter eine geringere sittliche Entwicklungsstufe annehmbar
machen, doch ist zu betonen, daß Planmäßigkeit im Handeln auch
bei ganz intakten Individuen unter dem Einfluß der hochgradigen
Verstimmung vorkommt, (z. B. Apollonia, Rüsoh, Hettich I.)
Der depressive Zustand ist wie im Fall Hohn bäum zum großen
Teil endogen, er verläuft in Schwankungen, dauert im Gefängnis an
und macht sich als periodische Gewissensregung bemerkbar. Im
übrigen findet man auch bei ihr wieder körperliche Kränklichkeit,
psychopathische Züge, kindliche Eigenschaften, bei fehlender Men¬
struation erste Zeichen der Pubertätsentwioklung.
Den früheren Fällen näher steht M. Belling, von der Peter-
sen berichtet, (Pfaffs Mitteil. 1833, S. 532). Sie ist moralisch und
intellektuell nicht hochstehend. Ob man von Defekt in psychia¬
trischem Sinn sprechen kann, ist aber zweifelhaft.
Margaretha Belling aus Kochendorf, adligen Gutes Windebye,
legte am 23. XII. 1832 und 8. I. 1833 in Bonert bei ihrer Herrschaft
Feuer an, beide Male wurde rechtzeitig gelöscht. Seit 3 Wochen war
sie hier als Kindermädchen in Dienst bei Hufner Thoms.
Nach anfänglichem Leugnen und verstelltem Weinen gestand sie
bei der gerichtlichen Untersuchung mit mehr Fassung, als ihrem Alter
(13 Jahre) zuzutrauen, daß sie beide Male Feuer gelegt, ohne anderen
Grund als daß sie dort nicht sein möge, denn sie sei von niemandem
dazu verführt und habe auch wohl an die Größe der Gefahr für ihre
Brotherrschaft gedacht. Sie könne sich weder über A. Thoms noch
dessen Frau beklagen, sei gut behandelt und habe sich bloß sehr nach
Hause gesehnt und nicht geglaubt wegzukommen, wenn sie solches
angebe.
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Heimweh und Verbrechen.
79
Im vorigen Sommer brannte ein Hans in der Nähe des Hofes
Windbye, wo dieselbe M. B. zurzeit diente, ab. Es ist kein Verdacht
auf sie gefallen. Hier war sie zwei Sommer 1831 und 1832 als Kinder¬
mädchen in Stellung. Die Herrschaft war sehr zufrieden, hatte nie
Veranlassung zur Beschwerde.
Bei der zweiten Vernehmung gibt sie an, sie habe an einem Sonn¬
tage, ungefähr 8 Tage nach ihrem Diensteintritt, lediglich Feuer an¬
gelegt, weil sie Heimweh gehabt habe und geglaubt, darauf weg und
nach Hause kommen zu können. Sie bemerkte inzwischen nach wieder¬
holtem Zureden, daß sie schon in der ersten Nacht seit ihrer Ankunft
in Bonert geträumt habe, daß Feuer in dem Bette des Dienstjungen
sei, und dieser Gedanke, wenn sie solchen auch niemandem mitgeteilt,
habe sie den ganzen Tag über und später sehr beschäftigt, wozu am
andern Tage eine heftige Sehnsucht nach Hause hinzugekommen und
dadurch die Idee in ihr aufgestiegen sein müsse, Feuer anzulegen, da¬
mit das Haus abbrennen und sie zu ihrer Mutter und Großmutter in
Kochendorf, insgleichen zur Schule wieder kommen möge, indem sie auch
noch eines Nachts vor der Tat geträumt habe, daß ihre Großmutter ge¬
storben sei nnd ihre Mutter darüber geweint habe. Sie habe sich vor
der Tat nicht unwohl gefühlt und habe keine besondere Lust am Feuer
verspürt.
Mit der vorher gefaßten Absicht, durch das auf dem Herde be¬
findliche Feuer das Bett des Dienstjungen in Brand zu setzen, sei sie
ans der Stube gegangen, habe erst ihre Notdurft verrichtet und dann
bei der Rückkehr ins Haus den Brand mit einer Kohle gelegt. Sie
habe keine besondere Unruhe dabei gemerkt. Das Schreckliche und
Gefährliche ihrer Tat habe sie sich nicht vergegenwärtigt, wenn sie
gleich die Folgen, nämlich das Abbrennen des Hauses, beabsichtigt habe.
Als das Feuer brannte, habe sie innere Unruhe verspürt.
Ihre Dienstherrin hat bemerkt, daß sie in den ersten Tagen kein
Brot gegessen habe, und sie gefragt, ob sie sich sehr nach Hause sehne,
welches sie verneinte. Die Herrin gibt ferner an, daß sie an der In-
quisitin nichts Kränkliches bemerkt, daß sie sich munter und zufrieden
gezeigt habe, auch am ganzen Tage der Tat keine Unruhe oder son¬
stige Gemütsbewegung dargeboten habe. Auch bei der zweiten Brand¬
stiftung habe die Herrin davon nichts bemerkt. Ähnliches gibt das
Dienstmädchen Car. Kaisen an, welches mit M. B. zusammenschlief.
Außerdem, daß diese ihr einmal erzählt, sie habe geträumt, als wenn
ihre Mutter sie zur Schule gerufen. M. B. habe festgeschlafen, nachts
habe sie nicht allein aufstehen mögen.
Bei erneuten Verhören gab sie immer wieder Heimweh an. Den
Vorsatz zur letzten Tat habe sie bereits am Vormittag gefaßt, um solche
mittags auszuführen.
Der Schullehrer gibt an, sie habe die Schule besucht, wenn sie
nicht krank gewesen sei oder gedient habe, habe jedoch bei einer ge¬
wissen Gleichgültigkeit und Flüchtigkeit nur geringe Fortschritte ge¬
macht. Pastor Rönnekamp sagt: „Ihre Religionskenntnisse waren nur
mangelhaft, im Lesen hatte sie eine ziemliche Fertigkeit, aber es schien
ihr schwer zu werden, den Inhalt des Gelesenen aufzufassen nnd durch
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Worte auszudrUcken. Übrigens gebriebt es ihr an Anlagen gwiß nicht,
aber ihre Denkkraft ist nnr wenig geübt and ihr moralisches Gefühl scheint
noch zu schlummern. Leichtsinn und Unbesonnenheit sind in ihrem
Charakter gewiß hervorstechende Züge. Von eigentlicher Verdorbenheit,
Bosheit und Schadenfreude habe ich nichts bemerkt. Aber Versteckt¬
heit und Furcht sprachen sich in ihrem Wesen aus. Sie gab nicht zu,
daß sie in böswilliger Absicht, um anderen Menschen Schaden zuzu-
fttgen, Feuer angelegt habe. Wahrscheinlich hat sie die Beweggründe
ihrer Tat selbst nicht deutlich gedacht, sondern nur die wahrscheinliche
Hoffnung gehegt, sie könne dadurch aus ihrer jetzigen Lage, welche
ihrem Wunsche nicht entsprach, befreit werden. An Gefühl mangelt
es ihr übrigens nicht. Als ich ihr aus dem Gesangbuche zu lesen gab,
brach sie bei den Worten „Und ewig wird die Strafe sein“ in heftiges
Weinen aus. Meine Ermahnungen schienen Eindruck auf pie zu machen,
weshalb ich die Hoffnung hege, daß sie noch einst, wenn ihr moralisches
und religiöses Gefühl geweckt worden ist, ein taugliches Mitglied der
menschlichen Gesellschaft wird werden können, da es ihr an guten
Geistesanlagen nicht zu gebrechen scheint und sie körperlich wie geistig
gesund ist.“
Zu demselben Resultat kommt Petersen. Dessen Untersuchung
ergibt: „Die Menstruation ist noch nicht eingetreten, das Wachstum des
Körpers ist beträchtlich vorgeschritten, jedoch mehr in die Länge. Keine
Spuren von Rhachitis. War nie kränklich. Wohlgenährt, blühende Ge¬
sichtsfarbe. Andeutungen einer dem Alter (13 Jahre) nach frühzeitig
einsetzenden Entwicklungsperiode, Hervorsprossen von Haaren in der
Regio pubica, schon bemerkliches Anschwellen an Brüsten, Hüften und
Schamteilen. Ihre geistigen Kräfte sind unentwickelt, bei mangelnder
Erregung und großer Indolenz. Auf mannichfache Weise habe ich zu
verschiedenen Zeiten nach der Causa facinoris geforscht. Auf eindring¬
liche Fragen nach der wahren Ursache ihrer wiederholten Versuche zur
Brandstiftung erhielt ich die Antwort, sie wisse es selbst nicht. Sie
hätte gar nicht daran gedacht. Sie hätte sich gesehnt nach Hause und
nach der Schule, sie hätte Heimweh gehabt. Die Mutter hätte sie mehr¬
mals gerufen. Sie hätte helles Feuer gesehen im Bette des Dienstjungen.
Sie hätte niemand Schaden tun wollen. Spuren strafbarer Motive, Ärger,
Zorn, Haß, Rachsucht, Bosheit, Anreizung, waren überall nicht bemerk-
lich. Oftmals auch schien es, und zumal in letzter Zeit, als wenn sie
sie sich den Zustand nicht deutlich mehr vergegenwärtigen könne, in
welchem sie sich vor, während und nach der Tat befunden hat. In der
Nacht vor der ersten Brandstiftung wäre sie zweimal aufgewacht wegen
Dranges zum Urinieren und hätte das bei ihr schlafende Mädchen ge¬
weckt, mit ihr zu gehen, weil ihr in der Dunkelheit ängstlich wäre
allein zu gehen. Des Morgens 23. XII. 1832 hätte sie beim Er¬
wachen geglaubt, ihre Mutter hätte gerufen, sie solle aufstehen und zur
Schule gehen. Sie hätte des Morgens bei der Wiege gesessen und das
Kind gewiegt, sie wäre beklommen und nicht so gut zumute gewesen
wie sonst. Der Gedanke, Feuer anzulegen, wäre nun plötzlich ent¬
standen. Die Frau hätte unterdessen das Kind gesäugt und sie wäre
hinausgegangen, um Kartoffeln zu schälen. Dann wäre sie wieder hinein-
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Heimweh und Verbrechen.
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gegangen und hätte das Kind gewartet. Sie hätte eine Beklommenheit
and Angst in der Herzgrabe gehabt. Die Frau sei wieder hereinge¬
kommen nnd hätte das Kind genommen, welches gerade eben erwachte.
Sie hätte Drang zam Urinieren gehabt und der Fran es gesagt. Diese
hieß sie hinausgehen. Beim Gehen über die Hausdiele hätte sie Zittern
und Ziehen in den Hüften und Beinen bekommen, dann ihr Wasser ge¬
lassen. Bei der Rückkehr aber hätte sie in Hast und Eile mit der
Feuerzange eine glühende Kohle, wovon genug auf dem Herde gelegen,
genommen und schnell, damit andere es nicht sähen, in das Bett gelegt.
Sie hätte sich nicht mehr zu helfen gewußt. Die Beklommenheit und
Angst hätten sich darnach verloren. Sie hätte dann nicht weiter daran
gedacht und wäre wieder hinein und zu Tische gegangen, und das Essen
hätte ihr gut geschmeckt. Als die hellen Flammen aus dem Bette ge¬
schlagen, hätte sie Zittern in den Beinen bekommen. Sie wäre ängst¬
lich geworden, daß das Haus abbrennen würde, sie wäre hingegangen,
um Wasser zu holen. Sie hätte das Feuer gerne gelöscht. Abends
schwand die Beklommenheit, als sie bemerkte, daß das Feuer erstickt
sei. Sie hätte nicht weiter daran gedacht, daß ein großes Unglück
hätte entstehen können, auch nicht gewußt, daß sie Unrecht und Böses
getan habe. — Als sie zum zweiten Male Feuer anlegte, hätte sie nicht
geträumt und es scheint, als wenn der ursprünglich bei physischem Un¬
wohlsein plötzlich entstandene Gedanke Feuer anzulegen, nunmehr bei
dem halbträumerischen Leben der einzige gewesen ist, mit welchem sie
sich bei ihrer so großen Gleichgültigkeit und Indolenz noch beschäftigte
und dadurch gleichsam zur fixen Idee erwachsen ist. Ihre Aussage ist
die: Am 8. I. des Morgens als es dämmerte, hätte sie die Frühkost ge¬
kocht, sie hätte Zittern in den Beinen gehabt und wäre nicht gut zu¬
mute gewesen. Sie hätte immer an die Schule und an ihre Mutter ge¬
dacht, auch ans Feueranlegen, um nach Hause zu kommen. Auch hätte
sie an die Frau gedacht und daß diese sie nicht hätte gehen lassen.
Den ganzen Morgen wäre sie mit diesem Gedanken beschäftigt gewesen
und hätte gezittert, weil sie fürchtete entdeckt zu werden. Das erste
Mal hätte sie diese Furcht nicht gehabt. Sie hätte nicht schaden wollen,
doch wohl gedacht, daß die Bewohner Schaden leiden würden, sie hätte
gedacht, es brenne wohl auf, sie hätte sich gefreut, als das Feuer ge¬
löscht wurde.
Dieses ist nun das Geringfügige und nach meinem Dafürhalten wirk¬
liche Resultat, zu welchem ich erst nach wiederholten, stundenlangen
und mühsamen Unterredungen mit der M. B. gelangte. Sie erschien
mir während der Untersuchungen als ein rohes, indolentes, unbedacht¬
sames und leichtsinniges, dabei jedoch an sich gutartiges Kind.“
In seinem Gutachten nimmt Petersen an, daß sie ohne Zweifel
das Feuer in einem Zustande von Erstarrung und bewußtlosem Traume
angelegt habe, der durch die Vorgänge der Entwicklungsperiode und
durch Heimweh nebst der eintönigen Lebensweise hervorgerufen sei.
Die Zurechnung wird von ihm verneint. Über die Vorgänge die zum
Verbrechen führten, schreibt er: den ganzen Morgen vor Ausführung
der Tat verwechselte sie den Traum mit der Wirklichkeit, indem sie
glaubte, ihre Mutter habe sie wirklich gerufen. Bei solchem Traum-
Archiv für Kriminalanthropologie. 36. Bd. 6
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leben nimmt sie, beherrscht von der fixen Idee and dem instinktartigen
Triebe zur Brandstiftung, eine zur Hand liegende glühende Kohle und
legt sie in das Bett des Dienstjungen, wo die Phantasie ihrer Seele ein
helles Fener als Traumbild gezeigt hatte. Darnach ftthlt sie sich von
ihrer inneren Angst befreit. Bald jedoch ftthlt sie Unrnhe über ihre
Tat selbst, jedoch sehr vorübergehend und ohne bleibenden Eindrnek.
Der frühere Zustand findet sich wieder ein, abermals kann sie dem
Drange nicht widerstehen und wirft eine Kohle anf den Heuboden.
Den Jahren und ihren seelischen Eigenschaften nach ganz Kind
macht sich bei der Täterin schon die beginnende Pubertätsentwick¬
lung geltend. Krankhafte Zustände werden außer der Dienstzeit
nicht erwähnt. Die Heimwehverstimmung ist offenbar eine sehr hoch¬
gradige, vorübergehend unter dem Einfluß von Angt zu Träumen
und Illusionen führend. In einem solchen Angstzustand führt sie das
erste Mal impulsiv die Brandstiftung aus, das zweite Mal anschei¬
nend, nachdem der Gedanke daran länger in ihr gelegen hatte, sie
sogar im Gegensatz zur ersten Tat schon vorher Entdeckung fürch¬
tete. Wichtig ist die Art ihrer Aussagen. Sie ist sich anscheinend
selbst nicht klar über die Motive.
Kürzer berichtet ist der dritte Fall Hettichs, er steht viel¬
leicht mit dem letzten auf ähnlicher Stufe sittlicher nnd intellektueller
Entwicklung.
Eva Barbara Sch. 15% Jahre alt, Schreinerstochter, war um die
Zeit des von ihr begangenen Verbrechens an der Grenze der ein¬
tretenden Pubertät und von krankhaftem Aussehen. Bei verhältnis¬
mäßig kleinem Kopf mit flachem Hinterhaupte, besaß sie eine sehlanke
Gestalt, körperliche Gewandheit, feine Ausbildung der Hände und
Finger. Drei Geschwister von ihr waren simpelhaft. Ein 1 1 /2 Jahre
alter Bruder ist für sein Alter normal.
Mehrere Zeugen erklären sie für gescheit, aber „hudelig“, unbe¬
sonnen, unüberlegt und öfters zerstreut. Das Pfarramt und der Schul¬
lehrer sprechen sich in ihren Zeugnissen für geringe intellektuelle
Fähigkeit und Ausbildung der Sch. aus, ohne ihre Fähigkeit, die von
ihr begangene Tat beurteilen zu können, in Abrede ziehen zu wollen.
Das Medizinalkollegium gibt nach persönlicher Beobachtung an:
ihr psychischer Habitus steht im ganzen namentlich in Absicht auf die
höheren geistigen Vermögen auf einer niederen Kulturstufe. Sie zeigt
bei der Wahl der Mittel, um ihre Zwecke zu erreichen, nicht nur
Gewandtheit der Hand, sondern auch die Gabe der Erfindung und
Verstellung, aber zugleich offenbar einen Mangel an Fähigkeit oder
an Ausbildung der Fähigkeit, den Wert oder Unwert ihrer Handlungen
zu beurteilen, oder diesem Einfluß auf die Bestimmung ihres Willens-
Vermögens zu gewähren. Die Empfindungen eines durch ihre äußere
Lage veranlaßten Mißbehagens in Verbindung mit dem dadurch zum
Teil wenigstens begründeten Heimweh stellten auch später noch die
Gefühle von Reue in den Hintergrund.
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Heimweh und Verbrechen.
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Unter ihren Geschwistern wurde sie als die vornehmste betrachtet,
mit mehr Schonung und Rücksicht behandelt und durfte weniger arbeiten.
In ihrem Geburtsort war die Sch. zweimal, das erste Mal 4 Wochen,
das zweite Mal 14 Tage lang in Dienst. Hierauf kam sie gleichfalls
zweimal, das erste Mal 2 Jahre, das zweite Mal 1 Jahr vor ihrem
Verbrechen, in Dienst nach R., einige Stunden von ihrem Geburtsort
entfernt. Jedesmal war sie sogleich vom Heimweh ergriffen worden
und in den ersten paar Tagen wieder nach Hause gelaufen.
Als sie endlich bei den Schlosser Sch.schen Eheleuten in dem
wenige Stunden von ihrer Heimat entfernten Pfarrdorf J. in Dienst
getreten war, wo ihr hauptsächlich die Wart und Pflege des nur etliche
Wochen alten Kindes oblag, wurde sie auch hier sogleich und in hohem
Grade von Heimweh befallen. Mitwirkende Ursachen dieses Leidens
mögen gewesen sein: der Übergang von dem stillen und abgelegenen
Dorf nach dem sehr lebhaften und an der Landstraße gelegenen J.,
die gute Behandlung zu Hause, gegenüber der sehr rauhen bei ihrer
als zänkisch geschilderten Dienstfrau, verbunden mit dem angestrengteren
Arbeiten, wobei sie zuweilen wegen des schreienden Kindes bis Mitter¬
nacht aufbleiben mußte. Daß sie wirklich an Heimweh gelitten habe,
ist durch mehrere Zeugenaussagen konstatiert.
Von physischen Krankheiten zu jener Zeit ließen sich nur Druck
und Schmerzen auf der Brust, Stechen auf dem Herzen, das sie schon
länger hatte und das von einem bisweilen schmerzhaften Druck im
Unterleib vermehrt wurde, auffinden.
Auf der einen Seite von der ^Sehnsucht nach Hause zu kommen
bestürmt, auf der anderen in der Furcht von ihrem Vater, wenn sie
nach Hause käme, gezankt und geschlagen und von den Mädchen in
0. ausgelacht zu werden, verfiel die Sch., nachdem sie darauf gesonnen
hatte, ihrer Dienstherrschaft „einen Tuck“ anzutun, auf den Gedanken,
jenes Kind zu töten. Mehrere Zeugenaussagen gaben an, daß sie
freundlich mit Kindern und kinderlieb gewesen sei.
Den Plan der Tötung des Kindes suchte sie auf mehrere Arten
nacheinander auszuftthren. Zunächst mit einer Nähnadel. Nach diesem
ersten Versuch erhielt sie einen Besuch von ihrem Vater, der gegen
sie äußerte, „daß es ihm nach ihr antue“, wodurch wahrscheinlich
ihr Heimweh noch gesteigert wurde. Ihr Vater ermahnte sie jedoch
zu einer guten Aufführung, was aber keine reuige Empfindung bei ihr
hervorbrachte, indem sie zu dem zweiten Mordversuch schritt. Sie ver¬
suchte es mit Brennöl, suchte Hefe beizubringen, endlich am dritten
Tage, nach den drei ersten Versuchen, verbrannte sie das Kind mit
siedendem Kaffee, worauf es nachts starb.
Gutachten: Zur Zeit der Verübung ihres Verbrechens litt sie an
einem heftigen, ihre Imputationsfähigkeit in hohem Grade beschränkenden
Anfalle von krankhaftem Heimweh und wurde durch dasselbe zu ihrer
unnatürlichen Tat getrieben, wobei der geringe Grad ihrer geistigen
Entwickelung und ihre dermalige Lebensperiode (Übergang zur Mann¬
barkeit) von nicht geringem Einfluß gewesen seien.
Strafe: Wegen verminderter Zurechnung 2 Jahre Arbeitshaus.
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Die Täterin, über deren intellektuellen Zustand verschiedene
Meinungen herrschen, ist ein zartes Mädchen im Pubertätsalter.
Nachdem sie in mehreren Jahren wegen Heimwehs zweimal gleich
im Anfang aus dem Dienst gelaufen war, tötet sie das dritte Mal
aus Angst vor dem Zanken des Vaters und Auslachen der Mädchen
wenn sie ohne weiteres heimkäme, das ihr anvertraute Kind. Die
Ausführung der Tat erstreckt sich in vergeblichen Versuchen über
mehrere Tage und erforderte eine beträchtliche Gefühllosigkeit, wenn
die Depression nicht eine sehr heftige war.
Ziemlich kurz erzählt ist in Henckes Ztschr. f. Staatsarzneik.
ein Fall von Spitta (Bd. XXII, 1831, p. 355).
R. geh. 1815, Tochter rechtlicher Tagelöhner, war in Hausarbeit
geübt, aber in geistiger Ausbildung weit zurückgeblieben. Beim Lese¬
unterricht, den der Vater ihr erteilte, war sie nur bis zum Buchstabieren
gekommen. Ohne eine Schule besucht zu haben, trat sie als 12 jähriges
Mädchen in Dienst. Trotzdem sie gut behandelt wurde, verließ sie
diesen schon nach 4 Tagen, nachdem sie das Haus ihres Brotherrn
eingeäschert hatte. (Dies wurde erst Jahre später gestanden.) Sie kam
wieder nach Hause und blieb l Jahr bei ihren Eltern, mit Hausarbeit
und Leseunterricht beschäftigt. Dann trat sie wieder bei denselben
Leuten wie früher in Stellung. Doch schon nach 14 Tagen, als sie
einen vergeblichen Versuch zur Brandstiftung gemacht hatte, kehrte
sie, Krankheit ihrer Mutter vorgebend, zum väterlichen Hause zurück.
Wieder blieb sie hier ca. 1 Jahr und kam dann zu anderen Leuten
als „kleines Mädchen 11 . Obgleich sie es nach eigener Angabe dort
recht gut hatte, zündete sie noch in der. ersten Woche das Haus an.
Diesmal wurde sie entdeckt.
Vor dem Amtsgerichte legte sie mit lächelndem Munde ein Ge¬
ständnis ab, blieb gleichgültig und ohne Reue, aber in derselben Stunde
traten ihr Tränen in die Augen, als ihre Mutter erwähnt wurde und
was diese zu dem Vorfälle sagen würde. „Hier wird uns der Schlüssel
zu ihrer Seele geboten. Die wärmste Anhänglichkeit an das elterliche
Haus und besonders an die Mutter absorbiert alle übrigen Gefühle und,
Rücksichten und Heimweh erscheint als der gewaltige einzige Ton in
ihrem Innern, der jede andere Stimme betäubt. Sie erzählt, wie sie,
in Dienst vermietet, so ungern von Hause gewollt, wie sie so gern bei
ihren Eltern und nirgends lieber sein möchte. Sie zündet in B. das
Haus an und stürzt bei ausbrechendem Brande der Mutter in die Arme,
um die Rücknahme nach der Heimat bittend. Im Gefängnis zu B.
spricht sie häufig von ihren Kinderspielen, am meisten aber und am
liebsten von ihrer Mutter und weint beim Sprechen und träumt von
ihr und versichert, daß, wenn ihre Eltern ihr auch gram geworden
wären, sie doch immer ihre lieben Eltern bleiben würden.“
Trotzdem Heimweh vorhanden schien, gab sie anfänglich falsche
Motive für ihre Tat an. Sie sei ausgescholten, habe nicht satt zu
essen bekommen, usw., um sich zu entschuldigen. Sie zeigte nach der
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Heimweh und Verbrechen.
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Tat «die größte Ruhe, Kindlichkeit, Gefühl und Teilnahme an allem
menschlich Guten“. Wenn die Seite ihrer Seele, die von Heimweh
erfüllt ist, nicht angesprocben wird, erscheint sie heiter und ruhig,
gutmütig und folgsam, hat guten Verstand und gutes Gedächtnis.
Körperlich ist sie von kindlichem Habitus, hat noch nicht menstruiert.
Sie ist an Wechselfieber krank gewesen und hat viel an Kopfweh gelitten.
Im Gutachten wird eine von der Pubertätsentwickelung ausgehende
Pyromanie in Abrede gestellt.
Es handelt sich wahrscheinlich um eine Imbezille, jedenfalls
aber um ein aller geistigen Ausbildung bares Geschöpf. Interessant
ist, daß ihr einmal eine Brandstiftung gelang, ohne daß sie entdeckt
wurde, und daß sie auf diese Weise ihr Ziel erreichte. Es steht
das in Widerspruch mit der Behauptung, daß die Verbrechen der
heimwehkranken Mädchen absolut sinnlos seien.
In bezug auf Ausbildung des Verstandes und der Moral wegen
Kürze nicht ganz klar, aber anscheinend nicht imbezill und in
manchen Zügen sehr charakteristisch ist die 14jähr. Glorieux, von
der Krafft-Ebing nach Schrevenz berichtet (Gerichtl. Psycho¬
pathologie p. 59, 3. Aufl.).
Am 5. Dezember zeigte die 14 Jahre alte Glorieux ihrer Herrin
ein Büschel Stroh, das sie angebrannt in der Scheune gefunden haben
wollte, und als jene dem Vorfall keine Beachtung schenkte, geriet die
G. ins Weinen und sagte: „es scheint fast, als meine man, ich hätte
Feuer anlegen wollen und das ist doch ein großes Verbrechen“. Am
6. abends brannte das Gehöft. Die G. raffte ihre Sachen zusammen
ging fort und kam erst am folgenden Morgen wieder, weinend und
sagend, daß sie sich krank fühle. Anfangs leugnete sie, später ge¬
stand sie ihre Tat mit der Motivierung, daß ihr die Arbeit zu schwer
war, sie sich immer krank fühlte und kein anderes Mittel wußte, um
heim zu den Eltern zu kommen. Die G. war erst seit 14 Tagen in
diesem Dienst. Vorher hatte sie einige Monate in einem anderen ge¬
dient, aber wegen Kränklichkeit nicht bleiben können.
Die G. ist im Alter der Pubertät. 8 Tage vor der Tat hatte sie
zum ersten Male die Menses bekommen, die seither nicht wiedergekehrt
sind. Sie ist seit Jahren kränklich, (Erbrechen, Kopfschmerzen), litt
an Konvulsionen im 7. Jahr. Damals litt sie an Typhus, der einen
neuropathischen, kränklichen Zustand hinterließ. Einige Monate vor
der Brandstiftung hatte sie einen heftigen Schrecken. Einer erblichen
Disposition ist sie nicht unterworfen. Geistig ist sie zurückgeblieben
und auf noch kindlicher Stufe. Sie weiß abstrakt, daß Brandstiften ein
schweres Verbrechen ist, aber einer Nutzanwendung auf den eigenen
konkreten Fall war sie nicht fähig. Sie will es nicht mehr tun. Man
solle sie doch heim lassen! Sie gestand erst und treuherzig, als man
versprochen hatte, daß ihr nichts geschehen werde.
Das Gutachten erweist zunächst, daß hier keine Geisteskrankheit'
oder Geistesschwäche vorliegt, sondern eine retardierte geistige Ent-
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Wickelung, die die G. noch auf kindlicher Stufe erscheinen lasse.
Schwere Arbeit, Kränklichkeit machten ihr den Dienst bei fremden
Leuten unerträglich. Sie batte nur eine Sehnsucht, heimzukommen.
Kindlich und furchtsam wie sie war, getraute sie sich nicht ohne Grund
fortzulaufen. Sie hoffte immer auf einen glücklichen Zufall, der ihr
das Verlassen des Dienstes ermögliche. Eines Tages schoß ihr der
Gedanke durch den Kopf, diesen Zufall selbst herbeizuführen. Sie
kämpfte gegen diesen Gedanken, er wurde immer mächtiger. „Es
trieb mich Feuer zu legen“. Das erste Mal löschte sie es noch selbst,
endlich konnte sie nicht mehr Widerstand leisten. Sie dachte dabei
nur ans Fortkommen, nicht an die' möglichen Folgen der Handlung.
Oft weinte sie im Gefängnis, „ja, wenn ich an all das gedacht hätte,
würde ich es nicht getan haben“.
Mit Recht betont der Experte bezüglich der Schuldfrage das Alter,
die zurückgebliebene geistige Entwickelung, das Heimweh, die Vorgänge
der Pubertät mit ihren Rückwirkungen aufs psychische Leben, doppelt
bedeutsam hier, wo es sich um ein kränkliches neuropathisches Indivi¬
duum handelte, die zwingende organische Macht einer durch lebhafte
Unlustgefühle (Nostalgie) und einen neuropathischen hysterischen Zu¬
stand unterhaltenen verbrecherischen Idee. Ein solcher Zustand machte
die G. unfähig aus freiem Willen zu handeln und moralisch unver¬
antwortlich für die begangene Tat. Der Urteilsspruch ist nicht mit¬
geteilt.
Ein kindliches Seelenleben haben wir bei allen Täterinnen be¬
obachtet, doch waren sie immerhin am Ende der kindlichen Epoche.
Es gibt zwei Fälle in der Literatur, die von Kindern in jüngeren
Jahren handeln, die zwar kurz referiert, aber wegen der Seltenheit
wichtig sind.
Zangerl 1840, p. 74. Ein Mädchen, 9*/ ä Jahre alt, wurde in
das eine Stunde von seiner Heimat entfernte Ernstbrunn als Kinds¬
mädchen in Dienst gegeben. Bald darauf vom Heimweh geplagt, bat
es seine Dienstfrau um Entlassung und, da diese ihm verweigert wurde,
lief es zur Mutter und erklärte ihr, vor Sehnsucht nach der Heimat
sterben zu müssen.
Die Mutter schickte die Tochter, die weder über den Dienst noch
über die Dienstfrau klagen konnte, mit der Weisung zurück, daß sie
nur in dem Falle, wenn das ihr übergebene Kind stürbe, nach Hause
kommen dürfe.
Einige Tage später wurde das wieder der kleinen Wärterin anvertraute
Kind von Krämpfen befallen und starb noch am nämlichen Tage. Am
anderen Morgen schnürte das Kindsmädchen sein Bündel und wollte
nach Hause gehen, was aber die Dienstfrau nicht bewilligte. *Am
folgenden Tage kam die Mutter nach Ernstbrunn und erteilte der
Tochter den Befehl, zur Wartung eines dreijährigen Knaben noch
ferner in dem Hause zu bleiben, ungeachtet sie klagte, weinte und der
Mutter vorwarf, nicht Wort gehalten zu haben. Dies geschah Sonntags,
und Montags früh brach in dem von der Wohnung nur einige Schritte
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Heimweh und Verbrechen.
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entfernten Stadel Feuer aus, welches bald gelöscht wurde. ' Am
Dienstag Vormittag wurde der Arzt eiligst ins Haus gerufen und fand
den dreijährigen Knaben ganz blau und tot auf dem Bette liegen. Die
Mutter erzählte, daß sie vor einer Stunde den Knaben ganz gesund
verlassen und bei ihrer Zurttckkunft das Mädchen mit dem aufgesehlagenen
Katechismus vor sich, ruhig an dem Tische sitzend gefunden habe.
Auf die’ Frage nach ihrem Kinde deutete das Mädchen nach dem Bette
und sagte: „ich habe dem Johann nichts getan“. Anf diese verdächtigen
Worte eilte die Mutter zum Bette und fand ihr Kind ganz mit Polstern
bedeckt, ohne Zeichen des Lebens. Alle Versuche der Rettung waren
vergeblich. Es war erstickt, nach damaliger Vermutung durch die Un¬
erfahrenheit des Mädchens, welches, selbst noch ein Kind, vielleicht in
guter Absicht den Knaben recht gut hatte bedecken wollen. Doch die
Mutter, von richtigem Gefühle geleitet, ahnte Vorsatz und stürzte, vom
Schmerz überwältigt, mit solchem Ungestüm auf das Mädchen los, daß
der Arzt Mühe hatte, es vor ihrem Zorne zu schützen.
Dem Gerichte übergeben, sagte die kleine Arrestantin folgendes
aus: „In Ernstbrunn gefiel es mir nicht, ich sehnte mich nach meinen
Eltern, ich wußte, daß ich nach dem Tode des kleinen Kindes nach
Hause gehen dürfe, daher würgte ich es mit einem Tuche bis es ganz
blau wurde, doch das Kind erbarmte mir und ich nahm das Tuch
wieder ab, aber es bekam Fraisen und starb. Da man mich nicht nach
Hause gehen ließ, legte ich Feuer im Stadel neben unserem Hause in
der Hoffnung, daß diese Leute, wenn Haus und Kind verbrannt sein
würden, kein Kindsmädchen mehr brauchten. Da ich auch dadurch
meinen Zweck nicht erreichte, so legte ich den kleinen Knaben aufs
Bett, bedekte sein Gesicht mit Polstern und setzte mich darauf, bis es
sich nicht mehr rührte“.
Dieses Mädchen, welches in 5 Tagen 2 Kinder ermordet und
einmal Feuer angelegt hatte, zeigte nicht die geringste Reue, benahm
sich beim Verhöre und im Arreste so unbefangen und kindlich, als
hätte es bloß einem Sperling den Hals umgedreht, fragte stets nur,
warum man es nicht zu seinen. Eltern gehen lasse, hatte von der
Dienstfrau das beste Zeugnis in Hinsicht seines herzlichen Benehmens
gegen ihre Kinder, verriet aber in ihren Äußerungen und in der Art,
wie es den Erfolg seiner Bemühungen richtig berechnet hatte, die
schärfste Beurteilung und ein für sein Alter ungewöhnliches Talent.
Diese Tat drang bis zu den Ohren unseres Monarchen, der eine ge¬
naue Erforschung aller Verhältnisse befahl. Es ergab sich, daß die
kleine Verbrecherin sehr selten in die Schule geschickt und daher im
Unterrichte ganz zurückgeblieben war. Sie wurde verurteilt, in Gegen¬
wart sämtlicher Schulkinder mit 10 Rutenstreichen abgestraft und dann
ihren Eltern zu besonderer Aufsicht zurückgegeben zu werden. Allein
unser allergnädigster Monarch, das Beste dieses unglücklichen Geschöpfes
beabsichtigend, nahm es mit Einwilligung der Eltern in das Waisen¬
haus nach Wien, wo es jedoch bald darauf an einem Nervenfieber starb?
Über das zweite Kind ist in Kleins Annalen, VII. Bd., be¬
richtet.
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Maria Luise Sumpf, ein 10 Jahre altes Dienstmädchen, trat am
1. Juni 1790, vormittags 10 Uhr, in die Stube ihrer Herrschaft und
schrie *,das Haus brennt“. Dieses brannte auch vollkommen ab und
drei Menschen kamen ums Leben. Daß sie selbst die Urheberin
dieses Brandes sei, leugnete sie anfangs, suchte den Verdacht auf eine
Bettelfrau zu schieben, bis sie einer Frau Palm gestand, die ihr sagte,
es würde ihr nichts geschehen. Vorher batte sie ängstlich gerufen:
„Palmsche, sie verbrennen mich“.
Schon länger hatte sie Widerwillen gezeigt, den Dienst fortzusetzen
und sich darauf beziehende, gefährliche Äußerungen getan. Zu des
Küsters Belitz Tochter hatte sie gesagt, daß sie dem Kinde ihrer
Herrschaft eine Nadel zu verschlucken geben wolle, damit das Kind
sterben und ihr Dienst ein Ende nehmen möchte. Das sei aber nicht
ihr ernstlicher Vorsatz gewesen, sondern sie habe geglaubt, wenn sie
so sage, werde man sie aus dem Dienst entlassen.
Uber die Herrschaft hatte sie keine Klage, war nur unzufrieden
mit der Mittelmagd, mit der sie in einem Bett schlief.
Als Ursache ihrer Tat gab sie jedesmal Heimweh an. Dessen
Vorhandensein war auch ihrer Umgebung bekannt. Außerdem be¬
hauptete sie anfangs, ihr Großvater habe ihr dazu geraten, später, er
habe nur gesagt, sie solle dumme Streiche machen, damit sie aus dem
Dienst käme. Am Tage vor der Tat sagte sie zu ihrem Vater, sie
möchte gerne zurück. Dieser hat sie dafür braun und blau geschlagen.
An dem Tage, da das Feuer ausgebrochen sei, habe sie zuerst
den Einfall bekommen, sich dadurch von dem Dienste frei zu machen,
daß sie das Haus ihrer Herrschaft in Brand stecke. Dies habe sie
erst durch eine in den Hof getragene glühende Kohle bewerkstelligen
wollen, da dies aber nicht gelungen sei, so habe sie zwei Schrillspäne
geholt, sie auf dem Feuerherde angezttndet, sei damit auf die gleich
neben der Hintertür stehende Leiter gestiegen, wo sie auf dem Boden
das Strohdach mit den brennenden Spänen angesteckt habe. Sie habe
sich wohl vorgestellt, daß das Haus abbrennen werde, sie habe aber
nicht geglaubt, daß der Schaden so groß werde und Menschen dabei
ums Leben kämen. Es sei ihr nicht unbekannt gewesen, daß sie
durch die Tat Strafe verdiene, aber was für eine habe sie nicht ge¬
wußt. Die unbeschreibliche Sehnsucht nach ihrer Heimat habe sie zu
der Tat bewogen. Übrigens entschuldigte sie das Verbrechen durch
ihre Jugend, bat um Mittleiden und versprach Besserung.
Über die unglücklichen Folgen ihrer Handlung und besonders über
den dadurch verursachten Tod verschiedener Menschen schien sie sehr ge¬
rührt zu sein. Sie rang nach der Tat die Hände und rief „Ach, unser
Haus ist verbrannt“, umfaßte dabei der Zeugin Kniee und rief „Ach,
ich bin nicht schuld daran“. Das Umschlingen war so anhaltend, daß
Zeugin die Inquisitin gar nicht los werden konnte.
Ihre Eltern waren Tagelöhner,, die sich kümmerlich ernährten.
Sie hat nur wenig lesen gelernt, für den Sommer sollte sie als Kinder¬
mädchen in Dienst, bis im Winter wieder die Schule begänne.
Was den Gemütscharakter der Inquisitin betrifft, so gibt ihre
Mutter ihr das Zeugnis, daß sie außer einigen Kinderstreichen nie etwas
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Heimweh und Verbrechen.
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Böses begangen, sondern immer sich fleißig und ordentlich betragen
habe. Aber sie hat ein Huhn, das legen wollte, solange gequält, bis
ihm die Gedärme abgegangen sind. Der Organist, bei dem sie in die
Schule gegangen, meint, sie sei zänkisch gewesen und habe tückischen
Sinn gehabt.
Das Gutachten betont die Heftigkeit des Heimwehs, das von einer
Art Angst begleitet war, die ungünstige Wirkung der Züchtigung durch
den Vater. Der Verteidiger macht auf die Unmündigkeit und das
kindische Wesen aufmerksam.
Strafe: 6 Jahre Zuchthaus „statt des Willkomm dort mit Ruten zu
züchtigen, auch während der Strafzeit jährlich am 1. Junius als am
Tage der Brandstiftung, imgleichen bei ihrer Entlassung“.
Bei dem letzten Kinde scheint eine sittliche Minderwertigkeit
deutlieh hervorzutreten, die um so auffallender ist, als wir bei deu
Heimwehkranken oft einen besonders guten, sanftmütigen, aller
Bosheit fernen Charakter fanden. Dies Kind weicht wohl von
unseren typischen Fällen in der Kiehtung ab, die zu den moralisch
tiefstehenden Wesen führt, die ohne Affekt mit unglaublicher Gleich¬
gültigkeit die grausamsten Morde und andere Verbrechen begehen.
Von dem Grad der Verstimmung kann man sich bei der Sumpf
keine gute Vorstellung machen, vielleicht tiberwog bei ihr die Unlust
am Dienst das Heimweh beträchtlich.
Denn von den Fällen, in welchen Heimweh das auschlaggebende
Moment ist, führt eine Linie zu denen, die ihre Tat lediglich aus
Unzufriedenheit mit dem Dienst begehen. „Begreiflicherweise verbindet
sich Unzufriedenheit oft mit Heimweh, aber beide Affekte sind doch,
wenn auch bisweilen verschmelzend, in ihren Extremen deutlich
unterschieden. Eltern niederer Stände werden nicht selten dadurch
geplagt, daß ungeratene Söhne wiederholt aus der Lehre laufen, es
würde der Erfahrung geradezu widersprechen, wenn man dabei jedes¬
mal Heimweh annehmen wollte“. (Jessen). Man findet nun
allerdings bei den in Betracht kommenden Individuen wohl An¬
klänge an Heimweh, aber sie sind doch von den echten Nostalgie-
verbrecherinnen verschieden. Eine Reihe einschlägiger Fälle findet
man bei Jessen unter dem Kapitel: Unzufriedenheit mit dem Dienst.
Ein anderer möge hier im Aktenauszug folgen:
Marie G. war von ihrem 7. bis 10. Lebensjahr während der Witwen¬
schaft ihrer Mutter als Zögling in einer Erziehungsanstalt. Nach der
neuen Verheiratung derselben kehrte sie zu ihr zurück und besuchte
bis zum 14. Jahre die Volksschule, die sie in der zweiten Klasse
verließ.
Sie sträubte sich, auf dem Lande einen Dienst anzunebmen (aus
der Großstadt gebürtig), doch trat sie 14 ] /2 Jahr alt, Ostern einen solchen
zum erstenmal an. Nach 14 Tagen bei einem Besuch zu Hause äußerte
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sie sich zufrieden. Pfingsten sprach sie sohon anders, sie wolle höch¬
stens bis November dortbleiben.
Sie selbst gibt an, daß sie gut behandelt sei, nnr sei das 5 jährige
Kind, das sie zn warten hatte, ihr wenig zngetan gewesen, so daß es
manchmal unangenehme Szenen gab. So wollte das Kind am 16. V.,
nachmittags auf dem Felde, die Milchflasche von ihr nicht annehmen,
von der Mutter dagegen gleich. Die G. wurde deswegen ausgezankt,
sie sollte machen, daß sie nach Hause käme. Sie meinte, sie solle den
Dienst verlassen, packte ihre Sachen und fuhr zur Mutter. Diese war
gar nicht zufrieden und brachte sie am nächsten Tage, an dem es zu
dem verhängnisvollen Morde kam, zurück.
Wie sie morgens vor der Tat von ihrer Mutter gebracht wurde,
war sie wortkarg. Unterwegs stellte sie sich an einen Graben, als ob
sie hineinspringen wollte. Die Mutter wurde ärgerlich und sagte: „Du
willst dich wohl ertränken“, worauf sie erwiderte: „Nun tue ich es erst
recht nicht“. Auf die Äußerung: „Du hättest wohl lieber deine Mutter
tot“, antwortete sie: „Ich würde mich freuen, wenn du tot wärest“.
Um 1 Uhr kam sie an, und übernahm die Wartung des Kindes.
Als sie es, wie ihr befohlen war, anziehen wollte, schrie das Kind,
sträubte sich heftig und kratzte sie. „Da geriet ich durch das, was
vorher schon passiert war, gereizt, in solche Erregung, daß ich
mich entschloß, dem Kind ein Leid anzutun. Mit der linken Hand hielt
ich dem Kinde den Mund zu, während ich mit der rechten ihm die
Kehle zudrückte. Wie lange die Situation dauerte, kann ich nicht an-
geben, da ich mich in Aufregung befand. Ich ließ das Kind erst
wieder los, als es mich mit den Händen nicht mehr abwehrte.“. Der
Gedanke, das Kind zu töten, sei ihr erst unmittelbar vor der Tat ge¬
kommen, erst als das Kind beim Anziehen Widerstand leistete. Sie
habe da gemeint, daß sich ihre Stellung nie bessern würde, da sie immer
wieder Vorwürfe bekommen'würde. Aus Verzweiflung sei sie zur Tat
getrieben worden, die sie jetzt bitter bereue.
Später hat die Täterin ausgesagt,, daß sie schon am Abend des 16.,
als ihre Mutter ihre Rückkehr in den Dienst verlangte, den Plan faßte,
das Kind zu töten. Sie habe' die Tat im Laufe des nächsten Nach¬
mittags durch Erstickung ausführen wollen. Auf diese Weise könne
man am wenigsten sehen. Sie hätte am Abend mit der Mutter, die bis
zu der Zeit in dem Ort blieb, zurückgehen können. Durch den Wider¬
stand des Kindes beim Anziehen und ihre dadurch erregte Wut sei sie
schon früher zur Tötung geschritten. Bei dieser Aussage blieb sie und
ergänzte sie noch durch die Worte: „Ich habe mich zu der Tat ent¬
schlossen, weil ich Heimweh hatte und durchans von der K. weg und
zu meiner Mutter wollte“.
Über ihren Charakter werden von Lehrer und Pfarrer bemerkens¬
werte Angaben gemacht. Der Pfarrer der Erziehungsanstalt gibt an:
sie hat sich sehr schlecht geführt und zeigte sich überaus störrisch und
verschlossen. Ein jede Rücksicht verachtender Jähzorn war ihr eigen,
einer Frau sprang Marie im Zorn auf den Rücken, um ihr den Kopf
zu verletzen. Wenn sie eingesperrt werden sollte, zerriß sie Schürze
und Uhrkette der Schwester. Zu Zeiten hatte sie wirkliche Wutaüs-
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brüche, wenn sie aber ausgetobt, war sie weich und reumütig. • Der
Lehrer berichtet: sie Bei sehr träge gewesen und habe fast immer als
eine der Letzten in der Klasse gesessen. Sie hatte ein verschlossenes
Wesen, war einsilbig, in sich gekehrt und mtirrisch, für freundliche
Worte unzugänglich. Gegen Tadel war sie zuerst offen widersetzlich.
Später nahm sie ihn mit Achselzucken auf. Sie gehorchte immer nur
widerwillig. Ihre Dienstherrschaft hat sie nach Vorwürfen gleich ver¬
letzt und störrisch gefunden, doch sei sie im Dienste tüchtig und streb¬
sam gewesen, habe nur mit dem kleinen Knaben nicht fertig werden
können. Ihre eigene Mutter erklärt sie für trotzig, verstockt, mitunter
sei von ihr keine Antwort zu bekommen.
Im mündlichen Gutachten sagte der Gerichtsarzt aus, daß die Täterin
in hochgradiger Erregung sich befunden und im Jähzorn gehandelt habe,
daß dieselbe sich aber nicht in einem Zustande von Bewußtlosigkeit be¬
funden habe, der die freie Willensbestimmung ausschließe. Sie wurde
wegen Totschlags zu 6 Jahren 6 Monaten Gefängnis verurteilt.
Solche Fälle wie dieser, wo es sich um moralisch minderwertige,
affekterregbare, aber doch nicht an moral insanity leidende Ge¬
schöpfe handelt, wird man wohl noch zu normalen Verbrechern
rechnen müssen. Das Heimweh wird nur einmal erwähnt, es tritt
offenbar sehr in den Hintergrund gegen Unzufriedenheit, Ärger,
Zorn und Wut, die bei dem sittlich schwachen Menschen zur Tat
führen.
Recht isoliert unter den Heimwebverbrecberinnen steht ein nicht
klarer Fall da, der sich in Hettichs Dissertation findet. Es han¬
delt sich um ein 22jähriges Mädchen, das von Kindheit an ab¬
norm war.
Hettich 1840. II. Fall. Mord eines Kindes.
Marianne Schm, litt seit ihrer Kindheit häufig an Kopfweh, das ge¬
wöhnlich 2—3 Tage dauerte und mit Rötung der Augen und des Kopfes
verbunden war. Nach dem zwischen ihrem 14. und 15. Lebensjahr
erfolgten Eintritt der immer regelmäßigen Menstruation war jenes Kopf¬
weh jedesmal während der Periode stärker.
Sie besuchte in ihrem‘Geburtsorte die Werk- und Sonntagsschule,
kam später in mehrere Dienste an verschiedenen Orten und scheint
überall vom Heimweh befallen worden zu sein. Sie verfehlte sich nach
ihrer eigenen Angabe öfters mit Mannsbildern, das erstemal zwischen
ihrem 15. und 16. Jahre und wurde einmal schwanger.
Endlich in einem Alter von 22 Jahren kam sie zu dem Bauer
Job. W. in H., einem Filial ihrer Geburtsstadt in dem benachbarten
Oberamte M. in Dienst, wo ihr Hauptgeschäft in der Wart und Pflege
eines wenige Wochen alten Kindes bestand. In diesem Dienste nun
wurde sie besonders stark vom Heimweh ergriffen. Sie gab an, daß
die Anfälle desselben besonders heftig gewesen seien, so oft sie auf
Besuch nach ihrem Geburtsorte gegangen war, ufad wenn der Bauer
und die Bäuerin auf dem Felde, sie dagegen allein zu Hause gewesen
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sei. Sie habe dann immer geweint (wovon man jedoch nichts bemerkt
haben will) und es sei ihr dann immer der Gedanke gekommen, sie
solle nur davonlaufen. Es sei oft der Fall gewesen, daß sie mit dem
Kinde allein zu Hause bleiben mußte und dann sei das Heimweh, ohne
daß sie wisse warum, immer am stärksten gewesen. Dann sei ihr der
Gedanke gekommen: „Jetzt läßt du das Kind liegen und läufst davon“.
Endlich stieg der Gedanke in ihr auf, das Kind zu töten, um aus
dem Dienste und nach Hause zu kommen. Sie beschäftigte sich mit
diesem Gedanken zwei Tage lang, wobei es immer mit ihr umgegangen
sei: „Mach es so, mach es so“. Dieser Gedanke gedieh bei ihr zur
Reife, als sie eines Morgens in die Ölmühle in ihrem Geburtsorte ge¬
schickt wurde. Sie besuchte bei dieser Gelegenheit ihre Mutter und
fragte diese darüber nach, ob sie nach dem Tode des Kindes nach
Hause kommen dürfe, wurde aber von dieser an ihren Stiefvater ver¬
wiesen. Den fragte sie nicht, sondern kaufte gleich hernach Fliegen¬
stein und gab diesen in einem günstigen Moment, als alle auf dem Felde
waren, dem Kinde in zwei Dosen mit einem Zwischenraum von V 4 bis
1 Stunde und steckte am Ende, als der erwartete Tod bei dem Kinde
nicht eintreten wollte, diesem letztem den Finger in den Hals, um es
zu ersticken, was auch in kurzer Zeit erfolgte.
Nach dem Tode des Kindes jammerte die Schm, bei einer Nach*
barin über dieses Ereignis, ob in der Absicht, etwa statthabenden Ver¬
dacht von sich abzuwälzen, oder weil sie bereits damals ihre Tat be¬
reute, ist nicht klar. Vor dem Richter entschuldigte sie diese damit,
daß sie die Sache damals nicht recht bedacht habe.
Nach den Aussagen der verschiedenen Behörden und der Zeugen
hat sie ein unruhiges, jeder Gebundenheit, ernsteren Beschäftigung und
steten Anstrengung abholdes' Wesen an sich gehabt, wogegen sie an
läppischen Possenspielen ihr Vergnügen gefunden zu haben scheint.
Außerdem scheint Leichtsinn, Unbesonnenheit und Charakterlosigkeit zu
den hervorstechendsten Zügen gehört zu haben, vermöge welcher sie
sich im Reden und Handeln von jedem nächsten Eindrücke, ohne die
Folgen zu bedenken, hinreißen ließ, und insbesondere scheint sie jedes
gegenwärtigen, ihr unangenehmen Eindrucks sich, was es kosten möge,
zu entledigen gesucht zn haben.
In der Schule war sie arbeitsscheu, unaufmerksam und unfleißig.
Ebenso flatterte sie außer der Schulzeit von einem Possenspiele zum
andern, machte Bich ein eigenes Geschäft daraus, ihre Altersgenossinnen
durch allerhand Narrenspossen zu unterhalten, welch letztere sich ihrer
als Bajazzo bedienten. Bei dieser Gelegenheit suchte sie ihre Ge¬
spielinnen bald mit zerstreuten fliegenden Haaren, die Wahnsinnige
spielend, bald mit Weinen und Heulen, bald mit unbändigem Lachen,
mit allerlei-Grimassen, mit Augenverdrehen, Mäulerschneiden, bald auch
dadurch, daß sie mit aufgehobenen Röcken vor denselben herumtanzte,
zu divertieren.
Ihre Mutter sagt Uber sie aus, sie hätte nicht gern gearbeitet und
lieber Narrheiten getrieben und sei überhaupt so ein „Haspel“ ge¬
wesen. Bisweilen sei sie aber auch dagesessen und habe in den Boden
hineinsinniert. Übrigens habe sie in einer Viertelstunde lachen und
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Heimweh und Verbrechen.
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weinen können, nnd wenn sie jemanden beleidigt zn haben glaubte, so
habe sie ihn mit Tränen um Verzeihung bitten können. Dumm sei sie
immer gewesen, indem sie alles unüberlegt getan und oft unbesonnen
herausgeschwätzt habe, was sie alsdann öfter bereute. Unfolgsam und
widerspenstig sei sie öfter gewesen, aber Roheit könne man ihr nicht
vorwerfen. Im Dorfe sah man sie von jeher dafür an, als sei es bei
ihr nicht richtig.
Das Zunehmen ihres Leichtsinns legte sich später durch immer mehr
überhand nehmenden Hang zum männlichen Geschlechte an den Tag.
Ihre Roheit gab sie durch gräßliches Schwören und Fluchen zu er¬
kennen. Sie soll sich manchmal die Haare mit Fäusten aus dem Kopfe
gerissen haben. Sie legte das Selbstgeständnis über sich ab, sie sei eben
von Jugend auf ein böses Weibsbild gewesen.
In Beziehung auf ihr körperliches und geistiges Befinden während
ihres letzten Dienstes will niemand etwas Auffallendes an ihr bemerkt
haben.
Als charakteristische Züge aus der Zeit ihrer Untersuchung möchten
noch anzuführen sein, daß sie das ihr langweilig gewordene weitere
Verhör um jeden Preis, auch wenn sie das Leben lassen müßte, oder
wenn sie das Aufhören desselben mit einer längeren Gefangenschaft ab¬
verdienen müßte, abgekürzt haben wollte, sowie, daß sie im Gefängnis
ihre unzüchtigen Neigungen durch die schamlosesten Reden und ihren
Unmut, dieselben nicht befriedigen zu können, durch Fenstereinschlagen
zu erkennen gegeben hat.
Ihr physischer Zustand war gesund und kräftig, die körperliche
Entwicklung regelmäßig und zur Zeit des Verbrechens wenigstens der
Hauptsache nach schon erfolgt.
Dafür, daß der Grund des Verbrechens das von ihr selbst ange-
gegebene Heimweh sei, lä sich anführen, 1. der Mangel irgend eines
anderen Beweggrundes, indem sich keine Rachsucht gegen ihre Herr¬
schaft und keine Roheit gegen das getötete Kind oder gegen Kinder
überhaupt, welche sie im Gegenteil in früheren Diensten getreulich be¬
sorgt hat, herausstellte, 2. daß sie in ihren sämtlichen Diensten und
auch noch im Gefängnis von Heimweh verfolgt wurde, in welchem sie,
solange sie eine Gesellschafterin hatte, von Heimweh verschont blieb,
nach ihrer Entfernung aber wieder so heftig von demselben befallen
wurde, daß sie mit dem Kopf gegen die Mauer rannte und sich den¬
selben nicht unbedeutend beschädigt zu haben scheint. Auch wurde das
Heimweh wieder rege bei ihr, als sie bei Gelegenheit eines Verhörs
ihre Mutter nach langer Zeit wieder sah, 3. der Umstand, daß sie im
übrigen durch die ganze Untersuchung hindurch die größte Sorglosig¬
keit und Indolenz hinsichtlich des Hervorsuchens von Milderungs- oder
Entschuldigungsgrttnden ihres Verbrechens an den Tag gelegt hat.
Gutachten: Verminderte Zurechnungsfähigkeit wegen hochgradigen
Heimwehs.
Strafe: 10 Jahre Zuchthaus.
Am Wahrscheinlichsten ist bei der Täterin eine eretbiscbe Im¬
bezillität. Diese machte sie in der Heimwehverstimmung, zu der sie
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oft neigte, widerstandslos gegen verbreeberiscbe Impulse. Sie unter-
scbeidet sich wesentlich von allen bisherigen Fällen. Das Alter ist
schon auffallend. Die Pubertätsepocbe ist wohl beendet. Körper¬
lich ist sie gesund, dagegen geistig offenbar in engerem psychia¬
trischen Sinne dauernd krank.
Zum Schlüsse zählen wir noch einige kurz berichtete Fälle auf,
die zum Teil historisch eine Bedeutung hatten, aber zu einer Ein¬
ordnung allzudürftig sind.
Platner Quaestiones 1824. Gutachten vom Jahre 1801.
Johanne Friederike Roßwein beging zwei Brandstiftungen mit 14
und 15 Jahren. Sie war ein streng erzogenes Landmädchen, an dem
die Eltern mit Züchtigungen nicht gespart hatten. Mit 14 Jahren wurde
sie in Dienst gegeben. Trotzdem sie jammerte und unter Geschrei sich
wehrte, wurde sie durch Prügel und Gewalt gezwungen zu gehen. Vom
ersten Tage an bei den fremden Leuten weinte sie, gab schließlich
Krankheit vor und wurde nach Haus zurückgeschickt. Hier unwirsch
empfangen, wurde sie gleich in neuen Dienst getan. Aber gleich am
ersten Tage legte sie dort Feuer an und, da sie nicht entdeckt wurde,
gelang ihr Zweck, gleich am selben Abend wieder nach Hause zu
kommen. Doch der Vater sorgt wiederum gleich für einen neuen Dienst,
da er wollte, daß die Tochter sich selbst ihr Brot verdienen und sich
an Arbeit und Gehorsam gewöhne. Allmählich schien sie sich zu ge¬
wöhnen und war schon 6 Monate von Hause fort, als sie von ihrer
Stelle entlassen in einen anderen Bezirk in Dienst geschickt wurde.
Wenige Tage, nachdem sie hier angekommen war, legte sie von neuem
Feuer. Als Grund für beide Taten gab sie nur an: Heimweh, das sie
nicht habe ertragen können. Die Rückkehr nach Hause habe sie auf
keine andere Weise erreichen können als durch Brandstiftung die eine
Verwirrung und Konfusion anrichte. Sie gestand die zweite Tat beim
ersten Verhöre und die erste, deren sie gar nicht verdächtig war, un¬
gefragt auf eigenen Antrieb. Auf Haß und Rachsucht war nicht der
geringste Verdacht zu finden.
Platner erklärte sie für die erste Brandstiftung als unschuldig,
für die zweite für schuldig. Sie wurde zum Tode verurteilt.
Dieser Fall ist trotz seiner kurzen Wiedergabe doch recht typisch.
Seine Begutachtung durch Platner wurde im historischen Teil
wiedergegeben. Wie bei dem Fall Spitta aus Henckes Zeitschr.
finden wir auch hier das Gelingen des Ziels, durch eine Brand¬
stiftung nach Hause zu kommen, ohne entdeckt zu werden. Inter¬
essant ist das Auftreten des Heimwehs nach neuem Stellenwechsel.
Daß bei einem solchen Wesen noch vor 100 Jahren ein Todesurteil
gefällt wurde, verdeutlicht den eminenten Fortschritt der forensischen
Beurteilung dieser Taten.
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HARVARD UN1VERSITY
Heimweh und Verbrechen.
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Kleins Annalen XIV. 1795, p. 19.
Anne Regine Dräger, 16 Jahre alt, hat 6 Wochen bei dem Bauer
Pasche gedient, (ist vorher beständig bei ihren Eltern gewesen, die sie
nun nicht mehr ernähren konnten) als sie das Stroh im Stalle anzffn-
dete. Das Feuer wurde bald gelöscht. Auf gütliches Zureden gestand
sie bald, sie habe sich vom Satan blenden lassen und das Feuer ange¬
legt. Ihre Absicht sei gewesen, daß zuerst das Stroh, hiernach der
Stall und endlich das Haus ihrer Herrschaft habe brennen sollen, und
habe sie dadurch bewirken wollen, daß sie aus dem Dienste käme und
zu ihren Eltern zurückgehen könne. Es habe ihr nämlich bei dem
Pasche gar nicht gefallen, vorzüglich weil seine. Frau sie öfters aus¬
gescholten und geschimpft habe, als ob sie eine Spitzbübin wäre. Der
bei ihr schon erweckte Überdruß gegen ihre Herrschaft sei dadurch
noch größer geworden. So habe sie sich z. B. am S. April, als sie
aufgestanden, vorgenommen, das Haus anzustecken, um sich aus dem
Dienst zu befreien. Sie habe gedacht, daß nach dem Brande der
Pasche keine Magd mehr brauche. Sie habe sich des bei ihrem Auf-
steben eingekommenen Gedankens der Feueranlegung gar nicht mehr
erwehren können und ihn gegen 6 Uhr gedachten Tages am Morgen,
da sie sich ganz allein zu Hause befunden, ausgefUhrt. Als sie zu der
Seitentür nach der Wagenschauer herausgekommen und die Augen nach
dem Pferdestall hingewandt habe, sei schon aus dem Dache desselben
Raueh gestiegen und der Herr hinzugelaufen. Das habe sie sehr er¬
schreckt, weil sie doch nicht geglaubt hätte, daß das Feuer so ge¬
schwinde brennen würde. Sie habe deswegen aufgeschrien und sei
schnell dem Pasche nacbgelaufen. Daß das Feuer wieder ausgelöscht
wurde, sei ihr recht lieb gewesen, denn sie sehe nun wohl ein, daß es
hätte sehr gefährlich werden können, woran sie vorher nicht gedacht
habe. Es sei ihr sehr leid, eine so gefährliche Sache unternommen zu
haben. Sie habe gewußt, daß es strafbar sei, aber nicht, was darauf
für eine Strafe stehe. Zu ihrer Verteidigung habe sie anzuführen, daß
sie noch sehr jung und unerfahren sei, die Sache nicht recht bedacht
habe, auch es nie wieder tun wolle, endlich aber eine große Sehnsucht
nach Hause zu ihren Eltern gehabt habe.
Über Charakter und Intelligenz der Täterin ist nichts berichtet.
Es scheint, als ob die Unzufriedenheit mit dem Dienst eine über¬
wiegende Rolle gespielt hätte, von Heimweh ist kaum etwas Deut¬
liches berichtet. Ähnliche Fälle, die in der späteren Literatur trotz¬
dem wohl als solche von Heimweh angeführt werden, sind:
Katharine Schulzen, Kleins Ann. VII. 1791 S. 55.
Maria Kastor, Kleins Ann. XIII. S. 176.
Hitzigs Ann. Berlin 1830, S. 37.
ibid. S. 54.
Richter, 9. Fall.
Das Heimweh tritt bei allen diesen Berichten nicht deutlich her¬
vor, dagegen wohl eine sittliche Schwäche der Individuen. Im
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I. E. Jabpk&s
übrigen ist eine Beurteilung und Einordnung dieser Fälle wegen
Kürze wohl kaum mehr möglich.
Die Reihe der bekannten Heimwehfälle ist nun an uns vorüber-
gezogen. Während in den ersten das Heimweh als das Ausschlag¬
gebende für Verstimmung und Tat erschien, wobei kindliche Ent¬
wickelungsstufe, Puhertätsentwiokelung, körperliche Krankheiten
und psychopathische Veranlagung prädisponierten, mußten in der
überwiegenden Zahl der weiteren Fälle andere Punkte herangezogen
werden. Wir fanden Fälle, bei denen das Heimweh zurüoktrat
gegen andere Formen der Psychopathie, gegen endogene Ver¬
stimmung unbekannter Art, gegen Schwachsinn und gegen
moralischen Schwachsinn, schließlich gegenüber einfacher
sittlicher Minderwertigkeit, die in der Unzufriedenheit mit
dem Dienst und dem Wunsch ihn zu verlassen, schon genügende
Motivierung für die Ausführung des Verbrechens fand. Mußten
diese Fälle beigebracht werden, um bis zu einem gewissen Grade
die Stellung des Heimwehs zu verwandten Zuständen zu übersehen,
so bieten sie doch auch Material für unsere engere Frage. Der
Mechanismus der Entstehung des Heimwehs ist wohl immer ein
ähnlicher und, mag die gewordene Verstimmung gering oder stark,
in ihren Folgen bedeutsam oder zurüoktretend sein, ihre Entstehung
vollzieht sich wohl im ganzen auf ähnliche Weise. Ihr Verlauf und
ihre Wirkung hängen dann von der Persönlichkeit und komplizieren¬
den Zuständen entscheidend ab.
Diesen Mechanismus der Heimwehentstehung, die Umstände,
die es begünstigen, seine Äußerungsweisen und seinen Verlauf
haben wir nun an der Hand der Fälle etwas näher zu betrachten.
Dabei werden im einzelnen auch Verschiedenheiten deutlich werden^
Schon Schlegel, Zangerl und Jessen haben in ausge¬
zeichneter Weise die psychologische Entwickelung des
Heimwehs geschildert Das Kind ist wie der Naturmensch, ganz
eins mit seiner Umgebung. Es hat sich allein an diese, aber voll¬
kommen angepaßt. Nicht die Gemütsbewegungen, die durch eigenes
Denken, inneres Erleben und Verarbeiten entstehen, füllen es aus,
sondern die Gefühlsbetonungen, die von den Eindrücken der Um¬
gebung ausgehen. Diese Umgebung (in erster Linie die Familie)
ist noch durchaus zu seiner Persönlichkeit gehörig, es ist ganz un¬
selbständig und haltlos, wenn man es aus derselben herausnimmt.
Es ist dann „wie eine Pflanze, die aus dem Boden genommen ist,
in dem sie sich mit allen Wurzeln verankert hatte“.
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Heimweh und Verbrechen.
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Wird nun ein Kind, das in diesem Entwickelungsstadium sieb
befindet, wo das Individuum noch mit dem Milieu eine Einheit bildet
ohne Übergang, wie es in den meisten Fällen geschah, plötzlich
von den Eltern fort in Dienst bei fremden Leuten gebracht 1 ), so
verliert es natürlicherweise allen Halt. Seine Angehörigen, das
heimatliche Dorf, das ist Seine Welt. Sein ganzes Leben beruht
auf den Gefühlen, die diese Umgebung in ihm wachruft. Es sind
die einzigen, die sich in ihm entwickelt haben. Es ist noch nichts
in seine Seele getreten als die Liebe zu Eltern und Geschwistern,
die anderen Menschen sind ihm wie die fremde Umgebung ganz
wertlos. Daher kann es, bei entsprechenden Impulsen, auch so
leicht das Kind, das bei ihm keinerlei Gefühle zu erregen vermag,
töten, das Haus, das ihm nichts ist, in Brand stecken. Es wäre
wohl imstande, wenn im Rahmen des alten Milieus ihm Neues
entgegentrete, dieses zu assimilieren Bei der Fülle des Neuen und
der vollkommenen Trennung vom Alten ist es nur ganz ratlos, aller
Halt ist ihm geschwunden, alles Selbstbewußtsein, daß in dem Zu¬
sammenhang mit der Umgebung seine Stütze hatte, ist ihm verloren
gegangen. Das Neue weckt in dem jungen Wesen keine Gefühle,
alles ist ihm gleichgültig. Es bemächtigt sich seiner ein Gefühl,
als ob es alles verloren hätte. Es wird von einer trostlosen Traurig¬
keit befallen, die es nie überwinden zu können meint. So entstehen
Zustände, die cyclothymen ganz ähnlich werden. Ratzel gibt da¬
von eine gute Schilderung: sein ganzes Wesen wurde vertränt, die
Welt war so einförmig und einfarbig, so gleichgültig. Es ist das
die Begleiterscheinung depressiver Verstimmungen, die Abstumpfung
des Gefühls. Die Gleichgültigkeit gegen die Umgebung wird ver¬
mehrt, ihre Überwindung infolge der Depression ganz unmöglich.
Zwar würde das Kind zu Hause sein altes Gefühlsleben wieder ge¬
winnen, hier ist es abgesehen von der Sehnsucht und allem, was
es in Gedanken an die Heimat erfüllt, gefühlsleer. Apoll. War
gleichgültig gegen die Kinder, spielte nicht mit ihnen. Eva B.
zeigte kein rechtes Interesse für dieselben usw. Dagegen wird von
Hettioh I. berichtet, daß sie liebreich gegen die beiden Kinder und
bei diesen beliebt war, ein Beweis, daß die vorliegende schematische
1) In seltenen Fällen trat das Heimweh erst beim zweiten Dienst auf oder bei
Stellenwechsel (z. B. der Fall Petersen, Rüsch). Entweder war auch das erste
Mal ein lebhaftes Heimweh vorhanden, das nur nicht zum Verbrechen führte,
oder dem kindlichen Wesen war bei einer Stellung z. B. im heimatlichen Dorfe
das Einleben gelungen und beim Stellenwechsel in fremde Gegend traten dem
Heimweh ähnliche Zustände von Ratlosigkeit und Verstimmung auf.
Archiv für Krimmalanthropologie. 35. Bd. 7
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I. K. J ASPIKS
Schilderung durchaus nicht allgemeingQltig ist, sondern im Einzelfalle
manche Abweichungen zuläßt.
Die Traurigkeit und Mutlosigkeit der heimwehkranken Mädchen
entlädt sich in häufigem Weinen. In vielen Fällen wird das er¬
wähnt. Apoll, weint viel, beim Abschied der Mutter und oft allein.
Die Krebs muß sich im stillen ausweinen und, damit es niemand
sieht, sich dann die Augen waschen. Von der Hohnbaum, Philipp
wird ähnliches angegeben.
Von alten Autoren wird vielfach bemerkt, daß beim Heimweh
sich Empfindlichkeit, Verdrießlichkeit, Unzufriedenheit einstelle.
Apoll, wird auch als mürrisch, unfreundlich, widerwillig während
ihres Heimwehzustandes geschildert, die Hohnbaum soll verdrießlich
und ärgerlich gewesen sein, bei anderen finden sich darüber keine
Angaben. Es wird sich wohl um eine individuelle Reaktion auf
depressive Gemütsbewegungen handeln, die nicht immer das Heim¬
weh begleitet.
Ob, wie auch alte Autoren meinen, eine Bekämpfung der
Stimmung stattfindet, ist sehr zweifelhaft. Eine Angabe darüber
liegt nicht vor. Und Ratzel bekennt von seinem Heimweh selbst:
„besiegt habe ich das Heimweh nicht, es verließ mich einfach eines
Tages, als es meine Seele wie ein Vampyr ausgesogen hatte“.
Die regelmäßige Erscheinung bei depressiven Zuständen, die
Hemmung, wird auch beim Heimweh nicht vermißt. Unlust zur
Arbeit, schließlich Unfähigkeit dazu, werden öfter bemerkt. Zwar
ist dasselbe Symptom den faulen, dienstunzufriedenen Individuen
eigen und nicht ohne Prüfung zu verwenden. Apoll, vernachlässigte
die Arbeit, nachdem sie anfangs gut war. Allein war sie ganz
untätig. Hohnbaum wird später in der Arbeit nachlässiger. Da¬
gegen war Hettioh I gutwillig zur Arbeit und wollte sogar immer
mehr tun, als ihr aufgetragen war. Und Ratzel erzählt von sich,
daß er arbeiten konnte und dabei merkte, daß er noch ein Mensch
von Fleisch und Blut und kein verträntes Gespenst sei. Doch
wurde seine Verstimmung schließlich so stark, daß er dachte: „zieh
die Kleider nicht an, du hast es aufgegeben, anderen Menschen zu
begegnen. Hier liegt die angefangene Arbeit, berühre den Sisyphus-
stein nicht, er wird zurückrollen, wie Du ihn auch bewegst“. Auch
die sprachliche Hemmung wird oft deutlich. Die Kinder werden
still, in sich gekehrt, verschlossen, schweigsam, z. B. Apoll, antwortet
oft gar nicht. Wenn ihr der sehnsüchtig gewünschte Besuch zu
Hause abgeschlagen wurde, blieb sie stumm und klagte nicht. Die
Verschlossenheit fiel auch bei Hettich I auf.
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Heimweh und Verbrechen.
99
Oft mögen die Heimwehkranken sich in ihrer Phantasie und
ihren Träumen in der Heimat ergehen. Spitta lief oft aus dem
Hause und blickte in der Richtung nach ihrem Heimatsort. Ratzel
richtete sein Leben in denselben Zeitabschnitten ein, wie bei seinen
Lieben in der Heimat. Er begleitete sie im Geiste den ganzen
Tag und begann nichts, ohne sich in der Phantasie ihres Urteils zu
erfreuen. Alles tiefe Fühlen und alles Mitdenken und Miterleben
behielt er der Heimat vor. Die Umgebung wurde mit mechanischem
Tun abgespeist. „Die ganze Liebe ins Erinnern, sodaß für das
Tun des Tages nichts mehr übrig blieb“.
Von körperlichen Störungen wurden in der alten Literatur
zahlreiche erwähnt, besonders Blässe, Abmagerung, Herzklopfen,
Verdauungs- und Schlafstörung, Nachtwandeln usw. Über den
Schlaf wird bei Apoll, angegeben, daß er gut war. Ein öfteres
Seufzen fiel bei Hettich I auf. Häufig wird nur Appetitsverlust
angegeben. Apoll, stand bei Tisch manchmal weinend abseits und
aß nichts. Hettich I und Krebs aßen auffallend wenig.
Oft werden die jungen Mädchen gezwungen, in Dienst zu
treten und nur widerwillig gehen sie fort. Das mag einen un¬
günstigen Einfluß haben. Aber gerade bei den Heimwehkindern
ist es manchmal anders. Apoll, ging gerne in Stellung. Eva B.
weinte zwar bei der Trennung, war aber selbst vollkommen ein¬
verstanden und freute sich auf die neue Tätigkeit. Dagegen mag
die Verstimmung durch die Hoffnungslosigkeit gefördert werden,
die entsteht, wenn nach sehnsüchtig gewünschter Rückkehr in die
Heimat die Dienstzeit als unabsehbar lang erscheint. Es wirkte
auf Eva B. in diesem Sinne, als die Mutter zwar meinte, nach
’/4 Jahr könne sie zurückkebren, die Herrin ihr aber mindestens
ein Jahr in Aussicht stellte.
Die Größe der Entfernung vom Heimatsdorf spielt für die Ent¬
stehung des Heimwehs eine geringe Rolle. Schon Blumenbach
erwähnt, daß es bei geringster Entfernung auftreten kann. Apoll.,
Eva B., Hettich I, waren mehrere Stunden, Krebs nur eine Stunde
von Hause im Dienst.
Man sollte meinen, daß der Kontrast der alten und neuen Ver¬
hältnisse eine große Rolle spiele. Im oben ausgeführten Sinne
sicher, aber die neuen brauchen durchaus nicht ungünstiger zu
sein. Apoll, kam aus ihrem armen Elternbause in bedeutend
bessere Verhältnisse, Eva B. jedenfalls in gute. Im Heimweh er¬
scheinen die heimatlichen Verhältnisse und mögen sie noch so
schlecht sein, unter allen Umständen beglückend. Bei anderen
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I. K. JlBPERS
Mädchen mag anoh die unfreundliche Behandlung zur Beförderung
der Depression mitwirken. Krebs föhlt sich rauher angefaßt als zu
Hause, wird angetrieben, fix zu machen, muß meist allein sein,
kann sich nicht ausspreohen. Der letzte Punkt findet sich auch
bei Eva B., die litt, weil sie bei der Frau kein Gehör fand und
sich bei niemandem aussprechen konnte.
Bei ihr wirkten noch manche andere Umstände. Sie fürchtete
sich vor dem Herrn (Arzt), weil er in der Sprechstunde immer so
laut schrie. Die Kinder ärgerten sie. Als sie einen Cylinder zer¬
schlug, drohte ihr der Junge, sie müsse ihn bezahlen, wodurch sie
ganz den Mut verlor. So mögen wohl manche Ereignisse an sich
geringer Art die Heimwehverstimmung befördern. ‘ Manchmal wird
das Heimweh vielleicht erst bei solchen Gelegenheiten geweckt.
Ist man doch in solch labilen Zuständen selbst für kleine psychische
Schädlichkeiten sehr angreifbar. Hierher gehören auch die körper¬
lichen Krankheiten. Diese wirken wohl bei Disponierten durch
allgemeine Schwächung auf die Psyche, aber auch durch die vielen
Anlässe zu Unlustgefühlen, die sie mit sich bringen. Bei den Heim¬
wehfällen finden wir körperliche Schwäche oder Krankheit auf¬
fallend oft (Krebs, Kaupier, Spitta, Hettioh I, Philipp. Schwächlich:
Hohnbaum, Eva B.). Wenn solch ein zartes Geschöpf in Dienst
kommt und über seine Kräfte arbeiten muß, hat es soviel unglück¬
liche Gefühle, daß eine Entstehung von Heimweh sehr befördert
werden muß.
Es findet sich wohl die Angabe, daß beim Heimweh Individuen
sich über ihren Zustand selbst nicht klar werden. Es ist das gewiß
zu berücksichtigen und möglicherweise erklären sich daraus manche
der oben erwähnten unklaren Fälle, doch scheint es manchmal viel¬
leicht nur das Wort zu sein, das sie grade nicht finden. So hat
Eva B., die sonst viel Widersprüche in ihren Aussagen aufweist,
dauernd behauptet, sie habe das Verbrechen begangen, um aus dem
Dienst zu kommen, wobei doch nach Art der Täterin und der Lage
der Dinge nur Heimweh in Frage kommen konnte. Schließlich hat
sie den Psychiatern das Heimweh zugegeben. Andere wieder
äußern sich ganz klar. Apoll, z. B. hat vor und nach der Tat
spontan Heimweh angegeben.
Als Charakteristikum des Heimwehs galt die Scham über das¬
selbe zu sprechen. Das Heimweh wurde verborgen, andere Übel
vorgetäuscht. Oft trifft das zu. Krebs antwortet auf die Frage, ob
ihr bange sei: „Nein, auf Sonntag will ich einmal nach Hause
gehen“. Sie habe sich geschämt, ihr Heimweh zu gestehen, aber
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Heimweh und Verbrechen.
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gleich nachher habe sie sich ausweinen müssen. Hettioh I äußert
zwar Heimweh gegen die Dienstmagd, aber der Herrin, die sie mit
rotgeweinten Augen trifft, bringt sie fingierte Erzählungen vor, ja
lacht, wenn sie auf Heimweh angeredet wird. Apoll, verbirgt das
Heimweh nicht, sie gibt es ihren Eltern offen an. Bei ihrer
Herrschaft ist sie stumm. Wäre sie nach Heimweh gefragt, hätte
sie es vielleicht gestanden.
Bei Eva B. wird ein Brustübel vorgeschützt, doch nicht bloß
um das Heimweh zu verbergen, sondern mehr, um dadurch bei
ihren Eltern bleiben zu dürfen. Solche Lügen kommen bei sittlich
durchaus nicht minderwertigen Kindern vor, z. B. auch bei dem
jungen Mädchen, das Krankheiten vorgab, um nicht in die Schule
zu müssen. Sie haben auch vielleicht ihre Grundlage in Mi߬
empfindungen, in Hals, Kehle und Brust, wie sie traurige und erst
recht ängstliche Verstimmungen begleiten und manchmal mag es
sich bei den Erzählungen kaum um Lügen handeln. Ein solcher
Zustand, wo über Krankheit geklagt wird, ohne daß ein objektiver
Befund erhoben werden konnte, kam bei Apoll, gelegentlich einer
Verstimmung in der Klinik vor. Man muß jedenfalls bei derartigen
Aussagen vorsichtig sein mit der Annahme von Simulation.
Verschieden ist die Wirkung, die bei den am Heimweh leidenden
Kindern Erinnerung an die Heimat, Besuche von Angehörigen usw.
haben. Apoll, ist sichtlich aufgeheitert, wenn sie von ihrer Schwester
Besuch hatte. Philipp fühlt sich allemal wohl, wenn sie zu Hause
gewesen ist. Dagegen bricht Hettich I. bei jedem Besuche in
Tränen aus. Wir erinnern uns, daß in der älteren Literatur der
Kuhreihen bei den Schweizern und andere Erinnerungen an die
Heimat eine große Rolle spielen. In unseren Fällen haben wir nicht
viele Anhaltspunkte dafür, doch wäre darauf zu achten.
Der Verlauf des Heimwehs ist ein sehr verschiedener. Er kann
lang dauernd, gleichmäßig mit vorübergehenden Exazerbationen im
Anschluß an unlustvolle Erlebnisse, vielleicht auch an Erinnerungen
der Heimat sich gestalten. Diese Exazerbationen können auf der
anderen Seite das allein Hervortretende werden, indem die anhaltende
Heimwehstimmung als leichte Traurigkeit ganz in den Hintergrund
tritt, oder schließlich auch ganz verschwindet. Dann haben wir
Vorkommnisse, wie sie Koch beschreibt (Psychopathische Minder¬
wertigkeiten 1891). Er erwähnt zwei Fälle von angeborener psycho¬
pathischer Disposition: „Ein 18jähriges Mädchen bricht bei Besuchen
in der Fremde wohl mal plötzlich in jähem Heimweh nach der
Mutter in Tränen aus. — Ein anderes Mädchen geriet bei Besuch.
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1. K. JASPER8
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der Matter in einem plötzlichen überwältigendem Heimwebanfall, in
die heftigste Aufregung und meinte, nicht mehr leben zu können,
wenn die Mutter ohne sie fortgehe. Doch schwand nach deren
Fortgang der Zustand schnell“. Das Heimweh kann ferner in dem
Momente der Trennung auftreten oder es kann sich langsam ent¬
wickeln. Es kann von selbst wieder schwinden, nach kurzer oder
langer Zeit. Es kann auch sehr lange dauern und bei jedem Orts¬
wechsel von neuem auftreten. (z. B. Apoll.). Endlich kann es
auch einen immer mehr endogenen periodischen Verlauf nehmen,
indem es zuweilen als lebhafte Verstimmung sich bemerklioh macht,
ohne daß man grade eine Ursache finden könnte (Apoll, in der Klinik).
Bei jeder Verstimmung spielen äußere Einflüsse und endogene
Momente eine Rolle. Die Depressionen bilden eine lange Linie, in
der auf der einen Seite erstere, auf der anderen letztere allein in
Betracht zu kommen soheinen. Dazwischen finden sich alle Über¬
gänge. Schematisch könnte man drei Etappen unterscheiden:
1. Mit dem Wechsel der äußeren Umstände tritt Heimweh als
schwere Verstimmung auf. Mit Wegfall der Ursache tritt sofort
Heilung ein.
2. Im selben Fall, wo die Depression darob den äußeren Anlaß
entstand, dauert sie doch nach Wegfall der Ursache an und nimmt
eine eigene Entwicklung.
3. Es besteht überhaupt keine neue Ursache, sondern tritt eine
durchaus endogene Verstimmung auf, die sich nach außen als Heim¬
weh projiziert.
Zwei und drei werden wir ohne weiteres zu den Psychosen
rechnen. Für 2 verweise ich auf den Fall Meyers im historischen
Kapitel, für 3 mag kurz folgender Fall erwähnt werden:
37 Jahre altes Fräulein, schon mehrere Male an einfacher Depression
mit Angst erkrankt, liegt mit einem neuen Anfall in der Klinik. Krank¬
heitseinsichtig. Sie schreibt folgenden Brief:
Lieber Vater! In Kürze teile ich dir mit, daß ich schrecklich
Heimweh habe nach dir, E. und S., kurzum die Sehnsucht nach Haus
zu meinen Lieben ist so groß, daß ich es nicht vermag niederzu¬
schreiben. Schreibt mir doch einige Zeilen, bitte, komme doch jemand,
mich zu besuchen, daß ich mich aussprechen kann, wie es mir ums
Herz ist. Es sendet dir ... .
Bitte bringt mir einige Zeitungen aus meiner lieben Heimat mit“.
Nachher trifft man sie wieder weinend und angstvoll im Bett. Nach
dem Heimweh gefragt sagt sie ganz spontan: „Jetzt will ich wieder
heim, wie ich daheim war, wollt ich herein hierher.. Ach, Herr Doktor,
bei mir wechselt die Stimmung alle Minuten, jede Minute ist anders,
so unbeständig“.
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Heimweh and Verbrechen.
103
Ferner mag hier noch an die epileptoiden Verstimmungen er¬
innert sein, die sich so oft als Heimweh darstellen. Es ist zwar
bis jetzt kein Fall bekannt, wo mit dem Beginn des Dienstes bei
einem Mädchen ein echter manisch-depressiver Anfall oder eine epi¬
leptische Verstimmung zusammentraf und so vielleicht die äußere
Erscheinungsweise unserer Heimwehzustände hätte hervorrufen
können. Doch ist das an sich möglich und es muß im Einzelfalle
daran gedacht werden.
Unsere Fälle gehören zu 1 oder liegen zwischen 1 und 2. So
tritt bei Apoll, in den späteren kurz dauernden, leichten Heimweh¬
stimmungen das endogene Moment deutlich hervor. Inzwischen sind
sie ganz verdrängt worden von periodischen einen halben bis einen
ganzen Tag dauernden Zuständen von gegenstandsloser Traurigkeit
oder auch von Gereiztheit. Bei der Philipp wird von fortgesetzter
Verstimmung und periodischen Gewissensregungen aus dem Gefängnis
berichtet.
Auf der anderen Seite ist oft das Heimweh vom Zeitpunkt des
Verbrechens an endgültig verschwunden (Eva B., Hettich I., Büsch).
Auch hei Krebs hörte es auf, aber in der Gefangenschaft trat an
dessen Stelle anscheinend eine Haftpsychose. Ein charakteristisches
Zusammentreffen! Sind doch Haftpsyobose wie Heimwehpsychose
pathologische Beaktionen auf eindrucksvolle Erlebnisse, die schon
bei Gesunden lebhafte Gemütsbewegungen erzeugen. Das Verschwin¬
den des Heimwehs nach der Tat ist vielleicht vergleichbar dem
Schwinden hypochondrischer Verstimmung hei Psychopathen durch
stark affektbetonte Erlebnisse. Die Seele wird durch die neuen
Ereignisse so erfüllt, daß für die alte Verstimmung kein Baum
mehr ist.
Wie unterscheidet sich nun eine pathologische Heimwehver¬
stimmung vom normalen Heimweh? Die Grenzen sind natürlich
ganz fließende, und da es sich überhaupt um Grenzzustände handelt,
ist die Frage, krankhaft oder nicht krankhaft, ziemlich belanglos
gegenüber der anderen: was kommt wirklich vor? Immerhin wird
man als Merkmal des Pathologischen anführen dürfen die Stärke der
Verstimmung, ihre Nachhaltigkeit, ihre somatischen Folgeerschei¬
nungen (Appetitverlust, Schlafstörungen, körperliche Lokalisation der
Angst), ihre Wirkung auf das ganze Handeln und schließlich ihre
Neigung zu endogenen Beimengungen.
Die von Heimweh Befallenen pflegen oft Versuche zu machen,
auf natürliche Weise heimzukommen. Apoll, richtet viele Bitten
an die Eltern, heimbleiben zu dürfen, Hettich I. versuchte zu ent-
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104
I. K. Jabpbbs
laufen und brauchte Notlögen. Spitta lief nach Hause und wurde
durch Prügel gezwungen zurttokzugehen. Eva B. flehte die Mutter
unter Tränen an, nicht in die Stellung zurückkehren zu müssen.
Hohnbaum tat dasselbe. Doch sind solche Versuche manchmal ge¬
ring oder werden aufgegehen oder fehlen auch ganz. Die Gefahr,
zu Hause übel empfangen zu werden, Prügel zu erhalten (Hettioh I.,
Appoll.) und die Scheu, ausgelaoht zu werden, wenn ohne Grund
der Dienst nach kurzer Zeit aufgegeben wird, spielt da eine Rolle.
Manchmal wird an die Ausführung der kriminellen Tat geschritten,
noch bevor alle rechtlichen Mittel erschöpft sind, meistens aber ist
das geschehen.
Hat uns die Betrachtung des Heimwehs nun ein Verständnis für
die rätselvollen Verbrechen, die aus ihm entsehen, verschafft? Ein
einheitliches kaum. Wir verstehen bei Schwachsinnigen oder bei
unreifen Kindern, daß der Wunsch, aus dem Dienst zu kommen,
sei es mit oder ohne Heimweh, den Gedankengang weckt: „Wenn
das Haus abbrennt, wenn das Kind tot ist, bin ich überflüssig, dann
kann ich fort" und daß dies zum Motiv der verbrecherischen Tat
wird. Wir können auch annehmen, daß solche Gedanken bei den
meisten Fällen eine Rolle spielen, in einigen (Krebs) haben wir
keinen Anhaltspunkt dafür. Soweit dagegen überhaupt genauere
Beschreibungen über Motivierung der Tat und die letzten psychischen
Vorgänge vor ihr gegeben sind, finden wir, daß die Handlungen
recht verschiedener Art sind, und daß das Heimweh wohl einen ge¬
eigneten Boden abgeben muß, mannigfaltige Willensprozesse zur
Entstehung zu bringen. Um es gleich vorweg zu nehmen, sehen
wir sowohl impulsive, wie den Zwangshandlungen ähnliche Vor¬
gänge, in Angst und Übergang zu Bewußtseinstrübungen vollführte
Akte nnd planmäßige Gewalttaten.
Daß die Mannigfaltigkeit herrscht, erscheint ganz begreiflich.
Spitta sagt: „Wem nur einmal die Qual des Heimwehes zur eigenen
Empfindung geworden, wem es erinnerlich geblieben ist, in welcher
Verwirrung Sinne und Gedanken schweiften, halb wache Träume
den Tag wie die Nacht erfüllten, der kann es bezeugen, ob die ge¬
lähmte Kraft des Willens, zumal des ungeübten kindlichen, und das
Licht der schwachen Vernunft dem Drange ungezügelt wogender
instinktartig zwingender Gefühle nur irgend einen Damm entgegen¬
zusetzen vermochte. Da ist alles Sinnestäuschung, alles zurückge¬
drängte verhüllte Leidenschaftlichkeit. Nach einem Ziel nur ringt
die geistige und leibliche Natur, nach der alten süßen Gewohnheit
des Zusammenseins mit den heimatlichen Personen und Gegen-
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Heimweh and Verbrechen.
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st&nden“. Daß in dieser depressiven Ratlosigkeit die psychologisch
verschiedenartigsten Handlangen Vorkommen können, läßt sich ganz
gnt naehfühlen.
Kraepelin (vgl. Wilmanns) soll die Verbrechen junger heim¬
wehkranker Mädchen für den Ausfluß eines impulsiven Irreseins
halten, das mit dem Wunsche nach Veränderung der gegenwärtigen
Lage, zuweilen mit einem dunklen Heimwehgefühl einhergehe. Die
Existenz solcher Fälle ist durchaus möglich. Wir haben oben
einen Fall von Angstzustand berichtet, bei dem wahrscheinlich jede
heimwehartige Färbung sogar fehlte. Doch trifft für die typischen
Fälle diese Auffassung wohl kaum zu. Zunächst ist zu bemerken,
daß impulsives Irresein als Krankheitsbild wohl aufgegeben ist (vgl.
Förster und Aschaffenburg, Centralblatt f. Nervenbeilk. und
Psyobiatr. 1908, S. 350 ff.). Es kann sich nur um eine sympto¬
matische Bezeichnung „impulsives Handeln aus einer Verstimmung
heraus“ handeln. Wenn Kraepelin bei diesen Verstimmungen das
Heimweh nur als eine an sich belanglose Außerungsform ansieht, so ist
es doch nach den bekannten Fällen wahrscheinlich, daß das durch
entsprechenden Anlaß entstandene gesteigerte Heimweh in einigen
Fällen den unerläßlichen Boden abgibt, auf dem es zu impulsiven
Akten kommt. Eine typisch impulsive Tat ist die der Krebs. Sie
hat sicher ein Heimweh, das mit dem Tage des Diensteintritts be¬
gann und schon am vierten Tage eine gewaltige Höhe erreicht
batte, als ihr in ihrer trostlosen Stimmung plötzlich der Gedanke
kam, Feuer anzulegen. Sie wußte auch sofort, wie sie es machen
sollte, ohne an etwas anderes zu denken. Sie wurde von Bangig¬
keit getrieben und wußte sich nicht anders zu helfen. Der Gedanke
wich nicht von ihr. Nach drei Stunden führte sie ihn aus. Wie
sie die brennende Kohle ins Viehfutter geworfen hatte, dachte sie
etwa: „Mag es brennen oder nicht, in letzterem Falle habe es auch
nichts zu bedeuten“.
Von den impulsiven Akten führen wohl Übergänge zü den plan¬
mäßigen Handlungen, bei denen man zweifelt, wieweit sie impulsiv
zu nennen sind. Apol. führte ihre beiden Verbrechen mit Sorgfalt
und Vorsicht aus, das zweite Mal faßte sie abends den Entschluß,
um ihn nach durchschlafener Nacht morgens auszufUhren. Ein rätsel¬
hafter Vorgang, der schwer zu verstehen ist!
Impulsive Handlungen sind Triebhandlungen (Wundt), die auf
Grund eines Motives ohne vorausgehenden Wahlakt blind zur Aus¬
führung gelangen (vgl. Ho che, Gerichtl. Psychiatr. S. 503 ff.). In
diesem Sinne kann man Apolls Tat kaum zu den impulsiven rechnen.
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Sie ist ein Übergang zwischen Willens- und Triebhandlungen. Der
gefaßte Plan am Abend kommt ersterer zu, das Fehlen aller Gegen¬
motive letzterer. Es ist eine Handlung, die nur bei einem an der
Grenze des Eindesalters stehenden Wesen zu verstehen ist. Ho che
bemerkt das Entstehen impulsiver Handlungen aus abnormen Ge¬
fühlen und Stimmungen bei gleichzeitiger intellektueller Schwäche.
Diese wird bei Apoll, durch die kindliche Entwicklungsstufe ersetzt
die bei der vorhandenen hoffnungslosen Traurigkeit genügt, alle
höheren ethischen Gesichtspunkte für einige Zeit zum Schwinden zu
bringen.
Bei Eva B. liegt möglicherweise sogar eine raffinierte Plan¬
mäßigkeit vor, doch ist bei ihr die Motivierung besonders unklar.
Jedenfalls scheinen die Fälle zu zeigen, daß nicht nur rein
impulsive, sondern auch überlegte Verbrechen, denen man doch das
Triebartige nicht ganz absprechen kann, bei sittlich und intellektuell
intakten, aber in kindlichem Seelenzustand sich befindenden Mäd¬
chen aus der Heim weh Verstimmung entstehen können.
Den impulsiven stehen die Zwangshandlungen gegenüber. Wird
bei den ersteren ohne Widerstand ein Trieb in die Tat umgesetzt,
gewinnt bei den letzteren eine Willensrichtung durch irgend welche
pathologische Ursache solche Stärke, daß sie nicht mehr in normaler
Weise durch Gegenmotive bekämpft werden kann. Nach einem ge¬
waltigen. quälenden Kampf unterliegt die Persönlichkeit mit ihren
normalen Motiven diesem Zwangstrieb. Zur Entstehung solcher
Zwangshandlungen gehört wohl immer eine gewisse Entwicklung
des Seelenlebens. Sicher ist zur Auffassung und Wiedergabe dieser
Vorgänge eine gewisse Reife erforderlich. Vielleicht ist es darum
selten, daß die heimwehkranken Kinder in dieser Weise berichten.
Krafft-Ebing erklärt (Gerichtl. Psyebiatr. S. 103) den Fall Hohn¬
baum für eine Handlung aus Zwangsvorstellung, vielleicht weil die
Täterin anscheinend durch das zufällige Erleben eines Brandes auf
ihre Tat gebracht wurde. Doch überwiegt bei ihr die Entladung
der Angst so sehr, und sind die Angaben über die Wirkung von
der Vorstellung des Brandes so ungenau, daß man Krafft-Ebing
nicht beistimmen kann. Mehr Ähnlichkeit mit einer Zwangshand¬
lung hat der Fall Hettich I. Dies Mädchen bekommt plötzlich die
Idee, das Kind zu töten. Tagelang kämpfte sie dagegen. Es kommt
ihr wieder der Gedanke, sie solle es bleiben lassen, dann wieder,
sie müsse es tun, bis die Tat ausgeführt wurde. Mit demselben
Rechte wie oben von impulsivem Irresein könnte man vielleicht hier
von Zwangsirresein sprechen. Dieselben Überlegungen mußten wieder-
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Heimweh und Verbrechen.
107
holt werden. Tatsache scheint nur, daß auf dem Boden des Heim¬
wehs an Zwangshandlungen erinnernde Akte Vorkommen können.
Was daran bindert, sie zu den echten Zwangshandlungen zu zählen,
ist das geringe Hervortreten der Kritik, die überwiegende Bedeu¬
tung der Verstimmung, die Ähnlichkeit der Vorgänge mit dem nor¬
malen Kampf der Motive.
Eine wichtige Rolle spielen die bei dem Heimweh vorkommen¬
den Angstzustände. Kaupier fühlt Druck am Herzen, der Krebs ist
es so bange, Petersen zittern die Knie und drückt es am Herzen,
Angst haben auch Rüsch und Hohnbaum, zuweilen scheint die Angst
so heftig sein zu können, daß eine leichte Bewußtseinstrübung ent¬
steht. Es wird von den Täterinnen angegeben, daß sie nicht die klare
Besinnung gehabt, daß sie verwirrt gewesen seien, Hohnbaum kann
nicht einmal angeben, was sie gedacht, und was sie gewollt hat.
Diese Zustände sind es vielleicht, für die Platner, Meckel und
Masius angaben, daß der unfreiwillige Drang auftrete, die innere
Angst durch eine große Flamme zu bekämpfen, wobei nach Aus¬
führung der Tat die Individuen von der heftigsten Angst befreit
seien. Diese Ansicht ist mehrere Male wiederholt worden und zu¬
letzt von Groß erörtet. Er meint, daß die Heimwehkranken „das
drückende Gefühl der Niedergeschlagenheit durch sinnlichen kräf¬
tigen Reiz bekämpfen wollen. Sie zünden ein Haus an oder bringen
nötigenfalls jemanden um, kurz einer explosionsartigen Ladung be¬
darf es“. Diese Ansicht trifft möglicherweise für einige Fälle zu
(Krebs, Hohnbaum, bei M. Belling wird angegeben, daß die Angst
nach der Tat verschwunden war), doch ist das sehr zweifelhaft.
Grade die planmäßig vorgehenden Täterinnen handeln wohl weniger,
um ihr Unlustgefühl zu einer „motorischen Entladung“ zu bringen,
sondern sie treibt in ihrem trostlosen Zustande, in ihrer unsagbaren
Traurigkeit, die die Überlegung trübt, die Motive einengt, ihre Vor¬
stellungen allein von dem einen Zwecke abhängig macht, die übrigen
aber verdrängt, der unwiderstehliche Drang zu den Eltern und der
Gedanke, die Heimkehr auf diese Weise zu erreichen.
Es liegt nahe, analog den melancholischen Zuständen des
späteren Lebens, auch bei den Heimwehkranken Selbstmord neben
den Gewaltakten nach außen zu erwarten. In der älteren Literatur
ist auch Selbstmord aus Heimweh oft aufgeführt, doch hat man zu
seinem Vorkommen außer diesen Behauptungen und einigen An¬
deutungen in der französischen Literatur über Selbstmord bei Kindern
keinen Anhaltspunkt. Ratzels Selbstschilderung gehört vielleicht
hierher, doch ist sein Seelenleben zur Zeit des Suizidversuchs so
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1. K. Jaspers
kompliziert, daß von einem Selbstmord nur aus Heimweh wohl kaum
gesprochen werden kann.
Nach der Tat ist das Benehmen der Mädchen meist unauffällig.
Rüsoh meldet gleich, daß Feuer ist. Philipp, Hettich I. arbeiten
noch, Petersen ißt mit gutem Appetit, Apoll, geht wieder ins Bett.
Krebs fühlt sich krank und legt sich zu Hause ins Bett.
Ganz allgemein scheint von den Täterinnen ihre Tat anfangs
geleugnet zu werden. Die einzigen, die gleich gestehen, sind die
sonst minderwertige Marie G. und die Roßweinin Platners.
Nach mehr oder minder hartnäckigem Widerstand legen sie
dann ihr Geständnis ab. Hier ist es auffallend, wie oft die Angaben
unklar und widersprechend sind. Die Entwickelungsstufe der
Mädchen erlaubt ihnen noob keine einigermaßen klare Selbst¬
beobachtung. Das ist eine der Hauptschwierigkeiten für die Be¬
urteilung. Bei der Beeinflußbarkeit der jungen Seele wirken
Suggestivfragen noch ganz anders als bei Erwachsenen. Der Sinn
für Wahrheit ist noch nicht ganz ausgeprägt und manche Sorge,
manche Furcht verführt sie zu falschen Angaben. Da meinen sie
sieh besser zu entschuldigen, wenn sie, die sie doch kein Motiv
wissen, sich der Unlust am Dienst beschuldigen, Zorn über schlechte
Behandlung, schlechtes Essen als Motiv angeben usw. (Spittas
Fall in Henkes Ztschr. Eva B.) Groß hat oft von nostalgischen
Verbreoherinnen gehört: „Ich weiß nicht warum, ich mußte so
handeln“. Diese werden die Wahrheit gesagt haben, ebenso M.
Belling: „Sie wisse es selbst nicht“.
Natürlich besteht auch die Gefahr, in junge Verbreoherinnen
Heimweh hineinzufragen, wo keines vorhanden war. Doch erscheint
bei Berücksichtigung der Gesamtpersönlichkeit und aller Umstände
der Tat diese Gefahr nicht übertrieben groß. Selbst Eva B., die
von Heimweh erst auf Fragen der Ärzte sprach, kann man dieses
glauben. Per exolusionen kommt man dazu, wenn man nicht die
Annahme eines absoluten Rätsels vorzieht. Irrtümer sind in solchen
Fällen möglich und ohne Zweifel bleibt häufig ihre Beurteilung nicht.
Es findet sich übrigens mehrere Male nicht bloß ein Leugnen
der Straftat, sondern sogar Lügen werden gebraucht und zwar auch
grade von den sittlich sonst nicht Minderwertigen. Apoll, erfindet
die Geschichte, daß sie das Arzneifläschchen mit der Stopfnadel um¬
gestoßen habe. Eva B. heuchelt vielleicht Krankheit. Hettich I.
behauptet, in guter Absicht Vitriolöl gegeben zu haben. Rüsch will
den Brand zufällig verursacht haben und schreibt gar Drohbriefe,
durch die sie den Verdacht von sich ablenken will. Alle korrigieren
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Heimweh und Verbrechen.
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nachher diese falschen Angaben. Es scheint in der Natur der kind¬
lichen Seele zu liegen, in Angst und Furcht die Wahrheit nicht ge¬
nau zu nehmen. Ich erinnere nochmals an das Mädchen, das aus
Sehnsucht bei der Mutter zu bleiben und aus Furcht vor der Schule
körperliche Krankheit simulierte (?).
Bemerkenswert ist das Verhalten der Reue. Einzelne werden
sofort nach der Tat von ihr befallen (Hohnbaum, Hettich I.), andere
— und das ist wohl die Mehrzahl — sind zu kurzen Anwandlungen
von Reue geneigt, ohne daß diese eine nachhaltige wäre und einen
tieferen Einfluß auf das Gemüt Übte. (Apoll., Eva B.). Einige
lassen jede Reue vermissen. (Spitta in Henkes Ztscbr.) Es scheint
nach den Angaben der Täterin, daß mit Zunahme der geistigen Ent¬
wickelung der Gedanke, einen Mord verübt zu haben, schwerer auf
Apoll, lastet. Es ist sonst noch nicht der kindlichen Psyche ent¬
sprechend, von nachwirkenden Gewissensbissen gequält zu werden,
zumal manche Heimwehverbrecherinnen, da sie nicht das Gefühl
haben, einer bösen Regung, mit der sie kämpften, unterlegen zu
sein, wohl kaum eine Versündigung fühlen.
Die wichtige Frage, was aus den Heimwehverbrecherinnen wird,
ist leider noch nicht zu beantworten. Man erwartet von ihnen mit
Recht, daß sie sich im Gegensatz zu den sittlich minderwertigen
Brandstifterinnen als sozial erweisen, aber auch, daß sie wahr¬
scheinlich in ihrem Leben noch manches psychopathische Symptom
darbieten werden. Am längsten nach der Tat beobachtet sind bis
jetzt die beiden Heidelberger Fälle. Sie haben sich beide sehr
günstig entwickelt, Apoll, allerdings in der Sicherheit des Anstalts¬
lebens. Eva B. hat aber draußen in dienender Stellung volle Zu¬
friedenheit erregt und sich nichts zuschulden kommen lassen.
Bevor wir auf eine kurze forensische Betrachtung eingehen,
mögen noch einige Erörterungen über die nosologische Stellung des
Heimwehs erlaubt sein. Zu behaupten, daß das Heimweh eine
gesonderte Krankheitsspezies darstelle, würde den modernen
psychiatrischen Anschauungen durchaus widersprechen. Schon
Damerow behauptet, daß es eine der vielen Krankheits¬
bezeichnungen sei, die nach den näheren oder entfernteren An¬
lässen gewählt seien.
Doch wird niemand bezweifeln, daß in den typischen Fällen,
die beim Versuch der Einordnung in bekannte Krankheitsbilder
übrig bleiben, das Heimweh symptomatologisch das hervorstechendste
Merkmal ist, daß der äußere Anlaß, die Entfernung aus dem Eltern¬
hause, immer derselbe ist und daß die übrigen Symptome und be-
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gleitenden Umstände vielfache Ähnlichkeit haben, sodaß die Zu¬
sammenfassung dieser Zustände unter einem symptomatologischen
Begriff „ Heimwehpsychose “ „nostalgia“ berechtigt ist.
Nach Abscbeidnng aller Fälle, die zweifellos epileptisch,
manisch-depressiv nsw. sind, haben aber die ttbrig bleibenden Fälle
Ober das Symptomatologisohe hinaus einen im Wesen begründeten
Zusammenhang. Das pathologische Heimweh ist nicht eine be¬
sondere Psychose, aber eine typische Reaktion neben vielen anderen
bei konstitutionell schwachen, degenerierten Individuen. Wie wir
in dem ausgedehnten Gebiet degenerativen Irreseins Überhaupt keine
abgegrenzten Krankheitsbilder aufstellen können, sondern Typen von
Persönlichkeiten einerseits und Typen von Reaktionen auf äußere
Einflüsse andererseits unterscheiden (z. B. Pseudologisten, konstitu¬
tionell Verstimmte, Erregte, Haltlose usw. auf der einen Seite,
Gefängnispsychosen, Menstruationspsychosen auf der anderen Seite),
so können wir auch das Heimweh nicht als besondere Krankheit,
sondere nur als eine charakteristische Reaktion z. B. analog einer
Haftpsyohose auffassen 1 ).
Die Individuen, die vom Heimweh befallen werden, können der
verschiedensten Art sein, was sie gemeinsam haben, ist die psycho¬
pathische Konstitution. Es können Schwachsinnige und Begabte,
moralisch minderwertige und sittlich hochstehende Individuen sein.
Das charakteristische, reine, typische Heimweh finden wir aber grade
bei den nicht schwachsinnigen und nicht moralisch degenerierten
Individuen. Kommt Schwachsinn oder moral insanity bei einem
Heimwehverbrecher vor, so ist das eine Komplikation, die mit dem
Heimweh nur den Zusammenhang bat, daß jene einen degenerativen
Zustand darstelleD, während das Heimweh eine degenerative Re¬
aktion ist 2 ).
Doch wenn wir auch Schwachsinn oder moralische Minderwertig¬
keit nicht als notwendig zum Heimwehverbrechen betrachten, so ist
doch, wie wir sahen, eine Vorbedingung immer vorhanden, die
relativ kindliche Entwicklungsstufe. Dies ist auch der Grund, warum
manche im Eifer, die Fälle in gebräuchlichem Schema unterzubringen,
t) Vgl. die Ausführungen von Wilmanns in seinen „Gefängnispsychosen“,
Halle 1908.
21 Doch darf man trotz dieser schematischen Auffassung nicht alle Menschen
mit gesteigertem Heimweh für degeneriert halten. Grade beim Heimweh spielen
die Miiieuverhältnisse, wie allerdings bei allen psychopathischen Erscheinungen
eine große Rolle. Wir betonten den engen Horizont, die ländliche Abkunft, die
tiefe Bildungsstufe als bedeutsame Faktoren.
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Heimweh und Verbrechen.
111
sie in das Fach Schwachsinn einordnen. Nicht Schwachsinn ist
es, sondern ein daroh Erziehung and Umgebung eng gebliebener
Horizont, nicht Unmoral, sondern Begrenztheit der Gefühle auf kind¬
liche Lebensgebiete, die man bei den Heimwehverbrecherinnen findet.
An die Spitze der forensisc.ben Betrachtung wird man
den Satz von Groß stellen dürfen: „Der Arzt ist stets zu fragen,
wenn man Heimweh als Grund des Verbrechens vermutet“. Die
Grenze des Krankhaften ist in solchen Fällen immer nahe, und es
ist Sache des Psychiaters, zu beurteilen, wo sie überschritten ist.
Das ist keine leichte Aufgabe. Es bedarf selbstverständlich einer
eingehenden Untersuchung der gesamten Persönlichkeit und aller
Umstände der Tat. Dann ist sorgfältig zu erkunden, wieweit Heim¬
weh, wie weit Unzufriedenheit und Unlust am Dienst eine Rolle
spielen. Ist doch erotere eine sittlich indifferente, keine Schuld be¬
gründende Verstimmung, während letztere sogleich sittlich zu be¬
wertende Motive darstellen. Je mehr Unzufriedenheit, die wohl kaum
ein krankhafter Affekt werden kann, in den Vordergrund rückt,
desto mehr kann man normale, unsittliche Motivierung und Zurech¬
nungsfähigkeit annehmen.
Bleibt schließlich Heimweh allein übrig, so ist dessen Stärke
in Betracht zu ziehen. Es ist möglich, daß bei geringgradigem Heim¬
weh sittlich schwache Naturen unterliegen, nachdem sie einen an¬
nährend normalen Kampf der Motive hinter sich haben. Diese wären
je geringer das Heimweli war desto zurechnungsfähiger. Doch sind
solche Fälle bis jetzt nicht bekannt. Wenn die sittliche Minderwertig¬
keit eine maßgebende Rolle spielte, so waren neben dem Heimweh
Unlust, Unzufriedenheit, Rachsucht, Zorn usw. wesentliche Faktoren.
Es ist daher zunächst noch der Satz berechtigt: wenn als einziger
Grund eines Verbrechens bei intellektuell und moralisch bis dahin
intakten Individuen Heimweh vorliegt, so ist die Tat mit über¬
wiegender Wahrscheinlichkeit unfrei.
Solche reine Fälle sind nun die selteneren. Öfter werden die
Heimwehverbrecherinnen mehrere Züge darbieten, die der Würdigung
bedürfen, Schwachsinn, moralischen Tiefstand, verschiedene Affekte usw.
Dann wird man im Einzelfalle ein durchaus individuelles Bild ent¬
werfen müssen und sich bewußt sein, daß die Übergänge zwischen
einer ethisch wertbaren und einer willensunfreien Handlung fließend
sind. Man hat es dann mit Grenzfällen zu tun, die nach den ge¬
wöhnlichen Prinzipien zu beurteilen sind, welche hier nicht wieder¬
holt zu werden brauchen. Immer scheint es aber berechtigt zu
sein, einem sicher konstatierten Heimweh eine überwiegende Be-
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I. K. Jabpbbs
deutnng nach der Seite der Unzurechnungsfähigkeit zuteil werden
zu lassen.
Was nun die Beurteilung der Heimwebverbrecherinnen in einigen
Fällen besonders schwierig macht, das ist die Tatsache (Eva B.,
Rtisch, Spitta), daß manchmal eine Grundlage der Verstimmung iu der
Gesamtpersönlicbkeit fehlt, ein Verständnis durch Anamnese und Status
praesens nicht möglich ist. Man findet geistig und sittlich nicht ab¬
norme Individuen, die bald nach Beginn ihres Dienstes ein Verbrechen
begehen, für das sie nachher keine klare Motivierung geben können.
Irgend ein erklärlicher Affekt als Ursache lag nicht vor, keine Rach¬
sucht, kein Zorn, kein Neid. Zur Zeit der Beobachtung erscheinen
sie vollkommen geistesgesund. Von Heimweh ist später keine Spur
bemerkt und ihre Angabe ttber dasselbe ist nicht eindeutig und klar.
Ihr guter Charakter läßt die Tat der Umgebung ganz unverständlich
erscheinen. Die Fälle sind unter allen Umständen rätselhaft. Wil-
manns hat den Standpunkt präzisiert, den man in solchen Fällen
mit einigem Recht einnehmen darf. „Wenn die Tat weder durch
die geistige und sittliche Veranlagung der Täterin, noch durch mäch¬
tige Beweggründe zu erklären ist, dann ist sie ein psychologisches
Rätsel. Dann darf ich sie jedoch nicht als physiologisch betrachten,
sondern zum mindesten den Verdacht äußern, daß sie krankhaften
Ursprungs ist “. Die jugendliche Entwicklungsstufe der psychiatrischen
Erkenntnis erlaube nicht, in diesen Fällen mit Bestimmtheit Zurech¬
nungsfähigkeit anzunehmen.
Findet man nun in einem solchen Fall einigermaßen konstante
Angaben, die auf Heimweh deuten, selbst wenn das Wort vielleicht
nicht gebraucht ist, so hat man einen Anhaltspunkt, das bis dabin
absolut Unerklärliche dem Verständnis näher zu bringen. Es be¬
steht ja die Gefahr, durch Heimweh zu erklären, was ganz andere
Ursachen hat. Aber es besteht auch die Gefahr, Heimweh abzu¬
lehnen, wo solches rorlag, weil die Betreffenden sicher zuweilen keine
klaren Äußerungen darüber machen können.
Der Psychiater wird sich manchmal gezwungen sehen, ein non
liquet auszusprechen. Je mehr aber alles zu den eigentlichen Heim¬
wehfällen paßt, desto mehr wird er die überwiegende Möglichkeit
aussprechen, daß eine willensunfreie Handlung vorliegt, wie Wil¬
ma n ns’) das in dem von ihm veröffentlichten Gutachten tat. Doch
1) In einer Kritik des Wilm|annsehen Gutachtens gibt Bumke (Gaupps
Centralb. 1906 S. 118), eine Darstellung, als ob Wilmanns folgenden Fehl¬
schluß gemacht hätte: Die Tat ist rätselhaft Die Psychiatrie ist eine junge
Wissenschaft, die manche rätselhafte Taten noch nicht verstehen kann. Also sind
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Heimweh und Verbrechen.
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wird die Sache bei dem jetzigeil Stand psychiatrischer Methoden
immer zweifelhaft sein.
Es ist natürlich zn bedenken, daß z. B. Fälle wie Eva B. und
Apoll., wenn sie auch in vielem znsammengehören, doch möglicher¬
weise recht verschieden sind. Die Art der Verstimmung mag recht
abweichend sein, hei Eva B. noch auf andereren Ursachen als
reinem Heimweh beruhen. Zunächst können wir, bis eine reichere
Kasuistik vörliegt, solche Fälle nur provisorisch zusammenstellen.
Wir sind weit davon entfernt, über sie endgültig aufgeklärt zu sein.
Doch ist es möglich, daß ihre Zusammengehörigkeit eine im Wesen
begründete ist.
Es mag wohl behauptet werden, daß weniger das pathologische
Heimweh, das noch dazu manchmal fraglich sei, als der unreife
Entwicklungszustand das Maßgebende sei. Dann würde in solchen
Fällen, wenn überhaupt, eine Exkulpierung auf Grund des § 56
erfolgen können. Das wäre theoretisch ganz berechtigt, weil ein
kindliches Seelenleben Voraussetzung für die Heimwehverbreohen
ist. Doch forensisch hätte es keine Bedeutung, denn die Einsicht
in die Strafbarkeit der Handlung, die das Gesetz verlangt, ist immer
vorhanden. Wäre eine Exkulpierung auf Grund einer kindlichen
Stufe nicht nur des Verstandes-, sondern auch des Gefühls- und
Willenslebens möglich, würde dieser Weg vielleicht vorzuziehen sein.
So ist die Unfreiheit des Willens nur durch Hervorhebung der
psychopathischen Verstimmung unter Heranziehung der kindlichen
Art des Seelenlebens, nicht durch letztere allein zu begründen.
rätselhafte Verbrechen mit höchster Wahrscheinlichkeit nicht zuzurechnen. Wäh¬
rend doch in Wilmanns Worten klar hervortritt, daß er durch die Prämissen
sich nur berechtigt sieht, den Verdacht auf das Vorliegen eines willensunfreien
Zustandes zu haben, daß dann weiter die Angaben der Eva B., Heimweh gehabt
zu haben, ihm glaubhaft erscheint und er deswegen in Berücksichtigung analoger
Fälle mit Wahrscheinlichkeit krankhafte Störung der Geistestätigkeit annimmt.
Außerdem betont Bumke die allgemein anerkannte Regel, daß der Nach¬
weis der Geistesstörung im Sinne § 51 St.G.B. aus der Analyse der gesamten
geistigen Persönlichkeit des Angeklagten geführt werden müsse: Daß diese in
Fällen wie Eva B. (auch Spitta, Rüsch), nicht geschehen kann, wurde schon be¬
merkt. Darum kann es sich hier auch nie um den Nachweis der Geistesstörung,
sondern nur um den Nachweis ihrer Wahrscheinlichkeit handeln. Dies ist er¬
laubt, weil sich die Fälle an einwandfreiere anschließen, wie sie in dieser
Schrift zusammengetragen sind. Wollte man auf diesen Weg hier verzichten,
würden Psychiater und Richter gleich ratlos dastehen. So ist aber wenigstens
ein mögliches Verständnis gewonnen worden und kann, wie bei Eva B., nach dem
Grundsatz in dubio pro reo verfahren werden.
Archiv für Kriminalanthropologie. 86. Bd. 6
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Literatur-Verzeichnis.
1) Joh. Ho fern 8 raes. Hardero: diss. de Nostalgia Basel 1678. Auch in
A. Haller, Coll.disputat Tom. 1. p. 181.
2) Joh. Verhovitz: Diss. de Nostalgia Vienn. 1703. Anch in Diss. med.
in univers. Vindobon. habit. ed. Eyerel, Vienn. 1790. Vol. III. p. 205.
3) Tackins: Dissert exhibens aegrnm Nostalgia laborantem. Gießen 1707.
4) Th. Zwinger: Dissert de Pathopatridalgia Basil 1690. In Zwingers
Fase. V. diss. select. Basil 1710.
5) J. J. Scheuchzer: Seltsamer Naturgeschichten des Schweizerlandes
wöchentliche Erzählung. 1705. Nr. 15. „Vom Heimweh“.
6) J. J. Scheuchzer: Beschreibung der Naturgeschichte des Schweizer¬
landes. I. Teil, Zürich 1706, p. 57. II. Teil, Zürich 1716, p. 11.
7) J. J. Scheuchzer: Dissertatio de Nostalgia Helvetorum 1731 (in den
Comment. Acad. Bonon. I, 307 ff.). — Übersetzt 1753 im Leipziger Allg. Magaz.
der Natur, Kunst und Wissenschaft.
8) Albr. v. Haller: Onomatologie Medica 1754. I. 1072.
9) Linnö: Genera morborum 1763.
10) J. P. Roth: Lexicon Chirurgicum. 1768. S. 47.
11) Medizinisches Handlexikon. Augsburg 1782. I. S. 488.
12) Pensöes d’un allemand sur la Nostalgie. Jena 1754.
13) Hueber: Diss. de Nostalgia. Wirceb. 1755.
14) J. G. Zi mm ermann: Von der Erfahrung in der Arzneikunst. Zürich
1764. 8. 483.
15) J. Fr. Cartheuser: De mortis endemiis libellus. Frankfurt a. d. O. 1771.
Nostalgia p. 35.
16) Blumenbach: Medizinische Bibliothek. Göttingen 1783. Bd. 1. S. 732.
17) Deutsche Enzyklopädie oder allgemeines Realwörterbuch aller Künste
und Wissenschaften. Frankfurt 1790. Bd. 15. Heimweh von Diez.
18) Amelung: In Friedrichs Magazin für Seelenkunde. 1830, p. 125.
1833, p. 269.
19) Meißner: Enzyklopädie der med. Wissenschaften. Leipzig 1831. 6. Bd.
S. 110. Art. Heimweh von Georget.
20) Schlegel: Heimweh und Selbstmord. Hildburghausen 1835.
21) Jos. Zangerl: Über das Heimweh. Wien 1840. (I. Aufl. 1820.)
22) Jessen. Artikel: Nostalgie im enzyklopäd. Wörterbuch d. med. Wissen¬
schaften. 25. Bd. Berlin 1841.
23. G. A. Andresse: Nostalgiae adumbratio Pathologica. Diss. Berlin
ca. 1822 (ohne Zeitangabe).
24) Grundtmann: De Nostalgia. Berlin ca. 1839 (ohne Zeitangabe).
25) Ed. Matthaei: De Nostalgia. ’Diss. Halle ca. 1844 (ohne Zeitangabe).
26) Chatelain: Einige Betrachtungen über die Nostalgie. Diss. Würz¬
burg 1860.
27) Göschen: Deutsche Klinik 1855. Dr. L. Meyer: Der Wahnsinn aus
Heimweh. Nr. 1, p. 7. Nr. 2, p. 20. Nr. 3, p. 31.
28) Pinel: Artikel Nostalgie in Encyclop. methodol.
29) Guerbois: Essai sur la Nostalgie. Paris 1803.
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Heimweh und Verbrechen.
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30) Castelnau: Considdrations sur la Nostalgie. Paris 1806. Biblioth. mddic.
Tom. XIV.
31) Therrin: Assai sur la Nostalgie. Paris 1815.
32) Pauquet: Diss. sur la Nostalgie. Paris 1815.
33) Percy und Laurent: Art. Nostalgie in: Diction. des Sciences mödi-
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34) J Larrey: Über den Sitz und die Folgen der Heimwehkrankheit Aus
dessen Recueil de Mgmoires de Chirurgie. Paris 1821. Übersetzt in Nasses Zeit¬
schrift f. psych. Ärzte. 1822. p. 153 ff.
35) Masson de Neuf-Maison: Dissertation sur la Nostalgie. Paris 1825.
36) Maury: De la nostalgie dans l’armde. Straßburg 1826.
37) M. Moreau de Saint-Apre: Considdrations sur la Nostalgie. Paris 1829.
38) Beguin: Article Nostalgie in Diction. de mdd. et de chir. prat. Paris
1829—1836. Tom. XII. p. 76.
39) Robillard: Cou d’oeil sur la Nostalgie. Paris 1833.
40) Eug. Poisson: Diss. sur la Nostalgie. Paris 1836.
41) Calmel: Diss. sur la Nostalgie. Paris 1836.
42) Justin Santi: De la nostalgie h bord des navires de guerre. (Annales
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43) Roche de Verneuil: Diss. sur le mal du pays. Paris 1839.
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46) Mutei: Diss. sur la Nostalgie. Montpellier 1849.
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48) Brierre de Bois|mont: Du Suicide. 1856. 141.
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50) E. du Vivier: De la Melancholie. Paris 1864. S. 89.
51) Petrovitch: De la nostomanie. Thöse de Paris 1866.
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Paris. Gaz. des hopit. 1870. Nr. 134.
53) Aug. Jansen: Considdration sur la Nostalgie, ln Annales et bulletin de
la socidtd de M&d. de Gand. 35. Jahrg. 1871.
54) Aug. Haspel: De la nostalgie in Mdmoirea de l’acad. de mdd. Tom. XXX
Paris 1871. p. 466—628.
55) A. Benoist de la Grandi&re: De la Nostalgie ou mal du pays.
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57) Proal: L'education et le suicide des enfants. Paris 1907. p. 56.
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59) E. Platner: Quaest. medico-forenses et. Choulant Lips. 1824. p. 101
und 311.
60) G. R. Masius: Handb. der gerichtl. Arzneiwissensch. I. B. II. Abt.
Stendal 1822. p. 593 ff.
61) Mende: Handbuch der gerichtl. Medizin. Leipzig 1819—1832. 4. Teil,
p. 184.
62) A1 b r. M e c k e 1 : Beitr. zur gerichtl. Psychologie. I. Heft, 1820, p. 111 ff.
8 *
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I. K. JASPKB8
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63) Albr. Meckel: Lehrb. der gerichtl. Medizin. 1»20. § 376.
64) S. G. Vogel: Heitr. z. d. gerichts&rztl. Lehre von der Zurechnungs¬
fähigkeit. 2. Aufl. Stendal 1825. p. 163.
65) Hitzig: Annalen der deutschen und ausländ, krim.Rechtspflege. Heft 13.
Berlin 1830. p. 37 und 54.
66) Henke: Zeitschr. f. Staatsarzneikunde. 1831. Bd. 22. p. 355. 1837.
24. Ergänz.-Heft. p. 55.
67) Pf aff: Mitteilungen aus dem Gebiete der Medizin, Chirurg, und Pharm.
1833. II. Jahrg. p. 532.
68) Friedreich: Systemat. Handbuch der gerichtlichen Psychol. Leipzig
1835. p. 636.
69) Hettich: Über das Heimweh, hauptsächlich in seinen Beziehungen zur
Staatsarzneikunde. Diss. Tübingen 1840.
70) Marc: Die Geisteskrankheiten in Beziehung zur Rechtspflege. Deutsch
von Ideler. Berlin 1844. Bd. I. p. 251 u. 271.
71) M. E. Richter: Über jugendliche Brandstifter. Leipzigl844. p. 54,69,91.
72) J. L. Casper: Denkwürdigkeiten zur medizin. Statistik und Staats-
arzneikunde. Berlin 1846. Das Gespenst des sog. Brandstiftungstriebes.
73) R. Spitta; Praktische Beiträge zur gerichtsärztl. Psychologie. Rostock
und Schwerin 1855.
74) Flemming: Ztschr. f. Psychiatrie. XII. p. 468ff. 1855. Referat und
Kritik des Spittaschen Falles.
75) J. Wilbrand: Lehrbuch der gerichtlichen Psychologie. Erlangen
1858. p. 289.
76) Willers Jessen: Die Brandstiftung in Affekten und Geistesstörungen.
Kiel 1860. p. 114.
77) A. Krauß: Die Psychologie des Verbrechens. Tübingen 1884. p. 2S8.
78) Friedreich: Blätter f. gerichtl. Med. 1886. p. 331.
79) v. Krafft-Ebing: Gerichtliche Psychopathologie. 1892. p. 59 u. 102.
80) Ford. Maack: Heimweh und Verbrechen. Berlin ca. 1894 (ohne Zeit¬
angabe).
81) Mönckemöl 1er: Geistesstörung und Verbrechen im Kindesalter. Berlin
1903. p. 24, 26, 72 und 68.
82) Reinh. Stade: Frauentypen aus dem Gefängnisleben. Leipzig 1903.
p. 203.
83) Hans Groß: „Kriminalpsychologie“. 2. Aufl. Leipzig 1905. p. 9t.
84) Hans Groß: „Hdb. für Untersuchungsrichter“. 5. Aufl. München
1908. p. 981.
85) Wilmanns: Heimweh oder impulsives Irresein. In Monatsschrift für
Kriminalp8ychol. und Strafrechtsreform. 3. Jahrg. 1906.
86) F. Kluge: Heimweh. Ein wortgeschichtlicher Versuch. Programm.
Freiburg 1901.
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II.
Zeugenaussagen über Schlussfolgerungen.
Eine Mitteilung aus der Praxis
von
Professor Dr. Hans Reichel in Leipzig.
In einer Zivilprozeßsacbe (Akten 3 Cg. 116 09 des Landgerichts
Leipzig) handelte es sich um die einfache und alltägliche Frage, ob
die 11 Abmieter des der Frau Schilling gehörigen Hauses den
Mann oder die Frau Schilling als Vermieter betrachteten. Die mir
übertragene Abhörung ergab, daß so ziemlich jeder dritte Zeuge sich
ein anderes Bild von der Sachlage gemacht hatte. Es sagten aus:
1. Kantinenverwalter Pö.
Ich habe in Spichernstraße 2 b von Herrn Schilling gemietet.
Das Haus war noch im Bau. Ich vermutete, er sei Besitzer. Ich
habe auch den Zins immer an ihn bezahlt. Besonders gesagt hat
er nicht, er vermiete im eigenen Namen oder sei Besitzer des Hauses.
Mir war gleichgültig, von wem ich mietete, ob vom Manne oder
von der Frau.
2. Kaufmann Pe.
Ich habe mit Herrn Schilling verhandelt, mit ihm den Vertrag
— es ist der überreichte, der mir vorgelegt ist — geschlossen, hielt
ihn für den Hausbesitzer, habe an ihn die Miete bezahlt. Ausdrück¬
lich gesagt hat er mir aber nicht, daß er Eigentümer sei und im
eigenen Namen vermiete.
3. Schneider Geh.
Ich habe beim Mieten mit dem Polier N. N. verhandelt, nicht
mit Schilling. Da am Bau ein Schild: „Bauherr: Lina Lang“ stand,
so hielt ich diese für den Hausbesitzer. Ich erfuhr, daß sie bald
heiraten werde. Sie hat dann den Schilling geheiratet.
Den schriftlichen Vertrag hat mir dann Herr Schilling aus¬
gehändigt.
4. Tischlermeister Bo.
Ich habe von Frau Schilling ermietet meiner Ansicht nach.
Verhandelt habe ich allerdings größtenteils mit ihm, allein es stand
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11 . Hans Reichel
am Bausebild die Frau (Lina Lang, die spätere Schilling), und so
nahm ich an, Schilling bandele für diese. Er bat mir nicht gesagt,
er sei Eigentümer, und er vermiete im eigenen Namen.
5. Briefträger Hellb.
An der Bautafel stand Lina Lang — die jetzige Schilling; ich
nahm also an, sie sei Hausbesitzerin. Verhandelt habe ich dann mit
Schilling; ich betrachtete ihn aber als Vertreter der Lang, weil eben
sie an der Bautafel stand.
6. Tischlermeister Herf.
Ich habe erst Herrn Schilling gefragt, ob das Logis zu mieten
sei. Er schickte mich hinüber zu seiner Frau, ob das Logis noch
frei sei. Ich ging demgemäß zu ihr in die Wohnung; sie sagte mir,
das Logis sei noch zu haben, und nannte mir den Mietzins. Ich
fragte sie (es kam mir komisch vor, daß Schilling mich zur Frau
hinüberschickte), das Grundstück sei wohl ihr? Worauf sie ja sagte.
Ich erhielt dann später wegen unpünktlichen Zinszahlens eine
Mahnung, die war mit Lina Schilling unterschrieben.
7. Verw. Schird.
Ich habe mein Logis von Herrn Schilling gemietet. Ich dachte,
das Haus gehöre ihm. Gesagt hat er mir aber nichts hiervon. Er
hat auch nichts Ausdrückliches davon gesagt, daß er im eigenen Namen
vermiete.
Mir ist es gleichgültig, ob ich vom Manne miete oder von der
Frau.
8. Metallschleifer Wei.
Meine Frau hat auf dem Bau gemietet, ob vom Manne oder
von der Frau, weiß ich nicht. Mir war das auch gleichgültig. Ich
weiß auch nicht, wem das Grundstück gehört Auf dem Bauschild
stand „L. Lang“.
9. Buchbinder Ho.
Ich habe von Herrn Schilling gemietet Da aber unten am
Bauschilde „Lina Lang“ stand, so hielt ich diese für die Hausbe¬
sitzerin und Schilling nur für ihren Vertreter.
10. Buchhandlungsgehilfe Sch.
Als ich auf Wohnungssuche ging, sah ich das Bauschild an der
Spichernstraße 2b; welcher Name darauf stand, weiß ich nicht Ich
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Zeugenaussagen über Schlußfolgerungen.
119
erkundigte mich, wo der Besitzer wohnte, wurde in die Weißenburger¬
straße verwiesen. Dort sprach ich mit Herrn Schilling und mietete
von ihm die Wohnung. Ob er davon, er sei Eigentümer des Grund¬
stücks oder vermiete im eigenen Namen, etwas gesagt hat, darüber
kann ich nichts behaupten; ich glaube es nicht.
Mir ist es selbstverständlich egal, von wem ich mein Logis
miete; die Hauptsache ist, daß ich meinen Kontrakt kriege, und das
genügt mir.
11. Kaufmann We.
Ich habe, als ich mietete, keinen Wert darauf gelegt, ob ich von
ihm oder von ihr ermietete. Als ich wegen der Ermietung verhan¬
delte, waren Herr Schilling uud noch eine Dame zugegen und haben
beide das Wort geführt. Von wem von beiden ich nun schließlich
gemietet habe, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen.
Ich glaube nicht, daß Schilling mir bei der Unterredung gesagt
hat, er sei Eigentümer oder vermiete im eigenen Namen 1 ).
In jedem Kopfe malt die Welt sich anders: Die Zeugen 1, 2, 7,
10 hielten sich an das Sinnfällige und sahen den Mann, die Zeugen
3, 4, 5, 9 dagegen ließen der Kombination Baum und sahen die
Frau als Vermieter an, sämtlich auf Grund bloßer Vermutungen und
ohne auch nur gefragt zu haben. Alle diese Zeugen (außer 4)
hatten ausschließlich mit dem Mann verhandelt. Mit beiden Be¬
teiligten verhandelt haben die Zeugen 6 und 11. Der erstere ist der
Sache auf den Grund gegangen und hat durch Befragen festgestellt,
daß das Haus angeblich der Frau gehörte. Der letztgenannte Zeuge
dagegen, der auch bei der Vernehmung eine gewisse Konfusion zeigte,
ist sich über die Frage, von welcher der beiden Personen er denn
nun schließlich gemietet habe, bis heute nicht klar geworden. Das
Bild vollendeter Gleichgültigkeit endlich bietet der Zeuge 8, der Tag
für Tag in die Maschinenfabrik geht und alle häuslichen Angelegen¬
heiten, einschließlich des Wohnungmietens, unbesorgt seiner Frau
überläßt.
Der Vorgang bestätigt aufs neue, welche bedeutende Bolle bei
der Zeugenaussage die Schlußfolgerung spielt, und er zeigt zu¬
gleich, wie diametral entgegengesetzt die Schlüsse sein können, die
aus vollkommen gleichliegenden äußeren Tatbeständen von verschieden
gearteten Personen gezogen werden.
1) Sämtliche Niederschriften sind auf Yorlesen von den Zeugen genehmigt
worden. Auf Vereidung sämtlicher Zeugen haben die Parteien verzichtet.
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III.
Die Prügelstrafe, besonders in sexueller Beziehung.
Von
Medizinalrat Prof. Dr. P. Näoke in Hubertusburg.
Gegen die Prügelstrafe überhaupt, und zwar sowohl bei Kindern
als auch Erwachsenen, hat man 3 Gründe ins Feld geführt Erstens
soll sie den Menschen entwürdigen, zweitens grausam sein, drittens
endlich sexuell erregen. Da die Sache nicht nur hochaktuell ist,
sondern auch tief in die Erziehungsrechte eingreift und z. Z. ferner
noch in gewissen Strafanstalten usw. eine Rolle spielt, so verlohnt es
sich wohl, die Gründe pro und contra näher zu beleuchten. Hierzu
gab mir willkommene Veranlassung eine sehr interessante Studie
von Professor Petermann: „Zur Frage der körperlichen Züchtigung“
in den „Sexual-Problemen“, Juli 1909.
Also erstens soll das Prügeln den Menschen entwürdigen. Fangen
wir zunächst bei den Kindern an. Daß es hier auch einige gibt,
die das als entehrend anseben, ist sicher. Aber eben so sicher ist es,
daß dies nur große Ausnahmen sind, wie jeder, der mit offenen Augen
sieht, bestätigen wird. Auch Petermann betont es speziell. Gewiß
haben auch Kinder „ihren eigenen Ehrenkodex“, der aber meist jene
Prügelstrafe nicht in sich schließt. Das Prügeln unter sich ist ja
bei Jungen sehr gewöhnlich und wird nie als entehrend aufgefaßt.
Dies geschieht meist auch nicht, wenn es von seiten der Eltern oder
Lehrer angewandt wird, vorausgesetzt, daß die Strafe gerecht
war und gewisse Grenzen nicht überschritt. Denn das Kind hat ein
feines Gefühl für Gerechtigkeit und wird eine gerechte Strafe daher
gewöhnlich ohne viel Murren hinnehmen. Ich habe nur sehr selten Leute
gefunden, die ihren Eltern eine Züchtigung nicht verzeihen konnten,
wenn sie gerecht war. Kinder, die sich gegen jedes körperliche
Zuchtmittel aufbäumen, sind in der Regel solche, die das Freiheits¬
gefühl im Superlativ besitzen und auch später die Freiheit in allem
und jedem bis zu den letzten Folgen verkünden und durchfechten
wollen. Ich kenne einige dieser seltenen Exemplare. Also die
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Die Prügelstrafe, besonders in sexueller Beziehung.
121
gerechte Züchtigung, die nicht im Jähzorn oder aus
Roheit geschieht, wird von der Hauptmasse der Kinder
nicht als entehrend angesehen. Ja, viele segnen ihre Eltern und
Lehrer dafür. Auch ich war ein wilder Junge und bekam von meiner
Mutter viele Rutenhiebe, die ich aber wohlverdient hatte, wie ich mir
schon als Junge sagte. Derjenigen Kinder, die nur mit Güte zu
erziehen sind, wird es nicht allzuviele geben und noch weniger derjenigen
Eltern und Lehrer, die diese schwere Kunst verstehen. Die Triebe,
die Instinkte sind beim Kinde eben noch meist zu große, der Ver¬
stand und auch das Gefühl relativ noch zu unentwickelt, als daß ein
bloßer Appell an das Ehrgefühl im allgemeinen genügen sollte. Man
wird selbstverständlich die Prügelstrafe nur als ultimum
refugium betrachten, wenn anderes nicht hilft, dann aber sicher
zugreifen und energisch, ohne jedoch eine gewisse Grenze zu über¬
schreiten. Daher räumen mit Recht alle Behörden den Lehrern ein
gewisses Züchtigungsrecht ein und wenn es bisweilen mißbraucht wird,
man es doch nicht im Prinzip verwerfen oder alle Lehrer alsso soll
Tyrannen hinstellen. Das alte: '0 ny öagelg äv&Qiarcog ov Tzaidevezat
hat seine volle Berechtigung schon in der Schule. Und niemand wird
wohl behaupten wollen, daß die Rutenhiebe, die das spätere Leben
den meisten versetzt, weniger schmerzen als jene in der Schule.
Eine mehr sekundäre Frage ist die nach Art und Ort der Züch¬
tigung. Als geeignetster Ort dürfte allerdings wohl das Gesäß gelten,
weil es relativ am wenigsten sensibel und fern von edlen Teilen
ist, die verletzt werden könnten. Aber auch die flache Hand —
nicht die Fingerspitzen — könnte in Betracht kommen und weniger
Schaden anrichten als eine Ohrfeige, wenn sie besonders stark ver¬
abreicht wird. Meist wird in Familien wohl jetzt noch die Rute aus
Birkenreis gebraucht, in der Schule der Rohrstock, das baculum. Ich
halte jene für ungefährlicher und zugleich für wirksamer, möchte daher
nicht für ihre Verbannung aus der Familie eintreten. Petermann
wünscht, daß die Strafe in der Schule coram publico geschähe, und
zwar als abschreckendes Mittel für die andern. Ich gebe gewiß zu,
daß dies gewöhnlich auch bis zu einem gewissen Grade erreicht
wird, andererseits aber sehr oft den Groll des Geschlagenen hervor¬
ruft, der sich weniger schämt Prügel zu empfangen, als daß dies
vor andern geschieht. Hier wird man also am besten von Fall zu
Fall urteilen und wie beim Züchtigen überhaupt, nie nach
einer Schablone arbeiten.
Anders steht es beim Erwachsenen. Hier ist,' wie man im all¬
gemeinen annimmt, das Ehrgefühl mehr geweckt, die Züchtigung wird
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in. p. näcke
daher normalerweise als Schmach aufgefaßt und das mit Recht.
Andererseits wirkt sie vielleicht weniger abschreckend als bei Kindern,
da ja der Schmerz leichter vertragen wird. Je roher der Mensch ist,
umsoweniger macht er sich aber etwas aus Prügeln, und wenn ihn
Ärger übermannt, so geschieht es gewiß nicht aus Scham und oft weniger
des Schmerzes halber, als weil er einem Stärkeren weichen mußte.
Und für solche rohe Burschen, wie wir sie so oft in den
jugendlichen Verbrechern vor uns sehen, für Roheitsdelikte, wie
sie so häufig besonders in den sogen. Flegeljahren Vorkommen,
sind die Prügel entschieden am Platze und sollten so ver¬
abreicht werden, daß sie einen gehörigen Denkzettel hinterlassen.
Hier hilft kein Appell an das Ehrgefühl, hier kann nur leiblicher
Schmerz helfen. Es ist daher mit Freuden zu begrüßen, daß für
Roheitsdelikte aller Art die Prügelstrafe in Dänemark wieder ein¬
geführt ward, und ich kann es nur als Gefühlsduselei, als humanitäre
Überempfindsamkeit bezeichnen, wenn man die körperliche Züchtigung
hier als unserer jetzigen Kultur widersprechend hinstellt und diese
bösen Buben, welche oft auf dem besten Wege sind, hartgesottene
Sünder zu werden, mit geistlichem Zuspruch und Bibel eines Besseren
belehren will. Hier ist Schmerz das einzig richtige Mittel, meine ich,
und zwar nicht als jus talionis, sondern zur Abschreckung. Hier
wird man natürlich nicht zur Rute greifen, sondern zum festen Stocke,
und die Schläge auf den Hintern applizieren. Aber auch hier muß
keine Schablone gelten, jeder Fall für sich entschieden, und der Arzt
zuvor gehört werden. Die kleine Exekution vor andern vorzunefamen,
hat weniger Zweck als bei Kindern. Von einer gerechten und ma߬
vollen Prügelstrafe hier bis zur Anwendung der Knute ist natürlich
ein weiter Weg. Vor allem wird man in Besserungsanstalten
der Prügel nicht ganz entraten können, doch darf man dies
selbstverständlich nicht dem Gutdünken der Untergebenen überlassen.
Der zweite Einwurf ist der der Grausamkeit, der eigentlich schon
durch das eben Gesagte erledigt erscheint Wenn man keiner Schab¬
lone folgt, von Fall zu Fall entscheidet und nicht ein zulässiges Maß
— das auf keinen Fall einem Untergebenen überlassen werden
darf — überschreitet, so ist von einer grausamen Behandlung
wohl kaum die Rede. Man denkt dabei freilich immer an die
Knute und neunschwänzige Katze, die hier natürlich gar nicht in Frage
kommen dürfen. Bei gesundem Körper ist eine mäßige Zahl von
Stockschlägen auf den relativ weniger empfindlichen Hintern nicht
grausam zu nennen und unter diesen Umständen ist sicher für die
körperliche oder geistige Gesundheit des Betreffenden keinerlei Schaden
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Die Prügelstrafe, besonders in sexueller Beziehung. 123
erwachsen. Wenigstens besinne ich mich nicht, Hierbezügliches je
gelesen oder gehört zu haben. Mancherlei Strafen des Gefäng¬
nisses, z. B. Lattenarrest, Dunkelzelle, Hungerkuren usw.
sind viel grausamer, von den auf Schiffen und leider auch in
den Kasernen oft üblichen gar nicht zu reden. Wenn also die
Prügelstrafe in dem angegebenen Sinne gut angewendet wird, so
kann sie nur heilsam wirken, und es ist ein Unsinn, wenn
manche behaupten, daß Prügeln in den angegebenen
Grenzen demoralisiere. Dies zu beweisen wäre schon aus
der Schule sehr schwer, noch schwerer in den Besserungsanstalten
und Gefängnissen. Was dort demoralisierend wirkt, ist vor allem
das Zusammensperren von schweren Verbrechern mit Anfängern, von
durchtriebenen Jungen mit noch relativ harmlosen usw. Es wird
wohl niemandem einfallen, die Überhandnahme, z. B. der Onanie
hier, die Verbreitung aller Schliche zum Bösen usw. der Prügelstrafe
in die Schuhe zu schieben, und nicht vielmehr der Gemeinsamkeit
oft sehr heterogener Elemente. Solche Anstalten, namentlich die
Zuchthäuser, gelten ja mit Recht als Verbrecherhochschulen. Im
Gefängnisse kann die Prügelstrafe diese Schattenseiten zwar kaum
mildem, auf keinen Fall aber veranlassen. Sie dürfte aber wohl hier
wenigstens Roheitsdelikte innerhalb der Anstaltsmauem mindern, in
Besserangsanstalten dagegen vielleicht gar manchmal auch für das
spätere Leben selbst nützen.
Ernster scheint der dritte Gegengrund zu sein, daß nämlich die
Prügelstrafe sexuell anregen und so den Geprügelten wie auch
eventuell den Prügler und die Zuschauer sexuell pervers machen könne.
Bevor wir dies nun näher untersuchen, verlohnt es sich wohl vorab
zu fragen, wann diese Entdeckungen gemacht worden sind. Da ist
es nun auffallend zu erfahren, daß die Alten diese Folgen nicht
kannten oder kaum ahnten, wohl aber die nates selbst als eratogene
Zone betrachteten. Einem Briefe des hochgelehrten Prof, Petermann
in Dresden (vom 23. Juli 1909) entnehme ich folgende interessante
Stellen: „... Daß die Pygoskopie bei Kulturmenschen (bei den
Griechen natürlich nur in bezug auf Weiber) auf einen schwachen
Wollustakt hinausläuft, beweist schon Strepsiades in den Wolken
des Aristophanes, indem er (mißverständlich) dem Sokrates und seinen
Genossen androhte y.al rag oelävag iav-onelgd-e rag iÖQagl Er wußte
nicht, daß bei der Sterabeobachtung gdgai die „Örter“ des Sternes
bedeutete und verstand das Wort grobsinnlich vom Gesäß der Mond¬
göttin. Daß Weiber schon im Altertum mit dem Hintern kokettierten
(wie neuerdings unsere Modelle und deren Maler in den Kunstaus-
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III. P. Näcke
Stellungen), wissen wir durch die Aphrodite Kallipygos. (Bei den
Knaben galt der Hintere direkt als Wollustorgan).“ Wie jetzt noch
wirkte also damals schon der Anblick schöner nates bei Männlein
und Fräulein eratogen *), bald nur andeutungsweise, bald aber sehr
deutlich und es läßt sich nicht leugnen, daß der Eindruck einer
Statue oder einer gemalten Nacktgestalt sehr an Wert verlieren würde,
wenn etwa das Gesäß atrophisch wäre. Zur Schönheit des Menschen
rechnen wir eben auch ein volles Gesäß; wir werden aber davon, wenn
nicht etwa sexuell hyperästhetisch, kaum geschlechtlich erregt,
wenigstens nicht bewußt. Höher und direkt als sexueller Reiz
dienend wird die Kallipygie in der Form der Steatopygie bei man¬
chen innerafrikanischen Stämmen, besonders bei Hottentotten und
Buschmännerneingeschätzt. Aber von diesem optischen sexuellen
Reize bis zum taktilen, wie er sich im Sadismus und Masochismus
als Flagellation kundgibt, ist ein weiter Weg, und von letzterer batten
die in artibus Veneris so raffinierten Alten kaum eine Vorstellung.
Selbst der Allwisser Martial schweigt hierüber nach der obigen
Studie von Petermann 1 2 ). Letzterer führt vielmehr die erste Notiz
über flagellatorisch erregte libido auf Johann Peter Frank zurück,
der 1780 sein „System einer vollständigen medizinischen Polizey“
herausgab, welches sie enthält. Diese Notiz blieb jedoch unbeachtet,
bis die Welt erst durch den Fall Rousseau darauf aufmerksam ge¬
macht wurde. Und sehr richtig erwähnt Petermann, daß der ab ovo
abnorm veranlagte Rousseau trotzdem nicht durch sein Erlebnis
zum Flagellanten, sondern zum gewöhnlichen Masochisten wurde.
Wenn wir nun der Sache zunächst physiologisch nachgehen, so
ist zuzugeben, daß bei sehr empfindlichen Nerven durch Schläge be¬
sonders umschriebener Art auf die nates, wie etwa durch Rutenhiebe usw.
leicht Erektion zustande kommen, die weiterhin sogar Ejakulation und
1) Bei dem Mandrill und dem weiblichen Rhesusaffen kommen geschwulst¬
artige Verdickung, — vielleicht ein Analogon der menschlichen Steatopygie —
Enthaarung und starke Rötung des Hinterteils als eratogene Zone vor; er schwillt
zur Brunstzeit außerdem sehr an. Siehe Hoffmann: Über die Phylogenie
des menschlichen Haarkleides, Korresp.-Blatt der deutschen Gesellsch. für
Anthropol. etc 1909, p. 58, speziell p. 62.
2) Wenn Bloch in seinem „Das Sexualleben unserer Zeit“ betitelten Buche
auf S. 628 anführt, Petronius habe in seinem Satyrikon die „sehr alte“ Benutzung
der Flagellation zur Beseitigung von Impotenz empfohlen, so ist dies nach
Petermann (1. c. 488) insofern nicht richtig, als dem Impotenten mit Nesseln der
Unterbauch und die Genitalien, nicht aber die nates gepeitscht wurden. Die
Flagellation in sensu strictiori, d. h. die auf das Gesäß scheint den Alten ganz
unbekannt geblieben zu sein.
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Die Prügelstrafe, besonders in sexueller Beziehung.
125
Wollustgefühl auslösen kann. Verlaufen doch die Hautnerven mit den
Nerven der äußeren Geschlechtsorgane im Rückenmarke und schon
vorher sehr nahe bei einander, so daß leicht in den spinalen Ganglien¬
zellen der Reiz der einen auf die anderen Ganglienzellengnippen,
daher auch auf die der Erektion und Ejakulation, überspringt. So
wird also anfangs Schmerz gefühlt, dieser läuft dann aber in Wol¬
lustgefühl aus, das sogar so mächtig sein kann, daß es ersteren über¬
tönt, verdeckt und daß schließlich diese Wollust geradezu aufgesucht
und der Schmerz gern mit in Kauf genommen wird.
Fragen wir nun aber, ob dies oft passiert, so müssen wir es verneinen.
Von den unendlich vielen Jungen, die in der Schule oder zu Hause
Hiebe auf das Gesäß erhielten, wird nur ein ganz verschwindender
Teil aktiv oder passiv Flagellant, d. h. also flagellatorischer Sadist
oder Masochist. Das sind eben dann nervöse, sexuell frühreifen Kinder,
und von diesen wieder werden es nur sehr wenige, wie ich mit Petermann
entschieden behaupte. In meinem großen Bekanntenkreise ist mir
bisher noch kein derartiger Fall begegnet. Auch von den übrigen
Arten von Sadismus und Masochismus dürften nicht viele, wie bei
Rousseau, auf Züchtigung in der Jugend zurückgeführt werden
können. Die Gefahr, daß ein Knabe also durch Prügel¬
strafe später pervers sexuell empfinden und flagellato¬
rischer oder sonstiger Masochist wird, ist eine minimale.
Ein vielerfahrener Schulmann, Prof. Gurlitt, der besonders ein offenes
Auge auch bez. der sexuellen Schädigungen der Schuljahre hat, be¬
tonte dies erst kürzlich seinerseits ausdrücklich. Selbst in einem
so verrotteten Milieu wie in Besserungsanstalten und Gefängnissen
habe ich von dieser Wirkung der Prügelstrafe bisher nichts ver¬
nommen. Und wenn in Bordellen oder privatim Flagellationen öfter
Vorkommen sollen, so sind es wohl meist Rouös, die nun auch diese
Seite des sexuellen Kitzels kosten wollen. Nach den massenhaften
Flagellantenromanen usw. müßte man die Zahl der wirklichen Flagel¬
lanten sehr hoch schätzen, doch sind dies sicher meist nur Gebilde der
Phantasie und die Flagellantenszenen in Wirklichkeit gar nicht so
häufige. Wir können mit ziemlicher Sicherheit annehmen, daß die
meisten Teilnehmer der Flagellationsprozessionen im Mittelalter nur
Suggestionierte, Verführte waren, die weiter keinen sexuellen Kitzel
dabei empfanden oder wenigstens nicht deshalb sich geißelten.
Man hat auch nicht gehört, daß nach diesen Prozessionen diese
spezielle Art des Sadismus und Masochismus häufiger geworden wäre
als vorher. Natürlich können nur solche dazu wirklich
verführt werden oder durch bloße Nachahmung dazu
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III. P. Nacke
kommen, die dazu von Haus aus eine Disposition hatten,
ebenso wie bei der Homosexualität, wo die angeborene Ver¬
anlagung noch stärker ausgeprägt sein muß, sonst vermag hier ins¬
besondere bloße Verführung nichts.
Empfindet nun also ein Abnormer schon gleich oder erst später
bei der Züchtigung auf das Gesäß ein angenehmes Gefühl, das sich
sehr bald znm wollüstigen steigert, so wird er später gewöhnlich
— aber durchaus nicht immer, wie der Fall Rousseau zeigt — zum
masochistischen Flagellanten. Er wird dann nur durch Rutenhiebe
seine volle Potenz erlangen oder gar allein in der Flagellation seine
geschlechtliche Befriedigung finden, was noch perverser ist Diese passive
Art, dieser Masochismus ist der häufigere Fall. Seltener ist
der sadistische Flagellantismus, der aktive, doch kann Aktivität
und Passivität bisweilen verbunden sein, dann vielleicht mehr auf
Kontrastwirkung oder Variationsbedürfnis beruhend, da jede dieser
zwei Arten mehr eine aktive resp. passive Persönlichkeit verlangt,
die die andere eigentlich ausschließt Ein energischer, tatkräftiger
Mensch wird eher Sadist, ein weicher, energieloser mehr Masochist
werden.
Doch kehren wir wieder zur Züchtigung des Kindes zurück.
Hier kann weiter noch der züchtigende Teil, vor allem der Lehrer
— wohl selten bei den Eltern der Fall — daran Gefallen finden und
in ihm vorerst dadurch eine angenehme Empfindung, später ein
direktes Wollustgefühl aus der grausamen Handlung selbst ent¬
springen. Er wird also Sadist werden und zwar in der Form des
sadistischen Flagellanten, der dann jede Gelegenheit wahrnimmt, um
seinen unheimlichen Gelüsten zu fröhnen. So entstehen dann die
Dippolds, die zum Glücke doch immerhin sehr selten sind. Es kann
hier geradezu zum Verbrechen kommen, wie wir es bei Dippold sahen,
der sehr wahrscheinlich ein homosexueller Sadist war, wie ich die
Sache seinerzeit darstellte *). Aber auch bei einem Solchen müssen
wir gewiß eine angeborene Veranlagung dazu a priori fordern, die
ziemlich selten sein muß, da es das Phänomen an sich ist.
Endlich aber können etwaige Zuschauer bei der Züchtigung,
wenn sie dazu beanlagt sind, ein Vergnügen empfinden, das
leicht einen deutlich sexuellen Anstrich bekommt. Es wird nun von
dem Ich der Betreffenden abhängen, ob er ein Sadist oder Masochist
1) Näcke: Forensisch-psychiatrisch-psychologische Randglossen zum Pro¬
zesse Dippold, insbesondere über Sadismus, dies Archiv Bd. 13, worin ich auch
über Prügelstrafe <p. 369) mich schon ausgesprochen habe, wie auch in verschie¬
denen kleineren Mitteilungen.
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Die Prügelstrafe, besonders in sexueller Beziehung. 127
später wird, sei es nun in der Form des Flagellantismus oder einer
andern Betätigung. Es ist aber weiter nicht gesagt, daß der gezüch¬
tigte Knabe, der später passiver Flagellant wurde — bloß aktiver wohl
kaum! — immer bei der Flagellation stehen bleiben und nicht viel¬
leicht einmal es mit einer andern Art des Masochismus versuchen wird,
da auch bei den sexuellen Perversitäten wie bei der normalen libido
das „variatio delectat“ gilt.
Wir haben also gesehen, daß auch die Gefahren der körper¬
lichen Züchtigung in sexueller Hinsicht ganz minimale
sind. Wir sehen demnach keinen Grund ein, warum wir, wenn wir mit
bloßer Güte nicht weiterkommen, das Züchtigungsrecht ganz aufgeben
sollten. Gäbe es ja Menschen, die da behaupten, sie könnten stets
ohne körperliche Züchtigung auskommen, auch bei schlechtem
Materiale, so sind das eben so seltene Ausnahmen, solche Genies,
daß sie für die Allgemeinheit eben nicht in Betracht kommen können,
da sie nur in kleinem Kreise wirken, außerdem auch ihre „Kunst“
nicht gut lehren können, sodaß wir immer wieder nur auf die andern,
weniger genial nach dieser Richtung hin Beanlagten, welche die er¬
drückende Mehrheit der Eltern, Erzieher, Gefängnis* und Anstalts¬
beamten ausmachen, werden zurückkommen müssen und damit auf
die alte Methode der Erziehung, die doch, wie ich glaube, keine so
schlechten Resultate erzielt hat Wir werden aber verlangen,
daß die körperlichen Züchtigungen streng indiziert,
individualisiert und dosiert werden und stets nur die
ultima ratio dar stellen. Damit sind wir, glaube ich, den Gegnern
möglichst entgegengekommen.
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IV.
„Zeugenaussagen“.
Von
Prof. Dr. Buchholz, Hamburg-Friedrichsberg.
Die nachstehenden beiden Vorkommnisse scheinen mir insofern
nicht ohne Interesse zu sein, als sie zeigen, wie leicht unrichtige Beo¬
bachtungen zustande kommen.
Vor einigen Jahren war meine Frau mit unserm damals sechs¬
jährigen Sohne zum Besuch bei ihren Eltern. Eines Tages hatte
der Junge seine Großmutter auf einem Ausgange begleitet und er¬
zählte nach seiner Rückkehr, unterwegs hätte ihm sein Onkel die
Hand gegeben und ihm Grüße an meine Frau aufgetragen.
Meine Schwiegermutter erklärte demgegenüber, daß dies nicht
der Fall gewesen sein könnte, da sie den Jungen an der Hand gehabt,
und niemand mit ihm gesprochen hätte. Auf Vorhaltungen beharrte
der Junge bei seiner Angabe und führte aus, daß der Onkel, während
sich meine Schwiegermutter mit einer Dame unterhalten hätte, mit
ihm gesprochen habe. Meine Schwiegermutter stellte entschieden in
Abrede, überhaupt unterwegs sich mit einer Dame unterhalten zu
haben. Während dieser Diskussion, in welcher mein Schwiegervater,
ein gewiegter Kriminalist, der damals als Untersuchungsrichter fungierte,
sich über die Neigung des Kindes zur Unwahrheit hart ausließ, kam
der Onkel zum Besuch; seine erste Frage war, ob der Junge den
Gruß ausgerichtet hätte.
Das Kind hatte durchaus richtig beobachtet Meine Schwieger¬
mutter hatte, wie ihr, als ihr der Name der Dame genannt wurde,
einfiel, allerdings eine Minute mit einer Bekannten gesprochen, in
welcher Zeit der Onkel meinem Jungen die Hand gegeben und ihm
den Gruß aufgetragen hatte.
Wem wäre Glauben beigemessen worden, dem sechsjährigen Kinde
oder der erfahrenen Frau? Wie wäre es gewesen, wenn es sich
nicht um einen harmlosen Vorgang, sondern um den Alibibeweis eines
Angeschuldigten gehandelt hätte? —
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'Zeugenaussagen“.
129
In einem psychiatrischen Kursus vor Juristen stellte ich einen
Imbezillen vor, der sehr geschickt epileptische Krampfanfälle simulierte.
Ich hatte mit ihm ausgemacht, daß er während der Vorstellung einen
Anfall simulieren sollte. Er sollte meiner Aufforderung entsprechend
zeigen, wie geschickt er als Rekommandeur — Ausrufer vor Jahr¬
marktsbuden — aufgetreten sei, und dann einen Anfall bekommen.
Um recht gewandt agieren zu können, zog der Imbezille, als er sich
anschickte, als Rekommandeur aufzutreten, seine Jacke aus und warf
sie in eine etwa 5 Schritt von seinem Platze entfernte Zimmerecke.
Zirka 5 Minuten darauf brach er, während er mit Stentorstimme und
unter lebhaften Gestikulationen die Herrlichkeiten seiner Ja.hr markts-
bude pries, in einem Anfall zusammen. Er demonstrierte auf das beste
die Symptome des epileptischen Anfalles, wodurch bei den Zuhörern,
die auf den Ausbruch eines derartigen Anfalles nicht gefaßt waren,
einige Unruhe entstand. Um die Täuschung recht glaubhaft zu machen,
ging ich, als der Kranke in seinen Zuckungen mit dem Kopfe heftig
auf den Fußboden aufschlug, in die Ecke, holte die Jacke und legte
sie dem Kranken unter den Kopf. Bald darauf rief ich dem Kranken
zu, jetzt sei es genug, er möchte aufstehen, worauf er aufsprang und
ich den Herren erklärte, daß sie einen simulierten Anfall gesehen
hätten. Etwas siegesbewußt, warf sofort einer der Herren Staats¬
anwälte, der in der ersten Reihe also höchstens l */2 Meter von dem
Kranken entfernt gesessen hatte, ein, daß die Simulation sofort zu er¬
kennen gewesen wäre, hätte sich doch der Kranke vorher die Jacke
so liingelegt, daß er beim Hinfallen mit dem Kopfe auf sie zu liegen
kommen mußte. Er war erstaunt, als nicht nur sofort ich, sondern
auch einige der anderen Zuhörer ihn auf die Unrichtigkeit seiner
Beobachtung aufmerksam machten.
Archiv für Kriminalanthropologie. 35. Bd.
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y.
Ein Verbrecherpaar.
Mitgeteilt von
Dr. Anton Glos, kk. Staatsanwaltsubstitut in Olmülz, Mähren.
Die mährische Wallachei ist ein interessantes Gebiet Ostmäbrens;
die schönen Gebirgsformationen locken Touristen an, der Ethnograph
findet hier geradezu eine Fundgrube für dankenswerte Studien, in
nationalökonomischer Hinsicht bietet dieser Strich insbesondere des¬
halb Beachtung, weil hier noch primitive Formen des wirtschaftlichen
Lebens neben schon komplizierteren bestehen, so daß diesem Teile
noch der einheitliche Charakter mangelt Die Bevölkerung, insbe¬
sondere in den Dorfgemeinden, die sich oft stundenlang in das Ge¬
birge hinzieben, ist häufig noch im Banne mythischer und mystischer
Anschauungen, und nur langsam ringt sie sich zu neuen Formen
des sozialen Lebens empor ; sie hat eine schwere Vergangenheit hinter
sich, denn das Land hat in vergangenen Jahrhunderten viel unter
feindlichen Einfällen gelitten, hierdurch als auch durch die Gegen¬
reformation wurde dieser Landteil auch stark entvölkert
Aber auch der Kriminalist kommt hier auf seine Rechnung, denn
gerade solche noch nicht ausgeprägte Gebiete eignen sich besonders
für kriminalistische Einzelstudien, die sich auf ein geographisch um¬
grenztes Gebiet beschränken, das neben dem Typenhaften auch Einzel¬
heiten aufweist. Nicht unerwähnt mag bleiben, daß die Bevölkerung
auch in dem nahen mächtig aufstrebenden Industrieorte Mähr. Ostrau,
dessen Kriminalität, nebenbei erwähnt, eine hervorragende und höchst
belehrende ist, nach Erwerb sucht Leider zehrt der Alkoholismus
stark an der Lebenskraft des sonst gesunden durch Naturverstand
sich kennzeichnenden slavischen Volksschlages, in dem man seinerzeit
rumänische Elemente finden zu können geglaubt hat.
Bis tief in das 18. Jahrhundert herrschte hier insbesondere nach
den Drangsalen des 30 jährigen Krieges ein Räuber- und Banden¬
unwesen, einige Räubergestalten dieses Landteiles und des nahen
Ostschlesiens wurden als Nationalhelden im Volke nach Art italie¬
nischer Banditen gefeiert; man steuerte diesem Unwesen durch Auf-
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Ein Verbrecherpaar.
131
Stellung eines eigenen Sicherheitskorps, das zumeist aus den orts¬
kundigen Landbewohnern bestand, und welches so der Vorläufer der
Gendarmerie ward. Das heutige Bild dieses Landstriches ist in krimi¬
neller Beziehung freilich ein anderes, es hat keine Räuber und Ein¬
brecherbanden, eher sind solche im Gebiete von Mähr. Ostrau ab und zu
zu finden; freilich fehlt auch hier schon der romantische Beigeschmack,
der seinerzeit solche Banden charakterisierte: vorherrschend sind
Holz- und Wilddiebstahl, falsches Zeugnis, Versicherungsbetrug mit
fein durchdachtem Alibibeweis bei Brandlegung an eigener Sache,
gefährliche Drohungen, Straftaten gegen Leib und Leben, insbesondere
Mord und Totschlag, gar häufig ist der Gattenmord, wobei oft mit
Gift (Arsen) gearbeitet wird, das von Glashüttenarbeitern leicht zu
beschaffen ist; auch lästige Ausgedinger werden ab und zu auf diese
tückische Weise beseitigt. Raubmord ist eine Seltenheit; denn der
landfahrende Stromer oder der gefährliche Verbrecher meidet diesen
mehr ärmlichen Landstrich, die ansässige Bevölkerung hat solche
gefährliche Individuen nicht in ihrer Mitte, die Diebstähle gehen
über den Charakter des Gelegenheitsdiebstabls nicht hinaus.
Ebendeshalb erachte ich den vorliegenden Fall für interessant
und lehrreich umsomehr, als man hier die Genesis des verbrecherischen
Gedankens genau verfolgen kann. Wenn man die Psychologie des
Verbrechers heute intensiv studiert, glaube ich, daß es geradezu not¬
wendig ist, die innere Entstehungsgeschichte des konkreten Ver¬
brechens womöglich aufzudecken und zu beleuchten, hier soll
insbesondere meines Erachtens auch die Voruntersuchung tiefer ein-
greifen, insbesondere bei Kapitalverbrechen. Mord liegt ja vor, wenn
der Täter den Tod eines Menschen geradezu bedacht und be¬
schlossen hat (Stoos, Lehrbuch des österr. Strafrechts, S. 240).
Hierdurch wird auf die Genesis des verbrecherischen Gedankens und
Entschlusses als essentielle Vorbedingung hingewiesen.
Im vorliegenden Falle handelt es sich um einen Doppelraubmord,
dem in der Nacht vom 9. zum 10. Mai 1904 zwei alte vereinsamt
lebende Leute zum Opfer fielen, die vor Jahren nach den Vereinigten
Staaten von Nordamerika ausgewandert waren, und dann mit einem
für ihre Verhältnisse namhaften Vermögen in ihre alte Heimat wieder¬
kehrten. Nach 3 Jahren entschlossen sie sich, neuerlich auszuwandem,
behoben ihre Spareinlagen, realisierten ihren Besitz und rüsteten sich
zur Fahrt nach der neuen Heimat.
Sie bewohnten in einem langgezogenen Gebirgstale in H. ein
einsames Häuschen am Fuße eines Berges; hoch oben arbeiteten
gerade zur kritischen Zeit zwei 23jährige Bauernsöhne an einer
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132
V. A. Glos
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Sennhütte, die des abends nach Feierabend heimgingen, und hie und
da auch bei den alten Amerikanern, wie man sie im Dorfe nannte,
einkehrten. Die einsame Arbeit auf dem Berg, ihr eigenes schweres
Los verglichen mit dem sorgenlosen, beschaulichen Leben der alten
Auswanderer, die ihre Zukunft gesichert batten, das weckte in
ihnen bald den Gedanken, sie um das Geld zu bestehlen; der Dieb¬
stahl selbst erschien ihnen ethisch wenig oder gar nicht verwerflich,
sie hörten auch auf Stimmen nachbarlicher Mißgunst, die oft dahin¬
gingen, man sollte den alten Leuten ihr Geld nehmen. Der Gedanke
tauchte zuerst in M. auf, V. zeigte sich nicht sofort gefügig, darauf
einzugehen, aber das Gespräch kam in den einsamen Arbeitsstunden
immer und immer wieder auf das Thema zurück, bis sie beide zuletzt
beschlossen, die Tat zu wagen. Aber vom Diebstahl zum Mord führt
oft eine kleine Brücke: anfangs dachten sie nur an Diebstahl, denn
der Mord erschien ihnen als eine Sünde, die Furcht, es könnte aber,
wenn sie es beim Diebstahl bewenden lassen, ihre Täterschaft nicht
im Verborgenen bleiben, führte sie auf den Gedanken des Mordes;
die Bedenken des V., es sei doch eine schwere Sünde, zerstreute M.
damit, daß sie dann wallfahren, beichten und so Vergebung der
Sünden erreichen werden. Damit beschwichtigte nun auch V. die
Stimme seines Gewissens, er ebnete sich so den Weg zum Verbrechen
und erlangte anscheinend sein moralisches Gleichgewicht, das infolge
religiöser Bedenken ins Schwanken geraten war. Wiewohl beide
unbescholten und nicht welterfahren waren, bekundeten sie sich bei
Ausführung der Tat wie erfahrene Verbrecher, man kann ja sagen,
daß beinahe in jedem Menschen ein latentes Verbrechergenie steckt,
das zu seiner Betätigung nur eines äußeren Impulses bedarf. Sie
kundschafteten alle Verhältnisse genau aus, orientierten sich über die
Art und Handhabung der Haussperre, unternahmen geradezu eine
Vorübung zur Tat, drangen sodann zur Nachtzeit in das Haus
ein und erschlugen die alten Leute mit Holzkeulen, die sie zum
Holzmachen verwendeten, sie hatten sie bereits früher iu die Nähe
des Tatortes beschafft, eine andere sicherere Waffe hätten sie sich
nicht leicht besorgen können. Nach verübter Tat raubten sie einen
Koffer, in welchem die Auswanderer ihr Geld aufbewahrten, öffneten
ihn aber erst im Walde und versteckten eine Stunde weit vom Tat¬
orte das geraubte Geld, während sie eine Uhr bei der Sennhütte
vergruben. Ein kleiner Umstand wies aber sofort auf sie als die
Täter hin; sie schlugen mit ihren Keulen derart wuchtig auf ihre
Opfer ein, daß man an der weißgetünchten Zimmerdecke Spuren von
Holzkohle fand, die von einer angebrannten Holzkeule herrührten,
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Ein Verbrecherpaar.
133
was sofort den Verdacht gegen beide erregte, da man wußte, daß sie
auf dem Berge sogenannte Holzschindeln verfertigten, wozu eben
solche Keulen benötigt werden; man fand auch beide Keulen im
Walde, eine war tatsächlich angebrannt, während die Keulen bei der
Sennhütte fehlten.
Die Täter fand man einige Stunden nach der Tat in der Nähe
der Sennhütte im tiefen Schlafe; sie hatten ja für einen Alibi¬
beweis noch in der Nacht gesorgt, und da einer von ihnen bei der
Tat zufällig vom Komplizen mit der Keule getroffen und verletzt
wurde, unterließen sie es nicht, sich auch hierfür eine unverfängliche
Erklärung zurechtzumachen und Beweise in Bereitschaft zu stellen.
Sie fühlten sich vollkommen sicher und leugneten anfangs, erst als
ihnen das Gräßliche ihrer Tat deutlicher zum Bewußtsein kam, legten
sie ein umfassendes, V. auch ein reumütiges Geständnis ab; nur M.
wollte, als beide einbekannten, über 5000 Kronen geraubt zu haben,
den Versteck des Geldes nicht nennen, indem er, um die Beute zu
retten, falsche Angaben machte, so daß das Geld im Wege der Haus¬
suchung gesucht werden mußte und auf Grund einiger Angaben des
V., der mit dem Versteck jedoch genau vertraut war, gefunden wurde.
M. bedauerte auch später, daß beide wegen einer „solchen Kleinig¬
keit eingegangen sind“, wahrscheinlich meinte er, daß sie ihren Plan
nicht zu Ende führten, denn sie beabsichtigten beide Ermordete noch
in der Nacht im Gebirge zu begraben; aus Freude über die große
Beute unterließen sie es, die Spuren des Verbrechens besser zu vor-
nichten.
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VI.
Von dem internationalen Kongress für angewandte
Photographie in Dresden 1909.
Vom
Polizeipräsidenten Köttig in Dresden.
Vom 11.—15. Juli dieses Jahres fand in Dresden aus Anlaß der
internationalen Photographischen Ausstellung ein internationaler Kon¬
greß für angewandte Photographie in Wissenschaft und Technik statt,
dessen einer Nachmittag Vorträgen über Verwendung der Photographie
auf kriminalistischem Gebiete gewidmet war.
Es sprach zunächst Professor Beiß (Lausanne) über die An¬
wendung der Photographie im Dienste der Gerichte und der Polizei.
Hieran knüpfte der Verfasser dieser Abhandlung einige Worte über
die neue kriminalistische Üniversal-Eeise-Kamera Bertillons und
deren Anwendungsmöglichkeiten auf allen Gebieten der kriminalistischen
Photographie, worauf zum Schlüsse Dr. W. Urban (München) das
von ihm konstruierte Universal-Reproduktionsgestell für Laboratoriums-
Arbeiten in Lichtbildern vorführte und verschiedene Beiträge zur
forensischen Photographie brachte.
Da der Inhalt der Vorträge für die Leser dieser Zeitschrift von
Interesse sein dürfte, so sei im Folgenden ein Referat darüber ge¬
geben.
Professor Dr. Reiß, Lausanne, ein besonders fesselnder und
gewandter Redner, führte in französischer Sprache ungefähr folgen¬
des aus:
Verhältnismäßig lange habe es gedauert, bis die heute in allen
Wissenschaften und Industrien als Hilfsmittel gebrauchte Photographie
sich Eingang in die praktische Rechtswissenschaft oder besser die
Kriminalistik verschafft habe. Diese letztere habe sich der Photo¬
graphie gegenüber bis vor kurzem noch recht ablehnend verhalten.
Und doch könne gerade die Kriminalistik die Photographie in über¬
aus reichem Maße für ihre Dienste verwenden, ja in vielen Fällen
ermögliche dem Richter die Photographie allein, die Wahrheit zu er-
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Von dem intemat. Kongreß für angewandte Photographie in Dresden 1909. 135
kennen. Man könne heute ohne Übertreibung sagen, daß die Photo¬
graphie eines der wichtigsten Hilfsmittel des Untersuchungsrichters
und der Polizei geworden sei.
Gewöhnlich bezeichnet man als Einführungsdatum der Photo¬
graphie in die Gerichtspraxis die letzten 20 Jahre des verflossenen
Jahrhunderts. Wirklich hat auch die Gerichtsphotographie in den
letzten 15 Jahren des 19. Jahrhunderts, namentlich durch die schöne,
photographische Methode der signaletischen Photographie von A. Ber-
tillon, einen ganz bedeutenden Aufschwung genommen, ohne je¬
doch überall in dem Maße verwendet zu werden, wie es ihren Ver¬
diensten nach möglich wäre.
Die älteste Anwendung der Photographie zur Entdeckung der
Wahrheit in Gerichtssachen dürfte wohl die im „Journal des
Tribunaux‘* (Lausanne) im Jahre 1854 erwähnte Affäre sein. In
diesem Dokument wird unter dem Titel „Nouveau moyen d’enquöte“
erzählt, daß im Laufe der Jahre 1853 und 1854 in Lausanne eine
Reihe Diebstähle verübt wurde, deren Urheber man nur sehr schwer
fassen konnte. Unter der schließlich vollzählig gefangenen Diebes¬
bande befand sich unter den aktiven Dieben und den Hehlern ein
Individuum, dessen Namen und Abstammung der Richter mit dem
besten Willen nicht ausfindig machen konnte. Der Richter kam nun
auf die Idee, den Unbekannten mittels der Daguerreotypie in mehreren
Exemplaren photographieren und diese letzteren bei den Polizeibe¬
hörden der verschiedenen Kantone und bei den der benachbarten
Staaten zirkulieren zu lassen. Er versprach sich nur einen geringen
Erfolg von dieser neuen Maßregel. Sehr erstaunt war er, als die
Nachricht kam, daß das Porträt in einem kleinen Orte des Gro߬
herzogtums Baden, in dem der Verdächtige aufgewachsen war, er¬
kannt worden war. Jetzt war es nun ein Leichtes, in den verschie¬
denen Strafanstalten usw. näheres überden Angeschuldigten zu erfahren.
Später wurde das photographische Porträt, namentlich nach Einfüh¬
rung der lichtempfindlichen Papiere, öfter zu Identifizierungszwecken
verwendet. Solche Verbrecherporträts wurden von den Polizeibehörden
angefertigt, um nach Entlassung des Verbrechers aus der Strafanstalt
immer dessen Photographie für neue Fahndungen oder zur Identifi¬
kation zu besitzen und eventuell sie an andere Polizeibehörden ver¬
schicken zu können. Nach und nach zog man die Photographie
immer mehr zur Festhaltung der Verbrecherphysiognomien zu und so
bildeten sich allmählich die sogenannten „Verbrecheralbums“ heraus,
in denen die Photographien einheitliches Format, Stellung des Photo¬
graphierten usw. besitzen.
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136
VI. Köttig
Wann wurde nun die Photographie zum erstenmale zur Entdeckung
des Unsichtbaren, z. B. bei Schriftfälschungen durch Radieren etc.
benutzt? Genaue Daten hierüber liegen nicht vor, jedoch glaubte
Vortragender nicht fehl zu gehen, wenn er vereinzelte Versuche schon
anfangs der siebziger, ja Ende der sechziger Jahre verfolgt Er be¬
sitzt nämlich in seiner Sammlung die Photographie eines offenbar ge¬
fälschten Schriftstückes, aus dem Jahre 1869 oder 1870, auf dem
man ganz deutlich neben der letzten Schrift Spuren einer alten aus¬
radierten Schrift sieht. Leider konnte nichts Näheres über diese sehr
interessante Photographie ermittelt werden, jedoch läßt das ganze
Dokument darauf schließen, daß es für den Gerichtsbrauch angefertigt
worden war. War es nun ein geglückter Versuch, den verschwun¬
denen Text wieder leserlich zu machen, oder ein bloßes photographisches
Duplikat des Dokumentes, bei dem ohne Wollen des Verfertigers
Teile des ursprünglichen Textes zum Vorschein kamen, hierüber hat
Vortragender etwas nicht feststellen können. Jedenfalls wurde die
Photographie schon vorher dazu benutzt, Schriftstücke zu Gerichts¬
zwecken zu vervielfältigen. Aus dem Jahre 1869 datiert auch die
immer noch, zur sauren Gurkenzeit, in den Tagesblättern spukende
Ente von der Photographie des Mörders im Auge des Ermordeten.
Die richtige photographische Schriftexpertise datiert aus den
letzten 20 Jahren des 19. Jahrhunderts. Dank den Arbeiten von
Bertillon, Dennstedt, Schöpf, Voigtländer, Popp, Jeserich, Minovici,
Burinsky, Beiß usw. besitzen wir heute photographische Methoden für
Schriftexpertise, die wohl in den meisten Fällen von Fälschungen
gute Resultate ergeben und die weit sicherer als die rein chemischen
Methoden sind. Auch der Gebrauch des photographischen Apparates
zur Fixierung des Tatortbefundes ist nicht neu. So wurde z. B.
schon im Jahre 1867 gelegentlich eines Doppelmordes in der Nähe
von Lausanne, die photographische Aufnahme des Tatortes an¬
geordnet
Im Jahre 1882 gründete endlich A. Bertillon den seither welt¬
berühmt gewordenen Erkennungsdienst der Pariser Polizeipräfektur
(Service de l’identitö judiciaire de la prefecture de police), in dem er
seine so außerordentlich exakten und doch einfachen Identifikations¬
methoden anwendete, bei denen, wie bekannt, auch die Photographie
eine hervorragende Rolle spielt. In den Laboratorien dieses Er¬
kennungsdienstes, der heute ungefähr 1,000,000 Meßkarten mit Profil¬
und En-face-Photographie enthält, hat Bertillon seine Methoden
mehr und mehr vervollkommnet und auch seinen ingeniösen metri¬
schen Apparat für Aufnahmen auf dem Tatorte, sowie seine D. K. V.,
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Von dem internat. Kongreß für angewandte Photographie in Dresden 1909. 137
d. h. Tausende von Porträts enthaltende Albums, in denen man leicht
mit Hilfe des „Portrait parle“ ein gegebenes Individuum herausfindet,
ausgearbeitet. Andere Städte folgten dem Beispiel von Paris und
gründeten photographische Ateliers und Laboratorien für die Polizei
und den Gerichtsdienst, so Chicago schon im Jahre 1885, Berlin,
Wien, Dresden, Hamburg usw. In allen diesen Städten wurden neben
dem eigentlichen Erkennungsdienst (meist nach den Methoden Ber-
tillons) auch Aufnahmen auf dem Tatorte, Photographien von Wunden,
Spuren usw. wie in Paris gemacht. Man kann, ohne Übertreibung,
sagen, daß A. Bertillon der Vater unserer heutigen gerichtlichen
Photographien ist.
Untersucht man nun kurz den Gebrauch der Photographie in
den polizeilichen und gerichtlichen Untersuchungen, so kann man
heute folgende Anwendungen feststellen:
A. Anwendung der Photographie auf dem Tatorte:
1. Die Photographie gibt alles unverfälscht wieder, was auf dem
Tatorte zu sehen war. Sie dient dem Untersuchungsbeamten dazu,
sich jederzeit wieder das Bild des Tatortes vor Augen führen zu
können: „c’est la memoire artificielle du magistrat enquöteur!“ Dazu
kommt noch, daß er oft nachträglich auf den Bildern kleine, jedoch
für die Untersuchung wichtige Details entdecken kann, die ihm bei
der Besichtigung des Tatortes entgingen (Affäre Steinheil).
2. Die auf dem Tatorte aufgenommenen Photographien dienen
zur Demonstration bei den Gerichtsverhandlungen. Erst vor kurzem
wurde in Dresden zum erstenmale der photographische Projektions¬
apparat im Gericbtssaale zur Demonstration verwendet x ). Die Richter,
Geschworenen usw. können sich ein viel besseres Bild von dem Vor¬
gänge während der Tat machen, wenn sie die Aussagen der Zeugen,
Protokolle usw. auf guten Photographien verfolgen können. Ihre Ar¬
beit wird hierdurch erleichtert und ihr Urteil gewinnt an Richtigkeit.
Dem Unschuldigen können solche Tatortsphotographien auch als Ent¬
lastung dienen.
3. Gut ausgeführte Photographien des Tatortes (z. B. die Lage
der Leiche bei Mord) können auch einen psychologischen Einfluß, sei
es auf den Angeklagten selbst, sei es auf den Richter ausüben. Ein
solches Bild wirkt oft mehr als das längste Plaidoyer des Staatsan¬
waltes. Diese, im übrigen ziemlich nebensächliche Rolle der Photo-
1) Zuerst erwähnt und empfohlen vor 15 Jahren im „Handbuch für Unter¬
suchungsrichter“ vou Prof. Dr. Hans Groß (2. Aufl., 1S94, p. 214).
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138
VI. Köttig
graphie wurde von gewissen zu humanitären Stellen, die den Mörder
immer viel mehr bedauern als sein Opfer, angefochten. „Man hat
kein Recht, die Lage des Angeschuldigten durch Vorzeigen solcher,
auf Empfindliche stark wirkende Photographien noch zu verschlim¬
mern“ behaupten diese. Vortragender ist hierüber ganz anderer An¬
sicht und glaubt, daß die Anklage nicht nur das Recht, sondern auch
die Pflicht hat, das Gericht und die Geschworenen über die Tat und
selbst über die Scheußlichkeit der Tat vollständig aufzuklären. Es
handelt sich hier nicht nm eine Effekthascherei, sondern um eine
Aufklärung, die jeder Geschworene das Recht hat, zu verlangen.
Wenn hierdurch manchmal das Urteil etwas schärfer ausfällt, so kann
dies nur dem Schutze der Gesellschaft zugute kommen, da heutzu¬
tage sehr viele Urteile in ihrer Humanität wirklich zu weit gehen,
und gewisse Geschworenengerichte aus Prinzip alle Mörder aus Leiden¬
schaft (criminels passioneis) freisprechen!
4. Die Photographie dient schließlich dazu, auf dem Tatorte
kleine, nicht transportable Details, wie Fußspuren, Fingerabdrücke,
Blutspuren, die später zur Erkennung des Täters führen können, zu
fixieren. Namentlich die Fingerabdrücke, die oft dem Auge fast un¬
sichtbar sind und erst durch photographische Methoden sichtbar ge¬
macht werden müssen, spielen heutzutage bei der Ermittlung der Ver¬
brecher, wie ja bekannt ist, eine große Rolle.
B. Anwendung der Photographie zur Erkennung
von Leichen:
Leichen werden bekanntlich, namentlich wenn sie schon einige
Tage gelegen haben, oft selbst von den nächsten Angehörigen nur
schwer wiedererkannt. Die Schwierigkeit des Erkennens kommt da¬
her, daß der Ausdruck der Augen (durch Eintrocknen) und die Ge¬
sichtsfarbe fehlen. Bei Wasserleichen kommt noch das Auftreiben
des Kopfes und des Körpers dazu. Professor Goß, Genf, hatte im
Jahre 1896 vorgeschlagen, in die Augen der Leichen Glyzerinein¬
spritzungen zu machen, um die verdunstete Augenflüssigkeit wieder
zu ersetzen. Vortragender hat das Goßsche Verfahren, das sich nur
auf die Augen beschränkte, vereinfacht und verbessert dadurch, daß
er unbekannte Leichen durch Einspritzung von Glyzerin in die Augen,
Einspritzung von Vaseline in die Lippen und Anmalen der Lippen
(ev. der Backen) mit Zinnober für die Herstellung von Photographien
zu Erkennungszwecken vorbereitet resp. „revivifiziert“. Ganz alte
Wasserleichen bereitet er durch Einreiben mit Talg für die Photo¬
graphie vor. Minovici, Bukarest, setzt den Leichen Glasaugen ein.
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Von dem internat. Kongreß für angewandte Photographie in Dresden 1909. 139
Für Wasserleichen hat er das Eintalgungsverfabren des Vortragenden
adoptiert.
C. Anwendung der Photographie zur Entdeckung von den»
Auge unsichtbaren Details.
Es ist bekannt, daß die photographische Platte viel empfindlicher
für gewisse Farbenunterschiede ist als unser Auge. Hierauf beruht
das Prinzip der Anwendung der Photographie zur Entdeckung von
dem Auge unsichtbaren Details. Die Unterscheidung der Nüancen
durch die photographische Platte wird noch erhöht durch die An¬
wendung von bestimmten Aufnahmemethoden (verschieden gefärbte
Lichtfilter, monochromatische Lichtquellen usw.). Solche photogra¬
phische Analysierungsmethoden sind außerordentlich empfindlich und
zeigen selbst da noch sehr deutlich Farbenunterschiede, wo solche
selbst mit dem besten Mikroskop oder der Lupe nicht zu entdecken
waren.
Durch die Photographie können z. B. dem Auge unsichtbare
Ekcbymosen auf dem Körper Ermordeter, Blutflecken auf gewaschenen
Tüchern und Kleidung, Fingerabdrücke auf Glas, Papier, Metall usw.
sichtbar gemacht werden. Auch dient die Photographie zur Wieder¬
herstellung und Sichtbarmachung von Zeichnungen auf abgeschliffenen
Lichtdrucksteinen (bei Banknotenfälschung), Rekonstruierung des
Textes auf verbrannten Dokumenten, bei Brieferbrechung, zur Rekon¬
struierung von verschwundenen Drucken auf dem Schutzpapier usw.
Hierher gehört auch die Anwendung der Photographie zur Ent¬
deckung von Fälschungen an Schriftstücken, bei Briefmarken¬
waschungen, falschen Stempeln usw. Auch die Handschriftenver¬
gleichung kann ohne photographische Vergrößerungen nicht mehr
auskommen.
D. Anwendung der Phothographie zur Identifizierung von
Verbrechern.
Die Anwendung der Photographie zur Identifizierung, die sog.
„Bertillonage“ ist heutzutage allgemein bekannt und es ist nicht mehr
nötig, auf ihre Wichtigkeit im Polizei- und Gerichtsdienst besonders
aufmerksam zu machen. Allerdings erfüllt die signaletische Photo¬
graphie nur dann vollauf ihren Zweck, wenn der sie gebrauchende
Beamte mit dem Bertillonschen „Portrait parlö“ vertraut ist. Nur durch
das „Portrait pari6“ war es möglich, die schon oben erwähnten D.
K. V. Albums herzustellen. Redner bedauert, daß die Photographie,
trotzdem ihre Wichtigkeit für den Kriminaldienst längst anerkannt
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140
VI. Köttig
sei, noch immer nicht genügend angewendet werde. Es wäre doch
sehr zu wünschen, wenn von Juristen- und Kriminalkreisen, ebenso
von den Regierungen mehr hierfür getan würde, da oft der photo¬
graphische Apparat allein imstande ist, die Wahrheit zutage zu
fördern. Wie wichtig wäre es z. B. in dem so eigentümlichen Falle
Hau gewesen, sofort den Tatort mit allen Einzelheiten (Blutspuren!)
zu photographieren.
Zum Schlüsse führt Vortragender noch aus, daß die photo¬
graphischen Gerichtsexperten nicht allein photographische Kenntnisse,
sondern auch eine ganze Reihe Spezialkenntnisse besitzen müssen,
die nur durch eine besondere Ausbildung zu erlangen seien, wenn
anders der naturwissenschaftlich-kriminalistische Photograph und Sach¬
verständige seine Aufgabe, das Bindeglied zwischen Polizeibearaten
und Untersuchungsrichter zu sein, wirklich erfüllen solle. Es ist un¬
klug, ja sogar höchst gefährlich, einen beliebigen, guten Berufs- oder
Amateurphotographen mit derartigen Arbeiten zu betrauen. Solche
Arbeiten müssen von Spezialisten ausgeführt werden, die neben einer
gründlichen wissenschaftlichen Ausbildung auch praktische Kriminal¬
praxis besitzen.
Vortragender hat den ersten Universitätslehrstuhl für wissenschaft¬
liche Polizei, die die forensische Photographie einschließt, an der
Universität Lausanne inne. Hier bildet er neben der Anleitung, die
er den zukünftigen Untersuchungsrichtern, Advokaten, Gerichtsärzten
usw. in einem wöchentlich dreistündigen Kolleg (mit wöchentlich zwei¬
stündigen praktischen Übungen) über Kriminalistik und praktische
Verbrecherkenntnis gibt, Spezialisten aus, die später bei den ver¬
schiedenen Polizei- und Gerichtsbehörden als Sachverständige usw.
wirken werden.
Die Ausbildung dieser Spezialisten ist neuerdings an der Uni¬
versität Lausanne durch ein Reglement fixiert worden; sie schließt
nach 3 x j% bis 4 jähriger Studienzeit durch ein Examen, das durch ein
Diplom bestätigt wird.
Vortragender illustriert seine Auslassungen durch eine große An¬
zahl seiner eigenen Praxis entnommenen Lichtbilder.
Im Anschlüsse an diesen Vortrag sprach Verfasser dieser Ab¬
handlung über die neue von Bertilion in Paris konstruierte krimina¬
listische Universal-Reise-Kamera. Die Photographie finde leider, wie
bereits Professor Reiß erwähnt habe, noch nicht überall diejenige
allgemeine Anwendung, welche ihr im Interesse der Sache zu wünschen
sei. Ihre Verbreitung beschränke sich vielmehr in der Hauptsache
auf die Kriminalbehörden der größeren Städte, während auf dem
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Von dem intemat. Kongreß für angewandte Photographie in Dresden 1909. 141
platten Lande und in den kleineren Städten ihre Anwendung zumeist
auf Schwierigkeiten stoße. Der Grund hierfür liegt nach Ansicht des
Redners einmal in dem hohen Preise, welcher für die zu den
verschiedenen Aufnahmen bisher erforderlichen Spezial-Apparate an¬
zulegen war und kleineren Behörden und Gemeinden die Anschaffung
derselben geradezu zur Unmöglichkeit machte und zum andern in der
Schwierigkeit des Transportes und der komplizierten
Handhabung der verschiedenen großen Apparate.
Alphonse Bertilion, dem schon so viel auf dem Gebiete der
kriminalistischen Photographie zu verdanken ist, hat diese Schwierig¬
keiten sehr wohl erkannt und es ist ihm gelungen, einen photo¬
graphischen Apparat zu konstruieren, welcher es gestattet, alle auf
den verschiedenen Spezialgebieten der kriminalistischen Photographie
vorkommenden Aufnahmen bequem zu bewirken, welcher leicht trans¬
portabel ist und dabei alle die Vorteile in sich vereinigt, welche die
Spezial-Apparate der großen polizeilichen Ateliers besitzen.
Die französische Regierung hat die Vorteile dieses Apparates
sofort erkannt und ihn nicht nur den Polizeibehörden des Landes
zur Anschaffung empfohlen, sondern insbesondere auch die Beamten
der im vorigen Jahre ins Leben gerufenen über das ganze Land ver¬
breiteten mobilen Brigaden der Kriminalpolizei mit diesem Apparate
ausgerüstet und mit demselben sehr schöne Erfolge erzielt.
Die Firma Heinrich Ernemann, Aktiengesellschaft für Kamera¬
fabrikation vormals Ernst Herbst u. Firl in Görlitz (Schlesien), hat
auf Anregung des Redners hin sich mit dem Bau derartiger Kameras
für das Deutsche Reich befaßt und hat sie als Kriminal-Ausrüstung
„Globus II“ in den Handel gebracht. Die Firma hat auch in
ihrem Spezial-Katalog über Kriminalausrüstungen für gerichtliche
Photographie, betitelt: „Die Photographie im Dienste der Kriminalistik“
eine kurz gefaßte, sehr übersichtliche Abhandlung über die Einrichtung
und Anwendungsmöglichkeiten dieser Kamera, insbesondere auf dem
Gebiete der metrischen Photographie, aufgenömmen.
Der Redner ließ dieses Schriftchen, das unentgeltlich von der
obengenannten Firma bezogen werden kann, zur Verteilung bringen
und gab dadurch seinen Zuhörern die Möglichkeit, über die Ein¬
richtung und Anwendungsmöglichkeiten sich eingehend zu informieren.
Der Apparat läßt sich als kriminalistische Universal¬
kamera bezeichnen, indem derselbe alle Anwendungsarten krimina¬
listischer Photographie dergestalt in sich vereinigt, daß die erforder¬
lichen Aufnahmen nach den Angaben, welche jedem Apparate noch
in einer besonderen, ganz detaillierten Schrift beigegeben werden, mit
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VI. Köttig
der größten Schnelligkeit und Sicherheit in dem Atelier des Kriminal¬
beamten, wie im Laboratorium des gerichtlichen Mediziners ebenso,
wie in den entferntesten Gegenden bewirkt werden können.
Dabei ist Bertilion bemüht gewesen, der Manipulation des
Photographierens, selbst auf dem sonst schwierigen Anwendungs¬
gebiete der metrischen und stereometrischen Photographie, durch aller¬
hand Vorkehrungen an dem Apparate nach Möglichkeit etwas rein
Mechanisches zu geben, so daß nicht nur der im Photographieren
berufsmäßig ausgebildete Photograph, sondern auch jeder mit den ein¬
fachsten Fundamentalsätzen des Photographierens einigermaßen ver.
traute Beamte sachdienliche korrekte Aufnahmen bewirken kann. So
verüberflüssigt sich beispielsweise bei Aufnahmen aus der Vogel¬
perspektive zufolge der Anbringung gewisser Stellvorrichtungen und
Marken vollständig die Zuhilfenahme des schwer transportablen und
stets unhandlichen Leiterstativs.
Redner hatte den Apparat in doppelten Exemplaren und in zwei
verschiedenen Stellungen, einmal zu Aufnahmen in wagerechter und
einmal zu Aufnahmen in senkrechter Richtung, sowie einen Ber-
tillonschen Aufnahmestuhl (vergl. die nachstehenden Abbildungen) auf¬
stellen und überdies auf einer Staffelei eine Kollektion der mit dem
Apparate aufgenommenen Bilder zusammengestellt, um die Vielseitig¬
keit des Apparates vor Augen zu führen.
Die Zuhörer sahen da je in einem Beispiele die Aufnahmen von
signaletischen Photographien lebender Personen, wie sie für die Meß-
karten und Verbrecheralben gebraucht werden, als Brustbild sowohl
wie als ganze Figuren, die Wiedergabe von gefälschten Dokumenten,
unfreiwillig zurückgelassenen Fingerabdrücken, Deckenaufnahmen,
gewöhnliche und metrische Aufnahmen von Leichen bekannter Her¬
kunft, Aufnahmen von Fußspuren und Fingerabdrücken, signaletische
Aufnahmen von Leichen unbekannter Herkunft, metrische Aufnahmen
von Innenräumen und stereometrische Aufnahmen von Leichen.
Man wird zugestehen müssen, daß die Vielseitigkeit des Apparates
nichts zu wünschen übrig läßt. Nimmt man noch hinzu, daß die mit
dem Apparat und den von Bertillon empfohlenen Objekten auf¬
genommenen Bilder äußerst scharf und zu namhaften Vergrößerungen
und Projektionsbildern durchaus geeignet sind, so darf getrost be¬
hauptet werden, daß dieser überall anwendbare Reiseapparat das
praktischste, umfassendste und vollkommenste darstellt, was für das
gewöhnliche Bedürfnis kriminalistischer Aufnahmen zurzeit in Be¬
tracht kommt.
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Von dem Internat. Kongreß für angewandte Photographie in Dresden 1909. 143
Es folgte der Vortrag von W. Urban (München) über das von
ihm konstruierte Universal-Reproduktionsgestell für Laboratoriums¬
arbeiten und über seine Erfahrungen bei Anwendung der verschiedenen
Methoden zur Rekonstruktion zerstörter Schriftteile.
Mit Rücksicht auf den Vortrag von Professor Reiß, Lausanne,
welcher bereits gezeigt habe, wie vielgestaltig die Aufgaben sind,
welche der gerichtlichen Photographie gestellt werden, bat der Vor¬
tragende zunächst, sich kurz fassen zu dürfen, und beschränkte sich
namentlich darauf, die instrumentelien Behelfe zu besprechen, welche
bei explorativ-photographischen Arbeiten im Laboratorium dienlich
sind. Ref. erwähnte vorerst, daß er sich bei seinen eigenen Arbeiten
in der Gerichtsexpertise durch eine Reihe von Jahren — abgesehen
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VI. Köttig
von der Verwendung einer bei vielen Unternehmungen notwendigen
mikro-photographischen Apparatur — lediglich einer gewöhnlichen
Reisekamera, sowie der üblichen Behelfe eines modernen Repro¬
duktionsateliers bedient habe. Die hierbei gewonnenen Erfahrungen
veranlaßten ihn dann, an die Zusammenstellung einer Apparatur zu
gehen, von der er allnehmen dürfe, daß sie trotz ihrer verhältnis¬
mäßigen Einfachheit speziell den Aufgaben zu entsprechen vermag,
welche an den Sachverständigen beim Photographieren seiner Unter¬
nehmungsobjekte herantreten. Es werden sodann die Eigenheiten
dieser ebenfalls von der Firma Heinrich Ernemann, A.-G., vor¬
mals Ernst Herbst u. Firl, Görlitz, nach den Angaben des Vor¬
tragenden ausgefübrten Konstruktion, welche aus den nachstehenden
Abbildungen ersichtlich ist, auf dem Projektionsschirm demonstriert,
sowie eine instruktive Reihe damit gewonnener Arbeitsresultate in
gleicher Weise vorgeführt.
Bezüglich der universellen Anwendbarkeit der vorgeführten und
leicht modifizierbaren Apparatur sei hier nur berichtet, daß dieselbe
besonders für die nachfolgend verzeichneten Arbeitsaufgaben hervor¬
ragend geeignet erscheint:
t. für die Aufnahme von Dokumenten und plastischen Gegen¬
ständen mit gewöhnlichen und Satz-Objektiven in gleicher
Größe oder mit geringer Reduktion in der Aufsicht.
2. für die Aufnahme von plastischen und anderen Fuß- und
Fingerspuren, Münzen, Textilerzeugnissen, Patronenböden und
dergl. mit Mikro-Objektiven namentlich für Zwecke der mor¬
phologisch-geometrischen Identifikation.
3. für die Untersuchung von Schriftfälschungen (Ziffern, Buch-
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Von dem internat. Kongreß für angewandte Photographie in Dresden 1909. 145
staben) Briefmarken usw. im durchfallenden Licht und bei
Verwendung künstlicher Lichtquellen und Farbenfilter.
4. für die Aufnahme latenter Fingerspuren usw. usw.
Zum Schlüsse seiner Ausführungen gab der Vortragende noch
das vorläufige Ergebnis noch nicht abgeschlossener Versuche bekannt,
welche er mit der von Burinsky umgearbeiteten, Chromolyse
genannten Methode, sowie mit derjenigen von Gradenwitz und
Pringsheim zur Ent¬
zifferung von Palim¬
psesten angewendeten
Aufnahmeweise durch¬
geführt habe, um zu
sehen, ob und eventuell
welche Vorteile sich bei
Anwendung dieser Me¬
thoden zur Rekonstruk¬
tion zerstörter Schrift¬
teile in jenen Fällen er¬
geben, die man in der
Regel unter Zugrunde¬
lage entsprechend kon¬
trastreicher Negative
und zwar durch An¬
wendung einen aus¬
gesprochen hart arbei¬
tenden Kopiermaterials
zu erledigen trachtet.
Auch diese Ver¬
suche wurden im Licht¬
bilde demonstriert und
glaubte derVortragende
auf Grund der bisher er¬
zielten Resultate schon jetzt den Schluß ziehen zu dürfen, daß in An¬
betracht der sehr großen technischen Schwierigkeiten der genannten Ver¬
fahren, diese wohl nur in den Fällen Vorteile bieten, womitden einfacheren
Maßnahmen der bisher üblichen Methoden nichts zu erreichen war.
Damit endete die interessante Tagung. Es wäre dringend zu
wünschen, daß der von Professor Reiß gegebene Hinweis auf das Vor¬
gehen der Schweiz auch bei den deutschen Regierungen den Anlaß
geben möchte zur Begründung eines oder mehrerer Universitäts¬
lehrstühle für wissenschaftliche Polizei.
Archiv für Kriminalanthropologie. 35. ßd. 10
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VII.
Polizeistunde und Polizeiverordnung.
Von
Landgerichtsdirektor Botering, Magdeburg.
I.
Man muß zurückblättern in dem Buche der Geschichte, um zu
erkennen, daß fast jede Einrichtung aus dem sozialen Leben unserer
Tage ihre Wurzel schlägt in eine schon fernliegende Vergangenheit.
Die Fürsorge Karls d. Gr. wie die Ordnung des Reichs und der
Geist der Gerechtigkeit, von welchem seine Regierung getragen war,
hatten in der Nachtarbeit einen wunden Punkt des sozialen Daseins
erkannt und deshalb in dem 5. Kapit a. 803 bereits verordnet, ut
nullus audeat, in nocte negotiari in vasa aurea et argentea, mancipia,
gemmas, caballos, animalia — nur für die Reisenden durfte die Für¬
sorge getroffen werden, sonst aber hieß es, in die coram omnibus et
coram testibus unusquisque suum negotium exerceat. Sollte auch in
diesem Befehle mehr das Ruhebedürfnis des dienst- und fron¬
pflichtigen Bevölkerungsbestandteils anerkannt und in gleicher Weise
geschützt werden, so hatte doch frühzeitig die Kirche, welche in Er¬
gänzung der Staatsgewalt Sittenzucht und Ordnung, Polizei und Dis¬
ziplin in ihren Vorschriften zu handhaben sich unterfangen durfte,
von diesem Standpunkte aus gegen Trunksucht und Völlerei und da¬
mit gegen den übernachteten Wirtshausbesuch geeifert. Sie ent-
äußerte sich des täglich wiederholten Befehls in dem Abendläuten,
welches bei der Verquickung kirchlicher und staatlicher Interessen
auch für die Stadtverwaltung sollte das Zeichen sein, die Tore zu
schließen, zumal der fast ausnahmslos befestigten größeren und klei¬
neren Ortschaften, für den ruhigen Bürger aber die Mahnung zur
häuslichen Ruhe, zum Abschließen der Heimstätten und zum Aus¬
löschen des Feuers auf dem Herde. Denn auch diese letztere gegen
die Feuerverwahrlosung gerichtete Rücksicht war bei dem so lange
noch bestehenden Holzbau städtischer Wohnungen nur zu erklärlich.
So ist aber auch hier der Einfluß nicht zu bezweifeln, welchen das
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Polizeistunde und Polizeiverordnung.
147
kirchliche Bußen- und spätere Straf- und Zuchtrecht auf die Ent¬
wicklung der Polizeigesetzgebung gehabt hat, wie v. Bar *) bemerkt
„es hat die Kirche vorgearbeitet, der späteren Omnipotenz“ der staat¬
lichen Polizeigewalt. Gerade diejenigen Anforderungen, welche den
Kreis der Gehorsamspflicht fast überspannend bis in das Gebiet der
Ethik hinein auszudehnen scheinen, sind nicht selten auf den kirch¬
lichen Einfluß zurückzuführen.
Jedenfalls finden wir seit der Beformationszeit die Polizeistunde
als ein den Polizeiordnungen wohlbekanntes Rechtsinstitut bereits vor.
So gebietet die Bairische L.-0., daß „ein Wirt keinen unsern Bürger
und Untertanen über die geordnete Zeit als Abends zur 9. Stunde
ohne sonderbar erhebliche Ursachen in den Herbergen aufhalten,
mehr Wein geben oder zechen lassen, sondern einen jeden heim und
zur Ruhe weisen, bei Strafe eines Guldens.“
In der Land- und Polizei-O. für Ober- und Niederbaiern v. 1616
ist verordnet, daß in den offenen Wirtshäusern „über die Zeit, da
Tag und Nacht sich scheidet und im Winter gegen der Nacht über
die 8 Uhr weder an Feier- noch Werktagen nicht Trinker setzen oder
behalten, wo das aber geschieht, der Wirt und Trinker durch die
Obrigkeit“ — gestraft werden soll — „es wäre dann jemand von
einem fremden Gast, so in einer Herberg ist, zu Gast geladen“.
Die Herzoglich Magdeburgische Pol.-O. schließlich eifert gegen
diejenigen, „welche sich des Bier- und Branntwein-Saufens, auch
Taback-Schmauchens täglich und dergestallt befleißen, daß sie Gottes
und ihres Amts dabei vergessen“ — und will, daß diese „sonderlich
die jungen Pursche“ aus den „Schenken, Kellern, ihren Wohnhäusern
und von der Gasse sowohl Tags als Nachts wegnehmen, zur Hafft
bringen“ — 1 2 ) -
Diese Vorschriften lassen erkennen, daß sie beeinflußt waren,
von der Reichs-Pol.-O. v. 1530 vom Zutrinken und der Reichs-Pol.-0.
v. 1577 „von übermäßigen Trinken und Zutrinken“, zumal diese
Mahnungen dahin führten, daß getrunken wurde „auf des Reichstags-
Abschied Gesundheit“.
Die Beschränkung des Wirtshausbesuches kann ausnahmsweise
anderen Beweggründen erwachsen. Jn Tagen politischer Unruhe,
einer Epidemie, feindlicher Invasion, des Belagerungszustandes wäre
sie nicht Polizeistunde, die Gültigkeit der Polizeiverordnung daher
unabhängig von dem Strafgesetze des § 365 b. St. G. B.
1) Handb. S. 86.
2) Koch, Nachbar-Recht S. 160.
10 *
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148
VII. Rotering
II.
Da das Reichsgesetz die Norm des§365StG.B. abhängig gestellt hat
von einem ferneren landesrechtlichen oder lokalrechtlichen Verbot, so zählt
dasselbe zu den Blankettstrafgesetzen. Das Blankett harrt der Aus*
fiillung durch ein Landesgesetz, welches aber, da die Zweckmäßigkeit
der öffentlich rechtlichen Einrichtung der Polizeistunde nicht unab¬
hängig ist von den nach der Gegend oder den einzelnen Ortschaften
wechselnden sozialen Verhältnissen (insbesondere der Beginn der ge¬
schlossenen Zeit), nicht unabhängig gestellt werden kann von der
Größe der Ortschaften oder ihrem mehr ländlichen oder städtischen
Charakter; so wird in größeren Staaten selten das Landesgesetz die
Aufgabe übernehmen, die Regelung zu treffen, es wird schließlich der
sog. kleinen Gesetzgebung alles Vorbehalten bleiben. So insbesondere
auch in Preußen, wo dann die höheren und unteren Verwaltungs¬
behörden in der vorgeschriebenen Form insbesondere auch unter dem
Hinweise auf die jeweilige, ihre Delegation begründende Vorschrift
aus dem Ges. v. 11. 3. 50 die Publikation vorzunehmen haben, während
für Form und Verkündung der Lokalpolizeiverordnungen besondere
Bestimmungen in den einzelnen Bezirken ergangen sind.
Eine Ausnahme von dem Rechtsgrundsatze, daß das Blankett¬
strafgesetz ist auszufüllen durch die partikularrechtliche gesetzliche
Vorschrift, ist in dem Falle gegeben, wenn das Reichsgesetz selbst
darauf hinweist. In der Bezeichnung derjenigen partikulären Normen,
welche die Ergänzung des Reichsblanketts bezielen, läßt das Gesetz
indessen System erkennen. Bald soll die Ausfüllung erfolgen durch
„gesetzliche Bestimmungen“ oder das „gesetzliche Verbot“. § 360, 9
und § 367, 9. In anderer Form ist sie mithin unzulässig.
Oder es ist verwiesen auf die Erlasse der kleinen Gesetzgebung,
des Bezirksstrafrechts, auf die Ausfüllung durch „Polizeiverordnungen“
§ 366, 10 beziehungsweise „Verordnungen“ schlechthin, § 367, 5
und 5 a. 1 )
Oder das Gesetz verweist alternativ auf eine Ergänzung gesetz¬
mäßiger Rechtsnatur oder eine solche, welche nicht diesen Anforde¬
rungen entspricht, die bloße Anordnung, so § 368, 2 „durch gesetzliche
oder polizeiliche Anordnungen“.
Sonst aber ist nachgelassen die Ausfüllung der offenen Straf¬
drohung durch „polizeiliche Anordnungen“ § 367, 2 und 16; 368, 1
und 8 oder „Anordnungen“ schlichtweg, § 366, 1.
1) E.K.G. in Goltd. A. 43 S. 62 und 51 S. 59.
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Polizeistunde und Polizeiverordnung.
149
Gleichgestellt sind den Anordnungen die bloßen „Vorschriften"
§ 369, 2, wo jedoch das Wort darauf hinweist, daß jedenfalls gene¬
relle Anordnungen nicht bloß für den Einzelfall ergangene Befehle
gemeint sind. Dieses System läßt erkennen, daß wie sonst so auch
im Hinblick auf den § 365 >) das Blankett die Ausfüllung durch das
Gesetz beansprucht, so oft eine bloße Anordnung, Vorschrift nicht
nachgelassen ist
Sofort also drängt sich die Frage auf, ob das ausfüllende Landes¬
gesetz seinerseits auf weitere bloße Anordnungen, Vorschriften ver¬
weisen darf, welche den Lebensbedürfnissen sollen gerecht werden?
Da das Gesetz eine Beschränkung in dieser Richtung nicht auf¬
gestellt hat, muß das als unzweifelhaft zulässig erklärt werden. Ist
das richtig, so kann auch in einem Akte der sog. kleinen Gesetz¬
gebung eine solche bloße Anordnung (Vorschrift) Vorbehalten bleiben 1 2 )
und ist die bis dahin offene Strafdrohung in demselben Augenblicke
geschlossen, in welchem die zuständige Behörde der gegebenen, einer
Delegation analogen Ermächtigung diese Anordnung erläßt. Denn
auch die bloße Polizeiverordnung ist, wenn auch bei ihrer doppelten
Rechtsnatur formell Verordnung, doch „materiell ihrem Inhalte nach
ein Gesetz“ 3 ).
Hiernach kann durch vorbehaltene Anordnung auch die Orts¬
polizeibehörde die Polizeistunde Sowohl für einzelne Schanklokale oder
öffentliche Vergnügungsorte festsetzen, als auch die Zeit nach unten
hin ausdehnen oder einschränken, soweit ihr das in dem Landesge¬
setze oder der bezirksstrafrechtlichen Polizeiverordnung ausdrücklich
nachgelassen ist 4 ).
Da nun derjenige Gesetzgeber, welcher die Gesetzesbefehle aus¬
schreibt, auch ermächtigt sein muß, die Ausnahmen, soweit nicht
generelle Schuldausschließungsgründe anerkannt sind (§§ 52—54), hin¬
sichtlich der von ihm aufgesteilten Norm besonders festzulegen, 5 )
kann auch in der Polizeiverordnung als in dem Akte der kleinen Ge¬
setzgebung für einzelne Räumlichkeiten oder bestimmte, im allge¬
meinen gekennzeichnete Zeitabschnitte wie für Festtage oder Festlich¬
keiten der Polizeibehörde nachgelassen sein, die geschlossene Zeit zu
öffnen. Die Pol.-V. kann auch für einzelne Wirte unter Vorbehalt
des Widerrufs der Ortspolizei das Treffen von Ausnahmen gestatten.
1) St engl ein, Kom. h. I. Goltd. A. 39 S. 183 E.K.G.
2) Olshausen h. 1. E.K.G. Jahrb. 8 S. 147.
3) Kos in, Pol.StR. II.
4) E.O.V.G. in Goltd. A. 54 S. 429.
5) Binding, Norm. I S. 165, Handb. S. 279.
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150
VII. Roterino
Immer aber ist zu beachten, daß eine bloße Nachsicht der Lokal*
instanz, ein stillschweigendes Dulden, der Norm keinen Abbruch tut. ')
Es erscheint deshalb auch bedenklich, wenn die höhere Behörde der
Lokalinstanz gegenüber auf die Möglichkeit eines solchen Duldens
als eines nachsichtigen Einschreitens ausdrücklich hinweist, weil da¬
durch eine rechtsirrtümliche Auffassung für Wirt und Publikum er¬
zeugt wird, die nicht unbeachtlich ist.
Es entscheidet hier wie sonst auf der Ebene derjenigen Delikts¬
tatbestände des Abschnitts 29, welche auf polizeiliche Anordnungen
— Vorschriften — hinweisen, ob diese ergänzenden Bestimmungen
generelle sein müssen oder auch spezielle sein dürfen, sich nach
Landesrecht. 2 ) Immer aber sind solche Anordnungen, welche in
einem Gesetze des Landes oder Bezirks Vorbehalten waren, als er¬
gänzende Rechtsnormen, nicht Strafrechtsnormen, zu erachten, deren
Auslegung auch dem Revisionsrichter zusteht. Spezielle sich in der
Regelung des Einzelfalls erschöpfende und auslebende Anordnungen
sind als Rechtsnormen nicht anzusehen, ihre Auslegung bindet auch
den Revisionsrichter. 3 )
III.
Was nun die Zeitbestimmung angeht, so ist der Beginn der
Polizeistunde in der Norm bestimmt zu bezeichnen, eine Ankündigung
durch ein besonderes Signal ist wohl nirgends noch üblich. 4 ) Nicht selten
aber begegnet der Beamte oder die schließlich entscheidende Behörde
dem Einwande, die an Ort und Stelle maßgebliche Stunde, die Stadt¬
oder Dorfuhr stimme nicht mit der wirklichen Tageszeit, etwa einer
richtig gestellten Sonnenuhr. Falls nicht schon die Norm einen Hin¬
weis darbietet, ist die Ortszeit als die maßgebliche zu erachten, als
welche durch die Ortsuhren kundgegeben wird, falls, wie das wohl
stets zutrifft, die Behörden, Schule und Kirche nicht minder die Ge¬
schäftsleute diese Zeit, wo sie für das Beginnen und Schließen hin¬
sichtlich der Rechtsgeschäfte von Bedeutung ist, als die ausschließlich
entscheidende ansehen. Insoweit hat sich eine Übung herausgebildet,
die längst zum Gewohnheitsrecht erstarkte und es unterliegt einem
Zweifel nicht, daß die lokale oder die Bezirksgesetzgebung nur auf
diese Ortszeit wollen abgestellt sein. Jene Berufung ist deshalb
1) E.K.G. Goltd. A. 40 S. 350.
2) Frank zum § 361 Nr. 6.
3) E.K.G. Bd. 28 S. 195 Goltd. A. 45 S. 50 und 326, v. Bülow daselbst und
Bd. 40, S. 349.
4) Oppenhoff, Kom. h.T.
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Polizeistunde und Polizeiverordnung.
151
weder von dem revidierenden Beamten, noch der entscheidenden Be¬
hörde die Beachtung zu schenken, sonst freilich entscheidet die euro¬
päische Zeit ‘j. Die Polizeistunde tritt nur dann in Wirksamkeit,
falls der Wirt das Verweilen der Gäste über die maßgebliche Zeit
hinaus duldet. Nun sind aber Gäste im Sinne des Gesetzes nur die¬
jenigen Personen, welche in der Schankstube oder an dem öffentlichen
Vergnügungsorte verweilen, indem ihnen vom Gastgeber der Aufent¬
halt gewährt worden und zwar, wie das K. Kammergericht sich aus¬
drückt, „in Ausübung des gewerbsmäßigen Betriebes einer Schank¬
stube“ 1 2 ). Gast ist also zunächst nicht diejenige Person, welche nur
Besuchsgast in den Privaträumen des Wirtes ist. Ferner nicht die¬
jenige Person, welche als Fremder im Sinne § 701 B. G. B. vom
Gastwirt „im Betriebe dieses Gewerbes“ aufgenommen ist, weil Rechts¬
beziehungen besonderer Art begründet sind und der Fremde vorüber¬
gehend die Rechte eines Mieters kann in Anspruch nehmen. Es kann
deshalb auch die Behörde nicht verlangen, daß er sich entfernt Un-
beachtlich ist aber der Ein wand, als Hotelgast oder einkehrender
Reisender aufgenommen zu sein, wenn dieser erst erhoben wird, nach¬
dem der Beamte die Gesetzesübertretung bereits feststellte, nur um
der Strafe zu entgehen. Auch ist der Einwand unbeachtlich, wenn
mit dem Wirt nur ein Scheingeschäft 3 ) geschlossen ist Andrerseits
kann auch dem Ortsbewohner nicht benommen werden, in einem
Hotel sich einzumieten, bloß um unbehindert sich ausleben zu können.
„Aus welchem Grunde man sich in einem Gasthof einlogiert, ist für
den Begriff des Logiergastes gleichgültig 4 ), sofern nur das im Sinne
§ 701 B. G. B. eingegangene Rechtsgeschäft nicht simuliert ist Wer
aber vorm Eintritt der Stunde, um mit einem befreundeten Logiergast
zusammenbleiben zu können, sich ein Zimmer geben läßt, wird damit
Logiergast, durch den Eintritt in diese Klasse „wird das Gesetz erfüllt
nicht verletzt.“ Gäste in den geschlossenen Räumen eines Vereins
können nur ausnahmsweise als solche des Wirts behandelt werden,
wenn sie von den Vereinsmitgliedem nicht eingeladen, von dem Wirt
bedient werden, diesem also der sonst geschlossene Raum noch als
Schankzimmer zur Verfügung steht oder derselbe der Erweiterung
der eigenen Räumlichkeiten dient. Anders nämlich wäre die leichteste
Umgehung des Gesetzes nieht ausgeschlossen. Ebenso treten Vereins¬
mitglieder in die Klasse der Schankgäste, sobald sie das Vereinslokal
1) Für Letzteres Olshausen.
2) Goltd. A. 40 S. 349.
3 E. Celle Goltd. A. 52 S. 114.
4) Goltd. A. 51 S. 59 E.K.G.
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152
VII. Rotering
verlassend, in dem Scbankraume vom Wirt sich Getränke zum Genuß
auf der Stelle verabreichen lassen. ] ) Ein gelegentliches Freibier für
die Gäste als solche macht sie nicht zu Privatgästen. 1 2 )
Die Schankstube ist begrifflich 3 ) ein der Öffentlichkeit nicht ver¬
schlossener Baum. Nur soll sie nicht jedem aus dem Volke offen¬
stehen, es kann der Baum wie die Kantinen für gewisse Stände,
Militär, Fabrikarbeiter reserviert sein.
Ausgeschlossen ist aber immer diejenige Bäumlichkeit, welche
einem Verein oder einer sonst geschlossenen Gesellschaft, einem poli¬
tischen, wissenschaftlichen, Wobltätigkeits- oder bloßen Vergnügungs¬
zwecken dienenden Vereine zur alleinigen Benutzung Vorbehalten ist,
welche etwa die Arbeiter einer bestimmten Fabrik gemietet haben,
als „geschlossene Gesellschaft“ 4 ). Der Eintragung in das Vereins¬
register bedarf es niemals. Es hat nun auch das O.V. G. 5 ) im Hin¬
blick auf die § 33 Abs. 5—6 Gew.-Ordg. gedachten Vereine aner¬
kannt, daß geschlossene Gesellschaften, „die in einer gewöhnlichen
Schankwirtschaft einen Baum für sich benutzen, indem sie ihn dem
öffentlichen Verkehr entziehen, der Polizeistunde nicht unterworfen
sind“. Dieses, weil in ihren eigenen Bäumen das Bedürfnis nicht
wie sonst bestehe.
Nicht selten bilden sich Gesellschaften, deren Mitglieder aus¬
schließlich bezwecken, durch eine Berufung auf ihr Geschlossensein
das Gesetz als unanwendbar erscheinen zu lassen. So insbesondere
Skat-Spiel- oder ähnliche Vergnügungsklubs, deren Mitglieder beliebigen
sozialen Gruppen angehörend, nur für den Abend beitreten, auch nur
einen relativ geringen Beitrag zahlen. Ist die Berufung auf eine
solche Sozietätszugehörigkeit beachtlich? Die etwaigen Bedenken
zerstreuen sich in dem Falle, in welchem schon aus der Abmachung
mit dem Wirte erhellt, daß ein ernstlicher Vertrag über die Miete
eines Baumes nicht geschlossen ist.
Es verweist die Judikatur auch darauf, daß eine geschlossene
Gesellschaft — der Verein — sich gründet auf eine innerliche Ver¬
bindung der Mitglieder durch persönliche Beziehungen oder die Ge¬
meinschaft des sachlichen Zweckes 6 ). Es wird auch 7 ) hervorge-
1) Goltd. A. 40 S. 849 E.K.G., ebenso Bd. 44 S. 404 und 87 S. 873.
2) Frank und Olshausen.
3) E. Dresden Goltd. A. 37 S. 373.
4) E.K.G. in Goldtd. A/43 S. 60.
5) E.O.V.G. in Goltd. A. 50 S. 417.
6) E.K.G. Goltd. A. 54 S. 310.
7) E. Celle Goltd. A. 52 S. 114.
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Polizeistunde und Polizeiverordnung.
153
hoben, daß die Abgeschlossenheit nach außen fehlt, wenn beliebige
Personen gegen ein Geringes (1 M.) beitreten können.
Gleichwohl sind alle diese Gesichtspunkte von Ausschlag gebendem
Gewichte noch keineswegs. Die zivilrechtliche Gültigkeit nämlich
mangelt einem Gesellschaftsvertrage nicht, welcher sich bald auslebt,
weil der Zweck etwa die Durchführung eines geselligen Vergnügens ')
oder eines Transportunternehmens selbst der geschäftlichen Ausnutzung
der Augenblicks-Konjunktur im gemeinsamen Interesse dienlich ist.
Schließlich würde auch die irrtümliche Unterstellung auf dem Gebiete
des zivilen Rechts ihre Rücksicht verlangen.
Andrerseits aber ist unzweifelhaft, daß Verträge, welche aus¬
schließlich bezwecken, nur um die Umgehung einer im Gemeininter¬
esse anbefohlenen Beschränkung der Handlungsfreiheit zu ermöglichen,
einer Sachlage den Schein geregelter sozialer Beziehungen zu geben,
als solche erscheinen, welche gegen Gesetz und gute Sitte gerichtet
damit also nach § 138 B. G. B. auch nichtige sind.
IV.
Unter Schankstuben sind alle geschlossenen Räume verstanden,
in welchen der Wirt als deren Inhaber das Schankgewerbe ausübt.
Die Rechtslage ändert sich nicht durch den Umstand, daß der Wirt
neben dem Schankzimmer auch seine Privaträume öffnet, vielmehr
wird diesen damit gegebenenfalls die Rechtsnatur einer Schankstube
ad interim beigelegt 2 ). Nicht anders, wenn der Wirt sich fremde
Räume in demselben Hause zu gleichem Zwecke von Mitbewohnern
mietsweise oder precario tenus läßt zur Verfügung stellen oder wenn
ein geschlossener Verein ihm dieselbe Vergünstigung erweist. Im
letzteren Falle sind dann nur die Nichtvereinsmitglieder an die Polizei¬
stunde gebundene Gäste. Eine gleiche Erscheinung tritt dann hervor,
wenn Nicht-Reisende in der Bahnhofsrestauration sich aufhalten. Denn
es ist anerkannten Rechtens, daß die Polizeistunde die Reisenden
nicht bindet, soweit diese mit einer Fahrkarte schon versehen sind,
nicht binden kann, da die Transportverwaltung die Räumlichkeit 3 )
für die Wartezeit darbieten muß. Da die Fahrkarte nicht in jedem
Zeitmomente gelöst werden kann, stehen ihnen die Gäste gleich,
welche ernstlich beabsichtigen, eine Fahrkarte zu lösen. Der revidie¬
rende Beamte kann den Einwand als unbeachtlich behandeln, wenn
Grund zu der Annahme besteht, daß die Absicht eine nur vorge-
1) E.K.G. in Goltd. A. 43 S. 60.
2) E.E.G.R. Goltd. A. 44 S. 404. Oppenhoff, Kom. h. 1.
3) Als Betriebslokal Soergel Rechtssch. 1908 h. 1.
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154
VII. Rotekinu
schützte ist, ausschließlich die Umgehung des Gesetzes bezweckt wird.
Ob aber auch solche Gäste den Reisenden gleich zu behandeln sind,
welche ernstlich beabsichtigen, Reisende in Empfang zu nehmen oder
abzuholen, ist mit Rücksicht auf die Fassung der Norm zu entscheiden.
Eine Ausnahme von der Norm kann aber auch durch Notlage ge¬
geben sein, wie wenn es sich um die Unterbringung von Kranken
handelt; daß auch dienstliche Rücksichten eine solche begründen
können, bedarf nur der Andeutung.
Eine eigentümliche Rechtslage entwickelt sich, wenn ein ge¬
schlossener Verein eine Lustbarkeit in dem ihm zur alleinigen Ver¬
fügung stehenden Raume veranstaltet, zu derselben aber beliebige
Fremde gegen Eintrittsgeld zuläßt Die Lustbarkeit selbst wird da¬
durch zu einer öffentlichen J ) und die Polizeistunde ist zu beachten,
falls eine Ausnahme nicht zugelassen war. Wenn nun aber der Wirt
infolge eines mit dem Verein abgeschlossenen Vertrages die Verfügungs¬
macht über den Raum abgetreten hat, so ist er zu der im Gesetze
vorausgesetzten Aufforderung nicht mehr berechtigt, das öffentliche
Interesse ist also durch die Polizeibeamten wahrzunehmen oder den
vom Verein dazu bestellten Verwalter, auch wenn der frühere 1 2 ) Wirt
verschänkt.
Es ist aber nicht erforderlich, daß in einer Schankstube alkoho¬
lische Getränke zum Genuß auf der Stelle dargeboten werden. Viel¬
mehr Schankwirtschaft wird auch betrieben durch den Ausschank
von Selterswasser, Kaffee, Tee und Milch 3 ), soweit der Tatbestand
des § 33 Gew.-O. in Frage steht und es ist zweifellos, daß die Reichar
gesetze mit dem Worte „Schank“ als Vorsilbe der Worte „Schank¬
wirtschaft und „Schankstube“ denselben Sinn verbinden. Dahin¬
gegen ist die Räumlichkeit einer Speiseanstalt, in welcher weder
geistige Getränke, noch überhaupt Getränke wie auch Mineralwasser,
Fruchtsaft dargereicht werden, nicht Scbankstube oder öffentlicher
Vergnügungsort im Sinne des § 365 R. St. G. B., weil der Zweck
des Gesetzes, wie schon die historische Entwicklung ergibt, doch
immer zunächst der war, der Trunksucht einen Riegel vorzuschieben,
zumal in einer Zeit, in welcher bei der immer noch mangelnden Aus¬
bildung der bewaffneten polizeilichen Macht die Nachtschwärmerei in
den deutschen Reichsstädten einen so beunruhigenden Unsicherheits¬
zustand schuf. Will man daher, weil eine Abweichung in der Rechts-
1) Goltd. A. 42 S. 144.
2) Olshausen Nr. 3.
3) »Getränke irgend welcher Art“. Hamburg, Goltd. A. 44 S. 404. Ols¬
hausen § 365.
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Polizeistunde und Polizeiverordnung..
155
auffassung zwischen den Vorschriften der Gewerbeordnung und des
Strafgesetzbuchs nicht unterstellt werden darf, unter den im § 365
R. St. G. B. gedachten Räumlichkeiten noch solche verstehen, in
welchen nicht alkoholische Getränke verschänkt werden, so doch nicht
Speisewirtschaften, in welchen Getränke überhaupt nicht verabreicht
werden. Die von der Gesetzgebung als ratio legis unterstellte Gefahr
scheidet hier ganz und gar aus l j. Getrunken muß werden. Seit
Tacitus die Germania schrieb, war das nicht anders. Die deutsche
Lebensrichtung war keine andere geworden, als nach der Wende des
Mittelalters Grundherrschaft, Prälatur und Patriziat auf des Reicbs-
tagsabschieds Gesundheit tranken. Und in der Gegenwart machen
nichtalkobolische Getränke erst den schwachen Anfang das, was
die Vergangenheit so liebte, zu verdrängen. Nur wer dem neuzeitigen
Genüsse fröbnt, ist minder gefährlich für die Nachtruhe und ist auch
die hier aufgestellte Behauptung für die praktische Durchführung
der Polizeistunde von zurücktretender Bedeutung. Immerhin, zumal
in der Großstadt, kann der Polizei Veranlassung gegeben werden,
auch für Cafös oder Konditoreien, welche den Schank mit alkoho¬
lischen Getränken nicht ausüben dürfen, so z. B. bei Damenbedienung
oder aus sonstigen naheliegenden Gründen, für die Nachtruhe ein¬
zutreten.
Der öffentliche Vergnügungsort unterscheidet sich von der Schank¬
stube durch den Mangel der Häuslichkeit, ist also in der Regel ein
an das Haus angrenzender Hofraum oder Garten oder Terrasse oder
Freihof, welche nicht wie der Balkon nur Fortsetzung des geschlos¬
senen Raumes sind. Vergnügungsgärten können des häuslichen Zu¬
sammenhangs ganz entraten. Immer muß dem Wirt die Verfügung
über solche offenen Räumlichkeiten zustehen 2 ), doch gilt dasselbe, was
hinsichtlich der geschlossenen Räume angeführt worden, die miets¬
weise Überlassung oder eine solche precario tenus genügt auch hier 3 ).
Wenn Getränke auf offener Straße, etwa einem zu derselben ge¬
hörigen Vorplatze oder Trottoir dargeboten werden, entfällt mit jeder
Verfügungsgewalt der für die Polizeistunde grundlegende Gesichts¬
punkt, das Gesetz ist unanwendbar, Polizeiverordnungen, welche nur
im Interesse der Nachtruhe den Ausschank verbieten, können sich
auf § 365 nicht stützen, derselbe enthält für diese ganz andere Rechts¬
lage nicht die Delegation, mag auch eine besondere Veranlassung ge¬
strengen Einschreitens für die Beamten vom Dienst als gegeben,erscheinen.
1) Anders Olshausen.
2) Frank, Note II.
3) Getrunken muß werden. Kinderspielplätze scheiden aus.
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156
VII. Rotering
V.
Eine offene Strafdrohung kann nur soweit ausgefüllt werden,
als sie eben auch eine Lücke läßt, nicht also schon selbst die Delikts¬
merkmale uns entbietet. Soweit das Letztere zutrifft, obliegt dem
Richter die uneingeschränkte Entscheidung in der Richtung, ob die
gegebenen Tatumstände das jeweilige Deliktsmerkmal erfüllen. Es
darf daher die ergänzende Polizeiverordnung sich niemals unterfangen,
eine authentische Interpretation in die Wege zu leiten. Sie darf
nicht verkünden, daß eine gegebene Lebenserscheinung schon grober
Unfug im Sinne § 360, 11, daß das Feuer in einer nicht gedeckelten
Pfeife schon ein unverwahrtes im Sinne § 368, 5 sei. ') „Die authen¬
tische Auslegung des Reichsgesetzes steht 5 ) nur dem Reiche zu.“
Die zutreffende Erläuterung ändert die Rechtslage nicht, die rechts¬
irrige ist unbeachtlich. Welche Räumlichkeiten Schankstuben oder
öffentliche Vergnügungsorte nach Vorschrift des Reichsgesetzes sind,
läßt sich ausschließlich nach diesem beantworten, nicht minder, wer
der Wirt oder sein Stellvertreter ist, welche Form der Aufforderung
zum Fortgehen genügt, welche Personen als Gäste zu betrachten,
wann die Voraussetzungen des Duldens derselben als gegeben zu er¬
achten sind, welche Maßnahmen der Wirt treffen muß. Es darf ferner
durch Partikulargesetz die Handlungsfreiheit nicht in weiterem Um¬
fange beschränkt werden, als das schon durch Reichsgesetz ist ange¬
ordnet. Es sollen eben die Gesetzesunterworfenen sich soweit frei
ausleben können, nicht durchaus notwendige Freiheitsbeschränkungen
in Hinsicht des Wohllebens werden nicht ertragen, Luxusverbote alter
Zeiten sind niemals durchzuführen gewesen, deshalb besteht keine
Polizeistunde, als welche für Privatgäste des Wirts, Hotelbedienstete
oder Hotelgäste, die Reisenden im Bahnhofswarteraum, die Polizei an¬
ordnen könnte. Sie kann nicht eingeführt werden für geschlossene
Räume oder solche Vereinslokale. Es wäre dem Reichsgesetze wider¬
sprechend, wenn eine bezirksstrafrechtliche Vorschrift von der Bedin¬
gung der durch den Wirt oder seinen Vertreter erfolgten Aufforderung
absehen wollte. Auch in der Richtung, welchen Schuldgrad die
Positivfeststellung voraussetzt, darf die eine blinde Strafdrohung aus¬
füllende Ergänzungsverordnung keine Vorschriften treffen. In jeder
Hinsicht beginnt die Wirksamkeit des Partikulargesetzes erst da, wo
diejenige des Reichsgesetzes 3 ) endet.
1) E.O.T. Goltd. A. 25 S. 578, Abh. des Verf., Gerichtss. B. 50 S. 27.
2) Binding Handb. S. 283.
3) Binding 1. c., feiner Lehrb. III S. 746. Frank, Kom.; des Verf. Polizei-
Übertretungen S. 66.
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Polizeistunde und Polizeiverordnung.
157
Einer besonders bestimmten Fassung der Polizeiverordnung bedarf
es dann, wenn Räume, welche der Geselligkeit dienen, obgleich im
Zusammenhänge liegend, nicht alle zu denjenigen gehören, für welche
Polizeistunde kann angeordnet werden- So kann ein offener Restau¬
rationsraum in einem Bahnhofe mit dem Warteraum in Verbindung
stehen, für welchen letzteren, soweit Reisende sich in demselben auf¬
halten, eine geschlossene Zeit nicht besteht. Oder der ') Raum der
geschlossenen Gesellschaft grenzt an die Schankstube, ein Lustbarkeits¬
raum, in welchem geistige Getränke nicht verschänkt werden, an den
zur Schankwirtschaft gehörigen Garten. Es ist Aufgabe des Bezirks¬
strafrechts, bei solcher Sachlage klares und offenkundiges Recht zu
schaffen. Es muß als eine besondere Unzuträglichkeit bezeichnet
werden, wenn lange nach der Stunde, in welcher Tag und Nacht sich
scheiden, zwischen dem Wirte und dem Gaste oder beiden und dem
Beamten ein Streit sich entwickelt über die Tragweite der verbieten¬
den Satzung.
VI.
Insoweit der Gesetzesbefehl in dem ersteren Mischtatbestande des
§ 365 sich richtet an die Gäste, ergibt sich aus dem Umstande, daß
schon an ein bloßes Verweilen nach geschehener Aufforderung die
Strafe geknüpft ist, daß die fernere Voraussetzung, daß dieses erfolgt
zum Zwecke des Genießens von Getränken, nicht besteht 1 2 ). Andrer¬
seits sind Bedenken in der Richtung nicht zu unterdrücken gewesen,
ob Wirt, Vertreter oder Polizeibeamter, wenn der Gast das ihm vor
dem Eintreten der Polizeistunde Verabreichte noch nicht verzehrte,
demselben noch ein Modicum tempus zu lassen haben. Da der Wirt
und Vertreter das öffentliche Interesse wahrnehmen, so ist aus dem
Verkaufsgeschäfte heraus eine solche Verpflichtung nicht herzuleiten,
diesem Interesse etwas zu vergeben, sind jene Personen nicht be¬
rechtigt. Hiernach, da schwerlich der gesetzmäßige Polizeibefehl ein
Modicum tempus ausdrücklich nachlassen wird, muß der Wirt, um
Unzuträglichkeiten zu vermeiden, schon rechtzeitig die Gäste zum
baldigen Aufbruch mahnen oder an die alsobald eintretende Polizei¬
stunde erinnern. Anders verhält es sich mit dem revidierenden Polizei¬
beamten, diesem kann nachgelassen werden, die Aufforderung als
eine binnen bestimmter Frist zu befolgende, den Gästen anzukündigen.
Niemals läßt sich ein Recht der Gäste herleiten aus dem Hinweise
auf einen Nachteil, dessen Eintreten sie nur der eigenen Sorglosigkeit
1) Nicht notwendig abgesperrte Kaum. Olshausen.
2) Stenglein. Kom. h. 1.
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158
VII. Rotering
zuzuschreiben haben. Die Betrachtung der Bedürfnisse des praktischen
Bechtslebens läßt es als unabweisbar erscheinen, daß die Polizeiver¬
waltung darauf hinwirkt, daß die Rechtsübung in angedeuteter Rich¬
tung bei den Beamten und Wirten eine ständige werde, weil die
Ausrede der Normübertreter, es sei ihnen das Modicum tempus nicht
vergönnt, eine ständige zu sein scheint.
Der revidierende Polizeibeamte, wenn er mit den Gästen mittrinkt,
macht sich nicht strafbar, wenn nicht etwa der Wirt ihm Polizei¬
stunde gebietet, kann aber unter Umständen als Anstifter ') erscheinen,
wenn er selbst Wirt und Gäste zu einem gesetzeswidrigen Verhalten
ermuntert
Was die Form der Aufforderung betrifft, so muß erhellen, daß
der Wirt in Wahrnehmung des öffentlichen — nicht bloß privaten
Interesses — die Gäste zur Beachtung der Polizeistunde ermahnt und
ihre Entfernung verlangt, wozu, wenn das ortsüblich ist, das Wort:
„Feierabend“ 1 2 ) oder „Polizeistunde“ ausreichen kann. Nach Um¬
ständen mag ein Mehreres erforderlich erscheinen, wie wenn etwa
weltfremde Landbewohner die seltenen der Ortssitte unkundigen Gäste
sind; solche werden zu belehren sein.
Wenn der Wirt zu erkennen gibt, daß ihm persönlich ein Ver¬
bleiben der Gäste nicht unangenehm sei, keine ernstliche Miene bei
Verkündung des Polizeibefehls wahrnehmen läßt, so kann dieses ge¬
setzwidrige Verhalten die Gäste nicht entschuldigen. Denn der Wirt
kann dem öffentlichen Interesse nichts vergeben und in dem Wider¬
sprechenden seines Verhaltens kann sich das Pflichtwidrige nicht
verleugnen.
Rechtsunstimmigkeit herrscht hinsichtlich der Verpflichtung (ins¬
besondere des Polizeibeamten, da der Wirt und sein Vertreter sich
leicht erkennbar machen) sich zu Jlegitimieren. Binding 3 ) erachtet
es für zweifelhaft, ob von demjenigen, „der eine gesetzlich bestehende
Pflicht einschärft,“ noch eine Legitimation abseiten der Verpflichteten
könne verlangt werden? Diesseits wird bei der schon früher 4 ) offen¬
gelegten Rechtsanschauung verblieben. Es handelt sich hier, wie so
oft im Rechtsleben, um eine Kollision der Interessen. Es dürfen
Wirt und Gäste nicht einer chikanösen Belästigung durch unberufene
Persönlichkeiten ausgesetzt werden, auf die Gefahr hin, vielleicht das
1) Binding S. 796.
2) E. Braunschweig Goltd. A. 43 S. 61 Note, jedoch Olshausen h. I.
St engl ein 1. c. Es sei Polizeistunde, genüge nicht.
3) Binding 1. c. Auch Lucas Verschuldung S. 54.
4) Polizei Übertretungen § 365.
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Polizeistunde und Polizeiverordnung.
159
Opfer eines kriminellen Vorhabens zu werden, dürfen sie nicht ge¬
horchen. Der berufene Beamte andrerseits darf nicht ohne Not einer
frechen Verdächtigung ausgesetzt sein. So erübrigt nur, ihn zu ver¬
pflichten, sich soweit zu legitimieren, daß „ein verständig prüfender
Mann die Annahme des Gegenteils für ausgeschlossen erachtet 11 , weil
dieser Grad von Wahrscheinlichkeit selbst für den verurteilenden
Richter ausreichen soll. *) Eine solche Legitimation erbringt aber
unter kleineren örtlichen Verhältnissen schon die bloße Uniform oder
besondere Legitimationskarte. Mit dieser Sicherheit müssen sich nun
auch schon die in ihrer Freiheit beschränkten Staatsbürger begnügen,
da Täuschungen mit solchen Formen der Beglaubigung doch zu den
ganz seltenen Lebenserscheinungen gehören und jedes , weitergehende
an den Beamten gestellte Verlangen diesen in der Ausführung
seiner Dienstaufgaben lahmlegen, in seiner Autorität herabwürdigen
müßte.
VII.
Wenn nun das Gesetz neben dem Polizeibeamten auch den Wirt
und seinen Vertreter ermächtigt, die Aufforderung an die Gäste zu
richten, welche als die Vorbedingung der Strafbarkeit des späteren
Verweilens aufgestellt ist, so sind Privatpersonen ausnahmsweise mit
der Wahrnehmung öffentlicher Funktionen beauftragt, sie handeln in
quasipolizeilicher Tätigkeit. Die Rechtsidee, daß die höhere Gewalt
nicht überall könne vertreten sein, untere Organe in ihrem Namen
handeln, war eben so alt als der Rechtsgedanke, daß in der Not und
Einsamkeit selbst der Private die öffentlichen Funktionen vertretungs¬
weise solle ausüben. Wie denn Art 52 III Sachsenspiegel schon an¬
deutet: der Kaiser en mag aber in allen landen nicht gesin und alle
ungerichte nicht richten zu aller Zit, hatte auch der Unterbeamte,
wenn er nicht anwesend sein konnte, seine Vertretung durch eine der
Rechtslage nicht fernstehende Privatperson. Diese sollte dann ein-
greifen ane des richters urloub — oder ane des richters boten, so bei
der Pfändung, wenn das Vieh übergetreten war, der Personenpfändung
der Pfändung gegenüber dem Holzdiebe oder dem Jagdfrevler oder
der Festnahme des letzteren von Seiten der verletzten Grund- oder
Jagdberechtigten oder deren Vertreter. (§ 77 F. F. P. G. § 16 Preuß.
Forst-Dieb.-Ges. 2 ), § 117 St. G. B.), in welcher Richtung sich vielfach
altes Recht erhalten hat. Hiernach erscheinen die Privatpersonen nur
als Vertreter des öffentlichen Interesses, beziehungsweise der Beamten.
1) Ziebarth, Forstrecht S. 502.
2) Des Verf. Kommentar z. Preuß. Forstdieb.-Ges. § 16.
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160
VII. Rotering
Als der Wirt fungiert derjenige Inhaber der Schankstube, auf
dessen Gefahr und Rechnung die Wirtschaft betrieben wird, hier wie
im Rechtskreise des § 285 auch der Pächter, während als Vertreter
nicht jeder erscheint, welcher beim Ausschänken mittätig ist, sondern
nur diejenige Persönlichkeit, welche, wie die Ehefrau ’) oder Ober¬
kellner es übernommen hat, Rechte und Pflichten des Wirts im
allgemeinen wahrzunehmen, insbesondere auch die Ordnung in der
Schankstube oder an dem Vergnügungsort aufrechtzuerhalten. Es
erscheint nun die an die Gäste zu richtende Aufforderung als Straf¬
barkeitsmerkmal. Die nicht zum Weggehen aufgeforderten Gäste
machen sich auch dann nicht strafbar, wenn sie die Nacht hindurch
verweilen, die Polizeistunde sonach ganz und gar ignorieren. Denn
diese hat ihnen im Sinne des Gesetzes immer noch nicht geschlagen,
vielmehr nur dem hartnäckig ungehorsamen 2 ) Gast droht die Strafe.
Das Gesetz geht davon aus, daß nur eine besondere Mahnung geeignet
ist, die Unterstellung einer solchen hartnäckigen, trotzigen Auflehnung
gegen den Gesetzesbefehl zu rechtfertigen. Trifft das zu, dann fallen
diejenigen Gäste, welche die Aufforderung nicht gehört haben, in den
Kreis derjenigen Personen, welchen Strafe angedroht ist, gar nicht
hinein. Denn ein bloß fahrlässiges Überhören des Amtsbefebls macht
sie nicht zu dessen Verächtern. Die allerdings vertretene entgegen¬
gesetzte Rechtsanschauung 3 ) dürfte übersehen, daß sich der Ungehor¬
sam gegen den Amtsbefehl trotz ergangener Aufforderung, demselben
die Folge zu geben, auch an anderer Stelle des Abschnitts 29 als den
Gegenstand der Strafdrohung darbietet und diese anderen Normen
erkennen lassen, daß eine Aufforderung da nicht ergangen ist, wo sie
nicht wahrgenommen worden, eine Rechtsanschauung, welche auch
wohl ganz allein die sprachlich richtige sein dürfte.
Die Aufforderung 4 ) aber erscheint als eine pmpfangsbedürftige
Willenserklärung anch im Sinne des Strafrechts da insbesondere, wo
ihr Inhalt ein verschiedenartiger sein kann, welcher so wenig ein
Mißverständnis ausschließt als einen Einwand abseiten der Person,
an welche sie gerichtet ist. Dieser Gesichtspunkt erscheint als zu¬
treffend für § 367 Nr. 13 und die Nothilfe des § 360 Nr. 10, wo der
Aufgef orderte noch den in der Norm anerkannten Einwand hat, daß
er ohne eigene Gefahr dem Befehle nicht nachkommen kann.
Ein fahrlässiges Überhören der Aufforderung erfüllt daher den
1) E. K. G. Goltd. A. 42. S. 142.
2) Binding. I. c.
3) Auch Olshausen, Frank.
4) Oppenhoff, 1. c.
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Polizeistunde und Polizeiverordnung.
161
Deliktstatbestand noch keineswegs. Nur ist denkbar, daß der Aufge-
forderte dem Befehle nachznkommen sich rüstet nun aber, nicht um
Ungehorsam zu beweisen, sondern infolge bloßer Sorglosigkeit etwa
anderen- Dingen seine Aufmerksamkeit zuwendend, länger verweilt, als
das Verlassen der Schankstube erfordert. Allein da die Umgebung
an die Pflicht erinnert, muß ein mindestens unbestimmter Vorsatz
auch in dieser Sachlage gegeben sein. Keinesfalls könnte die An¬
nahme, ein Kartenspiel ‘), bis solches beendet ist, fortsetzen zu dürfen
oder daß eine Wahlversammlung 1 2 ) eine Ausnahme gestatte, auf
Beachtung Anspruch erheben, mindestens nämlich hätte die Erlaub¬
nis, zu verweilen, erbeten werden können, dann aber versagt werden
müssen.
Als Träger des Hausrechts kann der Wirt, nach Umständen sein
Stellvertreter, auch das Interesse an ungestörter Betätigung des eigenen
Willens in Wohnung und eigenen Bäumen zur Geltung bringen und
in Ausübung des Hausrechts das Sichentfernen der Gäste verlangen.
Das widerrechtliche Verbleiben kann sodann aus dem Gesichtspunkte
der idealen Konkurrenz 3 ) gleichzeitig die Anwendung des § 123 ge¬
bieten. Allein gerade hier erwächst die besondere Voraussetzung,
daß die Geltendmachung des Hausrechts auch so bestimmt betont
wird, daß den Auf gef orderten zum Bewußtsein gelangt, daß ihr Ver¬
halten zu dem Privatrecht des Wirtes in Gegensatz tritt und dieses
von ihnen widerrechtlich mißachtet wird. Nun kann hier als der
zur Aufforderung berechtigte Vertreter des Hausherrn schon jeder
auftreten, welcher nach dessen mutmaßlichem Willen dazu berufen ist,
das Hausrecht diesen Personen gegenüber zu wahren 4 ). Insoweit
sind sogar die Deliktsmerkmale des § 123 weniger gestrenge. Mangels
des erforderlichen Strafantrages aber tritt der Gesichtspunkt der idealen
Konkurrenz wieder zurück.
VIII.
Der zweite Mischtatbestand aus dem Bechtsbereiche des § 365
erheischt seine besondere Betrachtung. Mit wesentlich anderen Merk¬
malen tritt ein ganz anderes Delikt auf die Ebene der Erörterung.
Der Gesetzesbefebl richtet sich an den Wirt und an diesen allein,
nicht etwa auch an seinen Vertreter. Selbstverständlich erscheint es
aber, daß als der Wirt nicht allein der Pächter des Grundstückes, Nieß-
1) E.K.G. in Goltd. A. 42. S. 143.
2) Olshausen, h. 1 .
3) Binding, 1. c.
4) Frank Komm. § 123. Binding Handb. S. 619.
Archiv für Kriminalantbropologie. 96. Bd. 11
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162
VII. Rotering
brauch er desselben zu betrachten ist, sondern auch deijenige Ver¬
mögensverwalter, welcher es übernommen hat, in Vertretung, sei es
des abwesenden oder etwa verfügungsunfähigen oder beschränkt ver-
fügungsfähigen Besitzers, auch dem Staate gegenüber die öffentlich-
rechtlichen Verpflichtungen wabrzunehmen. Diese Person ist der
Wirt im Sinne des Gesetzes neben demjenigen, welcher aus eigenem
Hechte diese Stellung beansprucht.
Andere Personen, welche vorübergehend es übernehmen, die
Ordnung in der Schankstube oder dem öffentlichen Vergnügungsorte
im Namen des Wirtes aufrechtzuerhalten, sind nicht etwa als Ver¬
treter von der strafrechtlichen Haftbarkeit umfangen. Eine solche
kann hinsichtlich derjenigen Personen, welche, wie § 151 Gew. 0.
besagt, „der Gewerbetreibende zur Leitung des Betriebes oder eines
Teiles desselben oder zur Beaufsichtigung bestellt batte“, aus dieser
letzteren Vorschrift nicht hergeleitet werden. Die Übertragung einer
erweiterten Haftbarkeit hinsichtlich der Verpflichtungen, welche in
einem selbständig neben der Gewerbeordnung bestehenden Gesetze
aufgestellt sind, und auf andere Personen, welche als die Haftpflich¬
tigen zunächst nicht bezeichnet sind, kann nicht mit Grund behauptet
werden. Das Gegenteil würde nur dann zutreffen, wenn dieses Gesetz
als ein Ergänzungsgesetz zur Gew.-O. zu betrachten wäre. Andern¬
falls fällt in Rücksicht, daß der Gesetzgeber doch nicht ohne Grund
es unterlassen hat, auch in dem andern Gesetze eine gleichbedeutende
Bestimmung zu treffen. Ist das nicht geschehen, wie in dem Kranken-
vers.-Ges. v. 15. 6. 83 *), so ist es nicht beabsichtigt, die Haftbarkeit
weiter auszudehnen. Hinsichtlich des § 365 St G. B. ist das umso¬
mehr anzunehmen, als in dem Absatz 1 neben dem Wirt des Ver¬
treters gedacht ist, hiernach der Hechtsgedanke so nahe lag, wie nur
möglich. Zu diesem Auslegungsergebnisse führt „das Moment des
Zusammenhangs mit anderen Hechtssätzen“. Die Ausdehnung der
Haftpflicht des § 151 Gew.-O. auf die Nichtbefolgung polizeilicher
Vorschriften, welche nicht in der Gewerbeordnung selbst enthalten
sind, auf die vorbezeichneten Gewerbegehilfen würde bei der Fassung
solcher Vorschriften auf Bedenken stoßen, wenn wie in § 369, 2 und 3
Handlungen in Frage stehen, welche in dem Bereiche des eigenen
Gewerbetriehes gesetzt sind — „in ihrem Gewerbe“ — wegen „Ver¬
wahrung ihrer Feuerstätten.“ Im Bereiche des Bezirksstrafrechts, so¬
weit dasselbe berufen ist, die Gewerbeausübung zu ordnen, würden
Bedenken ähnlicher Art nicht zu vermeiden sein. So dürfte sich da-
1) E.K.G. in Goltd. A. 36 S. 149. Jedoch E.K.G. Bd. 42 S. 143 Soergel
Reehts8p. 1907 h. I. Frank u. Olshausen.
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Polizeistunde und Polizeiverordnung.
163
her eine Entscheidung rechtfertigen '), welche lediglich dem von
Berner aufgestellten Recbtsgrundsatze entspricht, daß allein das Nicht¬
strafen als bloße Untätigkeit der besonderen Begründung nicht bedarf.
Dazu kommt, daß mit der Vervollkommnung der Technik gerade
das Polizeistrafrecht im Auswachsen begriffen ist und sich in jener
Zeit, in welcher die Gewerbeordnung sich aufbauen sollte, gar nicht
absehen ließ, ob eine strafrechtliche Haftung der Gewerbegehilfen als
zeitweiser Vertreter des Prinzipals mit Rücksicht auf die technische
Ausbildung dieser Berufsgruppe schon als angezeigt erscheine.
IX
Was nun die Rechtsnatur des im zweiten Mischtatbestande des
Strafgesetzes aufgestellten Delikts anbetrifft, so kann der Tatbestand
zunächst durch ein positives Handeln gesetzt werden. So wenn der
Wirt, nachdem er die Gäste aufgefordert hat, sich zu entfernen, den¬
noch Getränke verabfolgt oder gar zum längeren Verbleiben einladet.
Das Gesetz aber faßt nicht diese mögliche positive Seite des Ver¬
haltens ins Auge, vielmehr nur die negative, die Nichtveränderung in
der Außenwelt, das Unterlassen der Nichtbeseitigung eines Zustandes,
dessen Bestehen das Gesetz als den Gemeininteressen abträglich er¬
achtet. Wenn auch nicht in dem Maße, wie in vergangenen Tagen
bei fehlender Straßenbeleuchtung, wenig energischer oder nicht aus¬
reichender Polizeigewalt, der beengenden Straßenbauweise, der in noch
höherem Grade sich ausprägenden Neigung zum Trunk und dem
durch lokale Gebundenheit — die Stadt war die Welt — 2 ) verur¬
sachten Kleinstadtshader, auch in der Gegenwart sich entäußernden
Straßenunsicherheit, läßt sich dennoch auch die Übertretung des
Polizeistundengebots einbeziehen in den Rahmen derjenigen Delikts¬
gruppe, welche Binding als das Erzeugnis gesetzgeberischer Massen¬
motive gekennzeichnet hat 3 ). Ganz abgesehen einmal von der Nacht¬
büberei, der Unzucht als der indisciplina der Jugend, gilt auch heute
noch, was Osenbrüggen 4 ) von mittelalterlichen Zeiten sagt, „die Nacht
warf — ihren Schatten weithin“. Immer noch, dann insbesondere,
wenn das Volk seine Feste feiert, ist die violentia sub noctis silentio
nicht eine so große Seltenheit, Besitz, Eigentum und persönliche
Sicherheit sind bedroht, Ehre und Sittlichkeit, vornehmlich aber das
Ruhebedürfnis des friedliebenden Bürgers. Aber auch Dinge, welche
1) Binding S. 746 Verbotene Analogie. E. Kassel, Goltd. A. 40 S. 177.
2) v. Schulte, Rechtsgeschichte § 81, Nr. 8.
3) Nonnen II S. 406.
4) Alamannisches St R. S. 367. 199.
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V1L Roterlno
sich in den Schankstaben and an den öffentlichen Vergnügungsorten
ereignen, können von der höheren Warte der Staatssicherheit aus als
solche betrachtet werden, welche der Polizeigefahr die Ebene öffnen.
In Tagen der Landeskalamität, in den Bäumen, welche staatsfeind¬
liche Bevölkerungsgruppen zu besuchen pflegen, kleiden sich die
Äußerungen des Zorns und der Unzufriedenheit nur zu oft in das
Gewand der Klassenverhetzung, Gotteslästerung oder strafbaren Auf¬
forderung. So sind es die Nachtschwärmer, welche zur Bechtsgüter-
gefährdung neigen, sie sind es auch, welche vor den Angriffen der
Genossen nicht gesichert sind. Dem Umstande aber, daß die Ge¬
fahren dank eines ausgebildeten Polizeisystems gering geworden sind
im Vergleiche zu denjenigen, welche sich uns darstellen, wenn wir
zurückblättern in dem Buche der Geschichte, daß in so manchen
kleineren und friedliebenden Ortschaften die Nachtruhe nur gar selten
einmal gestört zu werden pflegt, hat die Gesetzgebung auch Böcksicht
getragen, indem sie es dem Ermessen der Behörde überläßt, von der
Festsetzung der Polizeistunde für solche glückliche Erdenwinkel ganz
und gar abzusehen.
Das Gesetz bezieh also eine Veränderung in der Außenwelt her-
beizufübren, durch Beseitigung eines Zustandes, welcher die potenzielle
Gefährdung vornherein unbestimmter, verschiedener, also einer Masse
von Bechtsgütern enthält. Es obliegt der Polizei, den für das Ge¬
meinwesen unerwünschten Zustand zu beseitigen und ihre Organe
anzuhalten, schlimmstenfalls im Wege der Gewalt hier Wandel zu
schaffen.
Da aber die Organe der Polizei zumal in der Nachtzeit nicht
überall können vertreten sein, hat der Gesetzgeber zu ihrer Vertretung
diejenige Persönlichkeit berufen, welcher es schon im eigenen Interesse
obliegt, Ordnung aufrecht zu erhalten in den Schankstuben und öffent¬
lichen Vergnügungsorten. Ihr ist es daher auferlegt, durch ein posi¬
tives Verhalten zu bewirken, daß jene öffentlichen Bäumlichkeiten
Gäste zur geschlossenen Zeit nicht mehr beherbergen und zwar durch
Aufforderung und nötigenfalls andere an diese sich anschließende
Maßnahmen. Insoweit also das Unterlassen bestraft wird, ist aus¬
schließlich ein Omissivdelikt gegeben. In diesem Sinne sagt auch
Landsberg *): „§ 365 Absatz 1 ist reines Omissivdelikt, nach Ana¬
logie von § 123, Absatz 2 dasselbe nach Analogie von § 285“ 2 ).
Wenn nun aber der Gesetzestext nicht abgestellt ist auf die Strafbar-
1) Kommissivdelikte S. 219,
2) Das Unterlassen und Anstiftung der Gäste zum Verbleiben nach Eintreffen
der Beamten stehn in realer Konkurrenz.
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Polizeistunde und Polizeiverordnung.
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keit der Unterlassung, vielmehr diejenige des normwidrigen Dnldens,
so ist diese Fassung unzweifelhaft die Folge des Umstandes, daß das
Verbleiben der Gäste nicht so selten durch ein positives Tun, welches
noch keineswegs immer die Merkmale einer Anstiftung zur Über¬
tretung des Strafgesetzes durch die Gäste selbst enthält, veranlaßt
wird. Das Dulden sollte daher sowohl ein positives Verhalten als
auch ') die bloße Unterlassung treffen, steht also der Annahme, daß
die unter die Norm gezogene Handlung insoweit Omissivdelikt ist,
als sie ein bloßes Unterlassen sein kann, nicht entgegen.
Insoweit genügt dann aber die bloße Fahrlässigkeit 2 ), da das
Gesetz ein vorsätzliches Handeln nicht ausdrücklich verlangt, dasselbe
auch in der Mehrzahl der Fälle des objektiv gegebenen Tatbestandes
nicht zur Durchführung kommen würde, sollte dem nicht selten nur
zu sehr auf seinen Vorteil bedachten Wirt die hartnäckige Mißachtung
müssen nachgewiesen werden. Es genügt daher, wenn der Wirt aus
Vergeßlichkeit an die Zeit nicht denkt oder aus Mangel an Energie
nicht bestimmt und deutlich genug darauf hinweist, daß die Stunde
geschlagen hat, oder nicht darauf achtet, ob auch alle anwesenden
Gäste den Befehl vernommen haben.
Es ist aber anerkannten Rechtens, daß der Wirt seinem von den
Gästen nicht gern zur Kenntnis genommenen Befehle auch hat einen
gewissen Nachdruck zu geben. Es hält schwer, die Grenze dessen
zu finden, was noch von dem Wirt kann verlangt werden, welche
Opfer er noch bringen muß?
Folgende Gesichtspunkte dürften als nicht unmaßgebliche zu er¬
achten sein:
1. Es handelt zwar der Wirt als Organ der Polizei, aber als un¬
beamtetes. Es sind ihm daher Zwangsmaßregeln gegen seine Gäste,
die Ausübung von Gewalt gegen deren Persönlichkeit nicht zur Ver¬
fügung gestellt Wie der Beamte kann er nicht durchgreifen, es fehlt
die gesetzliche Ermächtigung.
2. Da das Gesetz nicht darf mit sich selbst in Widerspruch
treten, muß jede Maßnahme unterbleiben, welche zivilrechtlich, oder
auch strafrechtlich, verantwortlich macht.
3. Das Gesetz trifft den Wirt nur in seiner Eigenschaft als Organ
der Polizei, es stellt mithin keine Anforderungen, welche er nicht als
solches, sondern nur als Wohnungsinhaber kraft privaten Hausrechts
zu erfüllen in der Lage ist.
1) Frank, Nota III.
2) Auch über Kenntnis von der Polizeistunde als einer öffentlichen Ein¬
richtung, soweit sie durch Anordnung feststeht.
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166
VII. Roteking
4. Schließlich ist der Wirt aber auch in der Ausübung seines
Gewerbes einer gesetzlichen Beschränkung unterworfen, insoweit darf
er nicht einwenden, daß ihn die Durchführung der Polizeistunde in
seinem Verdienste schädige.
Bei solcher Rechtslage ist der Wirt gehalten, diejenigen Ma߬
nahmen, die ihn nicht zivilrechtlich, auch nicht (§ 185, 241, 223
St. G. B.) strafrechtlich verantwortlich machen, die auch nicht nur
Ausübung des Privatrechts sind, zur Unterstützung seines quasipolizei*
liehen Befehls schlechterdings in Ausführung zu bringen. So das
Aufräumen mit dem Mobiliar oder den Trinkgefäßen, das Auslöschen
der Lichter, jedoch nicht bis zur gefährdenden Dunkelheit, das Öffnen
der Fenster, jedoch nicht ohne vorgehende Androhung, weil nach
solcher die Gäste sich als nicht gefährdet erklären, was alles aber
nur nach Belegenheit der Sache als ausführbar erscheinen wird. Auch
das Fortnehmen der Spielkarten oder anderer Spiel Vorrichtungen
kommt in Betracht, nur ist der Wirt zu einer Gewaltmaßregel als
Organ der Polizei nicht als berechtigt erklärt. Zur Geltendmachung
seines Eigentumsrechts ist er ebenso wenig genötigt, wie zur Aus¬
übung seines Hausrechts, beides müßte ihn in seinem Gewerbe auch
übermäßig schädigen. Es erübrigt indessen die Hinweisung darauf,
daß ein Opfer, welches dem Prinzip der Verhältnißmäßigkeit wider¬
sprechen würde, schon um deswillen nicht gefordert sein könnte, weil
das Gesetz soweit selbst da nicht geht, wo die allgemeine Not oder
Landeskalamität zu wahren ist, im Falle der Nothilfe des § 360 Nr. 10
(§ 44, 3 Preuß. Feld- u. Forst-Pol.-Ges.).
Mit Recht aber fordert die Judikatur *), daß die Positivfeststellung,
wenn sie sich darauf stützt, der Wirt habe seiner Aufforderung nicht
den erforderlichen Nachdruck gegeben, diejenigen Maßnahmen be¬
stimmt bezeichne, welche derselbe bei gegebener Sachlage noch hätte
treffen können. Manches verhält sich hier anders unter kleinlichen
Verhältnissen als in den Räumen der vornehmeren Großstadtsunter¬
nehmung. Auf dem Lande insbesondere ist die Polizei nicht stets
zur Hand. Die jedesmalige Sachlage, verständige Würdigung des
Falles, Rücksicht auf die Persönlichkeit des Polizeiorgans und die ihr
zu Gebote stehenden Machtbehelfe rechtfertigen die Entscheidung, ob
ein fahrlässiges Verhalten noch darf unterstellt werden.
Schließlich aber trifft den Wirt auch dann die Strafe fahrlässigen
Unterlassens, wenn er für den etwaigen Abwesenheitsfall nicht für
die zureichende Vertretung sorgt oder, soweit das noch möglich, die-
1) E.K.G. in Goltd. A. 52 S. 423.
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Polizeistunde und Polizeiverordnung.
167
selbe beaufsichtigt. In dieser Hinsicht bindet ihn zwar nicht § 151
Gew.-Ordg., als ein nur für deren Bereich gegebener Gesetzesbefehl,
allein der Rechtsgedanke trifft zu, daß der Wirt verantwortlich ist,
wenn er „bei der Auswahl oder der Beaufsichtigung der Betriebs¬
leiter oder Aufsichtspersonen es an der erforderlichen Sorgfalt hat
fehlen lassen“.
Diese Rechtsanschauung wird einem Bedürfnisse gerecht, das
Strafgesetz wäre ohne dieselbe leicht zu umgehen. Allein es ist dem¬
selben damit nicht abgeholfen. Unter oft kleinlichen oder ärmlichen
Verhältnissen ist der Wirt nur zu oft außer Lage, solche Vertreter zu
stellen, die selbst diesen Verhältnissen gewachsen sind. Nur zu oft
müssen Ehefrauen, Kinder, selbst das Gesinde in der Notlage aus¬
helfen. Eine Schuld ist da schwer festzustellen.
So erscheint es wünschenswert, der Norm eine andere Fassung
zu geben und die im Abs. 2 des Gesetzes auferlegte Verpflichtung
auch dem Stellvertreter — Aufsichtsperson — aufzuerlegen, mithin
die Verantwortlichkeit für diese sowohl als den Wirt nach dem Vor¬
bilde § 151 Gew.-O. festzusetzen. Durch Polizeiverordnung ist nicht
zu helfen. Vielmehr diese wäre, wenn mit Binding in der Aus¬
dehnung des Unterlassungsverbots auch auf den Stellvertreter des
Wirtes eine verbotene Analogie gefunden wird, als contra legem er¬
lassen ebenso nichtig als sonst, secundum legem ergangen, ohne
Bedeutung.
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VIII.
Varia.
Von
A. Abels in München.
1. Chloroform-Attentate.
Seit der Edinburger Frauenarzt James Young Simpson in seinen
„Essays on Anaesthesia“ Edinbnrg 1849, über die wundervollen Er¬
folge berichtete, die er durcb Anwendung des von Liebig 1831 ent¬
deckten Chloroforms erzielte, (s. 0. Bryk, Entwicklggesch. d. Natur-
wiss. Lpz. 1909. Bd. I S. 625) tauchten in der — namentlich fran¬
zösischen und englischen — Tagespresse ganz periodisch bis zum
heutigen Tage die Schauerhistörchen über Chloroform-Verbrechen auf.
Nachdem ich nun die Jahre hindurch gewöhnt war, die Erzählungen
von der „arglistigen Betäubung“ usw. nach Art der Seeschlangen¬
märchen eigentlich nur in der Zeit zu erscheinen sehen, in welcher
Neuigkeiten spärlich sind, fiel es mir, bei meiner ständigen Kontrolle
der Kriminalrubrik in den Tagesblättern, auf, daß von Mitte 1907 bis
jetzt fast täglich irgend ein Chloroform-Attentat verzeichnet war. Ich
sammelte in 5 Monaten allein aus französischen Journalen 88 Fälle.
Die meisten trugen von vornherein den Stempel der Unwahrheit an
sich und es war mangels genauer Daten gar nichts mit ihnen anzu¬
fangen. In 22 Fällen ging ich den angeblichen Narkose -Ver¬
brechen nach.
Bei den Berichten handelte es sich mit wenigen Variationen um
Chloroformierung im Eisenbahnkoupö und nachträgliche Berau¬
bung, oder die Narkotisierung wurde auf offener Straße, gar mit
chloroformgetränkten Rosenbuketts vorgenommen, oder Schlafende
(in Hotels, auf Bänken usw.) wurden durch das Anaestheticon ganz
widerstandslos gemacht und endlich waren es die sattsam bekannten
Fälle, in denen junge — und alte — Mädchen gewaltsam betäubt
und vielfach sexuell mißbraucht worden sein wollten. In den 22 von
mir aufgegriffenen Nachrichten waren alle Abarten vertreten.
Ohne hier näher auf die mühsamen Recherchen zur Ermittlung
des wahren Hergangs einzugehen, sei nur festgestellt: Von den 22
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Varia.
169
Fallen eruierte ich 14 bezw. bekam auf meine Anfragen Bescheid.
Hiervon entbehrten 8 jeder Unterlage, 5 konnten nicht bewiesen
werden und nur in einem Fall war ein zwölfjähriges Mädchen zu
einer Stellenvermittlerin gelockt, hier mit Chloroform betäubt und von
einem Lebemann gebraucht worden. Letzteres aus London gemeldetes
Vorkommnis (13. 5. 07) steht übrigens nicht vereinzelt da. In den
1885 erfolgten Enthüllungen der „Pall Mall Gazette“ (in Übersetzung
„Der Jungfrauen-Tribut des modernen Babylon“, Budapest 1885)
sagte eine der vernommenen Kupplerinnen:
.„Ich gab, was oft geschieht, dem Mädchen ein Be¬
täubungsmittel. Es ist eine Mischung von Laudanum und noch
irgend etwas, manchmal wird Chloroform angewendet, aber ich
benutze entweder Schnupftabak oder „Laudanum“. Wir nennen
es „dworse“ oder „black draft“. Da liegen die Mädchen beinahe
wie tot und wissen erst am Morgen, was vorgefallen ist“.
Sehen wir nun die Möglichkeit der Chloroform-Narkose unter
den verschiedenen Umständen an, so ergeben sich folgende Fragen:
1. Ist es möglich a. gesunde wachende
b. gesunde schlafende Individuen
durch plötzliches unerwartetes Vorhalten von Chi. bewußt¬
los zu machen (evtl, zu töten)?
2. Bewirkt Chi. eine so vollkommene Anaesthesie, daß an einer
Frauensperson, ohne sie zu erwecken, Notzucht möglich ist?
3. Wie verhalten sich geschwächte und kranke Personen gegen Chi.?
Zu der ersten Frage schreibt Hof mann, Lehrb. der Gerichtl.
Med., Wien 1903, S. 142:
— „Weder Chloroform noch ein anderes Narkotikum
kann sofort und unmittelbar, nachdem es vor die Respira-
tionsöffnungen gebracht wird, beziehungsweise schon
nach einem oder wenigen Atemzügen Bewußtlosigkeit
herbeiführen.“ — Im selben Sinne äußern sich andere Fachleute
und verweise ich auf die Werke über Gerichtl. Medizin. Zur ge¬
naueren Feststellung wandte ich mich nun an 17 mir befreundete Arzte
mit großer Operationspraxis; an Veterinärmediziner um Auskunft.
Die lautete übereinstimmend verneinend, und wurde selbst nicht die
Möglichkeit einer sofortigen Narkotisierung bei normalen wachen
und normalen schlafenden Personen zugegeben. Das Chi. wirkt
allerdings bei den verschiedenen Personen verschieden, doch kann
man durchweg 3—4 wenn auch nicht immer scharf abgetrennte
Wirkungsstadien unterscheiden. R. Robert, Lehrb. d. Intoxikationen,
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170
VIII. A. Auels
Stuttg. 1906. Bd. II, S. 901, führt aus: Das erste Stadium, meist
als Initialstadium oder Stadium der noch nicht aufge¬
hobenen Willkür bezeichnet, ist dadurch charakteristisch, daß der
Patient noch bei Bewußtsein ist Er empfindet eine sich über den
ganzen Körper ausbreitende Wärme, Stechen in der Nase, Brennen
in der Konjunktiva, Kratzen im Halse, Hustenreiz im Kehlkopf.
Dann kommt es zu Kribeln und Prickeln in den Extremitäten, Ein¬
geschlafensein und Pelzigsein in Fingern und Zehen, verminderte Ge¬
ruchs- und Geschmacksempfindung, Störungen in der Seh- und Hör¬
fähigkeit und des klaren Denkens (Phantasien, Halluzinationen,
Gedankenflucht). Damit beginnt das zweite Stadium, das der
Exzitation, welches charakteristisch ist durch Irrereden, Lachen,
Singen, Weinen, Beten, Wehklagen, oft aber auch heftige Jaktationen,
Wutausbrüche, furibunde Delirien, ja selbst Konvulsionen. Die Haut
ist feucht und warm, das Gesicht gerötet, die Pupillen deutlich verengt,
der Spitzenstoß des Herzens verstärkt. Die Schmerzempfindung ist
noch keineswegs erloschen, vielmehr reagiert der Chloroformierte auf
die geringste Verletzung. Bei nicht an Narkotika gewöhnten Menschen
folgt rasch, bei Potatoren langsamer das dritte Stadium, das der
Toleranz oder der Depression, welches durch völlige Aufhebung
der Sensibilität und der spontanen Bewegung charakterisiert ist Die
Sensibilität erlischt zuletzt an der Conjunctiva bulbi und an der Nasen¬
schleimhaut. Die Muskeln werden in umgekehrter Reihenfolge er¬
schlafft, als sie vorher erregt waren, d. h. zuerst werden die Rumpf¬
muskeln (mit Ausnahme der Atemmuskeln) gelähmt, dann die der
Extremitäten und zuletzt die Masseteren.“
Aus Vorstehendem geht zur Genüge hervor, daß eine „momentane“
Narkose nicht eintritt.
Wie der gesunde wachende Mensch sich der Chloroformierung
energisch erwehren wird, so auch der gesunde Schlafende. Dolbeau,
Annales d’hygiöne publique usw., Jan. 1874, experimentierte an schla¬
fenden Tieren und an Menschen und bei beiden mit demselben Resul¬
tat. Bei Annäherung des cbloroformgetränkten Schwammes — Auf¬
wachen voller Entsetzen, instinktive Fluchtversuche. — Der Chl.-Dampf
wirkt auf das Herz ein und kann durch Herzstillstand den plötzlichen
Tod herbeiziehen. Man hat dies bei Narkosen zwecks Operation
konstatiert Dies ist, abgesehen von bestimmten Krankheiten (Herz¬
kranke, Morbus Basedowii), und einer vorher nicht nachweis¬
baren, individuellen Empfindlichkeit, auf den mit der Narkose ver¬
bundenen psychischen Insult zurückzuführen, da auch der Eintritt
des Todes aus Furcht vor der Operation, noch bevor diese begonnen,
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171
öfters beobachtet wurde, (s. A. Schmidtmann, Hdb. d. gerichtl. Med.
Berlin 1905. B. I S. 921 und Bronardel: La mort par le chloroforme,
Ann. d’Hyg. publ. 47, 315, 1902.
Für unsere Frage kommen diese Ausnahmefälle kaum in Betracht,
wenn auch zu berücksichtigen ist, daß bei schwachnervigen Individuen
ein Chl.-Attentat eine starke Nervenerschütterung erzeugen kann.
Durch Experimente bei kranken schlafenden erwachsenen Per¬
sonen und Kindern wurde bewiesen, daß die „arglistige“ Chlorofor-
mierung in den allermeisten Fällen auch nicht gelingt. Indem
ich bez. der Einzelheiten über Chi. noch auf die Monographie von
Monhaupt: Der gegenwärtige Stand d. Kenntnis v. d. Wirkung d.
Chi. u. Äthers auf den tierisch. Organismus, In.-Diss. Leipzig 1899,
hinweise, schließe ich mich den Autoren an, die
die erste Frage der „blitzschnellen“ Narkotisierung (mit irgend¬
einem der gebräuchlichen Narkotikons) im Sinne der Laien ablehnen
und die dritte Frage auch nur bedingungsweise bejahen.
Daß in einer mit Zustimmnng zum Zwecke der Operation er¬
zeugten Chl.-Narkose Verbrechen (Notzucht, Kindesunterschiebung)
verübt werden können und tatsächlich auch verübt worden sind, ist
wohl ebenso zweifellos wie, daß gewaltsam jemand zum Einatmen
von Chi. gezwungen werden kann. Diese Fälle sind aber sehr ver¬
einzelt und stehen absolut in keinem Verhältnis zu den vielen der¬
artigen, gerade in letzter Zeit sich häufenden Anschuldigungen. Die
werden entweder in voller Absicht, bewußt zu bestimmten Zwecken
(sich interessanter zu machen, bemitleidet zu werden, Ehe zu er¬
zwingen, zu Erpressungen usw.) erhoben, oder beruhen auf Einbil¬
dung, wobei das Individuum selbst fest an seine Behauptung glaubt.
Es ist dies begreiflich; die Narkotisierten haben durchweg sehr leb¬
hafte, namentlich erotische Träume und stellen sich nach dem Er¬
wachen ihre Träume als wirklich erlebt vor. Fast ausnahmslos sind
es halbwüchsige Mädchen, auch Frauen im Alter von 40—50 Jahren,
die solche Anklagen erheben. Soweit es sich nicht um bewußt falsche
Aussagen handelt, haben wir die Ursache zu solchen Beschuldigungen
meistens auf sexuelle Momente im somatischen Leben des Weibes
zurückzuführen. Vor allem ist es der Eintritt der ersten Menstruation,
die vielfach junge Mädchen zu den unglaublichsten Absonderlichkeiten
treibt. Dasselbe gilt von dem großen Heer der „älteren Jugendlichen“,
bei denen u. a. das Klimakterium von bedeutendem Einfluß sein
kann. Die physiologischen Ereignisse im Leben des Weibes spielen
eine bedeutendere Rolle, als im allgemeinen angenommen und wird
dieses in Kriminalistenkreisen noch viel zu wenig berücksichtigt. Es
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VIII. A. Abels
sei auf die zu beherzigenden Ausführungen von H. Groß in seiner:
Kriminal-Psychologie“, Leipzig 1905 S. 400 ff. hingewiesen und noch
ausdrücklich betont, daß die Beschuldigungen in der Narkose mi߬
braucht worden zu sein, von hysterischen (oft mit Nymphomanie be¬
hafteten) Personen mit Vorliebe erhoben werden. Da sind Frauen,
die z. B. den Arzt möglichst oft zum Zwecke gynäkologischer Unter¬
suchungen konsultieren, weil die Untersuchung mit dem Mutterspiegel
oder andere Manipulationen sie geschlechtlich erregen. Bei dieser
Gelegenheit können sie ohnmächtig werden, auch wenn die Unter¬
suchung in der Narkose geschieht, entstehen die unklaren Vorstellungen
von geschlechtlichem Mißbrauch und geben zu entsprechenden Be¬
schuldigungen Veranlassung. Winkler hat in seiner Arbeit: „Uber
Chloroformierung zum Zwecke der leichteren Verübung von Ver¬
brechen“ in der Viertelj.-Schr. f. gericbtl. Med. B. 23, 1875. S. 99
auf mehrere derartige Fälle aufmerksam gemacht, wie anch Iwan
Bloch in seinem schönen Buche: Das Sexualleben unserer Zeit“,
Berlin 1908, und H. Ellis, Mann und Weib, Würzburg 1909, ferner
E. Wulffen in: „Psychologie des Verbrechers“ auf die Beziehungen
des Sexuallebens als Auslösungsmoment für derartige mit aller Reserve
aufzunehmenden und energisch zu prüfenden Anschuldigungen hin-
weisen.
2 . Ein neuer „Nepper“-Kniff.
Ein neuer Schwindel-Trick wurde auf dem Verbandstage der
Pfandleiher Deutschlands in Berlin zur Kenntnis gebracht. Es kommen
goldene Uhren, d. h. Uhren mit goldenen Gehäusen in den Verkehr,
deren Gehäuse zwar aus echtem Geld besteht, in welches aber un¬
sichtbar ein Bleiring hineingefügt wird, um dadurch das Gewicht
der Uhren zu erhöhen. Ebenso werden Trauringe mit Bleieinlage
versehen. Weiterhin kommt es vor, daß man goldene Ketten dadurch
minderwertiger macht, daß in diese Glieder eingefügt sind, die einen
geringeren Gehalt haben, als der Goldstempel angibt, oder es be¬
finden sich in goldenen Ketten auch mehrere verschiedenartig ge¬
stempelte Glieder.
3. Vom Arbeitsfeld der Hoteldiebe.
Unter dem Titel: Wie die „Hotelratten“ arbeiten, soll
nach den Zeitungsmeldungen ein Detektiv in dem „Bulletin de police
criminelle“ Mitteilungen über das lichtsehene Wesen und Treiben der
„Hoteldiebe“ gemacht haben.
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Es heißt da: Mehrere Umstände erlauben den Moment vorher zu
sehen, an dem die „Ratte“ sich zur „Arbeit“ anschickt. Wenn der
Dieb allein ist, so bezahlt er am Abend seine Hotelrechnung und
zeigt seine Abreise für den Morgen mit dem ersten Zuge an. Wird
die Arbeit von zwei Genossen ausgeführt, so steigt der eine von ihnen
allein in dem Hotel ab, in dem sie ihr Handwerk ausüben wollen.
Er läßt seinen Komplizen erst um Mitternacht ein und öffnet ihm
vor Sonnenaufgang wieder die Tür. (! Bei der scharfen Kontrolle in
den erstklassigen Hotels wohl ausgeschlossen. Nachtportier!). Gegen
1 Uhr verläßt der Dieb in den meisten Fällen sein Zimmer, das
immer in den oberen Stockwerken gelegen ist. Mit Filzpantoffeln
bekleidet, untersucht er dann alle Lokalitäten, in denen sich jemand
versteckt halten könnte, die Klosetts, Badezimmer usw. Der Beamte,
der eine solche Ratte fangen will, darf sich also nicht an einem dieser
Orte verbergen; die Ratte würde ihm schnell entschlüpft sein. Der
Beamte muß vielmehr ein so gelegenes Zimmer nehmen, daß er durch
unauffällig mit dem Zwickbohrer angebrachte und dann maskierte
Löcher das Zimmer des Verbrechers und den ganzen Korridor beob¬
achten kann. Hat sich der Dieb vergewissert, daß keine Bewachung
in seinem Stockwerk vorhanden ist, kundschaftet er allmählich die
unteren Etagen aus, kehrt dann in sein Zimmer zurück und legt den
„Arbeitsanzug“ an, meist einen dunkelfarbigen „Pyjamas“. Die
Erzählungen von engen schwarzen Trikots und schwar¬
zen Masken, in denen die Verbrecher erscheinen, sind in das
Reich der Fabel zu verbannen, da der Hoteldieb in seinem An¬
zug nichts Auffallendes haben darf, wenn er bei seinem nächtlichen
Gang zufällig jemandem begegnet. Der Dieb nimmt auf seine Expe¬
dition nur die unbedingt notwendigen Instrumente mit und kehrt
lieber wieder auf sein Zimmer zurück, um andere (!) zu holen,
wenn es notwendig ist. Er dringt dann in ein Zimmer der ersten
oder zweiten Etage mit Hilfe eines Dietrichs oder Nachschlüssels ein,
niemals in ein Zimmer des Stockwerkes, in dem er selbst wohnt.
Vorher sucht er sich genau zu vergewissern, ob der Insasse des
Zimmers in tiefem Schlaf liegt. So horcht er mit angestrengter Auf¬
merksamkeit, das Ohr an die Tür (soll wohl in modernen Hotels mit
Doppeltüren schwer fallen) gepreßt, eine Viertelstunde, wenn es nötig
ist, und scheint der Schlaf des Reisenden nicht regelmäßig, so wählt
er sich eine andere Tür zu seinem Besuch aus. Ist er in einem
Hotel mit Sicherheitsriegeln an den Türen abgestiegen, so bedarf es
einer Vorbereitung während der Essenszeit, in der der Riegel für den
nächtlichen Besuch „präpariert“ wird, so daß er leicht nachgibt. Die
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VIII. A. Abels
mannigfaltigsten Formen des Dietrichs, vom harmlosen „Schuhknöpfer“
und „Hühneraugenmesser“ bis zu dem aus den verschiedensten Teilen
zusammengesetzten Nachschlüssel, sind das Handwerkszeug der Hotel¬
ratte, das er in einem Etui mit sich führt
Zu dieser Notiz schreibt mir Kriminalkommissar Curt
Weiß, der seit Jahren am Kgl. Polizeipräsidium in Berlin
speziell die „Hoteldiebe“ bearbeitet und über eine reiche Erfahrung
verfügt, unterm 23. März ds. Js. folgendes:
— „Der Artikel: „Wie die Hoteldiebe arbeiten“ ist das geistige
Produkt eines sog. „Privat-Detektivs“. Wie meist alle von „Privat-
Detektivs“ verfaßten Artikel, bezweckt auch der Inhalt dieses Artikels
offensichtlich nichts weiter, als Reklame für ihre mitunter nicht ein¬
wandfreie, durch gesetzlich unerlaubte Tricks aller Art, vom Publi¬
kum über die Maßen bezahlte Tätigkeit zu machen. Die Regie¬
rungen aller Kultur-Staaten, in denen eine wohlorganisierte und gut
ausgebildete Kriminalpolizei besteht, sind sich auf Grund der über¬
aus traurigen Erfahrungen, welche man im Laufe der Zeit mit den
Privatdetektiv-Instituten gemacht hat, darüber einig, daß man soviel
als möglich das unerfahrere Publikum, das sich allzu leicht durch
Schundliteratur und Detektiv-Romane, in denen ein Privat-Detektiv
stets die Rolle eines „Sherlock Holmes“ spielt, der an Geistesschärfe,
Kombination und Findigkeit alle Kriminalbeamten der Welt weit in
den Schatten zu stellen pflegt, betören läßt, vor der Ausbeutung dieser
Leute schützen muß. So sind selbst die Vereinigten Staaten von
Nord-Amerika, das Dorado der Privatdetektiv-Institute, neuerdings
amtlich darauf bedacht, die teilweise vom Staat subventionierten
Institute dieser Art nicht mehr zu protegieren und an Stelle derselben
eine staatlich organisierte, auf ihre Tätigkeit hin kontrollierbare Krimi¬
nalpolizei einzuführen.
Der Verfasser des Artikels verfällt in den groben Fehler einen
Fall, der ihn vielleicht einmal auf dem Gebiete der internationalen
Hoteldiebe beschäftigt hat, auf alle übrigen Fälle zu generali¬
sieren. Der routinierte Spezialist auf diesem Gebiete weiß jedoch,
daß gerade internationale Hoteldiebe sich durch die Vielseitigkeit bei
ihrer Betätigung untereinander zu unterscheiden pflegen. Internatio¬
nale Hoteldiebe treten allein, oder zu zweien, oder in Banden
auf, wobei die Rolle des einzelnen eine abgegrenzte und ver¬
schiedene ist.
Gerade Frankreich und Italien sind diejenigen Länder, wo der
Hoteldiebstahl in Blüte steht. Wenn der Verfasser behauptet, die
Erzählungen von engen schwarzen Trikots und schwarzen Masken,
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in denen die Verbrecher erscheinen, seien in das Reich der Fabel zu
verbannen, so ist diese Behauptung falsch. Der stellvertretende
Direktor der französischen Generalpolizei-Direktion, Herr Söbille, wohl
der berufenste Kenner auf diesem Gebiete, bestätigte mir gelegentlich
meines Aufenthaltes in Paris, daß gerade die französischen und
italienischen Hoteldiebe sich des schwarzen Trikots (maillot noir) zur
Verübung ihrer Verbrechen mit Vorliebe bedienen. (Vergl. das Buch
des franz. Privat-Detektivs Eug. Villiod: „Comment on nous vole,
comment on nous tue“, Paris 1905, der gerade das Gegenteil von
dem sagt, was der Verfasser des Artikels behauptet).
Herr Staätsanwalt Dr. L. in Leipzig machte mich kürzlich auf
einen Fall aufmerksam, welcher der Tochter des Inhabers einer welt¬
bekannten Leipziger Firma gelegentlich ihrer Hochzeitsreise in Paris
in den Wintermonaten voriges Jahres, in einem erstklassigen Hotel
begegnet ist. Diese wurde während der Nacht von einem in schwar¬
zem Trikot auf tretenden Hoteldieb (rat d’hötel) bestohlen. Durch
Geräusch gestört, ließ der unbekannte Dieb von seinem Vorhaben ab,
flüchtete mit großer Waghalsigkeit und Gewandtheit über einen Balkon
ins Freie und entkam.
Im übrigen braucht man gar nicht in die Ferne zu schweifen.
Erst vor einigen Jahren wurde in Berlin in einem erstklassigen Hotel
einer der gefährlichsten internationalen Hoteldiebe, der russische
Staatsangehörige G. 0., nach Verübung eines mitternächtlichen
Diebstahls in einem schwarzen Trikotanzug betroffen und festge¬
nommen.
Das Instrument, dessen sich die Hoteldiebe bedienen, um bei
Nacht in eip, verschlossenes Hotelzimmer zu dringen, ist der soge¬
nannte „ouistiti“ (ein in der französischen Gaunersprache, dem sogen,
„argot“ vorkommendes Wort). Dies ist ein kleines handliches und sinn¬
reich konstruiertes Instrument, mit dem der Dieb in der Lage ist,
nicht nur den quer gestellten Schlüssel von außen zu erfassen und
gerade zu stellen, sondern diesen auch alsdann nach innen durchzu¬
stoßen; im Besitz des Diebes befindliche Nachschlüssel (sog. Haupt¬
schlüssel) vollenden daraufhin die gewaltsame Öffnung. Diese Art
Diebe arbeiten zumeist unter Anwendung von Chloroform und anderen
narkotischen Mitteln.-“
Die Ausführungen von Weiß decken sich, soweit es sich um
das Vorgehen usw. der Hoteldiebe handelt, fast vollinhaltlich mit dem,
was Prof. Groß in der 5. Aufl. s. Handb. sagt. Was das zangen¬
artige Instrument „ouistiti“ anbelangt, so ist ein solches oder ganz ähn¬
liches ebenfalls bei Groß (Handb. f. Unters.-Richter 1908 Bd. II. S. 893)
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VIII. A. Abels
abgebildet Auf meine Anfrage hin schreibt mir Prof. Groß unter dem
24. März ds. Js.: . . . . „Das komplizierte, oft nicht passende onistiti
wird heute kaum mehr benutzt, statt dessen dienen verschieden weite
Blechröhrcben, die einfach anf den Schlüsselkopf anfgedrückt werden.
Paßt das Röhrchen — oder ein anderes — so wird der Schlüssel
gedreht nnd eingeschoben.“
Was nun die Betäubung durch Chloroform anbetrifft, so ver¬
weise ich auf die Notiz Chloroform-Attentate in dieser Nummer des
Archivs. (Vergl. noch meinen Artikel „Hoteldiebe“ in Nr. 214, 1909
der Münchener N. N., ferner J. Travers, Uniformierte Hoteldiebe,
Pitaval der Gegenwart, Bd. I, 1904, S. 302).
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Kleinere Mitteilungen.
Von A. Abels, München.
1 .
Indische Schleichgifte. (Abrus precatorius L.) Ein be¬
freundeter Schiffsarzt sandte mir im November 1901 zwei Berichte
„Le Petit Var“ Toulon vom 24. und 25. XI., deren wesentlicher Inhalt
lautete:
Die Sektion der 7 Rennpferde des Sportsmannes W. ergab, daß den
edlen Tieren durch Bubenhand ein Gift beigebracht wurde, dem sie inner¬
halb 2 und 3 Tagen erlagen. Über die Herkunft und Natur dieses fürch¬
terlichen Giftes konnten sich die Sachverständigen nicht einigen, doch
glaubte einer derselben, es handele sich um Verletzungen durch das ma-
layische Pfeilgift „Upas radja“. Der Veterinärarzt T. bemerkte jedoch,
daß das „Upas radja“ viel schneller, höchstens innerhalb weniger Stunden
wirke und es wahrscheinlicher sei, daß die Pferde an einem unbekannten
langsam arbeitenden Gifte verendet seien.
Der Verdacht, die Untat begangen zu haben, richtete sich gegen den
früheren, wegen Tierquälerei plötzlich entlassenen Stallknecht C., der aus
holländischem Kolonialdienst desertierte.
C. wurde verhaftet und gab ohne weiteres zu, aus Rache wegen seiner
Entlassung, die 7 Rennpferde durch Beibringung eines Giftes getötet zu
haben. Auf Befragen der Tierärzte behauptete der Verbrecher, er kenne
das Gift nicht, es wäre auf Java als „Zaga-Zaga“ allgemein in Anwendung.
Nirgends konnte ich etwas über Zaga-Zaga erfahren und erst im Juni
1908 stieß ich zufällig auf den Namen Zaga, unter welcher Bezeichnung
• die Javaner den Samen von Abrus precatorius L. kennen.
Der schönsamige Süßstrauch — Abrus precatorius Linn6 —
(Leguminosae [Papilionaceae] Vicieae Abrineae) ist in Ostindien einheimisch
und in den Tropengegenden Afrikas, Asiens, Amerikas überall verbreitet. Die
Samen — Giftbohne, Kranzerbse, Patemostererbse, Wägeböhnchen, Jequirity-
bohne i) Auge des Hahn — genannt (P. A. Nemnich, Polyglotten-Lexikon der
Naturgeschichte, Hamburg 1793—95, Abt. I S. 10 und B. Schuchardt,
Corresp. Bl. d. AJlg. ärztl. Vereins v. Thüringen 1883 S. 601—622) sitzen
Anmerkung des Herausgebers. Kurze Mitteilungen über dieses Gift
sind zwar veröffentlicht (z. B. Meyers Konv.-Lex.), ich glaube aber, diese Dar¬
stellung doch bringen zu sollen, da sie vielleicht auf manchen geheimnisvollen
Fall Licht werfen kann.
1) Sie ist auch der Samen der sog. „Wetterpflanze“, welche vor einiger
Zeit ganz unberechtigtes Aufsehen als „sichere Wetterprognose“ gemacht hat.
Archiv für Kriminalanthropologie. 86. Bd. 12
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Kleinere Mitteilungen.
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zu 4—6 in einer 3 cm und länger werdenden zweiklappigen Hülse. Sie
sind kugelig-eiförmig, lebhaft scharlachrot, stark glänzend, ca. 6—7 mm
lang, mit harter äußerer Samenschale und mit einem großen schwarzen
Flecken am Nabel versehen (Köhler: Medizinalpflanzen, Band III).
Eingehende Mitteilungen über die Wirkung des Abrussamen bringt die
jetzt eingegangene Zeitschrift: „Das Ausland“, Stuttgart, 7. Septbr. 1874,
No. 36 S. 76. Es wird auf die in Indien so häufigen Vergiftungen hin-
gewieson, doch sei es noch wenig bekannt, daß Behr viele Sterbefälle beim
Menschen und beim Vieh durch „unterhäutlicbe Vergiftung“ hervorgerufen
würden. Es heißt dann weiter: „Man nehme etwas Rati (Abrus) -Samen
und lege ihn 24 Stunden lang ins Wasser, bis er weich wird. Hierauf
löse man den roten Samenmantel vom Kerne ab und lasse diesen 12 Stunden
in Madar-Milch i) liegen. Dann zerstoße mau ihn in einem Mörser und reibe
ihn zwischen den flachen Händen, bis er die Gestalt einer Nadel annimmt.
Hierauf lasse man diese Nadel in der Sonne trocknen und stecke sie in die
Haut eines Feindes ein, dessen man sich zu entledigen wünscht — oder
man befestige eine solche Nadel an die Spitze eines Stockes und steche
damit sein Vieh, wenn man es vorzieht, ihn lieber an seinem Eigentum
als an seinem Leben zu schädigen.
Binnen etwa 6 Stunden wird die harte, nadelartige Spitze, welche
man geschickterweise in der Haut des'Feindes abgebrochen oder stecken
gelassen hat, enthärtet sein und er wird eine Empfindung haben, als ob
er von einem Dom gestochen wäre. Wählt man einen Hund, um das
Experiment zu machen, so wird das Tier ein wenig matt, -aber -sonst keine
anderen Symptome zeigen. Nach 12 Stunden gerät es in einen fieber¬
haften Zustand, hat großen Durst und bekundet starke Erschlaffung. Es
wird jede Nahrung verschmähen und einen beschleunigten Bin tum lauf
merken lassen. Dann wird es »ich niederlegen und in eine gewisse
Erstarrung versinken — und 2 Tage darauf ruhig vor Erschöpfung ver¬
enden. Versueht man das Experiment mit einem Menschen, so wird dieser,
dank seiner stärkeren Konstitution, einen längeren Kampf mit dem Tode
bestehen und einen Tag länger aushalten. Zuerst weiden Anzeichen eines
bösen Fiebers zu bemerken sein; dann wird er mit Schwierigkeit schlucken —
und zuletzt wird er, entweder mit allen Symptomen eines Fieberkranken
sterben — oder sie werden durch eine lokale Anschwellung des Punktes,
wo die Giftnadel eingedrungen ist, erschwert werden und mit einem Rot¬
lauf endigen. — Ein Mann in einem Dorfe in der Nähe von Ratval Pindi
wurde eines Morgens durch den Schmerz einiger Stöße auf das Genick
aufgeweckt. Er hatte gerade noch Zeit, einen Kick auf seine fliehenden
Gegner zu erhaschen; doch fühlte er keine Folge der erlittenen Stöße und
begab sich, wie gewöhnlich, an seine Tagesarbeit. Als er mittags nach
Hause zurückkam, klagte er über einen Schmerz kn Genick, und als seine
Mutter die Stelle untersuchte, entdeckte sie dort zwei kleine Stiche. Da
der Schmerz zunahm, wurde der Mann in das Spital gebracht und man
fand, daß er an einem bedeutendem Fieber laboriere. Das Fieber nahm
zu, das Genick schwoll an und ein Rotlauf trat ein. Er starb genau drei
Tage, nachdem er die Stiche erhalten hatte, und ohne deren zufällige Ent-
1) Milchsaft von Calotropis gigantea.
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deekung durch seine Mutter wUrde man höchstwahrscheinlich seinen Tod
einem bösartigen Fieber zugeschrieben haben.
Bei der Untersuchung post mortem fand man eine große Geschwulst
am Genick, die sich Ober die rechte Seite der Brust erstreckte. Die Haut
hatte ein bleifarbiges Aussehen und als man einen Schnitt in die Geschwulst
machte, fand man viel Blut und die gewöhnlichen Produkte einer Entzün¬
dung. Diese war bis auf die rechte Lunge ausgedehnt, die ebenfalls ent¬
zündet war und durch die frisehen Bande der Lymphe (!) an den Kippen
hing. Die anderen Organe waren gesund (!) mit Ausnahme der Milz, die
etwas erweitert war. Wäre der Stich auf die breitere Fläche des Rückens
versetzt werden, und selbst wenn der Körper von den Dorfbewohnern be¬
hufs einer post mortem-Untersuchung dem Amte eingesendet worden wäre,
so würde die Tatsache, daß Gift gebraucht worden, wahrscheinlich nicht
entdeckt worden sein.“ —
Der Abrussamen ist bereits in der Sanskrit-Literatur als Heilmittel
erwähnt und erfreut sich seit altersher in den Tropengegenden Asiens und
Afrikas eines guten Rufes. Die persischen Ärzte des 11. bis 13. Jahrh.
benutzten ihn schon in der Augenheilkunde. Seit Menschengedenken weiß
man in Indien und Ceylon, daß eine aktive Immunisierung gegen das
Abrusgift möglich ist und man schützt dort die Kühe durch innerliche
Darreichung gewisser geheim gehaltener Abruspräparate vor der Vergiftung.
In Europa war die Droge bis in die SO er Jahre des abgelaufenen Jahr¬
hunderts so gut wie unbekannt und nur gelegentlich kamen die hübschen
Samen als Halsketten, Rosenkränze und zu Spielsachen verarbeitet, in den
Handel. Erst als die Verwendung der Abrussamen als Heilmittel gegen
granulöse Augen Bindehautentzündung empfohlen wurde, befaßte man sich
bei uns ringehender mit denselben. Der Pariser Augenarzt de Wecker
(Compt. rend. de l’Aead. des Sciences. 1882. T. XC. S, 299) war es
besonders, der das Mittel in die Augenheilkunde einführte, doch folgte der
ersten Begeisterung sehr bald eine Ernüchterung, wodurch, wie L. Lewin
und H. Guillery (Die Wirkungen von Arzneimitteln und Giften auf das,
Auge, Berlin 1905, Bd. 2 S. 766) sagen, es schließlich zu einer gänzlichen
Ablehnung der Sache kam.
Die Chemie von Abrins precatorius ist nun bis zu der Erkenntnis
aufgeklärt, daß das wirksame Prinzip des Abrusgiftes der Eiweißkörper
Abrin ist (Warden und Wadell, Pharm. Zeitung 1884 No. 73). Das
Abrin hat viele Ähnlichkeit mit dem Rizin (aus dem Samen von Ricinus
communis L), wirkt jedoch bedeutend heftiger. Die Behauptung, daß eine
Abrin-Immunisierung von Tieren durch Gewöhnung erfolgen könne, voll,
wie L. Lewin (Eulenburg: Real-Enzyklopädie 1907, Bd. I S. 108) schreibt,
absolut nicht zutreffen. Das Abrin bewirkt bei Einspritzung nicht töd¬
licher Gaben unter die Haut, sehr heftige, in Nekrose ausgehende Ent¬
zündung der Umgebung, Schon außerordentlich kleine Dosen erzeugen
eine Agglutination des Blutes; die Blutgefäße, besondere der Magen-Darm-
traktus; die großen Unterleibsdrüsen und ganz besondere das Herz werden
intensiv angegriffen. Die Wirkungen sind bei Fleischfressern (Hunden,
Katzen) in jeder Beziehung viel stärker als bei Pflanzenfressern (R. Ro¬
bert, Lehrb. d. Intoxikat; Stuttgart 1906, Bd. II S. 706 und Schmorl,
Jahresb. d. Ges. f. Natur- u. Heilk. zu Dresden für 1899—1900). Die
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Herzmuskulatur wird aufs schwerste geschädigt; die Muskelfasern zerfallen
der „hydropischen Degeneration“, infolge deren sie auf das Doppelte ihres
Volumens anschwellen und ein auffallend helles Aussehen annebmen.
Vom Magen aus wirkt der Kern der Abrussamen ebenfalls äußerst
heftig; so bekam ein Lehrer der Naturwissenschaften von einem Schüler
Abrussamen vorgelegt, den er auch richtig als solchen erkannte. Um sich
von dem Kern der Samen Kenntnis zu verschaffen, öffnete er die Schale,
zerkaute früh 9 Uhr etwa die Hälfte des Kerns (etwa 0,04 g) und spuckte
des unangenehm bittersüßen Geschmackes wegen den größeren Teil wieder
aus. Trotzdem er auf keinen Fall mehr als 1 mg Abrin bekommen haben
konnte, wurde ihm nach einer Stunde übel; er bekam Erbrechen und
Durchfall. Diese Erscheinungen steigerten sich im Laufe der nächsten
Stunden ganz außerordentlich; er fühlte sich sehr schwach, so daß er nicht
mehr zu stehen vermochte, und seine Haut bedeckte sich mit kaltem
Schweiße. Innerhalb 6 Stunden hatte er 20 mal Erbrechen und ebenso
viele Stuhlentleerungen, die zuletzt nur noch Wasser und Schleim enthielten.
Da bis zum Abend die sicher erhoffte Besserung nicht eintrat, sondern die
Erscheinungen einen bedrohlichen Charakter annahmen, ließ er den ihm
befreundeten Schmorl (s. o.) rufen. Dieser fand ihn in schwer kolla¬
biertem Zustande; er klagte über Schwäche, Brechneigung, schmerzhafte
Koliken, quälenden Stuhldrang. Zunge war grau belegt; Körper und Hände
zitternd; Puls beschleunigt, sehr klein. Der Zustand besserte sich über
Nacht; jedoch hielt die Pulsbeschleunigung und Herzschwäche über 6 Tage an.
Die Wirkung auf Tiere, die sich wie auch die Menschen dem Gifte
gegenüber verschieden empfindlich erweisen, stimmt mit der des Ricins, von
dem ebenfalls Bruchteile eines Zentigramms und weniger zur Tötung eines
kräftigen Mannes genügen, fast ganz überein. Wie beim Menschen, so
erfolgt auch beim Tiere der Tod unter Erschöpfung oder unter Krämpfen,
manchmal allerdings erst nach 6—S Tagen.
Wie aus den modernen Forschungen ersichtlich, ist die Wirkung des
Abrusgiftes eine ganz enorme und so sieht man wieder, daß die Ein¬
geborenen der Tropenländer in der Auswahl, Bereitung, Anwendung der
Gifte, die sie der sie umgebenden üppigen Vegetation verdanken, eine
satanische Schlauheit und rücksichtslose Grausamkeit verraten (vgl. A. Abels
„Unbekannte Gifte“, Beil. z. Allg. Ztg. No. 188, 1906). Bei der Korrektur:
Vergl. betr. der Gewinnung der antigenwirkenden Substanzen des Abrus
Hdb. d. Technik u. Methodik der Imunitätsforschung von Kraus-Levadit^
Jena 1907. Bd. I. S. 391.
2 .
Das südamerikanische Pfeilgift Curare als „Zigeunergift.“
Bei meinen nun schon seit Johren gepflogenen, bisher ziemlich resultatlos
verlaufenen Recherchen nach dem im Handbuch d. U. 5. Aufl. S. 456 von
Prof. Groß erwähnten geheimnisvollen Zigeunergifte Dry, wandte ich
mich auch um Anskunft an den Verfasser des ganz ausgezeichneten „Lehr¬
buches der Intoxikationen“ (2 Bände. Stuttgart 1902) Prof. Dr. Robert
Kobert (Rostock). Dieser schrieb mir unter dem 25. Januar 1908:
„Vor kurzem kam ein Zigeuner in Lebensgefahr und wurde durch
einen hochgestellten in Bosnien und der Herzegowina praktizierenden Arzt
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Kleinere Mitteilungen.
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gerettet Er floß über von Dankbarkeit. Da er keine irdischen Schätze
besaß, verriet er dem Lebensretter das große Zigeunergeheimnis der Be¬
reitung eines furchtbaren Giftes und schenkte ihm etwas von der braunen,
teils pulverigen, teils stückigen Masse. Da der Arzt dem Geschenk nicht
traute, wurde von ihm sofort eine Spur der Substanz einem Hunde unter
die Haut gespritzt; nach 30 Minuten war er eine Leiche. Der Arzt schrieb
mir sofort die lange Prozedur der Bereitung . des Giftes mit Hilfe eines
Mikroorganismus aus einer gärenden besonderartigen Flüssigkeit und sandte
mir das Gift.
Die chemische und die pharmakologische Untersuchung wies absolut
sicher nach, daß der Zigeuner den Lebensretter aufs frechste beschwindelt
hatte, denn das Gift bestand aus dem südamerikanischen Pfeilgift Curare
und aus sonst weiter nichts. Dies ist das entschleierte Geheimnis dieses
Zigeuners. Von Selbstdarstellung dieses Giftes kann gar keine Rede sein.
Es ist sogenanntes Tubencurare und enthält Tubocurarin (Robert,
Lehrb. d. Indoxikat. Stuttgart 1902. Bd. II S. 1179) als wirksame Sub¬
stanz. Es ist wohl käuflich durch einen Apotheker von einer Welt¬
handlung bezogen und zwar wohl von Indien aus und von hier unter die
Zigeuner vieler Länder verteilt worden. Von einem Aspergillus, der dies
Gift erzeugen könnte, ist keine Rede.“ —
Unter Curare, auch Urari, Woorara, Wurali, Uvari, Avara, versteht
man die bei zahlreichen Indianerstämmen des Orinoko- und Amazonen¬
stromes gebräuchlichen Pfeilgifte. Dieselben stellen schwarzbraune, in
Wasser zum größten Teil lösliche, bitter schmeckende Massen dar, die je
nach Herkunft, Bereitung usw. in ihrer Wirkung ganz bedeutend schwanken.
Die Basis für die Curare-Fabrikation bilden Rinde, Wurzeln, Holz ver¬
schiedener St rychnos arten (Strychnos Castelnoeana Weddell, St. toxifera
(„Yeh“) Schomb; St. Crevanaii Planch.). (Vgl. L. Lewin: Die Pfeilgifte,
Berlin 1894; A. Abels: Die Pfeilgifte, Münchner N. N. No. 550 1905.)
Im Handel unterscheidet man .das Calebassen-Curare in Flaschenkürbissen,
das Tubo-Curare in Bambusröhrchen verpackt und das Topf-Curare in
irdenen Töpfchen. Je nach Provenienz differieren die einzelnen Handels¬
sorten in ihrer Wirkung, wie sie sich auch chemisch etwas voneinander
unterscheiden. Nach den eingehenden Arbeiten von R. Böhm (Abhandl.
d. Mathematisch-Physischen Klasse d. Kgl. Sächs. Gesellsch. d. Wissenschaft,
22. Bd. 1895 und 24. Bd. 1897) ist das wirksame Prinzip der Curare-
sorten kein einheitliches, sondern eine Reihe von Basen. Von diesen be¬
sitzt das Curin die schwächere, das Curarin die stärkere Wirkung.
Gleichgültig nun, welches Curare mau anwendet, entfalten sie alle subkutan
beigebracht die typische sog. Curare-Wirkung, d. h. sie lähmen schon
bei sehr großer Verdünnung die Endigungen der motorischea Nerven der
Skelettmuskeln. Bei Menschen können 0,05 bis 0,12 g Curare Vergiftung
hervorrufen, während 0,024 g Curarin die letale Dosis darstellen dürfte.
Die Aufnahme des Giftes geht schnell von Wunden, langsam von Schleim¬
häuten aus vor sich. Vom Magen und Darm geschieht dies so langsam,
daß bei der dem Mittel eigenen, raschen Ausscheidung durch die Nieren
nicht leicht eine Vergiftung zustande kommt. So lecken die Indianer
das, was ihnen beim Pfeilbestreichen an den Fingern klebt, ruhig ab.
Über die enorme Wirkung der Pfeilgifte im allgemeinen wurden und
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Kleinere Mitteilungen.
werden noch immer die übertriebensten Mitteilungen gemacht. So wird
namentlich dem Curare, das man als das „Lieblingsgift“ der Romanciers
bezeichnen kann, nachgesagt, daß es selbst bei der leisesten Hantverletzung
blitzschnell töte. Das Motiv von der vergifteten Waffe finden wir
schon im antiken Drama, doch mögen ee sich die Herren Dichter gesagt^
sein lassen, daß die Wirkungen der Pfeilgifte, gleichgültig ob es sich um
afrikanische, asiatische, amerikanische usw. handelt, keineswegs so
fürchterlich sind und so schnell eintreten, wie gemeinhin geglaubt wird.
Die Erfahrungen in den verschiedenen Kriegen mit Eingeborenen, die sich
vergifteter Pfeile (Bolzen) bedienen, haben es aufs deutlichste bewiesen,
daß die wenigsten der damit verursachten Wunden bei rechtzeitiger Hilfe
den Tod nach sich ziehen.
Es mag noch darauf hingewiesen sein, daß man namentlich in den
Hafenstädten, wie: Triest, Hamburg, London usw. vielfach von Matrosen,
die von dem malayischen Archipel heimkehren, Blasrohre und Bolzen, sowie
Pfeile, die meist mit dem Ipoh-Pfeilgift (P. Geiger: Beiträge zur Kenntnis
d. Ipoh-Pfeilgifte. J.-D. Basel 1901, 103 S. m. 3 Tafeln) bestrichen sind,
für billiges Geld kaufen kann und es daher schon gar nicht ausgeschlossen
erscheint, daß die vergifteten Waffen zu verbrecherischen Zwecken bei uns
benutzt werden.
A
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Besprechungen
i.
Anton Brosch: Die Selbstmörder. Mit besonderer Berücksichtigung
der militärischen Selbstmörder und ihrer Obduktionsbefunde, Leipzig
und Wien. Franz Deuticke 1909.
Die Fülle und Eigenartigkeit des in diesem Buche gebotenen, sowie
die Wichtigkeit der hier abgehandelten Sache für den Leserkreis des Ar-
chives rechtfertigt wohl ein genaueres referierendes Eingehen auf Broschs
Monographie. Sie enthält die zum großen Teile neuartigen Schlußfolge¬
rungen, welche der Autor aus seinen jahrelangen Beobachtungen des ihm
zu Gebote stehenden Materiales von militärischen Selbstmördern ziehen
mußte. Dieses militärische Milieu, aus welchem Broschs Leichen stammen,
bringt sicherlich Nachteile, besitzt aber auch alle Vorteile der Einseitigkeit.
Vorteile insofern, als unter dieser Voraussetzung eine Sichtung und Beur¬
teilung der erhobenen Befunde im Sinne einer einheitlichen Grundidee
leichter fallen mußte, als wenn an den 327 verarbeiteten Selbstmordfällen
beide Geschlechter, die verschiedenartigsten Berufs- und Gesellschaftsschichten,
die differentesten Altersstufen Anteil genommen hätten. Nur unter dieser
Voraussetzung war es möglich, aus dieser relativ geringen statistischen
Tatsachenreihe in aller Schärfe Gesichtspunkte präzisieren zu können, die
— davon ist Referent überzeugt — für das weitere Studium der Psycho¬
logie des Selbstmördern, und dadurch für das Studium der Frage nach
seiner geistigen Gesundheit oder Erkrankung von richtunggebender Bedeu¬
tung sein wird.
Nach einem einleitenden Abschnitte, welcher die formelle Behandlung
der Selbstmordfälle in der österreichischen Armee vom Gesichtspunkte ihrer
Zurechnungsfähigkeit zum Gegenstände hat und auf die verschiedenen An¬
lässe hinweist, welche eine obligatorische Leichenöffnung aller Selbstmord¬
fälle dringend erheischen, kommt Brosch nach einer tabellarischen Zu¬
sammenstellung des von ihm untersuchten Leichenmateriales auf die „patho¬
logische Anatomie des Selbstmordes“ zu sprechen, d. h. er bespricht hier
ohne zunächst weitgehende Schlüsse zu ziehen, in statistischer Weise jene
krankhaften Organveränderungen, die er an seinen Selbstmördern erheben
konnte. Dabei beschränkt sich aber der Verfasser nicht, wie dies einem
allgemeinen Usus entsprechen würde, darauf, die grob anatomisch nach¬
weisbaren Veränderungen am Gehirn und seinen Häuten zu beobachten
und zu registrieren, sondern er berücksichtigt auch die mehr oder minder
ausgesprochenen Erkrankungen der anderen Organsysteme sowohl an und
für sich, als auch in Verbindung mit nachgewiesenen Erkrankungen des
Zentralnervensystems. Er kommt zu dem durch Tatsachen belegten Er-
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184
Besprechungen.
gebnis,’ daß nur ein ganz geringer Bruchteil seiner Selbstmörder ganz frei
von körperlichen Veränderungen vorgefunden wurden. Es wäre nun nahe¬
liegend gewesen, hätte aber wenig kritischen Geist verraten, wenn der Ver¬
fasser diese Tatsache unmittelbar als solche für die Frage nach der geistigen
Zurechnungsfähigkeit des Selbstmörders verwendet hätte. Er zeigt vielmehr
in dem IV. Abschnitte („die inneren Beziehungen der Selbstmorde-Kompo-
nenten“) wie die pathologisch-anatomischen Befunde erst dann ein weg¬
weisendes Moment für die richtige Beurteilung dieser Frage werden können,
wenn man auch andere hier maßgebende Faktoren, namentlich aber das
Milieu des Selbstmordkandidaten entsprechend berücksichtigt. Besonders
schön ist nach Ansicht des Referenten dieser innere Zusammenhang am
Beispiel der retardierten Pubertät, des Seniums und die Bedeutung der er¬
hobenen Gehirnbefunde in Beziehung zum Alter des Individuums des
näheren ausgeführt; Details, auf welche hier aus Raummangel nicht näher
eingegangen werden kann.
Auch die Beurteilung von Abnormitäten oder Erkrankungen, welche
die rein physische Leistungsfähigkeit des Soldaten beeinträchtigen (Hypo¬
plasien des Gefäßsystemes etc.) in ihrer Beziehung zum militärischen Milieu
seines Materiales ist in scharfsinniger und kritischer Weise durchgeführt.
Alle diese Tatsachen, Beobachtungen und Folgerungen führen Brosch zu
einer Analyse des Selbstmordes, welche ihm kaum einen Zweifel darüber
läßt, daß die Tat fast ausnahmslos unter der Voraussetzung eines, sagen
wir, psychischen Ausnahmszustandes begangen wurde und daß man nur
unter Beobachtung aller maßgebenden, oben angegebenen Faktoren zu
einer annähernd richtigen Beurteilung der Pathogenese der Tat und der
Frage nach der Zurechnungsfähigkeit in concreto kommen könne. Da
weiterhin der Leichnam eines dem Suicid zum Opfer gefallenen Indivi¬
duums nur das Endglied einer ganzen Kette von Selbstmordkandidaten dar-
stellt, so streift Brosch auch kurz die Frage einer Prophylaxe des Selbst¬
mordes, die vor allem nach rechtzeitig gestellter Diagnose „Selbstmord¬
kandidat“ in der Überführung in ein Milieu bestehen muß, dessen Druck
der ganzen physischen und psychischen Konstitution des Individuums an-
gepaßt ist Interessant ist auch die Erklärung, welche Brosch für die
Tatsache findet, daß im Gegensatz zu der Gesamtselbstmordzahl jene der
österreichischen Armee beträchtlich höher sei, wie jene der deutschen. Sie
läßt sich, wie näher ausgeführt wird, zwanglos erklären aus dem Gegen¬
satz der Proportionalität zwischen Bildungsdifferenz und Selbstmordfrequenz,
sowie aus dem nationalen Homogenitätsprinzip in seiner Bedeutung für den
Selbstmord.
Der V. Abschnitt gibt dann Handhaben zur Durchführung einer
psychologisch-somatischen Analyse der Selbstmordfälle, für welche der
„Indizienbeweis“ trotz der dagegen zu erhebenden Bedenken nach Art des
Analysenschemas herangezogen werden muß. Dieses berücksichtigt die im
nachfolgenden wiedergegebenen Punkte:
Analysenschema zur Indizienbeweisführung
der Zurechnungsfähigkeit.
1. Eruierung klinischer Daten.
2. Feststellung angeborener Anomalien.
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Besprechungen.
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3. Feststellung von Befunden am Gehirn und seinen Häuten.
4. Feststellung von Befunden, welche die physische Leistungsfähigkeit
beeinträchtigen.
5. Feststellung von Krankheiten, welche die Daseinsempfindung be¬
einträchtigen.
6. Feststellung etwaiger akuter Erkrankungen.
7. Feststellung von Krankheitsspuren.
8. Feststellung besonderer physiologischer Zustände.
9. Feststellung besonderer Kombinationen.
10. Feststellung der Todesart.
11. Prüfung hinterlassener Aufzeichnungen.
12. Berücksichtigung des Milieus.
13. Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit auf Grund einer summa¬
rischen Zusammenfassung von 1 bis 12.
Die Bewertung der bei den einzelnen Fragepunkten erhobenen Be¬
funde wird auf den folgenden Seiten in knapper und klarer Form gegeben,
wobei leider die Bedeutung manch physiologischen Ausnahmezustandes
(Menses, Gravidität, Laktation usw.) aus naheliegenden Gründen keine
Würdigung finden konnten.
Ein letzter VI. Abschnitt des vorliegenden Werkes bringt endlich die
Grundzüge für die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit der Selbstmörder,
wobei dem forensischen, psychologisch-psychiatrischen und pathologisch¬
anatomischen Standpunkt, ja — offenbar einer praktischen Notwendigkeit
gehorchend — sogar den kirchlichen Anschauungen Rechnung ge¬
tragen wird.
Die Fülle des auf 12 Druckbogen der vorliegenden Monographie Ge¬
botenen konnte leider vom Referenten nur kurz gestreift werden. Zu¬
sammenfassend möchte er nochmals betonen, daß er die hier niedergelegten
Befunde und Anschauungen, wenn sie auch vielleicht im weiteren Verlaufe,
an einem vielseitigen Materiale überprüft, manche Einschränkungen erfahren
dürften, für so wichtig und interessant hält, daß er nicht nur dem forensen
Mediziner, sondern auch dem im praktischen Richterberufe stehenden Juristen
wie dem Soziologen eine eingehende Beschäftigung mit dem außerdem
schön und flüssig geschriebenen Buche aufs wärmste empfehlen möchte.
Ohne vielfältige und reiche Anregung empfangen zu haben, wird wohl
keiner von ihnen es aus der Hand legen!
H. Pfeiffer, Graz.
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Zeitschrifteaschau,
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Friedreichs Blätter für gerichtliche Medizin. 1909. Nr. 3.
Mai—Juni.
Wolf: Die Kurpfuscherei und ihre Bekämpfung.
Die Tatsache des konstanten Anwachsens des Kurpfuscherunwesens in
Deutschland führt Verfasser auf verschiedene Faktoren zurück. Unter
diesen spielen die Hauptrolle: Die Dreistigkeit der Kurpfuscher, die falsche
Scham und Kritiklosigkeit des Publikums und der in ihm wohnende Hang
zum Übernatürlichen und Mystischen. Der schädliche Einfluß des Kur-
pfuschertumes auf das öffentliche Wohl sei ein ganz enormer. Diesen Er¬
wägungen entsprechend ist der Entwurf eines Reichstagsgesetzes, betreffend
die Ausübung der Heilkunde durch nicht approbierte Personen und den
Geheimmittelverkehr entstanden, zu welchem schon — wie in dem Auf¬
sätze näher ausgeführt wird — eine ganze Reihe von maßgebenden Per¬
sonen ihre Meinung geäußert haben. Nach Ansicht des Verfassers fällt im
Kampfe gegen das Kurpfuschertum die wichtigste Aufgabe dem beamteten
Arzte zu, welcher die „Laienärzte“ zu beaufsichtigen hat und vermöge
seiner Stellung in erster Linie dazu berufen ist, aufklärend auf das Volk
zu wirken und dadurch dem in Rede stehenden Übel entgegen zu arbeiten.
Einen weiteren wichtigen Faktor im Kampfe gegen das Kurpfuschertum
sieht weiterhin Wolf darin, daß die Vereine für Volkshygiene, die Schul¬
ärzte, Hebammen, Frauenschulen sich dieser Fragen in propagatorischer
Weise annehmen. Verfasser erwartet, daß eine Aufklärung der Bevölke¬
rung auch in ihr die Überzeugung wachrufen muß, es gebe nur eine wahre
Heilkunde, die auf wissenschaftlicher Grundlage aufgebaute Medizin, und
diese könne nur* von wohlausgebildeten und wissenschaftlich geschulten
Ärzten ausgeübt werden.
Ger lach: Über forensisch wichtige Schußwerkzeuge und ihre Ladung.
Im Vordergründe des forensischen Interesses stehen als Schußwaffen
die Revolver verschiedener Systeme, meist mit einem Kaliber von 6—9 mm
Spitzkugeln. Ein langes Geschoß mit Vollmantel deutet auf eine Militär¬
waffe hin. Die moderne Jagdbüchse ist durch ein Halbmantelgeschoß mit
freier Bleispitze ausgezeichnet. Die Verwendung von Expansionsgeschossen,
bezw. die Auffindung ihrer Bruchstücke spricht für Forstbeamte, Jäger,
Wilddiebe. Die Flobertprojektile tragen die charakteristische äquatoriale
Rinne. Absonderliche Ladung (Sand, Kies, Nägel usw.) spricht für Selbst¬
mord. Wichtig ist die Beachtung der Veränderung, welche ein Projektil
auf seinem Wege durch den Lauf erfährt.
Endlich werden zwei kriminalistisch nicht unwichtige Fälle kurz er¬
wähnt: I. In dem Gehirn eines Erschossenen wurde das Kartonblättchen,
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Zeitschriftenschau.
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welches zum Verschlüsse von Schrotpatronen dient, aufgefunden. Es be¬
stand aus sogenannter Lederpappe, welche nur von einer bestimmten Firma
am Orte verwendet wurde. Durch Nachforschung bei den Geschäftsleuten
gelang auf diesem Wege die Eruierung des Täters. II. An der Innenseite
des zur Ermordung eines Dienstmädchens benützten Revolverlaufes waren
durch Rostbildung zahlreiche Rinnen gefressen. An der deformierten Mord¬
kugel fanden sich entsprechend diesen Rinnen Kämme vor, die genau hin¬
einpaßten. Dieser eigenartige Befund kennzeichnete die Mordwaffe.
Bürger: Häufigkeit und gebräuchliche Methoden des kriminellen Abortus.
Mann: Über die chronische Arsenvergiftung vom Standpunkt der gericht¬
lichen Medizin.
Raecke: Gehorsamsverweigerung und Geisteskrankheit
Zorn: Über schwäbische Kost. (Die Arbeiten werden nach ihrem vollständigen
Erscheinen referiert werden!). H. Pfeiffer, Graz.
Archives d’Anthropologie criminelle. 15. Avril 1909.
Löale: Criminalitä et Tatouage.
Auf Grund statistischer Überlegungen und auf Grund literarischer
Studien gelangt der Verfasser über die Beziehung zwischen Tätowierung
und Kriminalität zu den folgenden Schlüssen: Der Kriminelle ist nicht so
sehr deshalb oft tätowiert, weil er Verbrecher ist, sondern vielmehr deshalb,
weil sich diese Menschen zu einem besonders großen Prozentsatz aus sozial
niedrigstehenden Bevölkerungsschichten rekrutieren. Denn die Unsitte des
Tätowierens findet sich um so häufiger, je niedriger die kulturelle Entwick¬
lungsstufe der Individuen ist. Der Nachweis einer Tätowierung an einem
Menschen gestattet es nur, zu folgern, daß er einer niedrigen Bevölkerungs¬
schicht angehört, welche eine primitive Geschmacksrichtung besitzt und
welcher die letzten Fortschritte der Zivilisation noch nicht in Fleisch und
Blut übergegangen sind. Es ist daher die Häufigkeit des Tätowierens
ebensowohl wie bei verbrecherischen als bei anständigen Menschen mehr
das Produkt von gewissen äußeren als von inneren Prämissen. Sie ge¬
stattet nicht einen Rückschluß auf eine spezifisch kriminelle Veranlagung
eines Menschen, sie ist vielmehr die Resultante aus einem von vornherein
gegebenen, kulturell niedrig stehenden Milieu, welch letzteres allerdings für
das Kriminell werden eines Menschen von wesentlicher Bedeutung ist.
Gran jux: De la prophylaxie de l’insociabilitö par la sölection scolaire.
Conference faite le 17 decembre 1908 ä l’Ecoie des Hautes fitudes
Sociales.
Was die Kriminalität unserer Zeit auszeichnet, ist weniger die Zu¬
nahme der Zahl der Verbrechen, als die stets wachsende Beteiligung der
Jugendlichen am Verbrechen. Es hat die Stadt Bordeaux daher die Initia¬
tive ergriffen und zunächst in den öffentlichen Schulen eine Zählung der
geistig abnormalen Kinder veranlaßt. Die Lehrer mußten jene Kinder,
welche sie für psychisch abnormal hielten, anzeigen. Es erfolgte dann
eine ärztliche Untersuchung durch eine Kommission und die Zuweisung der
als wirklich abnormal befundenen Kinder an ein Erziehungssystem
(„sölection scolaire“), welches als das passendste erschien, um ihre Abnor-
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Zeilßchriftenschau.
mitäten nach Tunlichkeit zu bekämpfen. Unter diesen Systemen nun
spielt, wie sich gezeigt hat, die Überführung der Abnormen in ein ganz
geändertes, ihnen angepaßtes Familienleben die wichtigste und segensreichste
Rolle. Es vereinigt alle nur wünschenswerten Voraussetzungen für eine
Besserung oder Heilung dieser geistigen Ausnahmezustände. Die „sdlection
scolaire“ — die Auslese der Abnormen in der Schule — ist demnach als
eine außerordentlich wichtige soziale Maßnahme zu bezeichnen. Verbreche¬
risch gewordene Kinder mQssen demnach in Besserungsanstalten unterge¬
bracht werden, die Zurückgebliebenen in entsprechenden Erziehungs- oder
Krankenhäusern. Die Unterbringung der geistig Abnormen mittleren oder
geringeren Grades in geeigneten Familien durch den Arzt aber muß als
„Methode der Wahl“ für jene Gruppe der Jugendlichen bezeichnet werden,
welche für die Abhaltung vom Verbrechen und für die Erziehung zum
sozial leistungsfähigen Menschen die größte Bedeutung haben. — Näher
auf die interessanten Ausführungen einzugehen, verbietet leider der knapp
bemessene Raum.
Achille: Le Service anthropomdtrique de M. Berdllon, rapport sur le bud-
get de la Pröfecture de Police.
H. Pfeiffer, Graz.
Archive» d’Anthropologie criminelle. 15. Mai 1909.
R. Icard: La Fiche-Numdro et le Registre Digital; modifications apportdes
ä la rdforme et rdponse ä quelques objections.
Weitere Beiträge zu den in der Februarnummer des Archives mitge¬
teilten uud hier schon referierten Vorschlägen für eine gleichmäßige inter¬
nationale Durchführung und Übermittelung der Personsidentifizierung von
Verbrechern. Die Details der interessanten Mitteilung müssen im Originale
nachgelesen werden.
Vallon: Trois prdcoces assassins.
Bericht über die Ermordung eines gewissen Melley durch 3 jugend¬
liche Kameraden (20, 19 und 16jährige) in Paris. Die Tat geschah mit
großem Raffinement und hatte teils Eifersucht, teils Habgier zum Motiv.
Die Mörder waren Handwerker und in relativ günstigen Familienverhält¬
nissen aufgewachsen. Einer von ihnen stammt von einem Alkoholisten ab
und hat 2 Jahre früher Lues überstanden, bietet aber keine ausgesproche¬
nen geistigen Störungen dar. Seine Zurechnungsfähigkeit wird im Gut¬
achten als vermindert bezeichnet. Die Verurteilung erfolgte zu lebensläng¬
licher, bezw. zu 7jähriger Zwangsarbeit.
Delorme: De l’Entomologie thanatologique.
Verfasser erörtert neuerdings die Bedeutung der an faulenden Leichen
sich vorfindenden Insektenfauna für die forensische Medizin. Er unter¬
scheidet dabei eine konstante und eine accidentelle Fauna. Die erstere
nimmt unter denselben physikalischen und meteorologischen Voraussetzun,
gen ein ganz bestimmtes Gepräge an, je nach den einzelnen Phasen der
Leichenfäulnis, bei welcher der Verfasser eine „a. phase des Emanation de
ddbut, b. phase butyrique, c. phase de l’adipocire, d. phase casdique-
e. phase ammoniacale, f. phase de dessiccation“ unterscheidet. Eine ge¬
naue Beachtung der in einem Kadaver Vorgefundenen und in der vor-
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liegenden Arbeit genau beschriebenen Insektenformen gestattet gewisse
Rückschlüsse auf die Zeit des Todes, auf die Todesart fob er plötzlich oder
langsam eingetreten ist), auf die Jahreszeit, in welcher der Tod eingetreten
ist und ob endlich das Individuum in der Stadt oder auf dem Lande ge¬
storben ist, ob es also von einem Ort zu einem anderen gebracht worden
ist. Delorme gibt verschiedene praktische Winke, um die bei einer Leiehe
Vorgefundenen Insekten zu sammeln, zu verwahren und näher zu unter¬
suchen. H. Pfeiffer, Graz.
Annales d’Hygiene Publique. Avril 1909.
Juan Peset: Microchimie des iodomercurates alcaloidiques.
Der Autor verwendet zu diesen mikrochemischen und mikrokristalli¬
nischen Versuchen ein Reagens, welches er nach den Angaben von
Vals er durch Sättigung einer Jodkalilösung durch Merkurijodid erhält.
Bei Gegenwart von Alkaloiden in Form der chlorsauren Salze entsteht in
der daraufhin zu untersuchenden Flüssigkeit ein Niederschlag, welcher auf
einen Objektträger gebracht nach Zusatz von Alkohol und nach wieder¬
holtem Erwärmen mikroskopische Kristalle erkennen läßt. Diese sind bei
den verschiedenen untersuchten Alkaloiden — Strychnin, Brucin, Morphin,
Papaverin, Akonitin, Coffein, Hervin, Codein usw. — hinlänglich different,
um nach den Angaben des Verfassers eine Unterscheidung zu ermöglichen.
Die Mitteilung ist eine vorläufige, weitere Untersuchungen werden in Aus¬
sicht gestellt. (An eine praktische Bedeutung dieser Versuche für den
forensischen Alkaloidnachweis glaubt Referent im Hinblicke auf die im In¬
stitute für gerichtliche Medizin zu Graz gemachten Erfahrungen seine Zweifel
aussprechen zu müssen.)
L. Thoinot: L’^volution de la prophylaxie sanitaire maritime en
France.
Halberstadt: L’ intervention de l’ötat dans la lutte anti. alcoolique.
Zum Schlüsse seiner auf weiter statistischer Basis gehaltenen Ausfüh¬
rungen kommt Verfasser in Anlehnung an Fischers Folgerung zu dem
Satz, daß ein wirklich aussichtsreicher Kampf gegen den Alkoholismus
auch in Frankreich nur mit Hilfe eines Gesetzes geführt werden .könne,
welches sich mit allem Ernste gegen den Alkoholmißbrauch wendet.
H. Pfeiffer, Graz.
Annales d’Hygiene Publique. Mai 1909.
E. Sacquöpee: Epidemie d’intoxications alimentaires bönignes.
Chavigny: La döbilitä mentale considdrde sp6cialement au point de vue
jlu Service militaire.
In einem einleitenden Absatz betont der Verfasser die Notwendigkeit,
daß man zur Erhaltung einer schlagfertigen Armee unter anderem nament¬
lich in Friedenszeiten die geistig Minderwertigen eliininieren, in Kriegs¬
zeiten aber Fälle von geistiger Störung sofort aus dem Verbände aus-
sebeiden und entsprechend behandeln muß. In eingehender Weise bespricht
er dann zunächst die Stellung der geistig Minderwertigen in der franzö¬
sischen Armee, die verschiedenen Formen ihres Vorkommens, die Wirkung
des Militärdienstes auf diese psychischen Ausnahmezustände und die Un-
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gehörigkeiten, welche sich bei der Ableistung der Militärpflicht ergeben.
Der Diagnostik der einzelnen Formen dieser psychischen Abnormitäten,
der Therapie und Prophylaxe sind zwei weitere Kapitel dieser gründlichen
und ausführlichen Arbeit gewidmet, welche leider zu einem eingehenden
Referate ungeeignet ist.
6. Guärin: Conseils pratiques pour reconnattre l’altdradon des actes,
contrats, testaments etc.
Die knapp gehaltene Skizze beschäftigt sich mit dem Nachweis und
Erkennung von Schriftfälschungen. Sie bringt zahlreiche beherzigenswerte
aber keineswegs neue Winke für die mikroskopische, photographische und
chemische Untersuchung von verdächtigen Schriftzügen.
Balthazard: Identification d’une empreinte de main ensanglantöe sur
un drap.
Balthazard berichtet Uber einen Fall, wo mit Hilfe der fachmännischen
Untersuchung von Blutspuren, die sich gelegentlich eines Mordes als Ab¬
druck einer Hand auf einem Tuche fanden, eine Identifizierung mit dem
daktyloskopischen Bilde des der Tat Verdächtigen und damit seine Über¬
führung gelang. Außer zahlreicheu Übereinstimmungen an den Abdrücken
der Fingerbeeren erwies sich als besonders charakteristisch eine am Klein¬
fingerballen der Hohlhand befindliche und im daktyloskopischen Bilde hier
wie dort deutlich nachweisbare leistenartige konfigurierte Schwiele. Sie war
bei dem betreffenden Verbrecher durch das gewerbsmäßige öffnen von
Sodawasserflaschen erzeugt worden.
H. Pfeiffer, Graz.
Ärztliche Sachverständigen-Zeitung. 1909. Nr. 6.
Eppinger: Gehirntumor und Trauma.
Ein 38jähriger gesunder Blecharbeiter verunglückte am 20. März 1908
dadurch, daß er mit Blechen beladen sich mit aller Körperkraft aufrichten
wollte und dabei mit dem Hinterkopf gegen einen Holzbalken anrannte.
Im Anschlüsse an diesen Unfall entwickelten sich Sehstörungen, der Korsa¬
kowsche Symptomenkomplex und die charakteristischen Kennzeichen eines
Gehirntumors. Der Arbeiter erlag dann auch am 2. September desselben
Jahres seinem Leiden. Bei der Sektion fand sich: Ein infiltrierendes
Gliom beider Sehnerven mit konsekutivem Gehirndruck und Druckschwund
der Knochen des Schädels, sowie ein Status lymphatieus. Das in ausführ¬
licher und streng wissenschaftlicher Weise begründete Gutachten geht da¬
hin, daß der Tod des Arbeiters an Gehirnlähmung infolge der Geschwülste
der beiden Sehnerven eingetreten sei. In Anbetracht der näheren hier
nicht wiederzugebenden Umstände des Falles hat das verletzende Trauma
den Verletzten, welcher nachgewiesenermaßen bis zum Tage des Unfalles
frei von allen nervösen Symptomen gewesen war, so getroffen, daß eine
örtliche Beziehung zwischen Gewalteinwirkung und der Gehirngeschwulst
besteht. Ebenso ist ein zeitlicher Zusammenhang zwischen der Verletzung
und dem Beginne der-Symptome der Gehirngeschwulst unzweifelhaft. Das
Gutachten spricht sich über die FYage nach dem Zusammenhänge zwischen
dem Unfälle und der Entwicklung der Gehirngeschwulst dahin aus, daß die
Sehnervengeschwulst als Unfallsfolge bezeichnet werden muß.
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Köhler: Zar Unfallkasuistik. Rißwunde auf der rechten Fußsohle. Dia¬
betes. Unfallfolge?
3 Monate nach einem Unfälle, welcher eine Rißquetschwunde an der
Fußsohle und eine langwierige Zellgewebsentzündung zur Folge hatte, wird,
ohne daß früher auf das Vorhandensein eines Diabetes untersucht worden
wäre, das Bestehen eines solchen nachgewiesen. Die Frage nach dem Zu¬
sammenhänge zwischen Trauma und Entwicklung des Diabetes wird ver¬
neint und zwar schon deshalb, weil das Fehlen der Erkrankung zur Zeit
des Unfalls nicht konstatiert worden war.
Schönfeld: Diabetes nach Trauma nicht als Unfallfolge anerkannt.
Die Mitteilung, welche ein interessantes Gegenstück zu der in Nr. 23
derselben Zeitschrift gebrachten bildet, ist namentlich deshalb interessant,
weil hier eine Autorität auf dem Gebiete der internen Medizin, v. Ren-
vers, seine prinzipiellen Ansichten über die Zulässigkeit der Annahme
eines „posttraumatischen Diabetes“ abgibt und dieses Gutachten in mancher
Hinsicht der, in der früheren Arbeit niedergelegten Ansicht von Prof. His
widerspricht. Ohne -auf die Einzelheiten des Falles einzugehen, sei nur
folgendes hervorgehoben: Nach Prof. v. Renvers kann ein Unfall nur-
auf folgende Weise die Ursache einer sich entwickelnden Zuckerkrankheit
werden: 1. Bei direkter Verletzung des Zentralnervensystems; 2. bei starker
Erschütterung des nervösen Zentralapparates; 3. bei psychischen Störungen,
die durch den Unfall bedingt sind (posttraunoatische Neurose); 4. bei
Schädigung und nachfolgender Entzündung der Bauchspeicheldrüse. Da
keine dieser Bedingungen in dem konkreten Falle erfüllt seien und auch
einer der sogenannten „atypischen Fälle“ nicht vorliege, könne ein Zu¬
sammenhang zwischen Trauma und Diabetes nicht angenommen werden.
Roepke: Komplizierte Lungenerkrankung als Folge eines vor drei Jahren
erlittenen Betriebsunfalles abgelehnt.
Versuch eines Rentenwerbers ein Lungenemphysem, Bronchiektasie und
eine Spitzentuberkulose auf eine die untere Bauchgegend betreffende Ver¬
letzung zurückzuführen. Ein pathogenetischer Zusammenhang wird als
höchst Unwahrscheinlich zurüokgewiesen.
H. Pfeiffer, Graz.
Irztliehe Sachverständigen-Zeitung. 1909. Nr. 7.
Lochte: -Zur Kasuistik der Fesselung der Selbstmörder.
Fälle von Ertrunkenen (Selbstmorde), von denen einer beide Beine
oberhalb der Stiefel mittels eines Taschentuches gefesselt und die Hände
lose mit einem Strick Zusämmengebunden hatte. Der andere hatte sich
einen großen Sandsack um den Hals gebunden. Ein auf einem Bettpfosten
erhängter alter Mann (gleichfalls Selbstmord) ruhte auf dem Gesäß und
lag mit der rechten Faust auf die Erde gestützt. Der Mund war durch
das Taschentuch verstopft. Unterhalb der Arme war um den Leib ein
wollenes Tuoh geschlungen, das vorne in der Magengegend durch eine
große Sicherheitsnadel befestigt war. Die Füße waren mit einer geknoteten
Serviette gefesselt. Die Selbstfesselung muß psychologisch genommen in
Parallele mit dem kombinierten Selbstmord gesetzt werden. Der obduzie¬
rende Arzt dürfe die Knoten niemals lösen, sondern das strangulierende
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Werkzeug seitwärts durchschneiden und die Knoten in möglichst natürlicher
Weise asservieren.
Kürbitz: Der forensische Blutnachweis durch Darstellung des Hämochro-
mogens und seiner Kristalle.
Die außerordentlich interessante Arbeit berichtet über Versuche, die
Verfasser mit Puppe Uber das von Lecha Marzo (Sobre el diagnostico
generico de las manchas de sangre. Gazeta medica del sur de Espana,
5. Dezember 1908) angegebene Verfahren des Blutnachweises gemacht hat.
Das letztgenannte besteht aus folgenden Phasen: 1. Verdampfen einer
Blutlösung auf einem Objektträger; 2. Zusatz eines Tropfens alkoholischer
oder wässeriger Jodlösung; 3. von Pyridin; 4. von Schwefelammonium.
Es bilden sich Kristalle von lebhaft roter Farbe, welche Lecha Marzo
als Jodhämatinkristalle anspricht. Kürbitz führt nun zunächst den Be¬
weis, daß es sich hiebei keineswegs um Jodhämadn, sondern um Hämo-
chromogenkristalle handelt und demnach auch der Zusatz von Jodlösung
überflüssig sei. Ebenso schöne Kristallbilder erhielt er nach Zusatz von
Pyridin und Schwefelammonium allein. Die weiteren Untersuchungen mit
dieser Methode, angestellt an alten Blutpräparaten, lieferten die folgenden,
forensisch äußerst wichtigen Resultate: Blut gibt mit Pyridin und Schwefel¬
ammonium versetzt stets Hämochromogenkristalle, die sich nach leichtem
Erwärmen oft noch deutlicher präsentieren. Alter, Rost, Wasserstoffsuper¬
oxyd verhindern die Darstellung der Kristalle in keiner Weise, im Gegen¬
satz zu den Teichmannschen Kristallen. Blut nimmt bei dieser
Darstellungsweise immer eine leuchtend rote Farbe an und unterscheidet
sich dadurch sinnfällig von dem ganzen übrigen Präparat Findet man
ausnahmsweise einmal eine rote Stelle ohne Kristallbildung, so läßt sich
diese durch das Mikrospektroskop ohne weiteres als Blutfarbstoff und zwar
als Hämochromogen diagnostizieren. Das Blut verschiedener Tiere liefert im
wesentlichen dieselben Kristalle. Eine Art-Diagnose zu stellen ist nicht angängig.
Rehberg: Der forensische Spermanachweis nach Corin und Stockis.
Nachprüfung des von Corin und Stockis angegebenen Verfahrens
zum Nachweise der Spermatozoon mittels Erythrosin. Nach den Resultaten
des Verfassers gelingt es mit dieser Methode in wirklich einfacher und
rascher Weise, wohlerhaltene Spermatozoen auf Stoffasern sicher zu er¬
kennen und zwar auch an Flecken, die mit sonst durchaus bewährten
Methoden erst nach mühsamem Suchen oder längerer Vorbehandlung als
samenhaltig erkannt worden waren. Die Methode kann auch an geringsten
Spuren ausgeführt werden. Von der „Zerfaserung“ ist eine Zerreißung
der Spermatozoen nicht zu erwarten. Das Verfahren ist allen früher be¬
kannten weit überlegen.
v. Haselberg: Ein Vorschlag zur Änderung des § 246 Str. P. 0.
Es ist vor Gericht wiederholt als für den Gang der Verhandlung un¬
günstig bemerkt worden, daß die Strafprozeßordnung bisher keine Möglich¬
keit bot, den Angeklagtan dann aus dem Sitzungsraum zu entfernen, wenn
der Arzt über ihn etwas aussagen muß, was für ihn zu hören schädlich
sei. Der Verfasser schlägt daher folgenden Zusatz zum § 246 der Straf¬
prozeßordnung vor: Die zeitweise Entfernung kann ferner beschlossen
werden, wenn der ärztliche Sachverständige es für nötig hält, Methoden
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der Entlarvung von Simulanten oder die dazu gehörigen Apparate zu
erklären und zu befürchten steht, daß der Angeklagte durch seine An¬
wesenheit hiebei die Methode so lernen könnte, daß er später mit ihr nicht
noch einmal zu überführen wäre, oder wenn zu fürchten ist, daß die Mit¬
teilung des ärztlichen Sachverständigen für den Angeklagten schädlich
sein könne, vorausgesetzt, daß er durch das Nichtwissen keinen Schaden
erleidet. H. Pfeiffer, Graz.
Ärztliche Sachverständigen-Zeitung. 1909. Nr. 8.
Sachs: Fraglicher Zusammenhang zwischen Unfall und Appendidtis.
Da in dem konkreten Falle eine angebliche durch das Heben einer
Last herbeigeführte Blinddarmentzündung in strikter Weise auf diesen
Insult pathogenetisch nicht zurückgeführt werden kann, außerdem aber in
dieser tausendfältig von dem Arbeiter ohne Schaden ausgeführten Arbeit
ein „Betriebsunfall“ nicht gegeben werden kann, so werden die Rentenan¬
sprüche der Witwe abgewiesen.
Pfahl: Die Bedeutung der Schwielen für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit
Die Untersuchungsergebnisse des Verfassers berechtigen ihn zu der
Folgerung, daß kräftige Arbeitsschwielen selbst Monate lang nach dem
Aussetzen der Arbeit an den Händen noch fortbestehen können, weshalb
man aus ihrem Vorhandensein nicht sofort den Schluß ziehen dürfe, der
Betreffende habe bis vor kurzem gearbeitet.
Mirabeau: Traumatische Erkrankungen des Harnsystems.
Die Arbeit enthält einen sehr instruktiven, durch zahlreiche Eigenbeob¬
achtungen belegten Überblick über die traumatischen Erkrankungen der
Harnorgane und über ihre Begutachtung als Unfallsfolge. Die Details
müssen im Originale nachgelesen werden.
Schellmann: Der behandelnde Arzt und die preußische Anweisung vom
vom 15. November 1908.
Zu kurzem Referate ungeeignet. H. Pfeiffer, Graz.
Ärztliche Sachverständigen-Zeitung. 1909. Nr. 9.
P. Fraenkel: Über künstliche Befruchtung beim Menschen und ihre ge¬
richtsärztliche Beurteilung.
Die kritische und übersichtliche Arbeit des Verfassers hat den folgen¬
den Fall zur Veranlassung: Einem Manne, der seit 6 Jahren in kinder¬
loser Ehe lebte, wird von seiner Frau ein Mädchen geboren. Da er inner¬
halb des gesetzlichen Zeitraumes und schon weit Uber diesen hinaus in¬
folge von Impotenz seiner Frau nicht beigewohnt hatte, ficht er die
Möglichkeit der Geburt an. Die Frau gibt zu, daß nicht einmal ein Bei¬
schlafsversuch gemacht worden wäre. Jedoch sei das Kind dadurch emp¬
fangen worden, daß sie vom Bettuch des Klägers, nachdem dieser aufge¬
standen war, den während der Nacht frisch entleerten Samen aufgenommen
und mittels einer Kerze in ihre Scheide eingeführt habe. Obwohl in 2 Instanzen
die Sachverständigen die Möglichkeit einer künstlichen Befruchtung zugeben
mußten, wurde der Kläger mit seiner Klage abgewiesen. Das Reichsgericht
verwarf jedoch die erstgerichtliche Entscheidung und bestimmte, daß durch
weitere Vernehmung von Sachverständigen festgestellt werden müsse, ob
die Möglichkeit einer künstlichen Befruchtung zuzugeben sei. Eine künst-
Archiv für Kriminalanthropologie. 36. Bd. 13
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liehe Einführung des Samens in die Geschlechtswege der Ehefrau wäre als
Beiwobnung im Sinne des § 1591 anzuerkennen, wenn der zum Beischlaf
unfähige Ehemann damit einverstanden ist. Die vom Oberlandesgericht
Köln demnach zu fällende Entscheidung Ober die Möglichkeit der künst¬
lichen Befruchtung und über die Möglichkeit und Legalität des im vor¬
liegenden Falle von der Ehefrau behaupteten Vorganges steht noch aus.
Auf Grund von Literaturstudien und kritischen Überlegungen kommt nun
Fraenkel zu den folgenden prinzipiellen Schlüssen, zu welchen ihn
namentlich die einwandfreien Versuche von Iwan off brachte:
Die Möglichkeit einer künstlichen Befruchtung ist für den Menschen
bisher noch nicht einwandfrei erwiesen. Nach dem Stande unseres heu¬
tigen Wissens wäre es aber ganz falsch, sie kategorisch zu bestreiten. Da¬
her dürfe auch der Sachverständige ihre Möglichkeit niemals von vome-
herein bestreiten, sondern er hat zu prüfen, ob die Bedingungen — uner¬
läßliche und begünstigende — erfüllt sind, die für die Annahme dieser
Möglichkeit gefordert werden müssen. Als unerläßliche Bedingungen sind
zu bezeichnen: 1. Daß der Samen des Ehemannes lebende Spermatozoon
enthält und daß 2. dieser in die Genitalien der Frau gebracht worden ist,
sei es auch nur in den Scheideneingang. Unter begünstigenden Um¬
ständen will Fraenkel die sachgemäße Behandlung des Samens, die Art
der Technik, die direkte Einführuug in den Uterus, die Benützung eines
günstigen Zeitpunktes usw. verstanden wissen. Der Sachverständige wird
demnach die Möglichkeit einer künstlichen Befruchtung nur unter ganz be¬
sonders günstigen Bedingungen zugeben dürfen. Endlich ist der vom
Arzte vorgenommene Versuch einer künstlichen Befruchtung, wenn er die
letzte Möglichkeit einer Konzeption in sich schließt, nicht zu den uner¬
laubten Mitteln zu zählen.
W i n d s ch e i d: Kann eine Bleilähmung'durch einen Unfall ausgelöst werden ?
Akute Entstehung einer Radialislähmung im Anschlüsse an einen Un¬
fall bei einem Manne, dessen Organismus durch Blei geschwächt war. Die
Möglichkeit, daß die mit dem Unfälle verbundene Zerrung des
Nerven die Bleilähmung erst in die Erscheinung gebracht hat, wird als
wahrscheinlich hingestellt. Die Rentenansprüche des Bewerbers werden
abgewiesen.
Wall bäum: Zur Frage der Tabes traumatica.
„Die Möglichkeit einer Tabes traumatica im strengsten Sinne des
Wortes muß ich demnach ablehnen. Dennoch muß natürlich zugestanden
werden, daß ein Mensch rentenberechtigt ist, bei dem ein Unfall eine der¬
artige Schädigung des Nervensystems hervorgerufen hatte, daß er den
durch die Arbeit bedingten Anforderungen nicht mehr genügen konnte“.
Schönfeld: Hodensarkom nicht Unfallfolge.
Versuch, die Entstehung eines Hodensarkoms auf eine Quetschung
der Hoden bei der Arbeit (durch Übereinanderschlagen der Beine) zurück¬
zuführen. Der Umstände des konkreten Falles wegen muß für diesen die
Möglichkeit eines Zusammenhanges zwischen Unfall und Geschwulstbildung
ebenso wie eine Beschleunigung des Wachstums zugegeben, darf jedoch
nicht mit besonderer Wahrscheinlichkeit behauptet werden.
H. Pfeiffer, Graz.
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IX.
Forensisch-psychiatrische Kasuistik I.
Von
Kurt Boas in Berlin.
1. Über die Natur der Körper-, insbesondere der Genital-
verletzungen bei Lustmorden.
Über dieses Thema hat jüngst Georg Frank ‘) eine Arbeit
veröffentlicht, die das Interesse der Kriminalisten in hohem Maße
beansprucht. Er teilt in seinem Aufsatz mehrere Fälle mit, die
ein interessantes Licht auf die Vita sexualis der Lustmörder werfen.
Im folgenden sollen nach seiner Beschreibung diese Fälle kurz mit¬
geteilt werden.
Fall I. 22 jähriges Mädchen. Die Leiche wurde unbekleidet
an einer bewaldeten Stelle mit moosigem Untergrund gefunden. Um
den Hals des Mädchens war ihr Beinkleid festgeschnürt, und die
Mundwinkel und Wangen zeigten Abdrücke von Fingernägeln, ein
Beweis dafür, daß der Mörder den Mund seines Opfers zugepreßt
hatte. Die Arme der Leiche stehen schräg vom Leibe ab und bilden
mit dem Körper einen spitzen Winkel. Das Erdreich ringsum war
vom Todeskampfe stark aufgewühlt; ferner deuteten Abdrücke von
Stiefelspitzen darauf hin, daß der Mörder auf der Brust des Mädchens
gekniet hatte.
Von der Leiche lagen die ßauchdecken und Genital wände vor,
welche postmortal zerschnitten und zerrissen sind. Der Befund lehrte
ferner, daß die äußeren Genitalien, Schamlippen, Teile des Dammes
mit teilweiser Zerstörung der rechten Leistengegend herausgeschnitten
waren. Diese fehlenden Leichenteile wurden später in einem Wasser¬
tümpel, der abgelassen werden mußte, in dem Unterrocke der Er¬
mordeten eingewickelt, aufgefunden. Die Auffindung dieser Teile
wurde durch das scharfe Biechorgan der Spürhunde ermöglicht, die
jetzt mehr und mehr bei Verbrechen in Anwendung kommen.
1) Frank, Beiträge zu den bei Lustmorden vorkommenden Verletzungen.
Inaugural-Dissertation Berlin 1909.
Archiv für Kriminalanthicpologie. 36. Bd. 14
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IX. Kurt Boas
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Nach dem vorliegenden Präparat zu urteilen, batte der Mörder
nach der Entfernung der genannten Teile zuerst auf der Bauchdecke
leichtere Querschnitte geführt und zwar einen vom rechten unteren
Rippenbogenrand verlaufend, zum linken neunten Interkostalraum.
Zwei weitere Querinzisuren lassen sich in der Mitte zwischen Nabel
und Schwertfortsatz des Sternums feststellen, die jedoch im Gegen¬
satz zu dem vorigen den Rectus abdominis nicht in seiner ganzen
Breite durchqueren, sondern nur die rechte Hälfte bis zur Linea alba
oberfäcblich inzidieren. Dies scheinen wahrscheinlich die ersten
Schnitte gewesen zu sein, an die sich Längsinzisionen anschlossen,
welche die Bauchdecken teilweise nicht vollständig durchdringen,
sondern an einigen Stellen nur oberfächlich die Cutis (oberste Haut¬
schicht, auch Hornhaut genannt) verletzen. Sie verfolgen die Linea
alba in ihrer ganzen Länge auf der linken Bauchdecke vom Processus
xiphoideus (Schwertfortsatz) des Sternums bis zum Nabel. Es hat
den Anschein, als ob diese Verletzungen mit einem nicht sehr scharfen
Instrument geführt wurden. Es ist auch möglich, daß der Mörder
mit der Schneide nicht zuwege kam und deswegen stechend und
dann reißend vorging, wofür der gezackte Rand und die scharfe Ver¬
letzung der Cutis, vielleicht auch die wiederholten Ansätze sprechen.
Diese mit Instrumenten gesetzten Verletzungen sind offenbar manuell
erweitert, was aus einzelnen Zerreißungen und Muskelfetzen zu kon¬
statieren ist und wohl den Zweck hatte, die Bauchhöhle so weit
zu öffnen, daß ihr Inhalt ganz oder teilweise entfernt werden
konnte.
Aus dem Befunde geht mit einiger Wahrscheinlichkeit hervor,
daß es sich hier um einen Lustmord handelte. Die ausgedehnte Er¬
öffnung der Bauchhöhlen und die sonstigen Verstümmelungen lassen
allerdings auch den Verdacht aufkommen, daß der Mörder dieselben
nur zur Verdeckung der Motive seiner Tat vorgenommen hak
Fall II. Tjähriges Mädchen. Wurde am 4. Dezember 1894 in
den Anlagen der Nazarethkirche in Berlin von einem obdachlosen
Schuhmachergesellen ermordet. Der Täter hatte das kleine schwäch¬
liche Kind mit Schnaps betrunken gemacht. Man kam hinzu, als
der Mörder über dem völlig entkleideten Kinde kniete. Dasselbe soll
noch einmal aufgeschrien haben und dann tot gewesen sein. Man
findet das Nasenbein der Leiche zertrümmert und den Unterleib in
der noch unten näher beschriebenen Weise bis zum After aufgerissen.
Als Todesursache ließ sich Ersticken durch Zudrücken der Kehle
und Einstopfen von Kieselsteinen und Erde in den Mund feststellen.
Der Mörder hatte vorher das Kind mißbraucht.
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik.
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Hier liegt im Gegensatz zum ersten Falle zweifellos ein Lust¬
mord vor.
Es lagen die Genitalien zur Begutachtung vor. Während sich bei
dem ersten Opfer die Verletzungen von den Genitalien noch oben
über die Bauchdecken erstrecken, handelt es sich hier um eine Auf-
reißung der Genitalien von der hinteren Wand der Scheide durch
den Damm bis im Rektum. Man könnte diese Verletzung mit einem
Dammriß III. Grades bei einer Gebärenden vergleichen. Der stark
gelappte Rand der Verletzungsstelle und das völlige Intaktbleiben des
oberen Scheidenblattes lassen vermuten, daß ein Riß mit einem
stumpfen Gegenstände und die Verletzungen nicht mit einem schneiden¬
den geführt sein müssen.
Fall III. 9jähriges Mädchen. Dieselbe wurde von einem Schuh¬
macher in den Keller gelockt, dort gemißbraucht und durch Ersticken
mit einem Kopfkissen getötet. Ferner hat der Mörder eine Durch¬
bohrung der Scheide und des hinteren Scheidengewölbes vorge¬
nommen.
Es lagen von der Leiche die Regio pudenda und die Regio analis
zusammenhängend vor.
Bei dem vorliegenden Präparat sieht man eine Zerreißung der
äußern Genitalien, ein herunterhängendes Fetzchen kann man für
Teile der Clitoris halten. Es findet sich eine ungefähr talergroße
Perforation der hintern Scheidewand, so daß man in den hintern
Douglas (Cavum Douglasi posterius) sieht. Das Ligamentum latum
zeigt die gleiche Perforation. Das Rektum ist von der Verletzung
nicht betroffen. Man kann bei der Art des Trauma die Benutzung
des Penis wohl ausschließen und vielmehr annehmen, daß der Lust¬
mörder einen harten stumpfen Gegenstand, etwa einen harten Spazier¬
stock benutzt hat Aus vorliegendem Befund läßt sich auch hier ein
Lustmord erkennen.
Fall IV. Es handelt sich um die 1898 erfolgte Ermordung der
Minna B., die in bezug auf Nebenumstände und Täter nie die rechte
Aufklärung erfahren hat.
In der vorliegenden Regio pubica finden wir weiter nichts als
eine Zerreißung der hinteren Scheidenwand, des Dammes und des
Afters. Es muß sich um ein etwa auch acht bis neun Jahre altes
Mädchen gehandelt haben, [wofür die kindlichen Genitalien sprechen.
Die Zerreißung in Querrichtung ist eine kutane, in Längsrichtung
eine tiefere. Der Musculus transversus perinei ist durchrissen und
ähnelt die Art der Verletzung dem Fall II. Nur die untere Scheiden¬
wand ist zerrissen, während die obere völlig intakt geblieben ist.
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IX. Kurt Boas
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Hier liegt für den Mediziner ziemlich klar der Fall vor, daß der
Mörder zwecks Einführung seines Penis in die für ihn zu kleinen
kindlichen Genitalien eine blutige Erweiterung in oben bezeichneter
Art vorgenommen hat Ob er hierzu den Finger, vielleicht beide
Daumen, benutzt hat oder ein stumpfes Instrument, wollen wir dahin¬
gestellt sein lassen, doch spricht vieles für ersteres. Somit ist auch
hier ein Lustmord als solcher sichergestellt
Fall V. 40jährige Prostituierte. Wurde tot auf freiem Felde vorge¬
funden. Bei näherer Untersuchung ergaben sich auch hier als Motive
der Tat lustmörderische Intentionen des Mörders. Von der Leiche
stand ein reichlicheres Material wie in den andern Fällen zur Ver¬
fügung. Während sich die bisherigen bei Lustmorden beobachteten
Befunde lediglich auf die Schamteile erstreckten, haben wir in diesem
Falle noch diesbezügliche Verletzungen der beiden Mammae (Brust¬
drüsen) zu verzeichnen, welche uns auch daher, in ihrer vollen Größe,
abgenommen und konserviert, zur Verfügung stehen. Die linke Brust
zeigt eine Abschürfung der Areola, die auf Kratzeffekte zurückzu¬
führen ist Die rechte Brust dagegen weist medial von der Areola
einen deutlichen Gebißabdruck auf, der mit dem Abdrucke des Ge¬
bisses des Mörders genau übereinstimmte. Die Bißwunde muß mit
einiger Kraft ausgeführt sein, da die Zähne des Unterkiefers besonders
des linken Caninus desselben eine tiefgehende Wunde gesetzt haben.
Von dem oberen Kiefer ist auch der linke Eckzahn derjenige, der
eine tiefergehende analoge Verletzung innerhalb der Areola hervorge¬
rufen hat. Während also die linke Brust nur von den Nägeln des
Lustmörders verletzt ist, hat die rechte die typischen Symptome
einer übernormalen, bald bestialischen, sexuellen Befriedigung auf¬
zuweisen.
Ferner lagen die Schamteile derselben Leiche vor, die schon
äußerlich auf eine ältere Person schließen lassen. Die ganze Regio
pudenda ist stark pigmentiert und behaart. Die Vulvae sind wie
meist bei deflorierten Individuen stark faltig und mit starkem Fett¬
polster versehen. Der Damm ist auffallend schmal, aber intakt
Es bandelt sich hier nach dem äußern Befunde um eine partielle
Herausreißung der rechten kleinen Schamlippe, welches Stückchen
auch konserviert worden ist. Nach dem Anblick, nämlich der zirkum
Skripten Verletzung, kann man in Übereinstimmung mit dem
obigen Befunde der Annahme sein, daß der Mörder dieses Teilchen
aus den Genitalien mit seinen scharfen Zähnen bei unnatürlicher Ge¬
schlechtsbefriedigung herausgebissen hat. Auch hier läßt sich sicher
ein Lustmord feststellen
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik.
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Fall VI. Zwölfjähriges junges Mädchen Lucie Berlin, welche
bei ihren Eltern in der Ackerstraße wohnte, verschwand eines Tages
und wurde trotz eifrigster Nachforschungen nicht gefunden. Ganz
unvermutet wurde kurze Zeit darauf von Fischern in der Spree ein
Strohkorb aufgefunden. An einer andern Stelle wurden die zer¬
stückelten Teile einer Kindesleiche gefunden. Gar bald wurde diese
als die verschwundene Lucie B. rekognisziert. Der Korb lenkte auch
bald den Verdacht auf den Mörder, einen im selben Hause wohnenden
Zuhälter, dessen Geliebte die Eigentümerin des Korbes gewesen ist
Der Mörder hatte gelegentlich einer Leierkastenmusik auf dem Hofe
das Kind in seine Wohnung gelockt, dort mißbraucht und getötet.
Es lagen nur die aufbewahrten Genitalien zur Untersuchung vor,
an denen sich eine Zerreißung der hinteren Scheidenwand, des
Dammes und des Mastdarmes darstellt. Ein glatter Schnitt von der
Vagina nach oben bis in den Mons veneris läßt die Regio pubica
klaffen, Die Vagina ist nur in ihrem dem Damme zuliegenden Teile
des Introitus eingerissen, während sie sonst unversehrt. ist, so auch
der Clitoris und die Ligamenta suspensorie.
Aus noch vorliegenden Photographien bestätigt sich der eben
beschriebene Befund. Es hat völlig den Anschein, als ob der Mörder
sein Opfer gemißbraucht hat. Also kann man auch wie in Fall IV
' annehmen, daß der Mörder neben der Einführung seines Penis noch
das lustmörderische Bestreben gehabt hat ').
••
2. Uber Täuschungen bei Schätzung von Entfernungen.
Auf diese für den Kriminalisten bedeutsame Erscheinung hat
Stern eck 1 2 ) in diesem Archiv vor kurzem hingewiesen. Interessante
Studien in dieser Richtung hat jüngst Issel 3 ) auf Veranlassung von
J. v. Kries angestellt. Bei seinen messenden Versuchen über bino¬
kulare Entfernungswahrnehmungen kam er zu folgenden bemerkens¬
werten Resultaten.
„Zwischen den wahrgenommenen Tiefenunterschieden und ihrem
physiologischen Substrat (den Querdisparationen) besteht eine feste
1) Anmerkung des Herausgebers. Ich zweifle, daß alle genannten
Fälle auf Lustmord zurückzuführcn sind, möchte aber glauben, daß einige davon
mit psychopathischem Aberglauben Zusammenhängen. (Dieses Archiv Bd. IX,
pag. 253).
2) Sterneck, Über die Täuschungen bei der Schätzung von Entfernungen.
Dies Archiv 1907, 26, 164.
3) Issel, Messende Versuche über binokulare Entfemungswahmehmungen,
Inaugural-Dissertation Freiburg i. Br. 1907, 29 Seiten.
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IX. Kubt Boas
Beziehung, derzurfolge ein bestimmter Wert der Querdisparation die
Wahrnehmung eines bestimmten Tiefenunterschiedes erzeugte, über¬
haupt nicht, und zwar selbst dann nicht, wenn alle anderen die Ent¬
fernungswahrnehmung bestimmenden Momente möglichst außer Spiel
sind. Vielmehr wird der Größeneindruck, den wir von der binokular
wahrgenommenen „Strecke“ erhalten, stets außer durch die Quer¬
disparation noch in entscheidender Weise durch andere Umstände
mitbestimmt, von denen man nur sagen kann, daß es eben diejenigen
sind, die auch unseren Eindruck von dem Abstand der ganzen Strecke
bestimmen.“
„Die Fehler, die entstehen würden, wenn überall gleichen Quer-
disparationcn gleiche gesehene Tiefenunterschiede entsprächen, sind
durch diesen verwickelteren Zusammenhang in der Hauptsache eli¬
miniert. Betrachtet man die Verhältnisse im spezielleren, so zeigt
sich, daß sie unter den Bedingungen der ersten Versuchsreihe *) sogar
überkompensiert wird, da hier durchweg die entferntere Strecke nicht
unter-, sondern überschätzt (zu klein eingestellt) wird. Bei der zweiten
Versuchungsanordnung ist dies nicht der Fall. Hier wird im allge¬
meinen die entferntere Strecke unterschätzt (zu groß eingestellt), aber
freilich nicht entfernt in dem Verhältnis, wie es der Fall sein würde,
wenn der gleiche Tiefeneindruck gleichen Querdisparationen zukäme.
Auch hier vielmehr verhalten sich die gleich erscheinenden Quer¬
disparationen sehr ungleich; in den mitgeteilten Versuchen finden
wir Fälle, wo die eine 20, 30, einmal sogar nahezu 60 fach größer
ist als die andere. Und weun man es darauf anlegt, so würden sich
wohl noch größere Beträge für diese Abweichung erzielen lassen“.
Aus diesen physiologisch-physikalischen Versuchen dürften sich
auch für die Kriminalistik wichtige Schlußfolgerungen ergeben.
3. Krimineller Abort.
Zu diesem Kapitel hat der bekannte Berliner Gefängnisarzt Dr.
Marx 1 2 ) einen zusammenfassenden Beitrag geliefert, der im wesent¬
lichen nichts Neues bringt. Hervorgehoben zu werden verdient fol¬
gender Satz, den man unbedingt unterschreiben muß: die Frucht¬
abtreibung ist die Prophylaxe des Kindesmordes. Welches
von beiden Mitteln moralischer ist, wollen wir dahingestellt sein lassen. Es
ist dies lediglich Ansichtssache. Tatsache ist, daß die Fruchtabtreibung
schwerer geahndet wird als Kindesmord (in dem einen Fall Zuchthaus,
1) Näheres vgl. Original.
2) Marx, Über kriminellen Abort. Berliner klin. Wochschr., 1908, Nr. 20.
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik.
201
im anderen Gefängnis). Aber wir wissen ja, daß das Gesetz nicht
immer ein Gradmesser der Moralität ist.
4. Psychiatrische Beobachtungsstationen
für Fürsorgezöglinge.
Die Behandlung der jugendlichen Kriminellen, in der Gerichts¬
sprache kurz „Jugendliche“ genannt, ist sowohl für den Kriminalisten
wie für den Psychiater eine schwierige Aufgabe. Bis vor kurzem
wurde dem psychischen Verhalten der Fürsorgezöglinge überhaupt
keine Beachtung geschenkt, bis mehrere Forscher — es waren vor
allem Mönkemöller-Osnabrück und Neißer-Bunzlau — an der
Hand eines großen statistischen Materials die große Zahl der Debilen
und Imbezillen unter den Fürsorgezöglingen, die mit Recht als latentes
Verbrechermaterial gelten können, nachwies. Eine weitere Frage lag
nahe: Wie sollte man geisteskranke Fürsorgezöglinge unterbringen?
In Irrenanstalten? Oder wo? Kurzum es tauchten die verschieden¬
artigsten Vorschläge auf, von denen wir einen heute hier besprechen
wollen, der entschieden in Erwägung gezogen zu werden verdient,
nämlich die von Seelig ') beregte Schaffung von psychia¬
trischen Beobachtungsstationen für Fürsorgezöglinge.
Der Vorschlag lehnt sich an die Maßnahmen an, die man zur Unter¬
suchung geisteskranker Verbrecher anwendet.
Schon vor Jahren hatte Seelig 2 ) betont, man müsse minderwertige
Individuen zeitweise behandeln und sie über kritische Zeiten durch
Berücksichtigung lediglich medizinischer Gesichtspunkte hinwegbringen.
Auch auf die Bedeutung besonderer dazu eingerichteter Abteilungen
hatte Seelig aufmerksam gemacht. In dem vorliegenden Aufsatz
gibt er eine Motivierung seines Reformvorschlages. Es versteht sich
von selber, daß schwere chronische Geisteskranke in die Irrenanstalten
gehören. Dagegen empfehlen sich Beobachtungsstationen für
1. Gesundheitlich zweifelhafte Individuen, bei denen es sich
darum handelt festzustellen, ob sie etwa krank und der Heilbehand-
I 7
lung bedürftig sind;
2. Ausgesprochen Minderwertige, die nicht dauernd ohne
weiteres der Irrenanstaltspflege bedürftig sind, die aber wegen ihrer
psychischen Schwäche eine im gewöhnlichen Erziehungsanstaltsbe¬
triebe nicht immer durchführbare Berücksichtigung verdienen;
1) Seelig, Über psychiatrische Beobachtungsstationen für Fürsorgezöglinge.
Zeitschrift für Psychotherapie und medizinische Psychologie, 1909, Bd. I S. 65ff.
2) Seelig, Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 1906, S. 506ff. und 1907,
S. 482ff.
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202
IX. Kurt Boas
3. Zöglinge, deren psychische Erkrankung eine ihrer Natur
nach vorübergehende und nur kurze Zeit Behandlung erfordernde ist;
4. Solche, die aus Heilanstalten entlassen sind und nur be¬
dingungsweise in das Erziehungsbaus zurückgelangen. (Sog. Remis¬
sionsstadium.)
Zu diesen 4 Punkten gibt Seelig eingehende Begründungen.
Zu 1. bemerkt er, daß oftmals in der der Fürsorgeeinweisung
vorangehenden Gerichtsverhandlung Zweifel über die Zurechnungs¬
fähigkeit entstehen. Diese Frage zu entscheiden ist Aufgabe der
Beobachtungsstationen. Zu diesem Zwecke eignen sich die Irrenan¬
stalten, die nur Kranke mit sicherer Diagnose aufnehmen, nicht.
Aber auch die Erziehungs- oder Korrektionsanstalten kommen nicht
in Frage, da es bei der gegenwärtigen Lage der Dinge für den
Arzt einfach ein Ding der Unmöglichkeit ist, die Fürsorgezöglinge
genau auf ihren Geisteszustand zu überwachen.
Zu der 2. Kategorie gehören Schwachsinnige leichteren Grades.
Es handelt sich meist um solche, deren offenkundige Beschränktheit
von vornherein zu große Anforderungen ausschließt. Die psychische
Minderwertigkeit tritt weniger auf 'dem Gebiete der Verstandestätig¬
keit zutage, sie ist vielmehr in Anomalien des Gefühlslebens, ab¬
normer Reizbarkeit, Unausgeglichenheit'ihres Wesens gegeben, sodaß
solche Individuen oftmals gegen ihren Willen im Leben mit dem
Gesetz, in der Anstalt mit der Hausordnung in Konflikt geraten.
Einer psychischen Gleichgewichtsstörung kann auch durch eine Beob¬
achtungsstation in ausgedehntem Maße Rechnung getragen werden.
Zu der Gruppe 3 zählt Verf. Individuen mit krankhaft bedingten
Stimmungsschwankungen sowie Verwirrtheitszuständen und akuten
Psychosen. Hier ist die bisherige Behandlung im Lazarett der An¬
stalt unzureichend und fast immer auf Unterbringung in eine Irren¬
anstalt zu dringen. Es liegt im Wesen dieser Krankheiten begründet,
daß sie nach kurzer Zeit wieder abklingen. Schon die Milieuver¬
änderung macht sich in günstigem Sinne geltend. Eine schnelle Zu¬
rücküberweisung von der Irrenanstalt in die Korrektionsanstalt emp¬
fiehlt sich aus gesundheitlichen Gründen nicht, sodaß auch für diese
Fälle eine Beobachtungsstation durchaus am Platze wäre.
Endlich kommen viertens die Individuen in Betracht, bei denen
nach entsprechender sachgemäßer Behandlung in einer Irrenanstalt
alle psychischen Erscheinungen verschwunden sind. Es empfiehlt
sich zum Teil aus disziplinarischen und anderen Gründen nicht, diese
psychischen Rekonvaleszenten mit psychisch Intakten zusammenzu¬
schweißen. Endlich gehören in die Beobachtungsstationen Individuen,
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik.
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die schon einmal in einer Irrenanstalt waren, dann nach ihrer Ent¬
lassung im Leben mit dem Strafgesetz in Konflikt gerieten und dann
wieder einer Korrektionsanstalt zugeführt wurden.
Die Beobachtungsstation soll nur nach medizinischen Gesichts¬
punkten geleitet werden, alle pädagogischen Maßnahmen, Bestrafun¬
gen usw. müssen ferngehalten werden. Zum Schluß betont Verf., dem
wir für seine wertvolle Anregung gewiß dankbar sein müssen, noch
mals: er trete nur für vorübergehende Unterbringung in Beobachtungs¬
stationen ein, die, wie der Name besagt, nur der Beobachtung, nicht
aber der Behandlung dienen und nur ein Provisorium bis zur evtl,
endgültigen Überweisung an eine Irrenanstalt und nichts weiter dar¬
stellen sollen.
5. Über einen Fall von Fetischismus, kompliziert mit Psychose
vor dem Strafrichter.
Vor kurzem habe ich an der Hand einer Arbeit von Gruber')
in diesem Archiv 2 ) über sexuelle Perversitäten vor dem Strafrichter
berichtet Die dort gegebene Kasuistik (10 Fälle) wird bereichert und
ergänzt durch einen in vieler Hinsicht interessanten Fall von Wal¬
ther 3 ), den derselbe in der Psychiatrischen Klinik zu Rostock zu be¬
obachten und begutachten Gelegenheit hatte.
Es handelt sich um einen 36jährigen Journalisten M. K., der in
die Irrenanstalt zur Beobachtung seines Geisteszustandes eingeliefert
war. Über erbliche Belastung wird uns nichts mitgeteilt. Pat. kam
in der Schule leidlich mit, machte mit 20 Jahren sein Abiturium und
bezog dann die Universitäten Marburg und Berlin, um dem juristischen
Studium obzuliegen. In der juristischen Staatsprüfung fiel er zwei¬
mal durch. Dieser Umstand und der gleichzeitige Tod seines Vaters
bestimmten ihn die Journalistenlaufbahn einzuschlagen, die ihm pe¬
kuniär ziemlich einträglich war. Seine journalistische Gewandtheit
erhellt daraus, daß er Redaktionsmitglied angesehener konservativer
Blätter wurde und Ehrenstellungen in konservativen Vereinen ein-
nahm. 1895 Heirat, die jedoch kinderlos blieb. 189 8 adoptierte er
auf Wunsch seiner kinderlieben Frau ein kleines Mädchen. Mit
seiner Frau hat er nie geschlechtlich verkehrt. In den
Jahren 1899—1900 war er Chefredakteur und führte seine redaktio.
1) Gruber, Beitrag zur Kasuistik der sexuellen Perversionen. Jnaugural-
Dissertation Freiburg i. Br. 1907, 33 Seiten.
2) Dies Archiv 1908 Bd. 32 S. 175 und ff.
3) Otto Walther, Fetischismus und Psychose. Ein Beitrag zur Kasuistik.
Inaugural-Dissertation Rostock 1905, 29 Seiten.
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IX. Kvkt Boas
nellen Geschäfte zur allgemeinen Zufriedenheit aus. Juni 1900 kün¬
digte K. die Stellung mit der Angabe, er habe von seinem Onkel ein
Gut geerbt und müsse dasselbe übernehmen. Diese Angaben ent¬
sprachen nicht den Tatsachen, vielmehr hatte er für 949000 M. das
Gut L. in Schlesien gekauft und den Kaufkontrakt bereits unter¬
zeichnet. Der Verkäufer erkannte jedoch rechtzeitig die Insolvenz
K. ’s und trat von dem beabsichtigten Kauf zurück, verlangte keine
Entschädigung, sondern nur die Stempelgebühren von ca. 10000 M.
Dann wechselte K. seinen Wohnsitz wiederholt und führte verschiedene
ihm später zur Last gelegte angebliche Betrügereien aus. Den Gedanken
eines Gutkaufes behielt er auch, nachdem sich der Ankauf des Gutes
L. zerschlagen hatte, bei, und so trat er mit verschiedenen Ritter¬
gutsbesitzern in Verhandlung. Auf einer Besichtigungsreise, die er
zu diesem Zwecke unternommen hatte, wurde er auf Ansuchen der
Staatsanwaltschaft verhaftet und es wurde die Untersuchungshaft über
ihn verhängt.
Die Anklage lautete auf mehrfach versuchten, aber nicht voll¬
endeten Betrug, den der Staatsanwalt in der Erwerbung des Gutes
L. und der Dakleburg wohlhabender Leute erblickte. In der Unter¬
suchungshaft machte K. allerhand konfuse Angaben, er müsse das
Gut seines Onkels übernehmen, er brauche zur Tilgung der Stempel¬
gebühren 10000 M., er müsse um Stellung bei einer großen süd¬
deutschen Zeitung zu erhalten, zum Doktor promovieren, habe jedoch
nicht die nötigen Mittel dazu, er müsse nach A. reisen, um seinen
neuen Dienst bei einer dortigen Redaktion anzutreten usw. Die Nach¬
prüfung dieser Angaben ergab, daß sie sehr wohl auf Wahrheit be¬
ruhen konnte. Es kam zur Gerichtsverhandlung wegen versuchten Be¬
truges unter Vorspiegelung falscher Tatsachen, und K. wurde zu 3 Jahren
Gefängnis verurteilt. In der Verhandlung stellte er jede betrügerische
Absicht in Abrede, er habe das Gut lediglich aus Interesse an der
Landwirtschaft gekauft und sich aus diesem Grunde theoretisch viel
mit landwirtschaftlichen Fragen beschäftigt. Erst nach der Urteils¬
verkündigung gab er seinem Verteidiger an, das Interesse an der
Landwirtschaft sei nicht allein für ihn maßgebend gewesen, sondern
der Umstand, daß er seiner Neigung auf dem Lande besser
nachgehen zu können meine. Nach seiner „Neigung“ be¬
fragt, erklärte er, er habe eine ihm unerklärliche Nei¬
gung zu Schürzen und Waschkleidern und glaube, daß
seine Frau in der ländlichen Einsamkeit sich eher dazu
entschließen könne, sich seinen Wünschen entsprechend
zu kleiden als in der Stadt. Weiter machte er von seinem Tage-
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Forensisch-psy chiatrische Kasuistik.
205
buch Mitteilung, in dem er über all diese Vorgänge gewissenhaft
notierte und von dem weiter unten eine Stichprobe mitgeteilt ist, und
von einem Konflikt mit der Polizei wegen eines angeblichen Sittlich¬
keitsverbrechens. Daraufhin wurde dem Antrag des Verteidigers auf
Untersuchung des Geisteszustandes seines Klienten stattgegeben und
derselbe in die Anstatt Geblsheim bei Rostock eingewiesen.
Bei der Aufnahme — die körperlichen Befunde interessieren hier
nicht — ist K. völlig ruhig und geordnet, zeitlich und örtlich orien¬
tiert. Er gibt .über seine Person ausführliche Angaben, die sich mit
mit dem Obenmitgeteilten decken. Ausführlich verbreitet er sich über
seine abnormen Neigungen. Er datiert seine Neigung zu Schürzen
schon von früher Jugend her. Dieselbe sei dadurch entstanden, daß
seine Kinderfrau ihm zur Beruhigung Schürzen ins Bett gegeben.
(Dieser Moment beruht auf einer guten Selbstbeobachtung des Pat.
und ist ein vorzügliches Beispiel und Beweisstück zugleich für die
Freudsche Sexualtheorie der Neurosen. Nach Freud, der freilich
oftmals zu weit geht und z. B. in einem jüngst erschienenen Auf¬
satz ') die Hysterie als „psychischen Coitus interruptus“ auffaßt,
spielen die sexuellen Traumen, nicht Träume, wie es oft in Laien¬
kreisen fälschlich heißt, eine große Rolle für das weitere sexuelle
Leben des Kindes. Jung 1 2 ), ein Schüler und unbedingter Anhänger
Freuds, ist noch weiter gegangen und gibt das sexuelle Schicksal
des Vaters als maßgebend für die Vita sexualis des Kindes an. Diese
Anschauungen klingen recht plausibel und sind jetzt nach heftigen
Kämpfen vielfach acceptiert. Immerhin ist Aschaffenburg 3 ),
Cramer 4 ) u. a. entschieden beizupflichten, wenn sie vor einer
Übertreibung des sexuellen Momentes warnen. In dem von
Walther berichteten Fall kann man die Freudsche Theorie
gelten lassen.' Genau so wie Kinderwärterinnen zur Beruhi¬
gung der Babys allerlei Kunstgriffe anwenden und damit in den
Kindern den Hang zur Onanie wecken, kann man sich sehr wohl
1) Freud, Zeitschrift für Psychotherapie und medizinische Psychologie
1909, Bd. I Heft 1.
2) Jung, Die Bedeutung des Vaters für das Schicksal des Einzelnen.
Jahrbuch für psychoanalystische und psvchopathologische Forschungen. Bd. I,
Wien 1909.
3; Aschaffenburg, Die Beziehungen des sexuellen Lebens zur Ent¬
stehung der Nerven- und Geisteskrankheiten. Münchener med. Wochenschrift
1906, S. 1793.
4) Cramer, Die Ursachen der Nervosität und ihre Bekämpfung. Medi¬
zinische Klinik 1909, Nr. 21 22.
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IX. Kurt Boas
die Schürzenneigung unseres Kranken entstanden denken. Boas). Zu¬
nächst beschränkte sich diese Leidenschaft auf Schürzen der Mutter und
Schwester, die er häufig an sich genommen und versteckt hatte.
Trotz teilweise sehr empfindlicher Strafen blieb die Neigung bestehen.
Auch als Student setzte er seine Gepflogenheiten fort und nahm un¬
bemerkt bei Besuchen, die er seiner Braut abstattete, Schürzen nach
Berlin mit. In dieser Zeit erwachte auch allmählich die Liebe zu
Waschkleidern, nach seiner Ansicht, weil seine Braut und Schwestern
häufig Waschkleider trugen, aber am liebsten sind ihm doch bis heute
Schürzen geblieben. (Gerade diese letzte Angabe scheint mir wieder
für die Freudsche Theorie zu sprechen. Boas.)
Mit dem ausgeklügelten Baffinement stellt er an die Schürzen
und Kleider ganz besondere Anforderungen. Sie müssen aus Wasch¬
stoff sein, auch müssen sie gewisse Farben und Muster zeigen. Am
liebsten sind ihm Schürzen und Kleider, die getragen sind, ja schmutzig
sein können, er duldet z. B. nicht, daß die Sachen gewaschen werden,
eine Angabe, die man beim Fetischisten selten vermissen wird. Der
Gedanke, daß seine „lieben Schürzchen“ nicht sorgfältig behandelt,
ja durch Waschen mißhandelt werden, bereitet ihm fast einen körper¬
lichen Schmerz. Seine Leidenschaft artet sogar bis zur ausgesproche¬
nen Eifersucht aus. Es ist ihm peinlich, Schürzen und Kleider, die
seinem Geschmacke entsprechen, von Fremden getragen zu sehen,
weil er damit immer den Gedanken verbindet, man gehe nicht ordent¬
lich und liebevoll genug mit den Sachen um. Deshalb und weil
eben seine Leidenschaft für solche Sachen durch den Anblick erregt
wird, ist er häufig den Trägerinnen nachgegangen und hat die frag¬
lichen Kleidungsstücke zu kaufen gesucht, obgleich er ganze Schränke
und Körbe voll im Lauf der Zeit gesammelt hat. Bei einer solchen
Gelegenheit ist er in D. in den Verdacht des beabsichtigten Sittlich¬
keitsverbrechens gekommen. Er hatte ein kleines Mädchen mit einer
ihm zusagenden Schürze gesehen, war ihm bis zur Wohnung gefolgt
und hatte es beauftragt die Mutter zu fragen, ob sie die Schürze nicht
an ihn verkaufen wolle. Er wolle am Abend wiederkommen und die
Schürze holen. Bei dieser Gelegenheit wurde er verhaftet. Er er¬
klärte der Polizei, daß er nur die Schürze für seine Sammlung habe
kaufen wollen. Die Polizei ließ nachsehen und fand eine große An¬
zahl von Schürzen und Kleidern, über deren Erwerb und Schicksal
er in gleichfalls gefundenen Büchern gewissermaßen Buch geführt
hatte (vom Jahre 1897). In B. beauftragte er eine Althändlerin, für
hin eine Schürze, die er bei einem Kinde gesehen hatte, zu kaufen
und trägt ihr auf, noch andere Schürzen für ihn zu erwerben. Aber
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik.
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nicht nur alte Schürzen hat er gekauft, sondern wenn er in einem
Geschäft ein ihm zusagendes Stück fand, hat er es sich angeschafft.
Über sein Geschlechtsleben äußerte er sich, wie folgt:
Nur als Student hat er kurze Zeit onaniert, aber ohne Befriedi¬
gung. Wie er dazu gekommen ist, will er nicht mehr wissen, aber
jedenfalls haben seine Schürzen usw. damit nichts zu tun. Er hat
dann bald ohne jeden Zwang die Onanie unterlassen nach Lektüre
eines Buches über die Schädlichkeit der Onanie (welches?). Mit
einem Weibe hat er nie geschlechtlich verkehrt, auch
nicht mit seiner Frau während der nunmehr achtjährigen
Ehe. Das ist häufig die Ursache zu häuslichem Unfrieden gewesen,
da seine Frau sehr kinderlieb ist. Deshalb hat er seiner Frau wegen
ein Kind adoptiert. Er meint, sein Verkehr mit Schürzen und
Kleidern müsse wohl als Ersatz für den Geschlechtsverkehr ange¬
sehen werden, nach welchem er nie Verlangen gehabt habe. Mit
seiner Frau verbände ihn aufrichtige Neigung, die aber wohl nichts
mit Sexualität zu tun habe, wie ihm ja auch die Trägerinnen seiner
Schürzen in dieser Hinsicht gleichgültig seien, es interessiere ihn
eben nur der Gegenstand, den sie trügen. Nach seiner Angabe ist
ihm schon mehreremal der Gedanke gekommen, den Wunsch seiner
Frau zu erfüllen in dem Gedanken, daß er für sein zu erwerbendes
Gut einen Erben haben wollte, aber die Schürzchen haben sich ihm
hindernd in den Weg gestellt. Es sei gewesen, als ob die lieben
Schürzchen zu ihm gesprochen hätten: das dürfe er ihretwegen
nicht tun.
Seinen Verkehr mit den Schürzen und Kleidern schildert er
wie folgt:
Der Besitz und der Anblick seiner Schürzen und Waschkleider
sowie der Verkehr mit diesen gewährt ihm ein Gefühl des Wohlseins
und der Befriedigung. Zu einer sexuellen Erregung kommt es dabei
nie, ebenso benutzt er sie nicht zu onanistischen Zwecken. Er findet
seine Befriedigung darin, daß er sie besieht, wenn sie von Frau und
Kind getragen werden. Ferner umgibt er sich nachts mit Schürz¬
chen und Kleidern, und die ihm gerade liebste Schürze nimmt er
auch ins Bett, immer ohne sie zu onanistischen Zwecken zu benutzen.
Am Tage hängt er sie im Zimmer auf, und streichelt sie, küßt sie
und redet mit ihnen „wie mit Frau und Kind“. Auch auf Reisen
hat er immer eine oder mehrere Schürzen mitgenommen, so auch auf
seiner letzten Reise nach Pommern. (Er hat tatsächlich bei
seiner Verhaftung zwei Schürzen bei sich gehabt, die
er auch nach Gehlsheim gebracht hat).
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IX. Kubt Boas
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Eine große Freude gewährt ihm auch das Führen von Tage¬
büchern (von 1897 an), worin er sich über Erwerb, Aussehen und
Schicksal seiner Schürzen und Kleider ausläßt.
Da sich Frau und Kind häufig weigerten, die zum Teil un¬
modernen, zum Teil schmutzigen Kleider und Schürzen zu tragen, ist
allmählich der Gedanke bei ihm laut geworden, daß sie sich wohl
auf dem Lande nicht mehr weigern würden, weil sie sich dort in
ländlicher Einsamkeit nicht zu genieren brauchten. Daher ist all¬
mählich die Absicht entstanden, ein Gut zu erwerben. Hierbei spielt
nun nach seiner Angabe nicht allein der Wunsch, seine Schürzen¬
leidenschaft auf dem Lande besser kultivieren zu können, eine Rolle,
sondern dazu kommen noch allerlei Vorstellungen, die sich in den
letzten Jahren bei ihm festgesetzt haben. Er glaubt nämlich im Be¬
sitze eines Ritterguts allerlei Pläne verwirklichen zu können, die er
zur Verbesserung der sozialen Verhältnisse seiner Mitmenschen vor
hat. Er will zunächt gar nicht mit diesen Plänen heraus, läßt sich
aber schließlich doch dazu herbei, einiges davon zu verraten. Bei
seinen parteipolitischen Verbindungen glaubt er als Gutsbesitzer evtl,
ein Reichstagsmandat bekommen zu können, dadurch in Fühlung mit
hohen und höchsten Kreisen zu kommen.
Er spricht von Tätigkeit im Ministerium, ja ganz heimlich taucht
der Gedanke auf, selbst Minister werden zu können. In diesen
Stellungen hofft er eben seine Pläne zur Verbesserung der sozialen
Lage ausführen zu können. Was er für Pläne hat, will er noch
nicht sagen. Von seiner Tätigkeit als Redakteur spricht er keines¬
wegs mit Überhebung, sondern gibt nur an, daß er stets zur Zufrie¬
denheit seiner Auftraggeber gearbeitet habe. Alle diese Angaben des
K. tragen den Stempel der Wahrheit an sich, wie sie ja auch zum
großen Teil durch Zeugenaussagen und Berichte bestätigt werden.
Die Art und Weise, wie er alles vorbringt, und die Tatsache, daß er
zu verschiedenen Malen und auch den einzelnen Ärzten der Anstalt
%
alle Angaben in derselben Weise und im selben Sinne macht, sprechen
dafür, K.s Angaben für durchaus glaubwürdig zu halten. Aus der
weiteren Krankengeschichte während seines Anstaltsaufenthalts ist
noch zu erwähnen, seine Angabe seit 3—4 Jahren (1898—1899) an
anfallsweisen Kopfschmerzen zu leiden, die er ungenügend in Stirn
und Hinterkopf verlegt. Hat seit Jahr und Tag bis 3 Migränepulver
pro die genommen. Seit 2—3 Jahren ist der Schlaf vorwiegend mit
häufigem Aufschrecken. Er verlangt dauernd die bei seinen Sachen
befindlichen Kinderschürzen, die er stets bei sich gehabt habe und
ohne die er so nicht aushalten könne. Ist häufig weinerlich ver
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Forensisck-psychiatrische Kasuistik.
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stimmt. Nach ca. 14 Tagen wird er etwas munterer, will Kopf¬
schmerzen haben. Äußert sich über seine Neigung zu Schürzen usw.
in wortreicher, ausführlicher Weise. Nachdem er anfänglich sich von
seiner Umgebung ferngehalten, verkehrt er später ganz angemessen
mit andern Kranken, macht auch Spaziergänge im Garten. Dabei
weiß er es oft so einzurichten, daß er in die Nähe der Beamten¬
gärten kommt, wo er Kinder spielen sieht, scheint aber dabei eine
ihm zusagende Schürze nicht gesehen zu haben. Jammert dann
häufig nach seinen Schürzen.
Nach Ablauf der gesetzlichen Untersuchungszeit von 6 Wochen
wird K. wieder in das Untersuchungsgefängnis übergeführt. I m
Termin wurde er auf Grund des Gutachtens nach § 51
freigesprochen.
Auszug aus K.s Tagebüchern.
Dunkelblaue Schürze mit blaugestreiftem Rand. Band die Schürze
wieder früh, nachdem sie angezogen war, wieder um, auf meine Bitte.
Heute aber erst, nachdem sie auch Marga gewaschen und angezogen hatte,
sodaß mir das Furchtbare erspart blieb, zu sehen, wie sie in der
süßen Schürze Marga wäscht. Frühstückte darin und trug in ihr das
Geschirr in die Küche. Zog in ihr Marga die Gamaschen der Gummi¬
schuhe an, berührte dabei mit ihren Armen die herabhängende Schürze,
die dadurch wieder ganz zusammengebogen und geknutscht wurde
usw. Schürzidel hängt zu meinem furchtbarsten Schmerz ganz zer-
knutscht und zusammengebogen herunter, ist voller Knutschfalten,
die sich von oben bis unten hinziehen, auch der blaugestreifte Rand
ist auf beiden Seiten voll direkter Knutschfalten und der süße blau¬
gestreifte Stoff ist oben rechts und links ganz zusammengebogen und
zerknüllt. Ich bin tief traurig, daß das süße Schürzidel durch das
Umbinden so furchtbar mitgenommen usw.
Kleine dunkelblaue Schürze.
Sonntag. I. band zu meiner innigsten Freude wieder die kleine
dunkelblaue Schürze um und zwar grade zum Sonntag, trotzdem sie
noch ungewaschen und schmutzig war, und ich gar nicht erwartet
hatte, daß sie sie sich in N.-Str. umbinden würde. Das herrliche
Schürzidel ist noch von R. W., St., Dr. und St., ja sogar noch von
0. schmutzig und ungewaschen, seit sie sie vor nahezu 12 Jahren in
0. umgebunden hatte. Beim Umbinden erinnerte sie mich daran,
daß das eine von ihren ältesten Schürzen sei usw. Zu meiner tiefsten
Betrübnis sagte I. dann weiter, die Schürze sei schon ganz faden¬
scheinig und würde wohl bald wie Zunder auseinanderfallen usw.
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IX. Kurt Boas
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Schildert dann einen Streit mit seiner Frau über das Tragen
dieser Schürze. Frau gibt nach.
Folgen noch Geschichten über einige andere Schürzen, so z. B.
weißgerippte Schürze mit schmalen Baspein, blaugestreifte gerippte
Schürze, dunkelblau gerippte Schürze mit rotgerippten Borten und
Halskragen (Schließschürze), kleine mittelblau gerippte Schürze mit
rotgeblümter Kante, hellgelb gerippte Schürze mit blau gerippter
Borte.
Dazwischen Schilderungen von Waschkleidern: Blaugestreifte
Bluse mit Matrosenkragen. Blaugestreiftes geripptes Waschkleid-
Dunkelblau geripptes Waschkleid usw.
Interessant sind die Aussagen der Mutter. Dieselbe gab an, daß
K. schon in seiner Jugend eine gewisse Neigung für Schürzen und
Kleider gehabt habe. Es seien ihr öfters Kleidungsstücke aus ihrer
Kommode fortgekommen. Man hätte sie dann regelmäßig bei K.
wiedergefunden. Der Vater hätte das Ganze für eine Spielerei an¬
gesehen.
Das abgegebene Gutachten äußert sich dahin, daß K. an patho¬
logischem Gegenstandsfetischismus leidet und an einer Psychose
paranoischen Charakters auf degenerativer Basis.
Das Gericht schloß sich der Ansicht an, daß hier der § 5t in
Anwendung kommen müsse. Eine letzte Frage wäre noch zu beant¬
worten, ob K. entmündigt werden soll. Die Entmündigung kann in
diesem Fall nicht eintreten, da K. handlungsfähig ist und seine Ge¬
schäfte besorgen kann.
Im Anschluß daran erörtert dann das allgemeine Wesen des
Fetischismus. Die meisten Autoren wie Binet 1 ), v. Krafft-Ebing 2 ),
Moll 3 ), Garnier 4 ) und v. Schrenk-Notzing 5 ) halten den Feti¬
schismus für eine erworbene Perversion.
6. Einige Bemerkungen zur Genese der Homosexualität
insbesondere der Fälle in foro.
In einer Vorlesung „Einführung in die psychiatrische Klinik“
nahm Prof. Ziehen (Berlin) vor kurzem Gelegenheit an Hand eines
interessanten Falles auf die Genese der Homosexualität einzugehen.
1) Binet, Du fStischisme dans l’amour. Revue philosophique 1897.
2) v. Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis. Stuttgart 1903.
3) Moll, Libido sexualis. Konträre Sexualempfindung. Berlin.
4) Garnier, Les fetichistes pervertis et invertis sexuels. Paris 1896.
5) v. Schrenck-Notzing, Suggestionstherapie bei krankhaften Erschei¬
nungen des Geschlechtslebens.
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik.
211
Es bandelte sich um einen I 6 V 2 jährigen jungen Mann mit Dementia
hebephrenica sive praecox , ). Die Anamnese des Falles ist dürftig.
Patient wurde normal geboren, war jedoch eine halbe Stunde lang
asphyktisch, welches Moment vielleicht eine Rolle in der Ätiologie
seiner späteren Geisteserkrankung spielt Er lernte rechtzeitig Laufen
und Sprechen. In der Schule kam er schlecht mit Er brauchte
lange Zeit, um über eine Frage nachzudenken. Er blieb öfters sitzen.
Weiterhin wird uns berichtet, daß er nach mühsamer Absolvierung
der Schule in einem Geschäft arbeitete, wo man mit ihm anfangs,
abgesehen von seiner etwas zurückgebliebenen Begriffsentwicklung,
leidlich zufrieden war. Im Beginn des letzten Vierteljahres nahm die
Mutter eine Veränderung in seinem Wesen wahr. Es beißt, er habe
oft so eigenartige stereotype Bewegungen ausgeführt und mit den
Händen in der Luft so herumgefuchtelt. Dabei soll sein Blick stier
nach einem Punkte gerichtet gewesen sein. Der Mutter ist weiterhin
aufgefallen, daß er seine Toilette vernachlässigte, daß er sich nicht
mehr ordentlich wusch und mit ungeputzten Stiefeln ins Geschäft
ging. Auch sein Arbeitgeber hatte über ihn zu klagen.
Weiterhin erfahren wir, daß er in letzter Zeit maßlos ona¬
niert hat. Die Diagnose „Dementia hebephrenica“ stützte sich bei
ihm auf folgendes: Er bietet 1 . ausgesprochene katatonische Stereo*
typien dar, 2 . das Bild der affektiven Verblödung dar, 3. der Kombina¬
tionsdefekt ist vorhanden. Außerdem besteht hochgradige Hemmung,
so daß bei der klinischen Vorstellung aus dem Kranken kein Wort
herauszubekommen ist. Er kann seinen Namen, sein Alter usw. nicht
angeben. Von einer Melancholie, woran bei dem manchmal pseudome¬
lancholischen Charakter der Dementia praecox — von den katatoni¬
schen Symptomen abgesehen — gedacht werden könnte, kann aus dem
Grunde nicht die Rede sein, weil in der Krankengeschichte ausdrück¬
lich sein häufig unmotiviertes Lachen hervorgehoben wird.
Soweit bietet der Fall für den Psychiater nichts Bemerkenswertes.
Hochinteressant ist aber das Folgende, weswegen ich den Fall hier
mitteile. Der Vater teilt nämlich mit, der Sohn habe einem Theater¬
verein angehört. Der Vater hat Grund zu der Annahme,
daß dieser Verein homosexuellen Zusammenkünften
diene. Er habe seinem Sohne den Besuch strengstens unter¬
sagt, ihn aber trotz seines Verbotes wiederholt daselbst
angetroffen. Das alles sei im letzten Vierteljahre erfolgt und
1) Die notwendigsten Angaben über diese Krankheit findet der Laie bei
Dost, Kurzer Abriß der Psychiatrie, Leipzig 1908, F. C. W. Vogel.
Archiv für Kriminalanthropologie. 36. Bd. 15
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212
IX. Kürt Boas
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Ziehen steht nicht an, diese homosexuelle Betätigung mit der jetzigen
Erkrankung in Zusammenhang zu bringen, umsomehr, als der
junge Mann vor kurzem eine Tripperinfektion durch¬
gemacht hat, wa% wohl am besten für eine normale d. h.
bisexuelle Geschlechtsbetätigung spricht. Auch die ma߬
lose Masturbation deutet auf Homosexualität hin. Im Anschluß daran
berichtet Prof. Ziehen über einen zweiten Fall, der dem eben mit¬
geteilten in mannigfacher Beziehung ähnelt Es handelt sich um
einen jungen Menschen aus guter Familie, bei dem auf angeborene homo¬
sexuelle Veranlagung nach Angabe der Eltern nicht zu schließen war.
Derselbe ging eines Abends in Berlin eine Straße entlang, wo sich
notorisch Homosexuelle herumtrieben. Er wird von einem Per¬
versen angesprochen und geht mitihm ohne weitere sitt¬
liche Empfindung für 2 Mark mit und läßt an sich
Unanständigkeiten vornehmen. Die Eltern sind der festen
Überzeugung, daß ihr Sohn das früher nie fertig bekommen hätte.
Er hätte dem Versucher eine kräftige Ohrfeige auf sein Ansinnen
versetzt.
Diese beiden Beispiele zeigen aufs trefflichste die engen Be¬
ziehungen zwischen Homosexualität und Psychose. Man sollte daher
insbesondere bei jugendlichen Homosexuellen stets daran denken, ob
nicht Dementia praecox die Ursache ihrer anormalen Geschlechts¬
betätigung sein könnte. Im übrigen wies Prof. Ziehen darauf hin,
daß im allgemeinen der Kranke, der an Dementia praecox oder an
Dementia paralytica oder an Dementia senilis leidet, wahllos sei in
der Art seiner Geschlecbtsbetätigung. Je nach den Umständen ver¬
greifen sie sich an Kindern, oder üben Notzucht oder solche Hand¬
lungen aus, die unter den § 175 fallen. Das hat seine Ursache in dem
Wesen der drei genannten Krankheiten, die alle das eine gemeinsame
haben: Untergang der Gefühlstöne, d. h. affektive Verblödung, die
sich darin äußert, daß die höheren Gefühlstöne, wie Pflichtgefühl,
Schamgefühl usw. erloschen sind, während die minderen aber auch
normalen Gefühlstöne, wie der Sexual- und Hungertrieb, erheblich
gesteigert sind.
Besitzt schon die psychiatrische Seite der oben erwähnten Fälle
genug des Interessanten, so erfordert die forensische ganz besondere
Beachtung und es tritt vor allem die Frage auf: Wie soll sich
angesichts dieser Tatsachen die Behandlung jugendlicher Homo¬
sexueller, bei denen Verdachtsmomente auf eine Geisteskrankheit
bestehen, gestalten? Zunächst wäre die psychiatrische Beobachtung
solcher Elemente in besonderen Beobachtungsstationen, wie sie See-
Gck igle
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik.
213
lig 1 ) vor kurzem für Fürsorgezöglinge gefordert hat, zu empfehlen,
dürfte aber doch wohl auf mannigfache Schwierigkeiten in der prak¬
tischen Durchführung stoßen. Auch die Verurteilung jugendlicher
Homosexueller nach § 175 zu Gefängnis oder wegen gewerbsmäßiger
Unzucht zu Arbeitshaus, dürfte unter den obwaltenden Umständen
Modifikationen in der praktischen Handhabung erfahren. Wie und
welcher Natur diese sind, mag ich nicht entscheiden, sondern lieber
Juristen vom Fach überlassen. Es kam mir in meiner kleinen Mit¬
teilung nur darauf an, zu zeigen, daß Homosexualität sehr wohl
durch Psychosen bedingt sein könne, ein Grund mehr, um an der
immer noch von manchen festgehaltenen Theorie von der ange¬
borenen Homosexualität berechtigte Zweifel zu hegen.
7. Kasuistische Beiträge zum Kapitel der Sexualdelikte.
I.
Ätiologisches, Anatomisches und Statistisches
zu den Sexualdelikten.
Über die Frage der Sexualdelikte sind die Akten noch lange
nicht geschlossen, sodaß wir jeden Beitrag, der zur Erweiterung und
Vertiefung unserer Kenntnisse auf diesem psychologisch dunkelsten
und zugleich interessantesten Grenzkapitel der forensischen Psychiatrie
und Kriminalistik freudigst willkommen heißen müssen.
Den nachstehenden Ausführungen über Sexualdelikte, denen ein
im Laufe der Zeit gesammeltes und gesichtetes kasuistisches Material
zugrunde liegt, wollen wir einige statistische und ätiologische Be¬
trachtungen, ohne die ein Verständnis der folgenden Abschnitte
schlechterdings unmöglich ist, voranschicken.
Dabei will ich die Besprechung anknüpfen an eine jüngst er¬
schienene Arbeit von Wach holz 2 ), der das reiche Material von 102
Notzuchtsfällen zugrunde liegt, die Verf. zum größten Teil selbst be¬
gutachtet hat, zum kleineren Teile seinem Mitarbeiter Horoskiewicz
verdankt. DieseZahl von 102 Fällen, dieVerf. im ganzen in 3 (!) Jahren Ge¬
legenheit hatte zu begutachten, dünkt ihm mit Recht enorm groß gegen¬
über dem Material von Haberda 3 ), der in 9 Jahren 339 weibliche
Personen wegen Notzucht und Schändung untersucht hat. Diese
1) See lig, Psychiatrische Beobachtungsstationen für Fürsorgezöglinge. Zeit¬
schrift für Psychotherapie 1909, Bd. I. Vgl. auch Kapitel IV dieser Arbeit
2) Wachholz, Zur Lehre von den sexuellen Delikten. Vierteljahrsschrift
f. gerichtliche Medizin, 1909 Bd. XXXVIII S. 64.
3) Haberda, Verbrechen und Vergehen gegen die Sittlichkeit. Handbuch
der gerichtlichen Medizin, Bd. I S. 171, Berlin 1905.
15*
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Tatsache gewinnt an Bedeutung, wenn man bedenkt, daß Haberdas
Material aus Wien stammt, und läßt zugleich einen wenig günstigen
Schluß auf die moralischen Qualitäten der Galizier zu.
Was zunächst das Alter der genotzüchtigten Personen
betrifft, so kann Wach holz der allgemeinen Anschauung beitreten,
daß die Mehrzahl der Fälle Personen unter oder bis 14 Jahren be¬
trifft, nämlich 78. Die übrigen verteilen sich auf Personen von 15
bis 90 (!) Jahren, sodaß sich das- Verhältnis dieser beiden Kategorien
auf 3 : 1 stellt. Tardieu *) gibt es sogar auf 4:1 an.
Nähere Angaben über das Alter gehen aus nachstehender Tabelle
hervor.
Bis zu
14 Jahren
Über
14 Jahre
3 Jahre
2 Fälle
15 Jahre
2 Fälle
4
n
1 Fall
i 16
71
3
71
5
w
3 Fälle
17
71
2
71
6
H
6 „
18
ü
2
H
7
H
5 »
19
11
2
11
8
V
3 v
20
H
6
11 .
9
V
3 *
22
n
1
Fall
10
11
8 „
23
n
1
11
11
11
10 „
28
ii
1
n
12
V
13 „
42
n
1
n
13
V
17 *
47
71
1
ii
14
ri
7 «
59
**
1
w
zusammen 78 Fälle
90
7)
1
ii
zusammen 24
Fälle
Konfession: 97 Personen gehörten der katholischen Kon¬
fession an, davon 74 (!) im Alter bis zu 14 Jahren, 5 der mosaischen,
somit 5 Proz. aller Fälle, darunter 4 im Alter bis zu 14 Jahren.
Stand: 98 Opfer waren ledig, 5 waren Mütter und standen
im Alter von 20, 42, 47, 59 Jahren.
Profession: Die meisten Opfer gehörten der arbeitenden Klasse
an, teils als Zeitungsverkäuferinnen, Zündholzverkäuferinnen, Kinder¬
mädchen oder Hirtinnen, teils als Schülerinnen. Ein 12jähriges
Mädchen ergab sich seit dem 7. Jahre in Absteigequartieren niedrigster
Art der Prostitution. Sie war mit 7 Mädchen stupriert worden, litt
zudem an Gonorrhoe (!). Sein Liebhaber war ein 25jähriger lue¬
tischer Kellner, der im Verdacht stand, mehrere Notzuchtsattentate
und einen Lustmord auf dem Gewissen zu haben.
Bei der Vernehmung gaben die Attentäter öfters an, sie hätten
das Mädchen mit ihrer Einwilligung gebraucht, ohne zu wissen, daß
1) Tardieu, Etüde medico-legale sur lea attentats aux moeura 1878.
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik.
215
es noch nicht 14 Jahre alt war. Sie hätten ihnen ihrer ganzen Entwick¬
lung nach bedeutend älter und geschlechtsreif erschienen. Um dieser
Angabe entgegenzutreten, hat sich Wach holz die Mühe genommen
und die Körpergröße der Mädchen untersucht Er kam dabei zu
folgenden Mittelwerten:
Körpergröße mit 5 Jahren im
Durchschnitt
101
em
77
„ 6
77
77
77
105
77
77
* 7
77
77
77
111
77
77
„ 8
77
77
77
115
77
77
„ 9
77
77
77
120
77
77
., 10
77
77
77
124
77
V
v 11
V
77
77
130
77
77
„ 12
77
77
77
136
77
77
.. 13
77
77
143
77
77
V 14
77
77
77
150
77
Diese Zahlenwerte unterscheiden sich in mannigfaltigster Hinsicht
von denen Trogers 1 ) und der Frankfurter Kommission, dürften aber
wohl auf den Rassenunterschied zurückzuführen sein. So ist es z. B.
eine feststehende Tatsache, daß polnische Mädchen, denen das Ma¬
terial Trogers zugrunde liegt, stärker entwickelt sind wie andere
Rassen im Deutschen Reich.
Als geschlechtlich reif hat Wach holz die Personen mit voll¬
ständig entwickelten sekundären Geschlechtsstigmen: Verhalten der
Mammae, der Labia majora, Behaarung des Mons Veneris, Eintreten
der Menses bezeichnet. Legt man diese Definition zugrunde, so fand
Wach holz diesen reifen Geschlechtszustand in folgendem Lebens¬
alter :
Bei 12jährigen Mädchen in 2 Fällen (15 Proz. der Notzuchtsfälle)
n „4„ (23 » » » )
v „ „ rt h „ (71 „ » n )
Natürlich kommen auch einige Ausnahmen zur Beobachtung. So
fand Verf. bei einem 11 jährigen Mädchen eine üppige Behaarung
des Mons Veneris, während die Brüste noch nicht entwickelt waren
und das Kind noch nicht menstruiert war. Ein 14jähriges mosaisches
Mädchen stellte sich als vollkommen entwickeltes Mädchen dar, das
vor Ende des 13. (!!) Lebensjahres einem ausgetragenen Kinde das
Leben schenkte. Im allgemeinen verlegt Wachholz die Geschlechts¬
reife auf das 14. Lebensjahr. Dennoch hatte er zwei Mädchen von
16 Jahren beobachtet, die die Entwicklung etwa eines 10jährigen
Mädchens aufwiesen. Es handelte sich also um ausgesprochenen
1) Troger, Messungen von 7138 Volksschulkindem, Zeitschrift f. Medizinal¬
beamte, 1906 S. 145.
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216
IX. Kurt Boas
Infantilismus, zu dem in einem Falle noch angeborener Schwachsinn
hinzutrat.
Eine Reihe von Mädchen waren mit z. T. ekelerregenden Krank¬
heiten behaftet, sodaß es Wunder nehmen muß, daß sich die Täter
an solchen Geschöpfen vergehen konnten, darunter ein Mädchen mit
Lupus im Gesicht und teilweise zerstörtem Nasendach.
Besondere Aufmerksamkeit wurde der Untersuchung der Scham¬
teile zugewandt. Bekanntlich unterscheidet man in der Anatomie
und forensischen Medizin mehrere Formen von Hymen, sodaß es
unter Umständen zum Beischlaf ohne Defloration kommt In solchen
Fällen gelingt der Nachweis des Stuprum lediglich durch Nachweis
von Spermaresten und -flecken im Hemde der stuprierten Person, wie
sie heutzutage durch die Barberiosehe Sperma-Reaktion gewähr¬
leistet wird 1 ).
Um auf die Einteilung der Hymen zurückzukommen, so unter¬
scheidet z. B. Waldeyer 2 ) den Hymen anularis, ein ringförmiger
Hymen, bei dem die beiden oberen Enden des Orificium sive Introitus
vaginale konfluieren. In seltenen Fällen ist der konkave Rand des
Hymen mit Einkerbungen vorhanden. Wir sprechen dann von
Hymen fimbriatus. Eine noch seltenere Abart stellt das Hy men
imperforatus dar, wo das Hymen das Orificium vaginae voll¬
ständig verschließt. Höchst wahrscheinlich lag bei dem Fall der
„Komtesse Mizzy Veith“, deren Selbstmord im vorigen Jahre in Wien
solches Aufsehen und einen Kuppeleiprozeß gegen den Grafen Veith
nach sich zog, ein solcher Hymen imperforatus vor. Es hieß näm¬
lich ausdrücklich, daß der Vater von einer Anomalie der Schamteile
seiner Tochter Vorteile zog, deren besondere Eigenart auf die „Kava¬
liere“ seiner Tochter den Eindruck der noch unschuldigen Jungfrau
machte, gerade indem der alte Kuppler auf den imperforierten Hymen
seiner Tochter hinwies und sie als Jungfer hinstellte.
Noch eine zweite Form kommt zuweilen vor, der Hymen
cribriformis, der verschiedene kleine siebförmige Öffnungen zeigt
Nach der ersten Cohabitation pflegt der Hymen einen oder
mehrere Einrisse zu zeigen, und die vordere Wand des Vagina ragt
keilförmig in das Orificium vaginale hinein (Carina vaginae). Die
Überbleibsel des ehemaligen Hymen werden später atrophisch und
bleiben dann nur noch als kleine unregelmäßig gestaltete Hervor-
1) Über die einschlägigen in der Praxis üblichen Methoden wird in einer
späteren Arbeit des Näheren berichtet werden.
2) Brösicke, Lehrbuch der normalen Anatomie des menschlichen Körpers,
8. Aufl. S. 652, Berlin 1908.
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik.
217
ragungen, Carunculae hymenales sive myrtiformes,
sichtbar. Die beiden oberen Enden des Hymen stoßen stets an der
Mündung der Urethra zusammen, was deswegen zu betonen ist, weil
Unkundige ein scharf vorspringendes Frenulum labiorum majorum
mit dem Hymen verwechseln können. Bei deflorierten Individuen
ist die Mündung der Urethra ohne Schwierigkeit etwas nach hinten
von der Clitoris unterhalb des Schambogens zu fühlen.
Nach diesen kurzen anatomischen Bemerkungen werden wir die
diesbezüglichen Angaben Wach holz’ besser verstehen. Der¬
selbe fand:
Unversehrtheit des Hymen in 70 Fällen
Defloration des Hymen in 27 „
Carunculae myrtiformes *) in 5 „
Von den 27 Fällen, in welchen der Hymen eingerissen war, ist in
20 Fällen frische, in den 7 übrigen eine von dem letzten Notzuchts¬
attentat schon entstandene Defloration festgestellt worden. Die
Schwierigkeiten der Beurteilung derartiger forensischer Fälle geht
daraus hervor, daß z. B. in einem Falle die voruntersuchenden Ärzte
von myrtenblattförmigen Hymenresten sprachen, während es sich in
Wirklichkeit um einen tiefen, bis in die Scheidenschleimhaut klaffen¬
den Einriß des Hymen handelte. Den relativ großen Prozentsatz der
intakten Hymen erklärt Wach holz aus dem Mißverhältnis der beider¬
seitigen Geschlechtsteile, das nur den Beischlaf im Scheidenvorhof
zuließ. (Coitus vestibularis, coit pörinöal Lacapagues). Handelte
es sich doch bei den Attentätern zumeist um noch nicht geschlechts¬
eifer 15jährige Burschen! Die Unversehrtheit des Hymen bei den
10 älteren Personen (drei 20jährige, zwei 19jährige, je eine 15, 16,
17 und 18 jährige) erklärt Wach holz durch seine Form und Resi¬
stenz. Viermal fand er bei der Untersuchung einen lappenförmigen
Hymen (Hymen lobatus), zweimal einen lippenförmigen Hymen, zwei¬
mal einen ringförmigen und zweimal einen sichelförmigen.
Beschaffenheit der Hymen.
1. Halb mondförmiger Hymen l
( mit glattem Rand . . .
gezähnt (Hymen semilu-
naris denticulatus) . .
2. Ringförmiger Hymen
| mit exzentrischer Öffnung .
| mit zentraler Öffnung . .
3. Lippenförmiger Hymen
43 mal
1 *
4
1) Siehe oben.
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218
IX. Kurt Boas
4. Lappenförmiger Hymen.5 mal
Darnnter Hymen fimbriatus').2 „
5. Hymen septus.2 „
6. Hymen subseptus (Haberda).1 r
Der verschiedenen Form der Hymen entsprach auch eine ver¬
schiedene Dicke nnd Konsistenz, sodaß Wachholz Nina-Rodri-
gnes 2 ) beistimmen muß, wenn er meint, jeder Jungfrau komme ein
ihr eigentümliches Hymen zu. Wach holz fand die Konsistenz
34 mal dünn (Hymen debilis)
36 * fleischig (Hymen carneus)
Davon 6 „ dehnbar (Hymen tendineus)
Andere Verletzungen der Geschlechtsteile kamen relativ nur selten
zur Beobachtung (Zerreißung der Perineums, des unteren Frenulum,
Epithelabschürfungen, blutige Unterlaufungen im Scheidenvorhof und
an der Innenseite der Labia majora). Bei zwei sich der gewohn¬
heitsmäßigen Prostitution ergebenden Mädchen von 11 und 13 (!)
Jahren wurde eine deutliche Hypertrophie der Clitoris und der Nymphen
festgestellt
Was die Übertragung venerischer Infektionen auf die Opfer be¬
trifft, so ergab sich darüber folgendes:
10 mal Gonorrhoe (zwei 6jährige, drei 12jährige, je ein 3, 5, 8, 10,
13jähriges Mädchen)
2 „ Syphilis (13 und 22 Jahre alt).
In zwei Fällen von Gonorrhoeinfektion konnte die Infektion den
Tätern nicht zur Last gelegt werden, da bei ihnen keine Gonorrhoe
nachweisbar war.
Was die Täter betrifft, so macht W ac h h o 1 z darüber folgende
Mitteilungen:
a. Alter: Im Alter von 14—23 Jahren standen 46
„ „ „ 2-1—28 „ „ 42
„ „ „ 51,52,56,60,62, 65,77 7
Das Alter wurde nicht festgestellt bei 11
Nicht ermittelt wurden 4
Landstreicher und
Händler
6
Bettler
12
Bauern
6
Tagelöhner
23
Mittelschulstudenten
3
Hirten
10
Angehörige der In¬
Bedienstete |
1 5 ;
telligenzklasse
6
Handwerker
25!
r
1) Siehe oben.
2) Nina-Rodrigues, Annales d’hygiene publique, Bd. XIIII S. 481.
Difitized
bv Google
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13 = 11,8 Proz.
Ledig.78 Fälle
Verheiratet .... 21 „
Geschieden .... 2 „
Verwittwet .... 5 „
c. Konfession: Von 106 Tätern waren
mosaisch.
d. Familienangehörige, Dienstherren usw. als Atten¬
täter.
Im ganzen wurden 11 Fälle dieser Art beobachtet.
Darunter war der Täter
a. der Vater 5 mal (darunter 2 mal geisteskrank. Dementia
paralytica und Manie mit Schwachsinn (?))
b. der Stiefvater 1 mal
c. der Stiefbruder l mal
d. der Pate und gleichzeitige Vormund 1 mal
e. der Dienstherr 3 mal.
e. Geisteszustand der Täter
13 mal anormal und zwar
Imbezillität 10 mal
Dementia senilis 2 mal')
Dementia paralytica 1 mal 1 2 )
f. Genitalbefund bei den Tätern
2 mal Infantilismus (Fehlen der Schamhaare, mangelhafte
Ausbildung der Genitalien, puerile Stimme)
1 „ linksseitige traumatische Hodenatrophie (62 jähr. Mann).
1 „ Impotenz (bei dem obenerwähnten Zuhälter).
g. Venerische Erkrankungen bei den Tätern
| 4 mal akut
l 3 „ chronisch
2 „ Lues II. 3 )
h. Multiplizität von Notzuchtsversuchen
8 Täter davon haben begangen
4 Täter an je 2 Personen
1 « n 3 „
2 „ fl n 6 n
1 1, ii ii 7 «
7 mal Gonorrhoe
1) Vgl. darüber den interessanten Aufsatz von Aschaffenburg im 2. Bande
seiner Monatsschrift f. Kriminalpsychologie und Kriminalistik.
2) Siehe unter der Rubrik d. Vgl. auch meine demnächst in diesem Archiv
erscheinende Arbeit „Über die forensische Bedeutung der Dementia paralytica“.
3) = Sekundärstadium der Syphilis.
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220
IX. Kurt Boas
i. Als besondere Merkwürdigkeiten führt Wacbholz
noch Fälle von Notzucht an alten Frauen von blutjungen
Burschen an. Es handelte sich im
I. Fall um eine 42jährige Frau, Mutter mehrerer Kinder,
die einen viel älteren Eindruck macht und gegen die ein
Notzuchtsattentat von 3 Burschen gemacht wurde;
II. Fall um eine 47jährige Frau mit Herzklappenfehler
und Kropf. Notzucht während der Eisenbahnfabrt am hellen
lichten Tage durch den Kondukteur;
III. Fall um eine 59jährige schwächliche Frau;
IV. Fall um eine 90 (!) jährige Greisin, die ein 24jähriger
schwachsinniger Knecht mißbrauchte, der beim Anblick des
Opfers zum erstenmal Erektion empfand und später äußerte:
eine Alte und eine Junge haben die gleiche F.. .e!
k. Anderweitige Sexualdelikte.
8 mal Vornahme unzüchtiger Handlungen (l mal mit eigens
eingeöltem Finger!)
1 „ Exhibitionismus
1 „ Urinlassen in ein Gefäß
2 „ Cunnilingus
2 „ Coitus per os
1 „ Coitus per vaginam, per os und per anum. (Schwach¬
sinniger manischer Vater an seiner eigenen 14jährigen
Tochter vor allen übrigen Kindern)
1 „ Unzucht mit Tieren.
l. Nähere Umstände bei der Tat.
Meist entlegene, einsame Orte, öffentl. Gärten, Privatwohnungen
3 mal Drohung mit dem Messer
2 „ Überfall während des Schlafes
1 „ Betäubung durch Alkohol (der eigene Vater bei seiner
16jährigen Tochter!)
1 v Mißbrauch des wehrlosen Zustandes (Arzt!)
8. Kasuistische Beiträge zum Kapitel der Sexualdelikte.
II.
Ein weiterer Fall von Schürzenfetischismus mit perversen
KompUkationen.
Vor kurzem haben wir an dieser Stelle ‘) über einen forensischen
mit Psychose komplizierten Fall von Schürzenfetischismns berichtet,
1) Vgl. Kapitel V. dieser Arbeit, S. 203.
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik.
221
der in der Kostocker Psychiatrischen Klinik zur Beobachtung ge¬
kommen und von Walther 1 ) mitgeteilt worden war. Seit der Publi¬
kation Walthers hat nun vor kurzem Aronsohn 2 ) einen weiteren
Fall von Schürzenfetischismus beobachtet, der eine absolute Analogie
des ersten Falles darstellt. Bei der Seltenheit und forensischen Be¬
deutung dieser Fälle sei auch der Fall von Aronsohn hier kurz
berichtet.
Es handelt sich um einen 29jährigen Geschäftsdiener, einen
mittelgroßen, mäßig starken Mann, der in der Jugend viel an Kinder¬
krankheiten gelitten und als erwachsener Mann zweimal Lungen- und
Rippenfellentzündung durchgemacht hat. Der Kopf ist auffallend
klein und spitz zugehend. In der Schule kam er nicht gut fort und
blieb mehrmals sitzen. Intelligenz und Gedächtnis mäßig erhalten.
Abnorme Reizbarkeit Rededrang. Im übrigen bietet er alle Zeichen
der Neurasthenie dar: Zittern bei geschlossenen Augenlidern, Tremor
der Hände, Steigerung der mechanischen Muskelerregbarkeit und der
Kniesehnenreflexe, das Symptom des Nachrötens Die Untersuchung
der Geschlechtsorgane zeigt einen linksseitigen Krampfaderbruch,
sonst normales Verhalten. Beide Testes sind normal entwickelt, der
Penis eher sogar übernormal. Trotzdem hat X. in den 3 l /2 Jahr
ren seiner Ehe mit seiner Frau noch niemals einen Coitus
ausgetibt, auch nicht vor seiner Ehe. Für Frauen empfindet
er nichts, nicht einmal für solche in entblößtem Zustande, andererseits
spürt er auch keine homosexuelle Veranlagung. Dagegen wird er
aufs heftigste geschlechtlich erregt, wenn er Mädchen oder Frauen
mit großen, weißen steif-gestärkten Schürzen sieht, namentlich solchen,
welche nach hinten zu schließen sind und dem Gesäß knapp anliegen.
Dabei übt aber nicht die Trägerin der Schürze den Reiz auf ihn
aus — die Person ist ihm völlig gleichgültig —, sondern lediglich
die weiße, steif-gestärkte Schürze selbst, die er immer am liebsten an
sich reißen oder mit Händen streicheln möchte. Er verlegt diese
Leidenschaft bis in das 13. Lebensjahr zurück, wo er, wie er an¬
gibt, die Gewohnheit hatte, seine Schlafdecke dicht um den Leib zu
ziehen. Dabei hatte er die Vorstellung, es sei eine große weiße
Schürze, er selber ein Mädchen, und rieb nun das Glied so lange an
dem Leinen der Decke, bis Ejakulation und Orgasmus eintrat.
In der Pubertätszeit nahm die Leidenschaft an Intensität zu, so
daß sie ihn in der Ausübung seines damaligen Berufs — er war
1) Waith er, Fetischismus und Psychose. Inaugural-Dissertation Rostock 1905.
2) Aronsohn, Ein seltener Fall von perverser Sexualbetätigung, Deutsche
med. Wochenschrift, 1909 Nr. 4 S. 144.
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IX. Kürt Boas
Tapeziererlehrling — behinderte. Wenn er junge 9—13jährige Mäd¬
chen sah, ging er in den Arbeitskeller, nahm einen Matratzenbezug,
der nicht steif war, um die Hüfte und bildete sich ein, ein Mädchen
zu sein und eine Schürze zu tragen. Dann legte er sich über die Ecke
einer Eiste, drückte das Gesäß stark durch, rieb mit beiden Händen
die vermeintliche Schürze und drückte solange gegen die harte Ecke,
bis Ejakulation und Orgasmus eintrat.
Später kaufte er sich selten große weiße Schürzen, ließ sie ganz
steif plätten und band sie häufig um, wenn er allein war, und
schlief nachts mit denselben in seinem Bette, nur um sieh als Mäd¬
chen zu fühlen und geschlechtliche Erregungen hervorzurufen.
Schon im 16. Lebensjahre verbanden sich diese Vorstellungen
mit Folterungsideen. X. bildete sich nun nicht allein ein, ein
Mädchen zu sein, wenn er eine weiße Schürze hatte, sondern auch,
daß dieses Mädchen überfallen, vergewaltigt, gemartert wurde. Er
fühlte sich oder vielmehr das Mädchen, das seinen Vorstellungen zu¬
grunde lag, geknebelt, geprügelt oder gewürgt, empfand eine Unsumme
von grausamen Vorstellungen, eine immer gesteigerte geschlechtliche
Erregbarkeit (was auf eine Neurasthenie im allgemeinen und eine
Neurasthenia sexualis im speziellen) hindeutete, und hatte dabei üja-
kulation und Orgasmus.
Längere Zeit blieb es bei einer bloßen Vorstellung dieser
Folterungen, des Überfalls, der Vergewaltigung usw. Dann aber ging
X. dazu über, sich selber alle die Grausamkeiten zuzufügen, die bis
dahin nur in seiner Phantasie existiert hatten.
Diese Periode der zum Zwecke der Lusterregung vorgenommenen
Folterungen fällt zum großen Teile in die Zeit seiner Ehe, während
welcher ein einziger, allerdings völlig mißglückter Versuch des ehe¬
lichen Beischlafs gemacht wurde, in der Absicht, seiner Frau zu
Willen sein und sich auf bessere Bahnen zu bringen. Die Ehefrau, welche
infolge ihrer unglücklichen Ehe vor kurzem geistig erkrankte, wurde
nun noch mehr geschlechtlich abgestoßen und fürchtete polizeiliche
Konflikte, daX., wenn er bei seinen Geschäftsgängen durch-Mädchen
mit weißen Schürzen gestört wurde, sehr häufig, manchmal zwei- bis
dreimal täglich, auf die Bodentreppe irgend eines Hauses lief, sich
die Augen verband und unter der Vorstellung, er sei ein mißhandeltes
Mädchen mit weißer Schürze, an dem Treppengeländer masturbierte.
In den Folterungen während der Ehe tat X. weiße gestärkte
Schürzen seiner Frau, manchmal auch deren weiße Unterröcke an,
steckte sich einen Knebel in den Mund, damit er nicht schreien
konnte, und begann sich mit einem Stock zu prügeln oder am Halse
a.
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik.
223
mit aller Heftigkeit zu würgen. Einmal steckte er eine Lampe an,
ließ sie tüchtig blaken und atmete den Lampenblak aus geringer Ent¬
fernung ein. Ein anderes Mal setzte er sich auf die heiße Kocbmaschine
und zog sich Brandwunden zu. Dann wieder beschwerte er seinen
Hals mit einem schweren, mit Kohlen gefüllten Eimer, der tüchtig
drückte. Und endlich brachte er es fertig, ein schweres, scharfes
Schlächterbeil, mit der Schärfe nach unten, in eine Lücke eines
Kohlenstapels zu stecken, sich selbst mit verbundenen Augen auf eine
darunterstehende Kiste zu legen und den Nacken nicht unbeträchtlich
die Schärfe und Schwere des Beiles empfinden zu lassen. Dabei
hatte er eine unbeschreibliche Wollust und die Vorstellung, er sei ein
Mädchen und solle enthauptet werden.
Die von Aronsohn eingeleitete hypnotische Behandlung schlug
an der Weigerung des Pat. fehl, von seinen perversen Vorstellungen
abzulassen.
Analysiert man den in diesem Falle gewiß komplizierten Sexual¬
trieb, so kann man deutlich drei Komponenten unterscheiden nach
den drei Phasen, in denen sie sich bei X. herausgebildet haben.
Wir haben bereits früher 1 ) an der Hand einer Arbeit von Grub er 2 )
die außerordentliche Mannigfaltigkeit der Sexualbetätigung zeigen
können. Wir fanden damals folgendes Schema (zu Fall VI):
Onanie #
i
Coitus
I
Cunnilingus
I
Sadismus
I
Fetischismus
I
Exhibitionismus
I.
Masochismus
I
In dem Aronsohnschen Fall ist die Entwicklung folgender¬
maßen vor sich gegangen:
1) Dies Archiv Bd. XXXII. S. 176.
2) Grub er, Beitrag zur Kasuistik der sexuellen Perversionen. Inaugural-
Dissertation, Freiburg 1907, 33 Seiten.
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224
IX. Kurt Boas
Onanie
I
Fetischismus
I
Homosexualität
I
Exhibitionismus
I
Sadismus
Konnte man bei dem Falle von Gruber, den wir oben schema¬
tisch analysiert haben, den Gedanken haben, es handele sich um
einen anfangs normalen Menschen, der alle Arten des Sexualtriebes
ausgekostet habe — es fehlt in der Aufzählung keine einzige —, so
zeigt uns hier schon das Faktum, daß X. den Koitus nur ein einziges-
mal ausgeübt hat, eine sehr schwere, angeborene perverse Veranlagung.
Aronsohn faßt die Gescblechtsbetätigung als eine Masturbation
mit Beiwerk, d. h. mit fetischistischen, homosexuellen und sadisti¬
schen Vorstellungen auf, für welche Anschauung auch der Umstand
spricht, daß X. seine Vorstellungsversuche mehr nach dem Sadismus
zu erweitert, und das alles trotz guter Entwicklung seiner Sexualorgane.
Die auf den ersten Blick ins Auge springende Ähnlichkeit des
eben mitgeteilten Falles mit dem von Walther fordert zu einer
kurzen Gegenüberstellung und Vergleichung auf. Wir wollen in
folgendem die wichtigsten Punkte, die sich dabei ergeben, zusammen¬
stellen.
1. In beiden Fällen ließ sich keine hereditäre Belastung nach-
weisen, was jedoch bei der Mangelhaftigkeit der Anamnese das Gegen¬
teil nicht ausschließt.
2. Beide kamen in der Schule nur mittelmäßig fort. Zwar
machte der Kranke Walthers das Abiturium mit Ach und Krach,
fiel aber bei der ersten juristischen Prüfung zweimal durch.
3. Von der Kopfkonfiguration beider Fetischisten wird uns über¬
einstimmend berichtet, daß er klein sei, was Walt her als Degenerations¬
zeichen anspricht.
4. Der Aufnahmebefund zeigt mannigfache Ähnlichkeiten: bei
beiden Kranken die Kniephänomene gesteigert. Bei beiden besteht
leichter Tremor der ausgespreizten Hände. Dagegen fehlt bei dem Kran¬
ken Walthers die Steigerung der mechanischen Muskelerregbarkeit,
das Zittern in den geschlossenen Augenlidern und das Symptom des
Nachrötens, so daß die Untersucher zu wesentlich anderen Diagnosen
kommen.
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225
5. Der Genitalbefund bei beiden Kranken ist annähernd normal.
6. Beide Patienten haben weder in noch vor der Ehe den Coitus
ausgeführt.
7. Beide werden stets beim Anblick ihnen zusagender Schürzen
erregt und zwar besteht bei Aronsohns Pat. eine Vorliebe für
saubere, weiße, geplättete Schürzen, bei Walthers für abgetragene,
schmutzige.
8. Für beide ist die Trägerin der Schürze gleichgültig und nur
diese selbst das Objekt ihrer Leidenschaft.
9. Die Angaben über die Entstehung dieser Leidenschaft gehen
auseinander: der Kranke Walthers verlegt sie in die Kinderjahre,
der Kranke Aronsohns glaubt sie erst vom !3. Lebensjahre ab wabr-
genommen zu haben.
10. Beide werden in ihrem Berufe empfindlich gehindert, Wal¬
thers Kranker will, um seine Neigung besser kultivieren zu können,
ein Rittergut erwerben, Aronsohns Kranker wird beim Anblick eines
Mädchens mit ihm zusagender Schürze so erregt, daß er in den Keller
oder den Hausflur sich begibt und dort masturbiert.
11. Der Kranke Aronsohns masturbiert in die Schürze, der
Kranke Walters niemals.
12. Beide erwerben sich Schürzen käuflich. Der Kranke Aron¬
sohns bindet sie sich selber um, der Kranke Walthers läßt sie von
Frau und Kind tragen.
13. Der Kranke Aronsohns kommt sich als Mädchen vor, der
Walthers nicht.
14. Die Frauen leiden furchtbar unter dieser unglücklichen Ehe
Beide fügen sich schließlich den perversen Neigungen ihres Mannes
15. Beide geraten wiederholt in Konflikt mit der Polizei, der
Kranke Walthers als er ein Kind, dessen Schürze ihm gefallen hat»
für den Abend bestellt und so in den Verdacht eines Sittlichkeits¬
verbrechers gerät, der Kranke Aronsohns, indem er im Hausflur
onaniert.
Ein letztes Wort noch zu der forensischen Seite des Falles X.
Bis jetzt ist es X. gelungen, den Anzeigen der Polizei wegen
Erregung öffentlichen Ärgernisses, worunter das Masturbieren auf
offenem Hausflur unzweifelhaft fallen würde, zu entrinnen. Aber
angenommen, er werde doch einmal in flagranti ertappt werden? Wie
wäre der Fall dann zu begutachten? Die psychischen Alterationen
reichen, glaube ich, kaum aus, um ihm den Schutz des § 51 zuzu¬
billigen. Die somatischen Symptome sind sehr gering. Dagegen
wird man ihm unbedenklich mildernde Umstände zubilligen können.
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226
IX. Kort Boas
9. Kasuistische Beiträge zum Kapitel der Sexualdelikte.
III.
Eigenartige Fälle von Sadismus.
Über drei eigenartige Fälle von sadistischer Sexualbetätigung
berichtet Wach holz:
I. Ein 14jähriger schwachsinniger Hirtenknabe wirft ein 5jäh¬
riges Mädchen zu Boden, wollte es mißbrauchen, dann aber fügte er
ihm statt dessen eine 6 cm lange, die Haut der Bauchdecken über
der Symphyse durchtrennende Schnittwunde zu. Laut Eingeständnis
wollte er das Kind wie ein Mastschwein kastrieren. Nur das Hinzu¬
kommen der älteren Schwester vereitelte die Ausführung.
II. Ein 16jähr. Fabrikarbeiter begoß seinem 14jäbr. zur Mittags¬
zeit schlafenden Kollegen den Schamhügel mit roher Schwefelsäure.
III. Schankwirt, dem zwei junge Leute, während er auf der
Bank saß, Schwefelsäure unter das Gesäß laufen ließen.
An die sadistische homosexuelle Regung, die Wach holz in den
beiden letzten Fällen annimmt, glaube ich nicht recht, da es sich
sehr wohl um einfache Schikane ohne sadistisch gefärbten Hinter¬
grund bandeln kann! Zudem fehlt für Homosexualität jeder An¬
haltspunkt.
M
10. Uber einen Mord- und Suicidversuch in der Menstruation.
(Eine psychiatrisch-forensische Studie über den Menstruationsvorgang.)
Einleitung.
Die forensische Bedeutung der Menstruation ist bisher in der
Literatur recht stiefmütterlich behandelt worden. So geht z. B. Siemer-
ling 1 ) über die Menstruation kurz hinweg und begnügt sich, einen
ausgeprägten Fall von Paranoia hallucinatoria mitzuteilen, die sich stets
oder mit Vorliebe in der Periode einzustellen pflegte.
Es handelte sich um ein Dienstmädchen, das bezichtigt war, allerlei
Diebstähle und Unterschlagungen verübt zu haben Indem ich betreffs
aller Einzelheiten auf die Darstellung des Verfassers verweise, will ich
hier nur eine charakteristische Zeugenangabe anführen. Es beißt näm¬
lich, sie habe — wahrscheinlich während ihrer Periode — mehrere
Röcke irgendwie zusammengenäht und sie in die Koffer gepackt und
ferner einige Handwerksutensilien des Meisters, bei dem sie in Stellung
war, entwendet und sie ebenfalls nebst einigen alten Fruchtsäcken in
ihrem Koffer verpackt. Diese sinnlose Art des ganzen Vorgehens
1) Siemerling, Handbuch der gerichtlichen Medizin von Schmidtmann,
3. Aufl. Bd. 111 S. 148.
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik.
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deutet bereits darauf hin, daß wir es hier mit einer geistigen Anomalie
zu tun haben, wie auch, die sorgfältige Beobachtung in der Tübinger
psychiatrischen Klinik die Erkrankung: halluzinatorische Ver-
wirrung auf menstrueller Basis aufdeckte.
Noch ein anderer krimineller Fall ist uns aus der Literatur bekannt.
Leroy i) berichtet uns über ein schwer belastetes Mädchen mit sehr
profusen Menses in der Pubertät, die der mehrfachen Brandstiftung
bezichtigt war. Die psychiatrische Untersuchung ergab, daß unzweifel¬
haft die abundante Menstruation für die Straftaten verantwortlich zu
machen sei.
Bevor wir auf den weiter unten zu beschreibenden Fall eingehen,
wollen hier kurz einiges forensisch Wichtige über den Menstrua¬
tionsvorgang vorausschicken. Wir wissen, daß die Menstruation
im wesentlichen von einem Faktor abhängt, nämlich vom Klima.
Je südlicher wir Vorgehen, ein um so früheres Einsetzen der Menstrua¬
tion können wir bei der weiblichen Bevölkerung beobachten. Weiter¬
hin ist von medizinisch-forensischem Interesse die Tatsache, daß
Tokata 1 2 ) versucht hat, den Eintritt der Menstruation als von
der Jahreszeit und dem jeweiligen Gemütszustand abhängig anzu¬
nehmen. Diese Hypothese stützt Tokata auf ein Material von
277 Schülerinnen, die als Menstruationseintritt folgende Monate angaben.
Januar
36 = 12,99
Prozent
Juli
22 = 7,94
Prozent
Februar
18 = 6,5
77
August
23 — 8,3
77
März
29 = 10,47
77
September
22 = 7,94
77
April
39 = 14,08
»
Oktober
17 *■« 6,14
77
Mai
20 — 7,22
77
1 November
14 = 5,05
77
Juni
13 = 4, 7
77
Dezember
24 = 6,66
77
Überblickt man diese Tabelle, so gestaltet sich die Häufigkeit
der Menstruation nach den Monaten:
April
ca.
14
Prozent
September
ca.
8
Prozent
Januar
77
13
77
Mai
77
7
7?
März
r
11
77
Februar
11
7
77
Dezember
n
9
1
77
Oktober
77
6
17
August
77
8
71
November
»
5
77
Juni
77
8
77
Juni
77
5
77
Interessant sind die supponierten Momente, die Tokata für das
Eintreten der Menstruation annimmt.
1) Leroy, Pyromanie et pubertü. Examen medico-legale d’une incendifere.
Archives de Neurologie Vol. XVIII p. 499, 1904.
2) Tokata, Über den Einfluß des Gemütszustandes und der Jahreszeit auf
den Eintritt der Menstruation. Wiener med. Wochenschrift 1904 Nr. 1.
Archiv für Kriminalanthropologie. 35. Bd. 16
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228
IX. Kurt Boas
April: Angenehme Blumenzeit
Januar: Neujahrefeier trotz großer Kälte.
März: Angenehme Zeit Große Kälte überstanden. Kurz vor
der Blumenzeit
Dezember: Kurz vor der Neujahrefeier. Weihnachtsfeier trotz
großer Kälte.
Juli, August, September: Sehr warme Zeit Sommerferien.
Mai: Kurz vor verstimmender Regenzeit
Februar: Starke Kälte.
Oktober: Rauhe Zeit Schon zu kühl.
November: Rauhe Zeit Kälte zunehmend.
Juni: Verstimmende Regenzeit
Die Hypothese Tokatas ist gewiß sehr geistreich, vielleicht auch
für japanische Verhältnisse, wo die klimatischen Verhältnisse ja anders
liegen, zutreffend. Für europäische dagegen erscheint sie mir kaum
stichhaltig, so daß ich sagen muß: ich glaube nicht an einen Einfluß
der Saison auf den Menstruationseintritt.
I.
Seitdem man dem psychischen Verhalten der Wöchnerinnen in
graviditate und post partum eine erhöhte Aufmerksamkeit schenkt,
hat man sich ganz allgemein mit den Beziehungen der weiblichen Ge¬
schlechtsorgane und ihren physiologischen Funktionen mit psychischen
Störungen beschäftigt. So hat man z. B. von den mannigfachen Formen der
Chorea (z. B. Chorea magna, Chorea Huntington usw.) die Chorea gravi¬
darum scharf abgrenzt. Es handelt sich dabei um choreatische Zu¬
stände, die im 3. oder 4. Monat der Schwangerschaft auftreten und
mit beendigter Geburt sofort wieder aufhören, also eine im ganzen
günstige Prognose abgeben. Das auslösende Moment ist hier auf den
ersten Blick gegeben: die Besorgnis der primipara vor der schweren
Stunde, die Gedanken über die außereheliche Geburt, über das Schick¬
sal der Mutter und des Kindes. Zuweilen kann auch manisch-depres¬
sives Irresein vorliegen. Ich habe z. B. einen maniakalischen Anfall
einen primipara gesehen, der bald nach der Geburt auftrat. Dem
manischen Stadium war, wie es im Wesen der Krankheit begründet
ist, ein depressives Initialstadium vorangegangen. Nach kurzer
Zeit besserte sich unter psychiatrischer Behandlung der Zustand ganz
erheblich. Trotzdem mußte die Patientin aus der Anstalt mit einer
ungünstigen Prognose entlassen werden, da jeden Augenblick ein
Rückfall in den krankhaften Zustand befürchtet werden muß mit Aus¬
gang in zirkuläres Irresein. Die Erkenntnis des inneren Zusammen-
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik.
229
hanges eines im Leben des Weibes so bedeutungsvollen Ereignisses
wie es die Geburt ist, mit psychischen Störungen hat dazu geführt,
die Frage aufzuwerfen: Kann auch die Menstruation der Anlaß zu
psychischen Störungen werden?
Eine der letzten Arbeiten, die sich mit dieser Frage beschäftigt,
die von Weinberg 1 ), erweitert die Fragestellung dahin, daß sie die
Menstruation in ursächlichen Zusammenhang bringt mit gewissen Gat¬
tungen von Verbrechen, z. B. mit Warenhausdiebstählen, worauf auch
Laquer 2 ) aufmerksam macht. Es ist ja eine bekannte, auch von
Dost 3 ) angeführte Tatsache, daß gewisse Verbrechen von Trägern
bestimmter Geisteserkrankungen ausgeführt zu werden pflegen.
Im folgenden soll nun ein Fall von Suicidium menstruale ge¬
schildert werden.
13jährige Patientin. Eltern normal. Lues und Potus negiert
Heredität Ein Bruder des Vaters potator maxime strenuus, des¬
gleichen der Urgroßvater des Kindes. Kein Selbstmord in der Familie.
Anamnese. Die Mutter gibt an, daß das Kind, die Älteste, von jeher
still und in sich gekehrt gewesen sei. In der Schule habe sie stets
gut gelernt und einen der ersten Plätze in der Klasse eingenommen.
Freundinnen habe sie nicht. Sie habe drei jüngere Geschwister, eine
Schwester und zwei Brüder. Auf Befragen, ob sie an ihnen keinen
Gefallen finde, schweigt die Pat., gibt nur an, sie spiele nicht mit
ihren Geschwistern.
Jetziges Leiden. Die Pat wird wegen Suizidversuches ein¬
geliefert. Der Vorgang wird folgendermaßen geschildert Die Mutter
war ausgegangen, die Patientin mit ihrer jüngeren Schwester allein
zu Hause. Plötzlich sei sie so traurig geworden, sie habe sich gesagt,
das Leben biete ihr nichts. Sie habe den Gashahn aufgedreht und
sei in einen schweren bewußtlosen Zustand verfallen. Das Schwester¬
chen befand sich in demselben Baume und wurde wie die Patientin
selbst — nur wie durch ein Wunder ins Leben zurückgerufen. Die
Mutter fand die Tür abgeriegelt und als sie endlich in die Küche
trat, bot sich ihr dieses Bild dar.
Die Patientin wird in die psychiatrische Klinik zu X. gebracht
und dort einer eingehenden Untersuchung unterzogen. Intelligenz
durchaus normal. Pat. macht einen geweckten verständigen Eindruck.
1) Juristisch-Psychiatrische Grenzfragen 1908.
2) Zwanglose Abhandlungen aus dem Gebiete der Nerven- und Geistes¬
krankheiten 1908.
3) Kurzer Abriß der Psychologie, Psyohistrie u. gerichtlichen Psychiatrie,
Leipzig 1908.
16 *
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230
IX. Kubt Boas
Sehnenreflexe normal. Körperlicher Befund negativ. Volles Bewußt¬
sein der Tat, so daß sich etwa ein epileptischer Dämmerzustand aus-
scbloß. Die Befragung der Pat. ergibt folgendes: Sie fühlt sich un¬
glücklich zu Hause. Mit ihrer Mutter verträgt sie sich vortrefflich,
dagegen versteht sie sich mit ihrem Vater durchaus nicht Der Vater
— meint sie — sei so streng zu ihr und ziehe die Jungen vor. Die
Mutter gibt auf Befragen an, daß der Vater — Schlossermeister von
Beruf — allerdings sehr streng gegen seine Kinder sei, daß aber
von Bevorzugung der Söhne keine Rede seine könne. Auf Vorhalt
bleibt Pat dabei. Folgendes auslösende Moment kam hinzu: als sie
eines Tages einen Streit der Eltern mit anhörte, äußerte sie als elf¬
jähriges (!) Mädchen, das könne sie nicht mehr länger mit ansehen, sie
müsse sich das Leben nehmen. Weiter wird von zwei Suizidversuchen
berichtet, die schon ein Jahr bezw. einige Monate zurückliegen. Im
Anschluß an den eben erzählten Vorgang zerriß Pat in höchster Auf¬
regung die Schulbücher, warf sie ins Feuer und ließ den Rauch ins
Zimmer dringen, indem sie die Ofenklappe offen ließ. Die Folge war
eine schwere Rauchvergiftung, die bei ihr vielleicht eine gewisse Nerven¬
schwäche hervorgerufen hat Snoy 1 ) hat vor kurzem über eine
Reihe von Feuerwehrleuten berichtet, bei denen sich im Anschluß an
Rauchvergiftungserscheinungen Nervenschwäche eingestellt hatte. Pat.
wurde noch lebend, aber in bewußtlosem Zustande ins Krankenhaus
gebracht und war in kurzem von den schweren Vergiftungserschei¬
nungen wieder genesen. Einige Monate darauf erfolgte der zweite
Suizid versuch. Über den Hergang gibt die Pat. selbst im wesent¬
lichen mit den Angaben ihrer Mutter übereinstimmend folgendes an:
Wegen einer kleinen Unart gab ihr die Mutter — wie sie meint, völlig
zu Unrecht — eine Ohrfeige, die ihr Ehrgefühl so verletzte, daß sie
sich in selbstmörderischer Absicht über das Geländer schwang und
nur mit äußerster Mühe von der Mutter zurückgehalten werden konnte.
Man könnte besonders im Hinblick auf eine neuere Arbeit von
Eulenburg 2 ) in der Tat an überspanntes Ehrgefühl denken, das
gar nicht so selten die Ursache zu Selbstmorden jugendlicher Indivi¬
duen abgibt. Aber wie aus dem Bericht über den dritten Suizid¬
versuch hervorgeht, liegt die Sache hier doch vermutlich anders.
Schon die ernsthafte Weise, besonders die durchaus seriösen Vorbe¬
reitungen zeigen, daß wir es hier nicht mit einer phantastischen, von
falschem Ehrgefühl geleiteten hysterischen Selbstmörderin zu tun haben.
1) Inaugural-Dissertation Berlin 1907.
2) Zeitschrift für pädagogische Pathologie und Ps} r chologie 1908.
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231
Gewiß, man muß zugeben, daß die Pat. oft überwertige Ideen äußerte
(s. oben). Aber ausschlaggebend war doch, daß die Pat.
an jenem Tage die Periode hatte. Wir wissen, daß der starke
Blutverlust, der mit manchmal unerträglichen Schmerzen einhergeht,
auch bei normalen Frauen Verstimmungszustände von den leichtesten
bis zu den schwersten Formen hervorruft, worauf noch jüngst Pilcz')
besonders aufmerksam gemacht hat. Ich gebe weiter zu bedenken,
daß bei der Pat. die Menstruation mit 11 Jahren, also relativ früh
auftrat — sie kann nebenher bemerkt, wie aus einem von Stölzner 1 2 )
publizierten Fall hervorgeht, vereinzelt sogar im frühesten Kindesalter
auftreten — und daß in dasselbe Jahr der erste Suizidversuch fällt.
In Italien, überhaupt in den südlichen Ländern, tritt physiologischer¬
weise die Menstruation gemeinhin viel früher ein, wie bei uns, wie
neuere Untersuchungen von Rossi-Doria 3 ) lehren.
Ob auch die beiden früheren Selbstmordversuche der Patientin
mit der Periode zusammen fielen, kann sich die Patientin nicht mehr
entsinnen. Wenn man sie nach dem Ursprung ihrer pessimistischen
Anschauungsweisen fragt, leugnet sie, eine Freundin mit ähnlichen
Ansichten zu haben. Sie gewänne dem Leben keine angenehmen
Seiten ab. Für das Tanzen, das Mädchen ihres Alters Vergnügen be¬
reitet, hat sie nichts übrig.
Die Therapie muß sich darauf beschränken, die Patientin in
andere, bessere Lage zu bringen. Das Elternhaus muß sie verlassen
und Aufenthalt bei ihren Verwandten auf dem Lande nehmen. Sonst
läßt sich — außer gegen die gleichzeitig auftretende Anämie — thera¬
peutisch nichts machen.
Ein letztes Wort über die Prognose. Sie ist in diesem Fall
außerordentlich ungünstig. Man kann gewiß versuchen, die Patientin
von ihren melancholisch-pessimistischen Ideen abzubringen, aber auf
die Dauer dürfte der suggestive Einfluß kaum Erfolg haben. Es ist
vielmehr mit Sicherheit anzunehmen, daß die Patientin bei der ersten
sich darbietenden Gelegenheit wiederum bei einem Anfall von Schwer¬
mut in mensibus einen Selbstmordversuch unternehmen wird und selbst
wenn es unter den günstigsten Bedingungen gelingen sollte, die Patientin
dem Leben zu erhalten, so ist doch mit Sicherheit anzunehmen, daß
ihre Suizidversuche endlich einmal mit Erfolg gekrönt sein werden.
Suicidio subibit.
1) Grenzfragen des Nerven- nnd Geistesleben 1909.
2) Medizinische Klinik, 1908 Nr. 1
3) Archiv für Gynäkologie, 1908 Bd. 86 H. 2.
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232
IX. Kubt Boas
II.
Im Anschluß an diesen bemerkenswerten Fall habe ich die ein¬
schlägige Literatur einer Durchsicht unterzogen und meine Nachfor¬
schungen auch allgemein auf das psychische Verhalten der Frauen
in der Menstruation ausgedehnt.
Wohl einen der ersten Beiträge zu dieser Frage hat der bekannte
Psychiater Schüle 1 ) geliefert in seinem Vortrage über den Einfluß
der sog. „Menstrualwelle“ auf den Verlauf psychischer Hirnaffektionen.
Er berichtete über Fälle von zirkulärem und periodischem Irresein,
die durch gewisse Cäsuren in der intramenstruellen Zeit beeinflußt
erscheinen, und teilte diesbezüglichen Kurven und Krankengeschich¬
ten mit.
Hierhin gehören auch die Untersuchungen von To bl er 2 ) über
den Einfluß der Menstruation auf den Gesamtorganismus. Bei 1200
Frauen hat Verfasserin die Menstruationsverhältnisse nachgeprüft und
fand: Die Menstruationsperiode bedeutet bei unserer heutigen Frauen¬
welt in den allermeisten Fällen (etwa 77 Proz.) eine Zeit verminderten
Wohlbefindens und herabgesetzter Leistungsfähigkeit. Dies Verhalten
ist aber weder als das ursprüngliche noch als das notwendige zu be¬
trachten. Es ist die Folge einer Degeneration im Sinne einerseits
einer verschlechterten Konstitution, andrerseits einer unrichtigen Lebens¬
weise. Eine geringe Zahl (etwa 16 Proz.) hat niemals an Beschwerden
gelitten, und bei einer auch nicht zu vernachlässigenden Zahl (etwa
7 Proz.) wird die Menstruationszeit sogar objektiv als eine Periode
erhöhter vitaler Energie empfunden.
Einen ausführlichen Beitrag zu unserer Frage lieferte Wollen¬
berg 3 ), dessen Vortrag ich hier nach einem Referat von Jaffa wieder¬
gebe. Wollenberg führte etwa folgendes aus. Die Menstruation
ist nur das äußere Zeichen der Loslösung des Eies. Diese beginnt in
Deutschland etwa im Beginne des 15. Lebensjahres. Die Dauer jeder
Blutung dauert etwa vier Tage. Die Menstruation ist kein lokaler,
sondern ein den ganzen Körper mitnehmender Vorgang. Das Leben
des Weibes verläuft in Stadien, deren jedes die Dauer der Zeit von
einer bis zur anderen Menstruation entspricht In jedem Stadium
findet eine Wellenbewegung im Leben des Weibes statt Man hat
einen Rhythmus der menstruellen Vorgänge auch beim Manne finden
wollen, bisher ist hierfür aber noch kein Beweis erbracht In allen
Lebensäußerungen des Weibes kommt ein Moment der Instabilität
1) Deutsche med. Wochenschrift, 1890 Nr. 46.
2) Monatsschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie, 1905 Bd. XXII.
3) Berliner klinische Wochenschrift 1904 Nr. 23.
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik.
233
dureh die Menstruation. Es gibt Rassen, die durch die MenstruaV
vorgänge weder in ihrem körperlichen noch in ihrem geistigen Ver¬
mögen beeinträchtigt werden. Das sind aber Ausnahmen. Im all¬
gemeinen sind in der prämenstruellen und in den ersten Tagen der
intramenstruellen Zeit verschiedene Reizzustände vorhanden. Vielfach
kommt es auch zu Psychosezuständen. Die psychischen Störungen,
die mit Menstrualbewegungen auftreten sind: 1. Zirkulations¬
psychosen: Sie verschwindet nach höchstens 14tägiger Dauer. Es ist
eine periodische Psychose, bei der außerordentlich häufig völliger
Ausgleich wieder eintritt. 2. Menstruelle Entwicklungspsy¬
chosen: Auch hier handelt es sich um periodische Anfälle geistiger
Störung, die bei noch nicht oder nicht regelmäßig menstruierenden
Mädchen auftreten.
In forensischer Hinsicht sind wichtig die leichteren psychischen
Menstrualstörungen, die verhältnismäßig oft nicht zur Kenntnis des
Arztes und des Richters kommen. Aus den Selbstmordstatistiken ergibt
sich, daß in der Zeit der Pubertät die Zahl der weiblichen Selbstmorde
erheblich größer ist als die der männlichen, während sonst das Umge¬
kehrte der Fall ist Die Formen der Hysterie und Epilepsie treten in
dieser Zeit stärker hervor. Es kann also zur Zeit der Menstruation
ein unter dem Schutz des § 51 des Strafgesetzbuches stehender Zu¬
stand bestehen. Bei Affektvergehen, die in die Zeit der Menstruation
fallen, wirken oft krankhafte Störungen mit Auch auf die Aussage
weiblicher Zeuginnen wirkt die Menstruation erheblich ein.
W. wandte sich an den Vertrauensarzt einer Telephonzentrale
einer großen Stadt Von den 500 Damen der Zentrale meldeten sich
täglich 2—3 unpäßlich, die in der Tat menstruierten. Nunmehr machte
er an den 26 weiblichen Personen der Tübinger Klinik Versuche und
Beobachtungen. Bei diesen Angestellten, die als robust angesehen
werden können, waren insbesondere in der prämenstruellen Zeit ner¬
vöse Störungen zu bemerken. In der intramenstruellen Zeit war nur
noch Müdigkeit vorhanden. Puls- und Blutuntersuchungen ergaben
keine wesentliche Verschiedenheiten der intra-und extramenstruellen Zeit
Eine relativ geringe Alkoholgabe beeinflußte die Personen erheblich
mehr als die bei den ersten beiden Tagen der Menstruation. Ein Bild
einer Bauernstube wurde den Menstruationspersonen am zweiten Tage
eine Minute lang vorgelegt, dann der Bericht eingefordert und ein
Verhör angestellt Nach 8 Tagen und weiteren acht Tagen wurde
wiederum ein Bericht eingefordert und ein Verhör angestellt. Ein
Bild einer städtischen Wohnstube wurde in der extramenstruellen Zeit
gezeigt und ebenfalls Berichte eingefordert und Verhöre angestellt
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IX. Kurt Boas
Der Menstruationsvorgang wirkte nicht in gesetzesmäßiger Weise auf
die Wiedergabe des Gesehenen ein.
Der Menstruationsvorgang geht also oft mit psychischen Verände¬
rungen Hand in Hand. Es gibt auch weibliche Personen, bei denen
solche Veränderungen nicht erkennbar zu konstatieren sind.
Wir haben uns vor einer Überschätzung des Menstruationsvor¬
ganges zu hüten. Gröbere und gesetzmäßige Abweichungen bestehen
bei der Wiedergabe von Wahrnehmungen in der intra- und extra-
menstruellen Zeit nicht. Gleichgültig ist allerdings der Menstrualvor-
gang nicht, da die Steigerung von Affektzuständen während der Men¬
struation nicht zu unterschätzen ist.
Neuerdings betont Marx 1 ) die Bedeutung der Menstruation für
die forensische Psychiatrie. Nach einem Referat von Bruck 2 ) führt
er etwa folgendes aus: Menstruation und Schwangerschaft vermögen,
eine tiefgehende Wirkung auf die Seelentätigkeit auch des normalen
Weibes auszuüben. Der Gerichtsarzt soll daher in jedem Falle auf
diese kritischen Zeiten der Frau achten. Deutliche Psychosen werden
nicht so leicht verkannt werden, aber gerade die durch jene sexuellen
Phasen begründeten seelischen Abnormitäten, die unter die Grenzzu¬
stände zu rangieren sind, könnten übersehen werden. Auch das nor¬
male Weib kann zur Zeit der Menstruation in einen Zustand
einer „transitorischen geistigen Minderwertigkeit“ geraten. Es besteht
dann eine Neigung zur gemütlichen Erregbarkeit und damit natürlich
ein Zurücktreten der verstandesmäßigen Hemmungen, eine Zunahme
der Impulsivität. Ganz besonders beachtenswert ist hierbei die men¬
struierende Frau als Zeugin vor Gericht. Die gesteigerte Gefühls¬
tätigkeit zur Zeit der Menses kann sehr wohl die Beobachtungstreue
und damit die objektive Richtigkeit einer Zeugenaussage beeinträch¬
tigen. Bei einer nicht geringen Zahl weiblicher Selbstmorde findet
man bei der Obduktion den Status menstrualis. Man muß daher
bei der psychologischen Bewertung des Selbstmordes eben jener intra
menses erhöhten Agressivität des Weibes gegen sich selbst Rechnung
tragen. Aber auch bei Frauen, die man aus Anlaß einer Straftat
auf ihren Geisteszustand zu untersuchen hat, kann man häufig ge¬
nug ein Zusammentreffen von Tat und einer Menstruationsphase fest¬
stellen. Diese Nachforschung ist ganz besonders notwendig, wenn
strafbare Triebhandlungen bei jbisher unbescholtenen Frauen zur
Beurteilung stehen. Auch im Klimakterium finden sich gestei-
1) Berliner klinische Wochenschrift, 1908 Nr. 39.
2) Medizinische Klinik, 1909 Nr. 6.
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gerte Gefühlserregharkeit und gesteigerte Triebhaftigkeit bei vermin¬
dertem Überlegungsvermögen. Im allgemeinen wird man das Klimak¬
terium, insbesondere sein Anfangsstadium forensisch analog der Men¬
struationszeit zu bewerten haben.
Hegar 1 2 ) schildert nach theoretisch-kritischen Erörterungen eine
Reihe von Fällen, in denen meist das Krankheitsbild eine Anzahl
Schwankungen zeigt, die in der Länge einer Menstrualperiode ent¬
sprechen, innerhalb derselben sind gewöhnlich zwei Stadien zu unter¬
scheiden, in deren zweitem die Krankheitserscheinungen exazerbieren,
um mit Eintritt der Menses jäh nach zulassen. Durch Hinweis auf
Fälle von nicht menstruierenden Geisteskranken, die ähnliche Schwan¬
kungen zeigen, kam er zu der Ansicht, daß es sich um biologische
Erscheinungen beim Weib handelt, denen gegenüber die Ovartätigkeit
nur eine Teilerscheinung bedeutet.
CimbaP) erörtert die Beziehungen zwischen Menstruation und
Geistesstörungen, die ich nach einem Referate wiedergebe, an der Hand
von sieben Krankenvorstellungen und Berichten über sechs weitere ein¬
schlägige Fälle aus dem Material der psychiatrischen Abteilung. Vor¬
wiegend sind es Psychosen der Dementia praecox-Gruppe und Hysterie,
etwas seltener Epilepsie, ein Fall von manisch-depressivem Irresein.
Zwei Verlaufsarten: t. Fälle von Epilepsie und Hysterie, bei denen
die einzelnen Anfälle sich eng an die menstruelle Zeit anschließen.
(Bericht über eine Epileptikerin, die ausschließlich an Krampfanfällen
und Dämmerzuständen litte, während der Menses nach einer zwei¬
tägigen Anfallsserie von 78 Anfällen starb; Demonstration eines ähn¬
lichen (kriminellen) Falles (Ladendiebin). 2. Andererseits Fälle von
Dementia praecox meist reine Kahl bäum sehe Katatonien, die akut
während einer oft atypisch verlaufenden Menstruation einsetzen. In
diesen Fällen fast ausnahmslos im ersten Beginn starke vaso¬
motorische Störungen. Plötzliches Sistieren der Menses, Dermographie,
starkes Speicheln, plötzlich eintretende isolierte Rötung der Brust, Ge¬
sicht und Hände. Außerdem kurze Ohnmächten und hysterische
Krampfanfälle, Pupillendifferenz, erhöhte Sehnenreflexe, kurze soma¬
tisch anscheinend nicht begründete Temperatursteigerungen. Ein ähn¬
lich verlaufener Fall im Puerperium begann ganz akut, während des
Laktationsgeschäftes mit plötzlichem Sistieren der Milch, Herzklopfen
und einer kurzen Ohnmacht. Im weiteren Verlauf stets rasche Aus¬
bildung des katatonischen Symptomenkomplexes. Bei der Prüfung des
1) Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie, 1901 Bd. LVIII.
2) Münchener med. Wochenschrift, 1905 Nr. 28.
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IX. Kurt Boas
Blutdrucks mit dem Riva-Rocci bisher keine ganz eindeutigen Ergeb¬
nisse, bei dem geschilderten Frübstadium des Katatonien mehrfach er¬
hebliche Steigerungen des Radialisblutdrucks. — Schließlich Bericht
über das von v. Krafft-Ebing und Siemer 1 ing aufgestellte Krank¬
heitsbild einer eigentlichen Menstrualpsychose und Besprechung der
Stellung dieser Krankheitsbilder zu den bekannten Psychosen. Im
Anschluß daran Demonstration eines früher nicht psychotischen Mäd¬
chens, das nach zwei rein menstruell eingetretenen mit Illusionen,
Sinnestäuschungen, Verwirrtheit, Erinnerungsdefekten einhergehenden
Störungen bisher anscheinend völlig genesen ist. Bei der Flüchtigkeit
der geschilderten Erscheinungen besonders der vasomotorischen Stö¬
rungen ist die Sonderstellung einer psychiatrischen Krankenbausab¬
teilung gegenüber den eigentlichen Anstalten für die Beobachtung
äußerst günstigt, weil dieselbe dadurch meist sehr früh, wenige Stunden
nach dem akuten Beginn möglich war.
Mendel 1 ) teilt eine Beobachtng von v. Krafft-Ebing 2 ) mit,
nach dem unter 60 Psychosen im Klimakterium (36 primäre Paranvia,
12 Dementia paralytica) nur vier auf Melancholie kommen. An an¬
derer Stelle gibt Mendel 3 ) folgendes an: Besonders häufig treten sie
(sc. hysterische Psychosen) beim weiblichen Geschlecht in der Puber¬
tätszeit auf und schließen sich in der späteren Zeit oft an den Eintritt
der Menstruation an. Die größte Zahl der Fälle von prämenstrualem
und postmenstrualem Irresein gehören in das Gebiet der hysterischen
Psychosen (ein Teil in das der epileptischen, ein dritter Teil in das
der periodischen Psychosen).
S a 1 er n i 4 ) beschäftigt sich gleichfalls mit den Beziehungen zwischen
Menstruationsfunktion und Geisteskrankheiten. Diese Beziehungen
können betrachtet werden unter zwei Gesichtspunkten. 1. Welchen
Einfluß haben die Menses, sei es die normalen oder abnormen auf Ein¬
treten und Verlauf von Geisteskrankheiten? 2. Welche Menstrua¬
tionsveränderungen trifft man bei den verschiedenen Formen von
Geisteskrankheiten an? — Ad 1 darf man behaupten, daß Beziehungen
zwischen Menstruation und Psychopathien ungemein viel seltener sind
als man früher annahm und wenn eine solche nachweisbar erscheint,
so sind zugleich auch immer andere ursächliche Momente, so Prä¬
disposition, Erschöpfung, Infektion vorhanden und niemals nimmt
die Menstruationsanomalie die erste Stelle ein. Dagegen haben die
1) Handbuch der praktischen Medizin, 1901 Bd. V S. 82.
2) Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie, Bd. XXXIV S. 412.
3) Handbuch der praktischen Medizin, 1901 Bd. V S. 148.
4) II Policlinico, Mai 1906.
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Menses oft einen deutlichen Einfluß auf den Verlauf einer Geistea¬
krankheit durch verschiedene Symptome, welche sie als nervöse und
psychische Reaktion herbeiführen. — Ad 2 beobachtet man, daß für
gewöhnlich das Eintreten der Menstruation während der Geisteskrank¬
heiten unregelmäßig ist. Diese Unregelmäßigkeiten sind aber für ge¬
wöhnlich koinzident und haben keinerlei ursächliche Wirkung, abge¬
sehen von den spezifischen menstruellen Psychosen.
Betrachtet mau die Formen der Geisteskrankheiten im einzelnen,
so ist bei den periodischen Formen die Beziehung zur Menstruation
sehr deutlich.
Wollenberg 1 ) teilt folgende Fälle mit: I. Ein 25jähriges
Mädchen, dessen Vater ein liederlicher, verschwenderischer, zuchtloser
Mensch war, das früher selbst gesund gewesen war, erkrankte unter
mißlichen Umständen mit maniakalischen Erscheinungen. Während
der Beobachtung ergab sich, daß lebhafte Erregung mit verhältnis¬
mäßiger Ruhe bezw. trauriger Verstimmung abwechselte und daß die
Erregung eine gewisse Beziehung zur Menstruation erkennen ließ,
derart, daß die lebhafte Erregung vor der Menstruation vorhanden
war, die letztere eintrat, während die Erregung abklang. Die Be¬
handlung durch große Gaben von Brom schien einen günstigen
Einfluß zu haben. — Verf. meint, man könne diesen Fall als „men-
struales Irresein“ bezeichnen.
II. Eine 38jährige Frau, die seit Kindheit an nervösen Störungen,
später an zweifelloser Hysterie (Anfälle, Einschränkung des Gesichts¬
feldes) litt, zeigte zeitweise eine geistige Störung: Unruhe, Angst,
Neigung zum Herumtreiben und Trinken. Es stellte sich heraus,
daß diese krankhaften Anfälle besonders vor der Menstruation eintraten.
Auch hier spricht Verf. von „menstrualem Irresein“.
Schönthal 2 ) beobachtete folgende Fälle: I. Periodische men-
struale Psychose bei einem 15 jährigen Mädchen rasch vorübergehende
psychische Störungen (Dauer 8—10 Tage), plötzlich beginnend und
plötzlich endigend; es bestanden Bewußtseinstrübung, Halluzinationen,
Stimmungsanomalien, Bewegungsdrang, hysteriforme Konvulsionen;
nach dem Ablauf des Anfalls Amnesie, intravallär, besondere Nei¬
gungen zu Kongestionen, Hyperästhesie, sexuelle Erregbarkeit. Trotz¬
dem bringt Schönthal den Fall in Analogie mit der periodischen
menstrualen Psychose (v. Krafft-Ebing) wegen der prägnanten
Übereinstimmung des Krankheitsbildes, ferner wegen der Wiederkehr
1) Charite-Annalen, 1891 Bd. XVI p. 427.
2) Archiv f. Psychiatrie, Bd. XXIII p. 799.
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IX. Kürt Boas
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der Anfälle in etwa 4 wöchentlichen Zeiträumen und wegen des Auf¬
tretens der Psychose in einem Alter, in dem der Eintritt der Menses
zu erwarten war, im Zusammenhalt mit dem Umstande, daß nach
v. Krafft-Ebings Beobachtung auch bei Ausbleiben menstrualer
Blutung zur Zeit der periodisch wiederkehrenden Ovulation der Anfall
sich einstellen kann; ferner spricht für die Auffassung die Tatsache,
daß auch nach eingetretener Genesung, als später die Menses sich
einstellten, sie jeweils mit für diese Fälle charakteristischen psychi¬
schen Störungen einhergingen, die geringfügig waren, aber in ihrer
Art eine abortive Form der früher bestandenen menstrualen Psychose
vorstellten. — Eine ganz analoge Beobachtung stellt der Fall II dar,
der ein 15jähriges, ebenfalls erblich belastetes Mädchen betraf. In
beiden Fällen zeigte sich in übereinstimmenderWeise ein bemerkens¬
wertes Verhalten des Körpergewichtes, welches in 2 Kurven wieder¬
gegeben ist: schnelles beträchtliches Sinken jeweils mit eintretendem
Anfall, sodann langsamer Anstieg, zuletzt einhergehend mit der zu¬
nehmenden Genesung ein konstantes Zunehmen des Körpergewichtes.
In beiden Fällen erfolgte der Ausgang in Genesung. — Auch in
Fall III schien ein ähnlicher ätiologischer Zusammenhang der Psy¬
chose mit dem Eintritt der Pubertät bei dem 14'/2jährigen, erblich
belasteten Mädchen zu bestehen, jedoch war eine präzise Angabe der
Psychose, die hier vorhanden war, nicht möglich, da die Kranke be¬
reits genesen in die Klinik kam und hier kein Anfall beobachtet
wurde. Der außerhalb der Klinik verlaufene Anfall ähnelte etwas
den in den beiden vorigen Beobachtungen beschriebenen Anfällen.
Moses ’) berichtet über 42 Fällen von Geistesstörungen im Kindes¬
alter (25 Knaben, 19 Mädchen). Von den 19 Mädchen erkrankten
11 gegen das Ende des Kindesalters, beim Herannaben der Pubertät^
was gleichfalls den Schluß sehr nahe legt, daß hier die Menstruation
ihre Hand im Spiele habe.
Friedmann 1 2 ) berichtet über ein löjähriges, hereditär belastetes
Mädchen, seit dem 10 Jahre Enuresis nocturna. Im 14. Jahre wäh¬
rend anstrengender Pflege der Schwester plötzlich aufgeregt und ver¬
wirrt, wurde sie in einer Anstalt nach 3 Wochen wieder hergestellt.
Nach 2 Monaten neue Erregung von 4wöchiger Dauer, dann Depres¬
sion am Schlüsse der Erregung unter Eintritt der Menses. Von da
blieb Pat. reizbar, nicht ganz normal. Im April 1891 sah Fried¬
mann die Kranke; sie war 6 Wochen vorher erregt geworden; sie
1) Inaugural-Dissertation, Straßburg 1892.
2) Münchener med. Wochenschrift, 1892 Nr. 21—25.
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zeigte kindlichen Habitus, war äußerlich geordnet, ängstlich, weiner¬
lich, klagend, konnte einfache Fragen nur mit Mühe beantworten,
einfache Arbeiten nicht leisten. Allmähliche Besserung; nach 2 Mo¬
naten freundlich, mitteilsam, tätig, zum Verkehr geneigt; nur noch
leich,t reizbar. Enuresis bestand noch. Ein Rückfall der Psychose
trat seit Juni 1891 nicht ein. Friedman n faßt den Fall als Melan-
cholia passiva auf. Später kam Friedmann 1 ) noch einmal auf das
Thema zurück und kommt auf Grund der von Schönthal 2 ) ver¬
öffentlichten und zweier eigenen Falle zu folgenden Schlußfolgerungen.
Es gibt eine Form periodischer Geistesstörung, die im Beginn der
Pubertät eintritt, mit Störungen der Menstruation zusammenhängt und
mit deren Regelung endet. Sie ist von der gewöhnlichen Menstrual-
psychose zu trennen und am besten als menstruale Entwicklungs¬
psychose zu bezeichnen. Grundsätzlich verwandt mit ihr sind die
einmaligen Anfälle von Geistesstörung mit Trübung des Bewußtseins,
die zur Zeit der Menstruation Vorkommen. Die Art der Störung ist
dieselbe wie bei der großen Gruppe der durch äußere, auf den Körper
wirkende Ursachen bedingten Psychosen. Immer pflegen diese, so¬
weit sie funktioneller Art sind, die Ursache, wenn sie aufhört, nicht
lange zu überdauern und plötzlich bei einer gewissen Stärke der Ein¬
wirkung auszubrechen. Es ist anzunehmen, daß das normale „psy¬
chische Organ“ in hohem Grade Störungen widerstehen und ein¬
getretene Abnormitäten ausgleichen kann. Die krankhafte Anlage
kann in Schwäche des Widerstandes oder in Mangel an Aus¬
gleichsfähigkeit bestehen; in diesem Falle entstehen chronische, in
jenem kurze anfallartige Psychosen.
Über einen durch seine bemerkenswerten Komplikationen beson¬
ders interessanten Fall berichtet Thoma 3 ): Eine 27jährige Frau
hatte einen „mäßig großen Parenchymkropf“, der deutlich pulsierte.
Es bestand Exophthalmus. Über etwaiges Zittern usw. wird nichts ge¬
sagt. Die Kranke stammte aus einer psychopathischen Familie und
kam 1892 zum zweiten Male in die Anstalt Illenau als geisteskrank. Sie
war stuporös, aber die Benommenheit war bald stärker, bald schwächer
und wurde von kurzen maniakalischen Erregungen unterbrochen. Es
war sehr bemerkenswert, daß die Größe der Struma und des Exoph¬
thalmus der Depression proportional war und mit ihr wechselte. Zur
Zeit oder kurz nach der Menstruation war die Kranke gewöhnlich
1> Münchener med. Wochenschrift, 1894 Nr. 1—4.
2) Archiv f. Psychiatrie, 1892 Bd. XXIII p. 799.
3) Allgemeine Zeitschrift f. Psychiatrie, 1894 Bd. LI p. 590.
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IX. Kukt Boas
aufgeregt und etwa in der Mitte zwischen zwei Menstruationen wurde
etwas geringere Erregung bemerkt.
Weitere Beiträge zu unserer Frage hat Kowalewski') gegeben.
In seiner Abhandlung betrachtet er zunächst den Einfluß der Men¬
struation auf den Organismus der nervenstarken Frau, geht dann über
zum Einfluß auf den Organismus einer durch Erblichkeit nerven¬
schwachen Frau mit besonderer Berücksichtigung der Menstruation
zu den Psychosen und bespricht endlich den Einfluß des Klimakte¬
riums auf das Nerven- und Seelenleben der gesunden Frau.
Von Psychosen kommen in der ersten Periode des Beginnes der
Menstruation zuweilen Melancholie und Amentia vor. Diese Psychosen
können dem Beginne der ersten Menstruation vorangehen, können sie
begleiten oder nachfolgen. Das Verhalten der Menstruation zu den
Geistesstörungen kann verschieden sein, 1. die Menstruation tritt im
Laufe einer bereits bestehenden Geistesstörung ein, 2. die Menstruation
und ihre krankhaften Abweichungen fördern das Auftreten von
Psychosen, die sich in latentem Zustande befindeo, und führen selbst
zu Psychosen, wenn Prädisposition vorhanden ist. Ferner gibt es
nach Kowalewski ohne Zweifel eine „Menstruationspsychose“,
eigentümlich sollen ihr die Periodizität des Auftretens, die kurze
Dauer und die Ähnlichkeit des jedesmaligen Krankheitsbildes
sein; sie wird beobachtet vor, während und nach der Regel; sie tritt
auch nach der Menstruation (bei Amenorrhoe) ein. Die als Menstru¬
ationspsychosen vorkommenden Störungen sind: Melancholie, Manie,
Amentia und die „impulsiven“ Psychosen.
Schröter 1 2 ) hat die forensich wichtige Frage aufgeworfen:
Wird bei jungen Verheirateten zur Zeit der Menstruation stärkere
sexuelle Erregtheit beobachtet? Bei seinen Untersuchungen handelte
es sich nur um junge ledige geisteskranke Frauen. Bei 141 von
den 402 weiblichen Kranken (alten und jungen, verheirateten und
ledigen) wurde eine Steigerung der sexuellen Erregbarkeit während
der Menses beobachtet; bei 18t war eine solche nicht aufgetreten,
war aber auch außerhalb der Menstruation nie vorhanden gewesen;
bei den übrigen 80 trat während der Menses keine sexuelle Erregt¬
heit ein, während in den Zwischenzeiten solche vorkam. Daß bei
den jüngeren die intramenstruelle sexuelle Erregbarkeit besonders
häufig war und speziell bei den Unverheirateten, wird prozentmäßig
vorgerechnet; der Krankheit nach kommen besonders jugendliche
1) Petersburger med. Wochenschrift, 1894 Nr. 24—28.
2) Allgemeine Zeitschrift f. Psychiatrie, 1899 Bd. LVI. p. 321.
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Imbezille in Betracht, dann Maniakalische. Ein Vergleich mit einer
früheren, sich anf Kranken der besseren Gesellschaftsschichten be¬
ziehende Statistik zeigt, daß hier die intramenstruelle sexuelle Erregung
bei weitem seltener ist, was mit dem Bildungsgrade und der aner¬
zogenen Selbstbeherrschung erklärt wird.
Viallon 1 ) beschäftigt sich mit den Psychosen und Krampfzustän¬
den auf menstrueller Basis. In gewissen Fällen finden die im Ver¬
lauf der Menstruation auftretenden Intoxikationserscheinungen, psy¬
chischen Störungen und Krampfzustände ihre Erklärung durch eine
Autointoxikation von seiten des Uterus und der Ovarien als Sekre¬
tions- und Reinigungsorganen. Häufig erzeugt jedoch die Menstru¬
ation indirekt durch Vermittlung des Nervensystems funktionelle
Störungen verschiedener Art, die ihrerseits zu einer veränderten Säfte¬
zusammensetzung und sogar Intoxikationszuständen, häufig gepaart
mit Temperatursteigerung, Delirien und konvulsivischen Phänomenen
führen. Die funktionellen Störungen betreffen den Verdauungskanal
(besonders Obstipation) oder die Harnwege (Änderungen der Qualität,
Quantität und Entleerungsart des Harns) oder beide Systeme. Tem¬
peratursteigerungen und psychische Störungen treten bei der Menstru¬
ation nicht selbständig auf, sondern sind abhängig von den genannten
Intoxikationsstörungen, namentlich von Darmstörungen; die psychischen
Störungen bestehen gewöhnlich in akuter Verwirrtheit und bei Epilep-
tikerinnen und Paralytikerinnen in Konvulsionen; verschlimmert sich
die Darmstörung während der Menses, so treten mehr Anfälle auf;
bessert sich die Darmstörung, so nimmt die Anfallfrequenz ab. Vi¬
allon berichtet über zahlreiche Belegfälle mit Temperaturkurven.
Kötscber 2 ), der eine ausführliche Analyse des Geschlechtser¬
wachens gegeben hat, bemerkt über die Menstruation folgendes: „Es
ist kein Zweifel, daß diese beiden Faktoren, Anämie und Menstruation,
eine reizbare Schwäche des Nervensystems begünstigen, die sich gern
in allerhand Stimmungsanomalien äußert, nach der depressiven Seite
hin bis zu dem Wunsche zu sterben, nach der manischen Seite hin
bis zur Nymphomanie, mit dem Draug sich auffällig und toll zu ge¬
bärden und eventuell rasend zu masturbieren“.
Pilcz 3 ) räumt in seiner meisterhaften Darstellung der Verstim¬
mungszustände den menstruellen und klimakterischen Verstimmungs¬
zuständen ein besonderes Kapitel ein. Auch er mißt der Menstruation
1) Annales de Gynßcologie, 1902 Bd. LV1I p. 85.
2) Inaugnral-Dissertation, Berlin 1907.
3) Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens, LXIII Wiesbaden 1909.
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IX. Kurt Boas
eine ganz besondere Rolle in der Entstehung gewisser Verstimmungs-
zustände zu, die mit Aufhören der Periode verschwinden.
Daß auch zuweilen die Menstruation eine gerade umgekehrte
Rolle spielen und bei gewissen Geistesstörungen beruhigend wirken
kann, zeigt eine neuere Beobachtung von Markowitsch 1 ). Es han¬
delte sich um eine Chorea gravidarum bei einer 27jährigen Näherin,
die alle Zeichen des Veitstanzes bot. In der Krankengeschichte wird
nur folgendes berichtet: „t3. VII. Seit gestern Menses. Verhüllt
öfters das Gesicht, sie schäme sich vor den anderen. 18. VII. Seit
8 Tagen keine Stimmen mehr. Versteht nicht, wie sie früher die
Stimmen der Mutter hörte, denn die Mutter war verreist. Deut¬
liche Besserung seit den Menses“.
Kohn8tamm 2 ) beschreibt nachfolgenden durch Hypnose ge¬
heilten Fall:
Ein junges Mädchen litt an schwersten menstruellen Uterus¬
krämpfen, die zu langandauernden psychogenen „Ohnmachtsanfällen“
führten. Zwei Tage vor dem vermuteten Eintritt der Periode wurde
in mäßig tiefer Hypnose die Suggestion gegeben, daß die Schmerzen
diesmal ausbleiben sollten. Schon am nächsten Tage trat die Periode
ein und verlief schmerzlos. Anhaltende Besserung. Zu diesem kli¬
nisch-therapeutisch interessanten Fall sei bemerkt, daß auch Delius 3 )
über mehrere Fälle berichtet, in denen nach Hypnosebehandlung
Sistieren der Menstruationsblutung beobachtet wurde.
Öhmke 4 ) berichtet über folgenden Fall: Ein körperlich über¬
mäßig entwickeltes I2jähriges Mädchen hatte einen 16jährigen Lehr¬
ling bezichtigt, sie geschlechtlich mißbraucht zu haben. Da keine
Spuren von Defloration oder sonstiger unzüchtigen Handlung auffind¬
bar waren, der Lehrer des Mädchens dessen geistige Anomalität und
Epilepsie bekundete, wurde Öhmke mit der Untersuchung der Pat.
betraut. Er kam zu dem Ergebnis, daß wahrscheinlich durch sexu¬
elle an den Menstruationseintritt sich anschließende Erregung in einer
Bewußtseinstrübung eine Sinnestäuschung auftauchte und in den
Wachzustand als tatsächliches Ereignis überging.
Ne iß er 5 ) berichtet über ein jetzt 27jähriges Mädchen, das den
Versuch machte, die neben ihr liegende an Katatonie leidende Kranke
1) Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens, LII Wiesbaden 1907.
2) Therapie der Gegenwart, 1907 S. 354.
3) Wiener klin. Rundschau, 1905 Nr. 11—12.
4) Zeitschrift für Medizinalbeamte, 1905 Nr. 2.
5) Psychiatrische Gesichtspunkte in der Beurteilung u. Behandlung der Für¬
sorgezöglinge, Halle 1907.
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za töten, welche durch einförmige, unartikulierte Laute, die sie von
sich gab, ihre Nachtruhe störte. Sie band die Haare an den Bett¬
pfosten, raufte ihr einen Busch Haare aus und stopfte sie als Knebel in
den Mund. Dann suchte sie die Unglückliche zu erwürgen, was
glücklicherweise durch Hinzukommen der Wärterin vereitelt wurde.
Schon mit 9 Jahren hatte diese Pat. den Versuch gemacht, ihre
kleine Schwester zu töten. Sie durchkniff ihr eine Ader unter der
Zunge, als sie sie beriimtragen sollte, aus Ärger darüber, daß die
Mutter sie geschlagen hatte. Im ersteren Fall ist festgestellt, daß die
Pat. an dem betreffenden Tage menstruiert war. Der zweite Fall
ähnelt dem unsrigen insofern, als auch hier die Schläge der Mutter
die Ursache zu dem Suicid- bezw. Mordversuch abgab.
Neißer bemerkt im Anschluß daran folgendes: Diese entsetz¬
liche Untat war der unmittelbarste Anlaß einer pathologischen Reiz¬
barkeit, eines Faktors, dessen ernste Bedeutung zu ermessen Sie dieser
Fall in Stand setzen soll. Wie Sie sehen wollen, geschah dieses Er¬
eignis zur Zeit des monatlichen Unwohlseins, und wenn Sie nun ihren
Blick auf die große Kurve schweifen lassen, so wird Ihnen sofort in
die Augen springen, daß die auffallendsten Abweichungen von der
Horizontalen, also die ausgeprägtesten Stimmungsanomalien in unserm
Falle fast jedesmal in zeitlichem Zusammenhang mit den Menstru¬
ationsperioden stehen. Einmal hier an dieser Stelle finden Sie eine
Ausnahme. Aber diese Ausnahme ist nur eine scheinbare, und. ich
habe absichtlich diesen Teil der ganzen Verlaufskurve herausgegriffen,
um Sie, die Sie auch so viel mit der Erziehung weiblicher Individuen
zu tun Jjaben, auf eine weniger bekannte, aber sehr beachtenswerte
Erfahrungstatsache hinzuweisen. Ebenso wichtig nämlich, wie die
Zeit des Eintritts des Unwohlseins, ist derjenige Zeitpunkt, welcher
genau in der Mitte zwischen zwei Perioden liegt, von ihrem Beginn
an gerechnet. Dieser Tag ist es, welcher für das weibliche Nerven¬
leben die gleiche, ja vielleicht noch eine größere Bedeutung hat, als
der Tag des Eintritts des Unwohlseins selbst. Es muß daher drin¬
gend gewünscht werden, daß an diesen Zeiten nötigenfalls eine be¬
sondere Schonung durch Bettruhe oder Schonung bei der Arbeit,
überhaupt daß eine Beachtung dieser Zeiten stattfindet. Namentlich
bei den als abnorm reizbar bekannten Individuen ist es geboten, schon
im voraus auf diese kritischen Zeiten aufzumerken, um sich nicht
von den unerfreulichen Vorkommnissen überraschen zu lassen. Unter
allen Umständen ist es notwendig, den Menstruationsvorgängen eine
größere Beachtung zu widmen, als das vielfach geschieht und zwar
geben nur schriftliche Aufzeichnungen die gewünschten Anhaltspunkte“.
Archiv für Krimmalanthropologie. 36. Bd. 17
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IX. Kurt Boas
Rieb old 1 ) betont, daß die menstruellen Psychosen meist prä¬
menstruell auftreten. Diese schon von Mendel gemachte Beobachtung
deutet er dahin, daß nicht die uterine Blutung als solche, sondern
der vorhergehende Ovulationsvorgang die Ursache sei. Dafür
spricht auch die Tatsache, daß einerseits im Klimakterium Fälle peri¬
odischen Irreseins mit menstruellem Typus Vorkommen, andererseits
die periodischen Wellenbewegungen der Lebensfunktionen bei jungen
Mädchen schon eine Zeitlang vor Eintritt der eigentlichen Menstru¬
ation bestehen können. Einen solchen Fall teilt z. B. Sommer 2 )
mit Bei einem 16jährigen aus gesunder Familie stammenden Mäd¬
chen, noch nicht menstruiert, ließ sich als Ursache der Epilepsie ein
unperforiertes Hymen feststellen. Die Perforation brachte Heilung.
Auch für die zahlreichen Fälle von Chorea und Epilepsie macht
Riebold den Ovulationsvorgang verantwortlich. Dafür spricht auch
der Umstand, daß nach Mendel 3 ) die Mehrzahl der Fälle von Epi¬
lepsie beim weiblichen Geschlecht in das 11—15. Lebensjahr fallen
(74 von insgesamt 349! also mehr als der fünfte Teil!). Auf den
Zusammenhang der Epilepsie mit den Menstruations- und Ovulations¬
vorgängen komme ich an anderer Stelle zurück.
Uber einen eigenartigen Fall, der auch diesem Zusammenhänge
erwähnt zu werden verdient berichtet Moscato 4 ). Bei einer 41-
jährigen hochgradigen Hysterica sistiert die Menstruation seit 5 Jahren;
die gewöhnlichen Beschwerden der Menopause fehlen, nur vorüber¬
gehend Epistaxis und Hitzegefühl im Gesicht. Hinzu treten nahezu
periodisch Hämorrhagien aus der rechten Mamma, die einige Minuten
andauern und fast stets während des Abends oder zur bestimmten
Nachtstunde eintreffen. An der Mamma keinerlei Veränderungen.
Mucha 5 ) teilt, folgenden Fall mit: Ein hereditär nicht belastetes
löjähriges Mädchen, nur mäßig begabt, wird einige Tage nach ihrer
Menstruation von einer Katatonie mit Erregungs- und Stuporstadium
befallen, die ein durchaus typisches Bild darbot und nicht zur Heilung
gelangte, weil die Kranke ärztlicher Aufsicht entzogen wurde.
III.
Es erübrigt sich noch kurz auf die in der Literatur berichteten
Fälle von Zusammenhang von Menstruation und Selbstmord
einzugehen. Meyer beobachte Fälle, in denen zur Zeit der Menses
1) Deutsche med. Wochenschrift 1906 Nr. 28—29, Münchener med. Wochen¬
schrift, 1907 Nr. 38—39. 2) Deutsche med. Wochenschrift, 1891 Nr. 5.
3) Deutsche med. Wochenschrift, 1893 Nr. 45.
4) Segnali internazionali delle scienze medicali, 1896 Fase. 11.
5) Neurologisches Zentralblatt, 1902 Nr. 20.
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik.
245
psychische Reizzustände auftraten, die zu anderen Zeiten fehlten.
Bartel erklärt es sogar für „ungemein häufig“, daß sich zur Zeit
der Menstruation akute, einmalige Tobsuchtsanfälle einstellten. Auch
v. Krafft-Ebing 1 ) lehrt, daß zwischen Menstruation und schweren
Nervenleiden (Epilepsie, Veitstanz) ursächliche Beziehungen bestehen.
Löwenthal 2 ) berichtet über einen Fall von Chorea minor bei einem
Mädchen, wo die Anfälle sich regelmäßig zur Zeit der Menstruation
einstellten und nach Beendigung derselben wieder verschwanden.
Was nun die eigentlichen Beziehungen der Menstruation zum Selbst¬
mord betrifft, so fand Heller 3 ) unter 70 obduzierten Selbstmörderinnen
Schwangere 7 = 10,00 Proz.
z. Zt. der Menstruation 25 = 35,9 „
Wöchnerinnen 1 = 1,5 „
33 — 47,4 Proz7
Oll endorff 4 ), dem die Angaben über 79 im Institut für Staats¬
arzneikunde zu Berlin obduzierte Selbstmörderinnen zur Verfügung
standen, macht folgende Angaben:
Menstruation 17 = 21,52 Proz.
Schwangerschaft 1 = 1,27 „
18 = 22,78 Proz.
Wöchnerin war keine der Selbstmörderinnen zur Zeit der Tat gewesen.
Nävrat 5 ) gibt folgendes an: „Ein Moment, das bei Frauen sehr
oft die Ursache des unnatürlichen Todes zu sein pflegt, wird eben¬
falls nicht hinreichend gewürdigt und daher auch nicht angeführt.
Ich meine die Geisteszustände, welche durch Fnnktionsänderungeu
der sonst gesunden Geschlechtsorgane hervorgerufen werden, die sich
zwar in physiologischen Grenzen bewegen, aber erfahrungsgemäß
einen großen Einfluß auf die Laune besitzen, die Frau oft der ruhigen
Überlegung berauben, sie reizbar und unfähig zum Widerstande
gegen die auf sie einwirkenden unangenehmen Eindrücke machen,
sodaß sie ihnen in diesem Zustande nicht selten unterliegt und manch¬
mal sogar einen Selbstmord begeht.“
Gau pp 6 ) hat folgende Beobachtungen an 124 Selbstmördern
männlichen und weiblichen Geschlechts gemacht. Unter diesen be¬
fand sich ein 21jähriges Dienstmädchen im 8. Monat der Schwanger¬
schaft, das von seinem Geliebten, der sich um die Alimente drücken
1) Psychiatrie, Stuttgart 1897. 2) Inaugural-Dissertation, Berlin 1904.
3) Münchener med. Wochenschrift, 1900 Nr. 48.
4) Inaugural-Dissertation, Greifswald 1905.
5) Wiener med. Bundschau, 1907 Nr. 3—17.
6) Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin, 3. Folge Bd. XXXIII.
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246
IX. Kübt Boas
wollte, ohne jede Berechtigung der Untreue bezichtigt worden war,
von einem Menschen, der sich selbst mit andern Frauenzimmern
herumtrieb; sie geriet darob in Verzweiflung und ging in die Isar.
Angesichts der Tatsache, daß die Frauen sich in der Schwangerschaft
in der Regel in einem Zustand erhöhter gemütlicher Erregbarkeit be¬
finden, nimmt Oaupp an, daß die Täterin in keinem ganz normalen
Zustande die Tat begangen bat. Unter den übrigen Selbstmörderinnen
heben sich die Fälle von jugendlicher Hysterie heraus. Nicht selten
geschah die Tat zur Zeit der Menses.
IV.
Zum Schluß sei der Bericht einer Gerichtsverhandlung mitgeteilt.
Der vorliegende Fall ähnelt in vielen Punkten dem von uns mitge¬
teilten, sodaß man auch hier vielleicht die Menses als auslösendes
Moment annehmen kann.
Melancholie und Totschlag. Ein löjähriges Mädchen hatte
sich gestern auf die Anklage des versuchten Totschlages vor der
vierten Strafkammer des Landgerichts II zu verantworten. Aus der
Fürsorgeerziehung wurde Emilie M. vorgeführt. Sie war früher bei
einem jungen Bäckermeister in Dienst und kam dann als Dienst¬
mädchen zu einem Gastwirt in Rixdorf. In dieser Stellung war sie
sehr verträumt und schwermütig und behauptete fortwährend, daß
ihr früherer Dienstherr einen Angriff auf ihre Mädchenehre gemacht
habe, und daß sie hierdurch um ihre ganze Lebensfreudigkeit ge¬
kommen sei. So faßte sie einen Selbstmordplan. Am 6. November
schrieb sie an ihre Eltern, deren einziges Kind sie ist, einen Abschieds¬
brief, in dem sie genau angab, wie sie bei der Beerdigung gekleidet
sein wolle, und welcher Prediger ihr die Leichenrede halten solle.
In der Nacht drehte sie — unbekümmert um ihre Kammergenossin
Karoline P. — die Gashähne auf und erwartete den Tod. Der kam
aber nicht, denn die Todbereite hatte sich die Bettdecke über den
Kopf gezogen und war bald in Schlaf verfallen. Dagegen wachte
Karoline P. mitten in der Nacht auf und wurde von heftigem Er¬
brechen heimgesucht. Das Mädchen hatte durch den Leichtsinn ihrer
Kameradin in der größten Lebensgefahr geschwebt Vor Gericht gab
die Angeklagte schluchzend ihre Missetat zu, versicherte aber, daß sie
nur sich selbst das Leben habe nehmen wollen; es sei ihr gar nicht zum
Bewußtsein gekommen, daß sie auch das Leben ihrer Zimmergenossin
in Gefahr brachte. Staatsanwalt und Gerichtshof glaubten ihr das,
und so erfolgte die Freisprechung, da eine Verurteilung wegen fahr¬
lässiger Körperverletzung mangels eines Strafantrages nicht möglich war.
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik.
247
Nachträge.
1. Zu Abhandlung 1. „Über die Natur der Körper-, ins¬
besondere der Genitalverletzungen bei Lustmorden“ ist
eine kürzlich von Ascarelli 1 ) publizierte Arbeit nacbzutragen, über
die ich nach einem Referate von P. Fraenkel 2 ) berichte.
An der Leiche des vergewaltigten kleinen Mädchens fanden sich
schwere Zerreißungen des Anus, des Dammes und der Scheide mit
Perforation des hinteren Douglas und Blutungen in die Bauchhöhle.
Diese wahrscheinlich durch den Penis hervorgerufenen Verletzungen
konnten zwar mittelbar tödlich sein, aber nicht den unmittellbar nach
dem Attentat eingetretenen Tod erklären. Am Kinn und Hals gefun¬
dene Kratzspuren weisen auf Bedeckung des Mundes mit einer Hand
hin. In der Diskussion darüber, was nun eigentlich den bei Not¬
zuchtsattentaten so selten raschen Tod veranlaßt hat, schließt Verf.
eine eigentlich gewaltsame Erstickung aus und nimmt an, daß das
Zuhalten des Mundes, um das Schreien zu verhindern, zusammen mit
der nervösen Erregbarkeit, in die das Kind während des Attentats ver¬
setzt wurde, zu seinem Tod durch shokartige Atemlähmung geführt hatte.
2. Zu Abhandlung 10 „Über einen Mord- und Suicidver-
such in derMenstruation“ sind noch einige wichtige neuere Arbeiten
nacbzutragen. Zunächst hat Trepsat 3 ) das Verhalten der weiblichen
Epileptiker während der Menstruation untersucht und ist dabei zu
folgenden Resultaten gekommen.
1. In der Zeit der sexuellen Reife sind die Anfälle während der
Menses viel häufiger und treten in den letzten Tagen der Menstruation
und noch 2—3 Tage später oft serienweise auf. Der Schwindel ist
in der katamenialen Zeit gleichfalls stärker.
2. Die Pubertät tritt im allgemeinen bei den Epileptikern ver¬
spätet ein; ist sie aber eingetreten, so ist die Menstruation oft unregel¬
mäßig. In der Menopause haben die Anfälle die Tendenz, ihren
chronischen Charakter zu verlieren.
3. Während der Menses kann man bei einer großen Zahl von
Kranken psychische Störungen (Erregung oder Depression) beobachten.
1) Ascarelli, Viol d’une petite fille de septans. Archives d’anthropologiecri¬
minelle. Nr. 163, 1907.
2) Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin 1909 Bd. XXXVIII. S. 33.
3) Trepsat, L’Encßphale 1908. Nr. 6. Ref. Zeitschrift für ärztliche Fort¬
bildung 1909. Nr. 13p. 424. (Ref: K. Mendel).
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IX. Kubt Boas
Dann ist eine Arbeit von Burger 1 ) zu erwähnen, die mir leider
weder im Original noch im Referat zugänglich war.
Weiterhin verweise ich noch ganz besonders auf die Darstellung
von Hans Groß 2 ), die mir seinerzeit nicht zur Verfügung stand und
die im ganzen wohl alles Wesentliche bringt. Aus seiner Darstellung
erwähne ich hier nur einen Fall, der ein Pendant zu dem in meiner
Arbeit erwähnten Fall von Öhmke 3 ) darstellt. Es bandelte sich um
eine Verleumdung, begangen durch Behauptung einer vollständig
erdichteten Entführung. Die genaue psychiatrische Begutachtung ergab?
daß zu dem kritischen Zeitpunkt bei dem betreffenden Mädchen pro¬
fuse Menses auf getreten waren, daß sie nach dem Sistieren der Periode
sich ruhig und gesittet verhielt und mit dem Einsetzen der neuen
Periode eine vollkommene Umwertung ihrer moralischen Persönlich¬
keit zu konstatieren war.
Zum Schluß möchte ich noch die Darstellung Schäfers 4 ) über
die Menstruation anführen, der in einer ausführlichen Abhandlung in,
Veits „Handbuch der Gynäkologie“ über die Menstruation auch auf
die forensische Seite des Themas kurz eingeht
1) Burger, Beiträge zur Kasuistik des sogenannten „menstruellen Irreseins“.
Inaugural-Dissertation. Bonn 1909.
2) Hans Groß, Kriminalistische Tätigkeit und Stellung des Arztes. Hand¬
buch der ärztlichen Sachverständigentätigkeit von Prof. Dr. P. Dittrich. Bd. I.
8. 864. Wien und Leipzig. 1908.
3) Öhmke, Zeitschrift f. Medizinalbeamte 1905. Nr. 2.
4) Schäffer, Die Menstruation. Veit’s Handbuch der Gynäkologie. Bd. IH.
Erste Hälfte. Wiesbaden 1908. (Daselbst zahlreiche Literaturangaben I).
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X.
Strafanzeigen psychisch abnormer Personen.
Von
Dr. Otto Wallner in München.
Nachstehender Fall einer falschen Anschuldigung seitens einer
psychisch-abnormen Person läßt erkennen, wie sehr bisweilen zum
Schutze der Allgemeinheit ein rechtzeitiges Zusammenwirken von
Richter und Psychiater wünschenswert ist
Die Vorsteherin eines Damenstifts v. H. war mit der in der
Anstalt als Krankenwärterin beschäftigten 25 Jahre alten M. W. un¬
zufrieden. Am 20. Juli 1902 vormittags machte v. H. der M. W.,
die im Verdachte stand, gerne Bier zu trinken, Vorwürfe, weil im
Keller drei Flaschen Bier fehlten, während sich eine große Anzahl
leerer Bierflaschen vorfand. M. W. stellte den Diebstahl in Abrede,
erklärte, sie lasse sich einen derartigen Vorwurf nicht gefallen und
werde sich beim Referenten im Ministerium beschweren. Über diese
Drohung geriet v. H. in große Aufregung.
Nachmittags trank M. W. ihrer Gewohnheit gemäß den ihr in
der Küche gereichten Kaffee bloß teilweise, stellte den in der Tasse
befindlichen Rest beiseite und ging aus der Küche. Die übrigen
Dienstmädchen batten Ausgang; auch v. H. verließ bald das Haus,
nachdem sie für die Zeit ihrer Abwesenheit die Küche und den in diesem
Stockwerk befindlichen, kurz vorher frisch getünchten Abort, in welchem
auch zu wirtschaftlichen Zwecken dienende Salzsäure aufbewahrt war,
versperrt hatte. Abends 0 Uhr öffnete M. W. der zurückkebrenden
Vorsteherin die Türe. Diese begab sich in ihr Zimmer, M. W. in die
Küche. Zu ihr gesellte sich ein anderes im Hause beschäftigtes, vom
Ausgange zurückgekehrtes Mädchen. M. W. äußerte zu dieser, sie
habe Durst und ging den mittags beiseite gestellten Kaffeerest zu
holen; gleichzeitig entfernte sich das andere Mädchen aus der Küche.
Als dieses nach wenigen Minuten zurückkam, lehnte M. W. am Küchen¬
ausguß, sich heftig erbrechend; hiebei deutete sie auf die Tasse und
sagte stoßweise: „A., durchsuchen Sie die Tasse, da muß etwas darin
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X. Otto Wali.nkr
sein!“ Auf diese Aufforderung rochen und leckten dieses und ein
weiteres binzukommendes Mädchen an der Tasse, empfanden sauren
Geschmack und Brechreiz. Auf Anraten der Mädchen trank M. W.
etwas Milch. Sie beschlossen, den Vorfall am gleichen Tage niemand
mehr mitzuteilen, vielmehr erst dem für nächsten Morgen erwarteten
Hausarzt zu berichten und diesem auch den Kaffeerest auszuhändigen.
Am 21. Juli morgens vor 7 Uhr wurde der Kassenarzt Dr. E.
zu M. W. gerufen, die über Erbrechen, Durchfall, Schmerzen auf der
Brust und in der Magengegend klagte. Dr. E. fand Spuren von
Erbrochenem mit Blut untermischt, veranlaßte die Überführung der
M. W. in das Krankenhaus unter Mitgabe des restigen Kaffees zwecks
Untersuchung, v. H. erfuhr von dem Vorfall erst jetzt in Gegenwart
des Dr. E., der ihr gegenüber von Vergiftungserscheinungen bei M. W.
sprach, jedoch das Wort „Salzsäure“ gebraucht zu haben sich später
nicht mehr mit Sicherheit erinnern konnte. Der die M. W. abholenden
Sanitätsmannschaft händigte v. H. noch die Tasse mit Löffel zur
Untersuchung ein, nachdem M. W. bereits selbst den Kaffee in ein
Fläschchen geleert und an sich genommen batte; auch sprach v. H»
den Sanitätsleuten gegenüber von der Trinkneigung der M. W. und
daß sie wohl Salzsäure genommen haben werde.
Die chemische Prüfung des Kaffeerestes ergab einen Gehalt von
10 Proz. Salzsäure.
M. W., im Krankenhaus vernommen, gab an, daß nach allen
Umständen nur die Vorsteherin v. H. ihr Salzsäure in den Kaffee
gemischt haben könne, nur diese besitze Salzsäure und könne am
fraglichen Nachmittag in die Küche gekommen sein.
Nach den gepflogenen Erhebungen konnte nur die Vorsteherin
v. H. oder die M. W. die Salzsäure in den Kaffee geschüttet haben,
andere Personen kamen nicht in Frage. Die Folge war, daß sowohl
von der Staatsanwaltschaft zur Erbringung des Indizienbeweises gegen
v. H., als auch von der Verteidigung für die Unglaubwürdigkeit der
M. W. beträchtliches Material gesammelt wurde.
M. W., in der Schule schlecht begabt, aber fleißig und ordentlich,
war früh in Dienst getreten. Von den Personen, die sie von dieser
Zeit her kannten, besonders ihren Dienstherrinnen, wird sie im all¬
gemeinen als sittsam, bescheiden, gutmütig, wahrheitsliebend, fleißig
geschildert. Frau H., die sie zwar ebenfalls im ganzen lobt, bemerkte
eine gewisse Unpünktlichkeit und daß „M. W. immer mehr sein
wollte als sie war.“ Ungünstig äußert sich Frau K., sie fand die
M. W. unpünktlich, träge, boshaft; sie habe bei ihr die Tochter einer
früheren Dienstherrschaft sexueller Verfehlungen verdächtigt. Der
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Strafanzeigen psychisch abnormer Personen.
251
Onkel der M. W., bei dem Frau K. über sie klagte, habe diese in ihrer
Gegenwart geohrfeigt. Nachdem sie, Frau K., der M. W. gekündigt
hatte, sei letztere wieder zurückgekebrt und habe vorgeschützt, von
Herrn K. in der Hoffnung zu sein. Herr K., zu dieser Äußerung
seiner Frau eidlich vernommen, bezeugt, daß sich ihm die M. W.
zwei- bis dreimal geschlechtlich angeboten habe, nur an seiner phy¬
sischen Impotenz sei der geschlechtliche Verkehr gescheitert. M. W.
stellt in Abrede, jemand sexuell verleumdet zu haben, kann sich nicht
an eine Züchtigung seitens ihres Onkels erinnern, tritt der Aussage
des Herrn K. entgegen, sie sei von ihm verfolgt worden, er habe ihr
aber nichts anbaben können.
Später diente M. W. in einer Versorgnngsanstalt für alte Leute,
wo sie, angeblich um barmherzige Schwester zu werden, vom prote¬
stantischen zum katholischen Glauben übertrat; dann war sie vier Jahre
Hausmädchen an einem Krankenbause, zuletzt in dem Damenstift
beschäftigt. Etwa im Alter von 19 Jahren litt sie nach ärztlicher
Aussage längere Zeit an Magengeschwür.
Das Urteil über M. W. seitens vorerwähnter Dienststellen lautet
günstig. Doch gelang es dem eifrigen Forschen des Verteidigers der
v. H., der M. W. auch für diese Zeit mehrfache Unwahrheiten nach¬
zuweisen, so zwecklose Aufschneidereien und Übertreibungen, so die
Erfindung, ihr über den Glaubenswechsel erzürnter Onkel habe seiner¬
zeit auf sie geschossen und habe dafür zahlen müssen — tatsächlich
hat dieser nur mit Erschießen gedroht, sich später aber wieder aus¬
gesöhnt; ferner die Angaben, der Pfarrer G., der Ministerialsekretär N.,
welchen sie im Krankenhaus gepflegt habe, hätten ihr Grüße an die
Vorsteherin aufgetragen und Besuch in Aussicht gestellt M. W.
muß zugeben, sie habe diese Erzählungen frei erfunden, „weil die
Vorsteherin hiebei immer vor Freude ganz weg gewesen sei.“ M. W.
berichtete auch von Erscheinungen. Einmal sei ihr im Krankenhaus
auf der Treppe eine damals im Krankensaal gelegene Frau im weißen
Kleide mit schwarzem Band begegnet; die Ordensschwester, die mit
ihr, M. W., gegangen sei, habe, von ihr aufmerksam gemacht, die Er¬
scheinung nicht wahrnehmen können; im Traume habe sie einen
schwarzen Hund mit feurigen Augen gesehen, der die Vorsteherin
habe verschlingen wollen, ein weißes Lamm sei in die Kirche ge¬
gangen.
Vorübergehend stand M. W. im Stift im Verdacht, böswillig den
Abort besudelt, süße Speisen versalzen, die Küchenwände mit Spül¬
wasser verspritzt zu haben. Während sich hinsichtlich der Besudelung
des Aborts der Verdacht später auf eine alte schwachsinnige Stifts-
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X. Otto Wallneb
dame lenkte, beschuldigt für das Verderben der Speisen M. W. die
damals im Haus bedienstete Köchin, eine Anschuldigung, welche diese
zurückweist. Den ihrer Pflege anvertrauten kranken Stiftsdamen
gegenüber erweist sich M. W. als hilfsbereite, treue Pflegerin.
Die Ärzte, welche die M. W. nach der Vergiftung im Kranken¬
hause beobachteten, bekunden, daß die eigentlichen Vergiftungs-
erscbeinungen schon nach ganz kurzer Zeit schwanden; bereits
nach vier Tagen konnte ohne Widerstand und Beschwerden die
Schlundsonde eingefübrt werden, nach vierzehn Tagen ertrug die
M. W. gewöhnliche Kost; bald stellten sich jedoch neuerdings
Schmerzen und Erbrechen ein, die in stets wechselnder Stärke bis
zur Hauptverhandluug im Strafverfahren gegen v. H (5.—8. März 1903)
anhielten, sodaß wiederholt künstliche Ernährung angewendet werden
mußte. Die erstbehandelnden Ärzte betonen den zum Teil nervösen
Charakter des Leidens und dessen Beeinflußbarkeit — so schwanden
bei gütlichem Zureden und Ablenkung das Erbrechen und Druck¬
gefühl um sich bei Aufregungen zu steigern.
Von den über den Geisteszustand der M. W. vernommenen Sach¬
verständigen bekunden zwei auf Grund des Aktenstudiums, einer
einmaligen eingehenden körperlichen und psychischen Untersuchung
vor der Hauptverhandlung und der Beobachtung während der Haupt-
Verhandlung, daß M. W. nie geisteskrank, besonders nicht hysterisch
war, und daß ihre eidlichen Aussagen vor Gericht beurteilt werden
müssen wie Aussagen anderer eidlich vernommener Zeugen. Ihnen
schließt sich ein weiteres Gutachten an auf Grund des Bildes in der
Hauptverhandlung, betont aber die zweifellos bei M. W. vorhandenen
nervösen Züge.
Über den Charakter der v. H. wird von den Zeugen nur wenig
Tatsächliches berichtet, im Urteil der Stiftsdamen wie der im Stift
beschäftigten Dienstboten erscheint er sehr ungünstig. Sie wird als
reizbar, jähzornig, böse, rachsüchtig geschildert, habe Unfrieden im
Haus gestiftet, alles Züge, wozu ihr überfrommes Wesen seltsam kontra¬
stiert. Ähnlich abfällig äußern sich über v. H. die Hausärzte, die von
Gemütsroheit, Verständnislosigkeit gegenüber Kranken, gegenüber den
Gebrechen des Alters sprechen, ihre diätetischen Vorschriften seien
von seiten der Vorsteherin starrem Widerstand begegnet.
Die Hauptbelastungszeugen werden vom Staatsanwalt gefragt, ob
sie der v. H. ein derartiges Verbrechen Zutrauen, was mit bestimmtem
Ja beantwortet wird.
Sehr ungünstig äußert sich über v. H. die M. W. selbst. Ihr
gegenüber habe sie über alle Damen im Stift bis hinauf zur fürst-
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Strafanzeigen psychisch abnormer Personen.
253
liehen Protektorin Schlechtes gewußt, sie geschlechtlicher Verfehlungen
beschuldigt. Wiederholt habe sie sich in unglaublich roher Form
erkundigt, ob denn noch keine von den alten Damen gestorben sei
— ihrem Onkel erzählte die M. W. früher vou einem Aufträge, ihnen
etwas ins Essen zu mischen, damit es rascher gehe, — v. H. sei un¬
glaublich böse, schon die Köchin L. habe zu ibr, der M. W., gesagt,
man dürfe der Vorsteherin nicht trauen; wenn sie böse sei, könne sie
einem was ins Essen tun. L. bestreitet entschieden, diese Äußerung
gemacht zu haben. Über den Grund, den v. H. zu der Tat gehabt
hätte, äußert sich M. W.: „Sie, die v. H., hatte mir zuviel anvertraut
und mir gegenüber sich so ungeniert über die Stiftsdamen aus¬
gesprochen, daß ich ihr unbequem geworden war; und als ich ihr
noch gar mit Beschwerde beim Ministerium drohte, suchte sie mich
sofort aus dem Haus zu bringen.“
v. H. hatte, wie von mehreren Zeugen berichtet wird, wiederholt
den Wunsch geäußert, M. W. möchte doch krank werden, damit man
sie bequem aus dem Haus bringe.
v. H., zu den Angaben der M. W. und anderer Zeugen vernommen,
gibt zu, heftig und jähzornig zu sein, ihr körperliches Leiden (chro¬
nische Nasenerkrankung, Asthma) habe sie sehr reizbar gemacht; der
Stiftsdame G. habe sie Salz in den zum Einreiben bestimmten Franz¬
branntwein mischen lassen, damit sie ihn nicht trinke; roh und ge¬
mein sei sie niemals gewesen, vielmehr habe sie für die Damen ge¬
sorgt, so gut es ihr nur immer bei den spärlich zu Gebote stehenden
Mitteln möglich gewesen sei.
Auf Grund des Wahrspruches der Geschworenen wurde v. H. am
8. März 1903 eines Verbrechens nach § 229 des R.St.G.B für
schuldig erklärt uud zu einer Zuchthausstrafe von 6 Jahren, Tragung
der Kosten, Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte auf die Dauer von
zehn Jahren verurteilt.
Das vom Verteidiger eingelegte Rechtsmittel der Revision wurde
verworfen.
Ende des Jahres 1904 wurden Bedenken laut über die Recht¬
mäßigkeit der Verurteilung der v. H., da inzwischen eine Reihe von
Tatsachen bekannt geworden war, die geeignet erschienen, die Glaub¬
würdigkeit der Hauptbelastungszeugin M. W. zu erschüttern.
Ein sich hierauf stützender Antrag der Verteidigung auf Wieder¬
aufnahme des Verfahrens wurde abgelehnt. Da das Protokoll über
die Hauptverhandlung vor dem Schwurgericht die Ergebnisse der
Zeugenvernehmung nicht enthält, fanden bei der Beschlußfassung über
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X. Otto Wallner
vorerwähnten Antrag die Zeugenaussagen nur in dem Maße Berück¬
sichtigung, als sie in der Tagespresse wiedergegeben waren, bei der
Einseitigkeit der Berichterstattung eine wenig geeignete Grundlage.
Der Beschwerde des Verteidigers, der gestützt auf großes Material
auch neue sachverständige Gutachten in Vorlage brachte, wurde am
4. Mai 1905 stattgegeben.
Inzwischen war M. W. am 31. Januar 1905 gestorben; wie die
Sektion ergab, infolge ausgedehnter Eiterbildung hinter den Bauchein-
geweiden, ein Befund, der mit einer Salzsäurevergiftung wohl kaum
in ursächlichem Zusammenhänge stand.
Das Wiederaufnahmeverfahren prüfte zunächst das Verhalten,
welches M. W. nach der Verurteilung der v. H. an den Tag gelegt
hatte.
Hatten die Tagesblätter schon vor dem Spruche der Hauptver¬
handlung immer mehr und mehr die Sache der M. W. verfochten, so
wußten sie auch fernerhin die Allgemeinheit für das „unglückliche
Opfer eines fürchterlichen Verbrechens“ zu gewinnen. Öffentliche
Sammlungen setzten M. W. in den Besitz nicht unbeträchtlicher Geld¬
mittel. Die Privatklinik des Dr. D. bot ihr unentgeltliche Behand¬
lung und Verpflegung. Hier wurde Ende April 1903 wegen hoch¬
gradiger Verengung des Magenausganges eine Gastroenterostomose
angelegt, später mußten in neuerlicher gefährlicher Operation Ver¬
wachsungen gelöst werden.
Nach einer Zeit vorübergehender Besserung fiel den Ärzten bald
auf, daß M. W. in Gegenwart von Mitkranken häufig erbrach, ver¬
suchsweise auf ein Einzelzimmer verbracht, weit seltener brechen
mußte. Trotz strengen Verbots beging sie später bei Ausgängen
wiederholt Diätfehler. Auf Vorhalt leugnete sie diese hartnäckig,
selbst als sie einmal mittels Magenspülung überführt war. Auch
später in ambulanter Behandlung klagte sie ständig über häufiges Er¬
brechen, was bei ihrer Gewichtszunahme den Ärzten den Verdacht
der Übertreibung erweckte. Trotz Aufforderung konnte sie niemals
Erbrochenes vorzeigen, fand sich auch nicht zur Magenspülung ein.
Nach der Entlassung aus der Klinik des Dr. D. bot Hotelbesitzer
Z. in S. der M. W. unentgeltlich Gelegenheit zur Erholung. M. W.,
die auch hier anfangs bescheidenen, günstigen Eindruck machte,
mißfiel bald durch selbstgefälliges, hochmütiges Wesen, war sichtlich
erfreut, wenn man die „M. W.“ kennen lernen wollte; sie weigerte
sich, am Tische der Dienstboten zu essen. Sie wurde wiederholt an
den Türen horchend angetroffen, klatschte viel. Den Maler H., den
sie mit einer Dame im Gespräch im Parke sitzen sah, bezichtigte sie
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Strafanzeigen psychisch abnormer Personen.
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hinterher, damals unzüchtige Handlungen vorgenommen zu haben.
Mit der trunksüchtigen Frau Z. schloß sie bald vertraute Freund¬
schaft, meldete ihr alle Kleinigkeiten über die Dienstboten, nährte
ihre Eifersucht durch grundlose Andeutung über ihren Mann, stiftete
mit Entstellungen und Verdrehungen viel Unfrieden, so daß einmal
alle weiblichen Dienstboten ihre Stellen im Hotel verließen.
Trotz Klagen über ihr Leiden und öfteren Erbrechens aß sie hier
regellos, auch schwer verdauliche Speisen. Immer mehr, namentlich
im Jahre 1904, wo M. W. abermals bei Hotelbesitzer Z. Aufnahme
fand, und die üblen Cbarakterzüge in noch gesteigertem Maße zeigte,
entwickelte sich bei ihr, wohl unter dem Einfluß des schlechten Bei¬
spiels der Frau Z., eine Trinkneigung (drei bis vier, manchmal zehn
Glas Bier und mehr im Tag, auch Wein und Spirituosen). Wieder¬
holt wurde M. W. in stark betrunkenem Zustand gesehen. An den
Kutscher L. drängte sich dort die M. W. heran, obwohl, wie sie
wußte, dieser ein Verhältnis mit einem anderen Mädchen unterhielt
Doch kam es nicht zu geschlechtlichem Verkehr. Wurden ihr ihr
Betragen, ihre vielfache Unbotmäßigkeit, ihre Lügen vorgehalten, so
weinte sie, versprach Besserung, um in einer halben Stunde wieder
die Alte zu sein.
Ende November 1904 kam M. W. in das Haus des Ingenieurs L.
zur Pflege des Kindes und ganz leichter Arbeit Ihr Eintritt ver¬
zögerte sich, da sie angeblich aus Freude über die günstige Stelle
an Brecbanfällen erkrankte. Bald erwies sie sich als träge, un¬
gehorsam, unbotmäßig, naschhaft. Von einem Gang zum Arzt heim¬
kehrend roch sie nach Kümmelschnaps; auf Befragen entgegnete sie,
sie rieche, wie man rieche, wenn man vom Doktor kommt; dieser habe
ihr etwas eingegeben, sie sei wieder untersucht worden, habe ihr
Korsett ausziehen müssen, was ihr sehr unangenehm gewesen sei.
All dieses erwies* sich als unwahr, sie war vom Arzt auch nicht
untersucht worden. Ein andermal erzählte sie, daß sie auf der
Straße sich erbrochen, vom Schutzmann zur Rede gestellt, aber auf
ihre Angabe, sie sei die „M. W. tt , unbehelligt gelassen worden sei. Von
der Polizei angestellte Erkundigungen erwiesen die Erzählung als er¬
dichtet. M. W. begeht auch hier Diätfehler, die sie mit der un¬
wahren Behauptung, der Arzt habe ihr gerade wegen ihres Mangels
an Magensäure saure Speisen erlaubt, bemäntelt.
Am 5. Dezember 1904 hatte M. W. nachmittags mit der Köchin
bei L. wegen eines Häubchens, das diese trug, da Gäste erwartet
wurden, Streit angefangen, wobei sie sich bis zu Tätlichkeiten erregte.
M. W. wurde, zumal sie sich nicht wohl fühlte, zu Bette geschickt.
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X. Otto Wallner
Nach Weggang der Gäste prüft Herr L., bevor er sich zur Ruhe
begibt, mit angeriebenem Streichholz, ob die Gashäbne in der Eiiche
geschlossen, und findet alles in Ordnung. Als kurz nachher Frau L.
nochmals auf den Gang geht, bemerkt sie Gasgeruch und hört in der
Küche das Geräusch des ausströmenden Gases. Beim Nachsehen erweist
sich der Gashahn in der Küche weit geöffnet — die neben der Küche
schlafende Köchin ist aufs höchste gefährdet, der Schlüssel des Gaso¬
meters findet sich nicht an seinem Platze, sondern an einem andern
Ort Als morgens Herr L. den Hauptbahn am Gasometer wieder öffnet,
flammt gleichzeitig die mit SelbBtzünder versehene Ampel im Zimmer
der M. W. auf, es muß also hier der Hahn geöffnet worden sein. Als
die Köchin in dieses Zimmer tritt und die M. W. darauf aufmerksam
macht daß die Flamme zurückgeschlagen sei, erwidert diese: „Ich
habe nichts gemacht; als der Herr die Flamme im Gange anzündete,
hat diese auch gebrannt das ist im Krankenhaus auch vorgekommen,
ich könnte einen Eid ablegen, daß ich nichts gemacht habe.“ Auf
den Einwand, daß das Gas doch nicht brennen könne, wenn man den
Hahn nicht geöffnet habe, bemerkte sie fragend: „Maria, waren Sie nicht
auch schon herin?“ Als der M. W. die Frau L. vorhielt, wie sie so un¬
vorsichtig sein könne, das Gas in ihrem Zimmer aufzudrehen, erwiderte
sie, so etwas tue sie nicht, sie habe ein gutes Gewissen; auf weiteren
Vorhalt weinte sie nur.
Als mittags M. W. den Tisch gedeckt batte, sind Teller, Schüs¬
seln und Flaschen außen dick mit Petroleum beschmiert, im Kühl¬
eimer schwimmt auf dem Wasser Petroleum, die Petroleumkanne
selbst ist außen sauber. Auf Vorwürfe erwidert M. W.: „Alles muß
ich getan haben, ich habe ein gutes Gewissen, es ist gut, daß ich ein
gutes Gewissen habe.“
M. W. muß sogleich das Haus verlassen; eine vorher fast volle
Flasche Bordeaux wird nach ihrem Weggang leer «gefunden.
Andere Personen, die mit M. W. nach der Hauptverhandlung
verkehrten, nahmen an ihrem Charakter nichts Auffälliges wahr, über
die Vergiftungsangelegenheit sprach sie wenig; wieder andere be¬
merkten im Anschluß an Aufregungen Brechanfälle bei M. W., die
bald 'wieder vorübergingen, worauf sie wieder ihren gewöhnlich
„guten Humor“ gehabt habe, zeitweilige Neigung zu Trunk, zweck¬
loses Lügen, Verleumdung, um anderen zu schaden.
Die Wahrnehmungen einer sehr gewichtigen Zeugengruppe
wurde erst unmittelbar vor der zweiten Hauptverhandlung bekannt.
Im Krankenhaus der Heimatsgemeinde F. der M. W., wo sie
sich bis kurz vor der ersten Hauptverhandlung befand, mußte sie
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Strafanzeigen psychisch abnormer Personen.
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wegen hartnäckigen Erbrechens eine Zeitlang künstlich ernährt werden.
Kaum war sie von dort zur Verhandlung weggebracht worden, be¬
richteten die im gleichen Saale befindlichen Mitkranken, daß sich
M. W. durch Besucher Wurst und Fleisch habe bringen lassen, dieses
im Bette, das sie nicht von fremder Hand herrichten ließ, verwahrte
und nachts aß. Infolge hievon aufgetretenes Erbrechen habe sie zu
verbergen gewußt, indem sie nur auf dem Aborte erbrach. Die Mit-
kranken fügten bei, sie hätten geschwiegen, da sie sich vor M. W.
fürchteten, zumal sie mit Mißhandlungen drohte. Bei späteren Be¬
suchen in F. gab sie auf Vorhalt diese Vorkommnisse zu: „Ja das
habe sie getan, sie habe Kraft gebraucht“. Sonst wird über diese
Zeit, wo sich M. W. dort bei ihrer Mutter befand, über Trinkneigung
und Lügen berichtet. So erzählte sie, wie früher auch anderwärts,
sie habe beim Arzt in München (Dr. D.) täglich 6—7 Mark bezahlen
müssen.
Über zwei Anfälle der M. W. macht Kaufmann G., der neben
deren Mutter in F. wohnte, Angaben: „Auf das laute Geschrei der
alten W. lief ich in deren Wohnung. Ich fand die M. W. ganz zu¬
sammengeschoben, wie leblos im Stuhl sitzend, brachte sie zu Bett.
Kaum lag sie im Bett, so packte sie mich so krampfhaft am Arm,
daß ich mich nur mit aller Gewaltanwendung von ihr hätte losreißen
können, dabei wand sie sich, daß nur alles so krachte, und jammerte
über Schmerzen im Magen. Sie bat mich, sich fest bei mir anhalten
zu dürfen, so könne sie ihre Schmerzen eher ertragen. Des weiteren
jammerte sie „gelt Herr G. das ist auch nichts Unrechtes, daß ich
katholisch geworden bin, die Katholiken sind auch keine schlechten
Leute“. Als die M. W. diese Äußerungen machte, war sie offenbar
bei Bewußtsein. Dagegen hatte sie vorher alles hängen lassen und
schien ganz bewußtlos zu sein, bis ich sie ins Bett gebracht hatte.
Ich entfernte mich, als der Arzt kam“.
Vielleicht bezieht es sich auf diesen Anfall, wenn Dr. S. in F.
berichtet, er sei einmal zu M. W. gerufen worden, habe diese im
Bette liegend angetroffen, sie habe nach Kognak gerochen, auf Vor¬
halt angegeben, sie habe Hoffmannstropfen genommen. Herr G. hat
noch einen zweiten Anfall gesehen, bei dem M. W. ausgestreckt auf
dem Boden lag. —
Wenngleich den Sachverständigen die wichtigste Erkenntnisquelle,
die sich aus einer länger dauernden persönlichen Beobachtung der
M. W., namentlich auch ihres Verhaltens gegenüber dem jetzt vor¬
liegenden Material ergeben hätte, mit deren Tode verschlossen war,
ließen doch die jetzt bekannten Tatsachen allein ein klares Bild der
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X. Otto Wallner
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Persönlichkeit der M. W. entstehen. Soweit ihre Charakterzüge nur
aus Schlüssen und Urteilen von Zeugen sich erkennen ließen, konnten
sie das aus den Tatsachen gewonnene Bild ergänzen, sofern jene mit
letzteren übereinstimmten; eie größere Bedeutung durfte den stets un¬
sicheren Urteilen der Zeugen nicht zuerkannt werden.
Aus der früheren Dienstzeit, aus der Zeit im Stift, namentlich
aber aus dem Abschnitt nach der Hauptverhandlung im März 1903
wurden zahlreiche Lügen der M. W. bekannt. Diese Unwahrheiten
erfordern eine verschiedene Einschätzung je nach Inhalt und Motiv.
Aufschneidereien, oder Lügen, durch welche begangene Fehler, z. B.
auch einzelne Diätfehler, bemäntelt werden, haben für die psychische
Beurteilung keine wesentliche Bedeutung, Entschuldigungslügen
namentlich dann nicht, wenn die soziale Abhängigkeit von Einfluß
ist Ganz anders müssen wohl überlegte, mit allen Einzelheiten ans¬
gestattete, völlig frei erfundene Erzählungen (angebliche Bekanntschaft
mit Pfarrer G., Ministerialsekretär N.) beurteilt werden mit dem Mo¬
tiv, sich nicht nur interessant zu machen, sondern auch bei Vorge¬
setzten günstig zu stellen. Vielleicht sind auch der Sucht, sich
interessant zu machen, die oben erwähnten Erzählungen von Er¬
scheinungen entsprungen. Man kann sie auch als Träume mit stark
sinnlicher Deutlichkeit auffassen, wie sie auch von M. W. selbst in
der Hauptverhandlung als Träume bezeichnet wurden. Eine völlig
vereinzelt dastehende Sinnestäuschung anzunehmen, hat wohl wenig
Berechtigung.
Wie die Neigung der M. W. zur Unwahrhaftigkeit, so betreffen
bei ihr auch die sonstigen wesentlichsten Störungen das Gebiet der
Gefühle und des mit diesen eng zusammenhängenden Handelns. Das
ganze Gemütsleben erscheint oberflächlich, höhere sittliche Gefühle,
z. B. Dankbarkeit gegen ihre Wohltäter, kennt M. W. nicht Es
mangelt ihr bei ihrer Selbstsucht überhaupt die Rücksichtnahme auf
fremdes Interesse. Sie findet Befriedigung am Unfriedenstiften, an
Klatsch und Verleumdung. Besonders klar tritt ihre selbstsüchtige
Sinnesrichtung zutage in ihrem Verhalten im Hause des Ingenieur L.
Ein geringfügiger Zwist erweckt in ihr rachsüchtige Triebe,
denen keine sittlichen Hemmungen widerstreiten. Ohne wohl weiter
die Folgen zu bedenken, öffnet sie den Gasbahn in der Küche,
später, um den Verdacht von sich abzulenken, im eigenen Zimmer;
sie beschmiert Teller, Schüsseln, Flaschen, alles nur um sich Be¬
friedigung für den erlittenen Ärger zu verschaffen. Der Oberfläch¬
lichkeit ihrer Gemütsart entspricht auch stets die Reaktion auf Vor¬
halt wegen ihres Betragens. Auf Vorwürfe hin erfolgt entweder
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Strafanzeigen psychisch abnormer Personen.
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sinnloses Ableugnen, oder Weinen, Geloben von Besserung, nach kur¬
zer Zeit aber ist sie wieder die Gleiche.
Im sexuellen Leben erweist sie sich im allgemeinen als kalt —
die Obduktion ergab Virginität — dabei ist sie aber sexuellem Klatsch
nichts weniger als abgeneigt.
Voll von Widersprüchen ist das Verhalten der M. W. in bezug
auf ihre Krankheit Wenn sich auch allmählich tatsächlich eine
schwere Magenerkrankung entwickelte, so stand doch in der auf die
Vergiftung folgenden Zeit die Schwere der Krankheitssymptome im
Gegensatz zu dem geringfügigen objektiven Befunde; damals schon
wie später (Brechanfälle nach Aufregungen) war die leichte Beein¬
flußbarkeit der Krankheit durch psychische Momente aufgefallen. In
der Klinik des Dr. D. unterzieht sich M. W. bereitwillig zwei lebens¬
gefährlichen Operationen, die leichten diätetischen Vorschriften während
der Rekonvaleszenz zu befolgen ist sie nicht imstande, momentane
Gelüste gelten ihr mehr als Aussicht auf Gesundheit. Im Kranken¬
haus hält sie tagsüber strenge Diät bis zu rektaler Ernährung, nachts
begeht sie raffinierte Diätfehler, alles ermöglicht dadurch, daß sie ihre
Umgebung brutal beherrscht Dabei spielt M. W. immer wieder die
Schwerkranke.
Ein derartiges Verhalten ist nur denkbar bei dem Mangel des
im normal veranlagten Menschen so tief wurzelnden Dranges nach
Genesung, bei dem Fehlen des Verantwortlichkeitsgefühls für die
eigene Gesundheit
Die eingehende Schilderung der beiden Anfälle berechtigt wohl
eine psychogene Entstehungsweise anzunehmen, bei dem ersten bildete
vielleicht eine erregte Auseinandersetzung über den Glaubenswechsel
der M. W. die auslösende Ursache.
Ein derartiger Charakter mit so ungleichmäßiger Ausbildung der
Psyche, dem Vorwiegen des Trieblebens, der geringen Entwicklung
altruistischer Regungen entsteht nur auf dem Boden der ange¬
borenen Degeneration. Wie so oft finden sich auch hier, weil
dem gleichen Grunde entsprossen, mannigfache hysterische Züge.
Dem widerspricht es keineswegs, wenn manche Zeugen aus dem
früheren Leben der M. W., aber auch aus späterer Zeit einzelne
sympathische Züge berichten — gerade eine gewisse Buntheit, ein¬
zelne Widersprüche sind bei degenerierten Charakteren häufig.
Handelt es sich demnach um eine von Geburt an bestehende,
im eigentlichen Wesen der Psyche begründete krankhafte Abweichung,
so waren doch die besonderen Verhältnisse, in welche M. W. durch
Archiv für Eriminalanthropologie. 35. Bd. 18
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X. Otto Wallner
die Vergiftungsaffäre geriet, wie nichts anderes geeignet, die krank¬
haften Äußerungen zu steigern und zu verschärfen.
Das früher im sicheren Schutze der Abhängigkeit dahinlebende
einfache Dienstmädchen war den gefährlichen Insulten, wie sie die
Durchführung eines langwierigen Strafprozesses in geringerem Grade
schon für die gesunde Psyche darbietet, besonders preisgegeben; sie
sah sich plötzlich in den Blickpunkt der breiten Masse gerückt, die
ihr reichlich zufließenden Geldmittel verliehen eine gewisse Unab¬
hängigkeit, alles Momente, die bei ihrer Veranlagung besonders ver¬
derblich wirkten. Hiezu kam noch der ungünstige Einfluß des wohl
durch Gelegenheit und Verführung sich immer mehr entwickelnden
Alkoholismus bei einer zweifellos bestehenden Intoleranz — schon
im Stift „hatte man es ihr immer gleich angesehen, wenn sie nur
wenig Bier getrunken hatte“.
Im Wiederaufnahmeverfahren wurden den Sachverständigen zwei
Fragen vorgelegt:
1. ist M. W., als sie sich im Stift aufhielt und in ihrem Kaffee
Salzsäure genommen hat, fähig gewesen, sich selbst ein Leid anzu¬
tun, um andere in Verdacht zu bringen;
2. war M. W. zur Zeit der Hauptverhandlung an einer derartigen
geistigen Störung erkrankt, daß ihr zugetraut werden kann, sie habe
auch auf ihren Eid hin objektiv Unwahres bekundet?
Psychologisch sind die in Frage stehenden Handlungen wohl er¬
klärlich und ordnen sich widerspruchslos in das Gesamtbild ein. Ein
geringer Streit mit der Vorsteherin kann bei der Veranlagung der
M. W. mächtige rachsüchtige Triebe wecken, die ungestüm Befriedi¬
gung fordern. Die Durchführung des VergiftungsVersuches bot hiezu
leichte Möglichkeit. M. W. beabsichtigte vielleicht auch nichts weiter
als die Vorsteherin zu erschrecken, ihr Unannehmlichkeiten zu be¬
reiten. Aus ihrem ganzen Verhalten unmittelbar nach der Vergiftung
— der Arzt wurde erst am nächsten Tage gerufen — läßt sich
schließen, daß sie nur wenig, vielleicht nichts von dem Gifte zu sich
nahm. Daß dies Spiel so schwere Folgen für v. H. nach sich ziehen
werde, bat M. W. ursprünglich kaum gedacht Nachdem aber die
Untersuchung bis zur Gerichtsverhandlung gediehen war, M. W. sich
so weit in die Bolle des Opfers eingelebt hatte, was ihr bei der
Neigung zur Unwahrhaftigkeit nicht schwer fiel, gab es für sie kein
Zurück mehr; jetzt noch das errichtete Lügengebäude einzureißen
und sich als falsche Zeugin zu bekennen, dazu hätte die Willens¬
stärke eines psychisch Vollwertigen gehört. M. W. konnte nicht
anders als die begonnene Rolle zu Ende spielen, ihre Aussage durch
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Strafanzeigen psychisch abnormer Personen.
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den Eid bekräftigen, alles was irgend den guten Schein trüben konnte
(Aussagen der Frau und des Herrn K., der Köchin L. usw.) ab¬
leugnen. —
Von den Sachverständigen vertraten drei in ihren Gutachten im
wesentlichen den eben dargelegten Standpunkt bei manchen Ab¬
weichungen in den Einzelheiten, vor allem je nachdem die hysterischen
Züge mehr oder weniger in den Vordergrund geschoben wurden.
Sie bejahten demgemäß die beiden vorgelegten Fragen.
Die beiden Gutachter, welche M. W. schon vor der ersten
Hauptverhandlung im Krankenhaus auf ihren Geisteszustand unter¬
sucht und als nicht geisteskrank, namentlich nicht hysterisch befunden
hatten, blieben auch jetzt bei ihren früheren Darlegungen, hielten
eine geistige Abnormität bei M. W. für ausgeschlossen und verneinten
die Fragen. Allerdings waren ihnen zum Teil die Vorkommnisse in
F. nicht im vollen Umfange bekannt. Ihre abweichenden Ansichten
waren vor allem folgende: Die nach der ersten Hauptverhandlung
bei M. W. hervorgetretenen üblen Eigenschaften seien im wesent¬
lichen durch die veränderten äußeren Verhältnisse verursacht worden.
Dem ist entgegenzuhalten, daß, wenn auch bei M. W. die üblen
Charaktereigenschaften aus den oben dargelegten Gründen immer
mehr in den Vordergrund traten, doch nach der ersten Hauptver¬
handlung wesentlich neue Züge nicht, mehr zn beobachten waren.
Ist man doch jetzt berechtigt, auch die in der ersten Verhandlung
nicht bewiesenen, aber doch mehr oder weniger wahrscheinlichen
gegen M. W. sprechenden Verdachtsmomente (z. B. die sexuellen
Verdächtigungen, vielleicht auch die Besudelung der Wände usw.)
heranzuziehen, wenn sie sich mit den späteren sicheren Erfahrungen
als übereinstimmend erweisen. Ferner wurde angezweifelt, daß M. W.
die Urheberin der Vorgänge im Hause des Ingenieur L. gewesen
sei, wenigstens sei dies in keiner Weise nachgewiesen worden. Ab¬
gesehen nun davon, daß es sich hier um völlig glaubwürdige Zeugen
handelt, ist es nach der jetzt noch geltenden Auffassung nicht Auf¬
gabe des ärztlichen Sachverständigen, über den Wert oder Nichtwert
der Beweismittel, besonders der Zeugenaussagen, zu entscheiden, es
ist dies allein Sache des Richters. Auch bilden die Vorfälle im
Hause L. bei der Beurteilung der M. W. zwar ein wichtiges, doch
kein unentbehrliches Glied in der Kette. Die beiden Sachverständigen
betonen auch noch ausdrücklich den Einfluß, den die schwere körper¬
liche Erkrankung in den letzten Lebensmonaten der M. W. auf ihre
Psyche ausüben mußte. Zweifellos war das träge, störrische, reizbare
Wesen, das M. W. nach den Schilderungen des Ingenieur L. darbot,
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X. Otto Wallheb
zum großen Teil hiedurch bedingt, allein das ganze psychische Bild
der letzten Lebenszeit im wesentlichen auf das körperliche Leiden als
letzte Ursache zurückzuführen, dürfte zn weit gegangen sein, stimmt
es doch gar nicht überein mit den Erscheinungen, wie sie sonst als
psychische Folgen der Erschöpfung, chronischer infektiöser Erkran¬
kung usw. aufzutreten pflegen.
All diesen Einwänden gegenüber muß immer wieder auf die
große innere Wahrscheinlichkeit des oben skizzierten psychischen
Bildes hingewiesen werden, die es zwanglos einreiben läßt in die
klinisch wohl bekannten Erscheinungsformen, die dem Boden der de-
generativen Veranlagung entsprießen. —
Das Urteil vom 31. Oktober 1906 machte sich letztere Auffassung
zu eigen, v. H. wurde von der Anschuldigung freigesprochen.
Als Ersatz für die durch Untersuchungshaft und Strafvollzug er¬
littenen vorübergebenden und dauernden materiellen Nachteile wurde
ihr eine einmalige Entschädigungssumme und eine bescheidene Rente
auf Lebensdauer zuerkannt.
Hätte nun die M. W. diese Wendung der Dinge erlebt, und wäre
die Anklage wegen Meineids und falscher Anschuldigung gegen sie
erhoben worden, so wäre die Frage der Anwendung des § 51 des
R. St. G. B. zur Beantwortung gestanden. Wie hätte die Antwort
wohl gelautet tn Würdigung des psychischen Zustandes der M. W.
für die Zeit vor und während der ersten Hauptverhandlung?
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XI.
Psychologie der Verbrecherehre.
Von
E. Kleemarm, Anstaltsgeistlicher in Leipzig.
„Ehre verloren, viel verloren!“ heißt es im Sprichwort, und wenn
erstmalig Verurteilte, sei es auch nur für kurze Zeit, ins Straf haus
eingeliefert werden, so bedrückt ihr Gemüt in der Regel nichts in
gleichem Maße — selbst nicht die Einbuße am Vermögen, nicht dier
Trennung von den Angehörigen, nicht die harte Sträflingsarbeit —
als der Verlust des ehrlichen Namens. Es ist eben die Ehre ein
hohes sittliches und, wenn sie angetastet ist, ein unersetzbares Gut
Wie standhaft war man oft bemüht, den Schild der Ehre rein
zu halten! Die Ritter bestanden manch harten Strauß zur Bewahrung
ihrer Ehre. Stolz wohnte in den Herzen der zu Reichtum und
Wohlstand gelangenden Bürger der freien Städte. Die studentische
Ehre, die Offiziersehre, die Berufs- und Standesehre, sie wird heute
mutig mit der Klinge in der Hand oder beharrlich vor Gericht ver¬
teidigt
Welchen Wandlungen ist sodann der Ehrbegriff im Leben des
einzelnen Menschen unterworfen! Die Ehre des Jünglings, etwa die
des allezeit fröhlichen und sorglosen Studenten, bedeutet eine andere
als die einer gereiften Persönlichkeit in leitender Stellung. Die
Schülerehre ist nicht dieselbe wie die Mannesehre. Jedenfalls ist die
Ehre ein relativer Begriff, wie dies z. B. in Sudermanns Drama„ Die
Ehre“ zur Darstellung gelangt. Die Ehre des Hinterhauses ist hier
von der des Vorderhauses verschieden. Ehrlich, ehrbar kann jeder,
selbst der ärmste Lumpensammler sein. Dies ist zu betonen. Aber
das Ehrgefühl, die Stärke des Ehrgefühls ist unter den einzelnen
Menschen und Menschenklassen verschieden.
Unter solchen Umständen, wenn nämlich die Ehre nichts Abso¬
lutes, sondern etwas Relatives darstellt, und wenn man sodann in
den Verbrechern eine besondere Menschenklasse erblicken zu müssen
glaubt, darf wohl auch von einer Verbrechereh re gesprochen werden.
Man könnte einwenden wollen: Der Verbrecher hat keine Ehre, er
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264
XI. E. Kleemann
sei „ein dunkler Ehrenmann“, er ist ehrlos, ruchlos. Er muß aus
der Gesellschaft der Ehrlichen ausgestoßen werden. Indes darum
handelt es sich hier nicht Es fragt sich vielmehr, ob und wieviel
Ehre im Verbrecher als vorhanden nachweisbar ist und welcher Art
diese Ehre ist. Sie ist anders als die der Ehrlichen, sie kann uns
als verkehrt erscheinen. Trotzdem steckt im Verbrecher unter Um¬
ständen sehr viel Ehrgefühl. An dieses noch vorhandene Ehrgefühl
knüpfen Strafe und Besserungsversuche an, oder sie sind nur Ver¬
geltung, Rache. Es kann der als Verbrecher Gebrandmarkte sogar
ehrenwerter sein als mancher andere, als z. B. ein feiger Kriecher
und straflos bleibender Spekulant. Der Bräutigam, der den Schänder
der Braut niederschlägt, ist doch kein ehrloser Mensch, mag er in
Notwehr gehandelt haben oder nicht.
Freilich mit solchen Grenzfällen des Guten und Bösen werden
wir uns nicht ausschließlich zu beschäftigen haben. Wir fassen die
Gesamtheit der Verbrecher mit Einschluß der rohesten und wider¬
wärtigsten Elemente ins Auge und untersuchen ihre Ehre oder, wenn
man ihnen den Vollbesitz der Ehre absprechen muß, ihren Rest von
Ehrgefühl. Dabei verfahren wir psychologisch und fragen: 1. Worin
besteht, psychologisch betrachtet, die Verbrecherehre (Tatbestand) und
2. Wie kann der sog. Verbrecherehre eine andere Richtung gegeben
werden? Mit Beantwortung der zweiten Frage würde ein Beitrag
zur Psychagogik gegeben werden.
I.
„Eine ehrliche Haut“ — „er hat keine Ehre im Leibe“, so sagt
man, als ob die Ehre etwas rein Äußerliches, Somatisches wäre-
Man läßt sich „an der Ehre kitzeln“ und verabscheut den „Ehr¬
abschneider“, eine Ausdrucksweise, der die Anschauung zugrunde
liegt: Die Ehre haftet am Körper und ist mit Leib und Leben des
Menschen untrennbar verbunden. In der Tat ist die Grundlage des
Ehrgefühls körperlich-sinnlicher Art 1 ). Es ist ein Gefühl der Lust
oder der Unlust, und insofern ist der Ausgangspunkt im Körper¬
lichen zu suchen. Indes, wie alle sittlichen Gefühle, geht es
„von außen nach innen, es dringt in den Kern der Persönlichkeit
ein, haftet am Ich und hängt aufs engste zusammen mit dem Ich-
gefühl.“ Doch will das Ehrgefühl nicht im Ich einen Ruhepunkt
finden. Es muß sich nach außen zeigen, betätigen. Das Ich will
1) Vgl. hierzu: Das Gefühl. Eine psychologische Untersuchung von Dr.
Theobald Ziegler. G. J. Göschensche Verlagsbuchhandlung. Leipzig 1908.
S. 178 ff.
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Psychologie der Verbrecherehre.
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von anderen Personen bewertet werden, will eine geachtete Stellung
in seinem Kreise, in seiner Umgebung einnehmen. Die Ehre hat nur
dann einen Wert, wenn sie von anderen anerkannt wird. Verzicht
auf diese Anerkennung ist zugleich eine Schmälerung des Vollbesitzes
der Ehre. — Ein Einsiedler verläßt seine Angehörigen, seine Freunde,
seinen Besitz, den Gesellschaftskreis, in dem er gestanden hat, und
zieht sich in die Einöde zurück. Er bleibt ein ehrlicher Mensch, er
ist vielleicht sogar ein besonders tugendhafter, ein heiliger Mann.
Aber sein Verlassen und Verzichtleisten ist untrennbar verbunden mit
einem Verlust an Ehre. Er ist in sich gekehrt, es fehlt die Würdi¬
gung seiner Persönlichkeit durch die Mitmenschen. Oder er begibt
sich in die Einöde, um als Heiliger desto eifriger von anderen auf¬
gesucht und besucht zu werden. Er strebt nach dem Ruhme eines
Menschen, der höher steht als die große Masse, die staunend, ehr¬
furchtsvoll zu ihm emporschaut. Dann ist er nicht still in sich ver¬
sunken, sondern es findet sich eine Verbindungslinie von seinem
Innern in der Richtung nach der Außenwelt, nämlich die Ehre. —
Napoleon, dessen Herrschaft auf seinen Ruhm und auf den seiner
Armee gegründet war, mußte sein Leben lang auf neue Waffentaten
ausgehen und damit seine Anerkennung in den Herzen der Franzosen
neu zu beleben suchen. Sein Glücksstern verblaßte mit dem unglück¬
lichen Feldzug nach Rußland, und der Kaiser auf Elba und der
schließlich in St. Helena isolierte Mann hatte einen Teil der Ehre
eingebüßt, indem die Verbindungslinie nach außen abgeschnitten war.
Hier ist es recht deutlich erkennbar und fast mit Händen zu greifen,
wie die Ehre eine Richtung von innen nach außen aufweist.
Das Ehrgefühl ist ein Lustgefühl. Unser Ich findet Befriedigung,
wenn es von anderen eine Wertschätzung erfährt Die Richtung der
Ehre ist eine solche von innen nach außen. Tritt eine Störung in
diesem Verhältnis zur Außenwelt ein, so verspüren wir in unserm
Innern ein Unlustgefühl. Wir suchen dies zu überwinden, bis die
Gleichgewichtslage wiederhergestellt ist und wir neues Lustgefühl
empfinden. Es ist das Ehrgefühl ein Gefühl meines Wertes und in
höchster Vollendung ein Kraftgefühl. Es ist ein hohes sittliches Ge¬
fühl. „Nichtswürdig ist die Nation, die nicht ihr alles freudig setzt
an ihre Ehre!“
Binding 1 ) definiert die Ehre als den Wert, der einem Menschen
als solchem und kraft des Maßes der Erfüllung seiner sittlichen und
1) Der Zweikampf und das Gesetz von Dr. Karl Binding S. 15. Neue
Zeit- und Streitfragen. 3. Jahrgang, 2. Heft. Dresden 1905. (von Zahn und Jaensch).
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XI. E. Kleemann
rechtlichen Pflichten zu kommt. Allerdings behauptet er von ihr,
sie sei stets ein höchst individueller Menschenwert, dessen Größe allein
ihr Träger zu bestimmen vermag. Indes polemisiert er hier gegen
das Duell und die Wiederherstellung der Ehre durch den Zweikampf.
Die Ehre haftet am Ich, das steht fest Doch fehlt ihr etwas an
ihrem vollen Glanze, wenn sie ihre Strahlen nicht auf andere Per¬
sonen werfen kann. „ Zukommt“ heißt es in obiger Definition —
zukommt von anderen, welche den Wert anerkennen 1 2 ).
Sonstige Definitionen stimmen mit dem oben Ausgeführten über¬
ein. So z.B. eine von W. Herrmann 1 ): „Ehre ist die Anerkennung,
die eine Person als solche bei anderen findet. Durch den Aus¬
druck solcher Anerkennung werden wir geehrt.“ Ferner D. Otto
Kirn 3 ): „Ehre ist der auf sittliche Würde und sittliche Leistung be¬
gründete Anspruch des einzelnen auf Anerkennung seines Wertes
durch die Gemeinschaft.“ A. Krauß, Psychologie des Ver¬
brechens: „Persönliche Anerkennung, persönliche Auszeichnung ist
das gemeinsame Ziel alles leidenschaftlichen Strebens nach Ehre.
Der ursprüngliche Begriff der Ehre als Anerkennung des sittlichen
Wertes geht sonach in dem Trachten nach dem persönlich sich
Geltendmachen fast vollständig auf.“
Psychologisch ist die Ehre und das Ehrgefühl als Lustgefühl zu
bezeichnen. Scharf betontes Ehrgefühl wird Stolz genannt Es ist
das sichtbare Lustgefühl des Gehobenseins und bedeutet bei verdienst¬
vollen Persönlichkeiten nichts Unberechtigtes. Eitelkeit und Hochmut
dagegen sind fehlerhafte Abarten des Ehrgefühls. Der Eitle freut
sich über jede, auch die kleinste Anerkennung, die ihm zuteil wird,
während sein Inneres hohl, leer, nichtig ist. Der Hochmütige sieht
auf die anderen von oben herab und findet darin seine Befriedigung.
Der rechtmäßig Geehrte und Hochgeachtete wird auf Grund seines
Wertes und seiner Verdienste von anderen emporgehoben und emp¬
findet dabei ein geziemendes, ihm gebührendes Lustgefühl.
Es ist unmöglich zu sagen, wieviel Anerkennung jedem Menschen
zukommt, damit er in vollem Umfange als geehrt gelten kann. Man
1) Sudermann, die Ehre II, 11 (Trast:) „Was wir gemeinhin Ehre nennen,
das ist wohl nichts weiter wie der Schatten, den wir werfen, wenn die Sonne
der öffentlichen Achtung uns bescheint. — Aber das Schlimmste von allem ist,
daß wir so viele verschiedene Sorten von „Ehre“ besitzen als gesellschaftliche
Kreise und Schichten“.
2) Haucksche Realenzyklopädie. 3. Auflage. Bd. 5. S. 227., vgl. auch
H. Groß, Kriminalpsychologie. 2. Aufl. S. 558ff.
3) Grundriß der theologischen Ethik. Leipzig 1906. A. Deichert.
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Psychologie und Verbrecherehre.
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muß seine Umgebung, die soziale Schicht, der er angehört, berück¬
sichtigen und ihren Ehrbegriff prüfen. Erst dann vermag man an¬
zugeben: Eine Person von dieser Lebensstellung kann, vorausgesetzt,
daß sie überhaupt ehrenwert ist und keine schurkische Gesinnung
besitzt, den und den Anspruch auf etwaige Ehre und Ehrung erheben.
Der Ehrbegriff der gebildeten Stände ist ein anderer als der der un¬
gebildeten. Das reiche Protzentum in Großstädten denkt anders über
die Ehre als etwa der schlichte Bauer. Es kommt also auf das Mi¬
lieu an, und nur von hier aus lassen sich Art und Maß der Ehre
bestimmen. Die Ehre trägt einen relativen, keinen absoluten Charakter.
Wir suchen nunmehr Klarheit darüber zu gewinnen, worin das
Wesen der Verbrecherehre besteht. Man könnte geneigt sein, die sog.
Verbrecherebre als einen falschen Ausdruck zu betrachten, indem sie
vielleicht nichts anderes bedeutet als Eitelkeit. Der Verbrecher will
als etwas gelten, als ein Held bei allen Schandtaten. Tatsächlich
mag viel Eitelkeit in dieser Menschenklasse anzutreffen sein. Doch
spricht man mit Recht von einer Verbrecherehre und nennt eben dies
nicht Verbrechereitelkeit.
Die Verbrecherpsychologien erwähnen allerdings häufig die Eitel¬
keit, den Hochmut und den Ehrgeiz der Verbrecher. So z. B.
Wulff en in seiner neuen Psychologie des Verbrechers *), insbesondere
Bd. II S. 163ff. und S. 282ff., ferner A. Krauß in seiner Psycho¬
logie des Verbrechens S. 144—150. Aus letzterer sei folgender Ab¬
schnitt hervorgehoben:
Die Manneseitelkeit, um jeden Preis von sich sprechen zu
machen, geht es nicht auf gutem, so doch auf schlimmem Wege }
hat auch nach dem Brande des Tempels zu Ephesus manche große
und kleine Freveltat hervorgerufen. Schon Macchiavelli, einer der
ersten Heroen des Gedankens, gab dieser Wahrheit einen deut¬
lichen Ausdruck in den Worten: „Wenn die Menschen nicht durch
lobenswerte Handlungen Ruhm erlangen, so trachten sie durch
tadelnswerte darnach, nur damit ihr Name erhalten bleibe.“ Man
trifft diese Herostrate, wie uns Appert berichtet, in allen Zucht¬
häusern und Bagnos. Nichts freut sie mehr, als wenn ihre Greuel¬
taten ein Langes und Breites in den Zeitungen besprochen und ihre
Namen wie die der großen Kriegshelden recht oft genannt werden
und gedruckt allerorten zu lesen sind. Es sind gerade die größten
Verbrecher, die ausgesuchtesten Galgenschwengel, welche solche
Ruhmgier oder solcher Namensglanz kitzelt.
1) Enzyklopädie der modernen Kriminalistik Bd. I/II. Verlegt bei Dr. P.
Langenscheid, Groß-Lichterfelde-Ost.
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XI. E. Kleemann
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Lombroso berührt ebenfalls hier und da im „Verbrecher“ 1 ), in
den „Kerkerpalimpsesten“ 2 ) und in den „Neuen Verbrecherstudien“ 3 )
die Eitelkeit der Verbrecher. Er bezeichnet sie sogar als Haupt¬
eigenschaft ihres Charakters 4 ). Man wolle hierzu die Entgegnung
von Dr. Johannes Jaeger in „Poesie im Zuchthause, ein Beitrag
zur Kriminalpsychologie“ (Einleitendes Vorwort) und „Hinter Kerker¬
mauern“ (Archiv Bd. 19—23, insbesondere 21 S. 44 ff.) vergleichen.
Indes die zuvor Genannten wollen darlegen, wie sich die
Entstehung der Verbrechen aus derartigen Motiven erklären läßt,
beschäftigen sich jedoch weniger mit dem, was wir mit Ver¬
brecherehre meinen und was allgemein und schlechthin darunter
verstanden wird: nicht den Stimulus zu Untaten, sondern das
Gefühl seines Wertes, den der Verbrecher als solcher in seinem
Kreise besitzt und beansprucht — ein Lustgefühl, das nur ihm inne¬
wohnt und bekannt sein kann. Der Richter fordert z. B. einen auf,
der Wahrheit die Ehre zu geben. Doch dieser hält damit zurück,
weil er seine Komplizen nicht verraten (nicht verschuften) will. Sein
Ehrgefühl gebietet ihm zu schweigen. — Ein Selbstgefühl und eigen¬
tümliches Ehrgefühl der Verbrecher offenbart sich in der Tatsache
des Vorhandenseins ihrer eigenen Sprache, der sog. Gaunersprache.
Diese wollen sie für sich allein haben. Sie fühlen sich unangenehm
berührt, wenn sie merken, daß man Gaunerworte aus ihnen heraus¬
locken will. Es ist, als ob die Standesehre, ihre Verbrecherehre, sie
an der Profanierung ihrer Sprache verhindert 5 6 ). — Daß die Ver¬
brecher ihre eigene Ehre besitzen, zeigt ferner insbesondere der Inhalt
der Gaunersprache. Sie sprechen mit Geringschätzung von den
„Freibeitsleuten“. Wie abfällig beurteilen sie das redliche Mühen
ehrlicher Menschen •'*), die im Schweiße ihres Angesichts sich plagen
müssen, um für sich und die Ihrigen den täglichen Lebensunterhalt
zu gewinnen. Der Verbrecher erblickt in den Straftaten sein „Hand¬
werk“. Ihm ist „arbeiten, verdienen, ein Stück Brot verdienen“
1) 1. Band. 3. Teil, Kap. 6. 12. 13.
2) Namentlich unter III.
3) Übersetzung von Dr. Ernst Jentsch. Carl Marhold Verlagsbuchhand¬
lung. Halle 1907. S. 189. 191. 204. 224.
4) Vgl. graphische Übersicht in den Kerkerpalimpsesten.
5) Vgl. Archiv Bd. 30, IX., S. 245/46,
6) Vgl. Schillers Lied von der Glocke:
Arbeit ist des Bürgers Zierde,
Segen ist der Mühe Preis.
Ehrt den König seine Würde,
Ehret uns der Hände Fleiß.
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HARVARD UN1VERSITY
Psychologie und Verbrecherehre. 269
gleichbedeutend mit Stehlen und Betrügen 1 ). Welche Kontraste im
Ehrbegriff!
Bisweilen mag es so scheinen, als decke sich das Ehrgefühl der
Bestraften mit dem ehrlicher Menschen. Manche, namentlich Unter¬
suchungsgefangene, versichern, sie seien „auf Ehre“ 2 ) unschuldig und
hoffen, daß ihre Unschuld erkannt wird, damit sie ihre Ehre wieder
erlangen. Sie reden viel von ihrem Ehrgefühl, wie z. B. in Suder-
manns „Stein unter Steinen“ der Zuchthäusler Struve, der angeblich
vor lauter Ehrgefühl gar nicht mehr schlafen kann (IV, 6). Oder sie
suchen ihren Schandtaten das Unehrenhafte abzustreifen mit der Be¬
hauptung, es handele sich nur um „einen Streich“; „Intriguen“ (== ge¬
setzliche Ordnung) seien am Verluste ihrer Ehre schuld. Ehrenmänner
sind sie, wie jeder andere Mensch, indem sie nur dafür sorgen, daß
die vielen Gefängnisbeamten ihren Lebensunterhalt verdienen können.
Unter sich haben sie ihre verschiedenen Grade von Ehre. Auf
diese Tatsache macht H. Groß in seiner Kriminal Psychologie S. 559
besonders aufmerksam. Ein Kampierer will gegen den Gerichts¬
assessor, der ihn verurteilt hat, energisch vorgehen, weil aus der Höhe
der Strafe (eine Woche!) hervorgehe, daß er das Kundenleben nicht
kennt. Er betrachtet seinen Stand als gleichberechtigt mit den übrigen
Ständen. Ein anderer sagt, er sei nicht wegen Betteins, sondern nur
wegen Kampierens im Gefängnis. Bettler wollen in ihrem Stolze
nicht Diebe sein; ja ein Bettler und Kampierer beteiligt sich an der
Entdeckung der Mörder von Großsteinberg bei Leipzig. Ein roher
und gewalttätiger Sittlichkeitsverbrecher rühmt sich, kein Dieb zu
sein, während ein Dieb in seinem Diebesstolze es sich zum Prinzip
gemacht hat: „Lieber mausen (stehlen) als betteln.“ Ein gefährlicher
wegen Diebstahls dreimal mit Zuchthaus vorbestrafter Verbrecher
redet von dem „bißchen Diebstahl“. Er will nun morden. Krauß
(Psychologie des Verbrechens S. 264) bezeichnet unter den Insassen
der Strafanstalten den Dieb als verachtetsten Verbrecher, der nur
noch auf den Bettler mit Geringschätzung herabsehen darf. —
Christian Wolf in Schillers „Verbrecher aus verlorener Ehre“
sucht seine Ehre darin, erst die Geliebte zu besitzen, dann als Be¬
strafter sie und die Mitmenschen zu verachten — Unrecht zu tun
und schließlich als Bandenführer in Niederträchtigkeiten zu schwelgen.
Er sinkt tiefer und tiefer, gibt nacheinander preis: seinen ehrlichen
Namen, seine Geliebte, und wird zum Wildschützen, dann zum
1) Vgl. Archiv Bd. 31, XV. „Schuld und Strafe nach dem Urteil der Be¬
straften“.
2) Vgl. Jaeger; Poesie im Zuchthause, S. 217: „Auf Ehre!“
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270
XI. E. Kleemann
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Mörder, zuletzt zum Haupte einer Diebesbande, wobei er auf jeder
dieser Stufen Wert darauf legt, das noch nicht zu sein, was er in
einem späteren Stadium wird und ohne Scheu ist. In jedem Zustande
besitzt und beansprucht er ein gewisses Maß von Ehre. Selbst wäh¬
rend der Dauer seiner tiefsten Erniedrigung sucht er in etwas seine
Ehre: Er will es allen vorantun zum Staunen der Genossen. Dabei
besitzt er ein unbeschreibliches Lustgefühl.
Ähnliches findet sich bei anderen Größen unter den Verbrechern,
wie sie Wulffen in seiner Psychologie des Verbrechers darstellt.
Unter allen ist wohl Georges Manolescu (Fürst Lahovary) als „Fürst
der Diebe“ der hervorragendste. Freilich ist vieles von dem, was er
in seinen „Memoiren“ niederschreibt, übertrieben, wie Wulffen in
seiner „Kriminalpsychologischen Studie“ ’) nach weist. Manolescu war
ein pathologischer Lügner.
Im Straf hause offenbart sich die besondere Verbrecherehre darin,
daß viele, namentlich Gewohnheitsverbrecher, das Ehrenrührige des
Inhaftiertseins gar nicht begreifen. Die Einsperrung ist unangenehm,
begleitet von Gefühlen der Unlust. Jedoch Leuten dieses Schlages
nimmt sie nichts von der Ehre weg. Fälle wie der im Archiv Bd.
24, XVII mitgeteilte — ein Gewohnheitsverbrecher wünscht aus Ehr¬
gefühl nicht in die Anstalt Karlau zurückkehren zu müssen, wo er
sich früher gut geführt hat — kommen vor, dürften aber selten sein.
Manchen ist das Gefängnis Versorganstalt. Hier herrscht Ordnung.
Sie sind sogar stolz auf ihre Ehrenposten in der „hohen Schule“
(wie Struve in Stein unter Steinen II, 5. 6). Man sollte meinen, einer
schäme sich vor dem andern. Im Gegenteil, sie werden nur zu rasch unter¬
einander bekannt und intim, und es müssen zur Durchführung der Iso¬
lierung die strengsten Maßregeln ergriffen werden. Die häufige Rück¬
fälligkeit endlich beweist, daß sie entweder keine Ehre haben oder
sie anderswo suchen als die ehrlichen Menschen. Beim Abgang aus
der Strafanstalt sagen sie: „Hoffentlich passiert es nicht wieder“
oder gar „Hoffentlich passiert es nicht gleich wieder“, statt mit
Entschiedenheit an ihrer Besserung zu arbeiten und die Wiederher¬
stellung der Ehre anzustreben.
Ein junger Zuhälter (Kalfaktor im Gefängnis) versichert in seiner
Autobiographie 1 2 ), er wolle zu seinen Kadetten (= Zuhälter und Ver-
1) Beide Werke verlegt bei Dr. P. Langenscheidt, Groß - Lichterfelde-
Ost Ygl. auch „Manolescu, Vier Bilder aus dem Leben eines Gescheiterten“ von
Adolf Steinmann (kürzlich in Leipzig aufgeführt durch die Amerikan. Sen-
sations- Comödien-Co).
2) „Aus dem Leben eines Taugenichts“ betitelt, in der Sammlung des Verf.
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Psychologie der Verbrecherehre.
271
brecher in Leipzig) zuriickkehren, falls ihm die auf die Gefängnis¬
strafe folgende Korrektionshaft nicht erlassen werde. Wenn aber
die Zeit der Strafe völlig vorüber ist, möchte er seinem Aufseher die
Hand als Dank anbieten, wenn dieser die Hand eines Zuhälters, eines
Verbrechers nicht verschmähe. Jetzt getraue er es sich nicht. Die
Macht des Gefängnisses erfordere diese Zurückhaltung. — Er ist sich
also des Abstandes von Ehre zwischen ihm und einer achtbaren
Person bewußt, zeigt aber wenig Neigung dazu, in vollem Umfange
ehrbar zu werden. Schließlich genügt es ihm, einer der Kadetten
zu sein und unter ihnen etwas zu gelten. Wie er, so denken
viele. „Es bleibt einem nichts übrig“, sagen sie, „als zu
betteln, zu stehlen, zu kampieren usw.“, was freilich auch oft so viel
bedeutet als: „Ich will es gar nicht anders haben. Ich bleibe Ver¬
brecher. Mehr Ehre brauche ich nicht“ 1 ).
Niemand kann aus seiner Haut fahren — auch kein Unehrlicher
aus seiner unehrlichen Haut. Wir meinen zwar immer, jeder müsse
dieselben Ehrbegriffe haben wie wir, und mit diesen Vorstellungen
treten wir an den Verbrecher heran. Indes ist dieses Vorgehen ver¬
kehrt. Auf die Relativität der Ehre wurde bereits im Eingang der
Darlegung zur Genüge bingewiesen. Im Gegensatz zu unserer Ehre
tragen eben die Verbrecher ihre besondere Ehre in sieb.
Ehre, Ehrgefühl ist das Lustgefühl, welches ein einzelner emp¬
findet, wenn sein sittlicher Wert durch den Gesellschaftskreis aner¬
kannt wird, dem er von Geburt oder nach Rang und Stand angehört.
Das Ehrgefühl des Verbrechers gibt sich als Lustgefühl kund, welches
aus seiner Wertschätzung durch die Verbrechergemeinscbaft hervor¬
geht. Natürlich handelt es sich hier nicht um Anerkennung hoher
sittlicher Werte — darin besteht der Unterschied zwischen Ehre im
allgemeinen und Verbrecherehre. Man müßte denn etwas Sittliches
oder Reste veralteter Sittlichkeit im festen Zusammenhalten, in Soli¬
darität und Treue der Verbrecherbanden finden wollen.
Vielleicht liegt hier wirklich ein Atavismus vor. Die Treue
unter den Angehörigen der einzelnen Stämme war in grauer Vorzeit
auch vorhanden und wurde hoch geschätzt Die Treue mag eine
sittliche Beschaffenheit gewesen sein. Wozu sie sich aber in Treue
verbanden, zu Raub-, Mord- und Beutezügen, das war nicht immer
sittlich — wenigstens nach unsern Begriffen. Das Sittliche wird bei
Bestimmung der Verbrecberehre am besten ausgeschaltet. Wenn
Schüler sich gegenseitig bei einer Untersuchung ihrer sog. Schul-
1) Vgl. Stein unter Steinen IV, 6 (Struve:) „Die olle Tugend! Die schabt
sich ab wic’ne dreckge Scheierbürschte“.
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XI. E. Kleehann
streiche nicht verraten wollen, so liegt dem Bestreben auch ein ge¬
wisses Ehrgefühl zugrunde. Wie weit es sittlich oder unsittlich ist,
bleibt irrelevant, wenn auch nicht für die Beurteilung, so doch für
den Tatbestand. Das gleiche gilt von der Verbrecherehre. Sie offen¬
bart sich als Lustgefühl, Wertgefühl, Gemeinschaftsgefühl.
II.
In dem Malle, wie es soeben gezeigt wurde, besitzt also der
Verbrecher wie jeder andere Mensch sein bestimmtes Ehrgefühl, mag
es angeboren oder von der Umgebung erworben, mag es sittlicher
oder unsittlicher Art sein. Wenn es aber so tief und so starr seiner
Psyche anhaftet, kann man alsdann dem Ehrgefühl eine neue Rich¬
tung geben, etwa, wenn es ein unsittliches Gefühl ist, eine solche
auf das Sittliche hin? Es scheint dies ausgeschlossen zu sein, mag
auch oft unmöglich sein.
Friedrich Nietzsche'), der Moraltheoretiker, leugnet die Willens¬
freiheit und die Verantwortlichkeit. Geringschätzung der Verbrecher¬
ehre dürfte er als moralisches Vorurteil betrachten:
„Manche Naturen haben nur die Möglichkeit, entweder öffent¬
liche Übeltäter oder geheime Leidträger zu sein. — Ein seltsames
Ding, unsere Strafe! Sie reinigt nicht den Verbrecher, sie ist kein
Ab büßen: im Gegenteil, sie beschmutzt mehr als das Verbrechen
selber. — Jeder, der viel in Gefängnissen und Zuchthäusern verkehrt
hat, ist erstaunt, wie selten daselbst ein unzweideutiger „Gewissens¬
biß“ anzutreffen ist: um so mehr aber das Heimweh nach dem alten
bösen geliebten Verbrechen. — Man scheue sich nicht, den Verbrecher
wie einen Geisteskranken zu behandeln: vor allem nicht mit hoch¬
mütiger Barmherzigkeit, sondern mit ärztlicher Klugheit, ärztlichem
guten Willen“.
Lombroso 1 2 ) meidet die Schroffheit Nietzsches und zieht die
Konsequenzen nicht so weit als man bei seiner Lehre vom „gebore¬
nen Verbrecher“ erwarten könnte. Er mißt — mit gewissem
Rechte — Besserungsversuchen nicht viel Bedeutung bei, hält aber
doch eine Beeinflussung des Gemütes nicht für ausgeschlossen. Nie¬
mals soll man bloß auf den Verstand einzuwirken suchen, was nur
neue Verbrecher heranzüchtet. Es gilt mehr die Eitelkeit als die
Vernunft zu erregen.
1) Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile. Druck und Verlag
von C. G. Naumann, Leipzig 1900. Nr. 408. 230. 366. 202.
2) „Der Verbrecher" 1. Band. 3. Teil. Kap. 6 und „Neue Verbrecherstudien“
Abschnitt D.
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Psychologie der Verbrecherehre.
273
Jedenfalls darf man nicht von vornherein auf jegliche Beein¬
flussung verzichten wollen. Das wäre Schwäche und Feigheit, so
gar Unrecht Beachtenswert sind folgende Sätze von Eduard
Grimm '):
„Auf das Ehrgefühl wird kaum einer verzichten wollen. Es
ist überall vorhanden, wo noch rege Empfindung ist. Auch der
Geringste hält es, wenn auch nicht überall, so doch nach irgend¬
einer Seite hin aufrecht. Auch der Verbrecher besitzt es, es gibt
auch eine Verbrecherehre. Er sucht seine Ehre nicht da, wo sie die
meisten anderen suchen, sondern an einer anderen Stelle, aber
irgendwo sucht er sie. Es gibt auch für ihn eine Stelle, wo er
auf sich hält, wo er etwas Besonderes sein möchte. Dieses Ehr¬
gefühl ist nichts anderes als eine Abart jenes Grundzugs in der
Menschennatur, den wir als den sittlichen bezeichnen, vielleicht ein
Seitenkanal, der mit dem Hauptstrom nicht immer mehr in Ver¬
bindung steht, aber doch neben ihm herläuft Wie sehr sich dies
Ehrgefühl auch verirren und als Hochmut und Eitelkeit manchmal
die widerwärtigsten Formen annehmen kann, so wird man doch
gut tun, es überall zu beachten und, soweit irgend möglich, zu
pflegen.“
Nun soll allerdings die Strafe auf die Bildung des Ehrgefühls
wirken. Der Bestrafte wird durch die Freiheitsstrafe, unter Um¬
ständen mit nachfolgendem Ehrverlust, auf das Ehrenrührige seiner
Handlungsweise aufmerksam gemacht. Er muß auf gewisse körper¬
liche und geistige Annehmlichkeiten verzichten. Damit wird er an
seiner Ehre gekitzelt und zur Erkenntnis der Bodenlosigkeit seiner
unnoblen Gesinnung gebracht. Auch sieht er vielleicht in seiner
Zwangslage und bei verständnisvoller Anleitung ein, daß die Ehre,
wie sie der Ehrliche besitzt, ein hohes sittliches Gut ist. Doch die
Eückkehr in die alten Verhältnisse nach der Zeit der Inhaftierung
bewirkt ein unheilvolles Vergessen der höheren Sittlichkeit, Rückfall
im Verbrechen und ein Zurückgleiten auf den früheren Stand¬
punkt unehrlicher Verbrecherehre.
Die wirksamste Bekämpfung der Verbrecherehre würde durch
dauernde Unschädlichmachung der Verbrecher verwirklicht werden,
also durch Deportation, durch Unterbringung der Gewohnheitsver¬
brecher in entsprechende Anstalten auf Lebenszeit (Symbiose) oder
durch ein Präventivmittel, wie Lombroso es empfiehlt: die Kastration.
Indes muß ein derartiges Vorgehen, wenigstens in der Gegenwart,
1) Theorie der Religion. Verlag von M. Heinsius Nachfolger. Leipzig 1908.
S. 101 f.
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XI. E. Kleemann
noch als unmöglich bezeichnet werden. Es fragt sich, was unter den
zur Zeit obwaltenden Umständen getan und erreicht werden kann.
Es geschieht bereits mancherlei. Das Urteil des Richters be¬
deutet einen energischen Wamungs- und Mahnruf: Heraus aus der
verkehrten Bahn, hin zur Ehre der Ehrlichen! Ein tüchtiges Be¬
amtenpersonal mit ehrenhafter Gesinnung veranschaulicht dem Sträf¬
ling täglich den Wert eines höheren Ehrgefühls. Auch fehlt es nicht
an mannigfacher persönlicher Beeinflussung zur Korrektur falscher
Ehrbegriffe. Alles dies erscheint zur Entwicklung rechten Ehrgefühls
als überaus geeignet.
Jedenfalls bedarf die Ehre zu ihrer Förderung, der Blume gleich»
zarter Pflege. Ehrgefühl läßt sich nicht züchten, sondern, wenn über¬
haupt es angebildet werden kann, nur anerziehen. Die Behandlung
der Gefangenen nach dem veralteten Standpunkte: „Die sind alle
Lumpe!“ verspricht wenig zur Hebung des Ehrgefühls beizutragen.
Sie dürfen nicht gleicherweise hart angefaßt werden. Sonst werden
sie abgestumpft und roher als zuvor.
Noch vorhandenes Ehrgefühl ist zu schonen. Darum werden
jugendliche und erstmalig bestrafte Personen möglichst von den rou¬
tinierten Verbrechern abgesondert, d. h. die Jugendlichen werden vom
Jugendgericht abgeurteilt und im Gefängnis der Jugendabteilung zu¬
gewiesen; erwachsene Sträflinge, soweit sie Neulinge sind, erfahren
in der Regel eine angemessene Behandlung, indem sie nicht sofort
mit anderen Gefangenen zusammengelassen werden. Die Einrichtung
unserer Jugendgerichte bürgt dafür, daß sich der Knabe nicht zu
bald als Held oder als Märtyrer betrachtet. Sein Fall kommt möglichst
nicht in die Zeitung. Der große Gerichtsapparat kommt nicht in An¬
wendung Erzieherische Maßregeln ersetzen nach Möglichkeit die
Gefängnisstrafe. Nun sollte auch das Haus, die Familie die gleiche
Vorsicht obwalten lassen wie der Staat, was leider oft vermißt wird.
Eine Frau schreibt an ihren im Gefängnis befindlichen Mann: „Am
ersten Osterfeiertage waren wir (Frau und Kinder) im Kinemato-
graphen, am zweiten zu Hause, am dritten in der Verhandlung“ (des
Sohnes, der eine Peitsche gestohlen hat). — Wünschenswert wäre
eine weitergehende Rücksichtnahme auf das Ehrgefühl erwachsener,
erstmalig bestrafter Personen, als es zur Zeit der Fall ist, so daß
sie alsdann in ähnlicher Weise wie die Jugendlichen behandelt
würden.
Verspricht die Schonung noch vorhandenen wahren Ehrgefühls
ein Streben nach Wiederherstellung der vollkommenen Ehre zum Er¬
folg zu haben, so stößt bei den Gelegenheits- und namentlich bei den
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Psychologie der Verbrecherehre.
275
Gewohnheitsverbrechern, da sie nur ihre Verbrecherehre kennen und
schätzen, der Versuch -einer Höherbildung des Ehrgefühls auf die
größten Schwierigkeiten. Immerhin muß der Versuch gewagt werden.
Geringschätziges Herabsehen einer Verbrechersorte auf die andere ist
zu korrigieren. Alle sind schuldig, haben menschliches und göttliches
Recht mit Füßen getreten. Jeder an seinem Teile hat Veranlassung
genug, ein ehrbarer und sittlicher Mensch zu werden.
Es gilt ihnen zu zeigen: Der Besitz der echten Ehre gewährt
ein edleres und reineres Lustgefühl als die Verbrecherehre. Diese
gründet sich auf unsittliche, jene auf sittliche Werte. Da die Ehre
des einzelnen von der Gemeinschaft abhängt, in der er sich befindet,
so bedeutet die Ehre der Ehrlichen qualitativ und auch quantitativ
mehr als die Verbrecherehre.
Freilich entgegnen die Rechtsbrecher: Es ist uns unmöglich im
Kreise rechtlich denkender Menschen etwas zu gelten. Sobald man
uns kennt, weicht man scheu vor uns zurück. Ehrverlust und Polizei¬
aufsicht versagen uns die Möglichkeit des Emporkommens 1 ). „Wer
einmal das Brot (im Gefängnis) gegessen hat, der ißt es wieder.“
Es ist das teilweise richtig. Jedoch viele wollen nicht und, da
sie es oft nicht wollten, können infolge ihrer Trägheit gar nicht
die ersten Schwierigkeiten überwinden, die sich in den Weg stellen,
wenn sie die Strafanstalt verlassen haben. Gerade der Umstand,
daß es schwer ist, wieder ehrlich und ehrbar zu werden, zeigt ihnen
den höheren Wert sittlicher Ehre und sollte sie reizen, mit starker
Anspannung aller Kräfte an der Wiederherstellung des guten Namens
zu arbeiten. Ist das Unlustgefühl scheinbar vergeblichen Mühens
überwunden, und vermag der, der einst tief gesunken war, wieder
Anspruch auf Achtung zu erheben, so stellt sich ein um so höheres
Lustgefühl ein, ein Kraftgefühl als Lohn redlichen Strebens 2 ).
1) Vgl. die Person Bieglers in Sudermanns „Stein unter Steinen“.
2) Vgl. (z. B. in den Leipziger Neuesten Nachrichten 19C9 Nr. 128) den
Lebenslauf des kürzlich verstorbenen Adjutanten Totlebens Wladislaw von Lands¬
berg. Er wurde infolge Ermordung seines Gläubigers za zwanzigjähriger Zwangs¬
arbeit auf Sachalin verurteilt, kämpfte rühmlich an der Spitze eines aus Zwangs¬
sträflingen von ihm gebildeten Freiwilligenkorps gegen die Japaner und durfte
schließlich heimkehren.
Archiv für Kriminalanthropologie. 35. Bd. 19
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Zeitungsnotizen als Quelle für volkskundliche und
kriminalistische Untersuchungen. 9
Von
Dr. Albert Hellwig (Berlin-Waidmannslust).
Volkskundliche und kriminalistische Abhandlungen und Werke
schöpfen in der Regel entweder aus literarischen Quellen oder aus
unmittelbaren Mitteilungen beteiligter Personen oder auch aus in Ar¬
chiven oder bei den Strafbehörden vorhandenen Akten. Außer aus
diesen Quellen läßt sich aber reiches Material schöpfen für die ver¬
schiedenartigsten kriminalistischen und volkskundlichen Untersuchungen
aus Zeitungsnotizen, was aber noch zu wenig erkannt und methodisch
durchgeführt ist.
1) Anmerkung der Redaktion. — Ich bringe den vorstehenden Auf¬
satz, weil ich weiß, daß die Ansicht des Herrn Verf. von vielen geteilt wird, also
nicht eine vereinzelte Meinung darstellt; ich erkläre aber ausdrücklich, daß ich
die Auffassung des Herrn Verf., nach welcher Zeitungsnotizen d. h. die Nach¬
richten der Tagesblätter für wissenschaftliche Arbeiten direkt verwendet wer¬
den können, durchaus nicht teile. Ich meine, daß all’ Ding auf Erden dazu
verwendet werden soll, wozu es bestimmt ist, sonst wird fehlerhaftes aus der
besten Sache. Zeitungsnotizen haben nur den Zweck, das Publikum zu verstän¬
digen, daß dies und jenes geschehen ist, es zu unterhalten und über den Lauf
der Dinge zu unterrichten. Der Wissenschaft zu dienen beabsichtigt der Zeitungs¬
mann aber gar nicht, ja er wird häufig erstaunt sein, wenn er erfährt, daß seine,
vielleicht gar nicht ganz ernst gemeinte Notiz zur Grundlage einer wissenschaft¬
lichen Auseinandersetzung gemacht worden ist. Deßhalb verüble ich es auch
den Leuten von der Zeitung gar nicht, wenn sie ihre Mitteilungen auf Kosten
der Wahrheit etwas anziehender, interessanter und merkwürdiger gestalten: ihre
Aufgabe ist es, dem Publikum Anregung, Aufklärung und Unterhaltung zu bieten
und wenn sie, statt langweilig zu sein, die Sache etwas lebendiger gestaltet
haben, so dienten sie damit besser ihren Zwecken; aber dadurch wird das von
ihnen Gebrachte doch so gestaltet, daß es für wissenschaftliche Arbeiten nicht
verwendet werden kann, was d\e Journalisten auch gar nicht beabsichtigt haben. —
Ich bin der Letzte, der den unabsehbaren Wert der Tagesblätter und
ihres Materiales verkennt — ich glaube aber, daß sie von der Wissenschaft nur
so benutzt werden dürfen, wie es ihre Natur gestattet d. h. die Notizen, welche
wissenschaftlich verwertet werden wollen dürfennurindirekt, alsoalsAn-
regung für weitere Nachforschungen benutzt werden. So können die
Tagesblätter, richtig verwertet, den größten und durch sonst nichts zu ersetzen¬
den, Nutzen bringen.
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Zeitungsnotizen als Quelle für volkskundl. und kriminalist. Untersuchungen. 277
In den letzten Jahren habe ich wiederholt gelegentlich konkreter
Fälle darzutun versucht, daß Zeitungsberichte, insbesondere über kri¬
minellen Aberglauben, aber auch über die Psychologie der Zeugen-
Findet man also in der Zeitung etwas für sein Fach Wichtiges oder unter
Umstanden Wichtiges, so wird man dies einstweilen notieren, aber nicht sofort
als Unterlage für seine Arbeiten benutzen. Ist die Notiz ganz ohne Quellen¬
angabe oder ohne Andeutung verfaßt, wo man näheres darüber finden könnte,
dann wird sie wahrscheinlich überhaupt nicht viel nutz sein; man kann die Sache
aber im Auge behalten und auf einen Zufall d. h. eine andere Notiz in einem
anderen Blatte warten, die näheres bringt Ist aber die Quelle genannt z. B. ein
wissenschaftliches Blatt, ein Buch, ein Gelehrter, der Versuche anstellt oder eine
Entdeckung gemacht haben soll, ist, wie es ja in unseren Fällen oft vorkommt,
ein Gericht oder eine sonstige Behörde genannt, wird auf Erhebungen oder Ver¬
handlungen hingewiesen, so ist es selbstverständlich, daß man sich das Fachblatt
oder Buch verschafft, daß man sich an den betreffenden Gelehrten, die Behörde,
den Vorsitzenden einer Verhandlung usw. wendet und sich so brauchbares Material
für eine Arbeit schafft. Das Verdienst, die Anregung hierzu gegeben zu haben,
bleibt immer noch die Tageszeitung, in der man die erste Notiz gefunden hat —
wollte man ihr aber mehr als diese Anregung entnommen haben, so hatte man
nicht gewissenhaft gehandelt. — So wird gewiß bei allen übrigen Disziplinen
gehandelt, warum dürften wir Kriminalisten anders vorgehen? Es fällt gewiß
keinem Naturforscher, Historiker, Sprachforscher usw. ein, Zeitungsnotizen gerade¬
wegs für seine Arbeiten zn benützen und jenes Blatt als „Quelle“ zu zitieren;
aber sie alle schöpfen dort Anregungen, fragen und forschen weiter und kommen
dann oft genug zu zitierbaren Quellen und so zu wichtigen Ergebnissen. —
Bei uns Kriminalisten soll es nun anders sein, wir sollen Tagesnachrichten,
insbesondere Berichte über Hauptverhandlungen der Gerichte ohne weiteres be¬
nutzen dürfen, weil sie „zumeist“ richtig sein sollen. Wer diesfalls Erfahrung
besitzt, wird zugeben, daß dieses „zumeist“ einer starken Einschränkung bedarf.
Aber selbst wenn man annimmt, das „Meiste“ dieser Berichte sei richtig, was ists
denn mit dem Übrigen, was zwischen „meistens“ und „immer“ liegt? Und da sich
dies nie äußerlich erkennen läßt, so wird jeder, der Zeitungsberichte benutzt,
immer im Zweifel sein, ob er es mit einer richtigen oder unrichtigen Darstellung
zu tun hat. Und die letzteren, die unrichtigen oder sagen wir besser, die nicht
ganz richtigen, sind so häufig, daß in der allgemeinen, direkten Benutzung sicher¬
lich viel Gefahr liegt.
Freilich wird man zwischen großen und kleinen Blättern zu unterscheiden
haben, aber wo ist die Grenze zwischen einem großen und einem kleinen Blatt,
und sehr oft ist ein kleines Provinzblatt in einem bestimmten Falle besser unter¬
richtet als das erste Blatt der Residenz. Ebenso schwierig ist es mit dem Ver¬
gleichen der Berichte verschiedener Blätter. Stimmen sie überein, so können sie
doch aus einer gemeinsamen trüben Quelle geflossen sein, und stimmen sie nicht
überein, so wird man kaum entscheiden können, welchem Berichte man besser
zu glauben hat. —
In allen Fällen müssen wir aber in Betracht ziehen, daß der Berichterstatter
für den Gerichtssaal nur selten ein juristisch gebildeter Mensch ist, der den Her¬
gang mit wissenschaftlich geschultem Blick verfolgen und wiedergeben kann.
Dann muß bedacht werden, mit welcher Schnelligkeit diese Berichte verfaßt und
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XII. Albekt Hellwig
aussage usw. im allgemeinen durchaus zuverlässig sind und eine
brauchbare Quelle abgeben, wenn anders man sie mit der nötigen
Vorsicht prüft i). Ich habe auch schon des öfteren eine genauere
Untersuchung über die Bedeutung der Zeitungsnotizen für wissen¬
schaftliche Untersuchungen in Aussicht gestellt.
Auch andere Forscher, besonders in den letzten Jahren, stützten
sich vielfach mehr oder minder auf Zeitungsberichte, die mitunter ihre
einzige Quelle bilden. Um wenigstens einige Beispiele anzuführen, so
gedruckt werden müssen, so daß zu einer Überlegung keine Zeit bleibt: spät
abends wird oft die Verhandlung geschlossen und am Morgen sollen die Leser
den Bericht gedruckt erhalten. Ich gestehe, daß ich sehr oft diese Leute, welche
einen, auch komplizierten Fall in unglaublich kurzer Zeit ziemlich richtig dar¬
gestellt haben, von Herzen bewundert habe. Aber mehr, namentlich so tadel¬
lose Berichte, daß sie wissenschaftlich benützt werden dürfen, kann man von den
Reportern gerechterweise nicht verlangen.
Nun darf man aber auch nicht übersehen, daß Verhandlungsberichte nur
ausnahmsweise stenographische, also vollständige Wiedergaben sind, in der Regel
stellen sie Auszüge vor. Einen solchen richtig zu machen, ist immer schwierig
und meistens versteht dies nur der geübte Fachmann. Im Weglassen besteht
aber die Kunst und nur wenn sorgfältig weggelassen wurde, was wegzulassen
ist, gibt auch ein Auszug den richtigen Eindruck. Dieses richtige Kürzen ver¬
stehen aber die Wenigsten. Ich habe unzählige Male Zeitungsberichte über Pro¬
zesse gelesen, die ich genau kannte, weil ich als Staatsanwalt oder Vorsitzender
fungiert hatte. Auch bei wiederholtem Durchlesen vermochte ich nicht die ge¬
ringsten Unrichtigkeiten in der Wiedergabe zu entdecken, und doch war der Ge¬
samteindruck ein völlig anderer als der. den die Verhandlung gegeben hatte:
man konnte z. B. den Schuldspruch oder die Freisprechung nicht begreifen, ob¬
wohl sich das Urteil bei der Verhandlung von selbst ergeben hatte. Der Grund
dieser Erscheinung liegt regelmäßig in den Weglassungen und Kür¬
zungen des Berichtes, der entweder die ganze Aussage einiger Zeugen ver¬
schwiegen oder irgend welche Angaben nur formell richtig gekürzt hatte. Der
Reporter hatte eben überhaupt unrichtig aufgefaßt, was wichtig und was un¬
wichtig ist, oder er hatte das nur in der Eile getan und hätte korrekt unter¬
schieden, wenn er mehr Zeit gehabt hätte und nicht gezwungen gewesen wäre
in so nervöser Hast seine Arbeit fertigzustellen. Daß aber bei unrichtigen Aus¬
lassungen und Kürzungen das Wichtigste und namentlich das psychologische Mo¬
ment den größten Schaden leidet, braucht nicht gesagt zu werden. —
Ich wiederhole: Zeitungsnotizen haben für uns den größten Wert, weil sie uns
darauf aufmerksam machen, wo wir wichtige Daten finden können — aber ihre direkte
Benutzung ist für uns Kriminalisten ebenso gefährlich und daher auszuschließen wie
für Leute jeder anderen wissenschaftlichen Disziplin. Hans Groß.
1) Vgl. insbesondere meine Aufsätze „Ein neunfacher Kindermord zum Zwecke
des Schätzehebens“ (Groß’ Archiv 24, S. 125ff.). „Eigenartige Verbrechertalis¬
mane“ (ebenda, Bd. 25 S. 76 ff), „Einige merkwürdige Fälle von Irrtum über die
Identita von Sachen oder Personen“ (ebenda Bd. 27, S. 352 ff), „Die Freimaurer
im Volksglauben; kriminalistische Beiträge zur Volkskunde“ („Mitteilungen d.
schlesischen Ges. f. Volkskunde, Heft 19, Breslau 1908, S. 72/78).
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Zeitungsnotizen als Quelle für volkskundl. und kriminalist Untersuchungen. 279
sei erwähnt, daß P. Schmidt aus einez Anzahl von Tageszeitungen
Notizen über den Alkoholgenuß oder durch Alkoholverbrechen Ge¬
storbene gesammelt und sodann verarbeitet hat, daß Deutsch 200
Kinderselbstmorde nach Zeitungsberichten zusammengestellt und eine
Statistik der Ursachen gebracht hati). Freiherr von Schrenck-Notzing
hat verschiedentlich aus Zeitungen ausführliche Berichte über Pro¬
zesse, in denen er als Sachverständiger mitgewirkt hat, zusammen¬
gestellt und wissenschaftlich verarbeitet, so insbesondere anch den
bekannten Berchthold-Prozeß 1 2 ). In dem Fall Roas, in dem er gleich¬
falls als Sachverständiger mitwirkte, hat er mich auf die Berichte der
Augsburger Abendzeitung über diesen Prozeß verwiesen, die durch¬
aus zuverlässig seien 3 ). In volkskundlichen Zeitschriften, so in der
Zeitschrift des Vereins für Volkskunde, in der Zeitschrift für Öster¬
reichische Volkskunde, in den Ethnologischen Mitteilungen aus Ungarn,
in der Zeitschrift des Vereins für Rheinische und Westfälische Volks¬
kunde usw. finden sich sehr häufig Zeitungsnotizen über volkskund¬
liche Vorfälle angeführt. Neuerdings hat auch Kaindl aus österreichi¬
schen Blättern eine Anzahl von Berichten über Gerichtsverhandlungen
in der Bukowina, in denen krimineller Aberglaube zur Sprache kam,
gesammelt und zu einer kleinen Abhandlung verarbeitet 4 ).
Alle diese und manche andere derartige Abhandlungen benutzen
die Zeitungsnotizen nicht systematisch und mitunter nicht mit der nötigen
Kritik. Während die meisten Juristen den Zeitungsberichten ein zu
großes Mißtrauen entgegenbringen, indem sie annehmen, daß sie unter
keinen Umständen ohne aktenraäßige Nachprüfung für glaubwürdig
erachtet werden können, verfallen andere Forscher in den entgegen¬
gesetzten Fehler, daß sie ohne weiteres das in der Zeitung Berichtete
1) P. Schmidt, „Ein Beitrag zur Kriminalstatistik. Das Totenfeld des
Alkoholismus im Deutschen Reiche im Jahre 1903“ („Der Alkoholismus“ Heft 1,
1904, S. 42 ff.)
2) v. Schrenck-Notzing, „Über Suggestion und Erinnerungsfälschung im
Berchthold-Prozeß“ (Leipzig 1897), auch erschienen in der „Zeitschr. f. Hypnotismus“.
3) Diesen Prozeß werde ich nächstens bearbeiten, zusammen mit einigen anderen
Mordprozessen, in denen eine Wahrsagerin eine verhängnisvolle Rolle gespielt hat
4) Kaindl, „Beiträge zur Volkskunde des Ostkarpathengebiets“ in der Zeit¬
schrift des Vereins für Volkskunde“, Bd. 18 (Berlin 1908) S. 92 ff. — Vgl. ferner
das Vorwort von Sello „Die Hau-Prozesse und ihre Lehren“ (Berlin 1908),
Deutsch „Über Kinderselbstmorde“ („Archiv für Kinderheilkunde“ Bd. 38
S. 37ff.), Reichel in Groß’ Archiv 34 S. 125f., Näcke ebendort Bd. 33 S. 367,
Ortiz „Los negros brujos“ (Madrid 1906) S. 343ff., J. G. Droysen „Die
Zeitungen im ersten Jahrzehnt Friedrichs des Großen. Ein Beitrag zur Quellen¬
kritik“ („Zeitschrift für preußische Geschichte und Landeskunde“ S. 1 ff.), zitiert
bei Gusti „Die Grundbegriffe des Preßrechts“ (Berlin 1909) S. 19 Anm. 1.
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XII. Albert Hellwig
als wahr unterstellen, ohne erst im einzelnen Fall geprüft zu haben,
ob und aus welchen Gründen der betreffende 'Bericht Glauben ver¬
dient. Damit soll durchaus nicht gesagt werden, daß diejenigen Ab¬
handlungen, insbesondere diejenigen über kriminellen Aberglauben,
die ohne derartige Kritik aus Zeitungsberichten schöpfen, nicht brauch¬
bar sind; es kann vielmehr im Gegenteil festgestellt werden, daß man auch
bei gehöriger Prüfung jene Zeitungsnotizen als Quelle hätte verwerten
können, sodaß jene Forscher unbewußt das Richtige getroffen haben.
Um aber diese durch die moderne Entwickelung des Zeitungs¬
wesens gebotene überaus wertvolle und reichhaltige Quelle bewußt be¬
nutzen zu können, muß man sich über die Bedeutung und Zuver¬
lässigkeit der Zeitungsberichte klar werden. Nachdem ich hierauf
schon verschiedentlich hingewiesen hatte, hat neuerdings, wie ich
glaube, als erster, sich Staatsanwalt Dr. Wulffen in dem Vorwort zu
seiner hervorragenden Psychologie des Verbrechers in ähnlicher Weise
geäußert. Er benutzt dort in zahlreichen Fällen Zeitungsnotizen als
Belege bezw. Unterlage für seine Darlegungen. Weil eben eine der¬
artige Benutzung von Zeitungsnotizen in kriminalistischen Untersuch¬
ungen leider noch allzu selten vorkommt, glaubte Dr. Wulffen in dem
Vorwort zu seinem Buche dies besonders rechtfertigen zu müssen.
Zur Begründung führt er folgendes an: Bei der Aufnahme von Ma¬
terial aus der modernen Tagespresse müsse selbstverständlich vorsichtig
verfahren werden. Er habe übrigens bei seinem jahrelangen sorgfältigen
Studien der Preßberichte über größere Strafprozesse gefunden, daß
in solchen Fällen die Berichterstattung in großen Zügen sehr wohl das
richtige Bild vom Angeklagten und den wichtigsten Zeugen gebe.
„Natürlich darf man sich nur an die Originalberichte der führen¬
den Zeitungen und nicht an die Verstümmelungen der Provinzpresse
halten. Man muß, wie ich es im Falle Hau getan habe, nötigenfalls
auch mehrere aus verschiedenen Urquellen fließende Berichte ver¬
gleichen und zusammenstellen, um den richtigen oder annähernd rich¬
tigen Eindruck zu erhalten. Während die Berichte der Lokalpresse
über die täglichen Verhandlungen bekanntlich zufolge der geringen
Qualifikation der Berichterstatter und bei der Kürze der Verhandlung
selbst, in der auch die Richter das Innere des Angeklagten dürftig
erschließen, weniger zuverlässig und psychologisch ergiebig sind, ob¬
schon sie sehr wohl irgend eine hervorstechende Charaktereigenschaft,
einen Affekt oder ein Motiv zutreffend beleuchten können — nur in
diesem Sinne habe ich sie verwertet —, sind anderseits die Bericht¬
erstatter in den Sensationsprozessen besser qualifiziert, und die breitere
Verhandlung selbst ist vor allem dazu angetan, das Getriebe der
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Zeitungsnotizen als Quelle für volkskundl. und kriminalist. Untersuchungen. 281
Motive und die Psychologie der Hauptpersonen besser zu veranschau¬
lichen. Ich habe die Zuverlässigkeit der Preßberichte von Sensations¬
prozessen in den großen entscheidenden Zügen auch an Fällen nach¬
prüfen können, die in der kriminalistischen Literatur aktenmäßig be¬
arbeitet vorliegen. Vor allen Dingen aber befand ich mich, bei der
Unmöglichkeit, selbst alle diese Prozesse aktenmäßig zu bearbeiten,
in der Zwangslage, die Preßberichte nicht entbehren zu können. Und
noch eins wollen wir nicht vergessen.“
„Vorläufig sind die Berichte der Presse über die großen Strafprozesse
das einzige Material, aus dem die Gegenwart und vielfach auch die Nach¬
welt ihre Kenntnisse von den tatsächlichen Ereignissen und den pro¬
zessualen Vorgängen schöpfen kann. Wie wenige der großen Prozesse
werden von Fachmännern aktenmäßig behandelt. Der Staat und die
Behörden kümmern sich hierum gar nicht Das Material liegt in den
Akten vergraben, die nach 30 Jahren vernichtet werden. Bei Schwur¬
gerichtsverhandlungen, wie im Falle Hau, liegt übrigens das in der
Hauptverhandlung aufgerollte Material nicht einmal in den Akten, da
ja die Schwurgerichtsprotokolle die Aussagen der Zeugen nicht wie¬
dergeben und auch das Urteil hierüber gar keine Auskunft gibt. So
sehr ich die Berichterstattung der Tagespresse, soweit sie sensationell
gefärbt ist, bekämpft wissen möchte, so rückhaltlos erkenne ich doch
an, daß mit ihrer Berichterstattung die Presse eine Kulturaufgabe er¬
füllt, die ihr vorläufig niemand abnimmt. Wenn die Gerichtsakten
lange vernichtet sind, können die Berichte der führenden Zeitungen
noch Auskunft geben“ 1 )-
Wenngleich ich diesen Ausführungen, wie sich weiter unten er¬
geben wird, nicht in allen Punkten völlig beipflichten kann und
wenngleich anderseits diese Bemerkungen nicht vollständig genug sind,
so darf doch anderseits mit Genugtuung festgestellt werden, daß auch
Dr. Wulffen einmal den unschätzbaren Wert von Zeitungsnotizen für
kriminalpsycbologische Forschungen erkannt und anderseits bei akten¬
mäßiger Nachprüfung gefunden hat, daß die Zeitungsberichte in der
Regel ein im allgemeinen zutreffendes Bild geben, also zuverlässig sind.
Wenn man von der Zuverlässigkeit von Zeitungsberichten über
kriminalistische Tatsachen handeln will, so muß meines Erachtens
unterschieden werden, ob es sich um Berichte über Gerichtsverhand¬
lungen handelt oder ob es nur Vorberichte sind.
Dr. Wulffen und andere stützen sich nur oder doch vorwiegend
auf Zeitungsberichte über Gerichtsverhandlungen. Und damit tun sie
1) Erich Wulffen, „Psychologie des Verbrechers“ Bd. I (Groß-Lichterfelde
Ost 1908), Vorwort S. XX f.
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XII. Albert Hrllwig
gut, denn gerade die Vorbericbte, bei denen die Journalisten auf mehr
oder minder unzuverlässige Quellen sowie auf Kombinationen ange¬
wiesen sind, haben die Zeitungsberichte, wie mir scheint, in schlechten
Ruf gebracht.
Unter derartigen Vorberichten verstehe ich alle Ausführungen
über kriminalistisch interessante Tatsachen, die noch nicht Gegenstand
einer öffentlichen Gerichtsverhandlung gewesen sind. Hierher gehören
einmal alle Berichte über Vorfälle, die überhaupt nicht Gegenstand
eines Strafverfahrens geworden sind, sodann die bei schwebendem
Strafverfahren vor der Hauptverhandlung, also im Stadium des
staatsanwaltschaftlichen Ermittelungsverfahrens bezw. der Vorunter¬
suchung veröffentlichten Nachrichten. Ich will durchaus nicht be¬
streiten, daß auch diese Zeitungsberichte durchaus zutreffend sein
können, doch muß dies in jedem einzelnen Fall besonders nachgeprüft
und festgestellt werden. In meiner Abhandlung über. Rekognitions-
irrtümer habe ich dafür mehrere Beispiele angeführt: Den Braun¬
schweiger, Hamburger und Berliner Fall 1 ), ln diesen Fällen hat
sich also die Zeitungsnotiz als in den Grundzügen durchaus richtig
herausgestellt. Andere Erfahrungen zeigen aber, daß man sich davor
hüten muß, derartige Vorberichte ohne weiteres als zuverlässige Quelle
anzusehen. Ich denke da insbesondere an die von Zeit zu Zeit in
den Zeitungen wiederkehrenden Berichte über angebliche Fälle von
Scheintod, die sich, so weit sie nacbgeprüft werden konnten, bisher
noch immer als phantastische Berichte dargestellt haben, sowie an
die gleichfalls häufigen Notizen über angeblichen Kinderraub durch
Zigeuner. Was insbesondere den angeblichen Kinderraub durch
Zigeuner betrifft, an den das Volk mit ebensolcher Zähigkeit glaubt,
wie an den Ritualmord der Juden, so führt schon Löwenstimm dieses
Delikt unter den „Vermeintlichen Verbrechen“ an und konstatiert,
daß die Praxis der zeitgenössischen Gerichte nicht einen einzigen Fall
dieser Art aufzuweisen vermöge 2 ). Dasselbe hat verschiedentlich Hans
Groß betont, der sich die Mühe nicht hat verdrießen lassen, schon
seit Jahren bei jedem Fall, von dem er in den Zeitungen las, an zu¬
ständiger Stelle Nachforschungen anzustellen. Doch hat er dabei,
wie er mir seinerzeit schrieb, stets gefunden, daß das geraubte Kind
eine „Ente“ war. 3 ) Wie weit verbreitet der Glaube an den kinder-
1) Groß Archiv 27 S. 352ff.
2) Aug. Löwenstimm ,,Aberglaube und Strafrecht“ (Berlin 1896) S. 196f.
3) Hans Groß .,Handbuch für Untersuchungsrichter“, 5te Aufl. (München
1908) S. 450.
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Zeitungsnotizen als Quelle für volkskundl. und kmninalist Untersuchungen. 283
raubenden Zigeuner ist, und auf welche Weise die irrtümlichen
Zeitungsberichte über Kinderraub entstehen, zeigt besonders schön der
von Kriminalinspektor Homrighausen dargestellte Fall der kleinen
Else Kassel, die, wie später festgestellt wurde, ermordet worden war.
Bevor es gelang, den Leichnam der Ermordeten aufzufinden, erhielt
die Kriminalpolizei in Hannover, welche zur Aufklärung des damals
noch rätselhaften Verschwindens der Else Kassel eine staunenswerte
Tätigkeit entwickelte, in den Jahren 1901 bis 1904 aus allen Teilen
Deutschlands, ja selbst aus dem Ausland, Dutzende von Nachrichten,
nach denen bei einem Zigeunertrupp ein blondes Kind gesehen sein
sollte, in dem man die Else Kassel vermutete oder gar mit Be¬
stimmtheit erkennen zu können glaubte.') Wir müssen also Löwen-
stimm und Groß Recht geben, daß ein aktenmäßiger Fall von Kinder¬
raub durch Zigeuner nicht festgestellt ist. Trotzdem bin ich freilich
der Ansicht — was hier nicht näher zu begründen ist 2 ) — daß dieser
weitverbreitete Volksglaube möglicherweise doch einen realen Hinter¬
grund hat. Jedenfalls ist aber wirklich festgestellt, daß die Zeitungs¬
berichte über Kinderraub durch Zigeuner, wenn auch nicht zutreffend
und das Vorkommen eines derartigen Deliktes beweisend, doch meistens
nicht jeder Grundlage entbehren, vielmehr nur ein tatsächliches Vor¬
kommnis falsch deuten oder unrichtig wiedergeben. Ähnlich dürfte
es sein bei den Berichten über angebliche Fälle von Scheintod und
ähnliches. Nicht anders verhält es sich mit den Zeitungsberichten
über Strafverfahren, solange sie noch im Vorverfahren sich befinden.
Da das Vorverfahren nicht öffentlich ist, sind die Zeitungen, die ins¬
besondere bei sensationellen Fällen auch schon vor der Hauptverhand¬
lung bemüht sind, möglichst ausführliche Nachrichten über die Person
des Beschuldigten und seine Tat zu bringen, auf Bekundungen der
Verwandten und des Verteidigers des Beschuldigten sowie auf die
Berichte der von strebsamen Journalisten eigenmächtig vernommenen
Tatzeugen, auf Auskünfte subalterner Gerichtsbeamten und ähnliche
trübe Quellen angewiesen, welche selbstverständlich nicht im geringsten
geeignet sind, auch nur ein annähernd richtiges Bild von dem tatsäch¬
lichen Sachverhalt zu geben. Diese Berichte haben freilich so gut
wie keinerlei Wert für volkskundliche oder kriminalpsychologische
Untersuchungen, höchstens in der Art, daß sie einen treffenden Beleg
für die ungünstige Wirkung sensationslustiger Zeitungsberichte geben
1) Homrighausen in H. Groß Archiv Bd. XXII. p. 49.
2) Vgl. vorläufig mein Buch über „Verbrechen nnd Aberglaube 1 (Leipzig
1908) § 15.
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XII. Albert Hellwig
und dem Gesetzgeber nahe legen, eine derartige Tätigkeit der Presse
nach Möglichkeit zu beschränken 1 ).
Während also den Vorberichten nur ein recht bedingter Wert für
wissenschaftliehe Untersuchungen zukommt, dürfen Berichte über Ge¬
richtsverhandlungen im allgemeinen als eine zuverlässige, brauchbare
Quelle betrachtet werden.
Derartige Zeitungsberichte lassen sich bezüglich der Erforschung
kriminellen Aberglaubens — übrigens auch bei anderen kriminalisti¬
schen oder volkskundlichen Problemen — in dreierlei Art verwerten:
Einmal als mittelbare Quelle, um durch ihre Vermittelung Akten zu
erlangen und dann den Fall aktenmäßig darzustellen; ferner als un¬
mittelbare Quelle neben dem Akteninhalt; endlich als ausschließliche
Quelle anstatt der nicht zugänglichen Akten.
Was die erste Art der Benutzung betrifft, nämlich die Verwertung
der Zeitungsnotizen als Anhalt für die Aktenermittelung, so liegt dies
sehr nahe und wird doch, wie mir scheint, nur sehr selten getan.
Es wäre aber wünschenswert, daß mindestens bei allen irgendwie
interessanten Fällen der Volksforscher oder Kriminalist sich nicht
mit der Zeitungsnotiz begnügt, sondern danach trachtet, die Tatsachen
aktenmäßig nachzuprüfen und eventuell zu berichtigen oder zu er¬
gänzen. Daß dies nicht geschieht, ist um so bedauerlicher, als die
Akten nach einer Reihe von Jahren, spätestens nach 30 Jahren, ver¬
nichtet werden, falls nicht ein Zufall sie davor bewahrt. Es bestehen
zwar Bestimmungen darüber, daß kulturhistorisch interessante Akten
nicht vernichtet werden, sondern den Archiven überwiesen werden
sollen, wenigstens in Österreich und Preußen 2 ). Trotzdem aber diese
Bestimmungen mehrfach von neuem eingeschärft worden sind, habe
ich in den zahlreichen Akten über kriminellen Aberglauben, die ich
bisher durchgearbeitet habe, noch niemals eine Verfügung dieses In¬
halts gefunden. Und doch gehören die Fälle kriminellen Aberglaubens
zweifellos zu den kulturhistorisch interessanten Fällen. Es wäre so¬
gar wünschenswert, wenn die bestehenden Bestimmungen noch er¬
weitert und die Gerichte ermächtigt und angewiesen würden, auch
sonstige kriminalpsychologisch wertvolle Akten nicht vernichten
zu lassen, sondern den Staatsarchiven, dem Kriminalmuseum, dem
kriminalistischen Institut oder einer sonstigen bestimmten Anstalt zu
1) Über das leider nur allzu aktuelle Thema „Schauerlektüre und Verbrechen“
habe ich zahlreiche Materialien gesammelt, die ich demnächst im Zusammenhang
veröffentlichen werde.
2) Vgl. meine Skizze „Dürfen Akten über kriminellen Aberglauben vernich¬
tet werden?“ in dem „Gerichtssaal“ Bd. 70 S. 429ff.
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Zeitungsnotizen als Quelle für volkskundl. und kriminalist. Untersuchungen. 285
überweisen. Solange freilich unsere Richter und Staatsanwälte mit
den Aufgaben der modernen Kriminalistik noch nicht genügend ver¬
traut sind, werden alle derartigen Bestimmungen im wesentlichen nur
auf dem Papiere stehen. Deshalb ist es erforderlich, daß jeder Kri¬
minalpsychologe danach trachtet, wenigstens diejenigen ihn besonders
interessierende Fälle, von denen er erfährt, aktenmäßig bearbeitet oder
sich mindestens eine Abschrift des Urteils anfertigen läßt. Einem
entsprechenden Wunsche meinerseits ist von zahlreichen Gerichten und
Staatsanwaltschaften der meisten deutschen Bundesstaaten anstandslos
entsprochen worden *), nur wenige glaubten sich nicht befugt, einem
derartigen Ersuchen zu willfahren. Findet man nun bei der Prüfung
der Akten, daß entweder der Zeitungsbericht falsch oder ungenau ist
oder nichts weiter enthält, als was in den Akten steht, so genügt es
für die endgültige Darstellung des Falles, wenn nur der Akteninhalt
vorgetragen, die Zeitungsnotiz aber nicht mehr berücksichtigt wird.
Höchstens wäre es vom methodologischen Standpunkte aus interessant
zu erfahren, ob und in welcher Weise die Zeitungsnotiz den Tatsachen
entsprochen hat oder nicht.
Von noch größerer Bedeutung ist der Wert von Zeitungsnotizen
neben der aktenmäßigen Darstellung. Das Aktenmäßige ergibt doch
immer nur ein dürres Gerippe des tatsächlichen Vorganges, ins¬
besondere bei sensationellen oder sonst irgend wie interessanten Fällen.
Das Ideal wäre freilich, daß ein an der Verhandlung teilnehmender
Richter oder Staatsanwalt, der den ganzen Stoff sowohl aktenmäßig
beherrscht, als auch die tatsächliche Gestaltung in der Hauptverhand¬
lung in allen ihren Einzelheiten selbst wahrgenommen hat, den Prozeß
selber darstellt. In den meisten Fällen wird dies aber ein frommer
Wunsch bleiben, da nur wenige Praktiker die nötige Muße und vor
allem das erforderliche Interesse haben, derartige Fälle wissenschaft¬
lich darzustellen. Deshalb werden wir, um den Akteninhalt wenig¬
stens etwas zu beleben, in den meisten Fällen auf ergänzende Zeitungs¬
berichte über die Verhandlungen angewiesen sein. Wenn dann
Zeitungsbericht und Akteninhalt nicht vollkommen übereinstimmen,
indem in der Zeitungsnotiz manches Detail erwähnt ist, das sich akten¬
mäßig nicht erweisen läßt, so ist damit noch keineswegs gesagt, daß
es nicht als festgestellt gelten kann. Gilt schon nach unserer Straf¬
prozeßordnung nicht mehr der Grundsatz „quod non est in actis,
non est in mundo“, so gilt dieser Satz erst recht nicht für die moderne
Wissenschaft. Was in den Akten steht, insbesondere was in den Urteils-
ll ln Bayern ist in jedem Fall Genehmigung des Justizministeriums erfor¬
derlich
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Xll. Albebt Hellwig
gründen festgestellt ist, bat zwar einen höheren Grad von Glaub¬
würdigkeit, mehr aber auch nicht. Gar manches Moment, das psy¬
chologisch oder volkskundlich interessant ist, findet in den Urteils¬
gründen keine Erwähnung, weil entweder der das Urteil absetzende
Richter kein Verständnis für derartige Fragen hat oder auch weil
dies Moment für die Entscheidung irrelevant war. Deshalb werden
ergänzende Zeitungsberichte wohl auf absehbare Zeit hinaus eine un¬
entbehrliche oder doch mindestens sehr schätzbare Quelle neben dem
Akteninhalt bleiben.
Womöglich noch wichtiger ist die Bedeutung der Zeitungsnotizen
als wissenschaftliche Quelle in denjenigen Fällen, in welchen Akten¬
mäßiges sich nicht ermitteln läßt oder nicht besteht. Hier sind die
Zeitungsnotizen also ausschließliche Quelle für irgend ein interessantes
Faktum, welches sonst der wissenschaftlichen Forschung verloren
ginge. Diese Fälle sind überaus häufig. Hierher gehören einmal
Vorkommnisse, die überhaupt zu keiner Anzeige, infolgedessen nicht
zur Einleitung eines Strafverfahrens geführt haben, wie dies beispiels¬
weise bei Kurpfuschereien, bei Beleidigung durch Bezichtigung der
Hexerei und ähnlichem oft vorkommt. Auch gehören hierher die
vielen Fälle, in denen zwar ein Ermittelungsverfahren eingeleitet
worden ist, eine Hauptverhandlung aber nicht stattgefunden hat,
entweder weil der Täter unzurechnungsfähig war oder weil der
Täter unbekannt geblieben ist oder es doch verstanden bat, sich
der Verfolgung zu entziehen. In solchen Fällen, wo die Straftat
noch nicht gesühnt ist, wird von den Gerichts- und Polizeibehörden
regelmäßig die Einsicht in die Akten verweigert. Deshalb waren
mir beispielsweise die Akten über den Fall Andersen *) sowie über
den Mord bei Lindau am Bodensee 2 ) nicht zugänglich. Aber auch
in zahlreichen Fällen, welche zu einem Hauptverfahren geführt und
mit der Freisprechung oder Verurteilung des Täters geendet haben,
ist es vielfach nicht möglich die Akten zu erhalten und auf diese
Weise die Angaben der Zeitungen aktenmäßig nachzuprüfen. Ein¬
mal ist dies der Fall bei allen Prozessen, wenigstens in der Regel,
die im Auslande stattgefunden haben. Durch ganz besonderes Ent¬
gegenkommen des K. K. Justizministers ist mir allerdings die Be¬
nutzung österreichischer Akten ermöglicht worden; auch habe ich
von dem Baseler Staatsarchiv ältere Akten über kriminellen Aber¬
glauben erhalten. Doch das sind nur Ausnahmen. In der Regel
1) Vgl. meine Skizze „Fall Andersen (1878) kein Mord aus Aberglauben -1
(Groß Archiv 22 S. 69f.) 2) Vgl. mein zitiertes Buch S. 71.
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Zeitungsnotizen als Quelle für volkskundl. und kriminalist. Untersuchungen. 287
wird jeder Gelehrte im günstigsten Falle nur darauf rechnen können,
die Gerichtsakten seines Landes zur Einsicht zu erhalten. Ich sage,
im günstigsten Falle, denn mitunter kommt es vor, daß Richter oder
Staatsanwälte sich nicht für befugt halten, die Akten dritten Personen
zugänglich zu machen, selbst nicht zu wissenschaftlichen Zwecken.
So wird es also zahlreiche Fälle geben, in denen der Forscher auf
die Zeitungsnotizen als ausschließliche Quelle angewiesen ist. So¬
weit es sich hierbei um Vorberichte handelt, gilt das, was wir oben
hierüber bemerkt haben. Man muß sich aber stets gegenwärtig
halten, daß man auch in diesen Fällen die Notizen durchaus nicht
ohne weiteres für unzuverlässig halten darf; man muß sich vielmehr
bemühen, da Akteneinsicht nicht möglich ist, auf andere Weise die
Glaubwürdigkeit der Berichte festzustellen. Dies kann einmal da¬
durch geschehen, daß man bei amtlichen Personen, die sich mit der
Sache befaßt haben oder welchen die Angelegenheit sonst bekannt sein
wird, erkundigt, etwa unter gleichzeitiger Einsendung einer Abschrift der
betreffenden Zeitungsnotiz und unter Angabe des Grundes, weshalb man
an dem Vorfall Interesse nimmt Dieses Verfahren habe ich beispiels¬
weise häufig eingeschlagen in den Fällen von angeblichem Kinder¬
raub durch Zigeuner, ferner bei dem Hostienraub zu Zürieh *), in
dem Fall Andersen und in anderen Fällen. Fast immer habe ich
auch liebenswürdige Auskunft erhalten. Als derartige Auskunfts¬
personen kommen vor allem in Betracht die betreffenden zuständigen
Gerichte und Polizeibehörden, die Gendarmerie, Bürgermeister und
Gemeindevorsteher, Geistliche und Ärzte des betreffenden Ortes. Dies
Verfahren wird man vielfach auch da anwenden können, wo Ge¬
richte oder Staatsanwaltschaft sich nicht für befugt halten zur Über¬
sendung der Akten. Sendet man ihnen dann den betreffenden Zei¬
tungsausschnitt im Original oder in Abschrift, mit der Bitte um freund¬
liche Mitteilung, ob der Sachverhalt richtig geschildert worden ist,
so wird man in den meisten Fällen auch entsprechende freundliche
Auskunft erhalten.
Immerhin bleiben dann aber noch eine ganze Reihe von Fällen,
in denen dies Verfahren nicht möglich ist oder zu keinem Resultat
führt, namentlich die ausländischen Prozesse. Hier ließe sich nur
Abhilfe schaffen, wenn in jedem Land eine Reihe von Gelehrten
wären, welche es sich zur Aufgabe gestellt haben, die kriminalpsy¬
chologisch oder volkskundlich interessanten Geriehtsakten systematisch
zu bearbeiten. Wenn diese Gelehrten untereinander in Beziehungen
1) Vgl. meinen Aufsatz über „Hostiendiebstähle in der Schweiz“ („Schwei¬
zerisches Archiv für Volkskunde“ Bd. 12 S. 143 ff.).
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XII. Albert Hellwig
treten und jedem die ihn interessierenden Aktenauszüge mitteilen
würden, ließe sich vielleicht ein annähernd idealer Zustand schaffen.
Zurzeit sind wir aber davon noch weit entfernt. Wir müssen also
damit rechnen, daß wir in vielen wichtigen Fällen weder durch
Akteneinsicht noch durch Auskunft glaubwürdiger Amtspersonen den
Zeitungsbericht nacbprüfen können. In diesen Fällen erhebt sich die
Frage, wie man sich derartigen unbeglaubigten Zeitungsberichten
gegenüber zu verhalten hat. Soll man sie als bare Münze hinnehmen,
oder soll man sie überhaupt nicht verwerten, weil die Möglichkeit
eines Irrtums nicht ausgeschlossen ist? Die Wahrheit liegt, glaube
ich, auch hier in der Mitte: Selbstverständlich darf man sich diese
wichtige Quelle nicht entgehen lassen, andrerseits aber muß man,
bevor man sie als Material verwertet prüfen, ob sie auch glaub¬
würdig ist. Wie schon oben bemerkt, sind die Zeitungsberichte über
Gerichtsverhandlungen in der Regel selbst über Einzelheiten durch¬
aus glaubwürdig. Dies genügt aber natürlich nicht um die Authen¬
tizität einer Nachricht zu verbürgen; wir müssen vielmehr auf Grund
der sonst bekannten volkskundlichen Materialien im einzelnen Falle
nachprüfen, ob sich der Fall so, wie er geschildert ist, aller Wahr¬
scheinlichkeit nach wenigstens hätte ereignen können. Dies ist na¬
türlich dann ohne weiteres der Fall, wenn die volkstümlichen An¬
schauungen, die dem Vorfall zugrunde liegen, auch sonst schon be¬
kannt sind. Nehmen wir beispielsweise an, wir lesen von einer
Leichenschändung infolge Vampyrglauben, von der Mißhandlung einer
Hexe, von der Prozedur mit Erbschlüssel und Erbbibel, um einen
Dieb zu entdecken oder ähnliches, so werden wir in diesen Fällen
kein Bedenken tragen, der Zeitungsnotiz Glauben zu schenken, denn
die geschilderten Aberglaubenskomplexe sind allgemein bekannt und
die geschilderten Strafprozesse haben in zahlreichen anderen akten¬
mäßig feststehenden vollkommene Parallelen. Hinzu kommt ferner,
daß es sich in der Regel nm einfache Aberglaubenskomplexe handelt
wie Hexenglauben, Sympathiekuren, Wahrsagen und ähnliches, die
auch dem volkskundlich nichtgeschulten Journalisten geläufig sind,
über die er daher fähig ist, sinngemäß zu berichten, wenn sie Gegen¬
stand einer öffentlichen Gerichtsverhandlung gewesen sind. Schwie¬
riger ist die Nachprüfung in denjenigen Fällen, in welchen es nicht
gelingt, die geschilderten Tatsachen durch parallele feststehende Vor¬
fälle zu erhärten. Auch in diesen Fällen liegt bei weitem nicht
immer eine lediglich der Phantasie des Berichterstatters entsprungene
Schilderung oder ein von ihm mißverstandener und daher falsch dar¬
gestellter Vorgang zugrunde, vielmehr muß man sich einmal gegen-
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Zeitungsnotizen als Quelle für volkskundl. und kriminalist. Untersuchungen. 289
wärtig halten, daß bei weitem noch nicht alle Erscheinungsformen,
des Aberglaubens in ihren Details bekannt sind, ferner daß manch¬
mal abergläubische Vorstellungen, die wohl vor Jahrhunderten gang
und gäbe waren, jetzt aber ausgestorben zu sein schienen, doch)
wieder aktuell werden und dann dem Forscher mitunter unbekannt
sind, und schließlich muß man auch daran denken, daß der Aber¬
glaube durchaus nichts ein für allemal Feststehendes ist, daß er viel¬
mehr in seiner Gestaltung gar mannigfach im Laufe der Zeiten sich
ändert, ja daß sich geradezu neue Erscheinungsformen des Aber¬
glaubens bilden. Daß noch nicht alle Einzelheiten abergläubischer
Vorstellungen bekannt sind, ergibt die Veröffentlichung fast jeder
neuen Sammlung von abergläubischen Sitten und Gebräuchen; fast
immer wird selbst der Fachmann hier und da etwas Neues finden.
Dafür, daß abergläubische Vorstellungen, die früher bekannt waren,
jetzt nur noch selten Vorkommen und daher den Verdacht erwecken
können, daß die betreffende Notiz nicht richtig ist, habe ich an einem
interessanten Fall in meiner kleinen Skizze über das Ameisenbad ge¬
zeigt *). Ein anderes Beispiel bietet der, besonders in Italien und in
Rußland zur Zeit der großen Cholera-Epidemien wieder aufgetauchte
Gedanke, daß diese Krankheit von den Ärzten verursacht werde 1 2 ).
Auf die Wandlungsfähigkeit des Aberglaubens kann man nicht ener¬
gisch genug hinweisen. Man kann fast sagen, jeder Sympathie¬
doktor und jeder Hexenmeister habe in diesem oder jenem Punkte
seine besondere Methode; ebenso finden sich z. B. bei dem Glauben
an Amulette vielfach wechselnde Einzelheiten. So ist mir beispiels¬
weise durch einen Prozeß, der in Freiberg i. S. sich abspielte, akten¬
mäßig bekannt geworden, daß man in dortiger Gegend, mindestens
vereinzelt, den Zahn eines Toten für einen wirksamen Spielertalisman
hält 3 ). Für diesen Aberglauben habe ich keine einzige Parallele
auffinden können und dennoch halte ich das Faktum für absolut
sicher festgestellt. Dafür, daß ein und derselbe Aberglaube im Laufe
der Zeiten zu ganz verschiedenartigen Verbrechen führen kann, so
daß man im ersten Moment zweifelhaft sein kann, ob der von dem
Täter angeführte Aberglaube nicht nur vorgeschützt ist, um das
wirkliche Motiv zu verbergen, habe ich in dem Fall aus Bosnien an¬
geführt, wo ein Türke erschlagen wurde, weil man glaubte, er wolle
Kinder rauben, um sie als Bauopfer zu verwenden 4 ). Aus allen
1) Groß’ Archiv Bd. 28 S. 366ff. 2) Ebendort Bd. 33 S. 20ff.
3) Vgl. meinen Artikel „Grabschändung und Gespensteraberglaube“ („Der
Pitaval der Gegenwart“ Bd. V S. 195 ff.).
4) Vgl. mein Buch S. 113.
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XII. Albert Hellwig
diesen Gründen können auch diejenigen Fälle, in denen die Zeitungs¬
berichte durch bekannte Parallelen nicht gestützt werden können,
doch durchaus zuverlässig sein. Wir sind aber auch sehr wohl in
der Lage, bei genügender Vertrautheit mit den Grundgedanken primi¬
tiven Denkens im einzelnen konkreten Falle nacbzuprüfen, ob der
Bericht tatsächlich Glauben verdient oder nicht. Die Grundgedanken
primitiven Denkens sind nämlich überall die gleichen, in Alt-Babylon
ebenso wie in der Neuzeit, unter den Papuas auf Neu-Guinea und
bei den Chinesen nicht anders als in den modernen Kulturstaaten.
Diesem Grundgesetz unterliegen auch die mannigfachen Wandlungen
und Neubildungen abergläubischer Vorstellungen. Deshalb wird der¬
jenige, welcher durch intensives Studium in den Geist des Aber¬
glaubens eingedrungen ist, die verschiedenen Grundgedanken erfaßt
hat, die ihm zugrunde liegen, und weiß, nach welchen Gesetzen der
Logik der Aberglaube entsteht und sich weiterbildet, auch fast immer
in der Lage sein, in einem konkreten Fall festzustellen, ob die ge¬
schilderten abergläubischen Vorstellungen, wenngleich sie sonst nir-
gendswoher bekannt sind, doch mit den allgemeinen Grundgesetzen
des Aberglaubens im Einklang stehen und daher vermutlich aueb
wahrheitsgetreu geschildert sind. Über jeden Zweifel erhaben sind
freilich diese Tatsachen auch dann nicht, denn es wäre beispiels¬
weise denkbar, daß ein mit dem Aberglauben genügend vertrauter
Journalist sich die Fälle derartig konstruiert hat; mit solchen Un¬
wahrscheinlichkeiten braucht aber der Gelehrte nicht zn rechnen; es
genügt, wenn eine sorgfältige Prüfung ergibt, daß aller Wahrschein¬
lichkeit nach das Material zuverlässig ist.
Besondere Vorsicht ist natürlich erforderlich in denjenigen Fällen,
wo es sich um einen allgemeinen Volksglauben handelt, der vielfach
auch von Richtern und Journalisten geteilt wird, ich denke insbe¬
sondere an den angeblichen Ritualmord der Juden sowie an den
Kinderraub durch Zigeuner. Über letztem habe ich schon oben aus¬
geführt, daß sich immerhin bei der Nachprüfung fast stets ergeben
hat, daß den Zeitungsnotizen ein gewisser tatsächlicher Kern zugrunde
lag. Dasselbe gilt anch bezüglich des Ritualmordes der Juden. In
einer kleinen Skizze, in der ich mehrere derartige Fälle dargestellt und
geprüft habe '), suchte ich schon den Nachweis zu führen, daß auch der¬
artigen Zeitungsnotizen in der Regel irgend ein tatsächliches Vorkomm¬
nis zugrunde liegt. Wie Professor Groß in seinen wertvollen Aus¬
führungen über psychopathischen Aberglauben 2 ) gezeigt hat, ist es
1) Groß’ Archiv 31 S. 88ff.
2) Ebendort Bd. 9 S. 253, Bd. 12 S. 334.
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Zeitungsnotizen als Quelle für volkskundl. und kriminalist. Untersuchungen. 291
sogar in Fällen, welche das Volk als Bestätigung seiner Ansicht über
den Ritualmord ansieht, wie beispielsweise bei dem bekannten Ko-
nitzer Mord durchaus nicht ausgeschlossen, daß es sich um einen
Mord aus Aberglauben handelt; natürlich kann auch nicht ausge¬
schlossen werden, daß der Mörder ein Jude ist
Wie dem aber auch sein mag, jedenfalls geben diejenigen Fälle,
in denen die Zeitungsberichte offenbar unwahr sind, keinen Anlaß
die Zeitungsnotizen als Quelle überhaupt zu verwerfen; dies hieße,
das Kind mit dem Bade ausschütten. Ich bin im Gegenteil der
Meinung, daß Zeitungsberichte eine zum großen Schaden der Wissen¬
schaft von den Gelehrten, insbesondere aucb von den Volksforschern
und den Kriminalisten, viel zu wenig gewürdigte Quelle sind, deren
eifrige und systematische Benutzung nicht dringend genug empfohlen
werden kann*). Freuen sollte es mich, wenn meine kleine Abhand¬
lung dazu beitragen sollte, diese Erkenntnis in weitere Kreise zu
tragen. Um die Zeitungsnotizen systematisch auszunutzen, muß der
Gelehrte nicht nur alle diejenigen Notizen, welche ihm bei der
Lektüre der Zeitungen, die er sich hält, interessant erscheinen,
sammeln, sondern auch bei einem Zeitungsnachrichten-Bureau, von
denen mindestens in den Hauptstädten eines jeden Landes, vielleicht
auch in größeren Provinzstädten, mehrere bestehen, auf die Gebiete,
die ihn speziell interessieren, abonnieren. Denn bei der Fülle von
Stoff werden selbst interessante Vorfälle vielfach nur von der einen
oder anderen Zeitung übernommen, bleiben oft auch in Provinz¬
blättern geringerer Bedeutung stecken. Wie ich bei meinen Studien
über kriminellen Aberglauben mit Freuden konstatiert habe, erhält
man auf diese Weise ein ganzes Archiv von wichtigen Zeitungs¬
ausschnitten. Für Prozeßberichte sind selbstverständlich in der Regel
am wichtigsten die großen hauptstädtischen Blätter, welche über eine
eigene ausführliche, meistens gute Berichterstattung verfügen. Han¬
delt es sich aber um einen Prozeß, der in einer kleinen Provinzstadt
spielt und der nicht sensationell genug ist, um die großen Blätter
oder den Inhaber einer Gerichtskorrespondenz zu veranlassen, eigene
Berichterstatter hinzusenden, so ist es angebracht, die in dem be¬
treffenden Orte erscheinenden Lokalblätter, die man leicht aus dem
Zeitungsverzeichnis der Annoncenexpedition Rudolf Mosse, evtl, durch
Nachfrage bei der Post, feststellen kann, anzufragen. In der
Regel wird man dann gegen Einsendung von einigen Groschen die
- •
1) Vgl. schon meine Skizze über „Rechtspflege und Presse“ in Bd. 31 S. 150 ff.
und über den dort erwähnten Gedanken der Gründung eines Reichszeitungsmuseums
Professor Paalzow in der „Woche“, Berlin 1908, Heft 43, S. 1864ff.
Archiv fttr Kriminalanthropologie. 86. Bd. 20
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292
XII. Albert Hellwig
ausführlichen Verhandlungsberichte erhalten, während die großen
Blätter, da für sie das Ereignis nicht so aktuell ist wie für die Lokal¬
blätter, im günstigsten Fall kürzere Berichte bringen.
Um die Zeitungsberichte voll ausnutzen zu können und immer
zur Hand zu haben, wenn man sie braucht, muß man sie gut ordnen.
Wer nur über ein eng begrenztes Thema sammelt, wird hiermit keine
Mühe haben; sammelt man aber Uber zahlreiche Probleme, so emp-
pfiehlt es sich von Anfang an sämtliche einschlägigen Notizen mög¬
lichst spezialisiert einzuordnen. Ich gehe dabei so vor, daß ich in
Kästen alphabetisch nach Stichworten geordnet alle Zettel zusammen¬
stelle, die sich auf ein bestimmtes Thema beziehen. Die Zeitungs¬
ausschnitte hier gleich mit einzuordnen, halte ich für unpraktisch,
schon deshalb, weil in einem'Zeitungsausschnitt oft Materialien für
eine ganze Reihe von Problemen enthalten sind. Deshalb ordne ich
meine Zeitungsausschnitte chronologisch und vermerke mir auf Zetteln,
die ich dann in meine Sammelkästen einordne, kurz den Inhalt der
betreffenden Notiz. Es ist dann ein Leichtes, wenn ich über das
Thema handele, die Zeitungsnotiz aufzufinden. Es sollte mich freuen,
wenn recht viele Volksforscber und Kriminalisten auf ähnliche Weise
die in den Zeitungsnotizen aufgespeicherten Materialien sich dienstbar
machen würden. Für denjenigen, der ein bestimmtes Thema mög¬
lichst umfassend behandeln will, empfiehlt es sich sogar, die älteren
Bände von Zeitungen systematisch auf das Thema hin durchzusehen.
Eine Reihe von Zeitungen findet man wohl auf den meisten größeren
Bibliotheken, leider nur meistens unvollständig. Auch die Zeitungs-
redaktionen selbst pflegen wohl fast immer sich mindestens ein voll¬
ständiges Exemplar ihres Blattes gebunden aufzubewahren. Auf Er¬
suchen werden sie sicherlich gern bereit sein, zu wissenschaftlichen
Zwecken die Durchsicht der Zeitung zu gestatten, wohl auch gegen
Erstattung der Kosten Abschriften von bestimmten Zeitungsnotizen,
die man irgendwo zitiert gefunden hat, zu geben. Was die Ver¬
wertung der Zeitungsnotizen bei wissenschaftlichen Abhandlungen
anbelangt, so möchte ich zum Schluß noch darauf hinweisen, daß es
sich stets empfiehlt, die Zeitungsnotiz wörtlich oder doch in allen
wesentlichen Einzelheiten wiederzugeben, da es für den Leser, nament¬
lich nach längerer Zeit oft sehr schwer fällt oder gar unmöglich ist,
den in der Abhandlung angezogenen nur skizzierten Fall durch Ein¬
sichtnahme in die Zeitung genau festzustellen. Bei Arbeiten, die
Zeitungsnotizen verwerten, darf das Nachschlagen der betreffenden
Zeitungen nur zur Kontrolle evtl, erforderlich sein, nicht aber zur
Ergänzung des vorgetragenen Sachverhalts.
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XIII.
Die Unzucht mit Tieren.
Von
Dr. med. Kurt v. Sury in Basel.
Die Unzucht mit Tieren gehört in das Gebiet der streitigen ge¬
schlechtlichen Verhältnisse. Ich möchte im folgenden über Fälle von
Bestialität, die in der Schweiz vorgekommen sind, berichten. Für
die Überlassung von Akten danke ich den verschiedenen Amtsstellen.
Herrn Prof. A. Haberda (Wien) verdanke ich den Nachweis einiger
neuster medizinischer und juristischer Literatur.
Ein historischer Rückblick und eine Übersicht über den Stand
der kantonalen Gesetzgebung sollen die Darstellung der Unzucht mit
Tieren einleiten. Den Schluß bildet eine kurze Erörterung der Ge¬
setzgebungsfrage. Der Anhang enthält ausgewählte Fälle der eigenen
Kasuistik.
Über das Vorkommen der widernatürlichen Unzucht in früheren
Jahrhunderten berichten Blumeri), Bluntschli 1 2 ), Pfyffer 3 ),
v. Segesser 4 ) u. a. nach den Rats- und Richtbüchera der Kantone.
In den Ratsbüchern und Akten des Staatsarchivs von Basel habe
ich aus den Jahren 1517—1824 49 Fälle gefunden; einige aus dem
17. Jahrhundert hat schon Peter Ochs 5 ) angeführt.
In Luzern findet sich der erste Fall im ältesten Bürgerbuch
von 1390 aufgezeichnet; ein Bursche hatte mit einer Kuh „vnmönsch-
1) Blumer J.: Staats- und Rechtsgeschichte der Schweiz. Demokratien,
2. Teil, II, S. 33.
2) Bluntschli J. C. : Staats- und Rechtsgeschichte der Stadt und Land¬
schaft Zürich. I, S. 408.
3) Pfyffer K.: Geschichte der Stadt und des Kantons Luzern. S. 148,
-154, 156, 231, 241, 535.
4) v. S ege ss er A.: Rechtsgeschichte der Stadt und Republik Luzern, II,
9. Buch, S. 650—651 ; IV, S. 203, 205. — Siegwart-Müller: Das Strafrecht
der Kantone Uri, Schwyz, Unterwalden usw. S. 100, 101, 108. — Zellweger:
Geschichte des appenzell. Volkes, 1, S. 234, 235; II, S. 407.
5) Ochs P.: Geschichte der Stadt und Landschaft Basel, V, S. 380; VI,
S. 765, 777; VII, S. 346.
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294
XIII. Kurt v. Sury
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lieh Geberde“. Im Jahre 1519 ist Magdalena Graffenrichin wegen
Gottverleugnen, Hagelmachen und Bestialität zum Feuertod verurteilt
worden. Ein Knabe wurde anno 1734 unter dem Galgen erwürgt
und darauf mit dem mißbrauchten Kalbe verbrannt
Bluntschli erzählt von einem Manne aus Zürich, der 1416
wegen unnatürlicher Wollust hingerichtet wurde, „das man Inn sol
dem nachrichter empfelen, der sol Inn hin us fueren an die Silen.
Sol Inn da an ein Sul binden uff ein hurd setzen und da ein für
under Inn machen und anstoßen und sol also Cuoni Koch da an
der Sul uff der hurd un In dem für sterben und verderben und die
Lip und gebeine ze Eschen verbrennen“.
In Schaffhauseni) sind in den Jahren 1595 und 1605 zwei
Mörder und Tierschänder gerädert worden. Die einfache Enthaup¬
tung hat sich bis 1753 erhalten, lebenslängliche Gefangenschaft wurde
noch 1823 ausgesprochen.
In Basel trieb ein Conrad Süberlich (1517) mit Kühen und
einer Eselin Unzucht; er wurde verbrannt. Zwölf andere Angeklagte
sind zum Feuertode verurteilt, aber aus Gnaden enthauptet und dann
mit dem geschändeten Tiere verbrannt worden. Verhandlung gegen
einen Hans Vorberger (1605): „der Nachrichter nehme nunmehr
den Beklagten zur Hand und richte ihn und das Vieh mit dem Feuer
und was dazu gehöre. Und daß niemand darob geärgert werde, ihn
entweder vergrabe oder aber in fließendes Wasser werfe“. Er wurde
zum Schwert begnadigt und nachher verbrannt, für welche Gnade
sich der arme Mensch auf das höchste bedankte. Die letzte Hin¬
richtung fand in Basel 1722 an Sebastian Brunner statt Anno
1756 wurde ein Angeklagter zu lebenslänglicher Galeere verurteilt 1 2 ).
In Verdachtsfällen kamen Pranger, Urfehde, Kutenscblagen, Mahnung
und Aufsicht zur Anwendung. Häufig gestanden die Sünder, sie hätten
die Tat aus Antrieb und Eingebung des bösen Geistes ausgeführt.
1) Stokar D: Verbrechen und Strafe in Schaffhausen, Zeitschr. für Schweiz.
Strafrecht. Bd. V. S. auch einen hier raitgeteilten Fall bei F. Heinimann: Der
Richter und die Rechtspflege in der deutschen Vergangenheit; Monographie zur
deutschen Kulturgeschichte. B. IV.
2) Die Verurteilung erfolgte auf die französische Galeere. Die Auslieferung
fand nach der Grenzfestung Hüningen statt. Über die Förmlichkeit der Aus¬
lieferung berichtet Buxtorf -Falkeisen, Basler Stadt- und Landgeschichten,
1660—1700, S. 130. Beim Grenzstein standen die französischen Bevollmächtigten
mit dem Kommandanten von Hüningen. Ein französischer und ein Basler Profos
stellten sich mit je einem Fuße auf das gegenseitige Territor, so stehend nahm
dieser dem Gefangenen die Fesseln ab und schloß ihm jener neue an. Darauf
bedankte sich der Kommandant gegen die Stadt Basel.
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Die Unzucht mit Tieren.
295
Wenn der Verdächtige entlassen wurde oder sich der Täter
flüchtete, sind die Tiere getötet worden. Die Vernichtung des Tieres
hat der Basler Syndikus Fesch i) in einem juristischen Bedenken
(1634) begründet. Das Tier soll getötet werden, um die Erinnerung
an das ausgeführte Laster zu verlöschen: „Sittenmahl das Tier daß
instrument und werckzeug gewesen, damit der mensch diß verfluchte
laster vollebracht, darumb es ein großer grüvel wäre, was solch tier
überbleiben undt der menschen vorn angesicht umbgehen sollte“.
Die Untersuchungen von Amira 1 2 ) bestätigten diese Auffassung.
Die polizeilichen Akte der weltlichen Behörden haben mit den eigent¬
lichen Tierstrafen nichts zu tun. Trotz Gerichtsurteil und gesetzlicher
Zeremonie werden diese Akte zu keiner Justifikation. Es war ein¬
fach ein Brauch wie er im Sinne und unter dem Einfluß der christ¬
lichen Kirche von fast allen Ländern Europas aufgenommen wurde.
Die Tötung des Tieres betrachtete man ausschließlich unter dem
sitten- und kultpolizeilichen Standpunkte.
Im Mittelalter sind die Schweizer als Kühghyer oder Küg-
stricher 3 ) gescholten worden. Hans Krucker wurde wegen
Beschimpfung anno 1470 in Luzern ertränkt. Er sagte, die Eid¬
genossenschaft „sig ein gut fry land und ob eines eine Kuh gehye,
so tüge man Im nüt darumb“. Nach der Sage von Guggisberg
hätten die Weiber vor mehreren hundert Jahren durch die List ihres
Pfarrers ein Mittel gefunden, sich ebenso reizend und begehrenswert
zu machen wie die Ziegen. Sie sollen auch bei ihren Männern den
Sieg über das Vieh davongetragen haben. Wegen des Spotts der
Nachbarn zogen die Basler 4 ) anno 1445 ins Briszgow, „für zwei
dörffer, hattend geseit „Kügstricher“, do müst es brennen“. Bekannt
sind die Schmählieder auf die Eidgenossen zur Zeit der Schwabenkriege.
Es könne kein guter Schweizer sein, so hieß es, „er sie dann ein
Nacht bi einer Kuh gelegen“ 5 ). Die Landsknechte in Feldkirch be¬
grüßten die durchziehenden Schweizer mit lautem: „Muh, Muh“. 6 )
1) Staatsarc hiv Bas el, A. Criminalia, 16.—18. Jahrh., Nr. 31, Akt
Ackermann.
2) v. Amira Karl: Tierstrafen und Tierprozesse. Mitteilungen des Instit
f. österr. Geschichtsforschg., Bd. XII, Heft 4, S. 555.
3) Die Bezeichnung „Kuhreiter“ ist in Steiermark heute noch gebräuchlich
(K ratter in Haberda Viertel]', f. gerichtl. Medizin, B. XXXIII, Suppl. Sonderabdr.
S. 28, Unzucht mit Tieren).
4) Chronik des Erhard von Appenwiler in Basler Chroniken,
Bd. IV, S. 277.
5) v. Lilienkron R.: Die historischen Volkslieder der Deutschen, B. II, S. 367.
6) ebenda, S. 379.
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296
XIII. Kukt v. Suky
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Die Bestialität war schon bei den alten Völkern eine wohl be¬
kannte Erscheinung. Der heilige Bock von Mendes, die Schlange im
Äsculaptempel weisen auf den religiösen Kultus hin. Auch im Privat¬
hanse und auf der Bühne’) hat sich die Unzucht mit Tieren auf
Grund der Ausschweifungen und des übersättigten Geschlecbtsgenusses
eingebürgert. Rosenbaum 2 ) zitiert eine große Zahl diesbezüglicher
Stellen. Durch die Jahrhunderte hat sich die Unsitte erhalten. In
seiner „schlesischen Chronik“ erwähnt Roch 3 ) die Schändung
von Hunden, Kühen, Schweinen, Schafen, Stuten. Martin Schurig 4 )
berichtet von Unzucht mit Kühen, Affen, Bären, Ziegen, Hund, Pferd
und Fischen. Mantegazza 5 ) führt Fälle aus dem alten Frankreich
an. In Steiermark wurde im XVII. Jahrh. eine Dame des Hoch¬
adels wegen Unzucht mit einem Affen hingericbtet Wir kennen
Fälle aus den Hochländern von Peru und Bolivien mit Alpaca
(Lama) 6 ), aus Nordamerika 7 ), aus Ägypten mit Krokodilweibchen 8 )
und Eseln"), aus Persien’»), China”), Indien 12 ) usw. Nach Krauß
besingen die Südslawen in Volksliedern die Bestialität. Prostituierte
lassen sich in Bordellen von Hunden und Eseln begatten«).
Der geschlechtliche Umgang mit Tieren wird noch immer als
Heilmittel für gewisse Krankheiten empfohlen ”). Andererseits ist
1) Friedländer L.: Die Sittengeschichte Roms, 6. Aufl., Bd. II, S. 409.
2) Rosenbaum J.: Die Geschichte der Lustseuche, I. Teil, S. 294.
3) Roch zit. nach K. Seifart: Hingerichtete Tiere und Gespenster. Zeitschr.
für deutsche Kulturgesch. 1S56.
4) Schurig Martin: Gvnaecologia historico-medica 1730, S. 380-386.
M Mantegazza P.: Die Geschlechtsverhältnisse des Menschen. S. 131.
Anmerkung.
6) Forbes D.: Journal of anthropol. soc. of London. N. S. II, S. 225.
7 1 Ploß-Bartels: Das Weib etc., I, S. 454. — Oberkamp H. zit. nach
Proksch, s. u.
8) Csokor: Lehrb. der gerichtl. Tierheilkunde 1898, S. 659. — Weber C.:
Demokritos, V, zit. nach Bloch J.: Psychopathia scxualis.
9) Moll A.: Untersuchungen über die Libido sex. 1898, I, S. 700.
10) Polak J.: Wiener mediz. Wochenschr. 1861, S. 629.
11) Treutlein: Münch, mediz. Wochenschr. 1905, S. 2439. — Mantegazza
1. c. — Weber 1. c.
12) Krauß: Antbropophyteia, III, S. 265—322 (zit. nach Bloch J.: Das
Sexualleben unserer Zeit). — Weber 1. c.: Die Fakire gelten um so heiliger, wenn
sie anstatt mit Knaben oder Mädchen sich mit Mauleseln oder Eselinnen abgeben.
13) Maschka: Handb. d. gerichtl. Medizin, III, S. 191. — Montalti: Lo
sperimentale 1887, S. 285. — Bergh: Vestre Hospital i. 1900, Kopenb. 1901,
S. 11. — Straßmann: Lehrb. d. gerichtl. Medizin 1895, S. 1815. — Merz¬
bach G.: Die krankhaften Erscheinungen des Geschlechtssinnes 1909, Sw 306.
14) S. unsere Kasuistik Nr. 31.
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HARVARD UN1VERSITY
Die Unzucht mit Tieren.
297
die widernatürliche Unzucht als Ursache der Syphilis angesehen
worden^). Beides ist selbstverständlich nicht begründet 1 2 ).
Die ungeroein harte Bestrafung der Unzuchtshandlungen wurde
aus dem mosaischen 3 ) in das kanonische Recht übernommen und
blieb auch in der Carolina (Art. 16) in Gültigkeit (Feuertod). Diese
Auffassung hat sich in der Schweiz bis Mitte des XVIII. Jahrh. er¬
halten, wenn auch meist der Feuertod gnadenhalber durch Enthaupten
und nachheriges Verbrennen des Körpers mit dem ebenfalls getöteten
Tiere ersetzt worden ist. Seitdem trat anfänglich lebenslängliche
Haft an Stelle der Todesstrafe und dann Hand in Hand mit der
fortschreitenden Aufklärung Freiheitsstrafen von immer kürzerer
Dauer. Man war bestrebt, die Grenze zwischen polizei- oder moral-
widrigen Handlungen schärfer zu ziehen (Gretener) 4 ).
Temme 5 ) hat 1855 für die schweizerischen Kantone die Strafen
für die Bestialität zusammengestellt. Luzern Zuchthaus 1—6 Jahre;
Sch aff hausen Arbeitshaus 1. Grades 1—8 Jahre; Basel Zucht¬
haus 1—10 Jahre oder Kettenstrafe 2. Grades; St. Gallen Zucht¬
haus 2—4 Jahre, fakultative Verschärfung mit Prügelstrafe u. s. f.
In dem geltenden kantonalen Strafrecht tritt im großen
und ganzen eine etwas mildere Beurteilung hervor, doch sind die
Strafen noch sehr verschieden 6 ). Luzern Zuchthaus bis 5 Jahre;
Obwalden Zuchthaus bis 4 Jahre; St. Gallen Zuchthaus bis 6
Jahre oder Arbeitshaus oder Gefängnis; Fr ei bürg Korrektionshaus
von 2—6 Jahren; Schaffhaasen Gefängnis nicht unter 3 Monaten,
in schwereren Fällen Zuchthaus bis 6 Jahre; Basel Gefängnis;
Bern Gefängnis bis zu 60 Tagen oder Korrektionshaus bis 1 Jahr,
eventl. Geldbuße bis Frs 500,— usw. Mit Ausnahme unserer welschen
Kantone und aller romanischen Länder wird die Bestialität in Mittel¬
und Nordeuropa, in England und Amerika bestraft (Mittermaier 7 ).
Betrachten wir nun die gerichtlichen Fälle von Unzucht mit Tieren
in der Schweiz, ihre Häufigkeit und ihre Formen. Tabelle I gibt eine all-
1) van Helmont: Sumulus pestis in op. onn. 1707, S. 211. — RobergL.:
De foeda lue dicta venerea, Upsal. 1700. — Obercamp 1. c.
2) Proksch: Vierteljahrsch. für Dermatologie und Syphilis. 1883. —
Bloch J.: Der Ursprung der Syphilis.
3) 2. Moses Kap. 22, Vers 18; 3. Moses Kap. 18, V. 23—24; Kap. 20. V. 15
bis 16; 5. Moses Kap. 27, V. 21.
4) Gretener H.: Zeitschrift de& bernischen Juristen-Vereins 1886.
5) Temme J.: Lehrb. des Schweiz. Strafrechts 1855, S. 474.
6) Stooß C.: Die Grundzüge des Schweiz. Strafrechts 1893, S. 264.
7) Mittermaier: Vergleichende Darstellung des deutschen u. ausländischen
Strafrechts, Bd. IV.
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XIII. Kurt v. Sury
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gemeine Übersicht und umfaßt für die meisten Kantone einen Zeitraum
von 38 Jahren (1870—1908), für einzelne gehen die Beobachtungen
noch weiter zurück, für Schwyz bis 1833, Baselland 1839, Grau¬
bünden 1855. Die Südkantone Genf, Waadt, Wallis und Tessin
kennen die Bestialität als selbständiges Delikt in ihren Strafge¬
setzen nicht.
Tabelle I.
1 .
Kanton
Aaargau
1870—1908
57
Fälle
2.
55
Appenzell A. Rh.
5 ?
6
55
3.
75
. I. Rh.
55
1
Fall
4.
7 ?
Baselland
1839—1908
47
Fälle
5.
75
Baselstadt
1870—1908
7
55
6.
75
Bern ')
55
50
55
7.
75
Freiburg ’)
55
5
55
S.
77
Glarus
55
2
5 »
9.
75
Graubönden
1855—1908
5
55
10 .
75
Luzern
1870—1908
30
55
11.
55
N euenburg
55
1
Fall
12.
77
Nidwalden
>5
2
Fälle
13.
5 *
Obwalden
55
2
55
14.
55
Schaffhausen
55
18
5 »
15.
55
Schwyz
1833—1908
2
55
16.
55
Solothurn
1870—1908
31
55
17.
75
St. Gallen
»5
27
V
18.
57
Thurgau
55
40
55
19.
55
Uri
55
l
Fall
20.
55
Zug
55
3
Fälle
21.
r>
Zürich
55
50
55
Total 387 Fälle
Vom Täter interessieren in erster Linie das Alter, der Zivilstand
und der Beruf.
Tabelle IX.
Der Täter war
in
8 Fällen 14—15 Jahre alt
55
18
55
15—16
75
55
106
55
20
55
16—17
55
55
55
23
55
17—18
55
5 ’
55
24
55
18—19
55
55
^ 55
13
55
19—20
55
55
138
55
138
55
20—30
55
55
55
65
55
30—40
55
55
55
42
55
40—50
’5
55
136
55
18
55
50—60
55
55
55
9
55
60—70
55
55
55
2
55
70—80
55
55
In 7 Fällen wird das Alter nicht angegeben.
387
1) Unvollständig.
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Die Unzucht mit Tieren.
299
Die ältesten Angeklagten hatten ein Alter von 70, 71 und 77,
die jüngsten von 14—15 Jahren. Die 6 Jahre vom 14.—2 0.
Jahre schließen beinahe den Dritteil sämtlicher Fälle
in sich i).
Von den Angeklagten waren 315 ledig, 41 verheiratet, 13 ver¬
witwet, 6 geschieden, 4 getrennt, bei 8 ist der Zivilstand nicht ver¬
zeichnet.
Personen, die [durch ihren Beruf mit Tieren in ständige Be¬
rührung kommen, sind der Versuchung zur widernatürlichen Unzucht
am meisten ausgesetzt. In unseren Fällen Knechte und Landarbeiter
179, Taglöhner 32, Landwirte 15 und Fuhrleute 2. Die übrigen ver¬
teilen sich auf verschiedene Berufe, doch sind sie gewöhnlich Haus¬
genossen des geschädigten Eigentümers, im Stalle beschäftigte Arbeiter,
Obdachlose und Durchreisende, die im Stalle nächtigen.
Fast alle Haustiere wurden mißbraucht. Nach den Akten sind
225 Rinder und 61 Kälber, 97 Ziegen, 46 Stuten, 23 Schafe, 22
Hündinnen und 15 Hunde, 13 Schweine, 11 Hühner, 6 Kaninchen,
2 Eselinnen und 1 Stier zur Unzucht benützt worden 1 2 ).
Art des Mißbrauchs. I. Die ziemlich häufig vorgekommenen
unzüchtigen Handlungen (Zooerastie) bestanden in Berührungen
und Friktionen der männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane
von Tieren, dann Beleckenlassen der menschlichen Genitalien durch
Tiere (Cunnilinguus). Bei größeren weiblichen Tieren wurden
die Finger, die Hand, sogar der Arm in die Scheide eingeführt
(Kühe, Stuten). Hie und da war dies die Einleitung zum Kopulations¬
akte (s. Kasuistik Nr. 1—7, 12).
II. Meist handelte es sich um beischlafsähnliche Hand¬
lungen (Zoostuprum).
a. per vias naturales von männlichen Individuen mit weiblichen
Tieren. Zwei Frauen wurden der Bestialität mit Hunden angeklagt,
in einem Falle erfolgte Freisprechung (s. Kasuistik Nr. 12).
1) Haberda: Unzucht mit Tieren, Vierteljahrschr. für gerichtl. Medizin,
3. Folge, Bd. XXXIII, Suppl., Sonderabz. S. 4, kommt in seiner Zusammen¬
stellung zu einem noch sprechenderen Resultate. Von 149 Tätern, deren Alter
angegeben ist, sind 73, also fast die Hälfte, noch nicht 20 Jahre alt.
2) Professor H a b e r d a hat kürzlich einen Truthahn untersucht. Das Tier
war unter verdächtigen Umständen eingegangen: Sektionsbefund negativ. —
Enten: Treutlein 1. c.; Kowalewsky: Jahrb. für Psychiatrie, Bd. VII,
S. 289. — Gänse: Haberda in Schmidtmann, Handb. der gerichtl. Medizin,
1905, I, S. 315; Hora: Tierärztl. Zentralblatt 1903, S. 197. — Kater: Krauß
I. c. beobachtete eine schöne Kroatin, die sich nackend einem Kater hingab.
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XIII. Kurt v. Sury
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b. päderastischer Umgang von Männern mit Tieren. Ak¬
tive Päderastie in 8 Fällen (stets mit Hunden), passive 3 mal mit
Hunden und t mal mit einem Stiere (s. Kasuistik Nr. 8—11).
c. oraler Coitus in 2 Fällen mit je einem Kalbe (s. Kasu¬
istik Nr. 13).
Das Vorgehen beim Mißbrauch der Tiere richtete sich nach
den lokalen Umständen.
Bei liegendem Tiere knieten die Täter hinter dasselbe. Hunde,
Ziegen, Schafe, kleine Kälber wurden stehend benützt. Drei Burschen
legten die Schafe auf den Rücken; es kam dies auch bei einem
Hunde vor. Ein 19jähriger Knecht band den Schweif einer Stute
mit einem Lederriemen in die Höhe. Um an Rinder und Stuten
heranzukommen, wurden Melkstühle, Bänke, Leitern, Wassereimer,
Kisten, Holzklötze, Strobbündel, Steine und kleine Wagen gebraucht
Ein 18jähriger Bursche hielt sich mit beiden Händen an einem
Bühnenquerbalken fest, zog sich hoch und preßte die Beine an das
Tier; ein anderer soll wie ein Frosch auf dem Rücken des Rindleins
gelegen haben. Ein Pferdeknecht legte ein Brett quer über die
Seitenteile der Stallung. Ein Metzger stellte eine Kuh auf der Straße
mit den Hinterbeinen in den Straßengraben. Ein betrunkener Haus¬
knecht nahm die Ziege zu sich in das Bett lm Schlafzimmer eines
Mannes fanden sich ein totes Huhn und ein Kaninchen vor.
Die Täter sind teilweise in flagranti betreten worden in Aus¬
übung des Geschlechtsaktes oder bei dessen Vorbereitung. Zwei
Männer waren nackt und drei im Hemde.
Die Untersuchung des Verdächtigen kann wichtige In¬
dizien ergeben.
ln vielen Fällen wurden infolge der Berührung die Hosen, das
Hemd und selbst der Körper mit Tierkot beschmutzt. Haare 1 )
von Kühen, Kälbern, Hunden, Ziegen, Schafen, Federn von
Hühnern an den Kleidern und am Körper, Bluts puren an Hosen
und Hemden herrührend von Verletzungen der Tiere an den Ge-
1) Kutter: Vierteljahrech. f. gerichtl. Med. 1865, S. 160, Schändung einer
Stute, in der Eichelrinne des Täters 5—6 feine schwarze Härchen. — Krauß:
Württbg. mediz. Korrespbl. 1902, Nr. 34, S. 593, Henne, in der Eichelrinne des
Täters in dem vertrockneten Smegtna Fasern von Vogelfedern. — Haberda:
Scbmidtmann 1. c., S. 268, Henne, in der Eichelrinne des Täters kleine Federn.
— Haberda: Vierteljahrschr. 1. c. S. 17, Penis des Täters war bei der gleich
vorgenommenen Untersuchung klebrig und aus der Harnröhre ließ sich Sperma
ausdrücken. — Pf aff: Das menschliche Haar in forens. Beziehung 1869, S. 79,
zwischen den blonden Schamhaaren einer Dienstmagd ein schwarzes Hundehaar.
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Die Unzucht mit Tieren.
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schlechtsteilen dienten nicht selten zur Überführung des Täters.
Kratzeffekte, z. B. am Körper eines Mannes, der mit einem Hunde
passive Päderastie getrieben hatte, sind ebenfalls von Wichtigkeit')
(s. Kasuistik Nr. 10, 14—10).
Sicher wird der Geschlechtsakt nur durch mensch¬
liche Spermatozoen in der Vagina des mißbrauchten
Tieres bewiesen 1 2 ). Dieser Nachweis ist in 4 Fällen gelungen.
Meist wurde gar nicht nach Sperma gesucht (s. Kasuistik
Nr. 17—18).
Erfolgte der Verkehr in der Furcht vor Überraschung ungestüm
oder blieb es wegen der anatomischen Verhältnisse nur beim wieder¬
holten Versuch, so können an den Genitalien der Tiere Veränderungen
entstehen, die mit größter Wahrscheinlichkeit den Schluß auf statt¬
gefundene mechanische Reizung zulassen. Bei Rißwunden ist dieser
Schluß ein ziemlich sicherer (s. Kasuistik Nr. 19—24).
Als einfachste V erletzungen werden Rötung und Schwellung
der äußeren Scham, kleine Schleimhautabschürfungen ebenda und in
der Scheide verbunden mit geringfügigen Blutaustritten in das Gewebe
und nach außen beobachtet. Klinisch treten allgemeine Unruhe,
Störrigkeit, herabgesetzte Freßlust, Drängen des Wurfes, Heben des
Schweifes, eventl. Blutabgang aus den Genitalien, Ausweichen jeg¬
licher lokalen Berührung, Schmerzempfindung bei Untersuchung, Ver¬
minderung bis Sistierung der Milchabsonderung und Verwerfen der
Frucht als Reizsymptome hervor. Blutabgang aus der Scheide eines
Tieres setzt nicht eo ipso eine Verletzung derselben voraus. Tier¬
ärztlich wurde bei einer angeblich mißbrauchten Kuh festgestellt, daß
sie „stierig” war 3 ). Schwere Verletzungen an den Beckenorganen
größerer Tiere müssen stets den Verdacht auf grobe Manipulationen
mit den Händen oder mit Fremdkörpern erwecken.
Während meiner Assistentenzeit am gerichtlich-medizinischen
Institut in Wien wurden zwei Hühner mit Kloakenzerreißung zur
1) Haberda: Viertel]'. 1. c., S. 13, Kratzer derselben Provinienz beiderseits
ander Außenfläche des Beckens bei einem Knechte. — Maschka, Handb. der
gerichtl. Medizin, Bd. iH, S. 190, Kratzer bei einer Frau, die sich von einem
Hunde begatten ließ.
2) Lecha A.: Die Differentialdiagnose von Sperma des Menschen und der
Haustiere (Gac. m4d. del Sur de Gspana, 20. S. 09, ref. Münch, med. Wochenschr.
1908, S. 2250). Evtl, wäre auch nach tierischen Spermatogen in der Vagina der
Frau zu fahnden.
3) Haberda in Schmidtmann 1. c. S. 267, an der Vulva einer Stute blutiger
Schleim, Verdacht auf Unzucht. Von den Tierärzten Möglichkeit zugegeben, daß
das Pferd „rossig“ sei.
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XIII. Kurt v. Sury
Begutachtung (Prof. M. Richter) eingeliefert. Es brauchen aber
bei Hühnern nicht notwendig ausgedehnte Verletzungen zu ent¬
stehen; in einem meiner Fälle war die Kloake nur erweitert. Läh¬
mung der Beine infolge Festhaltens ist in einem zweiten Falle
konstatiert worden.
Veranlassung zur Tat. Bei den jungen Burschen trugen
Unüberlegtheit und erwachte Begierde Schuld an der Ausführung
des unnatürlichen Kopulationsaktes. Von den älteren Angeklagten
waren nach den Akten zur Zeit der Tat 120 mehr weniger berauscht,
doch findet sich unter ihnen nur eine kleine Zahl chronischer Trinker.
Kinder aus verwahrlosten Familien werden oft frühzeitig verkost-
geldet oder kommen in Armenerziehungs- und Rettungsanstalten. Ich
habe in meiner großen Kasuistik einige Fälle, wo Zöglinge, von an¬
deren verführt, sittlich sehr tief gesunken sind. Einer von diesen
hat schon in der Anstalt wiederholt Bestialität getrieben (s. Kasuistik
Nr. 30).
Erzählungen von Drittpersonen über geschlechtliche und
widernatürliche Dinge, das Beobachten anderer bei Ausübung des
Geschlechtsaktes, das Zusehen beim Decken waren auch Ur¬
sache zur Ausübung der Unzucht (s. Kasuistik Nr. 25—26).
Von der großen Zahl lediger und alleinstehender Männer mit
Abrechnung der in der ersten Geschlechtsreife stehenden Jünglinge
haben nur 6 infolge Gelegenheitsmangels zum natürlichen Beischlaf
oder aus Schüchternheit gegenüber weiblichen Personen Umgang mit
Tieren gesucht. Nur ein einziger (s. Kasuistik Nr. 9) ist sexuell
so veranlagt, daß er mit Frauen nicht verkehren will, i) Es ist also
nicht die Unmöglichkeit zur Ausübung des normalen
Coitus als ein Hauptmotiv der Bestialität anzusehen,
als vielmehr die momentan sich bietende Gelegenheit,
das Tier zur widernatürlichen Befriedigung des einmal
erregten Geschlechtstriebes zu benützen (s. Kasuistik
Nr. 28—29).
Meist leugneten die Täter anfänglich frech, andere gestanden
gleich alles ein, wieder andere versuchten sich auszureden. Der eine
wollte an einer Kuh Iüuse suchen, ein zweiter behauptete, der Kläger
hätte ihm aus Rache den Schlitz aufgerissen. Sehr beliebt ist die
Ausrede der Notdurftsverrichtung.
1) Anmerkung des Herausgebers: Ein bildhübscher, baumstarker
Bauembursche, der wegen Bestialität angezeigt war, sagte mir (als Untersuchungs¬
richter): „Ich kann nicht anders: die älteste Gais ist mir lieber, als das schönste
Mädel!“ H. G r o ß.
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Die Unzucht mit Tieren.
303
Der Gedanke, die Tierschänder seien geistig minderwertig oder
gar Psychopathen, ist naheliegend. Von den 387 Angeklagten waren
aber nur 19 geistig beschränkt, die übrigen psychisch intakt. Die
Trunkenheit an sich bedingt auch noch keine geistige Minderwertig¬
keit; sie war in unseren Fällen nie so hochgradig, um strafaus-
schließend berücksichtigt zu werden. Die Annahme, die Besti¬
alität werde häufig von Schwachsinnigen oder Imbe¬
zillen ausgeübt, entspricht den tatsächlichen Verhält¬
nissen nicht. Der sittlich verkommene Mensch kann unnatürlichen
Lastern fröhnen, ohne geistig krank zu sein (s. Kasuistik Nr.
32—33) i).
In den Fällen von Zoosadismus (III) ist dagegen stets
eine psychiatrische Untersuchung des Täters angezeigt.
Es bandelt sich bei diesen Akten um eine sexuelle Perversion auf
psychopathischer Grundlage. Sie sind charakterisiert durch ausge¬
prägte Zeichen stattgehabter Grausamkeit. Lebensgefährliche Ver¬
letzungen der inneren Organe führten den baldigen Tod des mi߬
handelten Tieres herbei oder bedingten die Notschlachtung. Der
Ausgangspunkt für die Verletzungen waren meist die Geschlechts¬
teile. Als Objekte dienten Rinder, Pferde, Hühner. Bei kleinen
Tieren, namentlich bei Geflügel muß man sich aber hüten, jede aus¬
gedehnte Zerreißung der Geschlechtsgegend durch sadistische Hand¬
lungen des Täters erklären zu wollen. Es genügt zu deren Ent¬
stehung das Mißverhältnis zwischen der Größe des menschlichen
Gliedes und der Weite der Vagina bezw. der Kloake des Tieres 2 ).
Der Zoosadismus hat auch für den Tierarzt Interesse. Bei¬
spielsweise ist bei plötzlichen Todesfällen, oder bei rasch verlaufenden
Krankheiten mit unklaren Erscheinungen von seiten des Darmes und
der Geschlechtsorgane eventl. mit Blutabfluß an derartige Vorkomm¬
nisse zu denken. Ebenso wenn in einem Stalle mehrere Tiere
mit- oder nacheinander unter diesen Symptomen erkranken. Ergibt
1) Haberda: Viertelj. 1. c., S. 20, hat unter seinen Fällen auch nur ver¬
einzelte von Schwachsinn und Geistesstörung (Epilepsie). Hingegen mehrere
Fälle von Schwachsinn bei v. Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis, 1890.
Geistesstörung bei Schauen stein, Lehrb. der gerichtl. Medizin, 2. Aufl. S. 160
und bei Kratter in Haberda Viertelj. 1. c. S. 28.
Perversion des Geschlechtstriebes in dem Falle von Kowa-
lewsky 1. c. (Epileptiker), femers in den Mitteilungen von A. Moll, Libido
sexualis 1898, S. 431 und von J. Bloch, Medizin. Klinik, 1906, Nr. 2.
2) Allerdings muß bedacht werden, daß auch das verhältnismäßig große Ei
beim Legen Durchgang durch die Kloake findet, ohne daß das Huhn hierbei
bemerkbar Schmerz äußert.
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die Sektion eine auf den ersten Blick rätselhafte Peritonitis, so wird
•der Obduzent auf die mögliche Verletzung von Vagina, Uterus und
Rectum Bedacht nehmen müssen und nach der vielleicht nur kleinen
Eintrittsstelle der Sepsis zu forschen haben (s. Kasuistik Nr. 34—38).
Guillebeau >) berichtet über fünf in der Schweiz vorgekommene
Fälle von Sadismus. In jeder seiner Beobachtungen sind mehrere
Tiere verletzt worden; im ersten Falle 5 Kühe und 2 Rinder, im
zweiten Falle 10 Rinder und 10 Ziegen, im dritten Falle 16 Kühe,
4 Ochsen und 4 Ziegen usw. 1 2 ). Zwei Täter wurden psychiatrisch
untersucht und weil nicht geistig normal außer Verfolgung gesetzt.
In solchen Dingen spielt auch der Nachahmungstrieb eine große
Rolle. In Fall 4 verletzte der 18jährige Knecht im gleichen Stalle
und bei demselben Meister von Fall 3 mit einem Stocke einen Ochsen
tödlich, nachdem ihm der Meister von den Ereignissen in Fall 3 er¬
zählt und ihm sogar den ehemals benützten Stock gezeigt hatte.
Reichert 3 ) stellt aus der französischen Literatur 8 Fälle von
Zoosadismus zusammen; er fügt 6 neue Beobachtungen aus der Tier¬
arzneischule von Bern hinzu. In seinem ersten Falle hängen einem
weiblichen Fohlen zahlreiche Dünndarmschlingen aus der Wurfspalte
heraus. Einem anderen Pferde ist eine Dünndarmschlinge im After
sichtbar.
Rein sadistisch ist die Form von Kloakenonanie, die Mante-
gazza (1. c.) aus China und Bloch 4 ) aus Bordellen schildern.
Gänse bezw. Enten werden während des Geschlechtsaktes abgeschlachtet.
Die Qualen des Tieres und die reflektorischen Muskelkontraktionen
der Vagina sollen den Reiz erhöhen.
Einen Lustmord am Tiere beschreibt Merzbach 5 ). Eine
Ziege und ein Schwein zeigten Zeichen stattgehabter Unzucht. Kurz
darauf wurde die zu demselben Platze gehörige Hündin mit ausge¬
schnittenen Genitalien tot aufgefunden.
Zivilrechtlich ist zu erwähnen, daß in einigen Eheschei-
1) Guillebeau: Schweizerisches Archiv für Tierheilkunde 1899, S. 1.
2) Quantitativ steht der Fall von Froehner, Deutsche tierärztl. Wochen¬
schrift 1903, Nr. 17. S. 153, der Mitteilung von Gnillebeau nahe. Der schwach¬
sinnige 14jährige Junge traktierte mit einem 50 cm langen, zugespitzten dünnen
Stocke 3 Rinder, 2 Kühe, 16 Schafe und 1 Stute.
3) Reichert F.: Die Bedeutung der sex. Psychopathie des Menschen für
die Tierheilkunde. J. D. Bern 1902.
4) Bloch J.: Das Sexualleben unserer Zeit, 1907, S. 700 u. f.
5) Merzbach: Die krankhaften Erscheinungen des Geschlechtssinnes, 1909,
5 331; derselbe Fall bei Haberda, Viertelj. 1. c., S. 19.
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Die Unzucht mit Tieren.
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dungsprozessen die Bestialität des einen Ehegatten mit als Schei¬
dungsgrund geltend gemacht worden ist (s. Kasuistik Nr. 39).
Freigesprochen wurden im ganzen 49 Angeklagte; 100 waren
vorbestraft, wegen unzüchtiger Handlungen, Notzucht, Päderastie 25,
wegen Bestialität 11 einmal und 3 zweimal.
Der Artikel betr. die widernatürliche Unzucht der kantonalen
Strafgesetze ist allgemein gefaßt; die Bestialität wird nicht definiert.
Den gleichen Mangel zeigen auch die ausländischen Strafgesetzbücher.
Anlehnend an die bekannte Entscheidung des deutschen Reichs¬
gerichts (Bd. 23, S. 289) ist in den verflossenen Jahren die Aus¬
dehnung der strafbaren Unzucht mit Tieren begrenzt worden. Es
sind nur beischlafsähnliche Handlungen unter den Begriff der
Bestialität zu subsumieren i). Die Zooerastie und der Zoosadismus
werden als Unzuchtsakte nicht bestraft.
Diese einschränkende Auslegung ist von den meisten schweize¬
rischen Gerichten akzeptiert worden. In der Beurteilung macht sich
jedoch infolge der verschiedenen Strafmaße der Mangel einer ein¬
heitlichen Rechtsprechung fühlbar. In den letzten 6 Jahren (1903
bis 1908) wurden wegen Bestialität Freiheitsstrafen ausgesprochen:
im
Kanton Aargau von
14 Tag. Haft
bis 9
Mon. Zuchthaus
yy
yy
Baselland
yy
2 Woch. „
„ 3
„ Gefängnis
yy
Baselstadt
2 ,, Gefängnis
yy
yy
Bern
yy
14 Tag. „
„ 4
„ Korrektionsh.
??
yy
F r eiburg
2 Jahre Korrektionsh.
yy
yy
Granbünden
yy
14 Tag. Haft
„ 6
„ Zuchthaus
yy
yy
Luzern
yy
1 Mon. Arbeitshaus
„ 7
» >>
V
yy
Scha.ffhausen
yy
3 „ Haft
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„ Haft
yy
Solothurn
yy
3 Woch. „
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Jahr Gefängnis
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St. Gallen
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,, Arbeitshaus
V
yy
Thurgan
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2 „ Arbeitshaus
„ 5
Mon. „
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Uri
2 Jahre Zuchthaus
yy
yy
Zug
5 Mon. Arbeitshaus
yy
yy
Züri ch
yy
2 Tag. Haft
„ 8
yy yy
Von den übrigen Kantonen sind mir in diesem Zeiträume keine
abgeurteilten Unzuchtsfälle zur Kenntnis gekommen. Die niedersten
Strafen zeigen Zürich, Baselstadt, Graubünden usw., strenger dagegen
haben Freiburg (1904), Uri (1905), St. Gallen (1904) und Solothurn
(1907) bestraft.
Welchen Schaden kann die Bestialität anstiften?
Hat der Staat ein Interesse, die Bestialität zu bestrafen?
1) c. auch Hälschner: Das gemeine deutsche Strafrecht, Syst., Bd. II,
Teil I, S. 240. — Olshausen: Kommentar zum Strafgesetzbuch, 1S90, S. 711.
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XIII. Kurt v. Sury
Es war die Angst vor der körperlichen Schwächung der Bürger,
der Gefährdung des Familienlebens, der Verachtung der Ehe und der
dadurch bedingten Entvölkerung (Feuerbach) i), die immer wieder
zu gesetzgeberischen Maßnahmen gegen die Bestialität drängte 1 2 ).
Eine körperliche Schwächung tritt durch die Bestialität ebenso wenig
ein, wie durch die viel mehr verbreitete Onanie. Eine Minder¬
schätzung der Ehe kann man auch aus der hohen Zahl der 331
alleinstehenden Personen unserer Zusammenstellung nicht heraus¬
lesen, wenn man das noch sehr jugendliche Alter dieser Leute be¬
rücksichtigt
Die Motive zum Entwurf des nordd. St. G. B. heben hervor,
daß das Rechtsbewußtsein des Volkes die Bestialität als ein Ver¬
brechen beurteile. Ein Verbrechen wird aber nicht durch das Volks¬
bewußtsein, sondern nur durch Rechtssätze qualifiziert (Sonntag) 3 ).
Die sittliche Entrüstung rechtfertigt den Strafschutz noch nicht Die
Bestialität gehört zu den geschlechtlichen Verirrungen, die kriminal-
politisch zu beurteilen sind (Stooß) 4 5 ). Es läßt sich auch bei der
widernatürlichen Unzucht eine unmittelbar schädigende Wirkung auf
andere Personen nicht erkennen (Mittermaier 1. c.). In den Ver¬
handlungen der Expertenkommission 6 ) hat Hürbin als weiteres
Argument für die Bestrafung die oft mit der Bestialität verbundene
Tierquälerei angeführt. Tierquälerei wird nur selten bei dem Kopu¬
lationsakte mit Tieren, ausgenommen Geflügel und Kaninchen, statt¬
finden. Bei Beschädigung des Tieres kann ein Strafantrag nach
Art 256. Entw. 1903 (Tierquälerei) und Art 87,1 event 241,
Entw. 1903 (Eigentumsschädigung) 6 ) gestellt werden.
Die Bestialität ist im Vergleiche zu allen zur Anzeige gebrachten
Vergehen und Verbrechen nicht häufig eingeklagt worden. Tabelle
IV umfaßt die 5 Jahre 1903—1907. Die in Klammern beigefügten
Zahlen entsprechen den Fällen von Bestialität
1) Feuerbach: Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen
Rechts, 1805, S. 432.
2) Nebenbei hielt sich der Gedanke einer vielleicht doch möglichen frucht¬
baren Vermischung von Mensch und Tier aufrecht Gutachten der k. wissen-
schaftl. Deputation, Entw. des St G. B. für den nordd. Bund.
3) Sonntag: Arch. für preußisches Strafrecht. B. XVIII, S. 23.
4) Stooß C.: Die Grundzüge des Schweiz. Strafrechts 1893; Verhandlungen
der Experterkommission, 1896; Lehrbuch des österr. Strafrechts, 1. Lieferung,
1909, S. 21.
5) Schweiz. Strafrecht, Verhandlungen der Expertenkommission, 1896.
6) Anmerkung bei der Korrektur: Nach dem neuen Vorentwurf 1908
kommen in Betracht die Art. 280, 88 event. 248.
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HARVARD UN1VERSITY
Die Unzucht mit Tieren.
307
1903
1904 1905
1906
1907
1 .
Aargau
(sämtl. Straffälle)
2190(5) i)
2560(1) 2528(2)1)
2816(3)
2600(6) i)
2.
AppenzellA.Rh. 330(0)
(Bez.- u. Kriminalger.)
339(0) 306(1) i)
320(0)
353(0)
3.
Baselland
(sämtl. Straffälle)
762(0)
760(1) 664(2)
721(3)
640(0)
4.
Baselstadt
(Strafgericht)
520(0)
437(1) 421(0)
511(1)
t) 425(0)
5.
Graubünden
28(0)
25(0) 27(0)
29(1)
19(1)
(KantoDsgericht)
Luzern
6.
726(3)
690(2)1)
693(2)2)
(Staatsanwsch. u. Polizger.)
7.
Schaffhausen
(Straffälle)
183(0)
196(0) 177(2)
241(1)
240(0)
8.
Solothurn
(Anzeigen)
3552(1) i)
4138(1) 5554(0)
5705(4)
4903(1)
9.
St. Gallen
896(5)
956(2) 1015(0)
1062(0)
1119(1)
(Bez.- u. Kantonsger.)
10.
Thurgau
(Bezirksgerichte)
Uri
282(0)
298(2) 282(3)
334(4)
374(4)
11.
19(0)
12(1)
(0)
(0)
(Kriminalgericht)
12.
Zug
(Straffälle)
62(0)
61(0) 53(1)
52(0)
59(0)
13.
Zürich
3281(2)
3281(3) 3099(2)
3349(5)
3578(5)
(Bezirksgerichte)
In 26 Jahrgängen gelangten keine Unzuchtsfälle zur Aburteilung,
in 16 Jahrgängen je 1, in 8 je 2, in 5 je 3, in 3 je 4, in 4 je 5
und in einem Jahrgang je 6 Fälle. In den anderen Kantonen sind
in diesen 5 Jahren keine diesbezügl. Prozeduren vorgekommen; Bern
und Freiburg sind unvollständig.
Die öffentliche Sittlichkeit des Staates ist nicht mehr gefährdet,
wenn die Bestialität straflos bleibt. Die Bewohner der welschen
Kantone und der romanischen Länder sind gewiß nicht sittlich ver¬
kommener als die Leute bei uns, weil dort die Unzucht mit Tieren
nicht bestraft wird. Die widernatürliche Unzucht birgt keine soziale
Gefahr in sich, gegen welche der Gesetzgeber einschreiten muß 1 2 3 ).
Die Täter sind meist noch sehr jung. Viele haben nicht einmal
das 20. Jahr erreicht (ca. ein Drittel unserer Fälle). Diese Burschen
1) Freispruch; in Luzern, Aargau 1905 und 1907 je einer, in Aargau 1903
zwei freigesprochen.
2) Je 1 Fall auf 1906 und 1907.
3) s. gegenteiliges Votum von Perrier, Verhandlungen dy Experten¬
kommission 1. c.
Archiv für Kriminalanthropologie. 86. Bd. 21
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308
XUL Kurt-v. Sürt
werden trotz Geständnisses in den verschiedenen Untersuchungs¬
instanzen wiederholt bis aufs letzte ansgefragt. Das Henunzerren
dieses Schmutzes in Form von Verhören, wirkt auf das jugendliche
Gemüt viel schädigender ein, wie die so häufig in einem selbstver¬
gessenen Momente ausgeführte Tat Für die jugendlichen Sünder
ist ein Gefängnisaufenthalt von den schwersten Folgen begleitet. Die
älteren Insassen machen sich an die Jünglinge heran und verderben
sie ganz >). Aufklärung und Belehrung des Fehlbaren versprechen
das bessere Resultat als eine entehrende Freiheitsstrafe.
Die älteren Individuen, die an einem Orte, wo Drittpersonen
Zutritt haben, über Tieren ertappt werden, können auf Antrag nach
Art. 135, Entw. 1903 (öffentliche unzüchtige Handlungen)
bestraft werden.
Die Aufnahme der Bestialität als selbständiges Delikt in das
schweizerische Strafgesetz ist von der Expertenkommission (1895)
nur mit Stichentscheid abgelehnt worden. Bei der definitiven Fest¬
legung des Textes wird wohl nach den letzten Jahren der Klärung
keine Mehrheit an veralteten Anschauungen festhalten. In dieser
Hoffnung möchte ich mit den Worten Bindings 2 ) schließen: Un¬
wahres muß unterliegen, veraltetes und schlechtes muß fallen, das
der Besserung bedürftige verbessert werden — zu Ehren und Nutzen
unserer Zukunft
Basel, im Juni 1909.
Eigene Kasuistik.
(Ausgewählte Fälle.)
1. Unzüchtige Handlung. Ein 17jähriger Bäckerlehrling drückte
mit geschlossenen Hosen seinen Geschlechtsteil an eine Kuh und an einen
Hund, kein Samenerguß. Urteil: w. U. 2 Monate Gefängnis.
2. Unzüchtige Handlung. Ein 16jähriger Knecht spielte mit den
Fingern an der Zucht einer Bernhardinerhündin und steckte ihr ein
Tannenästohen in die Scheide. Urteil: 9 Tage Haft wegen Vergehens
gegen die Sittlichkeit.
3. Küssen von Kälbern. Ein 47jähriger Knecht wird im Stalle
bei Kälbern nur mit dem Hemde bekleidet angetroffen. Er bestreitet
widernatürliche Unzucht (w. U.), gesteht aber, die Kälber häufig geküßt
zu haben 3 ). Urteil: 1 Jahr Zuchthaus wegen w. U.
1) Marcovich A.: Das Gefängniswesen in Österreich 1899 (zit nach
Stooß, Lehrbuch, S. 23).
2) Binding K.: Lehrbuch des gemeinen deutschen Strafrechts; Besonderer
Teil, Vorwort.
3) Howard: The alienist and neurologist, 1896, Nr. 1. 16jähriger Jüngling
liebkoste stets ein Schwein, häufig Pollutionen, immer mit der Vorstellung eines
Schweines verbunden. Hascher geistiger Zerfall.
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Die Unzucht mit Tieren.
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4. Unzüchtige Handlung. Ein 50jähriger Schuster wollte gerne
wissen, wie es bei einer trächtigen Euh aussehe und stieß ihr den Arm
bis zum Ellbogen in die Scheide; ebenso traktierte er noch zwei Kühe
und eine Stute. Die drei Kühe zeigten starken Drang und hoben den
Schweif in die Höhe, das Herd blutete aus der Scheide. Urteil: w. U.
9 Monate Arbeitshaus.
5. Unzüchtige Handlung. Ein 22jähriger Maurer streichelte
einen Hund an Bauch und Rücken, setzte sich dann auf denselben, zog
sein Glied hervor und onanierte.
6. Unzüchtige Handlung. Ein Schreiner suchte mit 4 Kaninchen
zu coitieren, vermochte aber sein Glied nicht in die enge Scheide einzu¬
führen, weshalb er zwischen den Hinterbeinen der Tiere durch geeignete
Bewegungen Samenerguß bewerkstelligte l ). Urteil: w. U. 4 Monate
Korrektionshaus.
7. Cunnilinguus. Ein 15jähriger Bursche versuchte mit einem
Hunde aktive Päderastie zu treiben, was mißlang, worauf er sein Glied
von dem Hunde belecken ließ. Urteil: w. U. 3 Wochen Gefängnis.
8. Aktive Päderastie. Ein 18jähriger Knecht hielt zur Prozedur
den Hund am Schwänze fest. Urteil: w. U. 1 Jahr Zuchthaus.
9. Passive Päderastie mit einem Stier 2 ). Ein junger Stier be-
sprang einen 42jährigen ledigen Landwirt S. im Momente als dieser die
Krippe reinigen wollte. Anfänglich verteidigte er sich dahin, der Stier
habe ihm die Hosen heruntergetreten und das weitere sei ohne sein Zu¬
tun geschehen. S. war damals etwas angetrunken und in solchem Zu¬
stande hat er, wie er später zugibt, Neigung zu derartigen Dingen. Zum
Geschlechtsverkehr mit Frauen hat er keine Neigung. Zuletzt gesteht er,
den Stier damals gereizt zu haben, worauf dieser ihn bespreng und das
Glied in seinen After stieß. Der Stier hat ihn so fest an die Krippe ge¬
drückt, daß S. sich seiner nicht erwehren konnte, bis das Tier freiwillig
von ihm abließ. Während des Aktes empfand S. heftige Schmerzen im
Bauche, die ihn nach einiger Zeit nötigten, ärztliche Hilfe in Anspruch zu
nehmen. Bei der Untersuchung wurde eine Perforation der vorderen
Rectalwand 12 cm oberhalb des Anus festgestellt, die bei sachgemäßer Be¬
handlung rasch ausheilte 3 ). Urteil: 2 Monat Gefängnis wegen w. U.
10. Passive Päderastie mit einem Hund. Ein 24jähriger
Eisendreher F. zog sich aus, legte sich auf den Rücken und lockte den
Hund an; dieser pädizierte den F., nachdem letzterer den Penis des
Hundes in seinen After eingeführt hatte. Der Rücken des F. war total
verkratzt 4 ). Urteil: w. U. 1 Woche Gefängnis.
1) Hab er da: Viertelj. f. gerichtl. Med., 8. Folge, B. XXXIII Suppl. Ein
Mann befriedigte sich durch Reiben am Euter einer Ziege. Separ. Abz. S. 8.
2) Ipsen: Diskussion zu Haberda, Viertelj. 1. c., S. 27, erwähnt einen
ähnlichen Unzuchtsakt; einen Versuch kennt Moll, Libido sexualis, I, S. 432.
Über einen weiteren etwas unklaren Fall, der für den Betreffenden tödlich endete,
berichtet Tardieu, Attentats aux moeurs, 7. Aufl., S. 10 und 11.
3) Diese briefliche Mitteilung verdanke ich Herrn Dr. von Arx, Direktor
des soloth. Kantonspitals, s. auch Jahresber. dieser Anstalt, Olten 1905.
4) In 3 Fällen, die ich den Publikationen von Haberda (2), Viertelj. 1. c. S. 13
und 14, und von Anonymus (1), Annales d’hyg. publ. 1888, Band XIX, S. 56,
21 *
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11. Versuch der passiven Päderastie. Ein 2ßjähriger Knecht
reizte mit den Händen einen 2 Ljjährigen Bernhardiner bis zur Ejaculatio,
ließ hierauf seine Hosen herunter, damit ihn der Hund bespringe. In der
Untersuchung entschuldigte sich der Angeklagte dahin, es sei zur Zeit der
Tat heiß gewesen, weshalb er sein Hemd verlüften wollte. Urteil: Versuch
der w. U. 3 Monate Arbeitshaus.
12. Unzucht und Cunnilinguus einer Frau mit einem
Hunde *)• Die 36jährige Frau B., Mutter von 8 Kindern, wird von ihrem
Manne des Ehebruchs angeklagt (1908). Nach Angabe der Frau hat ein
ca. ßmaliger Verkehr mit dem Knechte stattgefunden, wofür sie aber von
ihrem Manne, mit dem sie seit 13 Jahren in guter Ehe lebte, Verzeihung
erhielt. B. glaubte trotzdem annehmen zu dürfen, daß er weiter hinter¬
gangen werde und erstattete die Anzeige. Die Frau beschuldigte nun
ihren Mann, er habe vor einigen Monaten wiederholt von ihr verlangt, sich
von dem Schäferhunde begatten zu lassen. Der Akt gelang nur zweimal
und zwar in Knie-Ellenbogenlage der Frau. B. reizte den Hund bis
zur Erektion, legte ihn dann der Frau mit den Vordertatzen auf die
Schultern und dirigierte den Penis in ihren Geschlechtsteil. Vor dem
Samenerguß entfernte B. den Hund und übte dann selbst den Coitus aus.
B. inszenierte diesen Akt aus Neugierde und um der Frau mehr Reiz
zu verschaffen, da sie in den letzten Jahren ihrem Manne gegenüber ge¬
schlechtlich kalt geworden ist. Selbst nach dem Geständnis des Ehebruchs
brachte B. den Hund noch einmal zur Frau in das Bett. Der Hund liebt
die B., er springt an ihr empor, tut wie verrückt, wenn sie kommt usw.
Ein etwas gewagtes Experiment unternahm der untersuchende Arzt. Er
brachte den fragt. Schäferhund zu seiner Herrin. Der Hund drängte nach
leichtem Locken den Kopf zwischen die Beine seiner Herrin und beleckte
ihre Genitalien 2 ). Hierauf begab sich die B. in Knie-Ellenbogenlage und
entnehme, sind bei passiver Päderastie mit Hunden bei plötzlichem Abbruch des
Geschlechtsaktes auf der Höhe der Erektion infolge des eigentümlichen anato¬
mischen Verhaltens der Eichel des Hundepenis (bedeutende Anschwellung,
Trennung nach der Begattung nicht sofort möglich) Rißverletzungen des
Afters eingetreten, die wir in unseren 2 Fällen allerdings nicht beobachten
konnten, da bei diesen der Akt ungestört verlief. Weitere diesbez. Literatur s.
Tardieu 1. c. S. 12 (Hund), Brouardel et Bouley, Annales d’hyg.
publ. 1884, Bd. XII, S. 528 (Hund), Montalti: Lo Sperimentale 1887 und
Ann. d’hyg. publ. 1888, Bd. XIX, S. 218 (Hund), an einer Prostituierten durch*
einen Hund ä la vache.
1) Ein entsprechender Fall im Archiv für Kriminalanthropologie 1903, Bd. 12,
S. 320 und bei Eulenburg, Sex. Neuropathie, S. 107.
2) Über die Rolle des Hundes bei Frauen conf. Mantegazza, Die Ge-
schlechtsverhältnisso des Menschen. Engerrand: La dövotion auxpetits chiens
dans l’antiqnitö et en France, Revue des Revues, 1. Sept. 1897. Ruggieri:
Storia di una blennorrea prodotla da lambimento canino, Venez. 1809. Moll:
Libido sex. I, S. 697. Schauenstein: Lehrb. der gerichtl. Medizin, 2. Aufl.,
S. 160. Ferö: Archivo di psiebiatria, Bd. XXV, S. 171. Haberda: Viertel]'-
I. c. S. 6 und 22 j 29jährige Magd, sehr sinnlich erregt, ließ sich vom Haushund
in Ermangelung eines Liebhabers die Vulva belecken. Garnier: Onanisme>
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Die Unzucht mit Tieren.
31L
mit leichter Nachhilfe ihrerseits legte sich das Tier über sie und machte
lebhafte Coitusbewegungen. Der Ehemann B. leugnete anfänglich, von
allen Seiten in die Enge getrieben, Sucidversuch (Kopfschuß) und blieb
in der Folge auf einer Körperseite völlig gelähmt. Durch die auf¬
opfernde Pflege seiner Frau gerührt, gestand er Urheberschaft und
Beihilfe bei dem Unzuchtsakte ein. Urteil: w. U. Frau 6 Wochen
und Mann 10 Wochen Gefängnis.
13. Orale Unzucht mit einem Kalbe 1 ). Der 43jährige Knecht
legte nach anfänglichem Leugnen ein offenes Geständnis ab. Das 4 Mo¬
nate alte Kalb wollte von dieser Zeit an nicht mehr ohne Finger im Maule
trinken! Urteil: w. U. 4 Monate Arbeitshaus.
14. Objektiver Befund am Täter. Ein 37jähriger Zimmermann
benützte in einer Nacht ein Schaf, eine Ziege und ein Kalb; er wurde
gleich am Morgen verhaftet und von dem Polizeimann sofort einer Leibes¬
visitation unterzogen. Hosen bes. in der Nähe des Schlitzes und das
Hemd vorne unten stark mit Tierkot beschmutzt. Innen am Hemde, wo
das Glied anliegt, eine Blutspur und ein kleines Flöckchen Schafwolle. An
der Eichel des Penis ein weisses Kälberhaar und in den Schamhaaren
wenig Schafwolle und etwas Kälberkot. Urteil: w. U. 2 Jahre Zuchthaus.
15. Objektiver Befund am Täter. Ein 19jähriger Tagelöhner
war beklagt, 2 trächtige Ziegen mißbraucht zu haben. Schon beim Ent¬
kleiden typischer Ziegengeruch. Am Hosenschlitz und am Hemde einige
weiße und weißbraune Haare und Tierkot. In der Eichelrinne kleine,
körnige braungelbe Bestandteile ähnlich halbverdauten Pflanzenfasern und
ein ca. IV 2 cm langes weißes Ziegenhaar. Urteil: 3 Monate Arbeitshaus.
16. Objektiver Befund am Täter. Ein 25jähriger Tagelöhner
bestritt hartnäckig, Unzucht mit einer Stute getrieben zu haben. Die ge¬
richtsärztliche Untersuchung, 5 Tage nach dem Vorkommnis, ergab hin¬
gegen an der Innenfläche der Vorhaut und in der Eichelfurche eine
mäßige Anzahl mohnkorn- bis hirsekorngroße weiche Krümel von grau¬
grüner bis schwärzlichgrüner Farbe, zwischen denselben 3 feine Häärchen,
die mikroskopisch mit Probehaaren aus After- und Scheidengegend der
betr. Stute übereinstimmten. Die grünlichen Krümel bestanden aus pflanz¬
lichen Zellen und Zellkonglomeraten, vermutlich Kotpartikel der Stute. Urteil:
w. U. 2 Wochen Gefängnis.
17. Objektiver Befund am Tier, Nachweis von mensch¬
lichem Sperma 2 ). In einer kleinen Quantität dünnflüssigen Scheiden¬
schleims von einer Kuh Nachweis von menschlichen Samenfäden. Der
Täter, ein 18jähriger Krämer, verurteilt zu 40 Tagen Gefängnis.
11. Aufl. Beob. 130. Merzbach: Die krankhaften Erscheinungen des Geschlechts¬
sinnes, Wien 1909, S. 315.
1) Auch Haberda, Viertelj. 1. c., S. 7, ein Kalb und ein Hund, Ipsen,
ebendort, S. 27, ein Kalb.
2) Menschliche Spermatozoon im Schleim der unverletzten Kloake eines
Huhnes, Krauß, Wrttbg. med. Korrspbl. 1. c.; Befund ebenfalls positiv in je
einem Falle von Schlegel, Berl. tierärztl. Wochenschr. 1900, Nr. 40, S. 469
(Henne) und von Guiliebeau 1. c. (Henne).
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18. Idem. Ein 49jähriger Schuster mißbrauchte eine Ziege; seine
Hosen waren voll Ziegenhaare. Die Ziege zeigte starkes, Geburtswehen
ähnliches Drängen, war ängstlich, störrisch, mit stark gekrümmtem Rücken.
Geschlechtsteile geschwollen, auf der linken äußeren Seite eine 2 Frs.
Stück große Schürfung, mikroskopische Untersuchung des Scheidenschleims
ergab menschliche Spermatozoen. Urteil: 9 Monate Korrektionshaus. —
In zwei weiteren Fällen posit Nachweis von Sperma im Scheidenschleim
von 2 Ziegen.
19. Objektiver Befund am Tiere. After eines pädizierten
Hundes leicht angeschwollen, Schleimhaut mit dünnem eitrigen Sekret be¬
deckt. Der Angeklagte, ein 6 7jähriger Witwer, verurteilt wegen w. U. zu
4 Monaten Gefängnis.
20. Objektiver Befund am Tiere. Bei einer Kuh: 1. Scham¬
lippe bis auf das 5fache vergrößert, mit Blut und Schleim bedeckt;
Scheidenschleimhaut wurde nekrotisch abgestoßen. Kuh stand mit schwach
anfgebogenem Rücken und mit hinten gespreizten Beinen da, Appetit ge¬
ring. Genesung.
21. Objektiver Befund am Tiere. Eine Ziege vermochte nach
der Tat nicht mehr auf den Hinterbeinen zu stehen. Conf. auch
FaU 37.
22. Objektiver Befund am Tiere. Der Hinterleib eines Schafes
mit Blut beschmiert, die beiden letzten Schwanzwirbel mit der Haut abge¬
rissen und der Schweif selbst an der Wurzel frakturiert, Scham und After
angeschwollen. Notschlacbtung; nach der Abhäutung Hinterbeine durch
Blutung blau verfärbt.
23. Objektiver Befund am Tiere. Rektum und Scham eines
Schafes faustgroß vorgetrieben, aus beiden zu Lebzeiten Blutabgang. Not¬
schlachtung; Mastdarm auf eine Strecke von IS cm, Scheide vorn bis 12 cm,
hinten bis 4 cm auf gerissen.
24. Objektiver Befund am Tiere. Ein 19jähriger Landarbeiter
suchte mit zwei Hennen und einem Kaninchen zn verkehren. Bei allen
war aber die Geschlechtsöffnung zu klein; er erwürgte deshalb die Tiere,
schlitzte mit dem Messer den Geschlechtsteil auf und benützte sie auf diese
Weise. Der Angeklagte gibt zu, schon viele Jahre Hühner mißbraucht zu
haben; er warf sie nachträglich ins Wasser. Zugleich eines kleinen Dieb¬
stahls beklagt, Urteil: 8 Monate Arbeitshaus.
25. Erzählung von Drittpersonen. Ein 34jähriger Elektriker
installierte in einer Stallung die elektrische Leitung und coitierte eine Stute.
Er gibt an, vor ca. 11 Jahren von einem Knecht, der mit Pferden Besti¬
alität getrieben, von diesem Umgänge gehört zu haben. Am gleichen
Abend versuchte er es selbst und betrieb seitdem regelmäßig Unzucht mit
Stuten. Damals war er Fuhrwerker, wechselte aber aus eigenem Antrieb
den Beruf, um seiner Leidenschaft Herr zu werden. Er verfiel auch nur
wieder in das alte Übel, wenn er einen Rausch hatte ')• Obschon er
Mädchen den Pferden bei weitem vorzieht, fehlt ihm gegenüber weiblichen
Personen die Courage. Urteil: w. U. 6 Monate Zuchthaus.
1) Diese Angabe findet sich noch in 3 anderen Falten.
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Die Unzucht mit Tieren.
313
26. Zusehen beim Decken einer Kuh und zweier Ziegen hat drei
Knechte so aufgeregt, daß sie nach der Heimkehr im Stall die Tiere gleich
selbst mißbrauchten.
27. Verdacht auf Unzucht bei Krankheit des Tieres. Ein
71 jähriger Bauer fuhr mit Dünger auf das Land. Das Pferd hatte an den
Hinterbeinen starke Beisse und war unruhig. Er hielt deshalb den Wagen
an und urinierte über die Beine des Tieres, um die entzündeten Stehen
abzukühlen. Dieser Vorgang aus der Feme beobachtet, wurde als angeb¬
liche Bestialität zur Anzeige gebracht, doch erfolgte mangels Beweises
Freispruch.
28. Gelegenheitsmangel zum natürlichen Beischlaf. Ein
21 jähriger Fabrikarbeiter, der Bestialität mit Kuh und Ziegen beklagt, hat
noch nie mit einer Frau geschlechtlich verkehrt; „es will mich keine, wenn
ich einen Schatz hätte, so ging ich zu dem“. Urteil: w. U. 6 Monate
Korrektionshaus.
29. Gelegenheitsmangel. Ein Wirt entschuldigt sein Vergehen
mit der Krankheit seiner Frau. — Ein 24jähriger Knecht machte der
Haustochter einen Antrag, als ihn diese abwies, begab er sich in den Stall
zu den drei Ziegen!). Urteil: w. U. 3 Monate Arbeitshaus.
30. Verwahrlosung von Jugendlichen. Ein 17jähriger Fabrik¬
arbeiter wurde von seiner Stiefmutter durch das Schlüsselloch beobachtet,
wie er mit einer Kuh und einer Ziege Unzucht trieb. Noch zu Schul¬
zeiten hatte er mit der 12jährigen unehelichen Tochter der Stiefmutter ge¬
schlechtlichen Umgang, und zwar mit Vorwissen der Eltern in dem ge¬
meinschaftlichen Schlafzimmer. Urteil: w. U. 4 1 /* Monate Gefängnis. —
In einem anderen Falle verleitete der Vater seinen Knaben unter
Drohungen zu Unsittlichkeiten und munterte ihn auch zur Unzucht mit
dem Vieh auf.
31. Unzucht als Heilmittel für Krankheiten 2 ). Ein 18-
jähriger Knecht leidet von Jugend auf an Bettnässen. Es wurde ihm des-
1) Weber C. 1. c., ein Mann coitiert mit einem Schwein; Motivierung: seine
Frau sei ihm zu lange ausgeblieben, deshalb ging er über die Sau. Cramer:
Gerichtliche Psychiatrie, 1903, III. Aufl., S. 376, .ein Mann schändete wiederholt
Hennen, weil er weit von seiner Frau entfernt sei. Gyuorkovechky: Männ¬
liche Impotenz, 1889, S. 82, 30jähriger Mann aus den höheren Ständen trieb mit
Hennen Unzucht. Die abnorme Kleinheit seines Gliedes, durch ärztliche Unter¬
suchung bestätigt, verunmöglichte den normalen Verkehr.
2) Namentlich zur Heilung von Geschlechtskrankheiten wird die
Bestialität immer wieder versucht, in Haberdas Statistik, Viertelj. 1. c. S. 22,
sind es ein Kutscher und ein Knecht, die eine Kuh bezw. ein Huhn mißbrauchen;
Krauß (zit. nach Bloch, Psychopathia sexualis) berichtet von den Südslawen,
die bei einer Henne Hilfe suchen. Sie wird zuerst lebend gerupft, während des
Geschlechtsaktes allmählich geschlachtet, wodurch sich die Vagina zusammen-
krampft und den Tripper aus der männlichen Harnröhre herauspreßt. Um eine
dauernde Heilwirkung zu erzielen, muß das Huhn gebraten und das Fleisch von
einem durchreisenden Fremden verzehrt werden, welch letzterer dann die Krank¬
heit mitnimmt. — Bei den Persern wird die Unzucht mit Eselinnen vielfach von
den Ärzten als wirksames Mittel verschrieben (J. E. Polak, 1861, Wiener mediz.
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wegen der Rat erteilt, einem Mädchen beizuwohnen. Dazu fand er keine
Gelegenheit und so erhoffte er anch von dem Verkehr mit einer Kuh
Heilung. — Ein ehern. Soldat in holländischen Diensten, als unsittlicher
Mensch bekannt, ist der wiederholten Unzucht mit einer Kuh beklagt Er
leidet an einer narbigen Verengerung der Harnröhre mit Fistelbildung und
hat häufig starke Schmerzen. Zu seiner Entlastung führt er an, er wollte im
Stalle warmen Kuhkot holen, um damit sein Glied einzupacken, er habe
dann weniger Schmerzen und tue es deshalb stets, bevor er zu Bette gehe.
Urteil: Freispruch.
32. Fragliche Psychopathia sexualis. Ein 47jähriger Wirt
ist seit 12 Jahren verheiratet, Vater von drei Kindern, wird von seiner
Frau der w. U. bezichtigt Sie erzählt, daß ihr Mann von Anfang an
einen unersättlichen Trieb zum Beischlaf gehabt hätte. Gleich nach Ver¬
heiratung begann er auch mit jungen Burschen unzüchtige Handlungen zu
treiben, was in letzter Zeit immer ärger wurde. Zudem verkehrte er mit
einer Hündin, einem Schaf und fast täglich mit einem Mutterschweiu. Die
eingehende psychiatrische Untersuchung ergab keine krankhaften Erschei¬
nungen. Urteil: 45 Tage Gefängnis.
33. Geistige Beschränktheit. Ein 19jähriger Knecht Z. stand
wegen U. mit einem Schafe in Untersuchung. Er unterband sich in der
Haft den Penis in der Mitte mittelst eines Bindfadens, die periphere Hälfte
schwoll stark an. Z. gab an, eine fremde Hand habe die Ligatur ange¬
legt, was nicht glaublich ist, da der Knoten nicht fest zusammengezogen
war und er denselben leicht hätte auflösen können. Urteil: w. U., Selbst-
bescbädigung, Tierquälerei, Entwendung 2 Jahre Zuchthaus.
34. Zoosadismus. 38jähriger verheirateter Tagelöhner, vorbestraft
wegen w. U. resp. Eigentumsbeschädigung; damals hatte er einer Kuh,
einem Rinde und einem Kalbe einen Stock in die Geschlechtsteile ge¬
stoßen. Jetziger Tatbestand: Eine Kuh im Stalle tot aufgefunden, zeigte
bei der Sektion in der Leibeshöhle einen 75 cm langen Stock. Todes¬
ursache zahlreiche innere Verletzungen, am Uterus 6, an einer Niere 2,
an der Milz 7, Leber 5, Lungen 4 und 7 Perforationen des Zwerchfells 4 ).
Der schlecht beleumdete Mann war kurze Zeit vorher in einen anderen
Wochenschrift, S. 629) und beim gleichen Volke auch gegen Hüftweh angewendet
(Weber C., Demokritos, 1862, Bd. V, S. 228—229, zit nach Bloch, Psychop.
sex.) — Kurierung von Impotenz, Näcke, Arch. für Kriminal-Anthropologie
Bd. XV, S. 296.
1) Grundmann: Berl. tierärztl. Wochenschrift, 14. Nov. 1906. Der Täter
schändete zuerst ein Rind, ein Versuch bei einer Kuh mißlang. Aus Wut dar¬
über stieß er dann beiden Tieren den Stiel einer Mistgabel wiederholt iD den
After. Die Kuh ging gleich ein, Notschlachtung des Kalbes am folgenden Tage;
Sektion der Kuh: Riß des Mastdarms, zahlreiche Verletzungen der Bauch- und
Brustorgane. Mit demselben Instrument wurde im Falle von Pelz: Deutsche
tierärztl. Wochenschrift, 1905, Nr. 49, S. 567, eine Stute verwundet. Einen
120 cm langen Stock führte, wie Ipsen erzählt (Vierteljahrsch. für gerichtl.
Medizin, 3. Folge, Bd. XXXIII Suppl., Disk, zu Haberda, 1. c.', ein 19jähriger
schwachsinniger Bursche in den Anus eines Ochsen ein; durch innere Verletzungen
erfolgte der Tod des Tieres.
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Die Unzucht mit Tieren.
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Stadel eingedrungen; eine Ziege aus diesem Stalle blutete aus dem Ge¬
schlechtsteil, eine Kuh mußte nach 5 Tagen notgeschlachtet werden.
Autopsie: Perforation des Uterus. Urteil: Versuch der w. U., Tierquälerei,
böswillige Eigentumsbeschädigung, rückfällig, 4 Jahre Zuchthaus.
35. Zoosadismus. Ein 16jähriger Dienstknabe stieß wiederholt 8
Kühen teils einen Stock, dann auch seine Hand in den After. Die psy¬
chiatrische Untersuchung ergab bei dem Jüngling hochgradigen Schwach¬
sinn, darauf Einstellung der gerichtlichen Verfolgung. Die Kühe sprangen
bei seinen Manipulationen in die Höhe, was dem Burschen Freude be¬
reitete. Das tierärztliche Gutachten stellte fest, daß die Tiere auffallend
auf den Mastdarm drängten, mitunter Durchfall, Abgang von blutigen,
schleimigen Fäkalien und Rückgang der Milchsekretion zeigten. Eine
dieser 8 Kühe mußte nach 5 Tagen geschlachtet werden, da die Milch¬
sekretion gänzlich aufhörte. Keine Sektion.
36. Zoosadismus. An zwei Ziegen und einem Schaf hat sich ein
26jähriger Knecht vergriffen. Die zwei Ziegen wurden im Stalle tot auf¬
gefunden, der einen war der Kopf zertrümmert, die andere wies bei der
Leichenschau Einrisse der Scheide auf. In einem anderen Stalle, wo das¬
selbe Individuum in der gleichen Nacht eingebrochen war, wurden ein
Kalb, eine Kuh und ein Schaf geschändet, letzteres ging zugrunde und
die Obduktion ergab wiederum eine Scheidenzerreißung. Der Täter er¬
klärte, er sei betrunken gewesen und gab nur zu, daß er die beiden Ziegen
geschlechtlich mißbraucht und dann der einen mit einem Stein den Schädel
eingeschlagen habe, während die andere sonst umgestanden sei'). Urteil:
w. U. 1 Jahr Zuchthaus.
37. Fraglicher Zoosadismus. Ein 20jähriger Schmied B. schän¬
dete 2 Hühner 2 ). Nach der Tat konnten die Hühner nicht mehr gehen, er
warf sie noch lebend in den Abort, dessen Rohr war aber zu eng und so
stieß er die beiden Tiere mit einem Stück Holz völlig hinunter. An den
Hosen vorne neben Hühnerflaum noch Katzenhaare. Die Hauskatze wurde
ebenfalls tot aufgefunden, doch bestritt B. mit derselben jeden Geschlechts¬
verkehr ; er wollte sie erwürgen, daß man dem wahren Sachverhalt bei den
Hühnern nicht auf die Spur komme. Er nahm die Katze auf den Schoß,
wobei sie ihn kratzte. Unter großer Erregung packte er sie dann an den
Hinterbeinen, erschlug sie und versetzte ihr zudem noch Fußtritte. Urteil:
w. U. x h Jahr Zuchthaus.
38. Fraglicher Zoosadismus. Ein 28jähriger Fabrikarbeiter soll
eine Kuh mit Messerstichen verletzt haben; Freispruch 3 ). — Ein 34jähri-
1) Inwieweit in diesem Falle sadistische Triebe mitspielen, ist nicht sicher
zu entscheiden; jedenfalls wäre hier auch an die Möglichkeit zu denken, daß
der Täter nach vollfübrter Unzucht das gebrauchte Tier aus Abscheu getötet
hat. Es ist dies ein Vorgang, wie ihn die gerichtl.-mediz. Praxis als Gegensatz
zum eigentlichen Lustmord kennt, worauf neuerdings Hab erda (Schmidtmann
1. c. S. 260) ganz besonders aufmerksam gemacht hat.
2) Lombroso: Arch. von Goltammer, Bd. 30. Fall Verzeni; schon
mit 12 Jahren hatte V. aus geschlechtlichen Motiven Hühner erwürgt; später
wegen ähnlicher Handlungen an Frauen zu Iebenslängl. Zuchthaus verurteilt.
3) Thoinot: Perversion du sens genital, S. 268, ein Mann schnitt einem
lebenden Kaninchen den Bauch auf und fand seine Befriedigung durch Ein-
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XIII. Kubt V. SüBY
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ger verheirateter Maurer hat angeblich aus Wut darüber, daß er naehts
sein Logishaus verschlossen fand, und wegen Erhöhung des Kostgeldes,
einer Kuh seines Wirtes zuerst ein Stück Holz und dann den Arm in die
Scheide gestoßen. Notsohlachtung, keine Obduktion. Urteil: w. U. 1 Jahr
Arbeitshaus.
39. Zivilrechtliche Folgen von Unzucht. Nach 18jähriger
Ehe klagt die Ehefrau auf gänzliche Scheidung von ihrem 44jährigen
Manne. Er ist Alkoholiker, öftere vollständig betrunken, skandalsüchtig
und schlägt seine Frau. Er war früher Zuhälter und führt in Gegenwart
seiner Kinder unanständige Reden und ist auch ausgezogen in das Zimmer
der erwachsenen Töchter gegangen. Der Lohn wird in zweideutiger Ge¬
sellschaft verpraßt, öftere ist er mit Pferdemist beschmiert nach Hause
gekommen und hatte sogar die Tasche und das Taschentuch damit gefüllt
Auf der Straße betastet er mit Vorliebe Pferde. Der Angeklagte gibt an¬
fänglich die Unzucht mit Pferden zu, bestreitet aber diesen Verkehr später
wieder. Seine Frau verwehre ihm schon seit längerer Zeit den Beischlaf,
weshalb er hie und da sein Taschentuch in Pferdeurin getaucht, daran ge¬
rochen und einen gewissen Genuß empfundeu habe. Ehescheidung aus¬
gesprochen.
graben seiner Hände in die blutigen Eingeweide. — v. Krafft-Ebing: Psycho-
pathia sex., 12. Aufl., S. 96, ein hochgestellter Herr empfand beim Schlachten
der Tiere, sobald er das Blut fließen sah, Lustgefühle.
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XIV.
Aus den Erinnerungen eines Polizeibeamten.
Von
Hofrat J. Hölzl.
VH. Eine bittere Enttäuschung.
Vor Jahren lebte in Graz die Witwe eines höheren Militärs,
Frau Anna L., in stiller Zurückgezogenheit mit ihrer Tochter Helene,
einem liebenswürdigen feingebildeten Mädchen, und Mutter und Tochter
verkehrten fast ausschließlich nur in einem kleinen Bekanntenkreise;
dem auch ich, damals Polizeidirektor von Graz, angehört hatte. Eines
Tages nun, es war in den letzten Tagen des Monates Juli, erhielten
die Bekannten der Frau L. durch eine in besonders eleganter Form
ausgegebene Anzeige die Nachricht, daß sich Fräulein Helene L.
mit dem Staatsingenieur Gustav v. M. am 18 . August vermählen und
die Trauung in der Herz-Jesu-Kirche zu Graz stattfinden werde.
Diese Nachricht überraschte umsomehr, als bis zum Erscheinen der
Vermählungsanzeige selbst die intimsten Freundinnen der Braut keine
Ahnung hatten, daß dieselbe irgend eine ernste Beziehung unterhielt.
Es war aber auch, wie mir die Mutter der Braut versicherte, als ich
sie gelegentlich meines Gratulationsbesuches allein zu Hause antraf,
alles sehr rasch gekommen.
Gustav v. M., der ebenfalls einer Offiziersfamilie entstammte,
befand sich nach seiner Angabe auf der Rückreise von der Weltaus¬
stellung in Chicago, und wollte sich nur vorübergehend in Graz auf¬
halten, jvo er eine auch der Frau L. befreundete Dame aufsuchte,
welche ihn und seinen Bruder als Knaben gekannt hatte, später aber
mit seiner Familie in keinem näheren Verkehr stand. Bei dieser
Dame lernte nun Gustav v. M. Fräulein Helene L. und deren Mutter
kennen, drängte sich in ihre Gesellschaft und hielt schon am dritten
Tage der Bekanntschaft um die Hand des Fräuleins Helene an, die
ihm, der hier auf großem Fuße lebte, ohne Bedenken zugesproehen
wurde, da er sich als junger Mann von einnehmender äußerer Er¬
scheinung. durch seine feinen Manieren, wie nicht minder durch sein
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XIV. J. Hölzl
sicheres, kavaliermäßiges Auftreten schnell die Sympathien, sowohl des
Fräuleins als auch der Mutter zu erwerben gewußt hatte.
Im weiteren Verlaufe meiner Unterredung mit Frau L. erfuhr
ich auch, daß Gustav v. M. in einem hiesigen Hotel wohnte, obwohl
er, wie ich bereits konstatiert hatte, polizeilich nicht gemeldet war.
Ich äußerte infolgedessen, sowie wegen des kurzen Aufenthalts des
Bräutigams in Graz Bedenken inbezug auf die Möglichkeit des
kirchlichen Aufgebotes, doch versicherte mir Frau L., daß diesbezüg¬
lich Gustav v. M. schon selbst alles geordnet habe. Jedenfalls aber
waren die von mir der Frau L. gegenüber geäußerten Bedenken die
Ursache, daß noch am selben Tage Frau L. mit dem Brautpaare bei
mir erschien, wobei ich Gustav v. M. zum ersten Male sah und der¬
selbe eifrigst bestrebt war, meine Bedenken zu zerstreuen, indem er
insbesondere betonte, daß er gemeldet sein müsse, weil er eigenhändig
einen Meldezettel im Hotel ausgefüllt habe, und daß von ihm auch
alle für das kirchliche Aufgebot erforderlichen Dokumente bereits
dem zuständigen Pfarramte übergeben worden seien. Gerade dieser
Besuch bei mir hatte jedoch für den Bräutigam eine Konsequenz, die
seiner Hochzeitsangelegenheit eine ganz unerwartete Wendung gab;
denn die Art seines Auftretens hatte in mir ein gewisses Mißtrauen
erweckt, was zur Folge hatte, daß ich mich sofort eingehender mit
der Sache befaßte.
Zunächst veranlaßte ich neuerlich Erhebungen in betreff der
Behauptung des Gustav v. M., daß er polizeilich gemeldet sein müsse,
und ergab sich hiebei das folgende überraschende Resultat: Gustav
v. M. war aus dem Hotel, in welchem er wohnte, tatsächlich polizeilich
angemeldet worden, jedoch nicht mit dem Namen Gustav v. M., unter
welchem er dort verkehrte und seine Briefschaften erhielt, sondern
als Ingenieur Adolf Müller aus Wien, wie er sich auf dem von ihm
selbst geschriebenen Meldezettel genannt hatte. Dem im Hotel mit
dem Meldewesen betrauten Portier war dies wohl aufgefallen, der¬
selbe wurde aber, als er auf den wahrgenommenen Widerspruch auf¬
merksam gemacht hatte, von Gustav v. M. damit beruhigt, daß dieser
erklärte, der Herr Polizeidirektor sei bereits von den Gründen unter¬
richtet, aus welchen er sich im Meldezettel Adolf Müller genannt
habe. Dies geschah {bald nach der Ankunft des Gustav v. M. in
Graz, also zu einer Zeit, zu welcher ich denselben noch gar nicht
gekannt hatte und er nur von seiner Braut oder deren Mutter er¬
fahren haben konnte, daß sie mit mir im Verkehr standen. Die Er¬
klärung, womit Gustav v. M. den Hotelportier beruhigt hatte, war
also nichts anderes als eine freche Lüge, ebenso wie seine Behauptung,
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Original fram
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Aus den Erinnerungen eines Polizeibeamten.
319
daß er die für das kirchliche Aufgebot erforderlichen Dokumente be.
reits dem zuständigen Pfarramte übergeben habe. Im Pfarramte batte er
nämlich, wie erhoben wurde, wohl Nachfrage gehalten, welche Doku¬
mente er für das Aufgebot benötige, war aber dann nicht wieder er¬
schienen, so daß eine Trauung an dem in der Vermählungsanzeige
festgesetzten Tage ganz unmöglich schien, obwohl er hiezu in seinem
Hotel auch schon ein großartiges Hochzeitsdiner bestellt hatte.
Der in mir schon früher erwachte Verdacht, daß Gustav v. M.
ein Schwindler sein könne, erhielt dadurch neue und kräftige Nahrung
und ich verfügte deshalb ohne weiteres Besinnen seine Verhaftung,
die zufällig in dem Momente zum Vollzüge kam, als er mit der Braut
und deren Mutter am Bahnhofe erschien, um dort einen Onkel der
Braut zu erwarten, welcher der Hochzeit beiwohnen sollte. Es war
dies am 15. August, also drei Tage vor der projektierten Trauung.
Noch nach seiner Verhaftung behauptete Gustav v. M. hartnäckig,
die angegebene Stellung zu bekleiden, sowie auch eigenes Vermögen
zu besitzen, doch konnte ihm bald das Gegenteil bewiesen werden.
Es wurde vor allem festgestellt, daß nicht er, sondern sein Bruder
ein staatlich angestellter Ingenieur war; er selbst hatte die Schlosserei
erlernt und nebenbei eine Gewerbeschule besucht, worauf er in die
Kriegsmarine eintrat und dortselbst vier Jahre diente, ohne es weiter
als zum Unteroffizier gebracht zu haben. Betreffend seine Ver¬
mögensverhältnisse hatte Gustav v. M. der Braut und deren Mutter
gegenüber geradezu überschwengliche Mitteilungen gemacht und da¬
durch dieselben auch ihrerseits zu größeren Ausgaben bei der Aus¬
stattung sowohl, als auch für die Hochzeit veranlaßt. Er behauptete
als Jngenieur 2400 fl. Gehalt zu beziehen, 18000 fl. in Chicago und
6000 fl. in Ungarn erworben zu haben und außerdem noch 40 000 fl.
zu besitzen. Weiters telegraphierte er einmal von Wien, wo er angeb¬
lich seine Mutter besuchte, er habe ganz unverhofft 21000 fl. gewonnen
und erzählte nach seiner Rückkehr, seine Mutter habe von einer
alten Tante 300000 fl. geerbt. Alle diese Angaben bekräftigte er
durch wertvolle Geschenke an seine Braut und so gelang es ihm
unter dem Vorwände, daß seine Gelder bei der Eskomptebank noch
nicht eingetroffen seien, die Mutter der Braut zu einem Bardar¬
lehen in der Höhe von 300 fl. zu vermögen. Auch 'im Hotel, in
welchem er wohnte, hatte er mit Rücksicht auf seinen anfänglichen
Aufwand, welcher ihn als wohlhabenden Mann erscheinen ließ,
nicht nur den Hotelier sondern auch verschiedene Bedienstete teils
zu Kreditierungen, teils zur Leistung von Darlehen zu bestimmen
gewußt.
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320
XIV. J. Hölzl
Was und wo Gustav v. M. zuletzt gewesen war, bevor er nach
Graz kam, darüber brachte eret eine im Zentral-Polizeiblatte verlaut¬
barte Ausschreibung der Ober-Stadthauptmannschaft Budapest nähere
Aufklärung. Gustav v. M. war hiernach bei einem Kaufmanne in
Budapest als Gewölbdiener angestellt gewesen und entwich von dort
anfangs Juli mit einem ihm von seinem Chef anvertrauten Barbetrag
von 1550 fl. Hierdurch war nicht nur die Provenienz des Geldes,
mit welchem Gustav v. M. nach Graz gekommen und das er hier
mit vollen Händen ausgegeben hatte, sondern auch der Grund, warum
er Bich unter falschem Namen gemeldet hatte, hinreichend klargelegt
Außerdem wurde im gerichtlichen Verfahren festgestellt, daß Gustav
v. M. ohnedies verehelicht war, seine Gattin aber verlassen batte und
weiters noch, daß er schon früher einmal wegen eines ähnlichen
Heiratsschwindels vom Landesgerichte Triest zu sechs Monaten
schweren Kerkers vernrteilt und als Ausländer aus Cisleithanien
verwiesen worden war.
Überwältigt von der Wucht des angesammelten Beweismaterials
schritt nun endlich Gustav v. M. zu einem vollen Geständnisse seiner
Schuld, worauf dann auch wegen der von ihm hier begangenen Be¬
trügereien, sowie wegen der Falschmeldung und verbotenen Rückkehr
seine Verurteilung zu sechsjährigem schweren Kerker durch das
hiesige Schwurgericht erfolgte, wogegen das Strafverfahren wegen der
in Budapest verübten Defraudation dem hierzu kompetenten königlich
ungarischen Gerichte überlassen werden mußte.
Bemerkenswert ist schließlich noch die leichtfertige Art, wie sich
Gustav v. M. den Ausgang seiner Heiratsangelegenheit gedacht hatte,
falls seine Verhaftung nicht erfolgt wäre: Er wollte, seiner Angabe
nach, gelegentlich verschwinden und sich dann brieflich bei Frau
Anna L. entschuldigen.
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XV.
Gin jugendlicher Raubmörder.
Von
Dr. Rud. Huber k. k. Staatsanwaltstellvertreter in Bozen.
Am 17. März 1905 morgens wurde ln Venedig die Prostituierte
Norma Marocchi in ihrer ärmlichen Wohnung erschossen aufgefunden.
Der Tat verdächtig erschien ein junger Deutscher, Otto M. aus Meran,
der denn auch bei seiner Verhaftung am 22. März, die im Passeier¬
tale wegen eines Diebstahls erfolgte, sofort vollkommen geständig war.
M. hatte das 16. Jahr noch nicht vollendet. Ein schmucker
Junge, etwas über sein Alter entwickelt, von großer Intelligenz und
Gewandtheit im Sprechen, machte er durchaus keinen ungünstigen
Eindruck und ließ all das Schlimme nicht ahnen, das er auf dem
Kerbholz hatte.
M.s Vater war Advokatenschreiber, erst im Unterinntale, später,
als Otto zehn Jahre zählte, in Meran, das sich schon als Capua der
Geister für viele Jugendliche erwiesen hat. Der Vater wird als
jovialer Gesellschafter geschildert, der nicht ungern einige Gläser über
den Durst trinke. Der mütterliche Einfluß wird als ungünstig be¬
zeichnet Sie sei viel zu wenig strenge, ergreife stets die Partei ihrer un¬
gezogenen Kinder und habe deshalb, weil sie für deren Streiche immer
selbst eintrat, in S. in wenigen Jahren fünfmal die Wohnung wechseln
müssen. Die Auskünfte der Schule über Otto M. lauten schlecht So
hatte er im 4. Schuljahre in Meran wegen Lügenhaftigkeit und allerlei
von ihm veranlaßten Bubenstreichen die Sittennote „minder ent¬
sprechend." In geschlechtlichen Dingen sei er aufgeklärt und es
wurden schon damals Klagen laut, daß er mit Kameraden onaniere
und auch mit Mädchen sich zu schaffen mache. Der Klassenlehrer
schildert ihn als verschlossen, tückisch, verschlagen und trotzig, aber
nicht unbegabt, wie denn auch die Fortgangsnoten meist gute waren.
Wenige Tage nach vollendetem 14. Jahre wurde Otto M., nach
kurzer Lehrzeit bei einem Mechaniker, in Meran verhaftet, weil er
in’ ein fremdes Haus eingeschlichen war und dort eine Uhr gestohlen
hatte. Im Leihhause ließ er sie durch einen Knaben mit der An-
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322
XV. Rud. Huber
gäbe versetzen, die Mutter habe sie ihm gegeben, um Schuhe zu
kaufen. Der Erlös wurde beim Konditor verbraucht, bei dem auch
schon Backwerk gestohlen wurde. Die damaligen Erhebungen er¬
wiesen M. als eifriges Mitglied einer verzweigten jugendlichen Diebs¬
bande, der Diebstähle von Eiern, Most, Kohlen, Speck, Butter, Fischen
— zum Teil durch Einbruch — zur Last fielen.
- Zwei Wochen nach der gerichtlichen Einvernahme und Enthaf¬
tung in Meran wurde Otto M. mit zwei Begleitern auf dem Bahn¬
hofe in Bozen verhaftet Jeder der Knaben hatte ein neues Weid¬
messer bei sich, einer besaß eine neue Börse mit 74 K Inhalt, die er
auf M.s Anraten seinem Vater gestohlen hatte. Aus Furcht vor
Strafe wegen jener Diebstähle batten sie den Plan gefaßt, auszu¬
wandern und zwar nach Venedig, wo sie ein Boot zu mieten und
nach Amerika zu fahren gedachten. Das weitere Strafverfahren
förderte auch bedenkliche Exzesse in geschlechtlicher Richtung zu¬
tage, deren Schauplatz die von ihnen sogenannte „Räuberhöhle “ an
der Küchelbergpromenade war, in welcher wahre Orgien gefeiert
wurden. Der Magnet war ein 13 jähriges Karrnermädchen. Überdies
hatte M. mit einem Begleiter zwei Tage vor der Flucht nach Bozen
zwei Fahrräder ausgeborgt, zunächst mit der Absicht nach Triest
zu fahren. Dann aber hatte der eine diese Fahrgelegenheit zu un¬
sicher gefunden, beide hatten dann die Räder verpfändet und den
Erlös verjubelt Ein Guldenstück davon erhielt jenes Mädchen für
eine Probe in Venere, d. h. es verlangte vor Gewährung der Gunst,
daß M. eine Krone bei ihrer kleinen Schwester hinterlege. Da er
nur das Guldenstück hatte, erbat er es später wieder zurück, um es
wechseln zu lassen; er gedachte damit durchzugehen und so das
Mädchen zu prellen. Ihr Geschrei verhinderte aber die Ausführung
der Tat.
M. wurde damals zu 3 Monaten schweren Kerkers verurteilt
(Akt Vr 209/3 Bozen) und nach verbüßter Strafe in die Besserungs¬
anstalt in Laibach abgegeben. Dort führte er sich gut, sein Schul¬
zeugnis wies fast durchweg die Note „sehr gut“ auf und er wurde
mit befriedigendem Erfolge in der Schusterei ausgebildet
Die geschilderten Delikte sind deshalb von Interesse, weil sie
sich durchaus als die Vorstufen der schweren Verbrechen darstellen,
die M. zwei Jahre später beging. Man möchte fast von einem
Parallelismus der Delikte sprechen. Waren es die angeborenen üblen
Eigenschaften in ihm, die langsam zur Reife kamen, oder hatten
wirklich die Einflüsse schlechter Kameraden in der Besserungsanstalt,
von denen M. in der Untersuchung spricht, die Keime zu neuen Ver-
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Ein jugendlicher Raubmörder.
323
brechen in ihm entfaltet? Als äußeres Andenken an die Anstalt blieb
M. eine Tätowierung am linken Vorderarm (Anker mit Initialen).
Nach kurzem Aufenthalt im Elternhause kam dann M. als
Pikkolo in ein Meraner Hotel, wo er sich diebisch, verlogen und
arbeitsscheu erwies. Dann entschlossen sich die Eltern ihn, seiner
besonderen Neigung gemäß, nach Schlanders zu einem Malermeister
in die Lehre zu geben. Der Meister rühmt ihm großes Talent,
rasche Auffassung und Fertigkeit bei der Arbeit nach, auch sei er
folgsam, in der Hauswirtschaft verwendbar und nüchtern gewesen.
Gasthäuser habe er nicht besucht, auch Sonntags sich gern mit
Zeichnen beschäftigt. Der Lehrvertrag war auf drei Jahre ge¬
schlossen. Aber schon nach einer Woche, als der Meister M. in ein
Nachbardorf zur Arbeit mitnahm, schlich dieser sich nachts in die
Kammer der Kellnerin und entwendete ihre Uhr. Die Bestohlene
lenkte den Verdacht auf M., dieser leugnete und wurde ohne Erfolg
vom Gendarm durchsucht, weil er die Uhr versteckt hatte. Einige
Tage später, als sie wieder nach Schlanders zurückgekehrt waren,
bekannte M. dem Meister spontan den Diebstahl ein (— er selbst
sagt, er habe sich zuvor im Rausche verplaudert —), übergab ihm
die Uhr und bat ihn kniefällig um Verzeihung. Jener aber behielt
den Jungen nicht mehr und schickte ihn nach Meran mit dem nötigen
Reisegelde zurück. M. nahm aber den Weg talaufwärts und ver¬
dingte sich in Mals bei einem anderen Malermeister.
Am 7. März 1905 war er Imit einem Gesellen in einem Bauern¬
hause beschäftigt, bog sich, in Ausnutzung der erlernten Fertigkeiten
als Mechaniker, einen alten Schlüssel zu einem versperrten Wand,
schranke zurecht und stahl daraus 600 K. Zunächst versteckte er
das Geld in der Spalte einer Telegraphenstange, angeblich mit der
Absicht sich Malutensilien zu kaufen, doch habe die zufällige üble
Laune des Meisters in ihm den Entschluß gereift, sich aus dem Staube
zu machen. Große Vorsicht legte er nicht an den Tag; er gab das
ganze gestohlene Geld einer 23 jährigen Hausgenossin, der er ge¬
wogen war, in vorübergehende Verwahrung, schickte sie auf die Post,
eine Hundertkronennote zu wechseln, schenkte ihr 12 K „aus Liebe“
und ihrem jüngeren Bruder 2 K für das Schuheputzen. Dann wan-
derte er gen Meran mit rund 580 K.
Die Kurstadt bot ihm wieder ihre Freuden. Ein bedenklicher
Kamerad schloß sich ihm an, Gasthäuser und ein Zirkus wurden
besucht und dann ein nächtlicher Besuch bei einem noch nicht
14jährigen Bürgermädchen (Tochter eines Gewerbsmannes und Haus¬
besitzers) vereinbart, die den Liebesdurst ihrer Dienstmagd reichlich
Archiv für Kriminal&nthropologie. 85. Bd. 22
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XV. Run. Huber
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teilte. M. und sein Kamerad wurden um Mitternacht durch das
Parterrefenster eingelassen, jedes der Mädchen nahm einen zu sich
ins Bett und später wurden die Plätze vertauscht.
Die warme Neigung für das hübsche Bürgerstöchterlein, dessen
Magdtum schon früher ein Kutscher zerstört batte, klang deutlich
durch, so oft M. vor dem Untersuchungsrichter auf sie zu sprechen
kam, während er sonst bei großer Aufrichtigkeit in der Wiedergabe der
Tatsachen seine Gefühle wohl verbarg. Es scheint, daß dieses Mädchen
durch den Beischlaf mit M.s Freund ganz ermattet, ihm selbst die
erbetene Umarmung verweigert hatte. Und er, der zuvor seine Be¬
gierde bei der Magd befriedigt hatte, mochte sich nicht ungern ge¬
fügt haben. So die Darstellung des Mädchens, das jedoch die von
M. geleugneten intimeren Berührungen anfänglich zugab. Zehn Kronen
ließ M. im Bette des Mädchens zurück.
Mit dem ersten Morgenzuge fuhr er sodann nach Bozen und
kaufte sich hier einen Schwarzstahlrevolver mit loO Patronen („da
mir die Gefahr der Verhaftung vor Augen stand, dachte ich mir, daß
ich mich bewaffnen müsse —“), sowie Ring, Uhr und Kette und
fuhr am selben Tage weiter nach Verona. Hier kleidete er sich neu
und traf am nächsten Abend, den 14. März, in Venedig ein. Gondel¬
fahrten, Einkäufe und reichliche Mahlzeiten füllten die nächsten Tage;
die Nächte verbrachte er bei Freudenmädchen, zu denen ihn sein
Gondoliere führte. Einen Mosaikrahmen und Austern ließ er vom
Lido an seinen Vater schicken, Ansichtskarten gingen an die Freundin
in Mals und an den Gesellen seines dortigen Meisters (!), die meisten
Kostbarkeiten aber — allerlei Tand, wie er als Souvenir den Frem¬
den um teueres Geld in der Lagunenstadt angehängt wird — nebst
15 Ansichtskarten gingen an die Geliebte in Meran. Auch ließ sich
M. in mehreren Posen photographieren und gab dem Photographen
seinen richtigen Namen an. Schon in der Nacht des 15. März er¬
schreckte M. die Prostituierte, bei der er die Nacht verbrachte (ge¬
nannt la matta Cavallona) durch einen Revolverschuß, mit dem er
eine Fensterscheibe durchschlug.
Am 16. März geleitete ihn sein Gondoliere in die Wohnung der
Norma Marocchi, wobei M. seinen Führer für den nächsten Morgen
zu einer Fahrt nach dem Lido wieder bestellte. Die Marocchi ließ
sich für ihre Gunst 30 Lire vorauszahlen und M. wurde inne,
daß dies fast seine letzte Barschaft sei: 10 Lire erhielt sie noch
zur Bestreitung einer gemeinsamen Mahlzeit. M. behauptet, er sei
der (unbegründeten) Meinung gewesen, daß er noch 50 Lire be¬
sessen habe und daß ihm dieser Betrag von ihr gestohlen worden
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Ein jugendlicher Raubmörder.
325
sei, wenn er sich auch das Wie nicht’ erklären konnte. Da habe
er beschlossen, sich wieder in den Besitz der 30 Lire zu setzen
und während der kurzen Abwesenheit der Marocchi, als sie nach
dem ersten Geschlechtsakt das Nachtmahl besorgen ging, einen Ein¬
bruch in ihre Kommode versucht. Da dieser nicht gelang, habe er
den schon geladenen Revolver unter das Kopfkissen gelegt mit dem
Gedanken, wenn er den rechten Schlüssel sonst nicht bekäme, das
Mädchen zu erschießen.
Ein Kellner brachte 2 Gedecke und 1 /- 2 1 Wein, den M. ziemlich
rasch und allein trank. Dann vollzog M. mit der Marocchi nochmals
den Beischlaf und sie schliefen etwa eine Stunde. Gegen 3 Uhr er¬
hob er sich leise, nahm den Schlüsselbund der Dirne von ihrem
Nachtkästchen, ergriff den Revolver und versuchte die Kommode zu
öffnen. Durch das Abgleiten des Schlüssels erwachte sie, richtete sich
ein wenig auf, und sofort feuerte er gegen sie, auf ihren Kopf zielend,
einen Schuß ab, auf den sie zuröcksank. Da sie sich noch zu regen
schien, gab er aus noch geringerer Entfernung einen 2. Schuß gegen
ihre Schläfe ab. So M.s Darstellung. Beide Verletzungen waren
absolut tödlich.
Der rasch getrunkene Wein habe ihn in eine Art Taumelzustand
versetzt und er sei ganz gleichgültig gewesen, als die Tat geschehen
war. Im Zimmer der Ermordeten nahm er die 30 Lire, die
er erst bei der zweiten gründlichen Durchsuchung gefunden haben
will, aus der Kommode, ferner ihren Pelzkragen, ihre Strumpfbänder,
deren eines er um seine Brieftasche schlang, auch schnitt er aus
einer Photographie, welche die Marocchi mit einer Begleiterin dar¬
stellte, den Kopf seines Opfers heraus. Das Bild fand sich in seiner
Brieftasche.
Der Leichnam selbst fand sich in völliger Rückenlage, die Hände
unter der Brust gekreuzt, die Decke bis zum Kinn auf die Leiche
gebreitet, sodaß kein Zweifel bestand, daß M. sich noch mit der Ge¬
töteten beschäftigt hatte. Tatsächlich hatte die Dienerin am Morgen
beim ersten Betreten der dämmerigen Kammer die Marocchi für
schlafend gehalten und sich wieder entfernt.
Beim Morgengrauen hatte M. das Haus verlassen, die Schlüssel,
nachdem er zugesperrt hatte, in den Kanal geworfen, und den Morgen¬
zug zur Fahrt nach dem Norden — bis Meran — benützt.
Am 19. März abends standen mehrere Burschen vor dem Hause der
früher genannten, viel umschwärmten Geliebten des M. und plauderten
mit ihrer Dienstmagd. Da erschien M., drängte sich heran, stieg auf den
Zaun und fragte nach dem Mädchen. Als ihn einer der Burschen
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XV. Rud. Huber
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vom Zaune zog, feuerte er auf 10 Schritte Distanz auf die kleine
Gruppe aus seinem Revolver, ohne zu treffen. Dann flüchtete er aus
der Stadt gegen Passeier. Er übernachtete mehrmals bei einem Bauern
in Riffian; seine Barschaft war ganz zu Ende gegangen. Da geriet
er ins Zollhaus in Saltaus und erinnerte sich der Mitteilung eines
jener Kameraden, die im Jahre 1903 mit ihm verurteilt wurden,
daß dort Geld zu kriegen sei. In der Tat eignete er sich bei 25 K
aus einem Geldschüsselcben an. Der Zolleinnehmer, ein 87 jähriger
Greis, war allein mit seiner blödsinnigen Tochter im Hause. Das
Gebaren des Burschen schien ihm nicht recht geheuer, er mag auch
vielleicht nichts Gutes im Schilde geführt haben. Denn M. lieh sich
zum Schneiden einer Wurst ein Küchenmesser aus, das er dann
haarscharf schliff. Der Alte holte Leute aus der Nachbarschaft und
am 22. März wurde M. verhaftet Während sich der Greis entfernte,
soll M. der Blödsinnigen die Röcke aufgehoben und sie betastet haben.
Bei M.s Verhaftung fand sich folgende merkwürdige Karte, die
er am letzten Tage seiner Freiheit an seinen Vater geschrieben, aber
nicht mehr aufgegeben hatte.
„Liebe Eltern! Auf einem Felsen sitzend, ist mir der Gedanke
an Euch gekommen und ich muß unaufhörlich weinen. Ihr un¬
glücklichen Eltern! Ich weiß nicht, was es mit mir ist, vor 8 Tagen
sagte ich noch, wie ihr Euch freuen werdet. Aber ich weiß nicht,
was schuld ist, daß ich nicht anders kann. Lebt wohl! Euer un¬
glücklicher Otto.“
(Seitwärts:) „Ihr seid nicht schuldig, ich auch nicht. Hunger und
Kälte um 12 Uhr.“
Die Anklage lautete auf Raubmord, Diebstahl und versuchte
schwere körperliche Beschädigung. Die Geschworenen bejahten die
Schuldfragen nahezu einstimmig. — Strafe: schwerer Kerker in der
Dauer von 15 Jahren. (Akt. Vr. 151/5 Bozen).
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XVI.
Über Kurpfuscherei und Aberglauben und ihre
Beziehungen zum Verbrechen.
Von
Prof. Dr. med. Th. Lochte, Kreisarzt in Göttingen.
Im Handbuch der Geschichte der Medizin von Neuburger und
Pagel (Bd. I 1902 p. 571) lesen wir, daß bereits in der römischen
Kaiserzeit die Kurpfuscherei üppig blühte. Färber, Schuster, Schmiede,
Zimmerleute ergriffen den ärztlichen Beruf (Galen X 5), ohne die
genügende Vorbildung zu besitzen, sogar ohne lesen zu können.
Unter den Pfuschern befanden sich Salbenhändler, Arzneikrämer,
Kräutersammler, Wurzelsammler, Farbwarenhändler. Die Charla-
tanerie gedieh sehr üppig, da jedermann den Beruf eines Arztes in
sich fühlte.
Wir sehen daraus, daß die Kurpfuscherei schon vor vielen Jahren
im Schwange war. Auf das engste hängt mit der Kurpfuscherei der
Aberglaube zusammen; man kann sagen, daß auf keinem Gebiete so
viele abergläubische Mittel im Gebrauche sind und gewesen sind, wie
auf dem der Medizin. Das beruht auf dem vielen Menschen eigen¬
tümlichen Hange zum Wunderbaren, zum Mystizismus; zum Glauben
an überirdische Kräfte, die sie durch Vornahme bestimmter Hand¬
lungen und unter bestimmten Zaubersprüchen in ihre Dienste zwingen
zu können glauben. Wir finden den Aberglauben nicht bloß bei
wenig gebildeten Leuten; bis in die höchsten Kreise hinein kann
man ihn verfolgen, und sein Vorhandensein wird dann mit den Worten
Hamlets begründet, die er beim Erscheinen des Geistes seines ver¬
storbenen Vaters dem Horatio zuruft: „Es gibt Dinge zwischen Himmel
und Erde, von denen sich Eure Schulweisheit nichts träumen läßt“
Kurpfuscherei und Aberglauben spielen im Volke auch heute
noch eine große Rolle.
Es soll in den nachfolgenden Zeilen unsere Aufgabe sein, fest¬
zustellen, welche Beziehungen sich zwischen Kurpfuscherei und Aber¬
glaube zu strafbaren Handlungen d. i. zum Verbrechen ergeben.
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XVI. Th. Lochte
Die Aufgabe können wir nur lösen, wenn uns das Wesen der
Kurpfuscherei, der Aberglaube in seinen verschiedenen Erscheinungs¬
formen. auf der anderen Seite die gesetzlichen Bestimmungen bekannt
sind. Es werden sich dann ohne weiteres die strafbaren Handlungen
feststellen lassen.
Die Bedeutung, die die Kurpfuscherei heutzutage hat, erhellt
daraus, daß nach den amtlichen Ermittelungen (Das Gesundheitswesen
des Preuß. Staates 1907 [: 1909]) die Zahl der Kurpfuscher in Preußen
im Jahre 1906: 6260. 1907: 6873 betrug. Im Jahre 1903 wurde die
Zahl derselben im ganzen Deutschen Reiche auf fast 10000 geschätzt.
Seitdem ist die Zahl dieser Leute noch weiter gestiegen.
Es wächst sich die Angelegenheit allmählich zu einer öffent¬
lichen Kalamität aus. Es soll nun keineswegs geleugnet werden,
daß es auch Laien gibt und gegeben hat, die wertvolle Beobachtungen
gemacht haben. An ihren Beobachtungen ist die Medizin nicht still¬
schweigend vorübergegangen, sie bat das Gute genommen, wo sie
es fand.
Nicht von diesen Laienmedizinern will ich reden, sondern von
zwei anderen Gruppen.
Die eine ist diejenige der Charlatans und Spekulanten, die andere
die der sog. Naturheilkundigen.
Wir wenden uns zunächst zu den ersteren. Ein Blick in die
Kurpfuscherwerkstätten wird uns sofort die notwendige Aufklärung
geben. Da steht obenan der Tischlermeister K. in Leipzig. Nach
ihm gibt es, weil es nur eine Gesundheit gibt, logischerweise nur
eine Krankheit. Diese Krankheit wird durch Stoffe hervorgerufen,
deren Ausscheidung aus dem Körper nicht rechtzeitig erfolgt. Die
Krankheitsstoffe lagern sich im Unterleib ab und dringen dann nach
den Extremitäten, weil sie dem Gesetz der Schwere folgen. Diejenige
Seite ist die kranke, auf der man zu schlafen pflegt. Durch ein
auslösendes Moment gelangen die Stoffe in Gärung (Erkältung, Ge¬
mütsbewegungen). Sie dehnen sich dann aus und bilden einen Kropf,
eine Geschwulst. Stets leitet sie das Bestreben, sich vom Orte ihrer
Ablagerung zu entfernen, sie ziehen zum Kopf, zum Hals, zu den
Händen, Füßen. Am Hals und Kopf lassen sich die Ablagerungen
am besten erkennen. Das geschieht durch die Gesichtsausdrucks¬
kunde. Je nachdem nun die Form des menschlichen Körpers ver¬
ändert ist, spricht man von Vorderbelastung, Seitenbelastung, Hinter¬
belastung usw. Das Hauptheilmittel K.s war das Reibesitzbad. Sein
Schüler Brockmann, der 4 Jahre lang sein Assistent und erster Ver¬
treter war, sagt: „Viele Tausende habe ich in den verflossenen Jahren
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Über Kurpfuscherei und Aberglauben und ihre Beziehungen zum Verbrechen. 329
nach K. behandelt; ungefähr V 3 hatte vorübergehend Erfolge, während
mehr als 2 /3 nicht nur erfolglos die Kur gebrauchten, sondern sogar
schlechter durch die Kur wurden.“
Eine andere interessante Kur ist diejenige mit giftfreien Kräuter¬
säften nach dem Verfahren des früheren Rechtsanwalts Glünicke.
Wer ein modernes Berliner Adreßbuch nachschlägt, findet dort diese
Kur angepriesen unter dem Namen „Pflanzenheilverfahren.'' Zur
Charakteristik der Giftfreiheit sei erwähnt, daß sich unter den 5 Säften
das giftige Ledum palustre befand, durch das schon wiederholt Ver¬
giftungen vorgekommen sind.
Wir wollen dem gegenüberstellen, was sein langjähriger I. Assi¬
stent Kratz berichtet: „Das Heilsystem Glünickes ist ein Unsinn.
Glünicke hat sehr viele Kranke trotz jahrelanger kostspieliger Kuren
nicht geheilt, vielmehr manchen durch die einseitige Anwendung
seiner 5 Originalsäfte geschadet. Die sogenannten Heilkrisen waren
nicht der Ausdruck einer Heilung, wie es Glünicke behauptete, sondern
der schädlichen Einwirkung der lange gebrauchten, stark gerbsäure¬
haltigen Stoffe. Eine Krankenstatistik, aus der man etwas über die
erzielten Erfolge hätte ersehen können, hat Glünicke nie aufgestelU
trotzdem aber allen Kranken in kürzester Zeit sichere und dauernde
Heilung versprochen. In dem Glünickeschen Betrieb herrschte
ein materialistisches Regime mit dem Motto: „Geld stinkt nicht.“
(vgl. Reißig: Mediz. Wissenschaft und Kurpfuscherei, Leipzig bei
F. C. W. Vogel 1900).
Eine andere interessante Methode Krankheiten zu erkennen, ist
derjenige mit Hilfe der Augendiagnose. Der hauptsächlichste Ver¬
treter dieser Lehre ist dann der Schwede Nils Liljequist gewesen
(1903 bei Krüger in Leipzig, II. Auflage). Wir haben uns vorzu¬
stellen, daß die Erkennung der Krankheit mit Hilfe eines Instruments
geschieht, das einem Augenspiegel nachgebildet ist. Die kreisförmige
Scheibe entspricht der Regenbogenhaut und die einzelnen Sektoren
derselben sollen dann den verschiedenen Organen, dem Leib, dem
Rücken, der Leber, den Nieren, dem Gehirne usw. entsprechen. Zum
Überfluß hat Dr. Maack in Hamburg Untersuchungen darüber an
einem großen Rekrutenmaterial angestellt, aber nichts von Belang ge¬
funden.
In genialer Weise hat der Pastor Emanuel Felke, das allzeit
fröhliche Lehmpastörchen — wie er sich selbst nennt — die Kuhne-
kur mit der Homöopathie und Erdbehandlung verknüpft. Er unter¬
scheidet wie K. Vorder-, Seitenbelastung, gemischte Belastung, all¬
seitige Belastung. Über die Art der Belastung gibt die Gesichtsaus-
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XVI. Th. Lochte
dracksknnde Aufschluß. Er sagt dann weiter: wie der Schneider
einen Anzug mit demselben Stoff flickt, aus dem das ganze Kleid
gemacht ist, so flicken wir auch den Leib des Menschen mit dem
Material aus dem er vom Schöpfer gemacht ist Du bist aus Erde
und sollst zu Erde werden. So werden Lehmumschläge gemacht
wegen Zahnschmerzen, Kopfschmerzen, Brust* und Herzkrankheiten
Leber- und Nierenleiden usw.
Viele Heilkundige befassen sich auch mit dem sog. Heilmagne¬
tismus, Zoomagnetismus, tierischen Magnetismus usw. Der bekannte
Berliner Arzt Albert Moll hat vor nicht langer Zeit mitgeteilt, daß er
sich seit 20 Jahren eingehend mit dem Magnetismus und dem ge¬
samten Okkultismus beschäftigt habe und daß er viele Experimente
mit vielen Magnetopathen angestellt habe. Er sagt: Trotz enormer
Zeit und Mühe, die ich auf dieses Studium verwendet habe, habe ich
auch nicht das mindeste, weder vom Heilmagnetismus, noch vom
Hellsehen, vom Gedankenlesen, von spiritistischen und ähnlichen
Phänomenen beobachten können (Vierteljahrschr. f. ger. Med. 1908).
Es bleibt noch eine Gruppe von Heilkünstlern, die sich in der
Anpreisung von allerhand Präparaten und Heilmitteln überbietet.
Ich nenne nur die sog. elektrovegetabilische Homöopathie mit ihren
verschiedenfarbigen Elektrizitäten, die Miraculopräparate, den anti¬
miasmatischen Liqueur, den Sonnenätberstrahlapparat, Vitafer, Nova
vita usw.
Wer sich über diese Dinge orientieren will, dem sei die Samm¬
lung des Ortsgesundheitsrates in Karlsruhe zum Studium angelegent¬
lichst empfohlen.
Es scheint mir nicht erforderlich, auf das sonstige reichhaltige
Repertoire dieser Heilkünstler einzugehen und den Nachweis zu er¬
bringen, daß es durch Betrachten der Hemden, der Nackenhaare,
durch magnetisiertes Wasser, christliche Salbe, Lebensöl, Mückentalg,
Leichenwaschwasser usw. niemals gelangen kann, Krankheiten zu er¬
kennen, geschweige denn zu heilen.
Aber, wird man einwerfen, die Naturbeilkunde kann doch un¬
möglich unter die Kurpfuscherei gerechnet werden; sie umfaßt un¬
zählige Vereine, sie hat Luftbäder, Spielplätze, Schrebergärten, Ferien¬
kolonien geschaffen und vieles andere organisiert, sie leistet doch ein
gutes Stück sozialhygienischer Arbeit? Damit kämen wir zur Be¬
trachtung der Naturheilkunde.
Wir wollen gern anerkennen, daß die aufgezählten Dinge gut
und nützlich sind. Nur dürfen wir 1. nicht in den Irrtum verfallen,
als ob dies Dinge seien, um die sich die wissenschaftliche Medizin
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Über Kurpfuscherei und Aberglauben und ihre Beziehungen zum Verbrechen. 331
nicht kümmer nnd 2. müssen wir wissen, daß darin das Wesen der
Naturbeilkunde durchaus nicht erschöpft ist.
Die Naturbeilkunde erscheint dem Laien als die medizinlose
Heilwissenschaft. Sie will die Krankheiten heilen durch Anwendung
der natürlichen Heilfaktoren. Das klingt einfach und klar. Aber
welches sind denn die „natürlichen Heilfaktoren?“ Das ist der Kern
der ganzen Angelegenheit. Würden sich die Naturheilkundigen darauf
beschränken, durch Anwendung von Luft, Licht und Wasser vorbeu¬
gend gegen Krankheiten zu wirken, so könnte ihr Handeln Anerkennung
finden, immerhin unter Berücksichtigung des Erfahrungssatzes: Eines
schickte sich nicht für alle. Es hat aber mit der arzneilosen Heilwissen¬
schaft seine eigene Bewandnis. Arzneimittel, die dem freien Verkehr
nicht überlassen sind, dürfen die Naturheilkundigen nicht verschreiben.
Die Trauben sind sauer. Soweit sich indessen Ärzte gefunden haben,
die in das Lager der Naturheilkunde übergegangen sind, schrecken
sie selbst vor kräftigen Dosen narkotischer Mittel nicht zurück.
Übrigens enthielt die Kneipp-Apotheke 70 wirksame Mittel. Wer
näher in diese Materie eindringt, wird interessante Entdeckungen
machen (vgl. Gaston Vorberg. Kurpfuscher 1905, Leipzig und Wien
bei Franz Deuticke p. 44).
Als Spezialisten dürfen wir die Naturheilkundigen nicht be¬
trachten, sie wollen sich gar nicht auf ein bestimmtes Fach beschränken
oder Meister einer bestimmten Technik sein, sie behaupten alle Krank¬
heiten heilen zu können. Selbst wenn man auch nur diejenigen
herausgreift, die Wasserkuren betreiben, so herrscht doch keine Einig¬
keit, denn die einen verwenden gleichzeitig Pflanzenkost, die andern
sagen, man müsse ungekochte Speisen geniesen, weil Eva dem Adam
auch nichts gekocht habe, andere fordern Trockendiät usw. Es gibt
also keine Einigkeit, sondern es herrscht die Anarchie (Rubner).
Das Wort Naturheilkunde wirkt überhaupt irreführend für den
Laien. Es besagt gar nichts. Es ist ein Schlagwort; denn ohne
die natürlichen Kräfte kann auch der Arzt nicht heilen. Das Wider¬
sinnige tritt sofort zutage, wenn wir uns klar machen, daß niemand
Naturchemie und Naturphysik (also auch keine Naturmedizin) be¬
treiben kann. Was allen Richtungen gemeinsam ist, ist nur der Kampf
gegen die verhaßte Schulmedizin.
Die Naturheilkundigen geben zu, keine Anatomie, keine pathologische
Anatomie, kein Experiment zu gebrauchen. Es ist daher auch kein ärzt¬
liches Studium nötig. Sie kennen keine Diagnose. Sie können an¬
steckende Krankheiten nicht erkennen. Sie sind die fanatischen Gegner
der Impfung, der Desinfektion. Der Satz, daß die Heilung die Frucht
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vom Baume der Erkenntnis des Krankheitsvorganges sei, ist ihnen
unbekannt. Behandlungsmethoden durch Einspritzung von Heilserum,
eine Methode, die dem natürlichen Heilprozeß direkt abgelauscht ist,
ist ihnen fremd. Der gelegentlich höchst segensreiche und lebens-
rettende Halsschnitt bei Diphtherie erscheint ihnen unnötig. Bruch¬
einklemmungen werden mit Massage und Packungen behandelt. Die
Krankenhäuser, sagen sie, sind Anstalten, in denen die medizinische
Bildung durch Morden gefördert wird.
An einer Stelle sagt Reinhold Gerling: „Die Schulmediziner sind
Schwindler, Betrüger, Diebe, Giftmischer, Massenmörder und Mord¬
buben mit staatlicher Approbation, gegen die man den Staatsanwalt
anrufen muß und die mit Keulenhieben erschlagen werden müssen.“
Der deutsche Volks- und Hausarzt beklagt sich in Heft 7, daß
Robert Koch’s gemeingefährliches Treiben noch nicht durch die Be¬
hörden untersagt sei. — Man muß alles dieses wissen, wenn man
über die sog. Naturheilkunde urteilen will. Wenn wir uns angesichts
solcher Tatsachen fragen, wie es möglich ist, daß die Kurpfuscherei
sich in unseren Tagen so ungeheuer ausbreiten konnte, so kann man
das nur verstehen, wenn man sich klar macht:
daß der Kurpfuscher seine Erfolge in marktschreierischer Weise
mitteilt,
daß die Massensuggestion im Publikum ein Faktor von außer¬
ordentlich großer Bedeutung ist (man vergleiche die meisterhafte
Schilderung Zolas in seinem Roman Lourdes), daß im Publikum die
Annahme herrscht, auf dem Kurpfuscher laste nicht die Anzeigepflicht
bei ansteckenden Krankheiten, es werde nicht operiert, nicht desin¬
fiziert, man gehe also vielen Unannehmlichkeiten aus dem Wege;
schließlich kommt dazu der Hang zu allem Mystischen und der
stille Vorwurf gegen den Arzt, daß er ein Mittel gegen den Tod nicht
in der Tasche hat.
Aus dieser Darstellung ergibt sich unschwer, gegen welche ge¬
setzlichen Bestimmungen die Kurpfuscher vorwiegend verstoßen.
Der Spekulant und Charlatan spekuliert auf den Geldbeutel des
Publikums, der fanatische Naturheilkundige behandelt nach der
Schablone. Das wesentliche Delikt des ersteren wird vorwiegend
der Betrug, daß des letzteren die fahrlässige Körperverletzung oder
Tötung sein.
Der § 263 R. Str. G. lautet:
Wer in der Absicht, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen
Vermögensvorteil zu verschaffen, das Vermögen eines anderen da¬
durch beschädigt, daß er durch Vorspiegelung falscher oder durch
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Über Kurpfuscherei und Aberglauben und ihre Beziehungen zum Verbrechen. 333
Entstellung wahrer Tatsachen einen Irrtum erregt oder unterhält, wird
wegen Betrugs mit Gefängnis bestraft.“
Wenn dieser Paragraph nicht immer eine wirksame Handhabe zur
Bestrafung bietet, so liegt das daran, daß der Nachweis einer pekuniären
Schädigung auf der einen Seite und des Vorteils auf der anderen Seite
kein ausreichender Grund zur Bestrafung ist. Es gehört vielmehr
der Nachweis dazu, daß der Täter die Absicht hegte, sich einen
rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen. Gelingt das nicht,
bleibt der Täter fest bei seiner Behauptung, daß er in gutem Glauben
gehandelt hätte und von der Wirksamkeit seiner Mittel überzeugt ge¬
wesen sei, so kann keine Bestrafung eintreten.
Auf der anderen Seite kommen in Betracht die Bestimmungen
des R. Str. G. B. über fahrlässige Körperverletzung'und Tötung §§ 222,
230, 231, 232. Diese lauten:
§ 222. „Wer durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen ver¬
ursacht wird mit Gefängnis bis zu 3 Jahren bestraft. Wenn der
Täter zu der Aufmerksamkeit, welche er aus den Augen setzte, vermöge
seines Amtes, Berufes oder Gewerbes besonders verpflichtet war, so
kann die Strafe bis auf 5 Jahre Gefängnis erhöht werden.“
§ 230. „Wer durch Fahrlässigkeit die Körperverletzung eines
anderen verursacht, wird mit Geldstrafe bis zu 900 Mark oder mit
Gefängnis bis zu 2 Jahren bestraft. War der Täter zu der Auf¬
merksamkeit, welche er aus den Augen setzte, vermöge seines Amtes,
Berufes oder Gewerbes besonders verpflichtet, so kann die Strafe auf
3 Jahre Gefängnis erhöht werden.“
§ 231. „In allen Fällen der Körperverletzung kann auf Ver¬
langen des Verletzten neben der Strafe auf eine an denselben zu er¬
legende Buße bis zum Betrage von 6000 Mark erkannt werden.
Eine erkannte Buße schließt die Geltendmachung eines weiteren
Enschädigungsanspruches aus.“
§ 232. Die Verfolgung leichter vorsätzlicher, sowie aller durch
Fahrlässigkeit verursachter Körperverletzungen tritt nur auf Antrag
ein, insofern nicht die Körperverletzung mit Übertretung einer Amts-,
Berufs- oder Gewerbspflicbt begangen worden ist. Ist das Vergehen
gegen einen Angehörigen verübt, so ist die Zurücknahme des Antrages
zulässig.“
Fahrlässigkeit ist die schuldhafte Außerachtlassung derjenigen
Sorgfalt, die nach Lage der Sache erforderlich gewesen wäre, um
den üblen vorhersehbaren Erfolg zu verhüten.
„Eine Fahrlässigkeit ist“, wie v. Jhering sagt, „angenommen
worden, wenn jemand eine Aufgabe übernommen hat, z. B. zum
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Fahren eines Wagens als Kätscher, zur Leitung einer Geburt als
Arzt, ohne die dazu erforderlichen Fähigkeiten nnd Eigenschaften
sich erworben zn haben; das kann auch beim Kurpfuscher gelten,
wenn er die erforderlichen Handreichungen wegen zitternder Hand,
wegen Kurzsichtigkeit oder Schwerhörigkeit nicht ordentlich auszu¬
führen vermag. Abznlehnen ist der Gedanke, daß der Kurpfuscher
schon durch die Übernahme der Behandlung schwer zu erkennender,
schwerer noch zu heilender Krankheiten eine Schuld auf sich lade i
denn die Ausübung der Heilkunde ist freigegeben.“ (v. Jhering, Mediz.
Beamten-Versamml. Hannover 1905).
Wieweit bez. des Kurpfuschers die Außerachtlassung einer
Berufs- oder Gewerbspflicbt in Betracht kommt, ist an der Hand der
reichsgerichtlichen Entscheidungen nach der Gesamtheit der begleiten¬
den Umstände zu beantworten; hat er sich ganz und gar dieser Be¬
rufstätigkeit gewidmet, so wird man ein höheres Maß von Sachkennt¬
nis erwarten dürfen, als von einem Menschen, der nur gelegentlich
einmal einen guten Rat erteilt (daselbst bei Jhering).
Die sonst in Betracht kommenden Vergehen und Übertretungen
knüpfen an folgende gesetzlichen Bestimmungen an:
§ 29 der R. G. 0. besagt, einer Approbation, welche auf Grund
eines Nachweises der Befähigung erteilt wird, bedürfen diejenigen
Personen, welche sich als Ärzte (Wundärzte, Augenärzte, Geburts¬
helfer, Zahnärzte, Tierärzte) oder mit gleichlautenden Titeln bezeichnen.
Im Zusammenhang damit bestraft § 147 3 R. G. 0. mit Geldstrafe bis
zu 300 Mark denjenigen, der, ohne approbiert zu sein, sich als Arzt
bezeichnet oder einen ähnlichen Titel sich beilegt, durch den der Glaube
erweckt wird, der Inhaber desselben sei eine geprüfte Medizinal person.
Diese Bestimmungen werden dadurch umgangen, daß der Kur¬
pfuscher auf sein Schild schreibt: Homöopathische Kur oder Heil¬
institut für Nervenkranke oder dergl.
Weiter soll den Kurpfuschern die Tätigkeit dadurch erschwert
werden, daß der § 56a R. G. 0. (§ 148 Strafbestimmung) bestimmt:
Ausgeschlossen vom Gewerbebetriebe im Umherziehen ist: die
Ausübung der Heilkunde.
Die Kurpfuscher lassen sich indessen „bestellen“ und sind danach
straffrei, oder sie ziehen überhaupt nicht umher, sondern sie „be¬
handeln“ brieflich. Es ist bekannt, in wie großem Umfange dies
geschieht.
Der Konzessionspflicht für Privat-Heilanstalten (§ 30 R. G. 0.)
wird dadurch entsprochen, daß ein entgleister Arzt als Leiter der An¬
stalt gewonnen wird.
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Über Kurpfuscherei und Aberglauben und ihre Beziehungen zum Verbrechen. 335
Weiter machen sich die Kurpfuscher strafbar durch Verstoß gegen
die Kaiserliche Verordnnng vom 22. XI. 1901 und gegen den Bundes¬
ratsbeschluß vom 23. V. 1903 (Verkauf von nicht freigegebenen
Arzneien und Geheimmitteln); ferner gegen § 367 Str. G. B. (mit
Geldstrafe bis zu 150 Mark oder mit Haft wird bestraft: wer ohne
polizeiliche Erlaubnis Gift und Arzneien, soweit der Handel mit den¬
selben nicht freigegeben ist, zubereitet, feilhält, verkauft oder sonst an
andere überläßt) und gegen das Reichsgesetz zur Bekämpfung des
unlauteren Wettbewerbs vom 27. Mai 1896, besonders in § 4 1 . Schlie߬
lich können sich Kurpfuscher durch Unterlassung der Anzeige an¬
steckender Krankheiten nach dem Reichsseuchengesetz vom 30.VI. 1900
und nach dem Landesseuchengesetz vom 28. VIII. 1905 strafbar
machen.
Da die Erfolge, die mit diesen gesetzlichen Bestimmungen zu
erreichen waren, minimal gewesen sind, so ist deshalb im Februar
1908 ein Gesetzentwurf betr. die Ausübung der Heilkunde durch nicht
approbierte Personen und den Geheimmittelverkehr von dem Reichs¬
kanzler den Bundesregierungen vorgelegt worden.
Der Gesetzentwurf sieht nicht das von den Ärzten geforderte
vollständige Kurpfuschereiverbot vor. Nach zwei Richtungen hin
will er Besserung schaffen: er will einmal den Schädigungen Vor¬
beugen, die dadurch verursacht werden, daß Personen ohne Be¬
fähigungsnachweis gewerbsmäßig die Behandlung von Krankheiten,
Leiden und Körperschäden an Menschen oder Tieren in das Gebiet
ihrer Tätigkeit ziehen. Andererseits will er dem Unwesen entgegen¬
treten, das mit dem Vertriebe, dem Ankündigen und Anpreisen von
Geheimmitteln oder ähnlichen Gegenständen verbunden ist, die der
Verhütung, Linderung oder Heilung von Krankheiten usw. dienen sollen.
Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, in Einzelheiten des Ent¬
wurfs einzugehen. Hoffentlich gelangt er recht bald und in einer
solchen Form im Reichstage zur Verabschiedung, daß er den Kreis¬
ärzten eine wirksame Handhabe zur Bekämpfung des Kurpfuscherun¬
wesens bietet. —
Mit der Kurpfuscherei ist der Aberglaube nahe verwandt.
Er wird besonders dann eine wichtige Rolle spielen, wenn 1. bei
Gewinnung der Heilmittel, 2. bei Anwendung derselben gegen das
Strafgesetz verstoßen wurde.
Dadurch daß das Heilmittel auf unerlaubte Weise erworben wird,
kann der Aberglaube zu den verschiedensten Delikten Anlaß geben.
Ich kann zuverlässig berichten von einem Falle, in dem eine
Frau eine Rübe vom Felde gestohlen hatte; sie wurden dabei abge-
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faßt und erklärte vor dem Richter, sie bedürfe derselben zu Heil¬
zwecken, die beabsichtigte Wirkung trete aber nur ein, wenn die
Rübe gestohlen sei. Die Frau wurde mit einer Strafe von l Mark belegt.
Aus einem ähnlichen Grunde batte sich nach Mitteilung Hellwigs
(Verbrechen und Aberglaube p. 64) vor dem Schöffengericht in
ölde ein Metzger aus Diestelde wegen Wilder ei zu verantworten.
Der Angeklagte war auf die Jagd gegangen, um eine trächtige Häsin
zu schießen, denn er glaubte nach dem Briefe eines Bekannten, er
könne seinen kranken Sohn nur dadurch heilen, daß die herausge¬
nommenen Jungen-mit Haut und Haaren von diesem genossen würden.
Aus Aberglauben kann bekanntlich Körperverletzung und sogar
Mord zwecks Erlangung von Verbrechertalismanen ausgeführt werden.
Für den Arzt bat besonders der Vampyrglaube Interesse, der zu
Grabschändungen Anlaß geben kann. Mannhardt schildert in den
Zeit- und Streitfragen den Vampyrglauben folgendermaßen:
Ein Mensch, der mit Zähnen oder mit einem roten Fleck auf die
Welt gekommen ist, oder mit einer sog. Glückshaube geboren wurde
und dieselbe auf dem Kopfe behielt, oder wer voll Groll im Herzen
stirbt, ist ein Vampyr (Vampyr gleich Gier, Gierhals, Gierrach, Unbe¬
gier). Seine Leiche behält ein rotes Gesicht, oder das linke Auge
bleibt offen stehen, er lebt im Sarge fort, der Körper verwest nicht.
Nachts steigt der Gierhals aus dem Grabe, legt sich neben die
Schlafenden und saugt ihnen das warme Herzblut aus. Am Morgen
zeigt ein rotes Pünktchen die Spur seines Besuches an, aber der Be¬
troffene erkrankt und verfällt dem Tode. Dem einen Opfer folgen
andere, zuerst die Verwandten, dann der ganze Ort. Um dem Un¬
glück Einhalt zu tun, muß man den Gierhals ausgraben und der
Leiche ein Stück Geld in den Mund, ein Kreuz von Espenholz auf
die Brust oder unters Kinn und je eins unter jeden Arm legen. Oder
man sticht der Leiche mit dem Spaten den Kopf ab und streut
zwischen Haupt und Rumpf Erde.
Ein neuerer Fall der Art ist der folgende:
(H. Groß Archiv 4. Bd. 1900 p. 340—341). Im östlichen Teile
der Provinz Pommern war Anfang der 90er Jahre ein uneheliches
Kind im Alter von weniger als 1 Jahr gestorben; bald starb auch
seine Mutter und als diese begraben war, erkrankte deren Schwester
so schwer, daß ihr Tod befürchtet wurde. Die Familie war natürlich
sehr besorgt; da machte ein Postbote sie darauf aufmerksam, daß
das zuerst verstorbene Kind seine Verwandten „nach sich ziehe“ und
daß dies daher komme, daß es noch nicht ganz tot sei. Diese Er-
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Über Kurpfuscherei und Aberglauben und ihre Beziehungen zum Verbrechen. 337
klärung erschien den Leuten sehr begreiflich und es wurde beschlossen,
das Kind nachträglich gänzlich zu töten.
3 Familienmitglieder begaben sich nun nachts auf den Kirchhof,
gruben den Sarg des Kindes’aus, öffneten ihn und einer trennte mit
einem Spaten den Kopf des Kindes vom Rumpfe; die dabei hervor¬
getretene Flüssigkeit wurde aufgefangen und mitgenommen. Das
Grab wurde dann wieder hergestellt. Von der Flüssigkeit wurde
dann der noch kranken Tante des Kindes etwas eingegeben. Da
nun diese genas, waren natürlich alle überzeugt, daß das Mittel ge¬
holfen habe und so kam es, daß die Sache ruchbar wurde.
Weiter sehen wir kann bei Anwendung des Heilmittels gegen
das Strafgesetz verstoßen werden.
Fälle von Betrug, von fahrlässiger Körperverletzung oder Tötung
können hier ebenso Vorkommen, wie auf dem Gebiete der Kurpfuscherei.
Durch die Zeitungen ging kürzlich der folgende Fall:
„Der in der Wesergegend weithin als „Wunderdoktor“ bekannte
Karl A. aus K., von Beruf Besenbinder, hatte sich dieser Tage vor
der zweiten Strafkammer des Herzoglichen Landgerichts zu verant¬
worten. Die Verhandlung bot tiefe Einblicke in die Dummheit der
Menschen, wie man es in unserer heutigen aufgeklärten Zeit eigent¬
lich nicht für möglich halten sollte. A. wurde aus dem Gefängnis
vorgeführt, denn der Wundermann verbüßt zurzeit eine 6 monatige
Gefängnisstrafe, die er wegen seiner Geheimmittelschwindelei erhalten
hat. Er hatte früher ein schwunghaftes Geschäft mit einer Salbe ge¬
trieben, die aus Schnecken und Igelfett hergestellt war. Dieses Mittel
sollte Fußverstauchungen heilen und das Geheimnis des Mittels wollte
er von einem sterbenden Zigeunerhauptmann erhalten haben. Das
Gericht glaubte damals nicht an das Märchen von dem verstorbenen
Sohne der Pußta und auch nicht an die Wirkung des Heilmittels und
schickte A. 6 Monate ins Gefängnis. Nachdem durch diesen Spruch
des Gerichtshofes A. um sein probates Mittel gekommen war, erfand
er sofort ein neues, damit die leidende Menschheit auch fernerhin
seinen Beutel fülle. Das neue Mittel nannte er Armsünderblut, dessen
Hauptbestandteile das Blut von Hingerichteten sein sollte. Nach den
Angaben A.s sollte dieses neue Mittel geradezu Wunder wirken. Nur
einige wenige Tropfen genügten, um Fallsucht zu heilen oder festge¬
wachsene Lungenflügel zu befreien. Natürlich war ein so kost¬
bares Mittel auch sehr teuer. A. nahm für ein Fläschchen 6 Mark,
wo er es bekommen konnte auch 12 Mark, und war der Besteller
nicht mit irdischen Gütern gesegnet, so war er auch mit 3 oder 4 Mark
zufrieden.
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A. begnügte sich indes nicht mit dem Vertriebe seines Wunder¬
mittels, sondern praktizierte auch. Er versprach, alle möglichen
Krankheiten heilen zu können und seine Patienten mußten oft das
ekelhafteste Zeug trinken. Wie die Beweisaufnahme ergab, kam zu
A. ein junges Mädchen, das schwindsüchtig war. Er versprach der
Kranken Heilung, ließ einen Liter Schweineblut holen, das die Kranke
mit einem Ei und einigen Tropfen seines Universalmittels sofort trinken
mußte. Weiter sollte das junge Mädchen Einreibungen mit Pferdefett
vornehmen. Auf ähnliche Weise kurierte er alle möglichen Krank¬
heiten, wie Kopfschmerzen, Bruchleiden, Schwindsucht, Fallsucht und
ließ sich für seine Behandlung Beträge von 5 Mark und mehr be¬
zahlen. Der Angeklagte machte zu seiner Entschuldigung geltend,
daß er die Leute nicht aufgesucht, sondern diese freiwillig zu ihm
gekommen wären und ihn um Behandlung ersucht hätten. Wenn
einzelne der Kranken nicht gesund geworden, so sei der Staatsanwalt
schuld, der ihn zur Verbüßung der Strafhaft eingezogen und ihn so-
gehindert habe, die Behandlung seiner Patienten zu Ende zu führen.
Die Zeugenaussagen ergaben jedoch von dem Wirken des Wunder
doktors ein ganz anderes Bild und es wurde festgestellt, daß A. sein
Honorar oft noch vor Beginn der Behandlung gefordert hat. Der
Staatsanwalt hielt 10 Fälle vollendeten Betrugs und einen Fall ver¬
suchten Betruges für festgestellt und beantragte mit Rücksicht auf
das gemeingefährliche Treiben des Angeklagten eine Zuchthausstrafe
von 2V-2 Jahren und eine Geldstrafe zu 2000 Mark. Der Gerichtshof
erkannte unter Einbeziehung der erwähnten 6 monatigen Gefängnis¬
strafe auf eine Gesamtstrafe von 2 Jahren 3 Monaten Zuchthaus,
sowie eine Geldstrafe von 1500 Mark.
Bekanntlich können auch Sittlichkeitsdelikte, bezw. Körper¬
verletzung infolge Aberglaubens ausgeführt werden.
Casper sagt in dem Handb. der gerichtl. Medizin VII. Aufl. 1881,
I, p. 125: „Bekannt ist wohl, daß im ganzen Volke, nicht allein bei
uns, das absurde und gräßliche Vorurteil herrscht, daß ein venerisches
Übel am sichersten und schnellsten durch Beischlaf mit einer reinen
Jungfrau, am zweifellosesten mit einem Kinde zu heilen sei. Dieselbe
Angabe finden wir auch bei Maschka Bd. III, p. 109. In neuerer Zeit
ist im Jahre 1904 von Amschi ein derartiger Fall (im Archiv für
Kriminalantbropologie und Kriminalistik Bd. 16, 1904, p. 173) aus
Österreich mitgeteilt worden. Es handelte sich um einen mit Geschwüren
bedeckten Mann. Zwecks Heilung opferte sich ihm seine 22jäbrige
Tochter. Im übrigen möchte ich auf das reichhaltige und interessante
Material hinweisen, das besonders Hellwig zusammengetragen hat
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Über Kurpfuscherei und Aberglauben und ihre Beziehungen zum Verbrechen. 339
Die Tätigkeit des Gerichtsarztes ist freilich mit der Feststellung
der Körperverletzung, der fahrlässigen Tötung, der Art der Leichen¬
schändung nicht erledigt, für ihn kann die Frage nach dem Geistes¬
zustände des Heilkünstlers von besonderer Wichtigkeit werden. Es
ist nicht ohne Interesse zu wissen, daß sich unter den Kurpfuschern
eine Reihe geistesgestörter Personen befindet, einen solchen Fall hat
Geheimrat A. Cramer mitgeteilt, und es würde nicht schwer sein, die
Reihe derselben zu vergrößern. Gewisse Abweichungen von der
normalen psychischen Breite kommen aber auch bei den Geschädigten
vor, sie sind so häufig bei abergläubischen Personen anzutreffen, daß
Hans Groß direkt von psychopatischem Aberglauben gesprochen hat.
Wenn wir schließlich fragen, wie der Aberglaube zu bekämpfen
sei, so werden uns Gesetze wenig nützen.
Der Aberglaube ist ein Rest früherer Anschauungen, Sitten und
Gebräuche, der sich besonders in dem weniger gebildeten Teile des
Volkes mit Naturnotwendigkeit fortpflanzt.
Diese Erscheinung ist von folkloristischem Standpunkt aus von
allergrößtem Interesse.
Mit Genugtuung können wir sagen, daß die kriminelle Be¬
deutung des Aberglaubens, speziell in Deutschland eine verhältnis¬
mäßig geringe ist. Der Fortschritt auf dem Gebiete der Kurpfuscher¬
bekämpfung liegt nicht in der Rückkehr zur Natur, sondern in der
Veredelung der Kultur. Der Fortschritt auf dem Gebiete der Be¬
kämpfung des Aberglaubens liegt in der Aufklärung.
Aufklärungsarbeit wird auch in Zukunft nötig sein, die schon
frühzeitig einsetzen muß in Schule und Haus; wie weit das zu er¬
wartende neue Gesetz geeignet ist, die geschilderten Mißstände in
wirksamer Weise zu bekämpfen, wird Gegenstand einer späteren
Untersuchung sein müssen.
Sorgen wir dafür, daß die breiten Schichten des Volkes Lern-
und Wissensdrang in ausgiebiger und vor allem in gesunder Weise
befriedigen können, so schaffen wir damit das stärkste Bollwerk
gegen alle Unkultur und gegen die Auswüchse derselben, gegen das
Verbrechen.
Archiv für Kriminalanthropologie. 35. Bd. 23
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XVII.
Zwei Fälle von Brandstiftung.
Mitgeteilt von
Dr. W. P. Hesselink in Arnheim (Hollandl.
I. Brandstiftung mittels Petroleums
in D. (Holland) im April 1908.
Von entscheidender Bedeutung war in diesem Falle die Beant¬
wortung der Frage, ob die am Tatorte gefundenen Petroleumspuren
auch nach dem Brande entstanden sein könnten.
Zentrum des Brandes war ein Eieiderschrank, 1 m breit und ca.
0,6 m tief; da die Türen der Wohnung verschlossen waren, ist das
Feuer aus Luftmangel erstickt. Auf dem einzigen Brett des Schrankes,
an dessen Unterseite Kleider aufgehängt gewesen waren, wurden einige
Tage nach dem Brande beim Lokalaugenschein Petroleumspuren ge¬
funden. DerVerdächtigte, der zwar kurz vorher ein ungewöhnlich großes
Quantum Petroleum gekauft hatte, behauptete, dieses Petroleum müsse
nach dem Brand darauf geschüttet worden sein; tatsächlich hatten
verschiedene Personen Zutritt gehabt, so daß mit dieser Möglichkeit
gerechnet werden mußte.
Der Staatsanwalt fragte mich deswegen um meine Ansicht, aber erst
so kurze Zeit vor der Verhandlung, daß es mir nicht möglich war, eine
eingehende chemische Untersuchung vorzunehmen; sonst hätte ich die
Schrankdecke ausgebrochen und geprüft, ob das Holz mit Petroleum¬
dämpfen imprägniert gewesen ist. Jetzt mußte ich meine Schlüsse
ziehen aus den am Tatorte zurückgebliebenen Spuren, insoweit diese
beim Lokalaugenschein vom Gericht oder später von mir selbst auf¬
genommen worden sind.
Ich fand, daß sich vom Schranke aus ein äußerst feiner Ruß
durch die Wohnung verbreitet hatte, ein deutlicher Petroleumruß.
Das 1 m lange Brett trug über seiner ganzen Länge Petroleumspuren;
es hatten auf dem Brett einige Bücher und sonstige Sachen gelegen,
welche an der Oberseite ganz frei von Petroleum waren, so daß das
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Zwei Fälle von Brandstiftung.
34 t
Petroleum nicht in kleiner Quantität über das Brett gespritzt worden
sein konnte; vielmehr mußte ein ziemlich großes Quantum Petroleum
auf das Brett ausgegossen worden sein. Das Gericht hatte aber beim
Lokalaugenschein durchaus keinen auffallenden Petroleumgeruch wahr¬
genommen, und ich fand später nur die wenig riechenden Spuren
auf der Oberseite des Brettes, aber nicht die geringste Petroleumspur
an dessen Unterseite. Ferner war es beim Lokalaugenschein aufge¬
fallen, daß die Bücher, die von unten her mit Petroleum durchnäßt
worden waren, äußerlich nur einen schwachen Petroleumgeruch be¬
saßen; daß aber beim Aufklappen der Bücher dieser Geruch sehr
stark war. Dies alles gibt schon eine deutliche Antwort auf die am
Anfänge gestellte Frage; wenn das Petroleum nach dem Brande auf
das Brett geschüttet worden wäre, hätte der Gerichtskommission aus
dem Schranke ein auffallender Petroleumgeruch entgegen kommen
müssen und insbesondere hätten die Bücher äußerlich gerade so stark
nach Petroleum riechen müssen wie innerlich.
Das nicht sehr dicke Brett war an der Unterseite stark verkohlt,
aber nicht durchgebrannt; ein Türpfosten, ca. 1 m entfernt gegenüber
dem Schranke, war unten vollständig unbeschädigt, an einer bestimmten
Höhe aber vollständig verbrannt, trotz seiner Dicke. Die Hitze außer¬
halb des Schrankes muß deshalb an der einen betreffenden Stelle
enorm viel größer gewesen sein wie innerhalb des Schrankes; dies
kann nur so erklärt werden, daß sich in dem Schrank Gase gebildet
haben, die erst außerhalb des Schrankes haben verbrennen können
und die dort eine Art Stichflamme gebildet haben, welche gerade
gegen den Türpfosten gerichtet gewesen sein muß. Solche Gase
brauchen nun zwar nicht immer Petroleumdämpfe zu sein, sondern
es können auch z. B. Alkoholdämpfe sein; aber in diesem Falle war
es, im Zusammenhang mit dem sonstigen Befund, mit Sicherheit an¬
zunehmen, daß es Petroleumdämpfe gewesen sein mußten und daß
das Petroleum demnach bereits während des Brandes auf dem Brett
im Schranke gewesen sein muß. Die flüchtigen Bestandteile haben
sich natürlich, als die mit Petroleum benetzten Kleider im unteren
Teile des Schrankes gebrannt haben, unter Bildung der Stichflamme
leicht verflüchtigt, so daß nur die wenig flüchtigen, wenig riechenden
Teile des Petroleums zurückgeblieben sind. In das Innere der Bücher
hat die Wärme aber keinen Zutritt gehabt und so sind dort wohl die
leicht flüchtigen Petroleumteile zurückgeblieben, die beim Aufklappen
den starken Petroleumgeruch abgegeben haben.
Trotz Leugnens erfolgte Verurteilung in zwei Instanzen, womit
der Beklagte sich schließlich abgefunden hat.
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XVII. W. T. Hesselink
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II. Brandstiftung in einer Kapokfabrik
in 0. (Holland) im August 1908.
Unter „Kapok“ sind bekantlick einige Arten Pflanzen dunen ') zu
verstehen, welche hauptsächlich als Füllmaterial verwendet werden.
In der betreffenden Fabrik war ein Quantum Kapok durch ein
Loch hervorgezogen und angezündet worden. Verdächtigt war ein
früherer Arbeiter der Fabrik, der aber zu jener Zeit in einer Baum¬
wolle-Fabrik arbeitete. An seiner Hose fanden sich viele weiße
Flöckchen und Fädchen, teilweise aus Kapok, teilweise aus Baumwolle
bestehend. Kapok und Baumwolle lassen sich nach verschiedenen
Methoden, mikroskopisch und mikrochemisch, mit vollständiger Sicher¬
heit voneinander unterscheiden.
Bei entsprechender Vergrößerung der sich noch an der Hose be¬
findenden Flöckchen war deutlich zu erkennen, daß jene Flöckchen, die
sich später als Baumwolle herausstellten, zusammengedreht und auf¬
gerollt oder in einzelnen Fasern auseinander gezogen waren, daß aber
die Kapokflöckcben sämtlich ganz lose an dem Stoff hafteten und
gar nicht zusammengerollt waren.
Ich konnte daher in meinem Gutachten zu dem Schlüsse kommen,
daß an der Hose des Verdächtigten sowohl Kapok- wie Baumwolle-
flöckcben hafteten; daß aber die Baumwolle daran gekommen sein
mußte, bevor die Hose zum letztenmale ausgebürstet wurde, die
Kapokflöckchen aber erst nach diesem Bürsten, also später. Dies war
in diesem Falle deshalb von besonderem Belang, weil der Betreffende
früher auch in der Kapokfabrik gearbeitet hatte.
Natürlich habe ich noch konstatiert, daß in der Baumwollefabrik
gar keine Kapok verarbeitet wurde.
Nach Einreichung meines Gutachtens hat der Verdächtigte ge¬
standen.
1) Sog. Ceibawolle von coiba pentandra und einigen Bonibaxarten aus
Indien und Afrika.
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XVIII.
Zur Psychologie der sadistischen Messerstecher.
Von
Medizinalrat Prof. Dr. P. Hacke, Hubertusburg.
Jeder Leser wird sich daran erinnern, daß im Februar des Jahres
1909 in Berlin eine große Reihe von Messerstechereien vorkamen, die
nicht nur die Reichshauptstadt in Erregung versetzten, sondern auch
tiefen Unwillen im ganzen deutschen Lande erzeugten, trotzdem solche
nicht zum erstenmale hier beobachtet wurden. Es geschahen der¬
gleichen Attentate mehrfach 1903 und 1905 in Nürnberg 1 ), vorher
schon in Ludwigshafen, Kiel, Augsburg 2 ) 3 ) und historisch läßt sich
die Sache noch weiter zurück verfolgen. So entsetzte 1818 und 1819
ein „piqueur de filles“ ganz Paris (Bloch) 3 ) und 1829 ein solcher
das gute Städtchen Bozen (Lombroso) 4 ), v. Krafft-Ebing 8 ). Aber
schon vor 150 Jahren wird in den Memoiren der Herzogin von
Chartres 5 ) von einem Unhold in Paris erzählt, der Frauen und
Mädchen am Unterleib mit einem Messer verletzte und zwar auf
offener Straße.
Für die Laien handelte es sich hier natürlich um rätselhafte
Motive und deshalb wirkten eben die Attentate um so grauenvoller.
Man kennt ja Messerstechereien nur aus Anlaß von Streitigkeiten oder
zur Abwehr von Angriffen. Hier aber lagen die Dinge anders. Daß
man die Verbrecher nur sehr selten faßte — in Berlin auch nicht ein
einziges Mal — verwirrte die Sinne noch mehr. Die Behörden ar¬
beiteten fieberhaft zur Ermittelung der Täter, die Presse nicht weniger,
hohe Belohnungen wurden ausgesetzt, alles umsonst!
Durch die Presse insbesondere erfuhr nun das große Publikum
etwas von sadistischen Taten und ihrem sexuellen Untergründe. Es
1) Schiedermair, Fälle von Sadismns. Dies Archiv, Bd, 34, p. 12.
2) Graf, Über die gerichts&rztl. Beurteilung perverser Geschlechtstriebe,
ibidem, p. 45.
3) Bloch, Das Sexualleben unserer Zeit, 19—40. Tausend. Berlin 1908.
Anhang p. 857.
4) Nach Ref. in d. Ärztlichen Vierteljahrsrundschau, 1. Juli 1909.
5) Dresdner Nachrichten vom 18. Febr. 1909, Beilage.
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XVIII. P. Näc-ke
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ist fraglich, ob die Presse dadurch mehr genützt als geschadet hat.
Da nun bloße Zeitungsnotizen, wenn man einer Sache wirklich auf
den Grund gehen will, keine Gewähr für absolute Richtigkeit geben,
so ist es durchaus nötig, Quellenmaterial zu benützen. Ich
schrieb deshalb an das Kgl. Polizeipräsidium in Berlin und bat um
Beantwortung gewisser Fragen, die mir nach einiger Zeit bereit¬
willigst gegeben ward, wofür ich an dieser Stelle meinen Dank aus¬
spreche. Ich gebe zunächst das Schriftstück vom 6. Juli 1909 wieder.
„1. Wann geschah die erste Meldung
bez. einer Messerstecherei und
wann die letzte?
2. Um wieviele Fälle hat es sich
gehandelt ?
3. Liegen Indizien vor, daß alle
nur auf eine Person sich be¬
ziehen oder auf mehrere?
4. Der oder die Täter sind nicht
festgestellt?
5. Ist es wahr, daß einige Fälle
von Hysterischen simuliert wur¬
den, andererseits solches nur aus
Unsinn geschah, um die Frauen
zu schrecken?
6. Es hat sich wohl als Opfer nur
um Mädchen gehandelt, seltener
Frauen und nie um Kinder?
Männer wurden nie attackiert?
7. Sind später andernorts ähnliche
Attentate geschehen, die den
Berlinern ähnelten und vielleicht
gar auf den gleichen Täter
schließen lassen?
Zu 1. Am 10. Febr. 1909 wurde ge¬
meldet, daß am 9. Febr., abends,
eine Frauensperson hilflos auf¬
gefunden und bald darauf ge¬
storben sei. Am 21. Febr.
1909 wurde der letzte Fall in
Groß-Berlin zur Anzeige ge¬
bracht.
Zu 2. 40 Fälle wurden angezeigt.
Zu 3. 7 Fälle (am 9. 2. 09) sind
zweifellos auf einen Täter
zuriickzuf&hren, im übrigen auf
verschiedene.
Zu 4. Die Täter sind nicht ermittelt.
Zu 5. Einige der angezeigten Fälle
sind sicher fingiert, in einer
Reihe anderer Fälle hat es
sich anscheinend nur um gro¬
ben Unfug und nicht um Aus¬
fluß perversen Geschlechtsemp¬
findens gehandelt.
Zu 6. Unter den Opfern befanden sich
Frauen und Mädchen, auch 6
Schulkinder, aber nicht eine
einzige Prostituierte. Gegen
Männer richteten sich die Atten¬
tate nicht.
Zu 7. Ob andernorts später dieselben
Attentate ausgeführt wurden,
ist nicht bekannt geworden,
jedenfalls sind derartige Epi¬
demien in einer großen Anzahl
von Großstädten vorgekom¬
men. ‘ -
Ich füge hinzu, daß bis zum 28. Febr. nach den Zeitungsnotizen
28 Personen als mutmaßliche Täter verhaftet, davon aber 24 sofort
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Zur Psychologie der sadistischen Messerstecher
345
wieder entlassen wurden; darunter 6 Männer am 17. 2. 09 nachts
arretiert waren offenbar Geisteskranke, welche auf der Straße mit
dem Messer herumfuchtelten, aber ihr alibi nachweisen konnten. Von
den Opfern endlich war nur eins, eine ältere Frau, tätlich ver¬
wundet.
Jeder Kenner sieht sofort, daß es sich bei obigen 40 Fällen in
Berlin teil weis, wie in den meisten ähnlichen, um sadistische Akte
handelt. Unter Sadismus verstehen wir bekanntlich die Vollziehung
einer grausamen, oft blutigen Handlung zum Zwecke der Anreizung
resp. Befriedigung des Geschlechtstriebes. In diesem Archiv habe
ich dies sexuelle Thema öfters behandelt, so besonders bez. Dippolds 6 )>
und habe mit anderen nicht nur die enge Paarung von Grausamkeit
und Wollust betont, sondern auch versucht, dem letzten psychologischen
Grunde dieser merkwürdigen Vereinigung nachzuspüren. Ich will
hier aber nicht näher darauf eingehen. Mir kommt es jetzt vielmehr
auf die Psychologie der betreffenden Personen selbst an.
Es ist nun mehr als auffallend, daß man von den wenigen in der Lite¬
ratur niedergelegten Fällen von erwischten Messerstechern über das
Vorleben und die Beschaffenheit ihrer Psyche nur wenig erfährt, so-
daß die spezielle Psychologie dieser Leute bis jetzt so
gut wie ganz unbekannt ist und erst geschrieben werden kann,
wenn man mindestens ein paar Dutzend solcher Messerhelden genau
psychisch analysiert bat. Ob dabei freilich viel anderes herauskommen
wird als bei der Psychologie der Sadisten überhaupt, ist mehr als
fraglich, doch dürften gewisse Nuancen hier wohl bestehen, weil
diese sadistischen Attentate in der Tat ein ganz eigenes Gepräge
tragen. Wir können vorläufig ihre Psychologie also nur per analo¬
giam konstruieren und auch hier sieht es mit der allgemeinen Psycho¬
logie der Sadisten schlecht genug aus. Aber noch ein anderer in-
direkterWeg bleibt uns hierzu offen, indem wir nämlich von der Person
des Täters zunächst ganz absehen und nur die Einzelheiten der Tat¬
umstände genau ins Auge fassen, um daraus dann eine Reihe von
Rückschlüssen zu machen. Diesen Weg werde ich, faute de mieux,
im folgenden in der Hauptsache einschlagen. Wir gehen hierbei am
besten wieder von den Berliner Erfahrungen aus und betrachten im
einzelnen 1. die Täter, 2. die Opfer und 3. das Verhalten des
Publikums, der Polizeiorgane und der Presse diesen Schandtaten
gegenüber.
6) Näcke, Forensisch-psychiatrisch-psychologische Randglossen zum Pro¬
zesse Dippold, insbesondere über Sadismus. Dies Archiv, Bd. 13.
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XVIII. P. Näcke
Es waren in Berlin, wie wohl fast überall 7 ), nnr Männer als Täter
verzeichnet und zwar waren 7 Fälle zweifellos auf einen Täter zu
beziehen, was man wohl aus der gleichlautenden Beschreibung seitens
der Opfer schloß. Kein einziger ist ermittelt worden, wie das ja
leider die Regel ist. Es scheinen jüngere Männer gewesen zu sein.
Ganz Jugendliche sind, wenn überhaupt ermittelt, sehr selten. Manche
dürften verheiratet sein, obwohl wahrscheinlich sehr in der Minderzahl.
Der Tatort ist fast ausschließlich die Großstadt, seltener die Klein¬
stadt, wohl kaum das platte Land; die Gründe hierfür sind ja nahe¬
liegend. Die Großstadt an sich zieht schon alle Abnormen und Per¬
versen an, wie das Licht die Mücken; hier haben sie die meiste und
beste Gelegenheit ihrem dunklen Drange zu folgen, vor allem im
Verborgenen zu leben, schnell zu entfliehen und sich zu verstecken.
Ob solche Messerstecher in einem Lande häufiger sind als in dem
andern? Wir wissen es nicht - Wir wissen nur, daß die meisten Fälle
aus der germanischen Welt berichtet wurden. Ob das bloßer Zufall
ist oder die Rasse hier etwa auch mitspielt? Grade aus den
klassischen Ländern der Messerstecher, Italien und Spanien, werden
nur wenige solcher Fälle berichtet. Juden wurden bisher wohl nicht er¬
mittelt. Anders würde vielleicht das Verhältnis sein, wenn man nicht
nur die öffentlichen Messerstecher in Betracht zieht, sondern auch die
allerdings meist sehr harmlosen sadistischen Verwundungen
durch Messer, Nadeln usw., wie sie gar nicht so selten in
Bordellen, bei allein wohnenden Prostituierten usw. und
selbst in der Ehegemeinschaft Vorkommen, mit einrechnet. Das
sind offenbar die häufigsten sadistischen Akte dieser
Art. Hier kommen die Juden, die sehr libidinös und in den oberen
Schichten oft entartet sind, gewiß stark mit in Frage, da es dabei
nichts zu fürchten gibt und mit Geld die Sache sich leicht ver¬
tuschen läßt. Nach de Roos 9 ) sollen die Juden freilich
weniger aktive sexuelle Delikte begehen, als die anderen, doch
dürfte sich das, wie schon gesagt, mehr auf die öffentlich begangenen
beziehen. Ob die Messerstecher mehr den höheren Ständen angehören?
Wir wissen es nicht, aber es scheint fast so.
Die Motive sind bei diesen Messerstechern gewiß nicht alle
sadistisch. In Berlin wird speziell hervorgehoben, daß es auch aus
7) Ich kenne keinen Fall aus der Literatur, der einen weiblichen Messer¬
stecher beträfe.
8) von Krafft - Ebing, Psychopathologia sexualis. 13. Aufl. Stutt¬
gart 1907, p. 84.
9) De Boos, Über die Kriminalistik der Juden. Monatschr. für Kriminal¬
psychologie usw. 1909, p. 193 ss.
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Zur Psychologie der sadistischen Messerstecher.
347
Schabernack geschah und manche Attentate nur fingiert waren. Als
Unfug verübt ward es gewiß mehr von jüngeren Leuten, halbwüch¬
sigen Burschen, um die Weiber zu ängstigen, wobei die Verletzungen
nur ganz oberflächlich waren und vielleicht nur beabsichtigt wurde,
die Kleider zu zerschlitzen. Sadistische Momente fehlten dann völlig.
Freilich könnte auch bloßes Erschrecken durch Emporheben der Waffe
beabsichtigt, Ausfluß eines Sadismus sein, der gar kein Blut sehen
will wie die eigentlichen Messerstecher, welche man deshalb mit
Bloch to) als sexuelle Vampyre bezeichnen kann. Diese wollen Blut
erblicken, eventuell wissen, daß solches aus bedeckten Teilen fließt.
Unter Umständen könnten sogar leichte oder nur fingierte Attentate
seitens der Männer als Deckmantel von allerlei Verbrechen: Dieb¬
stahl, Rache, Eifersucht usw. dienen, doch scheint diese Möglichkeit
in Berlin nicht beobachtet worden zu sein. Dagegen tritt uns die
interessante Spezies der fingierten Attentate seitens der angeblichen
Opfer hier entgegen. Es hatten dort nämlich 9 Weiber und Mädchen
fälschlich Attentate auf sich angegeben. Sie hatten entweder über¬
haupt keine Wunde an sich oder hatten sich selbst leicht verletzt, um
sich interessant zu machen oder vielleicht noch aus andern Gründen.
Hysterisch dürften wohl manche gewesen sein, nötig ist es aber nicht.
Ein 13jähriges Mädchen hatte sich selbst die Röcke durchstochen, wie
man ihr nachweisen konnte.
Bei den Sadisten wirkt also der Schreck, das Schreien, die
Schmerzen des Opfers, noch mehr aber das fließende Blut oder das
Bewußtsein, daß es an verborgenen Stellen fließt, anreizend auf die
libido, nicht weniger auch die Furcht vor Entdeckung, die Einsamkeit
des Ortes usw. Bisweilen handelt es sich nach H. Ellis 11 ) um
einen verkappten Masochismus, indem der Täter sich in den leidenden
Zustand des Opfers versetzt und sich dadurch sexuell auf regt wie ge¬
wiß oft z. B. beim Flagellantismus. Selbst die rote Farbe des Blutes
hat eine erregende Wirkung; auch der Geruch und sogar der Ge¬
schmack wird von manchen Sadisten gesucht, namentlich beim
Lustmord.
Die Tat wird gewöhnlich auf offener Straße oder in Hausflur
und Treppe ausgeführt, in einsamer Straße, also meist sehr früh oder
spät, selten in der Nacht Der Täter geht allein; häufig maskiert er
sich oder legt einen falschen Bart an, wie dies einmal in Nürnberg
10) Bloch, Beiträge zur Ätiologie der Psychopathologia sexualis. Dres¬
den 1902, p. 99.
11) H. Ellis, Das Geschlechtsgefühl usw. Würzburg 1909, übersetzt von
Kurelia, p. 203.
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XVIII. P.NXcke
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(Schiedermair)') beobachtet ward. Selten geht er zu mehreren
Weibern; er verfolgt gewöhnlich nur eine einzige, gesellt sich harm¬
los zu ihr, zieht blitzschnell ein verborgenes Messer und sticht los
oder tut es auch ohne weitere Annäherungsversuche. Manchmal tritt
er sehr frech auf. So stach z. B. ein solcher Messerheld in einem
Vororte Berlins, Reinickendorf, eine Frau im 2. Stockwerke eines
Hauses, trotzdem im Erdgeschosse eine Polizeibauptmannschaft war
und vor dem Hause ein Schutzmann auf und ab ging! Selten ge¬
schieht die Tat am hellen Tage, noch seltener auf bevölkerter Straße
oder gar coram publico, wie in Paris vor 150 Jahren 5 ). Gleich nach
dem Angriff flieht der Täter, noch bevor das Opfer schreit, wobei ihm
die Trambahn wesentliche Dienste leisten kann, wie es offenbar in
Berlin mehrmals geschah. Oft bewegt er sich längere Zeit in einem
bestimmten Stadtviertel, ehe er seine Tätigkeit in einem andern wieder
aufnimmt. So begannen die Attentate in Berlin im Osten und dehnten
sich in andere Gegenden, auch nach Rixdorf, Lichtenberg, Reinicken¬
dorf und Charlottenburg aus.
Als Werkzeuge dienen spitze Gegenstände: Messer, Dolch,
Nadeln usw., die versteckt gehalten und plötzlich hervorgeholt werden.
Das sexuelle Motiv der Tat zeigt sich äußerlich darin, daß 1. die
Opfer fast ausnahmslos — außer bei Homosexuellen — das andere
Geschlecht betreffen, 2. mit Vorliebe junge und hübsche Mädchen
ausgesucht werden, vor allem aber, daß 3. der Stich meist die Gegend
des Unterleibes, der Oberschenkel oder Genitalien trifft, also fast stets
letztere oder ihre Nähe sucht. Sehr selten sind es andere Teile, z. B.
der Hals. Nach F 6 r 6 12 ) gibt es unter den „piqueurs de filles“ ver¬
schiedene Spezialisten. „II y a, sagt er, des piqueurs de fesses, de
jambes, de doigts, de bras, d’oreilles“, die immer dieselbe Art von Ver¬
wundungen machen. Hier tritt das Sexuelle äußerlich z. T. weniger
hervor. Anders in einem Falle Berlins, wo die Brust verletzt ward.
Gewöhnlich wird nur ein Stich ausgeführt. Manche begnügen sich, ab¬
sichtlich oder unabsichtlich, mit dem bloßen Zerfetzen der Kleidungs¬
stücke, immer aber wiedermit Vorliebe auch hier in der Nähe des Genitale.
Die Opfer gehörten in Berlin und auch sonst meist den
unteren Ständen an, dies wohl aus mehreren Gründen. Die Frauen
und Mädchen derselben gehen meist allein aus, sehr früh zur Arbeit
und spät nach Haus, also wenn die Straßen leer und es noch oder
schon dunkelt. Dann gibt es unter ihnen viele hübsche und junge
dralle Dinger, die ihre Reize oft nur leicht verhüllen. Altere Frauen
und Kinder, die sexuell weniger reizen, bleiben meist verschont, doch
12) Fero. L’instinct sexuel, Paris 1899. p. 135.
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Zur Psychologie der sadistischen Messerstecher.
349
wurden in Berlin 6 Schulkinder attackiert. Nie ward hier eine Dirne
ausgewählt, trotz ihres provozierenden Benehmens. Der Kitzel, daß es
eine Jungfrau oder eine ehrbare Frau ist, erhöht offenbar die libido.
Die Dirnen dagegen sind mehr zu Hause oder in Bordellen solchen
sadistischen Attacken ausgesetzt, besonders seitens der Wüstlinge.
Die Wunden sind dann meist nur oberflächlich, ungefährlich.
Was wir hier, wie auch sonst, nicht selten beobachten, ist, daß
eine solche Untat leicht Nachahmer findet, eine Art von Epidemie
sich entwickelt und zwar am gleichen oder an entferntem Orte. In
Berlin wurden wenigstens 7 verschiedene Täter wahrscheinlich ge¬
macht, worauf sehr bald von Kopenhagen eine Messerstecherei ge¬
meldet und in Liverpool^) ein Berliner verhaftet ward, als er die
7. Frau attackieren wollte; man glaubte in ihm den gesuchten Ber¬
liner Messerstecher vor sich zu haben, leider ein Irrtum! Am inter¬
essantesten hierbezüglich war die Messerstecher-Epidemie in Paris
vor 150 Jahren 5 ). Wer erinnert sich hierbei nicht der schrecklichen
Taten eines Jack the Ripper in den Jahren 1887 und 1889, dem
ähnliche andernorts sich sehr bald anscblossen, resp. vorangingen?
Spitzka 14 ) glaubt, der Mörder in Texas sei derselbe gewesen wie
der von Whitechapel. Man weiß ja hinreichend, wie faszinierend
jede Untat auf gewisse schwache Gemüter, Psychopathen und Ent¬
artete aller Art wirkt! Außerdem spielen noch oft andere Gründe
mit und manche wollen hierbei gewiß auch im Trüben fischen.
Das, was man aber an erster Stelle wissen möchte, ist der Um¬
stand, ob wir es bei den Messerstechern mit normalen, psychopathischen
oder gar geisteskranken Personen zu tun haben, was ja in foro sehr
wichtig ist. Alle drei Möglichkeiten sind nämlich gegeben. Leider
wissen wir hierüber nur sehr Weniges. In den bekannt gewordenen
Fällen handelte es sich meist um mehr oder weniger erblich Belastete,
die von klein auf öfter schon sich abnorm zeigten, früh geschlecht¬
liche Regungen hatten und zeitig schon zu onanieren anfingen.
Es waren also mindestens psychopathische Persönlichkeiten. Gerade
auf dieser degenerativen Unterlage entwickelt sich gern die Selbst¬
befleckung, die dann auf die Geschlechtsassoziationen so leicht disso¬
ziierend wirkt, zumal die Triebrichtung, wie Gaupp* 5 ) sehr richtig
sagt, bei Entarteten an sich schon eine sehr labile ist. Die Onanie
13) Nach einer Notiz der Dresdner Nachrichten vom 22. Juni 1909.
J4) Spitzka, The Withechapei murders etc. Journ. of Nervous and Men¬
tal diseases, 188S.
15) Gaupp, Zur Psychologie sexueller Perversitäten. Nach Ref. in Münchner
Med. Wochensehr. 1909. 25. Mai.
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ist hier also meist organisch bedingt und muß selbstverständlich
die Triebrichtung noch leichter in falsche Bahnen leiten. Die Phan¬
tasie wird mächtig in Aktion gesetzt und muß immer eifriger arbeiten,
um onanistische Befriedigung zu gewähren. So kann leicht einmal,
wenn eine sexuelle Erregung mit dem Anblick von eigenem ig) oder
fremdem Blute zusammentraf, eine festere Assoziation zwischen beiden
Phänomenen und eine Fixation derselben als Erregerin der libido ent¬
stehen, Das alles setzt aber ein dazu disponiertes Gehirn
voraus und so werden überhaupt alle Sadisten mehr oder
minder ab ovo dazu veranlagt sein. Eine reine psycho¬
logische Erklärung des Sadismus ohne eine Disposition
ist also sicher falsch. Ist aber einmal dieser neue sexuelle Reiz
festgelegt, dann sind die alten, normalen Reize, falls sie überhaupt
bestanden, mehr oder weniger machtlos; es tritt sogar Impotenz, ja
Abneigung gegen den Geschlechtsakt ein. Alle möglichen Übergänge
sind also hier vertreten.
Der neu gewonnene Reiz erklärt es, daß er immer fester sich
eingräbt und als solcher mehr oder weniger feststeht, weshalb der
Sadist auch meist nur eine einzige, bestimmte Handlung
bevorzugt, die er immer und immer wiederholt, wie der Exhibiti¬
onist, der Fetischist auch. Er träumt schließlich nur davon, wenn
er laszive Träume hat. Ob die libido an sich bei Sadisten, also auch
bei Messerstechern, größer als normal ist, wissen wir nicht, ist wohl
aber möglich. Sie kann aber gewiß zeitweis, spontan oder nach An¬
blick von Blut usw. so übermächtig auftreten, einen förmlichen Angst¬
zustand, Schweißausbruch und eine Art halben Dämmerungs-
zustand erzeugen, daß alle Hemmungen wegfallen und fast
impulsiv die sadistische Handlung ausgeführt wird. Dann erst
tritt Entspannung und Befriedigung ein und bei besseren Naturen zu
gleicher Zeit auch Reue und Scham über das Vorgefallene und
Wiederholung guter Vorsätze. Der sadistische Akt selbst kann prä¬
paratorisch, ante-, postkoital oder endlich proaktual geschehen n). Das
beißt also: die Handlung dient dem folgenden Geschlechtsakt nur
als Einleitung, oder sie tritt während desselben oder nach demselben
ein oder endlich sie verzichtet überhaupt auf jeglichen Geschlechts¬
akt und findet in sich selbst die volle geschlechtliche Befriedigung.
Bei den öffentlichen Messerstechern kann natürlich nur von einem
16) Manche Psychopathen sollen nämlich sogar vom Anblick des eigenen
Blutes sexuell erregt werden! Einen solchen Fall berichtet v.Kiafft-EbingiS), p. 62.
17) Merzbacher, Die krankhaften Erscheinungen des Geschlechtssinnes.
Leipzig 1909, p. 193.
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Zur Psychologie der sadistischen Messerstecher.
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proaktualen Akt die Rede seid, schon weil sie meist gleich nach der
Attacke entfliehen. Entweder finden sie also schon bei der Tat selbst,
durch die Angst des Opfers, das Fließen des Blutes, die Gefahr der
Entdeckung usw. ihre volle Befriedigung oder onanieren darnach,
ganz wie die Exhibitionisten und Fetischisten, Doch weiß man
hierüber sehr wenig Sicheres. In geschlossenen Räumen, Bordellen
usw. hingegen geschehen die sadistischen Akte: Stechen mit Nadeln
usw., Geißeln, wohl meist präparatorisch, im Eheleben oder beim ge¬
wöhnlichen Coitus dagegen leichtere Sadismen inter- oder postkoital
als Begleiterscheinungen erhöhter libido, auf dem Gipfel derselben
oder kurz darnach, also postkoital. Schon die nicht so seltnen Liebes-
bisse, Püffe, festen und oft schmerzhaften Andrückungen usw. bilden
Sadismen, können aber noch beinahe normal genannt werden. Ähn¬
liches sehen wir ja auch bei Begattungen mancher Tiere, wie Katzen,
Spinnen usw. Das letzte Extrem in der Reihe vom Normalen bis zum
Pathologischen bildet endlich der Lustmord nach dem Coitus, doch
kann letzterer auch präparatorisch oder interkoital geschehen, ja
vielleicht sogar proaktual.
Diese verschiedenen Äußerungen sadistischer Handlungen sind
aber nicht alle gleichmäßig bez. ihrer Abnormität. Abnorm ist frei¬
lich schon der sexuelle Reiz des Blutes usw. und gewiß schon als
krankhaft zu bezeichnen, zumal die Handlungen meist antisoziale
sind. Ist die Tat aber nur präparatorisch, so bewegt sich der weitere
Ablauf des Koitus in normalen Bahnen. Noch mehr nähern sich
die Verhältnisse dem Normalen, wenn die Sadismen intra- oder
postkoital eintreten, im letzteren Falle allerdings schon weniger. Ganz
abseits davon liegen aber die proaktualen Fälle. Hier ist vom nor¬
malen Koitus rein gar nichts mehr übrig geblieben. Die volle ge¬
schlechtliche Befriedigung tritt hier mit der auf die Attacke folgen¬
den Ejakulation mit oder ohne Onanie ein, ja vielleicht kommt es
nicht einmal mehr zu bloßer Erektion und Ejakulation und dann ist
der höchste Grad der sexuellen Perversität und Neurasthenie erreicht.
Der Vollständigkeit halber führe ich endlich noch den ideellen Sadis¬
mus an, wo keine Attacken geschehen, dieselben vielmehr nur in der
Phantasie vorgestellt werden und einen sexuellen Kitzel abgeben, der aber
zum normalen Koitus hier nötig erscheint. Das ist dann offenbar der
Anfang der ganzen Reihenfolge von sadistischen Möglichkeiten, die
sich einzel n, wie schon gesagt, sehr deutlich und klar in den sexuellen
Träumen kundgeben und daher forensisch so wichtig sind.ta)
IS) Siehe Näcke, Der Traum als feinstes Reagens für die Art des sexuellen
Empfindens. Monatsschr. für Kriminalpsychologie usw. 1905.
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XVIII. P. Xäcke
Wie sich nun alle diese VerhältDisse speziell beim Messerstecher
abspielen, wissen wir nicht, doch mag es sich damit wohl ähnlich
verhalten. Wir wissen auch nicht, ob sonstige sexuelle Perversi¬
täten, wie nicht selten bei den übrigen Sadisten, hier Vorkommen, auch
nicht, ob der Messerheld oft Reue und Scham empfindet, öfter schon
wegen derselben Tat bestraft ward usw., vor allem aber wissen
wir nur wenig von seinem sonstigen psychischen Verhalten, das je¬
doch sicher dem der andern Sadisten ähneln wird. Es wäre insbe¬
sondere interessant zu erfahren, ob die Messerstecher schon in der
Jugend grausam waren. Die Grausamkeit der Kinder soll nämlich
nach Gräf 2 ) häufig sadistisch sein, was ich entschieden bestreite.
Wie ich schon früher einmal auseinandersetzte, ist die sog. Grausam¬
keit der Kinder meist gar keine solche, da sie gar nicht wissen, worum
es sich handelt. Und wenn ja, dann gibt es ihnen wohl einen angeneh¬
men Kitzel, aber gewiß nur in den allerseltensten Fällen mit sexuellem
Anstrich. Bei Tieren läßt sich erst recht nicht von Grausamkeit reden,
daher auch nicht von eigentlichem Sadismus. In der Kinder- und Tier¬
psychologie treffen wir leider immer noch auf ganz ungerechtfertigte
Übertragungen der Erwachsenen-Psychologie. Der Übergang von
Grausamkeit zur Wollust, also zu einem sexuellen Gefühle
scheint über ein asexuelles Gefühl des Wohlseins zu gehen.
Ich erinnere mich z. B. sehr genau, daß es mir ein behagliches Ge¬
fühl bereitete, meiner guten Mutter durch Trotz und Ungehorsam, Un¬
gezogenheit usw. Kummer zu bereiten. Aber das Gefühl hatte abso¬
lut nichts Sexuelles an sich. Das große Problem ist nun zu eruieren,
wie der Übergang von diesem rein asexuellen Wohlgefühle zu dem
der geschlechtlichen Wollust sich vollzieht. Doch will ich hierauf
nicht näher eingehen. Nur bemerken möchte ich, daß nach 0. Groß* 9 )
(p. 61) viele Fälle von Sadismus „irgendein — seiner Bedeutung
nach subjektiv undeutlich gewordenes — Symbol von Rache ent¬
halten und damit gefährlich werden.“ Durch weitere Verdrängung
und immer größere Entfremdung des oder der Komplexe können
daraus dann Zwangstriebe und Zwangshandlungen entstehen. Dieser
Freud’sche Mechanismus dürfte für manche Palle, auch der Messer¬
stecher, sicher gelten. Abweisen werden wir jedoch eine reine
atavistische Erklärung des Sadismus, wie sie Lombroso und seine
Schule, auch Gauppis) im Sinne haben.
Aber noch weitere Fragen würden sich erheben. Es scheint,
daß die Messerstecher und die Sadisten überhaupt erst lange nach
19) 0. Groß, Über psychopathische Minderwertigkeit, Wien 1909.
k.
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Zur Psychologie der sadistischen Messerstecher.
353
der Pubertätszeit als solche sich entpuppen. Woher das? Waren sie
erst sexuell normal orientiert und wurden dann durch Onanie auf
die schiefe Bahn gebracht, oder traten die sadistischen Neigungen
erst mit Abnehmen der Potenz auf, wie Graf es will? Es gäbe
demnach eine erworbene und angeborene Form des Sadismus, doch
sagt Gräf selbst, daß es schwer sei, zwischen beiden sicher zu ent¬
scheiden. Ja, wir sahen schon, daß ohne angeborene Disposition
diese Perversität wahrscheinlich überhaupt nie sich erwerben läßt.
Die Onanie kann nun allerdings einmal zur Impotenz führen und .so
die Sache beschleunigen und an den Tag bringen. Derart würde
sich also das relativ späte Auftreten erklären lassen, doch fragt es sich
eben, ob immer Onanie, relative oder absolute Impotenz vorausgingen.
Die Impotenz als solche kann aber gewiß nicht nur der Grund sein,
da ja Sadisten in geschlossenen Bäumen sich meist potent zeigen,
allerdings erst nach oder mit sadistischen Anreizungen.
Viel schwerer ist es zu sägen, warum der sadistische Drang nur
periodenweise aufzutreten scheint, lange Zeit aussetzt, um wieder zu
erscheinen und dann plötzlich aufhört So erscheint es uns wenigstens
nach den Tatbeständen. Ein klassisches Beispiel hierüber ist der
Mädchenstecher von Augsburg (v. Krafft-Ebing(8), der 50 Mädchen
gestochen hatte. Mit dem 19. Jahre hatte er begonnen, dies bis zum
32. Jahre anscheinend regelmäßig fortgesetzt dann 4 Jahre ausgesetzt,
um wieder zu beginnen. Mit 37 Jahren ward er verhaftet Weiteres
ist nicht gesagt. Der Anblick von Waffen regte ihn schon auf,
noch mehr das Anfassen von solchen. Als die Epidemie der Messer¬
stecher in Paris vorüber war, hörte man nichts mehr davon, so auch
in Berlin. Jack the ßipper ist seit Jahren nicht mehr zum Vorschein
gekommen. Woher das alles? Mehrere Möglichkeiten ergeben sich hier.
Die spezielle sadistische Neigung kann sich in eine andere Art ver¬
kehrt haben, der Messerstecher also z. B. zum Zopfabschneider ge¬
worden sein. Möglich ist dies allerdings, obwohl gewiß nur selten.
Wir wissen vielmehr, daß die eingeschlagene Richtung des sadistischen
Handelns meist sehr konsequent fortgeführt wird. So wurde z. B.
1908 in Berlin ein Student wegen Zopfabschneidens verhaftet, bei
dem sich zu Hause 31 Zöpfe fanden. Zur Beobachtung kam er
kurze Zeit in eine Irrenanstalt und ward daraus als geistig gesund
entlassen. Er ging nach Hamburg und ward Februar 1909 wieder
wegen Zopfabschneidens sistiert; er war im Besitze von 5 Zöpfen
und kam nun endlich in die Irrenanstalt zu dauernder Verwahrung!
Diese Möglichkeit ist also gewiß nur selten gegeben, außer
bei geringer Ausprägung oder starkem Variationsbedürfnisse. Oder:
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XVIII. P. Xäcke
Der Täter verlegt den Schauplatz seiner Tätigkeit an fremde Orte,
verschwindet damit von der Bildfläche am alten; oder endlich er
zieht es der Sicherheit halber vor, seine Taten am gleichen Orte in
Dunkel zu hüllen, indem er seinen perversen Neigungen in Bordellen
usw., also nicht mehr öffentlich nachgeht. Diese letzteren Erklärungen
dürften wohl meist die richtigen sein. Mit dem Alter kann sicher auch
die sadistische, wie die homosexuelle Neigung abnehmen oder gar
aufhören, doch wissen wir hierüber nichts Näheres. Nicht ganz
ausgeschlossen ist aber endlich noch eine weitere Möglichkeit, daß
nämlich der sadistische Trieb zu gewissen Zeiten brunstartig auftritt.
So ließen sich z. B. die gehäuften Untaten des Verbrechers wohl erklären
und das bisweilen anscheinend längere Aussetzen derselben. Vielleicht
würde hierbei auch der Alkohol mitwirken, wie in einem Falle bei
v. Krafft-Ebing (8) p. 83. Immerhin ist die genannte Möglichkeit
keine sehr naheliegende*). Wir haben jedenfalls gesehen, wie viele
Probleme es noch bez. des Sadismus iih allgemeinen und der Messer¬
stecherei im besonderen zu lösen gibt
Das Vorhergehende führt uns weiter zur überaus wichtigen
Frage der Zurechnungsfähigkeit. Es muß gefordert werden,
daß jeder Sadist, also auch jeder Messerstecher, der in
flagranti ertappt wird, psychiatrisch genau untersucht werde.
So manche Geisteskranke, besonders Epileptiker, auch Alkoholiker
werden sich gewiß hier vorfinden, noch mehr aber minderwertige
Personen. Dort wird natürlich der § 51 in Anwendung kommen, hier
verminderte Zurechnungsfähigkeit resp. mildernde Gründe. Ist gar,
wie wohl meist, erbliche, sogar schwere Belastung, mit allerlei
verbreiteten und wichtigen Entartungszeichen, ferner persönliche
Veranlagung in Form von Nervosität, labile Stimmung, allerlei tics usw.
vorbanden, dann ist die Zurechnungsfähigkeit sicher erst recht nicht
mehr normal, sondern mindestens vermindert. Läßt sich aber weiter ein
unwiderstehlicher Drang nach weisen, was freilich in concreto
sehr schwer hält, so ist nur § 51 anzuwenden. Wird die Person
trotz aller Strafen immer beim gleichen Delikte gefaßt, so spricht dies
sehr für einen solchen impulsiven Drang, noch mehr, wenn man
objektiv durch Zeugen an dem Täter einen Angstzustand, Schwei߬
ausbruch, Unruhe beobachtet, der nach der Tat sich legte. Leider
liegen sehr selten solche Zeugnisse vor. Es könnten aber auch
*) Otto Groß (1. c. p. 89) sucht die periodischen und rezidivierenden
Trieb- und Zwangshandlungen und die intermittierenden Anfälle sadistischer
Perversität auf Freudsche Mechanismen zurückzuführen, was für gewisse Fälle
vielleicht gelten mag.
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Zur Psychologie der sadistischen Messerstecher.
355
Zwangsideen zugrunde liegen, die freilich erst durch genauere Be¬
obachtungen festzustellen wären, wie wohl überhaupt fast
jeder Fall eine längere psychiatrische Beobachtung in
einer öffentlichen Irrenanstalt erheischte. Bei Geisteskranken,
Epileptikern, Alkoholikern usw., weniger bei nur Minderwertigen könnte
aber auch bloße Mordgier, Lust am Blute usw. bestehen, ohne sexuelle
Empfindung. Das wären dann keine Sadisten. Bez. des § 51 bleibt
es sich aber doch gleich. Auch könnten bei ihnen die Attentate auf
Grund von Sinnestäuschungen und Wahnideen geschehen, oder aber
eine Messerstecherei aus Rache, übergroßer Empfindlichkeit, Jähzorn
usw., oder rein triebartig, wie z. B. im epileptischen Dämmerzu¬
stände. Aus Schabernack dagegen bei Irren gewiß sehr selten. Es
wird oft nicht leicht sein bei den Geisteskranken das wahre Motiv
zu finden, was auch nur theoretischen Wert hätte; anders bei den
Minderwertigen. Gewöhnlich liegt aber die Sache so, daß man
über die Vorgeschichte des Täters nur wenig erfährt; er wird zum
1. Male erwischt, wo man also von „unwiderstehlichem Drange" usw
nicht gut reden kann und wo gewöhnlich keine weiteren Anhaltspunkte
vorliegen. Hier muß dann erst recht eine längere Anstaltsbeobachtung
erfolgen. Sollte diese ergeben, daß wirklich weder Psychose noch
deutliche geistige Minderwertigkeit vorliegt, so müßte der Täter
wegen Körperverletzung bestraft werden, eventuell auch, trotz Ein¬
spruchs von Gräf (1. c. p. 52) wegen „hinterlistigen Überfalls“.
Immerhin dürften das nur seltene Fälle sein und die meisten
echten Messerstecher sind gewiß vermindert zurechnungs¬
fähig resp. unzurechnungsfähig.
Hierbezüglich habe ich nun eine Fischer“) entgegengesetzte
Meinung. Dieser meint zunächst, bei sexuell Perversen sei die libido
nicht größer als normal. Das kann er aber nicht beweisen. Wir
haben vielmehr Grund das Gegenteil anzunehmen, ganz besonders
bei den Homosexuellen. In der Vorgeschichte der Sadisten, Fetischisten
usw. spielt sehr frühzeitige libido, gewöhnlich oder sehr oft wenigstens
mit einer erhöhten gepaart, eine große Rolle. Nun sollen aber bei
ihnen nach Fischer, wenn dies ja der Fall wäre, auch die Hemmun¬
gen größer sein, weil große Strafe auf diese Delikte steht. Das ist
sicher ein Trugschluß! Die Hemmung wird hier wohl selten größer
sein, als normal, auf alle Fälle dagegen weniger wirken, wenn die libido
stärker ist. Aber auch der Wille ist ja nur zu häufig bei ihnen als
Psychopathen direkt geschwächt und schon allein beide Umstände:
20) Fischer, Über die Sachverständigentätigkeit bei zweifelhaften Geistes¬
zuständen. Psychiatr.-Neuro log. Wochenschr. Nr. 21, 1909/10, vom 21. August.
Archiv für Kriminalanthropologie. 35. Bd. 24
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XV1U. P. NXcke
verstärkte libido und Verringerung der Willenskraft müßten verminderte
Zurechnungsfähigkeit ergeben. Beides läßt sich auch durch längere
Beobachtung mehr oder weniger direkt feststellen. Schon bei einem
Geistesgesunden müßte, meine ich — Fischer ist entgegengesetzter
Ansicht — wirklich festgestellte erhöhte libido oder Abnahme der
Hemmungen mildernde Umstände bedingen. Freilich wird beides oft
vorgegeben, aber nicht bewiesen. Wie die libido, so ist die Hemmungs¬
kraft der Gegenvorstellungen individuell verschieden, angeboren und
durch das Milieu bedingt, immerhin durchschnittlich nur in einer ge¬
wissen engeren Breite, die wir als normal hinstellen. Selten schlägt
der Zeiger der libido oder der Widerstandskraft über die eine oder
andere Seite derselben hinaus und wir haben dann anormale Ver¬
hältnisse vor uns, die mindestens mildernde Umstände bedingen. Wie
groß nun die Zahl etwaiger und möglicher Geistesge¬
sunden unter den Sadisten resp. Messerstechern sein wird,
das kann nur die Zukunft lehren, da vorliegendes Material zur
Entscheidung dieser wichtigen Frage ganz ungenügend erscheint.
Was ist nun gegen die Sadisten oder Messerstecher zu tun?
Gegen die wirklich geistig Gesunden sind energische
Strafen zu verhängen, besonders da, wo die Tat aus Unfug,
Schabernack geschah. Wie das oft hilft, zeigte die Pariser Epidemie
vor 150 Jahren glänzend. Hier helfen nur Prügel, Strafver¬
schärfungen usw., um einen gehörigen Denkzettel mitzugeben.
Auch werden gegen Rowdies speziell kurzzeitige Zuchthausstrafen sehr
empfohlen. Die vermindert Zurechnungsfähigen wären am
besten in Zwischenanstalten, halb Gefängnis, halb Irrenanstalt
zu bringen, die wir freilich noch nicht haben, obwohl jetzt eine solche
für Berlin projektiert ist. So lange es solche noch nicht gibt, müssen
sie entweder in Irrenanstalten untergebracht werden oder besser
vielleicht noch in Gefängnissen, und hier am besten in den Annexen
für geisteskranke Verbrecher, mindestens sonst aber mit besonde¬
rem Strafvollzüge und auf unbestimmte Zeit eingeschlossen. Man
hofft nämlich, daß mit dem Alter die libido abnimmt, damit auch
die Gefahr. Vor der Entlassung wären vielleicht vorsichtige Beur¬
laubungen am Platze. Freilich können in Gefängnissen usw 1 . auch
sadistische Handlungen geschehen, doch nur an Gleichgeschlechtlichen,
jedenfalls sehr seltene Vorkommnisse und wohl nur bei Homosexuellen.
Die geisteskranken Sadisten sind gleichfalls dauernd in der Irrenan¬
stalt zu bewahren, eventuell sind auch hier vorsichtige Beurlaubungen
möglich. Inwieweit einmal die Kastration in Form der doppel¬
seitigen Vasektomie kurativ sein könnte, läßt sich z. Z. nicht sagen.
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Zur Psychologie der sadistischen Messerstecher.
357
doch ist darauf, theoretisch wenigstens, nicht allzuviel zu geben. Die
libido, wie auch ihre Abweichungen, erscheint ja weniger vom Te-
stikel als vom Gehirne abhängig, wie wir das besonders bei Eunuchen
mit bestehender, sogar erhöhter libido sehen oder bei der oft .durch
Psychose verstärkten unserer Geisteskranken. Die bekannte Schrift¬
stellerin Anna Ritter macht im Berliner Lokalanzeiger 21 ) auf die Ge¬
fährlichkeit entlassener Geisteskranker in Großstädten auch nach der
Richtung möglicher sadistischer Verbrechen aufmerksam und wir
sahen schon, daß in Berlin s. Z. 6 mit Messern herumfuchtelnde
entlassene Geisteskranke sistiert wurden. Solche Vorkommnisse lassen
sich leider nie ganz umgehen, da wir bei keiner Entlassung oder
Beurlaubung eines Geisteskranken gewährleisten können, es werde
draußen nichts geschehen Am sichersten wäre man freilich vor
solchen fatalen Überraschungen durch dauerndes Verwahren der
Kranken und Einschränkung aller Freiheiten gesichert, damit käme man
auf das alte nun glücklich überwundene Gefängnissystem zurück.
Selbstverständlich wird der Anstaltsdirektor in einer Großstadt mit
Entlassungen von Geisteskranken noch vorsichtiger sein müssen, noch
individueller verfahren als auf dem Lande und sich nie durch Über¬
füllung zu voreiligen Schritten bewegen lassen.
Werfen wir nun noch zum Schluß einen Blick auf das Ver¬
halten des Publikums, der Polizeiorgane und der Presse den Messer¬
stechereien gegenüber. Daß jeder einzelne Fall, noch mehr aber das
epidemieartige Auftreten dieser Schandtaten wie in Berlin, Paris,
Nürnberg, Liverpool usw. das Publikum sehr beunruhigen und auf¬
regen mußte, ist klar. Die wildesten Gerüchte durchschwirrten
Berlin usw. Frauen und Mädchen wagten kaum allein auszugehen,
manche legten gegen etwaige Angriffe dicke Kleidung, sogar Watte¬
polster an und die Herrenwelt paßte scharf auf. Man unterstützte
vielfach, was leider sonst nicht oft geschieht, die Polizei bei der
Suche und Verhaftung verdächtiger Personen und veranstaltete in
den Straßen wahre Hetzjagden. Andererseits unterließ man aber
auch öfters die Anzeige von Angriffen oder von Verdächtigen und
so gewannen die Täter manchen Vorteil. Mehrmals waren die
Opfer so vom Attentate überrascht, daß sie nicht einmal aufschrien.
Eine Frau hatte nicht eher gemerkt, daß sie gestochen worden war,
als bis sie Blut herabrieseln fühlte!
Die Polizeibehörden schritten in Berlin gleich von Anfang an
energisch ein und die Maßnahmen waren durchaus zweckmäßige.
Auch die niederen Ausführungsorgane taten ihre Pflicht, wenngleich
21) Siehe Dresdner Nachrichten vom 18. Febr. 1909.
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hierbei, wie so oft, Ungeschicklichkeiten ruit unterliefen. Man ver¬
haftete so eine Menge Unschuldiger, oft auf sehr vage Personalbe¬
schreibungen hin. Dies ist aber andererseits begreiflich, da die
Polizei in fieberhafter Tätigkeit war und alle Welt sich darüber auf¬
regte, daß man den oder die Täter nicht erwischte. Man vergesse
hierbei nicht, wie unbestimmt solche vom Publikum gegebene Per¬
sonalbeschreibungen sind und wie die Überraschung, der Schreck die
gestochenen Personen oft ganz falsch und meist nur sehr oberflächlich
die Täter sehen läßt. Es waren ferner, wie wir sahen, sogar fingierte
Attentate vorgekoramen. Das Benehmen und Vorgehen der Schutz¬
leute würde wohl im allgemeinen ein korrekteres werden, wenn es
gelänge, ihnen gebildete Elemente zuzuführen; doch würden solche bei
der Stellung und dem niederen Gehalte z. Z. sich nicht finden lassen.
Wie üblich wurden in Berlin Preise auf Ergreifung der Täter gesetzt,
eine Maßregel, über deren Zweckmäßigkeit man verschiedener Ansicht
sein kann. Wohl wird dadurch die Aufmerksamkeit und der Eifer des
Publikums und der Schutzleute angespornt, aber die Gefahr ist anderer¬
seits nicht von der Hand zu weisen, daß schwache Gemüter durch die
Publikation und die genau gegebenen Details zur Nachahmung solcher
Untaten verlockt werden, wie es denn auch offenbar in Berlin geschah.
Noch gefährlicher nach dieser Richtung hin wirkt aber entschie¬
den die Presse. Sie gibt außer Einzelheiten geradezu einen Katechis¬
mus der Messerstecherei, wodurch sowohl die Sensationslust der
großen Menge als auch die Sinnlichkeit befriedigt wird, da sie speziell
die sexuelle Seite der Schandtaten eingehend bespricht. So wurden
ganz unnötigerweise die Laien, insbesondere Frauen, Mädchen, ja
Kinder in die dunkeln Seiten der abnormen Sexualität eingeführt,
die Sinnenlust geweckt und in manchen disponierten Gehirnen vielleicht
der Keim zu späterer sexueller Perversität gelegt. Solche Dinge
sollte die Presse entweder ganz unterdrücken, oder doch nur kurz
streifen, ohne weitere Kommentare zu geben.
Hierbei anschließend möchte ich noch auf einen Unfug hin-
weisen, der seit einiger Zeit immer mehr sich ausbreitet. Sobald
nämlich irgendwo ein Verbrechen geschieht, welches psychologisch
dunkel erscheint, so werden selbst von den angesehensten Blättern
sofort anerkannte Autoritäten gebeten, sich sachverständig über die
betreffende Tat, namentlich was die Motive anbetrifft, auszusprechen,
welchem Ansinnen die meisten leider nachgeben. So haben z. B.
Lombroso — der sich ja bei jeder Gelegenheit hören lassen mußte —
und Forel auch über die Berliner Messerstechereien, wie s. Z. über
die Grete Beier sich ausgesprochen und insbesondere über den Sadis-
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Zur Psychologie der sadistischen Messerstecher.
359
mus ein Langes und Breites geschrieben. Sie haben gar nicht erst
offizielles Material abgewartet, die bloßen Zeitungsnotizen genüg¬
ten ihnen schon zur Unterlage. Ich halte ein solches Vorgehen für
sehr voreilig und eher schädlich als nützlich und habe es wieder¬
holt abgelehnt, an mich gerichtete Anfragen zu beantworten. Sind
selbst die gegebenen Erklärungen richtig, so sind durch bloße Zei¬
tungsnotizen doch die Ausgangspunkte nicht immer genügend fest¬
gestellt. Und vor allem: das große Publikum braucht über
die sexuellen Perversitäten im Detail nicht unterrichtet
zu werden. So nötig eine sexuelle Belehrung der heranwachsenden
Jugend in den oberen Schulklassen — besser freilich noch in den
Familien — erscheint, so wenig braucht sie und auch die Erwachsenen
im allgemeinen die sexuellen Abnormitäten, am wenigsten aber ihre
Details zu kennen. Das bezieht sich ebenfalls auf katholische Geistliche
im Beichtstuhl und daher wird schon lange mit Recht das Breittreten
sexueller Einzelheiten von den katholischen Moraltheologen, vor allem
hei Liguori' scharf verurteilt. Es genügt für .junge Männer oder
junge Mädchen vollkommen die Gefahren des Geschlechtsverkehrs zu
kennen und vor fremden Männern usw. gewarnt zu werden. Der
Schaden, den die Auslage von obszönen — auch wissenschaftlich -
sexuellen — Büchern und Bildern in den Schaufenstern usw. bei
Alt und Jung stiftet, ist wahrlich schon groß genug und schwer zu
beseitigen, wenngleich eine vernünftige Anwendung der lex Heiuze
hier manches Gute schaffen könnte 22 ). Die Presse braucht das Übel
durch Bekanntgabe der Einzelheiten sexueller Vergehen nicht noch
zu verschlimmern und so eine ungesunde Wißbegierde der großen
und kleinen Leser zu befriedigen und zu unterhalten. Nützen kann
solch ein vernünftiges Vorgehen nur dann, wenn die gesamte Presse
sich dazu versteht, damit nicht etwa ein Teil derselben — gewöhn¬
lich ist es gerade der, der beim kleinen Mann am meisten gelesen
wird — dieses unnütze Wissen trotzdem einschmuggelt und verbreitet.
Die genaue Kenntnis der normalen und der pathologischen
Sexualität ist wissenschaftlich und vor allem inforo
hochwichtig, aber sie sollte sich nur auf Wenige beschrän¬
ken; die Menge braucht sie nicht. Die Presse hat eine große
und schöne Aufgabe: das Volk vom Wissenswerten zu unterrichten
und so allmählich heranzubilden, nicht aber es durch Ausbreiten von
Schmutz aller Art ethisch abzustumpfen und zu schädigen. Denn
es ist nicht reif, jede Wahrheit richtig zu verstehen und einzuschätzen.
22) Näcke, Die sittliche Gefährdung der Großstadt Jugend durch die Gc-
schäftsauslagcn. Sexual. Probleme, Juni 1909.
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Nachträge.
Zum Glück sind öffentliche sadistische Messerstechereien doch recht seltene
Ereignisse, wie es scheint. Anfang Nov. h. a. habe ich bei der Kgl. Polizei¬
direktion in Dresden angefragt, wie viele davon wohl in den letzten 20—30
Jahren in Dresden, also einer Stadt von jetzt über V* Million, vorgekommen
seien. Der Polizeipräsident Dr. Köttig war so freundlich, nachforschen zu lassen,
und es fand sich nur eine einziger Fall, der vielleicht hierher gehört und dessen
Akten ich einsehen durfte. Im Nov. 1898 ward nachts um 10 74 Uhr eine junge
Köchin von einem jungen Manne auf der einsamen Straße überholt, der ihr mit
einem langen und spitzen Messer unterhalb des linken Auges und oberhalb des
linken Schlüsselbeins oberflächliche Wunden bcibrachtc. Der Täter war nicht
ausfindig zu machen. Man dachte vor allem an einen Racheakt und deshalb
wurden origineller-, aber richtigerweise sämtliche Dienstmädchen usw. aller um¬
liegenden Straßen befragt, ob sie Jemanden abgewiesen oder ein Verhältnis ge¬
löst hätten. Die Art der Wunden: Gesicht und Hals spricht allerdings mehr für
einen Rache-, als einen sadistischen Akt. Herr Oborregierungsrat Dr. Becker
von der Dresdner Polizei erzählte mir, daß, als er vor Jahren auf der Leipziger
Polizei gearbeitet habe, dort einmal eine Privatprostituierte Einen wegen sadi¬
stischer Verwundungen angezeigt habe. Übrigens wurden mir im Dresdner
Kriminal-Museum — nach Hamburg dem größten der Welt — in der soeben an¬
gelegten Abteilung für Sexualverbrecher, satistische Werkzeuge aus hiesigen
Bordellen (inNachbildungen)gezeigt, darunter eine Art Kreuzgestell. — Schaefcr
bringt in seiner „Allgemeinen Gerichtl. Psychiatrie“ (Berlin, Hofmann 1910)
einige interessante und seltene Fälle von Kindermördern. So hatten 2 Jungen
im Walde ein S jähriges Mädchen mit Messern erstochen, um einen „Mädchen¬
mord“ zu begehen (p. 105). Sadistische Momente liegen hier gewiß nicht vor.
Schrecklicher noch ist der Fall in Hamburg vor einigen Jahren, als ein Knabe
3 kleine Mädchen in Hauseingängen in den Unterleib stach, von denen eins starb
<p. 157). Sadistische Momente scheinen auch hier nicht Vorgelegen zu haben, aber
der Junge war offenbar nicht normal und wiederholt in Irrenanstalten gewesen.
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XIX.
Aus dem Institute für gerichtliche Medizin der k. k. Universität Graz.
(Vorst. Prof. Dr. Julius Kratter.)
Experimentelle Beiträge zur Bewertung einiger chemischer
Blutproben.
Von
Dr. S. Mita aus Tokio.
I. Über die Darstellung und forensische Bedeutung der
Haemochromogenkristalle.
Seitdem im Jahre 1892 Donogany(l) zuerst auf die große
Kristallisierfähigkeit des von Hoppe-Seyler(2) so benannten Haemo-
chromogen hingewiesen hat, haben zahlreiche Autoren (H. U. Kober t (3)?
de Dominicis(4), Cevidalli (5), Lecha-Marzo (6), K. Bücker (7)>
Kürbitz (8), die Bedeutung dieser Kristalle für den forensischen
Blutnachweis experimentell geprüft und rühmend hervorgehoben.
Kürbitz, welcher unter Leitung Pupp es arbeitete, hat vor kurzem
erst den Nachweis geführt, daß Lecha-Marzos „Jodhaematin“-
Methode gleichfalls auf nichts anderes hinauslaufe, als auf eine Dar¬
stellung von Haemochromogenkristallen. Alle Autoren, obwohl sie
nach etwas differenten Methoden gearbeitet haben, betonen in gleicher
Weise, daß die Kristallisationskraft des in Rede stehenden Blutfarb¬
stoffderivates eine ganz außerordentliche sei, daß sie durch hohes
Alter, Hitze Wirkung, Fäulnis und ähnliche, dem forensischen Ernst¬
fälle angepaßte schädigende Einflüsse weniger leide, als jene
des Haemins und daß diese Gründe, sowie die charakteristische
Färbung, das empfindliche Spektrum, die eigentümlichen Formen, sowie
die Doppelbrechung der rhombischen Kristalle den Körper vorzüglich
geeignet machen, in die Reihe der forensischen Untersuchungsmethoden
aufgenommen zu werden.
Die in diesem ersten Abschnitte wiederzugebenden Versuche hatten
den Zweck, zu entscheiden: 1. ob tatsächlich die Kristallisationsfähig¬
keit und die übrigen Eigenschaften des Haemochromogen den hohen
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362
XIX. S. Mita
Anforderungen der forensischen Ernstfälle standhalten und 2. welche
von den zu seiner Gewinnung angegebenen Methoden die besten
Resultate liefere.
Bei der Gewinnung der Haemochromogenkristalle ging ich zuerst
nach den Angaben von Kürbitz vor, setzte also dem gepulvertem
Blut oder einem Tropfen der Blutlösungen zuerst einen Tropfen
Pyridin, dann einen Tropfen Schwefelammonium zu und untersuchte
bei verschiedenen Vergrößerungen mit dem gewöhnlichen Mikro¬
skope, zum Nachweise des so charakteristischen Spektrums mit dem
Mikrospektroskope und zur Erkennung der Doppelbrechung mit dem
Polarisationsmikroskope.
Bei dieser Methodik machten sich aber verschiedene Umstände,
nicht was die Kristallbildung selbst anlangt, als störend geltend.
Erstens tritt durch den Zusatz des gelben Schwefel-Ammoniums die
dem Haemochromogen eigentümliche kirschrote Farbe nur undeutlich
aus dem Gesichtsfelde hervor und erschwert ihren Nachweis, ferner
ist die Abscheidung von Schwefelkristallen am Rande der Präparate
sowie der unangenehme Geruch ein Übelstand und endlich kann bei
Blutspuren, welche auf Metallen, namentlich auf Eisen angetrocknet
sind, der Nachweis der Kristalle durch die massenhafte Ausscheidung
intensiv gefärbter Sulfide sehr erschwert, ja sogar ganz vereitelt
werden. Ich ersetzte deshalb später zur Vermeidung all dieser Übel¬
stände das Schwefelammonium durch das ungefärbte und gleichfalls
stark reduzierende Hydrazinhydrat, wie dies zur Gewinnung von
solchen Kristallen zuerst v. Zeynek, nach ihm de Dominicis vor¬
geschlagen hat. Die Methodik gestaltete sich demnach folgender¬
maßen: Man setzt zu der fein gepulverten Blutspur oder der Blut¬
lösung nacheinander zu: 1 Tropfen einer 10prozentigen Ammoniak¬
lösung, 1 Tropfen Pyridin, 1 Tropfen Hydrazinsulfat in gesättigter
Lösung, oder Hydrazinhydrat in 10 prozentiger Lösung und bedeckt
das Objekt mit einem Deckgläschen. Leichtes Erwärmen, was hin¬
gegen nicht unbedingt notwendig ist. Der Farbenumschlag vom
Rostbraun in ein helles Kirschrot, welcher die Haemochromogen-
bildung anzeigt, tritt ebenso wie die Kristallisation fast momentan ein.
Die so entstehenden Kristalle finden sich massenhaft. Sie sind
doppelbrechend, teils gerade gestreckt, teils gebogen, an den Enden
häufig gespalten und aufgerollt, meist zu Büscheln oder Sternen an¬
geordnet. Sie besitzen die prächtige charakteristische kirschrote
Farbe des Haemochromogen. Bei dem weitgehenden Pleomorphismus
der Kristalle war es mir immer unmöglich, konstante Differenzen in
der Kristallbildung nach der Tierspezies wabrzunehmen. Eine Unter-
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Experimentelle Beiträge zur Bewertung einiger chemischer Blutproben. 363
suchung mit dem Mikrospektroskope lieferte das charakteristische Spek¬
trum dieses Blutfarbstoffderivates noch bei kleinsten Splitterchen.
Die Leistungsfähigkeit der Methode als solche allein betrachtet
geht aus der nebenstehenden Tabelle I hervor, welche zeigt, daß
sie bei frischem wie bei bei altem, gefaultem, erhitztem, verunreinigtem
und sonst wie verändertem Blute noch schöne und einwandfreie Re¬
sultate zu liefern vermag. Tabelle II zeigt, welch geringen Ein¬
fluß die Unterlage auf den Ausfall der Probe hat, wenn das Blut
von ihr nicht aufgesaugt wurde, sondern ihr oberflächlich an¬
getrocknet ist. Ist jedoch das erstere allein der Fall, wie dies z. B.
bei Leinwand oder Filtrierpapier der Fall sein kann, so mißlingt die
Methode, in der oben geschilderten Weise ausgeführt, häufig. In
solchen Fällen ist man genötigt, um noch zu einem positiven Resultate
zu kommen, entweder mit Wasser, oder, was noch besser ist, mit
Eisessig zu extrahieren, das Extrakt bei Zimmertemperatur verdampfen
zu lassen und mit dem Rückstand in der oben angedeuteten Weise
zu verfahren. Man wird, wenn etwas Blutfarbstoff in den Re-
agentien in Lösung geht, noch wohlausgebildete Kristalle erhalten
können. Ich habe also und das im Gegensätze zu Bück er durch
Extraktion mit reinem Eisessig häufig dann noch positive Resultate
bekommen, wenn andere Lösungsmittel im Stiche gelassen hatten.
Die Differenz unserer Resultate dürfte sich aus der verschiedenen
Darstellungsweise erklären lassen. Die nebenstehende Tabelle III,
welche eine Auswahl meiner diesbezüglichen Erfahrungen wiedergibt,
illustriert den Vorteil der Essigsäureextraktion gegenüber der aus¬
schließlichen und unmittelbaren Einwirkung von Pyridin und Hydra¬
zinhydrat.
Tabelle I.
Material
i
Haemochromogen-
probe
Frisches Blut von Mensch, Pferd, Hund,
Schwein, Katze
positiv
Dasselbe Material getrocknet
positiv
Menschenblut, 9 Wochen gefault
positiv
Menschenblut, 9 Wochen dem Sonnenlicht
ausgesetzt
positiv
Menschenblut durch 1 */2 Stunden in Lösung
gesotten
1 . .
positiv
Bis 9 Jahre alte, auf den verschiedensten
Unterlagen angetrocknete Blutspuren
differenter Spezies
positiv
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364
XIX. S. Mita
Tabelle II.
Material.
Alter.
Unterlage.
Häinochromogenprobe.
Hundeblut
8 Jahre
Papier
positiv
Menschenblut
6 Jahre
Leinwand
positiv
Menschenblut
5 Jahre
Fließpapier
positiv
Schweineblut
8 Jahre
Stein
positiv
Menschenblut
6 Jahre
Flanell
positiv
Menschenblut
6 Jahre
Watte
Nach Extraktion mit Eis¬
essig positiv, sonst negativ
Menschenblut
6 Jahre
Filtrierpap.
Wie im vorhergehenden
Versuche
Menschenblut
6 Jahre
Leinwand
Wie im vorhergehenden
Versuche
Menschenblut
2 Monate
Leder
positiv
Menschenblut
2 Monate
Holz
positiv
Menschenblut
2 Monate
! Erde
positiv
Tabelle III.
Material
i
Haemochromogen-
probe direkt
i
Haemochromogen-
probe mit Essig¬
säureextrakten
Haeminprobe
6 Jahre altes Leichen-
+
i II i
-1- l -l
blut auf Watte
ITT
1 II
6 Jahre altes Blut in
dünner Schicht auf
Filtrierpapier
i
i +
+
6 Jahre altes Blut auf
Watte
—
+
+
Menschenblut mit Erde
in einem Verhältnis von
1 : 8 Erde getrocknet
—
+
—
Diese ersten Versuchsreihen hatten uns also und das in Überein¬
stimmung mit den angegebenen Autoren darüber belehrt:
1. Daß der Nachweis von Haemochromogenkristallen bei den
differentesten Blutarten und in Spuren gelingt, welche den ver¬
schiedenartigsten schädigenden Einflüssen ausgesetzt waren. Schon
nach diesem Resultate könnte der Methode ein forensischer Wert nicht
abgesprochen werden.
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Experimentelle Beiträge zur Bewertung einiger chemischer Blutproben. 365
2. Daß zur Anstellung der Probe oben angeführter Gründe wegen
die Verwendung von Hydrazinhydrat in 10 prozentiger Lösung als
Reduktionsmittel besser geeignet sei, als Schwefelaramoniura.
3. Daß in den Fällen, wo hochgradig verändertes oder völlig in
Gewebsfasern inhibiertes Blut vorliegt, eine vorhergehende Extraktion
mit Eisessig, Verdunsten des Lösungsmittels bei Zimmertemperatur
und darauffolgende weitere Behandlung mit Pyridin und Hydrazin¬
hydrat manchmal dann noch die Darstellung von Kristallen ermög¬
licht, wenn sie durch die direkte Anwendung der letztgenannten
Reagentien mißlingt.
Über die Bedeutung der Probe für den forensischen Blutnachweis,
speziell über ihre Leistungsfähigkeit im Vergleiche zu anderen alt be¬
währten chemischen Blutproben belehrten mich die in Abschnitt II
wiedergegebenen Versuche.
••
n. Uber die Brauchbarkeit der Haemochromogenprobe
für den forensischen Blutnachweis im Vergleiche zu anderen
chemischen Blutproben.
Obwohl die Versuche der im ersten Abschnitte der vorliegenden
Arbeit angeführten Autoren, wie meine eben hier mitgeteilten Versuche
die hohe Leistungsfähigkeit der Haemochromogenprobe dargetan haben,
schien es doch, um zu einem sicheren Urteile zu gelangen, erwünscht,
sie an konkreten Beispielen mit den alten gangbaren chemischen Blut¬
proben zu vergleichen. Ich meine dabei vor allem die Haeminprobe,
deren Leistungsgrenzen durch die unter Kratters Leitung ausgeführte
grundlegende Arbeit von Hammerl (9), durch jene dann von M. Richter
(10) genug bekannt geworden sind, ferner die in den letzten Dezennien
zu Unrecht von vielen Seiten selbst als orientierende Vorprobe zurück¬
gewiesene Van Deensche Probe in jener Modifikation, die hier im
Institute geübt wird und, wie wir im III. Abschnitte zeigen werden
ganz vorzügliche Resultate liefert.
Bei diesen vergleichenden Versuchen wurde die Darstellung der
Haeminkristalle in der gewöhnlichen Weise geübt, wobei namentlich
eine allzu intensive Hitzeentwicklung vermieden und der Eisessig
mehreremale zugesetzt wurde. Die Haemochroraogenmethode wurde
immer zuerst an wässerigen Extrakten versucht. Wenn aber diese im
Stiche ließen, wurde sie nach Extraktion mit Essigsäure und Ver¬
dunstung dieser bei Zimmertemperatur an den Rückständen ausgeführt
unter Zusatz von 1. einem Tropfen 10 proz. Ammoniak, 2. einem Tropfen
Pyridin und 3. einem Tropfen einer konz.wässerigen Lösung von Hydrazin¬
sulfat. Die Guajakprobe wurde in der im III. Abschnitt genau wieder-
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XIX. S. Mita
gegebenen Weise ausgeführt, immer die Tinktur zuerst, das Öl nach¬
her zugesetzt und nach Zusatz der Tinktur das Auftreten eines Farben¬
umschlages in ein helles Kirschrot registriert.
Die erste Versuchsreihe betraf 17 bis zu 9 Jahre alte Spuren vom
Blute des Menschen, des Hundes, des Schweines, die auf den ver¬
schiedensten Unterlagen (Glas, Stein, Holz, Watte, Filtrierpapier, Papier,
Leinwand, Flanell, Erde) und unter verschiedenen Bedingungen (Zimmer¬
temperatur, Licht, lange dauernde Fäulnis) getrocknet worden waren.
Von diesen 17 Objekten gaben 10 alle 3 Proben in gleich schöner
Weise, von den 7 anderen, welche in Tabelle IV zusammengestellt
sind, lieferte keine einzige Haeminkristalle trotz vielfacher wieder¬
holter Bemühungen, 4 noch schön nachweisbare Haemocbromogen-
kristalle, alle 7 jedoch in vorzüglicher Weise die Guajakprobe.
Tabelle IV.
Material
Haeminprobe
Haem o chrom o-
1 genprobe
Van Deen
1
5 Jahre altes, gefaultes Menschenblut
in Kölbchen aufbewahrt
i
1 +
+
9 Jahre altes Leichenblut auf Stein
angetrocknet
+
+
i
8 Jahre altes Hundeblut
auf Papier:
:
+
i +
6 Jahre altes Leichenblut auf Watte
angetrocknet
—
+
+
8 Jahre altes Schweineblut auf
Papier an getrocknet
—
—
+
6 Jahre altes, stark gefaultes und
stinkendes Leichenblut auf Glas
—
+
3*/2 Jahre altes, stark stinkendes
Leichenblut
i
1
+
Die zweite Versuchsreihe behandelte den Einfluß höherer Tem¬
peratur auf den Ausfall der Proben. Wie Tabelle V zeigt, ver¬
mochte selbst die 1 */a stündige Erhitzung getrockneten oder flüssigen
Blutes auf 135° C keine der 3 in Betracht gezogenen Proben zu
schädigen, während 140° C fast in gleicher Weise, nämlich nach
einem Zeitraum von 30 bis 60 Minuten die Kristallisationsfähigkeit
sowohl für das Haemin wie für das Haemochromogen aufhebt, die
Van Deensche Probe innerhalb der Versuchszeiten auch bei 145° noch
sichere Resultate lieferte und erst bei höheren Temperaturgraden
(150 0 C), dann aber schon nach 30 Minuten im Stiche ließ.
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Experimentelle Beiträge zur Bewertung einiger chemischer Blutproben. 367
Tabelle V.
Temperatur
Dauer
der Einwirkung.
Haeminprobe
Haemochro-
mogenprobe
135° C
140° C
30'
GO'
90'
30'
60'
90'
+
! +
+
i +
+
i +
+
i +
145° C
150° C
30'
60'
90'
30'
60'
90'
Yan Deen
Tabelle VI.
1
Ver¬
unreinigung
Haeminprobe
bis zu
einem Ver¬
hältnis von
Haemocnro-
mogenprobe
-j- bis zu ei¬
nem Verhält¬
nis von
Dieselb. Probe
unter Essig¬
säureextrakt,
bis zu einem
Verhältn. von
Van Deen¬
sche Probe
positiv
Blut
Verun-
reini-
Blut j
Verun-
reini-
Blut
1 Verun-
reini-
Blut
1 Verun-
, reini-
i
gung
1
gung
gung
1 gung
Vaseline
1
3
1
6
| (i
! 7
Seifenlösung
konzentriert
2
10
(0.3
1 10
(0,3
1 10
Erde
2
4
1
4
0,5
4
(0,25
4
Freie Fettsäuren
1
6
1
13
(1
13
Eisenchlorid
2“io
Rost
1
1
4
6,5
1
<1
6
13
i
1
i
I
(l
(l
10
13
Pilzrasen
—
— ‘
— j
—
!
+
+
Über den Einfluß der Fäulnis und
des Sonnenlichtes konnte die
Erfahrung gemacht werden, daß durch neun Wochen dieser Einwir¬
kungen keine der in Verwendung gezogenen Proben unausführbar
geworden war.
Von verunreinigenden Stoffen wurden in Berücksichtigung der
Resultate von Hofmann (12) Kratter und Hammerl(9) und
M. Richter (10) auf ihren störenden Einfluß die in Tabelle VI an¬
geführten Stoffe in systematischer Weise (bei steigendem Zusatz des
verunreinigenden Agens) untersucht. Dabei zeigte es sich, daß die
Van Deensche Probe innerhalb der Versuchsgrenzen in keiner der
Versuchsreihen gestört wurde und daß die Kristallisationsfähigkeit des
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368
XIX. S. Mita
Haemochromogen unter diesen Versuchsbedingungen jene des Haemin
bedeutend übertrifft. (Vgl. namentlich die für Fette, Seifenlösungen
und Rost gewonnenen Grenzwerte).
Ich möchte also, und das in Bestätigung der Angaben von
Puppe-Kürbitz, meine mit der Haemochromogenprobe (nach de
Do minie is’ Angaben) gewonnenen Erfahrungen wie folgt zusammen¬
fassen:
1. Die Kristallisationskraft des Haemochromogen übertrifft jene
des Haemin was Verunreinigungen oder andere schädigende Einflüsse
anlangt, beträcbtlicb.
2. In Anbetracht der leichteren Ausführbarkeit, der größeren
Leistungsfähigkeit und der schöneren wie auffallenderen mikroskopischen
Bilder kann ich sie zum forensischen Blutnachweis dringend empfehlen
und ziehe sie sogar der Haeminprobe vor.
3. Sie ist bei exakter Ausführung und unter Beobachtung der
Kriterien — Kristallformen, Orangefarbe, Doppelbrechung, Spektrum —
eine absolut verläßliche und sicher arbeitende Methode, demnach eine
wesentliche Bereicherung der Untersuchungsmittel.
4. Unter Versuchsbedingungen, bei welchen die hier in Rede
stehenden mikrokristallographischen Methoden versagten, blieb die
Van Deensche Probe immer noch ganz unbeeinflußt, ein Ergebnis
auf welches ich im nächsten Abschnitte näher einzugehen habe.
III. Zur Bewertung der Van Deenschen- und der Wasserstoff-
superoxydmethode als Vorproben.
Seit Liman(13) im Jahre 1852 auf eine ganze Reihe von Sub¬
stanzen hinwies, welche einen positiven Ausfall der Guajakprobe Vor¬
täuschen können, kam die Van Deensche Methode immer mehr in
Mißkredit. Einen Ausdruck erhielt diese geringe Wertschätzung auf
der dritten Tagung der Gesellschaft für gerichtliche Medizin in
Dresden 1907, als J. Kratter auf die hohe Leistungsfähigkeit der
Probe als auf eine einfache, rasch auszuführende und eine unter
Einhaltung einer bestimmten Versuchstechnik insoferne zuverlässige
Methode neuerlich hinwies, die an der Diskussion sich beteiligenden
Redner aber mehr oder minder eine ablehnende Haltung einnahmen.
Die vorzüglichen Dienste, welche die alte Probe in der im In¬
stitute seit vielen Jahren geübten Form zur Auffindung von Blut¬
spuren dann leistete, wenn auf einer großen Zahl von Objekten die
sicher nicht von Blut herrührenden Flecke zur Vereinfachung der
weiteren Untersuchung ausgeschlossen werden konnten, veranlagte
Prof. Kratter, mich zu einer neuerlichen Überprüfung des Ver-
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Experimentelle Beiträge zur Bewertung einiger chemischer Blutproben. 369
fahrens, namentlich auf seine Fehlerquellen und auf seine Leistungs¬
fähigkeit im Vergleiche mit der neueren von Richter (Plauen) (10)
angegebenen Wasserstoffsuperoxydmethode zu prüfen.
Wie nach den später anzuführenden Versuchen die Vorprobe nur
dann einen diagnostischen Wert hat, wenn der Materialverbrauch ein
minimaler ist, die Reagentien gehörig rein sind, sie in einer bestimmten
Reihenfolge zugesetzt werden und auf die dabei in Erscheinung tretenden
Phänomene Rücksicht genommen wird, so gestaltete sich in allen
Versuchen — wie dies auch hier in allen Ernstfällen geschieht —
die Methode folgendermaßen:
1. Befeuchten der verdächtigen Spur mit dest. Wasser.
2. Vorsichtiges Darüberstreifen mit einem Stückchen befeuchteten
Filterpapieres, wodurch eine kleinste, eben noch sichtbare Spur
auf dieses gebracht wird.
3. Auf den am Papier haftenden Fleck wird eine frisch bereitete
strohgelbe Guajakharztinktur getropft. Dabei muß, falls Blut
vorliegt, die rostbraune Farbe in ein helles Kirschrot Um¬
schlagen, was durch Kontrollierung mit der Lupe noch deut¬
licher gemacht werden kann. (Ein Fehlen dieser Verfärbung
— wahrscheinlich Haemochromogenbildung — oder das Auf¬
treten anderer Farbentöne, namentlich Blau, spricht gegen das
Vorliegen von Blut!)
4. Zusatz eines Tropfen alten, ozonisierten Terpentinöles, worauf
spätestens nach Ablauf einer halben Minute eine intensive
Blaufärbung der Spur eintritt. Später auftretende Blaufärbung,
namentlich die oft schon nach'5 Minuten auftretende Blaufärbung
gewisser Filterpapiere um die verdächtige Spur herum in Form
eines Hofes, sind nicht als positiver Ausfall anzusehen.
Zur Ausführung der Wasserstoffsuperoxydprobe benutzte ich
eine stets ad hoc hergestellte 3 prozentige Lösung, gewonnen aus Per-
hydrol Merck.
Von der enormen Leistungsfähigkeit der Van Deenschen Probe
hatten uns, und das in teilweiser Bestätigung der Angaben früherer
Autoren, die im II. Abschnitte wiedergegebenen Versuchsreihen neuer-
* lieh belehrt. Diese zeigten, daß selbst unter Versuchsbedingungen
die Probe noch gut ausführbar bleibt, wo alle anderen chemischen
Methoden (vielleicht mit der einzigen Ausnahme von Kratters Hae-
matoporpbyrinprobe) versagen, Versuchsbedingungen, unter welchen
die so leicht zersetzliche Blutkatalase längst zugrunde gegangen ist.
So geht jene des Menschenblutes schon bei 140° sehr rasch zugrunde,
sie konnte in ihrer Wirkung wiederholt bei 5 Jahre altem Blute nicht
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370
XIX. S. Mita
mehr nachgewiesen werden, während allerdings manchmal auch ältere
Blutspuren noch ein positives Ergebnis lieferten. Was die Verdünnungs¬
grenzen anlangt, so gestattet die wie oben ausgeführte Guajakprobe noch
während Blut in einer Verdünnung 1 : 8000 mit Sicherheit zu erkennen,
das Wasserstoffsuperoxyd Verfahrens von über 1:128 hinaus versagt.
Diese früher und die hier angeführten Versuche beweisen es
jedenfalls zur Evidenz, daß — was das positive Ergebnis an sich zu¬
nächst ohne Rücksicht auf die Fehlerquellen anlangt — die Guajak¬
probe dem Verfahren Richters weitaus überlegen ist. Deshalb können
wir auch den Angaben Palles kes (14) keineswegs zustimmen, welcher
bei seiner Nachprüfung des Verfahrens sagt: „Die Methode ist der
Guajakprobe gleichwertig.“
Weitere Versuche hatten den Zweck, zu erweisen, ob denn wirk¬
lich unter Einhaltung der oben wiedergegebenen Kautelen die vielfachen
Fehlerquellen bestünden, welche das Verfahren so sehr außer Gebrauch
gebracht haben, ihren Einfluß auch auf die Wasserstoffsuperoxyd¬
probe zu prüfen, wie dies Palleske(14) und Uhlenhuth (15) schon
getan haben. Meine Resultate habe ich in Tabelle VII vergleichs¬
weise zusammengestellt. Aus ihr geht das Folgende hervor: Zunächst
kommen eine ganze Reihe von Fehlerquellen, welche wie Erde, Haut,
Nasensekret, Speichel, Sputum, Galle usw. mit Wasserstoffsuperoxyd
eine lebhafte Schaumbildung liefern, für die Van Deensche Probe
überhaupt nicht in Betracht, weil selbst nach Zusatz beider Reagen-
tien Blaufärbung nicht auftritt
Ferner — was alten Erfahrungen entspricht — entsteht aller¬
dings nach Zusatz von Guajakharzlösung allein und sofort zu einer
ganzen Reihe von Stoffen (Lugolsche Lösung, Kaliumpermanganat,
Kaliumferricyanid, Kupfersulfat, Zinkchlorid) eine teils sehr deutliche
und intensive, teils eine undeutliche blaugrüne bis grüne Verfärbung
die, wie aus der Tabelle hervorgeht, durch den Zusatz des Terpentin¬
öls teils deutlicher, teils weniger deutlich wird, teils aber ganz unver¬
ändert bleibt. Alle diese Fehlerquellen insgesamt kommen aber unter
Einhaltung der oben für das Verfahren als notwendig angegebenen
Kautelen nicht in Betracht und können zu Verwechslungen nicht An¬
laß geben. Denn bei ihnen tritt schon nach dem Zusatz der Tinktur-
eine Bläuung ein, nicht aber die für das Blut so charakteristische
kirschrote Verfärbung. Verwechslungen könnten nur dann erfolgen,
wenn im Zusatz der Reagentien nicht die oben angeführte Reihenfolge
eingehalten und auf den charakteristischen Farbenumschlag der Spur
keine Rücksicht genommen wird. Denn das sofortige Auftreten
einer Blaufärbung nach Zusatz von Guajaktinktur allein, wie z. B.
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Experimentelle Beiträge zur Bewertung einiger chemischer Blutproben. 371
bei Flecken aus Kaliumpermanganat, beweist das Vorliegen einer
Fehlerquelle und gestattet mit Sicherheit, Blut auszuschließen.
Wir waren nicht imstande, unter den in der Tabelle angeführten
und als „Fehlerquellen“ der Reaktion bezeichneten Stoffen auch nur
einen einzigen zu finden, welcher sich nicht durch Beachtung der
eingangs erwähnten Kriterien mit Sicherheit von Blutflecken hätte
unterscheiden lassen.
Tabelle VII.
Material j
Blut
Erde
Rostiges Eisen
Haut
Harn
Nasensekret
Speichel
Sputum
Galle
Eisenchlorid-
lösung
Lugolsche Lösung
Übermangan¬
saures Kali
Kalium-
ferricyanid
Kupfersulfat
Zinkchlorid
Ferrisulfat
Kaliumbichromat
Rotwein
Fruchtsäfte I
Van Deen
a) Zusatz von Gujak-
b) Zusatz von
tinktur
Terpentinöl
H2 O2 - Probe
Kirschrote Färbung
Keine Veränderung
Bläuung
Keine Veränderung
Blaufbg. d. bald ver¬
schwindet.
Grünfärbung
Sofort prächtige Blau¬
färbung
V
Schwache Bläuung
Schwache grünblaue
Färbung
Keine Veränderung
n
Violettfärbung
Bleiben rot
Blaufärbung
Keine Veränderung
Bläuung besteht fort
Keine Veränderung
Späte Blaufärbung j
Keine weitere Ver-
änderung
Lässt die Farbe noch
deutlicher hervortreten'
Intensive Bläuung j
Wird deutlicher j
Rotbraune Färbung i
Nach längerer Zeit !
uncharakt Bläuung
Keine weit. Veränderg.
• Keine rasch auftretende
| Bläuung
Starkes Schäumen
Schäumen
Schäumen
Schäumen
Keine Reaktion
Schäumen
Geringes Schäumen
Starkes Schäumen
71
Nicht untersucht
V
Endlich kam für die Bewertung der beiden in Rede stehenden
Vorproben noch der Umstand in Betracht, daß das blutverdächtige
Material bei der van Deenschen Probe kaum eine Verminderung und
gar keine Veränderung erleidet, durch die Wasserstoffsuperoxydprobe
aber zerstört wird. Versuche, welche darauf hinausgingen, mit Blut¬
material nach seiner Behandlung mit H 2 O 2 noch Blutproben zu er¬
halten, fielen vollständig negativ aus. Es resultierten weiße krümelige
Massen, das sogenannten „Haemolum album“, welches nach den Unter¬
suchungen von Fr. Schulz (16) und anderen vorwiegend aus Oxy-
Archiv für Krimmalanthropologie. 86. Bd. 25
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372
XIX. S. Mita
protein besteht und keine der Blntreaktionen (weder chemische, noch
spektroskopische, noch anch biologische) mehr gab.
Ich muß deshalb und das anch in Anlehnung an die langjährigen
mit dieser Methode gewonnenen Resultate des forensischen Institutes
in Graz mein Urteil über beide Methoden in der nachfolgenden Weise
zusammenfassen:
1. Das van D een sehe Verfahren ist unter Einhaltung der ein¬
gangs wiedergegebenen Versuchstechnik und der dadurch ge¬
schaffenen Kautelen ein außerordentlich empfindliches Ver¬
fahren, welches die Anwesenheit von Blut noch unter Vorbe¬
dingungen erkennen läßt, bei welchen alle anderen chemischen
Blutproben versagen.
2. Es ist dem von Richter angegebenen Wasserstoffsuperoxyd-
verfahren schon in dieser Hinsicht weitaus überlegen.
3. Was die oben untersuchten Fehlerquellen anlangt, die zum
großen Teile das Richtersche Verfahren vollkommen illuso¬
risch machen, so kommen sie für die van Deensche Probe
dann kaum praktisch in Betracht, wenn im Zusatz der Reagen-
tien die oben angegebene Reihenfolge eingehalten und die
Farbenveränderung nach dem Zusatz eines jeden Reagens beob¬
achtet wird.
4. Das van Deensche Verfahren gestattet bei einem negativen
Ausfall den Schluß, daß mit keiner anderen der gebräuchlichen
chemischen Blutuntersucbungsmethoden Blut nachgewiesen
werden könne.
5. Bei der großen Einfachheit der Methode, dem minimalen
Materialverbrauch und dem Umstande, daß sie im Gegensatz
zum Wasserstoffsuperoxydverfahren das verdächtige Material
ganz unverändert läßt, ist sie als orientierende Vorprobe bei
der Auswahl des Materials vorzüglich geeignet.
6. Selbstverständlich muß trotzdem für den exakten Nachweis,
daß tatsächlich Blut vorliegt, noch die Ausführung möglichst
vieler der gebräuchlichen Blutuntersuchungsmethoden als eine
nicht zu vernachlässigende Bedingung gefordert werden.
Zum Schlüsse möchte ich Herrn Professor Kratter für die
Anregung und Förderung meiner Arbeit den ergebensten Dank aus¬
sprechen; desgleichen bin ich Herrn Dr. Pfeiffer für seine vielfältige
Unterstützung zu besonderem Danke verpflichtet.
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Experimentelle Beiträge zur Bewertung einiger chemischer Blutproben. 373
Literaturverzeichnis.
1) Donogäny: zit. n. Malys Jahresbericht 1892, Bd. 22, p. 100.
2) Hoppe-Seyler: Zeitschr. f. pbysiolog. Chemie, 1889, Bd. 13. pg. 477.
3) H. Robert: Das Wirbeltierblut in mikrokristallographischer Hinsicht.
Stuttgart 1901, F. Enke.
4) De Dominicis: Gazetta internat. di Medic. 9. Jahrgang, März 1906.
5) Cevidalli: Archivio di Psichiatria, 1905, p. 316.
6) Lecha-Marzo: Archivio di Psichiatria, 26. Bd. — Revista de Medicina
y Chirurgia practicas, 30. Jahrg. 1906. — Revista de Chimica pura y applicada 1906.
— Gazetta medica del sur de Espana, 1908.
7) K. Bücker: Münchener med. Wochenschrift, 1909, Nr. 3.
8) Puppe und Kürbitz: Verhandluug d. Vereins f. wissenschaftliche Heil¬
kunde zu Königsberg, Deutsche med. Wochenschrift, 1909, März.
8) Kürbitz: Ärztliche Sachverständigen Zeitung, 1909, Nr. 7.
9) Hammerl: Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med. 3. F., 4. Bd.
10) Richter: Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med. 3. F., Bd. 20.
11) Kratter: Vierteljahrsschrift f. gerichtl. Med. 3. F., Bd. 35, Suppl.
12) Hof mann: Vierteljahrsschrift f. gerichtl. Med. Bd. 19, 1873.
13) Li mann: Vierteljahrsschrift f. gerichtl. Med. Bd. 12, 1852.
10) Richter: Monatsschrift f. Ohrenheilkunde, Jahrg. 38, Nr. 7.
14) Palleske: Vierteijahrsschrift f. ger. Med. 23. Bd.. 3. F. 1905.
15) Uhlenhuth: Verhandlungen deutscher Naturforscher und Ärzte zu
Breslau, 1905, p. 512.
16) F. Schulz: Zeitschr. f. phys. Chemie, Bd. 29, p. 1.
25*
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Original frum
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Kleinere Mitteilungen.
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Von Prof. Dr. P. Näcke.
1 .
Paradoxe Erotik. Kürzlich ward bekanntlich im Chinesenviertel
New-Yorks eine junge Amerikanerin von ihrem chinesischen Liebhaber ge¬
tötet, was gewaltiges Aufsehen erregte und den tiefen Rassenhaß der Ame¬
rikaner maßlos steigerte. Und es kam dabei heraus, daß — wie ich
einer Notiz der Politisch.-Anthropol. Revue 1909, p. 330 entnehme —
„hunderte von Frauen und Mädchen der besseren Klassen des heutigen
weißen Amerikanertums Liebesverhältnisse mit gelben Männern unterhalten,
an den Orgien der Chinesenviertel der Großstädte teilnehmen, dem Opium¬
genuß huldigen, und daß der Missionstitel nur den Vorwand abgab, sich
Ausschweifungen mit den bei der weißen Männerwelt so verachteten, ver¬
haßten Ostasiaten hinzugeben.“ Dies ist zunächst um so unbegreiflicher,
als auch die Frauen diese sonst hassen und die dortigen Chinesen schmutzig
sind und beinahe den Auswurf ihres Landes bedeuten. Wie ist dieses
Paradoxon möglich? Der an gezogene Artikel deutet verschiedene Ur¬
sachen dafür an. Durch die weitgediehene Emanzipation der Frauen und die
sinnlose Jagd nach dem Dollar bei den Männern ist in der Frauenwelt
die sexuelle Befriedigung sehr kurz gekommen, wofür die Natur sich rächt.
Die Hauptsache ist aber das Faszinierende des Kontrastes, das in jedem
liegt. Jeder Gedanke erweckt in uns einen Kontrastgedanken, der aber
meist so abgeblaßt ist, daß er uns für gewöhnlich nicht zum Bewußtsein
kommt. Nur bei bestimmten Gelegenheiten zeigt er sich; die so verachteten
Chinesen bilden gerade, weil sie verhaßt sind, einen Anziehungspunkt,
für viele ist ihr Schmutz und ihre Geilheit ein weiterer und dem
geben sich manche sogar hin. Auch bei uns haben wir solches oft ge¬
sehen. Sobald eine Truppe Neger, Indianer usw. in unseren zoologischen
Gärten auftritt, drängen sich manche junge und alte Damen heran und es
«ntspinnen sich Liebesverhältnisse. Auch sind solche zwischen vornehmen
Spanierinnen und den ungebildeten Stierkämpfern bekannt usw. Und wer
gedächte hierbei nicht der Amerikanerin, die erst den belgischen Prinzen
Chimay heiratete und dann aus Spleen den Zigeuner Rigo? Les extrömes
se touchent, sagt mit Recht der Franzose, und auch in gewöhnlichen Ehe¬
verhältnissen sind Kontrastcharaktere oft der beste Kitt der Liebe. Ich
möchte deshalb aber noch nicht ohne weiteres, wie jener Artikelschreiber,
von einer Dekadenz der Amerikanerin reden. Es sind das eben gewisse
Auswüchse normalen Empfindens, die überall Vorkommen und Vorkommen
werden.
Gck igle
Original from
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Kleinere Mitteilungen.
375
2 .
Entstehung der sekundären Geschlechtsmerkmale. Unter
solchen versteht man bekanntlich das Entwickeln gewisser Körperbil¬
dungen zur Zeit der Geschlechtsreife. Man zählt hierzu besonders das
Auftreten von Bart-, Achsel- und Schamhaaren, Entwicklung der Brüste,
Tieferwerden der Stimme usw. Man hat diese Dinge zum größten Teil
mit Darwin als geschlechtliche Ztichtigungsprodukte aufgefaßt. Nun hat
kürzlich Hoff mannÜ bez. des Haarkleides sehr plausibel gesagt, daß
die geschlechtliche Zuchtwahl hier nicht tätig war, sondern daß es
Korrelations-Phänomene sind, denen an und für sich aber keinerlei
Bedeutung zukommt. Ob Bart da ist, oder nicht, hat keinerlei Nutzen.
Wie wenig Selektionsart er besitzt, sieht man daraus, daß bei vielen Völkern
der Mann kaum mehr behaart ist, als die Frau. Die Korrelation wird aber
noch deutlicher dadurch, daß bei starker Haarfülle die Bezahnung mangel¬
haft wird. Hoffmann glaubt nun, daß die Haare in Korrelation mit der
Entwicklung des Nervensystems, besonders des Gehirns stehen. Je
größer letzteres, um so geringer die Behaarung. Daher hätten die Kultur¬
völker weniger solche als andere. Sicher hat er im großen und ganzen
Recht, besonders darin, daß hier die sexuelle Zuchtwahl kaum oder gar
keine Rolle spielt. Ich glaube aber, daß außer Cerebral - Korrelation
hier noch ein Rassenfaktor steckt. Das sieht man daraus, daß die Mongolen,
die intellektuell wahrlich nicht schlecht dastehen, wenig behaart sind und,
Ainos, deren Gehirn sicher z. B. über dem der meisten Neger steht und die
die sogar Arier sein sollen, umgekehrt sehr starke Behaarung aufweisen.
Es ist aber jedenfalls ein Verdienst Hoffmanns, hier wieder eine neue
Bresche in die immer unhaltbarer werdende Darwinsche Lehre der ge¬
schlechtlichen Zuchtwahl gelegt zu haben.
3.
Kulturfortschritt in der Tätowierkunst. Daß letztere auch
fortschreitet, beweist folgende Notiz, die ich den Münchener Neuesten
Nachrichten vom 22. 8. 09 entnehme und die auch sonst interessant er¬
scheint :
Nietzsche als Armschmuck. Hauptsächlich unter jungen
Arbeitern besteht die Sitte, sich tätowieren zu lassen. Während diese
„ Sitte“ in zivilisierten Ländern bei einem Teile der Bevölkerung sehr
stark gepflegt wird, verschwindet sie bei den Völkern, von denen sie stammt,
umsomehr, als sie mit der Kultur in Berührung kommen. Jeder, der
sich tätowieren läßt oder „stechen“, wie [man auch sagt, wählt natür¬
lich als „Schmuck“ solche Figuren und Bilder, für die er eine besondere
Vorliebe hat, oder die irgendwie mit seinem Berufe im Zusammenhänge
stehen.
„Kürzlich begegnete mir, so wird dem B. T. aus Halle a. d. S. ge¬
schrieben, ein junger Arbeiter, anscheinend ein Maurer, der, die Hemdärmel
hochgestreift, eine Karre vor sich herschob. Sein einer Unterarm war tä¬
towiert. Ich glaubte meinen Augen nicht zu trauen, als ich in dem blauen
1) Hoffmann: Über die Phylogenie des menschlichen Haarkleides Korr.-
Blatt der deutschen Gesellsch. für Anthrop. usw. 1909, p. 58.
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376
Kleinere Mitteilungen.
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Bilde die düsteren Züge Nietzsches erkannte. Das interessierte mich selbst¬
verständlich. Um mich genau zu überzeugen, verfolgte ich den jungen
Mann, der bald stehen blieb und seine Karre niedersetzte, um sich auszu¬
ruhen. Unter irgendeinem Vorwände trat ich auf ihn zu und reichte ihm
eine Zigarre. Dabei hatte ich Gelegenheit mich genau davon zu über¬
zeugen, daß es sich wirklich um das Bild Nietzsches handelte. Ich fragte
so nebenbei, wen dieser Kopf darstelle. „Das ist Nietzsche,“ sagte der
Arbeiter. „Nietzsche? Wer ist denn das?“ fragte ich neugierig. „Kennen
Sie den nicht?“ meinte er mit einem zweifelnden Lächeln. „Der hat eine
neue Religion gepredigt.“ Ich stellte mich völlig unwissend und drang
weiter in ihn, um mehr zu erfahren. Zuletzt erzählte mir der junge Mann:
„Er war ein großer Philosoph. Ich habe ein Buch über ihn gelesen. Da
war sein Bild drin. ,Du sollst kämpfen!‘ hat er gesagt.“ Dann spuckte
er in die Hände, rieb die Handflächen aneinander und schob seine Karre
weiter. Daß Nietzsche einmal so populär würde, und daß sein Bild sogar
als Tätowierungsschmuck dienen würde, das hätte er wohl selbst nicht
gedacht.“
4.
Selbstanzeige von Verbrechern. Daß Verbrecher sich selbst
anzeigen und das aus verschiedenen Motiven, ist ein überaus seltenes Er¬
eignis, wovon ich kürzlich an dieser Stelle ein Beispiel gab. Noch eigen¬
tümlicher ist aber folgender Fall, den ich den Dresdener Neuesten Nach¬
richten vom 7. August 1909 entuehme:
Ein wunderlicher Kauz. Ein Schlossergeselle aus Duisburg stellte
sich freiwillig der hiesigen Polizei unter der Anfrage, ob er von Dresden
aus gesucht würde. Er habe dort „etwas verübt“, wofür ihm Strafe be¬
vorstände. Er weigerte sich aber entschieden, diese Straftat selbst zu
nennen. Eine Anfrage in Dresden ergab, daß der Mann dort den Koffer
eines Schlafkameraden aufgebrochen und daraus 10 Mark gestohlen hatte.
Nunmehr erklärte der Schlosser, daß dieä das Vergehen sei, weshalb er
angefragt habe. Daraufhin wurde der seltsame Kauz, der sich auf der
Wanderschaft befindet, in Gewahrsam genommen.
Was mag wohl den närrischen Kerl veranlaßt haben sich anzuzeigen
und dazu noch auf eine so geheimnisvolle Art und Weise? Was hätte er
getan, wenn sein Diebstahl nicht bekannt geworden wäre?
Gck igle
Original fro-m
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Besprechungen
i.
Statistische Monatsschrift, Neue Folge, 14. Jahrg., 4. bis
7. Heft.
Dr. Hugo Forcher, Bezirksrichter: Rückfallstatistische Studien, unter
besonderer Berücksichtigung der österreichischen RUckfallstatistik.
Dr. Forcher leitet seine rückfallstatistischen Studien damit ein, daß er
die Wichtigkeit der Statistik für die Erforschung gesellschaftlicher Erschei¬
nungen kennzeichnet; mit ihrer Hilfe werden Probleme aufgeklärt, welche
durch bloße Vernunftschlüsse nicht zu lösen sind, sondern über die nur
mittels einer genügenden Menge gut geordneter Tatsachen Licht verbreitet
werden kann. Dann bespricht der Verfasser die Stellungnahme der inter¬
nationalen kriminalistischen Vereinigung zur Frage der Bekämpfung des
Rückfalles, Köbners Forderungen an eine wissenschaftlich einwandfreie und
brauchbare Rückfallstatistik, die Strafregister-Einrichtungen in den verschie¬
denen Ländern, und die RUckfallstatistik im Deutschen Reiche; zum Schluß
werden vier beherzigenswerte Vorschläge gemacht betreffend die Nutzbar¬
machung der österreichischen Strafregister für die Schaffung einer Rück¬
fallstatistik, was mit geringem Mehraufwand an Zeit und Geld geschehen
könnte, denn ein wertvolles Material liegt bereits vor. — Gegenwärtig be¬
sitzt nur das Deutsche Reich eine Rückfallstatistik im wahren Sinne des
Wortes und ihre Ergebnisse sind für den Kriminalisten bedeutungsvoll,
weil sie zeigen, daß die Zunahme der allgemeinen Kriminalität
(die in den 25 Jahren von 1882 bis 1906 233 auf je 100 000 Personen
der strafmündigen Zivilbevölkerung ausmachte) wesentlich auf der
gesteigerten Kriminalität der Vorbestraften beruht, und daß
eine wirksame Kriminalpolitik den Hebel bei der Bekämpfung des Rück¬
falls anzusetzen hat. Das ist deutlich erkennbar, wenn man die Vorbe¬
straften nach der Zahl ihrer Vorstrafen, der Schwere ihrer kriminellen Be¬
lastung von einander scheidet. Auf je 100 000 Strafmündige der Zivilbe¬
völkerung entfielen 1882: Verurteilte mit einer Vorstrafe 114, mit zwei
Vorstrafen 56, mit 3 — 5 Vorstrafen 64, mit 6 oder mehr Vorstrafen 23; 1906:
Verurteilte mit einer Vorstrafe 188 (Zunahme gegenüber 1882 62 Prozent),
mit zwei Vorstrafen 103 (Zunahme 84 Prozent), mit 3 bis 5 Vorstrafen 145
(Zunahme 127 Prozent), mit 6 oder mehr Vorstrafen 113 (Zunahme 391 Pro¬
zent). Die Häufigkeit der Verurteilungen hat demnach verhältnismäßig um so
mehr zugenommen, als das Vorleben kriminell belastet war. Dr. Forcher
findet außerdem, daß der Einfluß des wirtschaftlichen Lebens auf die
Kriminalität der Individuen um so geringer wird, je mehr deren Vorleben
kriminell belastet ist. Die Zahl der erstmalig Verurteilten, die auf 100000
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strafmündige Zivilpersonen kamen, nahm im Deutschen Reiche von 736
im Jahre 1882 auf 680 im Jahre 1906 ab. Zugenommen hat am be¬
deutendsten die Quote der erstmalig Verurteilten wegen Körperverletzung
und wegen Zuwiderhandlungen gegen die seit 1882 neu erlassenen Reichs¬
gesetze. Die meisten seit 1882 neu erlassenen Strafbestimmungen be¬
zwecken die Durchführung des Arbeiterschutzes und der sozialen Fürsorge;
sie richten sich nicht gegen kriminelle Handlungen im eigentlichen Sinne.
Die ausgezeichnete Arbeit verdient eingehendes Studium.
H. Fehling er-München.
2 .
Alfred Holt Stone: Studies in the American Race Problem.
New York, 1908, Doubleday, Page & Co. XXII und 555 Seiten.
Preis 2 Dollars.
Eines der besten Bücher über das Negerproblem in den Vereinigten
Staaten von Nordamerika, worin ohne Voreingenommenheit die Ursachen
des Gegensatzes zwischen der Bevölkerung europäischer und afrikanischer
Abstammung dargelegt werden. Die Rassenkämpfe und die Verbrechen
die sie im Gefolge haben, finden eine entsprechende Würdigung. Im An¬
hänge sind Abhandlungen von Prof. Walter F. Willcox beigegeben, wovon
die erste (S. 443—475) die Negerkriminalität betrifft. Es wird gezeigt,
welch große Schwierigkeiten auftreten, wenn Rassen von erheblich ver¬
schiedener Veranlagung und Kulturhöhe unter dem gleichen gesellschaft¬
lichen System leben sollen. H. Fehlin ger.
3.
Edward Carpenter: The Intermediate Sex. A study of some
transitional types of men and women. 176 S. London 1908.
Swan Sonnenschein & Co.
Das Buch enthält außer der Einleitung vier eigentlich selbständige
Aufsätze: »Das Zwischengeschlecht“; „Die homosexuelle Anhänglichkeit“;
„Zuneigung in der Erziehung“; „Der Platz des Urnings in der Gesell¬
schaft“ ; im Anhang sind Äußerungen bekannter Persönlichkeiten über die
Homosexuellen gesammelt. Der Verf. betrachtet das „Zwischengescblecht“
als ein Produkt der fortschreitenden Entwicklung der Menschheit; er sagt
z. B.: „Wie sich in einer zurückliegenden Entwicklungsperiode die Arbeits¬
biene zweifellos von den zwei gewöhnlichen Bienengeschlechtern differen¬
zierte, so mag es sein, daß in der gegenwärtigen Zeit gewisse neue Formen
der menschlichen Art entstehen, die eine wichtige Rolle in den Gesell¬
schaften der Zukunft zu spielen haben, auch wenn für den Augenblick ihr
Erscheinen viel Verwirrung und ungerechtfertigte Besorgnis hervorruft“.
Wahrscheinlicher ist es, meint dagegen der Ref., daß das „Zwischengeschlecht“
ein Ausdruck der Entartung ist. — Manches, was Carpenter sagt, ist der
Beachtung wert; viel Neues bringt er allerdings nicht.
H. Fehlinger.
4.
Eulenburg: Schülerselbstmorde. Leipzig, Teubner, 1909. 1 Mk. 30 S.
1905 kamen in Preußen 8,26 solcher Selbstmorde auf 100000 gleich¬
altrige Personen, jede Woche etwa einer. Die meisten an niederen Schulen.
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Jahresschwankungen ziemlich beträchtlich. Unter 15 Jahren M;W =
4,47 : 1. Über 15 Jahre Selbstmorde auf höheren Schulen viermal so
häufig wie auf niederen. Mehrere Gruppen. Geistig erkrankt und minder¬
wertig hiervon 27,8 Prozent! Die anderen Gruppen mit verschiedenen
Ursachen: reizbare Persönlichkeit, ungeeignetes Milieu und Erziehung zu
Hause, selten in der Schule, schwacher Charakter, frühes Genußleben,
frühzeitige Studenterei mit Alkoholismus, Dekadenz, geringfügige Anlässe,
unbekannte Motive. Verschiedene Beispiele gegeben. Prophylaxe. Die
Familie besonders kann viel tun. Schulreform.
Prof. Dr. P. Näcke.
5.
Hrdllka: Physiological and medical observations among the Indians of
Southeastern United States and Northern Mexico. Washington,
1908. Smithsonian Institution. 460 S.
Auf 6 Expeditionen in 7 Jahren hat Verfasser großartige Unter¬
suchungen über medizinische Dinge der Indianer vom Südwesten Nord¬
amerikas und Nordmexikos vorgenommen, wie sie in so großem Umfange
überhaupt nie gemacht worden und daher vorbildlich sind. Unzählige Ta¬
bellen und viele Photographien sind beigegeben. Aber auch als Anthropolog
und Ethnolog hat er sich die Leute angesehen und viel Folkloristisches, na¬
mentlich bez. der Volksmedizin, findet sich darin. Hier sei nur einiges er¬
wähnt, das speziell den Juristen angeht. Kindesmord ist nicht selten und
betrifft Mißgeburten oder uneheliche Kinder oder solche von fremden Rassen¬
angehörigen empfangene. Verbrechen überhaupt sind bei diesen im ganzen
guten und achtungswerten Stämmen ziemlich selten; am häufigsten noch Ge¬
walttaten — meist im Rausche —, Betrug und Diebstahl. Liebe, Rache spielt
selten mit. Jugendliche Verbrecher sind nicht häufig. Unter 130 000 Indi¬
anern des offiziellen Census von 1890 waren 322 Gefangene, davon 307 Männer.
Selbstmorde sind gleichfalls selten und geschehen auf verschiedene Art und
^ e * 8e - Prof. Dr. P. Näcke.
6 .
Francö: Pflanzenpsychologie als Arbeitshypothese der Pflanzenphysiologie.
Stuttgart 1909, Frankh. 3 Mark. 108 S.
Die vom Verfasser in seinem hochinteressanten Buch vorgebrachten
Tatsachen sind so zwingende, daß man ein niederes, unterbewußtes psy¬
chisches Geschehen den Pflanzen zusprechen muß, wobei die Frage nach
etwaigem Bewußtsein z. Z. unerörtert bleibt. Wir finden nämlich pflanz¬
liche Sinnesorgane und zwar spezifische, leitende Nervenfibrillen, Reaktions¬
zentren, spontane Bewegungen, die eine Wahlfähigkeit bezeugen und von
elektrischen Strömen begleitet sind. [ Ferner Ermüdungsphänomene, Rausch
und Lähmung nachAnaesthetica, Summation der Reize, entschieden sogar
Assoziationen und Gedächtnisleistungen, Instinkte, Automatismen. Endlich
ist auf diese psycchishen Äußerungen das Webersche und Talbotsche Gesetz
ebenso anwendbar wie beim Menschen. Der Darwinist, Evolutionist muß
schon a priori an eine Art Beseelung der Pflanzen glauben. Verf. weist
entschieden hier den Mechanismus und Vitalismus zurück.
Prof. Dr. P. Näcke.
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Besprechungen.
7.
Birnbaum: über psychopathische Persönlichkeiten. Wiesbaden, Bergmann,
1909, 88 S.
Auch Verf. geht psychologisch hier zu Werke, wie 0. Groß, rekurriert
dabei aber nicht auf Freudsche Mechanismen. Auch seine Ausführungen
sind sehr gute, wenngleich nicht so tiefgehend wie die von Groß. Er be¬
trachtet erst die normale Persönlichkeit, dann die psychopathische, die sich
übrigens in der Haft am besten als solche zeigt. Es werden die formalen
Stärungen des Gefühls- und Vorstellungslebens dargelegt, sowohl die ein¬
zelnen, als ihr Verhältnis zu einander, endlich das ganze Verhältnis dem
Milieu gegenüber, die verminderte Anpassungsfähigkeit u. s. f. Es wird also
auf die Wesenheit eingegangen, nicht auf einzelne Typen. Die Gemein¬
gefährlichkeit vieler Entarteten und anderseits ihr oft hoher Kultur¬
wert wird festgelegt wobei Verf. mit Recht sehr den Zusammenhang von Genie
und Entartung bezweifelt. Ref. bedauert nur, daß Verf. noch vom „ge¬
borenen Verbrecher“ und von „moral insanity“ spricht, sonst wird man
ihm wohl überall gern folgen.
Prof. Dr. P. Näcke.
8 .
W. v. Polenz: Der Büttnerbauer. Roman. 8. Aufl. Berlin 1905.
Eine gewaltige Bauerntragödie, die viel Ähnlichkeit mit Roseggers
großartigem „Jakob der Letzte“ hat, nur daß sie in Mitteldeutschland spielt
und reicher im sozialen Aufbau ist! Wir sehen die alte mit der neuen
Generation Zusammenstößen, die alte mit der neuen Wirtschaftsordnung
auf dem Lande, die Verschuldung der Bauerngüter, die Güterausschlach-
tung und Bewucherung seitens gewissenloser Juden, die unheimliche Anziehung
der Großstadt und der sozialen Partei usw. Es ist wunderbar, wie tief
der aristokratische Verf. in die deutsche Bauernseele und die deutschen
Bauernverhältnisse geblickt hat, einen wie großen Blick er für die National¬
ökonomie zeigt. Überall schlägt das warme Herz. Den Kriminalisten spe¬
ziell wird die interessante Schilderung des Stromertums mit seiner „Kunden¬
sprache“ fesseln. Es ist sicher in jeder Hinsicht einer der wertvollsten
Romane der Neuzeit.
Prof. Dr. P. Näcke.
9.
E. Siemerling: „ Geisteskrankheit und Verbrechen. Nach einem
Vortrage. Berlin, Aug. Hirschwald 1909.
In anregender und belehrender Weise bespricht Verf. den so wichtigen
und schwierig festzustellenden Zusammenhang zwischen Geisteskrankheit und
Verbrechen. Er geht davon aus, daß es eine, den Verbrechern eigentüm¬
liche Geisteskrankheit nicht gebe, daß aber die häufigsten, bei Verbrechern
beobachteten Geisteskrankheiten auf angeborenen oder erworbenen Schwäche¬
zuständen beruhen. Dann werden die einzelnen Geisteskrankheiten kurz,
aber klar besprochen und darauf dringend aufmerksam gemacht, daß die
Zahl der geistig Kranken unter den Verbrechern doch eine sehr große ist.
Die kleine Schrift ist jedem Kriminalisten dringend zu empfehlen.
H. Groß.
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10 .
Paul Ebert: „Das Sterben armer Sünder“. Hamburg 1909,
Gustav Schlechtmann.
Die kleine Schrift bespricht die letzten Stunden von 5 der Hinrich¬
tung Verfallenen vom religiösen Standpunkte aus. H. Groß.
11 .
Maurice Parmelee: „The principles of Anthropology und
Soeiology in their relations to criminal procedure“.
New York „The Macmillian Company“ 1908.
Das Buch will den Strafprozeß vom modernen Standpunkt der Kri¬
minologie aus untersuchen, und zieht deshalb den neuen Ton des Pro¬
zesses in allen Kulturstaaten in Betracht. Namentlich wird untersucht das
Verhältnis der Gesellschaft zum Verbrechen, die Strafgesetze, die verschie¬
denen Systeme des Strafprozesses, die Tätigkeit der Polizei, Beweis, Zeugen,
Jury usw., zuletzt wird die Zukunft des Strafprozesses entwickelt. Die
Auffassung des Amerikaners namentlich über unsere Verhältnisse ist sehr
interessant. H. Groß.
12 .
Dr. Erich Pomme: Die „Vorstellungstheorie und ihre Logik“.
Berlin 1908, R. Frenkel.
Verf. sucht die Vorstellungstheorie als nicht logisch darzustellen und
kommt zu dem Schlüsse, daß im Wege des Schließens bei der Vorstellungs¬
theorie eventueller und direkter Vorsatz dasselbe sein müßten.
H. Groß.
13 .
Ernst Rüdin: „Über die klin. Formen der Seelenstörungen bei
zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe Verurteilten“.
Hab. sehr. München 1909, Wolf & Sohn.
Für die lebenslänglich Verhafteten vom psychischen Standpunkte eine
Sondergruppe zu bilden, ist zweifellos wissenschaftlich korrekt. Wer viel mit
Verurteilten zu tun hatte, weiß, wie verschieden das Denken und Empfinden
der zu einer zeitlichen, wenn auch langen Strafe, und der lebenslänglich
Verurteilten stets ist. Einer der ersteren macht, wenn er das Verurteilt¬
werden nicht etwa längst gewöhnt ist, zuerst einen argen psychischen
Sturm durch; ist dieser überstanden, so legt er sich sofort zurecht, welche
zeitliche Bedeutung die über ihn verhängte Strafe hat: wann sie ausläuft,
wie alt er dann ist, welche Aussichten ihm der noch verbleibende Lebens¬
rest zu bieten vermag und meistens auch: wie viel Tage die abzubüßende
Strafe ausmacht, auch wenn er etwa 20 Jahre in Tage umzurechnen hat.
Ja, viele Sträflinge notieren sich sogar die oft sehr vielen Tage in Strichel¬
chen und durchkreuzen allabendlich den abgebüßten Tag, und tut einer
das auch nicht, so rechnet er doch jeweilig: „Noch so viele Sommer, so
viele Ostern, so viele Winter, so viele Geburtstage usw. im Kerker“. Kurz:
alles Sinnen und Rechnen geht auf den Tag der Enthaftung hinaus, dieser
unermeßlich wichtige Tag ist der immerwährende Gegenstand des Denkens,
Höffens und Herumspielens, während einer langen, fürchterlich schweren
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Besprechungen.
Zeit. Das fehlt nun dem lebenslänglich Verurteilten: Nichts, auf was er
hoffen, sich freuen, es ersehnen kann — endloses Leiden, nur Sterben als
Erlösung denkbar. Mir hat einmal ein sehr intelligenter und hochgebildeter
Mann, der ob eines politischen Delikts eine längere Einzelhaft verbüßt
hatte, gesagt: Das Schrecklichste und ihn fast zum Wahnsinn treibende
an der ganzen Strafe war der Umstand, daß die Zellentüre innen keine
Klinke, keinen Schlüssel, keinen Drücker hatte, so daß ihm in jedem Augen¬
blick die physikalische Unmöglichkeit hinauszugehen, ins Bewußtsein ge¬
rufen wurde. Ähnlich muß es dem „Lebenslänglichen“ sein, wenn er sich
stündlich darüber klar wird: „Kein Ende, nur der Tod“. Wer sich diese
Empfindungen vor Augen hält, dem muß es sicher sein, daß die ganze
Denkrichtnng dieser Leute eine andere werden muß, als es die der zeit¬
lich Verurteilten ist, daß sie immer verzweifelter und entsetzlicher werden
muß, bis ihr Denken einen Leck erhält. Wie häufig dies ist, hat Verf. in
sehr interessanter Weise dargetan. Er geht von der allgemeinen Erfahrung
aus, daß es unter den Mördern, die wohl den Hauptteil der „Lebens¬
länglichen“ darstellen, noch mehr Degenerierte, Sonderlinge und Psycho¬
pathen gibt, als unter den anderen Verbrechern, ja es Bei behauptet worden,
daß die „Lebenslänglichen“ mit der Zeit fast alle in leichtere oder schwerere
Geistesstörung verfallen. Ich glaube, es wäre unerklärlich, wenn dies nicht
der Fall wäre, zumal, wie auch Verf. sagt, die zu Mördern Gewordenen
fast ausnahmlos die Zeichen leichterer oder schwererer Entartung an sich
tragen. Verf. scheidet zuerst ganz richtig die Gruppen, die der Unschulds¬
wahn und die der Begnadigungs- und Entlassungswahn bildet und bringt
die betreffenden Kranken dann unter den Formen der Dem. praecox, Epi¬
lepsie, der psychogenen Psychosen, des Quenilantenwahns und der Verrückt¬
heit unter. Dazu kommt der präsenile Begnadigungswahn der „Lebens¬
länglichen“. Verf. stellt in Abrede, daß die meisten Gefängnispsychosen
von Entartung ausgehen, die größere Hälfte der Geistesstörungen bei
Lebenslänglichen bestehe, nebst Epilepsie aus rein psychogenen und psy¬
chogen stark beeinflußten Irresinnsformen. Manisch depressives Irresinn
fehle völlig.
Das Wertvolle der Arbeit besteht darin, daß sie neuerdings zur
Überlegung anregt, ob nicht doch mehr „Lebenslängliche“, also gerade
Mörder schon zur Zeit der Tat psychopathisch waren, als wir gewöhnlich
annehmen. Die gebotenen Krankengeschichten zeigen zum größten Teil,
daß der Beginn der Geistesstörungen sehr weit, vielleicht bis vor die Tat
zurückreichen muß. Weiteres wird vielleicht jeder am Schlüsse der Lektüre
des Buches überlegen, ob wir nicht verpflichtet sind, das Los der „Lebens¬
länglichen“, der unverhältnismäßig schwer Bestraften in irgend einer Weise
zu erleichtern; auch die scheußlichsten Verbrecher dürfen wir nicht geraden
Wegs in den Irrsinn treiben. H. Groß.
14.
Albert Coenders: „Strafrechtliche Grundbegriffe, insbe¬
sondere Täterschaft und Teiln ahme“. Düsseldorf, L. Schwann,
1909.
Der Verf. hehandelt unsere wichtigsten Fragen: Strafrechtsgrenzen,
Zweck der Strafe, Kausalität, Strafbarkeit der Unterlassungen, Vorsatz des
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Täters, Anstiftung, Beihilfe, Komplott, Bande usw. — alles in zweifellos
anregender Weise, freilich nur selten mit befriedigender Lösung.
_ H. Groß.
15.
Eugen Hasler: „Die jugendl. Verbrecher im Straf- und Straf¬
prozeßrecht mit bes. Berücksichtigung des Vorentw. zu
einem schw. St.G.B. und der Zürcher Strafprozeßreform“.
Aarau 1908, H. R. Sauerländer & Co.
Verf., der mit dem Satze schließt, daß die Entwicklung des Jugend¬
strafrechts als das Symbol moderner Rechtsfortbildung dastehe, behandelt
die schon oft behandelte Materie gründlich und von neuen Gesichtspunkten
aus. Er sucht aus der großen Menge der auf der ganzen zivilisierten
Welt entstandenen Versuche — mehr als solche haben wir heute doch
nicht — herauszubekommen, wie die diesfälligen schweizerischen Bestim¬
mungen entstanden sind. Verf. gibt zuerst eine historische Entwicklung
und behandelt dann die jugendl. Verbrecher im Strafrecht (Person, Hand¬
lung und Behandlung) und die jugendl. Verbrecher im Strafprozeßrecht
(einzelne Prozeßstadien, Rechtsmittel). — Ich anerkenne die Vorzüglichkeit
und den Wert der Arbeit, verbleibe aber bei meiner wiederholt geäußerten
Ansicht, daß das physische Alter, welches in unendlichem Wechsel auf das
Individuum wirkt, nicht so weit wirken kann, daß der „jugendliche Ver¬
brecher“ ein strafrechtlicher Begriff wird. Wir können nur von Indivi¬
duen reden, die vermöge ihres Alters einer Erziehung bedürfen — dieses
Alter aber in fixe Zahlengrenzen zu pressen, ist unzulässig.
H. Groß.
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Verlag von F. C. W. VOGEL in Leipzig
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Physiologie des Menschen
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Professor N. Zuntz und Professor Dr. A. Loewy
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Prof. Cohnheim-Heidelberg, Prof. Du Bois-Reymond-Berlin, Prof. Ellenberger,
Dresden, Prof. S. Exner-Wien, Prof. Johannson-Stockholm, Prof. A. Kreidl-Wien,
weil. Prof. O. Langendorff-Rostock, Prof. Loewy-Berlin, Prof. Metzner-Basel,
Prof. Joh. Möller-Rostock, Prof. W. Nagel-Rostock, Prof. Schenck-Marburg,
Doz. Scheunert-Dresden, Prof. C. Splro-Straßburg, Prof. Verworn-Göttingen,
Prof. O. Weiss-Königsberg, Prof. N. Zuntz-Berlin.
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Einführung in die Lehre vom Bau
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Druck von J. B. Hirschfeld in Leipzig.
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