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Full text of "Archiv Für Kriminal Anthropologie Und Kriminalistik. V. 40.1911"

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UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Inhalt des vierzigsten Bandes 


Erstes und zweites Heft 

ausgegeben am 28. Dezember 1910. 


Original-Arbeiten. 

I. Über das Oreisenalter in forensischer Beziehung. Von F. Zingerle 
IL Der Prozeß der Bombastus-Werke und sonstige Beiträge zur foren¬ 
sischen und psychologischen Beurteilung spiritistischer Medien. Von 
Dr. Freiherrn v. Schrenck-Notzing. 

III. Der Erkennungsdienst der Kgl. Polizeidirektion München. Von Dr. 

Theodor Harster. 

IV. Eine schwierige Leichen-Identifizierung. Von Kurt Weiß . . . 


Seite 

1 


55 

116 

138 


Kleinere Mitteilungen. 

Von Medizinalrat Prof. Dr. P. Näcke. 

1. Zur Mörderphysiognomie.146 

2. Ein bemerkenswertes Urteil.147 

3. Höchst komplizierter Fall von Selbstmord.148 

4. Einfluß von Erdbeben auf Schwangerschaften ..... 148 

5. Ein Beispiel unglaublicher Fruchtbarkeit beim Menschen . . 149 

6. Folgen der Prügelstrafe.150 

7. Bordelle oder nicht?.150 

Von Gerichtsasseesor Dr. Albert Hellwig. 

8. Meineid und Volksglaube.151 

9. Vampirglaube und Okkultismus.155 

Bflcberbesprechu ngen. 

Von Medizinalrat Prof. Dr. P. Näcke. 

1. A. Nyström: La vie Sexuelle et ses Lois..157 

2. Knecht: Die Fürsorgeerziehung in Pommern.157 

3. Esp6 de Metz: Le Couteau, essai dramatique snr les limites 

du droit chirargical.158 

4. Berze: Die hereditären Beziehungen der Dementia praecox 158 

5. Kurelia: Cesare Lombroso als Mensch und Forscher ... 159 

6. Sommer: Klinik für psyichsche und nervöse Krankheiten . 159 

7. Neuland des Wissens. Illustrierte Halbmonatsschrift über 

die Fortschritte der Wissenschaft.159 

8. Reichel: Über forensische Psychologie.160 


9. Dubois: Die PBjrchoneurosen und ihre seelische Behandlung 160 


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Inhaltsverzeichnis. 


Von Hans Groß: 


Seit© 


10. Dr. phil. W. A. Schmidt: Die Erkennung von Blutflecken 

und die Unterscheidung von Menschen- und Tierblut in der 
Gerichtspraxis.101 

11. A. Büttner: Zweierlei Denken. Ein Beitrag zur Physiologie 

des Denkens.101 

12. J. v. Kiene: Alkohol und Zurechnungsfähigkeit im Strafrecht 

und Zivilrecht.101 

13. Dr. Adelbert Düringer: Richter und Rechtsprechung . . 161 

14. Dr. Matti Helenius-Seppälä: Über das Aikoholverbot in 

den Vereinigten Staaten von Nordamerika.162 

15. Josef Köhler: Gedanken über die Ziele des heutigen Straf¬ 
rechts .162 

16. Dr. Ad. Baginsky: Die Kinderaussage vor Gericht 163 

17. Dr. W. Klette: Sehstörungen bei Kindern.163 


Zeitschriftenschau. 


Drittes und viertes Heft 

ausgegeben am 28. Februar 1911. 

Seite 


Original-Arb eiten. 

V. Zur Reform unserer Kriminalpolizei. Reiths- und Laiidcskriminal- 
polizei. Ein allgemeiner Deutscher Polizeikongreß. Von Polizei¬ 
präsident Koettig.. 177 

VI. Kriminalistische Aufsätze. Von Kurt Boas . >.187 

VII. Errare humanum est. Von Rechtsanwalt Dr. Böckel.225 

VIII. Die Epimikroskopie und ihre Anwendbarkeit in der gerichtlichen 

Medizin. Von M. U. Dr. Ernst Kalmus.232 

IX. Das Schicksal von Gruftleichen. Von Hans Groß.239 

X. Zur Diagnostik aufgefundener Kadaverteile. Von Privatdozent Dr. 

Ludwig Freund.241 

XI. Zur Kriminalität des Kindesalters. Von Oberarzt Dr. Mönkemüller 245 

XII. Beitrag zur gerichtsärztlichen Würdigung der Daktyloskopie. Von 

Prof. Dr. Lochte.320 

XIII. Über die Verwertung daktyloskopischer Gutachten vor Gericht. Von 

Polizei-Oberkommissär Dr. Eichberg.334 

XIV. Über Fußspuren. Von cand. iur. Wilhelm Polzer.342 

XV. Einige Bemerkungen zu § 18 des Vorentwurfs zu einem Deutschen 

Strafgesetzbuch. Von Dr. W. Heinicke.346 

XVI. Uuterrichtskurse für Gerichts- und Polizeiphotographic. Von Dr. 

Hans Schnoickert.364 

Kleiuere Mitteilungen. 

Von Dr. Rob. Heindl: 

1. Rcichskriminalpolizei.368 


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Inhaltsverzeichnis. 


V 

Seite 


Bücherbesprec hangen. 

Von Medizinalrat Prof. Dr. P. Näcke. 

1. Perrier: Le baste et ses rapports avec la taillo chez ies 

criminels.371 

2. Anton: Über krankhafte moralische Abaitung im Kindes¬ 
alter usw.371 

3. Bühl: Cesare Lombroso .371 

4. Deutsche Heil- und Pflegeanstalten für Psychisch- 

kranke in Wort und Bild . . 372 

5. Vierteljahresberichte des Wissenschaftlich-humanitären 

Komitees.372 

6. Gi erlich: Symptomatologie und Differentialdiagnose der Er¬ 
krankungen in der hinteren Schädelgrube .372 

7. Schäfer: Jesus in psychiatrischer Beleuchtung.372 

8. Friedländer: Die soziale Stellung der Psychiatrie .... 373 

9. Wie treibt man richtige Kriminalpolitik?.374 

10. Dr. Ferdinand Knoblauch: Bettel und Landstreicherei im 

Königreich Bayern von 1893 — 1899 . 375 

11. Dr. jur. M. Yamaoka aus Tokio: Grundzüge der Strafpolitik 376 

12. J. Adolf Stöhr: Lehrbuch der Logik in psychologisierender 

Darstellung.376 

13. Gerhard Anschütz: Die Polizei.377 

14. G. Anton: Über krankhafte moralische Abartung im Kindes¬ 
alter und über den Heil wert der Affekte.377 

15. Ernst Schultze: .Die jugendlichen Verbrecher im gegen¬ 
wärtigen und zukünftigen Strafrecht.377 

16. Arnold Wadler: Die Verbrechensbewegung im östlichen 

Europa.377 

Zeitschriften schau. 


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1 . 


Über das Greisenalter in forensischer Beziehung. 

Von 

H. Zingerle, Graz. 


i. 

Die klinischen Forschungen auf dem Gebiete der Psychopathologie 
des Greisenaltera haben bisher einen ausreichenden Einblick in den 
Entstehungsmodus, Art und Verlauf der psychischen Krankheitsbilder 
dieser Alterspbase ergeben; es liegen auch vielfältige Erfahrungen 
über die forensische Bedeutung derselben vor, so daß ihre Begut¬ 
achtung in foro keinen zu großen Schwierigkeiten unterliegt, wenn es 
sich nicht gerade um initiale Fälle handelt, in welchen eine sichere 
Diagnosenstellung noch nicht möglich ist. Jeder Erfahrene kennt die 
Schwierigkeit bei Bewertung eines ohne ausgesprochenen Intelligenz¬ 
defekt begangenen Sexualdeliktes oder Affektvergehens bei Greisen, 
die nicht unbedingt einer krankhaft veränderten Geistestätigkeit ent¬ 
springen müssen, andererseits aber häufig schon Ausdruck einer 
moralischen Abartung sind, welche bei der dementia senilis, sowie 
bei anderen organischen Gehirnerkrankungen häufig den Vorläufer 
des Schwachsinnes bilden kann. Nebsdem wächst die Unsicherheit 
dadurch, daß die Abgrenzung des physiologischen vom pathologischen 
Senium überhaupt keine scharfe ist und vielfach fließende Über¬ 
gänge Vorkommen. Denn pathologisch-anatomisch stellt die einfache, 
nicht durch arteriosklerotische Herd-prozesse komplizierte Dementia 
senilis nur einen höheren Grad der physiologischen Altersverände¬ 
rungen dar, (Alzheimer) aus welchen sie sich in allmählichem Über¬ 
gänge fortentwickelt Ebenso schleichend gestaltet sich die klinische 
Entwicklung dieser Form des Altersblödsinnes und ist es oft schwer 
zu sagen, wann das Pathologische beginnt. Es handelt sich dabei 
ja meist um graduelle Unterschiede, deren Beurteilung in den Anfangs¬ 
stadien dem subjektiven Ermessen zu viel Spielraum läßt und kann 
man oft erst rückschauend nach Kenntnis des weiteren Verlaufes 
das Krankhafte früherer Stadien erschließen. 

Archiv für Krimiiuüanthropologie. 40. Bd. 1 


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I. H. ZlNUEBLE 


Vielleicht werden künftige Untersuchungen weitere Gesichtspunkte 
für eine frühzeitige schärfere Abgrenzung des physiologischen Seniums von 
der pathologischen senilen Degeneration eröffnen. Es wäre denkbar, daß 
tiefgreifende Charakterveränderungen, über ein gewisses Maß hinaus¬ 
gebende Äußerungen des Trieb- und Affektlebens, sowie gewisse 
Benommenheitszustände dem physiologischen Greisenalter fremd sind 
und stets Ausdruck eines schwereren Prozesses sind, als er dem ein¬ 
fachen Senium zugrunde liegt. Einen Hinweis darauf bieten u. a. 
die Beobachtungen Asch aff enburgs, daß der größere Teil der 
senilen Sexual Verbrecher an Dementia senilis zugrunde gehen. 

Nicht minder als die senilen Geistesstörungen erregen aber das 
forensische Interesse die eigenartigen seelischen Veränderungen, welche 
das Senium gewöhnlich begleiten, deren soziale Bedeutung in der vor¬ 
liegenden Untersuchung ausschließlich berücksichtigt werden soll. 

An der gesamten Involution des Organismus im Greisenalter 
nimmt auch das Gehirn teil und ist dasselbe schon physiologisch 
funktionell und anatomisch nachweisbaren Veränderungen unterworfen, 
welche zu einer Abnahme des Gehirngewichtes führen. In Ver¬ 
bindung damit verarmt die Rinde an Markfasern, erleiden die Gan¬ 
glienzellen mannigfache degenerative Umbildungen j und verdichtet 
sich die gliöse Stützsubstanz. 

Diese Rückbildung äußert sich im Leben naturgemäß durch eine 
Änderung der Seelentätigkeit, die dieser Altersstufe ein charakte¬ 
ristisches Gepräge verleiht. Die Greisenpsychologie hat die mannig¬ 
fachsten Beschreibungen gefunden und würde eine ausführliche Dar¬ 
stellung im Rahmen unserer Arbeit zu weit führen. Als das Wesentliche 
sei nur hervorgehoben, daß der Senile auch weiterhin über den 
Besitzstand seiner früheren Erfahrungen verfügt und die darauf auf- 
gebauten Lebensregeln, die ihn ja zum „Weisen“ stempeln, nutzbringend 
zu verwenden imstande ist Das nicht mehr vollwertige Gehirn steht 
aber den neuen Eindrücken nicht mehr so aufnahmsfähig gegenüber, 
wie früher, verliert an Regsamkeit und geht das psychische Leben, 
einer allmählichen Erstarrung in den Formen entgegen, welche es 
einmal angenommen hat (Jodl). Durch die Abnahme der Phantasie, 
Verlangsamung der Auffassung und des Denkens erfährt die geistige 
Schwerfälligkeit eine weitere Steigerung. Dazu kommt noch er¬ 
gänzend, daß auch die Skala der Gefühle eine Vereinfachung erfährt, 
trotz Neigung zu Stimmungswechsel eine Einengung des Gefühlslebens* 
eintritt (Ziehen, Mey nert), die eine deutliche egozentrische Tendenz 
verrät; ebenso leidet in ausgesprochener Weise die feinere Regulierung 
der Willensimpulse, die nicht mehr wie früher in der Zeit der vollen 


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Über das Greisenalter in forensischer Beziehung. 


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Manneskraft, den äußeren Anforderungen entsprechend angepaßt 
werden, und bis zu einem gewissen Grade der feinen Steuerung 
durch corticale Hemmungsapparate nicht mehr so gehorchen wie 
früher. 

Auf diesen Veränderungen bauen sich die bekannten Charakter¬ 
eigentümlichkeiten der Greise auf, wobei jedoch festzuhalten ist, daß 
die Intensität derselben bei den einzelnen Individuen in hohem Grade 
schwankt, wenn sie auch wohl niemals gänzlich fehlen. Man be¬ 
gegnet oft einer überraschenden intellektuellen Leistungsfähigkeit bis 
in die höchsten Altersstufen, die den intellektuellen Durchschnittswert 
der Manneszeit weit übertreffen kann, wenn sie auch im speziellen 
Falle eine Minderung gegen früher bedeutet Zweifellos spielt bei 
diesen Verhältnissen die Anlage, das Maß der auf das Gehirn 
während des früheren Lebens einwirkenden Schädlichkeiten eine 
große Holle und reagiert wohl ein an sich minderwertiges Gehirn 
auf den physiologischen Prozeß schwerer, als ein vollwertiges. Bei 
allen diesen individuellen Differenzen zeigt sich aber der feineren 
Beobachtung doch die eine interessante Tatsache, daß die Veränderungen 
im Bereiche der Gefühls- und Willenssphäre eine größere Konstanz 
in ihrer Ausbildung erfahren, und damit gegenüber den Störungen der 
intellektuellen Leistungen eine dominierende Stellung einnebmen. 
Hierin ergibt sich eine Analogie zu den bekannten Erfahrungen der 
Psychopathologie, daß bei verschiedenen Gehirnerkrankungen, so ins¬ 
besondere bei den mannigfachen früherworbenen Defektzuständen 
Partialausfälle bei relativ wohl erhaltenen anderen Fähigkeiten bestehen 
können, daß, wie Anton neuerdings hervorgehoben hat, die Krankheit 
elektiv einzelne Teile der seelischen Gesamtfunktionen des Gehirnes 
schwerer betreffen kann, als andere. Diese Erfahrung macht es 
notwendig, bei der Beurteilung der Senilen nicht das Hauptgewicht 
auf die Prüfung der Intelligenz zu legen, sondern ebenso die Ab¬ 
änderungen der Gefühls- und Willenssphäre zu berücksichtigen. 

Ebenso wie die Intensität schwankt auch der Zeitpunkt des Ein¬ 
tretens dieser Involutionserscheinungen; die Rückbildungsvorgänge 
beginnen im Körper ja schon mit dem 50. Jahre, jedoch so schleichend, 
daß sie in unserer Frage praktisch noch keine Bedeutung haben, — 
abgesehen von den Fällen mit ausgesprochenem Senium praecox. Mit 
Beginn der 60 er Jahre treten die Involutionserscheinungen stärker hervor, 
und können wir, in Übereinstimmung mit Wille u. a. den Beginn 
des Greisenalters in diese Altersphase setzen, wenn man sich dabei 
auch im klaren sein muß, daß dies nur eine Durchschnittszahl ist, 
die eine Grenze für allgemeinere und statistische Untersuchmungen 

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I. H. ZlNGERLE 


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darstellt und den Tatsachen der Wirklichkeit nicht immer gerecht 
wird. Von anderen wird der Beginn des Greisenalters auf das 
65. Jahr hinanfgescboben; in den statistischen Untersuchungen werden 
sogar wiederholt als Greise nur Individuen mit 70 Jahren und darüber 
berücksichtigt. 

In Übereinstimmung mit der österreichischen Kriminalstatistik, 
die unter den höheren Altersklassen nur eine Gruppe, Individuen über 
60 Jahre anführt, ist auch der vorliegenden Untersuchung das 60. Jahr 
als Grenze zugrunde gelegt. 

Es ist interessant, daß die veränderte Seelenstätigkeit im 
Greisenalter mitunter direkt als eine pathologische Erscheinung auf¬ 
gefaßt wurde. So spricht z. B. Wille von einem Schwachsinn, der 
auf der physiologischen Involution des Gehirnes beruhe. Auch nach 
Gallus besitzen die Einbußen, wie sie das Greisenalter auf dem 
Gebiete der Vorstellungstätigkeit mit sich bringt, schon einen patho¬ 
logischen Charakter. Stellt man sich aber auf den Standpunkt, daß 
diese geistigen Veränderungen nur Teilerscheinungen einer normal 
eintretenden Entwicklungspbase des Körpers sind, so läßt sich der 
Begriff des Pathologischen wohl nicht aufrecht erhalten. Dies würde 
auch voraussetzen, daß der Seelenzustaud im Mannesalter als der 
allein normale bezeichnet werden könnte, und daß man auch die Zeit 
der noch nicht vollendeten Entwickelung im Kindes* und Pubertätsalter 
als abnormal hinstellen müßte. Berechtigt ist hier wohl nur die eine An¬ 
schauung, daß jeder Entwicklungsphase — entsprechend dem je¬ 
weiligen Zustande des Gehirnes — ein eigenartiger Geisteszustand ent¬ 
spricht, der für jede Phase eben der normale ist Das Verhältnis 
der seelischen Fähigkeiten in den einzelnen Lebensaltern zueinander 
kommt an sich dabei gar nicht in Betracht und besteht im Senium 
eine Abänderung im Verhältnisse zum Mannesalter, so ist gerade darin 
das regelmäßig Wiederkehrende und Typische zu sehen. 

Neben dieser prinzipiellen Feststellung darf aber doch nicht außer 
acht gelassen werden, daß diese Involution des Gehirnes gewisse Be¬ 
ziehungen zn pathologischen Erscheinungen hat In der Überzahl 
der Fälle ist sie begleitet von Altersveränderungen der Gefäße, die ihrer¬ 
seits wieder zu Ernährungsstörungen im Gehirn auch ohne Herdaus¬ 
fälle führen können, wie dies z. B. bei der Windscheidschen 
Form der Arteriosklerose der Gebirngefäße der Fall ist. Dadurch 
entsteht ein Plus an Symptomen, welche wohl als krankhaft bezeichnet 
werden müssen, die übrigens — wie an Fällen des reifen Mannesaltera 
zu sehen ist — zu einem Teile den senilen Gehirnerscheinungen 
auffällig ähnlich sind. — Weiter gehen, wie schon oben erwähnt 


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Über das Grcisenalter in forensischer Beziehung. 


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wurde, aus der physiologischen Involution des Gehirnes pathologische 
Demenzzustände vielfach ohne scharfe Abgrenzung hervor. Diese 
zeigt also tatsächlich eine Tendenz zur Steigerung ins Übermäßige, 
Krankhafte, wobei dies eigentlich nur eine Progression aus dem 
physiologischen Zustande bedeutet und zeigt, wie hart an der Grenze 
des Krankhaften derselbe steht. 

Besonders bemerkenswert ist aber fernerhin, daß nach der über¬ 
einstimmenden Annahme aller Autoren die senile Involution ein be¬ 
günstigendes Moment für den Ausbruch von ausgesprochenen Geistes¬ 
störungen bildet, nicht nur länger dauernder, sondern auch nach 
kurzem Verlaufe abklingender Psychosen. — Besonders ausgesprochen 
ist dies, worauf Ziehen u. a. hinweisen, bei schon prä¬ 
disponierten Individuen. Es kann wohl als sicher gelten, daß 
durch das Senium das Gehirn in einen Zustand verminderter Wider¬ 
standsfähigkeit gegen innere und äußere Schädlichkeiten gerät und 
auf dieselben in pathologischer Weise reagiert. Der Senile verliert 
viel zu leicht unter dem Einflüsse des Alkohols, stärkerer Affekte, 
schwächender Erkrankungen, seine Besonnenheit und treten bei ihm 
psychische Ausnahmezustände auf, die dem Laien nicht ohne weiteres 
als krankhafte erscheinen müssen, und die nach ihrem Ablaufe wieder 
restlos verschwinden. Gerade in diesem Punkte liegt ein gut Teil der 
forensischen Bedeutung des Seniums überhaupt, und der Hinweis 
darauf, daß ebenso wie dies bei den Alkoholdelikten gefordert wird, 
auch der kriminelle Greis einer sachverständigen Untersuchung unter¬ 
zogen werden soll. — Die Psychologie des Greisenalters rückt damit 
ausgesprochen in den Interessenkreis der Psychiatrie. Aus den be¬ 
sprochenen nahen Beziehungen zur Psychopathologie wird es besonders 
klar verständlich, daß man mit Leppmann berechtigt ist, die 
Bückentwickelnng als eine Lebensphase zu betrachten, in welcher 
ebenso wie zur Zeit der noch nicht erlangten Reife, eine besondere 
Art von psychischer Minderwertigkeit besteht. Wenn sie auch keine 
psychopathische, sondern eine physiologische ist, so muß sie doch 
als endogener Faktor bei der Beurteilung der sozialen Äußerungen 
in dieser Altersphase berücksichtigt werden. 

Betrachtet man den Greis als Glied der sozialen Gemeinschaft, 
so läßt sich am besten als Vergleicbsmoment der Grad und die Art 
der Kriminalität im Verhältnisse zu der der früheren Lebensperioden, 
heranziehen. Erfahrungen darüber vermittelt uns ja die Kriminal¬ 
statistik. 

A priori ist es nun durchaus nicht feststehend, daß eine etwa 
nachweisbare Änderung in den verbrecherischen Handlungen der 


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Greise in ansscbließlicb gesetzmäßige Beziehung zu der nacbgewiesenen 
psychischen Minderwertigkeit zu setzen ist — Die Kriminalität steht 
dem Einflüsse von sozialen und individuellen Ursachen (Aschaffen 
bürg) und könnten im Alter äußere Bedingungen, wie sie durch die 
geänderten Erwerbsverhältnisse, Lebensweise usw. gegeben sind, 
eine Rolle spielen und Anlaß zur Häufung und ev. Änderung der 
Art der Verbrechen gegeben. 

Eine innere Beziehung der Kriminalität zu der charakteristichen 
Geistesänderung des Seniums muß erst nachgewiesen werden. Es 
sind nun bestimmte Ergebnisse, welche diesen Zusammenhang wahr¬ 
scheinlich machen. 

Vorerst ist hier zu erwähnen die Tatsache, daß die Kriminalität 
im Senium uuter den verschiedenen Lebensbedingungen und Verhält¬ 
nissen nicht proportional dem Grade der fortschreitenden körperlichen 
Hinfälligkeit sinkt. Im allgemeinen nehmen zwar nach den Unter¬ 
suchungen Breßlers die verbrecherischen Neigungen im Alter nicht 
zu und gehören nach Aschaffenburg nur 12,3 Proz. aller Straf¬ 
mündigen der Alterstufe über 70 Jahre an. 

Von allen Autoren aber ist einstimmig nachgewiesen worden, 
daß gewisse Arten von Verbrechen und Vergehen im Greisenalter 
auffällig häufig begangen werden, und zum mindesten nicht in dem 
Maße abnehmen, wie bei anderen Deliktskategorien. 

In erster Linie gehören dazu die Verbrechen und Vergehen gegen 
die Sittlichkeit. Während nach Asch affen bürg die Zahl der 
schweren Diebstähle von dem Höhepunkt zwischen 18—21 Jahren 
in der Alterstufe über 70 auf den 150. Teil zurtickgeht, erreichen 
die Verurteilungen wegen Unzucht und Notzucht in diesem Alter den 
vierten Teil der Bestrafungen junger Männer im kräftigsten Mannesalter. 
Ähnliche Erfahrungen über die Häufigkeit der Sexualverbrechen be¬ 
richten Kirn, Legrand du Saulle, Kraft-Ebing, Meyer u. a. 
Leppman erwähnt das Ergebnis eines französischen Statistikers 
Thoinot, daß bei Personen über 60 Jahren 212 kriminelle Sittlich¬ 
keitsverbrecher auf eine Million Gleichaltrige kommen, während für 
die Gesamtheit der übrigen kriminell möglichen Alterstufeu die Zahl 
nur 175 beträgt Ganz in Übereinstimmung mit Aschaffenburg 
kommt auch Breßler zu dem Ergebnisse, daß bei den Unzuchts¬ 
vergehen die Verurteilungen nicht in dem Maße abnehmen, wie bei 
den anderen Delikskategorien. 

Den Sittlichkeitsdelikten am nächsten kommen nach Le pp mann 
Vergehen gegen die öffentliche Ordnung in Form von Gewerbe- 


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Über das Greisenalter in forensischer Beziehung. 


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vergehen, Beleidigungen, Körperverletzungen, sodann gewisse Fahr¬ 
lässigkeitsdelikte, vor allem die fahrlässigen Brandstiftungen. — 
Breßler fand sogar in seiner Statistik, daß im Alter von 70 Jahren 
und darüber, mehr Verurteilungen wegen fahrlässiger Brandstiftung 
erfolgten, als im vorangehenden Altersdezenniura. Aschaffen¬ 
burg hebt hervor, daß Roheitsverbrechen, schwere Diebstähle, welche 
größere körperliche Rüstigkeit und Entschlossenheit erfordern, in der 
Altersstufe über 70 immer mehr verschwinden. Die größere Häufigkeit 
einfacher Diebstähle gegenüber den Unterschlagungsdelikten zeigt 
auch, daß dem Greise die Befähigung zu vorbedachten Diebstählen 
fehlt. Neben den Unzucbtsdelikten fand er noch stark vertreten 
Hehlerei, Beleidigung und Verletzung der Eidespflicht — Aus dieser 
Zusammenstellung ist ersichtlich, daß — abgesehen von den Unzuchts¬ 
delikten, auf welche wir noch zurückkommen werden — die ver¬ 
brecherischen Neigungen der Greise sich enge an die charakteristischen 
psychischen Eigentümlichkeiten anschließen und die Änderungen der 
Kriminalität gegenüber den anderen Altersphasen sich davon ableiten 
lassen, und nicht, wie Leppmann richtig betont, sich auf soziale 
Umstände zurückführen lassen. 

Noch offenkundiger wird aber eine derart innige Beziehung aus 
der Feststellung, daß die Zahl der Nichtvorbestraften im Greisenalter 
eine auffällig große ist, wobei übrigens ein Ansteigen dieser Zahl nach 
Breßler schon vom 5. Dezennium zu bemerken ist. So steigt in 
der Tabelle über das Jahr 1897 nach Breßler die Zahl der Nicht¬ 
vorbestraften von ihrem niedrigsten Stande mit 46 °/o im Alter von 
30—40 Jahren allmählich auf 67 % im Alter von 70 Jahren und 
darüber. Feisenberger fand in der Statistik über das Jahr 1895 
sogar 73,2 °/o, Leppmann selbst berechnet für das Jahr 1905 63,21 °/o 
Nichtvorbestrafter. 

Besonders vermindert ist der Prozentsatz Nichtvorbestrafter unter 
den senilen Sittlichkeitsverbrechern. Kirn hebt hervor, daß man 
gerade unter diesen vielfach Greise mit unangetasteter Vergangenheit 
und gutem Leumund trifft Unter 303 Fällen Aschaffenburgs 
im Alter von 70 und mehr Jahren waren 216 niemals vorbestraft. 
Über ähnliche Verhältnisse berichtet auch Breßler. 

Gerade in diesen Fällen weist das Ausschalten aller Lebens¬ 
erfahrungen und das Sistieren aller Hemmungen bei Leuten, welche 
bis in ihr hohes Alter niemals kriminelle Neigungen zeigten, darauf 
hin, welche Rolle die seelische Veränderung spielt. 

Einen weiteren Hinweis darauf ergibt vielfach auch die Art der 
Ausführung, das Verhältnis zu äußeren Anlässen, und die Motivierung; 


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I. H. ZlNGKRLE 


es fehlt, wie Aschaffenburg hervorhebt, das Zielbewußtsein, und 
kommt es z. B. oft zu Diebstählen von ungeeigneten, zufällig in die 
Hände fallenden Dingen. Besonders bei Sittlichkeitsdelikten begegnet 
man öfters einem Mangel an primitivster Vorsicht und Überlegung. 
Etwas impulves Unüberlegtes, einen Mangel an entsprechenden 
Motiven findet man übrigens auch bei einer anderen seelischen Ent¬ 
äußerung der Greise, — die streng genommen nicht hierher gehört, — 
nämlich beim Selbstmorde, der in diesem Alter häufig vorkommt. 
(Ritti, Geist). 

Ist der Einfluß des Alters wirklich ein so großer, so muß auch 
erwartet werden, daß die erzieherische Strafe als Gegenmittel an Be¬ 
deutung einbüßt, daß also unter den senilen Verbrechern sich viele 
Rückfällige finden. In der Literatur ist — soweit ich ersehen konnte 
— darüber nichts berichtet. Unter meinen Fällen ist mir die Neigung 
zu gewohnheitsmäßiger Begebung eines Deliktes wiederholt bei den 
Sittlichkeitsverbrechen begegnet. Bei der Untersuchung auf Rück- 
falligkeit ist darauf Rücksicht zu nehmen, daß die Zahlen keine sehr 
hohen sein werden; ein Teil der Fälle fällt durch Tod weg, bevor 
es zu Wiederholung des Deliktes kommt, bei anderen hindert — trotz 
Fortbestehens der kriminellen Tendenz — die Ausübung der zu¬ 
nehmende Marasmus. 

Kurz resümierend sind es also folgende Tatachen, die erschließen 
lassen, daß innere seelische Ursachen, die vom Willen des Individuums 
unabhängig sind, die eigentümliche Gruppierung der Kriminalität 
beeinflussen: t. die relative Häufigkeit gewisser Arten von Delikten, 
2. die geringe Zahl der Vorbestrafungen, 3. die Eigenart der Delikte, 
4. die Art der Ausführung. 

II. 

Die bisherigen Untersuchungen gewähren zwar schon einen Einblick 
wieweit die senilen geistigen Veränderungen von allgemeiner sozialer 
Bedeutung sind. Immerhin sind dieselben noch nicht sehr ausgedehnte, 
und reichen noch nicht aus zur Lösung der Frage, welche Stellung 
die Rechtspraxis dem Greisenalter gegenüber einzunehmen bat. 

Leppman n hat infolgedessen schon 1899 und neuerdings in einer 
Arbeit (1910) auf die Notwendigkeit weiterer Forschungen hingewiesen. 
Seine Initiative geht dahin, 1. eine Spezialstatistik über die Ver¬ 
urteilungen innerhalb der verschiedenen Alterstufen im Greisenalter 
in Beziehung zu den verschiedenen Gruppen der Straftaten zu bearbeite^ 
und 2. der Frage nachzugehen, wie sich der Geistes- und Körper¬ 
zustand verurteilter Greise im Strafvollzug darstellt. 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Über das Greisenalter in forensischer Beziehung- 


9 


Hinsichtlich der zweiten Frage kann auf eine Beobachtung 
Aschaffenburgs verwiesen werden, der 12 alte im Strafvollzug 
stehende Sittlichkeitsverbrecher untersuchte; 10 derselben fand er schon 
senil dement, 2 wurden es im weiteren Verlaufe. Er schließt daraus, 
daß es sich bei diesen Verbrechen mit seltenen Ausnahmen um eine 
krankhafte Erscheinung handelt, die, bevor es noch zu nachweisbaren 
intellektuellen und Gedächtnisdefekten kommt, zu Konflikten mit dem 
Strafgesetze führt. 

Der Anregung Leppmanns folgend habe ich 

1. die Kriminalität der Greise im Alter von 60 Jahren und 
darüber, sowie das Verhältnis zu den übrigen Altersphasen auf Grund 
des Berichts der österreichischen Kriminalstatistik über die Jahre 
1904, 1906 und 1907 bearbeitet. Der Bericht über das Jahr 1905 
stand mir leider nicht zur Verfügung. 

2. bearbeitete ich an der Hand der einzelnen Strafakten, die im 
Verlaufe der letzten 10 Jahre 1698—1909 bei dem k. k. Landesgerichte in 
Graz zur Aburteilung gelangten Verbrechen und Vergehen von Greisen 
im Alter von 60 Jahren und darüber mit spezieller Berücksichtigung 
der verschiedenen Altersstufen dieser Lebensphasen und ihr Verhältnis zu 
den verschieden Gruppen von Straftaten’)• Die genaue Durcharbeitung 
der Akten gab gleichzeitig die Möglichkeit einer eingehenderen Analyse 
der Fälle hinsichtlich der auslösenden Anlässe, der subjektiven Mo¬ 
tivierung, der Art der Ausführung und feineren Charakteristik der 
einzelnen Delikte. 

Zu bemerken ist hier nur, daß die Statistik insofern keinen voll¬ 
ständigen Überblick über die Gesamtheit aller in diesen 10 Jahren 
in Graz selbst verurteilten Greise gibt, da die wegen einfacher Ver¬ 
gehen und Übertretungen beim k. k. Bezirksgericht abgestraften aus 
äußeren Gründen nicht berücksichtigt werden konnten. 


A. Ergebnisse aus der österr. Kriminalstatistik. 

In Übereinstimmung mit den bisherigen Erfahrungen ergibt sich 
in erster Linie, daß die absolute Zahl der Straffälligen mit dem fort¬ 
schreitenden Alter abnimmt. Unter den im Jahre 1907 wegen Ver¬ 
brechen Verurteilten befinden sich nur 2.4 Proz. im Alter von 60 


1) Die Verarbeitung des Materials wurde mir durch das außerordentlich 
liebenswürdige Entgegenkommen der Herren: L.6.Vize-Präsident Hofrat v. Ka- 
nitschnigg, O.G.R. Dr. Pracak, 1. Staatsanwalt Dr. Ehmer und Staatsanwalt 
Dr. v. Selliers ermöglicht, die mich in weitgehendstem Maße dabei unterstützten. 
Ich statte den genannten Herren hiemit meinen ergebensten Dank ab. 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



10 


I. II. ZlNGERLE 


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Jahren und darüber. Ira Jahre 1906 sind es 2.25 Proz., 1904 
2.4 Proz. Die absoluten Zahlen betragen: 


1907 1 1906 1 1904 


Summe aller 
wegen V erbrechen 
Verurteilten 


32 936 


Zahl der Ver¬ 
urteilten üb. 60 J. 


34 60S j 34 202 
781 ■ 841 


Die folgende Tabelle gibt gleichzeitig Einblick in das Verhältnis 
der Geschlechter; die Zahl der weiblichen Verurteilten ist bedeutend 
kleiner als die der Männer, was übrigens auch für die übrigen Alters¬ 
phasen zutrifft. 




1 1907 

1906 

1904 

Summe der [ 

Männer 

28 474 

29 794 

29 391 

wegen Verbrechen < 





Verurteilten ( 

Frauen 

4 462 

! 13.5 Proz. 

4914 
14.1 Proz. 

4811 
14.S Proz. 

Verurteilte j 

Männer 

666 

651 

696 

Verbrecher über { 
60 Jahre | 





Frauen 

134 

! 16.0 Proz. 

130 

I 16,6 Proz. 

145 

i 17.2 Proz. 


Bei prozentueller Berechnung — wie sie hier für die Frauen 
durchgeführt ist — weichen die Zahlen nicht sehr weit voneinander 
ab, so daß von einer durchgreifenden Änderung des Verhältnisses der 
Kriminalität der beiden Geschlechier zueinander im Alter nicht ge¬ 
sprochen werden kann. Immerhin ist es interessant, daß unter 100 
Verurteilten über 60 Jahre 2—3 Frauen mehr sind, als unter 100 
der Gesamtsumme, was doch eine Verschiebung der Verhältnisse im 
Alter zugunsten der Frauen bedeutet. 



14—16 

16— tölIS—20 20—25125 30 ! 3o—40 40-50 

! 1 i 

50—601 

über 

60 

Verurteilt j 

1178 

2390 

3273 

7744 

5449 

6558 

3627 

1695 i 

800 

g | ohne Vorstr. 

971 

1720 ! 

2030 

i 4322 

2382 S 

I 2664 

1571 

841 

429 

~ j in Prozent 

82.4 

71.9 

62 

55.8 

43.1 

1 40.6 

43.3 

49.6 

53.6 

-e | Verurteilt 

1248 

2457 

3506 

j 8084 

5673 

6989 ! 

3787 

1792 

781 

g ohne Vorstr. 

994 

1792 

2228 

4713 

I 2250 1 

2795 j 

! 1505 

890 

431 

— in Prozent 

79.7 

1 72.8 

63.5 

| 57.6 

39.3’! 

39.9 

49 7 

49.6 

55.1 

„ | Verurteilt 1 



1 j 

! 


i 


j 

841 

§ i ohne Vorstr. 





i 

1 

1 

1 


483 

~ 1 in Prozent 






1 

1 

i 

56.2 


Go igle 


Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 




Über das Greisenalter in forensischer Beziehung. 


11 


Die Zahl der Vorbestraften beginnt bei den wegen Verbrechen 
Verurteilten schon im Alter von 40—50 Jahren abzunehmen und 
verringert sich sukzessive gegen das Greisenalter zu, in welchem so¬ 
mit mehr als die Hälfte aller Bestraften zum erstenmal kriminell wird. 
Die Zahlen kommen am nächsten dem Verhältnisse der Vorbestrafungen 
im Alter von 20—25 Jahren. 


Jahr 

Gesamtsumme 

d. verurteilteni ohne Vorstr. j 
Verbrecher j 

Prozent 

1907 

| 32 »3« 

14 762 1 

44.8 

1906 

! 34 608 

1531t 

44.2 

t904 

| 34 202 

14 943 | 

43.6 


Berechnet man die Zahl der Nicbtvorbestraften auf die Gesamt¬ 
summe der wegen Verbrechen Verurteilten, so ergibt sieb, daß die 
Prozentzahlen beträchtlich hinter denen des Greisenalters Zurückbleiben 
Über die Beteiligung der Greise bei den einzelnen Deliktskategorien 
geben die nachfolgenden Tabellen Aufschluß. 


Unzuchtsverbrech en. 




j 14—tS 

16—18 

18—20 

20—25 

25—30 

30—40 1 

40—50l50—60 

+60 



iM. Fr M. Fr. 

M. Fr. 

M. Fr. 

M. Fr. 

M. Fr. 

M. Fr.|M. Fr. 

M. Fr. 


Verurteilte 

90 4 

146 7 

140 7 

186 4 

115 7 

205 6 

159 7 

104 3 

119 

r— 

O 

ohne Vorstr. 

84 

124 

124 

153 

87 

149 

108 

80 

94 

•■H 

! 

93.3 

i 91.7 

88.5 

82.2 

75.6 

72.6 

67.9 

76.9 

88.9 

! 


1 Proz. 

Proz. 

Proz. 

Pro*. 

Proz. 

Proz. 

Proz. 

Proz. 

Proz. 

® 

Verurteilte 

86 3 

185 2 

134 4 

164 6 

108 3 

217 2 

187 4 

115 2 

105 

ohne Vorstr. 

83 

180 

123 

144 

87 

167 

136 

90 

85 

SS : 


96.5 

97.2 

91.7 

97.8 

805 

76.9 

72.7 

78.2 

80.9 



Proz 

Proz. 

Proz. 

Proz. 

Proz 

Proz. 

Proz. 

Proz. 

Proz. 


Verurteilte 

92 

146 

112 

171 

105 

216 

173 

105 

105 

• 1 • 

O 

ohne Vorstr. 

92 

143 

100 

145 

82 

159 

119 

84 

82 



100 

97.9 

90.1 

S4.7 

78 

73.6 

68.7 , 

80 

78 



Proz. 

Proz. | 

Proz. 

Proz. 

Proz. 

Proz. 

Proz. 

Proz. 

Proz. 


Die Unzuchtsdelikte, die merkwürdigerweise in den verschiedenen 
Altersklassen nicht gerade sehr hochgradig schwanken, nehmen im 
Greisenalter auffällig wenig ab. Sie sind in allen 3 Jahren fast so 
zahlreich wie im Alter von 25—30 Jahren. Im Jahre 1907 sind 
sogar in diesen Altersklassen, ebenso wie auch im Alter von 50—60 
Jahren weniger Verurteilungen vorgekommen als über 60 Jahre. 

Noch deutlicher kommt die relativ große Zahl der Sittlichkeitsverbre¬ 
cher zum Ausdruck, wenn man das Verhältnis zur Zahl der Gleichaltrigen 


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Original fro-m 

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12 


I. H. ZUKGERLE 


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der Bevölkerung berücksichtigt. So kommen auf 10000 männliche 
Einwohner der Zivilbevölkerung männliche Verurteilte derselben 
Altersstufe 



, 25—30 

50—60 

über 60 

1907 

1.13 

| 0.95 

I 1.13 

1906 

' 1.07 

i 1.06 

1 1.00 

1904 

| 1.06 

1 0.98 

i 

1 1.02 

1 


1907 und 1904 sind demnach die Zahlen der Verurteilten auf 
10000 Gleichaltrige berechnet größer, als im vorhergehenden Jahrzehnt. 

Der Unterschied bei der gleichartigen Berechnung der wegen 
Verbrechen überhaupt Verurteilten ist im Vergleiche mit obigen Ziffern 
ein krasser. 

Dabei fallen auf 10000 gleichaltrige Männer 

1907 1906 1904 

im Alter von 50—60 Jahren 15.86 13.34 13.72 

„ „ über 60 Jahre 7.24 6.22 6.77 

Deutlich ist hier die starke Verminderung der Gesamtheit der 
Verbrechen im Alter und der Gegensatz zu den Sittlichkeitsverbrechen 
zum Ausdrucke gebracht. 

Die männlichen Verurteilungen über 60 Jahre machen im Jahre 
1907 9 Proz. aller wegen Unzuchtsverbrechen in den verschiedenen 
Altersklassen erfolgten Verurteilungen (1317) aus, und von allen ver¬ 
urteilten Männern über 60 Jahren sind 17.8 Proz. Sittlichkeitsverbrecher. 
Für 1906 sind die analogen Zahlen 7.6 Proz, und 16.1 Proz., für 
1904 8.6 und 15.2 Proz. 

Hinsichtlich der Beteiligung der Geschlechter tritt das weibliche 
Geschlecht in allen 3 Jahren im Senium vollkommen zurück, und 
sind Frauen über 60 Jahre überhaupt nicht zur Verurteiluug ge¬ 
kommen. Die Zunahme der nicht Vorbestraften unter den Verur¬ 
teilten beginnt schon im Alter von 50—60 Jahren und ist ihre Zahl 
über 60 Jahre nahezu wieder so groß, wie im Alter von 25—30 
Jahren. An der Vermehrung der Zahl der Nichtvorbestraften bei 
Greisenverbrechen überhaupt, hat sicherlich diese Deliktskategorie 
einen wesentlichen Einfluß. 

Auffällig andere Verhältnisse ergeben sich bei den Verurteilungen 
wegen 

Diebstahl und Diebstahlsteilnehmung. 


Go igle 


Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Über das Greisenalter in forensischer Beziehung. 


13 


~ P 1 ““H 

_;_ i 

30—40 | 

40- 

•50 

50—60 | 

über 

60 



M. 

Fr. 

M. 

Fr. 

M. 

Fr. 

M. 

Fr. 


Verurteilte 

2335 

478 

1082 

316 

481 

142 

173 

55 

2 

ohne Vorstr. 

1296 

348 

607 

216 

180 

104 

99 

31 


Prozent 

55.4 

83.2 

56.1 

68.3 

57.2 

74.6 

57.2 

56.3 

CO 

Verurteilte 

2324 

519 

1049 

335 

454 

145 

134 

55 

o 

ohne Vorstr. 

1273 

369 

551 

238 

286 

96 

78 

38 


Prozent 

54.7 

71.0 

52.5 

71.0 

62.9 

66.2 

58.0 

69.0 

-f 

Verurteilte 

2294 

520 

1205 

323 

4 b 1 

151 

173 

59 

o 

05 

ohne Vorstr. 

1306 

377 

675 

223 

243 

102 

111 

38 


Prozent 

56.9 

72.5 

56.0 

69.0 | 

52.7 

67.5 

64.1 

64.0 


Die Zahl der Delikte beginnt schon im Alter von 40—50 Jahren 
abzunehmen und beträgt schließlich bei Männern über 60 Jahre 
1907 nur mehr noch den 13. Teil der Zahl der Diebstahlverbrecben 
im Alter von 30—40 Jahren. Die Unzuchtsdelikte machen dagegen 
mehr als die Hälfte aller Sittlichkeitsverbrechen im Alter von 30—40 
Jahren aus. 

Auf je 10 000 männl. Einwohner der Zivilbevölkerung entfielen 
männliche Verurteilte derselben Altersstufe. 


im Alter 

von 30—40 Jahren 

1907 

13.20 

1906 

13.27 

1904 

13.34 


r> 

„ 50-60 „ 

4.37 

4.17 

4.31 

V 

7) 

^ über 60 Jahre 

1.64 

1.28 

1.68 


Dementsprechend befinden sich unter den wegen Diebstahls ver¬ 
urteilten Verbrechern nur mehr 1.2 Proz. (1907), 0.9 Proz. (1906), 
1.3 Proz. (1904) Greise über 60 Jahre. 

Absolut ist dagegen die Zahl der Verurteilungen im Greisenalter 
immer noch größer, als bei den Sittlichkeitsdelikt. 25.9 Proz. 
(1907), 25 Proz. (1906), 24.8 Proz. (1904) aller männlichen Greisen- 
verbrecben gehören dem Diebstahle und der Diebstablsteilnahme an. 

Das hier konstatierte eigenartige Verhältnis zu den übrigen Alters¬ 
klassen läßt erkennen, daß mit zunehmendem Alter bei Männern die 
Neigung zur Verübung von Diebstählen, die ja ein gewisses Maß 
von Überlegung und Voraussicht erfordern, immer mehr abnimmt 
Eine gleichmäßige Abnahme dieser Delikte tritt auch beim weib¬ 
lichen Geschlechte ein, das aber dabei im allgemeinen mit niedrigeren 
Zahlen vertreten ist. Auf 10000 weibliche Einwohner entfielen Ver¬ 
urteilte derselben Alterstufe 



1907 

1906 

1904 

von 30—40 Jahren 

2.59 

3.01 

2.90 

„ 50-50 „ 

1.19 

1.23 

1.30 

über 60 Jahre 

0.45 

0.46 

0.50 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



14 


L H. ZlNGERLE 


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Gegenüber den Männern ist aber doch ein deutlicher Unterschied 
bemerkbar. Die weiblichen Verurteilungen über 60 Jahre bilden 
einen etwas größeren Prozentsatz der Gesammtsumme der weiblichen 
Verurteilungen wegen Diebstahls. 1907 1 Proz., 1906 1.6 Proz. 
1904 2 Proz. 

Sie bilden auch einen größeren Anteil aller Greisenverbrechen 
als es bei den Männern der Fall ist. So sind von allen weiblichen 
Verbrechern über 60 Jahren 1907 40 Proz., 1906 42.3 Proz., 1904 
40.8 Proz. wegen Diebstahls und Diebstahlsteilnahme verurteilt 

Es ist somit die Neigung zur Begebung von Diebstahlsverbrechen 
bei den imeisten Frauen etwas weniger vermindert als bei den Männern 
und fallen daher auch die Zahlen von 50—60 Jahren zum Greisen* 
alter nicht so stark ab, wie bei diesen. 

Auch bei diesen Delikten nimmt die Zahl der Nichtvorbestraften, 
bei den Männern wenigstens, im Greisenalter zu. Die Zunahme ist 
aber eine geringere, als bei den Sittlichkeitsdelikten, wenn auch 
deutlich ausgesprochen; die Schwankungen der Zahlen in den ein¬ 
zelnen Jahren sind recht bedeutende. 

Weniger präzis sind die Verhältnisse bei den Frauen. Eine wirk¬ 
liche Zunahme der Nichtvorbestraften kommt überhaupt nur 1906 vor. 
In den beiden übrigen Jahren sind die Zahlen nicht nur geringer, 
als im Alter von 50—60 Jahren, sondern auch kleiner als in den 
übrigen angeführten Lebensaltern. Es scheint, daß unter den weib¬ 
lichen wegen Diebstahl verurteilten Greisen sich mehr Gewohnheitsver¬ 
brecher befinden, als bei den Männern. 

Öffentliche Gewalttätigkeit gegen obrigkeitl. Personen. 



i i 

1 1 

30—40 

! 40—50 

j 5M—60 

| über 60 



M. Fr. 

M. Fr. 

M. Fr. 

M. Fr. 

r- 

o 

Verurteilte 

! 607 115 

371 79 

171 52 

82 20 

05 

ohne Vorstr. 

423 

262 

129 

7t 


Prozent 

| 69.6 

70.6 

75.4 

86.5 

CO 

Verurteilte 

| 639 127 

382 94 ■ 

173 52 

102 15 

o 

05 

ohne Vorstr. 

458 

I 241 

125 

82 


Prozent 

66.4 

162.9 | 

72 

80.3 


Verurteilte 

617 

357 

175 

74 

o 

05 

ohne Vorstr. 

404 

253 

131 

53 


Prozent 

65.4 

70.8 

i 

74.8 

71.6 


Auch bei diesem Delikte nimmt die Zahl vom 30.—40. Jahre an 
allmählich ab, aber durchaus nicht in dem starken Maße, wie es beim 
Diebstahl der Fall war. 1907 macht die Zahl der Verurteilungen 
den 7.4. Teil der im Alter von 30—40 Jahren aus. Auf je 10 000 


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Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 




Ober das Greisenaltor in forensischer Beziehung. 


15 


männliche Einwohner der Zivilbevölkerung entfielen männliche Ver¬ 
urteilte derselben Altersstufe 

1907 1906 1904 

im Alter von 30—40 Jahren 3.43 3.93 3.59 

„ „ „ 50—60 „ 1.55 1.59 1 64 

„ „ „ über 60 Jahre 0.78 0.98 0.72 

Von der Gesamtsume dieses Verbrechens (Männer) sind Se¬ 
nile 1907 2.8 Proz., 1906 3.3 Proz., 1904 2.7 Proz. Die Prozent¬ 
zahlen sind hier deutlich höher, als bei dem Verbrechen des Diebstahls, 
und ergibt sich auch daraus, daß der Abfall dieser Deliktes gegen das 
Greisenalter nicht ein so starker ist. Absolut genommen ist die Zahl 
dieser Delikte bedeutend geringer, als bei Diebstählen und Diebstahls¬ 
teilnahme. Sie machen 12.3 Proz. 1907, 15.6 Proz. 1906, 10.6 
Proz. 1904 aller Greisenverbrechen aus. 

Die Beteiligung der Frauen an diesem Verbrechen ist an sich 
keine große und nur gering im Greisenalter. 

Auf 10000 weibliche Einwohner entfielen Verurteilte derselben 
Altersstufe 



1907 

1906 

1904 

von 30—40 Jahren 

0.62 

0.60 

0.49 

„ 50—60 „ 

0.44 

0.44 

0.45 

„ über 60 Jahre 

0.17 

0.13 

0.09 


Von der Gesamtsumme der weiblichen Verurteilten wegen Ge¬ 
walttätigkeit sind Greise 4.9 Proz. 1907, 3.3 Proz. 1906. 

Von den weiblichen Verbrechern über 60 Jahre sind wegen öffent¬ 
licher Gewalttätigkeit verurteilt 14.8 Proz. 1907, 11.5 Proz. 1906. 
Die Zahl der Nichtvorbestraften nimmt schon im Alter von 50—60 
zu und erhöht sich über 60 Jahre in den Jahren 1907 und 1906 in 
ganz auffälligem Maße, erreicht nahezu höhere Werte, als bei den 
Sittlichkeitsdelikten. Eine Ausnahme macht nur das Jahr 1904; bei 
der sonstigen Übereinstimmung der Zahlen in den einzelnen Jahren 
ist die Zahl 71.6 so auffällig, daß man an einen Fehler bei den zu. 
gründe liegenden Zahlen denken muß und die Zahl daher bei der 
Beurteilung auszuschalten ist. 

Bezüglich der Frauen ist in der Statistik eine getrennte Dar¬ 
stellung der Nichtvorbestraften nicht gegeben. 

Es ist interessant, daß bei dem vorliegenden, in die Reihe der 
Affektverbrechen einznordnenden Delikte die Zahl der Nichtvorbe¬ 
straften noch größer ist, als bei den Sittlichkeitsdelikten. Gegenüber 
den Verbrechen wegen Diebstahls, deren Ausführung größere An¬ 
forderung an den Verstand stellt und momentane Unterdrückung 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



16 


I. H. ZlNGERLE 


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störender Affekte erfordert, ergeben sich deutliche Unterschiede. 
Beim Diebstahl besteht ein relativ rascher Abfall der Zahl der Delikte 
im Alter, bei mäßiger Zunahme der Nicbtvorbestraften unter den Ver¬ 
urteilten. Bei den Affektverbrechen dagegen nimmt die Zahl der 
senilen Verbrecher relativ viel weniger ab, die der Nichtvorbestraften, 
jedoch steigt überraschend stark in die Höhe. 

Dieses Ergebnis bestätigt sich auch an den nachfolgenden 
Affektverbrechen. 


Totschlag und schwere Körperbeschädigung. 


! 


HO—40 

40-50 

! 50—60 

1 über 6o 



M Fr. 

M. Fr. 

*7 

1 

M. Fr. 

h- 

O 

Verurteilte 

999 82 

173 35 

201 13 

77 7 

o> 

ohne Vorstr 

769 

391 

168 

68 


Prozent 

78.9 

82.6 

83.5 

88.3 

CO 

Verurteilte 

1021 96 

516 58 ' 

206 19 

83 8 

® 

a> 

ohne Vorstr. 

790 

400 I 

164 

73 


Prozent 

77.3 

77.5 

79.6 

87.9 


Verurteilte 

1024 

485 

209 

72 


ohne Vorstr 

826 

399 

170 

65 


Prozent 

80.6 

80.2 

81.3 

90.2 


Die Ergebnisse sind ganz ähnliche, wie bei dem früheren Delikte, 
nur nimmt die Zahl der Verurteilten über 60 Jahre etwas stärker ab, als 
bei diesem. Die Greisenverurteilungen bilden etwa '/n der Fälle im Alter 
von 30—40 Jahren (1907). Diese Delikte erfordern doch mehr Kraft 
und körperliche Rüstigkeit, als die einfache öffentliche Gewalttätigkeit 
und erklärt sich daraus ihr Seltenerwerden gegen letzteres Verbrechen. 
Auf je 10000 männliche Einwohner der Zivilbevölkerung entfielen 
männliche Verurteilte derselben Altersstufe 

1907 1906 1904 

im Alter von 30—40 Jahren 5.64 5.83 5.96 

„ „ „ 50—60 „ 1.83 1.89 1.86 

„ „ „ über 60 Jahre 0.73 0.79 0.70 

Von den wegen dieser Verbrechen Verurteilten sind Senile 1.5 Proz. 
1907, 1.4 Proz. 1906, 1.3 Proz. 1904. 

Diese Delikte bilden 11.5 Proz. aller männlichen Greisenver¬ 
urteilungen 1907, 13.5 Proz. 1906, 10.3 Proz. 1904, werden also 
immer noch in einer bemerkenswerten Häufigkeit im Greisenalter 
begangen. 

Das weibliche Geschlecht ist bei denselben nach den absoluten 
Zahlen über 60 Jahre nur wenig vertreten. 


Go igle 


Original fro-rn 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Über das Greisenalter in forensischer Beziehung. 


17 


Auf 10000 weibliche Einwohner der Zivilbevölkerung entfielen 
weibliche Verurteilte derselben Altersstufe 

1907 1906 1904 

im Alter von 30—40 Jahren 0.45 0.53 0.36 

„ „ „ 50—60 „ 0.11 0.16 0.22 

„ „ n über 60 Jahre 0.06 0.07 0.08 

Unter den wegen schwerer Körper-Beschädigung verurteilten 
Franen ist aber ein größerer Prozentsatz von Frauen über 60 Jahre 
vertreten, (3.4 Proz. 1907, 3.1 Proz. 1906), als unter den verurteilten 
Männern wegen dieses Deliktes bestrafte Greise. 

Von den weiblichen Verurteilungen über 60 Jahre betragen die 
Verurteilungen wegen schwerer Körper-Beschädigung und Totschlag 
5.2 Proz. 1907, 6.1 Proz. 1906; der Prozentsatz ist bedeutend kleiner, 
als bei den Verbrechen der öffentlichen Gewalttätigkeit. Die Zahl 
der Nichtvorbestraften steigt bei diesen Verbrechen über 60 Jahre 
noch mehr, als bei den früher besprochenen Verbrechen und ist jedenfalls 
noch höher, als bei den Sittlichkeitsverbrechen. Gewohnheitsverbrecher 
sind bei dieser Kategorie von Delikten im Greisenalter somit wenig 
vertreten. 

Zu den Affektverbrechen gehört auch das der Majestäts¬ 
beleidigung, das ja vielfach im berauschten Zustande begangen 
wird. — Bei der Kleinheit der Zahlen sehe ich von einer ausführlichen 
Wiedergabe der Tabellen ab, um so mehr als für dieses Delikt die 
Zahl der Nicbtvorbestraften nicht separat im Bericht berücksichtigt ist 

Unter 218 Verurteilten aller Altersklassen sind 10 über 60 Jahre 
1906, also 4.2 Proz., 1907 unter 227 Verbrechern — 9 über 60 Jahre 
— 3.09 Proz. 

Von allen verurteilten männlichen Greisen gehören 1.3 Proz. 
(1907), 1.2 Proz. (1906) diesem Delikt an. 

In Kürze erwähne ich auch noch das Verbrechen der bos¬ 
haften Eigentumsbeschädigung. 

1907 sind von 814 verurteilten Männern 10 über 60 Jahre 
=- 1.2 Proz. (1.5 Proz. der männlichen Greisenverbrecher). 

1906 von 881 Verurteilten 10 über 60 Jahre — 1.1 Proz. 
(1.2 der männlichen Greisenverbrecher). 

1907 gehören von 29 verurteilten Frauen 2 dem Alter über 60 
Jahre an (6.8 Proz.), 1906 von 37 ebenfalls 2 (5.4 Proz.). 

Die Abnahme dieses Verbrechens gegen das Alter zu ist bei den 
Männern eine größere als bei den Frauen; und ist dementsprechend das 
Verhältnis der Verurteilten über 60 Jabre zu den Gesamtverurteilten 
bei den Frauen ein bedeutend höheres. 

Archiv für Kriminalanthropologie. 40. Bd. 2 


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Gck igle 


Original from 

UNIVERSETY OF MICHIGAN 



18 


I. H. ZlNGERLE 


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Betrug. 



; 

30—40 

40—50 

I 50—60 

über 60 

1906 

| Verurteilte 1 
' ohne Vorstr. 1 

i ! 

f ! 

664 (156) 
473 

71.2 Proz. 

' 408 (119» 
293 

i 71.8 Pro*. 

1 

249 (69) 

190 

j 76 3 Proz. 

! 118 (32) 
j 87 

! 73.8 Proz. 

i 

i - 

Verurteilte 1 

556 (117) 

356 (91) 

196 (50) 

! 114 (29) 


ohne Vorstr. i 

395 

| 

265 

157 

! 87 

•-H 

! i 

71.0 Proz. 

l 

74.4 Pro*. 

80.1 Proz. 

76.3 Proz. 


190 7 sind von 2280 verurteilten Männern 5 Proz. Senile, (17.1 
Proz. aller senilen männlichen Verbrecher) von 545 Frauen — 
5.3 Proz. über 60 Jahre (21,6 Proz. aller Verbrecherinnen über 
60 Jahre). 

1906 von 2704 verurteilten Männern 4.3 Proz. Senile (18.1 Proz. 
aller männlichen Greisenverbrecher), von 689 verurteilten Frauen 

4.6 Proz. Senile, (24.6 Proz. aller Verbrecherinnen über 60 Jahre). 
Auf je 60 000 ortsanwesende männliche resp. weibliche Einwohner 

entfielen Verurteilte derselben Altersstufe 

1907 1906 1904 

Im Alter von 30—40 Jahren M. Fr. M. Fr. M. Fr. 

3.14 0.64 3.79 0.86 3.88 0.94 

„ „ 50—60 „ 1.78 0.42 2.29 0.59 2.44 0.74 

über 60 Jahre 1.08 0.24 1.13 0.27 1.41 0.41. 

Betrug macht noch einen hohen Prozentsatz der Greisendelikte 
aus; im Verhältnis zu den Gesamtverurteilungen sind aber die Prozent¬ 
zahlen kleine, und erweisen eine relative Abnahme dieses Verbrechens 
im Greisenalter, die aber nicht entfernt an die bei Diebstählen und 
D.-T. heranreicht. — Die Verurteilungen über 60 J. bilden hier den 

5.6 Teil der von 30—40 Jahren, im Gegensätze zum 13. Teile bei 
Diebstahl. Bei Erklärung dieses Unterschiedes ist wohl zu berück¬ 
sichtigen, daß unter Betrug nicht nur Delikte zusammengefaßt sind, 
die mehr Ergebnis einer gewissen Überlegung und erwogener 
Strebungen, als momentan auftauchender Affekte und Neigungen 
sind. In dem Delikt sind auch untergebracbt u. a. Meineid, falsche 
Zeugenaussage, für welche wohl im Greisenalter die bestehende Ge- 
dfichtnisabnahme und leichtere Bestimmbarkeit von Bedeutung 
sein muß. 

Die Zahl der Nicbtvorbestraften ist in allen Altersklassen eine 
hohe, und zeigt sich auch darin ein Gegensatz gegenüber den Er¬ 
gebnissen beim Verbrechen des Diebstahls. — Es fällt aber auf, daß 


Gck igle 


Original frorri 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Über das Greisenalter in forensischer Beziehung. 


19 


die Zahl gegen das Greisenalter zu, wenig zunimmt. Sie ist sogar 
in beiden Jahren im Alter von 50—60 Jahren größer, als über 60. 
Diese geringe Zunahme der Nichtvorbestraften fanden wir besondere 
ausgesprochen beim Verbrechen des Diebstahls. 

Das Verbrechen des Betruges steht nach diesen Ergebnissen 
etwa in der Mitte zwischen Diebstahl und dem ausgesprochenen 
Affektverbrechen. Es tendiert, was die Abnahme der Verurteilungen 
im Senium betrifft, mehr zu letzteren; wie bei diesen, ist auch die 
Zahl der Nichtvorbestraften eine große, aber die Zunahme gegenüber 
den früheren Altersklassen ist eine relativ geringe, wie bei den Dieb¬ 
stahlsdelikten. 

Die Begründung hierfür liegt vielleicht in der psychologischen 
Verschiedenheit der Delikte die in der Statistik unter Betrug zu¬ 
sammengefaßt sind. 

Auch das Verbrechen der Veruntreuung verhält sich in 
seinen Ergebnissen etwas anders, als das des Diebstahles. 



30- 

40 

40—50 

50—60 

über 

«0 




Fr. 

M. Fr. 

M. Fr. 

M. 

Fr. 


Verurteilte 

217 

16 

93 15 

46 6 

12 

1 


ohne Vorstr. 

177 


71 

37 

11 



Prozent 

81.5 


76.3 

73.9 

91.6 



Verurteilte 

232 

22 

104 13 

41 7 

12 

3 

o 

05 

ohne Vorstr. 

191 


80 ! 

35 

12 


.—1 

| Prozent | 

82.3 


76.9 

| 85.3 

100 



Von 767 verurteilten Männern 1907 sind 1.5 Proz. Senile, (1.8 
Proz. aller senilen männlichen Verurteilten), von 66 Frauen 1.5 Proz. 
über 60 Jahre (0.7 Proz. der Verbrecherinnen über 60 Jahre). 

1906 sind von 763 verurteilten Männern 1.5 Proz. Greise, (1.8 
Proz. der verurteilten Greise überhaupt), von 62 verurteilten Frauen 
4.8 Proz. (2.3 Proz. aller verurteilten Frauen über 60 Jahre). 

Auf je 10 000 ortsanwesende männliche resp. weibliche Einwohner 
entfielen Verurteilte derselben Altersstufe 


1907 1904 1906 


im Alter 

von 30—40 Jahren 

M. 

Fr. 

M. 

Fr. 

M. 

Fr. 



1.23 

0.09 

0.23 

0.11 

0.32 

0.12 

n 71 

* 50—60 „ 

0.42 

0.05 

0.33 

0.06 

0.38 

0.06 

r> n 

„ über 60 Jahre 

0.11 

0.08 

0.14 

0.01 

0.12 

0.03 


Das Verbrechen als solches ist nicht häufig im Greisenalter; 
im Verhältnis zur Gesamtsumme der Verurteilungen wegen Verun¬ 
treuung erweist sich die Abnahme über 60 Jahre nicht so groß, wie 
bei Diebstahl. Sie ist aber noch größer als bei Betrug, wobei sich 

2 * 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



20 


I. ü. ZlNGERLE 


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5 Proz. Senile unter den Verurteilten ergaben. In diesem Punkte 
steht also die Veruntreuung zwischen Diebstahl und Betrug. 

Die Nichtvorbestraften über 60 Jahre erreichen bei diesem De¬ 
likte die höchsten Ziffern unter den bisherigen Ergebnissen. Die Zahlen 
steigen aus dem vorhergehenden Jabrzent plötzlich in ganz steilem 
Anstieg an. 

Im Verhältnis zu den Männern sind die Frauen über 60 Jahre 
an diesem Delikte wenig beteiligt, und sind die Zahlen so klein, daß 
die geringste Schwankung um 1 oder 2 die Prozentzahlen in wesent¬ 
licher Weise beeinflußt. 


Brandlegung. 



| 30— 

-40 

| 40 

-50 

j 50- 

00 

i über 

60 

r- 

o 

1 1 M - 

Fr. 

1 M. 

Fr. 

i M. 

Fr. 

1 M 

Fr. 

Oi 

j Verurteilte | 14 

4 

I_J„ 

4 

I '3 

2 

i*L 

2 

lc~ 

O 

Oi 

! Verurteilte 17 

3 

! 17 

2 

1 13 

1 

' 10 

— 


1907 sind von 92 verurteilten Männern 9.7 Proz. Greise, (1.3 Proz 
aller verurteilten Greise), von 22 verurteilten Frauen 9 Proz. über 
60 Jahre (1.4 Proz. aller weiblichen Greise). 

1906 sind von 121 verurteilten Männern 8.2 Proz. Greise (1.2 
Proz. aller verurteilten Greise), von 16 verurteilten Frauen befindet 
sich übrhaupt keine im Alter über 60 Jahre. 

Die geringe Abnahme dieses Verbrechens bei Männern Uber 60 
Jahre ist hier wohl besonders auffällig und bildet dasselbe dement¬ 
sprechend — wenn es auch an sich nicht mit hohen Zahlen vertreten 
ist — einen bemerkenswerten Prozentsatz der Gesamtverurteilungen 
aller Altersklassen. 

Auf je 10000 ortsanwesende (männliche resp. weibliche) Ein¬ 
wohner entfielen Verurteilte derselben Altersstufe 

1907 1906 1904 





M. 

Fr. 

M. 

Fr. 

M. 

Fr. 

im Alter 

von 30—40 

Jahren 

0.08 

0.02 

0.10 

0.01 

0.08 

0.01 

w r 

r 50-60 

r> 

0.11 

0.02 

0.12 

0.01 

0.09 

0.02 

V fl 

„ über 60 

Jahre 

0.09 

0.02 

0.1 

— 

0.06 

0.01 


Bezüglich der Frauen sind die Verhältnisse ähnliche wie bei den 
Männern; nur im Jahre 1906 entfallen dieselben im Greisenalter gänzlich. 

Über die Zahl der Nicht vorbestraften gibt die Statistik leider 
keinen Aufschluß. Es ist wohl klar, daß die einfache Zahlenstatistik 
gerade bei diesem Delikte eine fühlbare Lücke dadurch läßt, daß 


Go igle 


Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Über das Greisenalter in forensisches Beziehung. 


21 


über die spezielle Art des Verbrechens nichts gesagt ist, in welcher 
Weise sich dabei eigennützige Motive, Affekterregungen oder Fahr¬ 
lässigkeit geltend machen. Es läßt sich daher ans der Statistik nicht 
erweisen, in welchem Maße jene Momente der senilen Geistesverän- 
dernng an diesem Delikte Anteil haben, welche Fahrlässigkeitsdelikte 
begünstigen. Anschließend sollen noch zwei Vergehen berück¬ 
sichtigt werden, welche in der Statistik speziell angeführt sind. 


Vergehen der ZWangsvollstreckungsvereitlung. 



1 

1 

30- 

-40 

40- 

-50 1 

| 50 

-60 

über 60 



M. 

Fr. 

M. 

Fr. 

M. 

Fr. ! 

M 

Fr. 

05 

t Verurteilte | 

54 

19 

42 

10 

23 

4 1 

8 

3 

co 

® 

o> 

Verurteilte 

59 

12 

| 50 

13 

29 

7 

15 

1 


1907 sind von 151 verurteilten Männern 5.2 Proz. Greise (1.3 Proz. 
aller Verurteilungen wegen Vergehen über 60 Jahre), von 56 ver¬ 
urteilten Frauen 6.5 Proz. Senile, (2.6 Proz. aller wegen Vergehen 
verurteilten Frauen über 60 Jahre). 1906 sind von 186 verurteilten 
Männern 8.06 Proz. Greise (3 Proz. der wegen Vergehen verurteilten 
Greise), von 67 Frauen sind 1.7 Proz. Senile (0.9 Proz. aller wegen 
Vergehen verurteilten Frauen über 60 Jahre). 

Auf je 10000 ortsanwesende (männliche resp. weibliche) Ein¬ 
wohner der Zivilbevölkerung entfielen Verurteilte dergleichen Altersstufe 

1907 1906 1904 




M. 

Fr. 

M. 

Fr. 

M. 

Fr. 

im Alter 

von 30—40 Jahren 

0.31 

0.10 

0.34 

0.12 

0.33 

0.09 

71 11 

„ 50-60 „ 

0.22 

0.03 

0.27 

0.06 

0.23 

0.07 

n n 

,. über 60 Jahre 

0.08 

0.02 

0.14 

— 

0.20 

0.04 


Man ersieht daraus, daß unter den von Greisen begangenen Ver¬ 
geben dieses Delikt an sich nicht häufig vertreten ist. Es nimmt im 
Alter, im Verhältnis zu den übrigen Altersstufen aber nicht sehr stark 
an Zahl ab, beträgt bei Männern über 60 Jahre immer noch l h (1907) 
resp. */■* (1906) der Bestrafungen im Alter von 30—40 Jahren. 

Es schwanken übrigens die Ziffern in den einzelnen hier viel 
mehr, als es bei den bisher besprochenen Verbrechen der Fall war. 

Die Beteiligung der Frauen an dem Delikte ist für alle Alters¬ 
klassen nur gering, nimmt über 60 Jahre 1907 wenig, 1906 sehr stark 
ab. Daher verhalten sich die Prozentzahlen der Frauen 1906 weit 
verschieden von denen im Jahre 1907. 


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Original fro-rn 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 





22 


I. H. ZiNGERLE 


Digitized by 


Vergehen der Krida. 




30 - 

-40 

40— 

-50 

50 

-60 

über 60 

1" 

o 


i M * 

Fr. 

M. 

Fr. j 

M. 

Fr. 

M. Fr. 


Verurteilte 

513 

64 

260 

56 

140 

28 

44 

10 

co 

® 

Verurteilte 

537 

i 

63 

333 

49 1 

127 

27 

44 

9 


Von 1319 verurteilten Männern sind 1907 3.3 Proz. Greise, (8.2 
Proz. aller wegen Vergehen verurteilten Greise), von 207 Frauen 4.8 
Proz. über 60 Jahre, (8.7 Proz. aller wegen Vergehen verurteilten 
Frauen über 60 Jahre). 

1906 sind von 1405 verurteilten Männern 3.1 Proz. Greise (8.9 
Proz. aller wegen Vergehen verurteilten Greise), von 192 Frauen sind 
4.6 Proz. über 60 Jahre (8.4 Proz. aller wegen Vergehen verurteilten 
Frauen über 60 Jahre). 

Auf je 10000 ortsanwesende (männliche resp. weibliche) Einwohner 
der Zivilbevölkerung entfielen Verurteilte derselben Altersstufe 

1907 1906 1904 




0 

M. 

Fr. 

M. 

Fr. 

M. 

Fr. 

im 

Alter 

von 30—40 Jahren 

2.90 

0.35 

3.07 

0.35 

2.91 

0.26 

V 

}? 

„ 40—50 „ 

1.27 

0.24 

1.17 

0.23 

1.29 

0.26 

V 

?? 

„ über 60 Jahre 

0.42 

0.08 

0.42 

0.04 

0.32 

0.03 


Das Vergehen ist absolut genommen häufiger, als das vorher¬ 
gehende, das Verhältnis der Greisenziffer zur Gesamtziffer ist aber 
ein kleineres, als bei diesem. Die Fälle werden im Greisenalter re¬ 
lativ seltener und trifft dies für beide Geschlechter zu. Über die 
Vorstrafen bei den einzelnen Altersstufen ist leider bei den Vergehen 
keine besondere Darstellung in der Statistik durchgeführt. 

Fassen wir die Ergebnisse in kurzem Überblicke noch einmal 
zusammen, so läßt sich folgendes feststellen: 

1. Das Delikt des Diebstahls und der Diebstahls-Teil¬ 
nahme entspricht am ausgesprochensten den Erwartungen, die man 
theoretisch an die Kriminalität des Greisenalters zu stellen gewohnt 
ist. Wenn auch der Zahl nach das häufigste Delikt, nimmt es doch 
relativ so hochgradig ab, daß der Greisenanteil von der Gesamtsumme 
der Verurteilten kleiner ist, als bei allen sonstigen Delikten. Die 
Zahl der Nichtvorbestraften nimmt nur um ein geringes zu. 

2, Demgegenüber stellen die Sittlichkeits-Delikte einen ganz 
eigenartigen Typus dar. Sie bilden — nächst dem Diebstahl — den 
höchsten Prozentsatz aller Greisenverbrechen und machen die Greisen- 
verurteilungen einen auffällig großen Anteil der Gesamtverurteilungen 


Gck igle 


Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 





Über das Greisenalter in forensischer Beziehung. 


23 


aas. Die Verurteilungen über 60 Jabre sind zum Teile zahlreicher 
als im Alter von 50—60 Jahren, nehmen zum mindesten nur wenig 
ab. Die Zahl der Nichtvorbestraften ist eine große und höher, als 
in den unmittelbar vorausgehenden Altersstufen. Das weibliche Ge¬ 
schlecht ist dabei gänzlich unbeteiligt. 


Männer. 






Von 100 




Von 

100 weg. 

krimin. Greis. 


Verhältnis der Summe 


nachf. Delikte 

sind wegen 

Verhältnis der 

der Verurteilten über 

Delikt 

Verurteilter 

nachfolgender 


60, zu der im Alter 
von 50—60 Jahren 


sind Greise 

Delikte 

verurteilt 

j Nichtvorbestr. 


| 1907 

1 190611904 

|1907 

1906 

J904 



Unzucht 

9 

7.6 

8.6 ! 

17.8 

16.1 

15.2 

deutl. Zunahme Geringe Abnahme, z. 

Öffentliche 



j 





T. Zunahme der Ver¬ 
urteilten über 60 Jahre 

2.8 

3.3 

2.7 

12.3 

15.6 

10.6 

starke „ 

mäßige Abnahme 

Gewalttätig^ 






1 

- 

Totschlag und 

1.5 

1.4 

1.3 

11.5 

13.5 

10.3 

n p i 

w V 

schwere 









Körperbesch. 
Boshafte Eig. 

1.2 

l.l 


1.5 

1.2 



« w 

Beschädig. 









Krida 

3.3 

3.1 


8.2 

8.9 1 I 


V w 

Veruntr. 

1.5 

1.5 


1.8 

1.8 


sehr starke „ 

r » 

Betrug 

5 

4.3 


17.1 

18.1 


geringe 

V * 

Majestätsbel. 

3.9 

4.2 


1.3 

1.2 


! 

1 

ff m 

Brandlegung 

9.7 

8.2 


1.3 

1.2 



sehr geringe Abnahme 

Zwangs voll str. 








zum Teil Zunahme 

! 5.2 

8.06 


1.8 

3.0 



mäßige Abnahme 

Vereitelung 

Diebstahl 

i 

1.2 

0.9 

1 

1.3 

25.9 

25 

24.8 

s. geringe „ | 

starke „ 


I 


3. Ganz ähnliche Verhältnisse ergeben sich bei dem Verbrechen 
der Brandlegung. Abgesehen davon, daß dasselbe überhaupt nicht 
häufig ist und daher auch in der Greisenziffer mit niedrigen Zahlen 
vertreten ist, gehört ein großer Prozentsatz der Verurteilten dem 
Greisenalter an; gegenüber dem Alter von 50—60 Jahren sind die 
Verurteilungen wenig vermindert, zum Teile sogar häufiger. 

4. In ihren Ergebnissen am nächsten vergleichbar und hier an¬ 
zugliedern sind das Verbrechen der Majestätsbeleidigung 
und das Vergehen der Zwangsvollstreckungsvereitelung. 
Auch diese bilden einen beträchtlichen Teil der Gesamtverurteilungen, 
der eine relative Häufigkeit dieser Delikte im Greisenalter aufdeckt. 
Die Abnahme der Verurteilungen speziell gegen das Alter von 50—60 
Jahren ist eine mäßige, immerhin aber deutlich stärker, als bei der 
Brandlegung. 


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Original.ffom 

UNIVERS1TY OF MICHIGAN 





24 


I. H. ZlN GEHLE 


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5. Im Gegensatz zn den unter 3 und 4 besprochenen Delikten 
sind die folgenden: öffentliche Gewalttätigkeit, Tot¬ 
schlag und schwereEörperbeschädigung, sowie das 
VergehenderKridaals solche unter den Greisendelikten häufig 
vertreten, verglichen mit der Gesamtziffer der einzelnen Delikte, ist 
aber eine beträchtliche Abnahme im Greisenalter unverkennbar. Es 
muß aber hervorgehoben werden, daß diese relative Abnahme immer 
noch nicht an die bei Diebstahl heranreicht. Am geringsten ist sie 
bei Krida, sodann bei dem Verbrechen der öffentlichen Gewalttätig¬ 
keit, am stärksten bei Totschlag und schwerer Körperbeschädigung. 

Daß aber auch bei diesen Delikten, trotz der relativen Abnahme, 
dem Greisenalter eigentümliche, wohl endogene Momente eine Rolle 
spielen, läßt sich aus der starken Zunahme der Nichtvorbestraften er¬ 
schließen, die zum Teile größer ist, als bei den Sittlichkeitsdelikten. 
Es ist in hohem Grade auffällig, wieviel von den Affektverbrechen im 
Greisenalter von Leuten begangen werden, welche bisher ein tadel¬ 
loses Vorleben hinter sich haben. Aus dieser Tatsache ist gleichzeitig 
ersichtlich, wie wichtig neben den Zahlen über die absolute und re 
lative Häufigkeit der Delikte im Greisenalter die Berücksichtigung 
der Vorstrafen ist 

6. Ähnlich wie die Affektverbrechen ist auch das des Betruges 
an sich ein häufiges Altersdelikt, und stellt wie diese, nur einen re¬ 
lativ kleinen Anteil der Gesamtverurteilungen dar, der aber immer 
noch bedeutend größer ist, als bei Diebstahl. Es unterscheidet sich 
aber ganz ausgesprochen durch das Fehlen der Zunahme an Nicht¬ 
vorbestraften, die im Alter von 50—60 Jahren sogar relativ häufiger 
sind, als über 60 Jahre. 

7. Die Verbrechen der Veruntreuung und bos¬ 
haften Eigentumsbeschädigung sind sowohl in der Summe 
der Greisenverbrechen als anch in der Gesamtziffer nur mit kleinen 
Ziffern vertreten, also absolut und relativ seltene Delikte. 

Bei der Veruntreuung ist aber die hochgradige Zunahme der 
Zahl der Nicht vorbestraften unter den Verurteilten über 60 Jahre 
besonders auffällig. 

8. Dies sind die Ergebnisse bezüglich der Männer. Zu einem 
großen Teile stehen die Zahlen Verhältnisse bei den Frauen, abgesehen 
von der absolut geringeren Zahl aller Delikte im Vergleiche mit den 
Männern damit in annähernder Übereinstimmung. Zum Teile weichen 
aber dieselben in nicht unbeträchtlicher Weise voneinander ab. Es 
wurde schon erwähnt, daß die Frauen an den Sexualdelikten über¬ 
haupt nicht beteiligt sind. 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Über das Greisenalter in forensischer Beziehung. 


25 


Frauen. 



Von 100 wegen nachfolgender 

Von 100 kriminellen Greisen 

Delikt 

Delikte Verurteilten sind Greise 

sind wegen nachfolgender 
Delikte verurteilt 


! 1907 

1906 | 

1904 

1907 

| 1906 

1901 

Unzucht .... 

_ 

_ 

_ 

_ 

i 

_ 

Offen tl. Gew&lttätigk. 

4.9 

3.3 

— 

14.8 

11.5 


Totschlag m.schwerer 

3.4 

3.1 

— 

5.2 

6.1 


Körperbeschädigung 





* 


Boeh. Eig. Besch Ad. 

6.8 

54 

— 

1.4 

1.6 


Krida. 

4.8 

4.6 

— 

8.7 

8.4 


Veruntreuung . . 

1.5 

4.8 

— 

0.7 

2.3 


Betrug. 

5.3 

4.6 

— 

21.6 

24.6 


Majestätsbeleidigung 

3.7 

9.0 

— 

0.7 

1.6 


Brandlegung . . . 

9 

— 

— 

1.4 

— 


Zwangsvollstr. 

6.5 

1.7 

— 

2.6 

0.9 


Vereitelung . . . 







Diebstahl .... 

1.00 

1.6 

2.0 

40.0 

42.3 

40.8 


Die häufigsten Delikte sind daher, nach Wegfall dieser, wie bei 
den Männern, Diebstahl und Diebstahlteilnahme, sowie Betrug. 

Besonders das erste Delikt bildet einen viel größeren Prozent¬ 
satz aller Greiaenverbrechen, als bei Männern. Dabei aber ist um so 
auffälliger, einen wie geringen Bruchteil der Gesamtverurteilungen 
wegen Diebstahls dasselbe ausmacht 

Abgesehen von diesem Delikte ist ersichtlich, daß die Greisen- 
verarteilungen im allgemeinen einen höheren Prozentsatz der Gesamt- 
verarteilnngen ansmachen, als bei den Männern, daß also die relative 
Abnahme eine geringere ist, als bei diesen. Besonders auffällig ist 
dies z. B. beim Verbrechen der boshaften Eigentumsbeschädigung, 
ebenso bei Totschlag und schwerer Körperbescbädigung, welch letztere 
aber naturgemäß in der Summe der Greisenverurteilungen mit einem 
geringeren Anteile vertreten sind, als die Männer. 

Außer diesen Tatsachen ist aber noch bemerkenswert, daß sich 
bei den Frauen nicht die auf fällige Übereinstimmung der Zahlen in den 
beiden herangezogenen Jahren bei allen Delikten findet, wie sie bei 
den Männern als Kegel sich darbot. Es kommen ganz überraschende 
Schwankungen vor, wie z. B. beim Verbrechen der Majestätsbeleidi¬ 
gung, oder dem Vergehen der Zwangsvollstreckungs-Vereitlung, bei 
denen zwischen den Jahren 1906 und 1907 die Differenzen gewaltige 
sind. 

Leider enthält — ausgenommen vom Verbrechen des Diebstahls 
und der Diebstahls-Teilnahme — die Statistik nichts über die wich¬ 
tigen Verhältnisse der Nichtvorbestraften bei den einzelnen Delikten. 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 





26 


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V. — Vbtb«btr^fi. N, ** Nicht vorbetitr, m Erat* Vonjtt* Im AU«r über fto J. 

B. IHp in »Imi .Isthn-n 1S0H—-UHW fuvim <»raz<‘r k. k. Lutnios- 
^'rickt crfnl^fpn Omsp«vi'rurtfii«ui?pn. 

Diese Statwiik. TJinfaßt Verbrechen usd Vergehen., am Beriick- 
sielmgttäg der emselneo Altersstufen Wes Seniums. 

Die öbenstebeiidü TfeheHe gibt eine aHgcmeine Cbersichb 
J@Se S«öjiöt* aller VerörteUk*« #1 \ dw#};4d^4& Ö<»npte 

^ 6 t ('t S.e Vwz.; Fratirn. Dtese gerinjreZah! er- 


vör älferti wieder bei den Sittlichkcitsdelikte», äIs aweh daröh die 
weseritjjefe geringere^ Beteilightig hei »len übrigen und 

,• 'Vergedien, /.'?'.■//'} . . • .. • . ■■■■:'' 

t>fe Degnüifeumme der \'erurtei!rfen ist an eich vaü 

siebt in Vfemnsiittimiing mit dsr sehon in der KrinrmiÄLtstniistik »acb-, 

gewiesenen starken Abi^§p;'|p|:;^|ti^iBieIi.eh iiu Alter über Ott Jahre/-; 

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UNfVERSITY OF MICHIGAN 







Über das Greisenalter in forensischer Beziehung. 27 



Von einer Beziehung auf die Gmmtsuniine der Verurteilten aller 
Alters klassen in diesen 10 Jahren habe ieb besonders deswegen ab¬ 
gesehen, weit sieb eine Berechnung für die einzelnen Delikte, die ja 
allein ?ött läteresse wtbe, aus äußeren Gründen nicht durch- 

führen ließ. 

Was nun die Beteiligang der einzelnen Gret^a- 

alters betriff^ at> fililt die größte ZaM der Verurteiliißgen auf das 
Alter vnn '6B;^’t2S:iTahir^.n,'etwas .mehr als. : iBßiilW:*<|€är; 

An nächster Stelle steht das Alter Von 63— 70 Jahren, mit 30,4 Proz. 
Es falten somitS0.2pimailU*r Vefurteilnagen auf das Alter von 
60 — 70 Jahren, tw den übrigen Altersstufe» hirpont die fehl stark 
faltend ab. Schon uro Älter von 70 - 73 Jahren beträgt die Zähl der 
Verurteilten nur mehr V) von der iio Alter von 60—63 .fahren und 
sinkt schließlich in der Altersstufe von $5—90 Jahren auf 0 2 Proz. 


Go gle 


Original frem 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 














28 


I. H. Z INO ERLE 


Bei dieser Abnahme ist ja gewiß die Verminderung der Be¬ 
völkerungszahl in den fortschreitenden Altersstufen in Rechnung zu 
ziehen. Leider liegen mir diesbezüglich keine Zahlen vor, und läßt 
sich deshalb nicht zahlenmäßig feststellen, wieviel bei dieser Abnahme 
der Kriminalität auf den fortschreitenden Marasmus und das Schwinden 
der Initiative zu beziehen ist, was wohl mit einer gewissen Wahr¬ 
scheinlichkeit vermutet werden darf. 


60—65 

I 65—70 

70—75 

75—80 

60—85 

! 85-1)0 

1 _ 

M. Fr. 
166 38 

M. Fr. 
103 16 

M. Fr. 
40 8 

M. Fr. 

14 2 

- M. Fr. 

3 2 

M. Fr. 

1 — 

199 

50.8 Proz. 

119 

30.4 Pro*. 

48 

12.2 Proz. 

16 

4 Pro*. 

5 

1.2 Pro*. 

l 

0.2 Proz. 


Von allen Verurteilten (Männer und Frauen zusammengenommen) 
sind nicht vorbestraft 227 = 58.05 Proz. Diese Zahl ist etwas höher, 
als in der Kriminalstatistik und vergrößert sich noch etwas, wenn 
man die Fälle dazu rechnet, in welchen die erste Vorstrafe erst im 
Alter über 60 Jahre verhängt wurde, welche bei der Frage, wieviel 
Greise erst im Senium kriminell werden, mit einer gewissen Berech¬ 
tigung von den übrigen Vorbestraften abgetrennt werden dürfen. Es 
sind dies im ganzen 14, und erhöht sich damit die Zahl der vor dem 
Greisenalter nicht Vorbestraften auf 241 = 61.6 Proz. Unter diesen 
sind 202 Männer (61.2 Proz., der verurteilten Männer) und 39 Frauen 
(63.9 Proz. der verurteilten Frauen). Betrachtet man das Verhält¬ 
nis der Nichtvorbestraften in den einzelnen Altersstufen 
des Greisenalters, so ergibt sich — im Gegensatz zu der ab¬ 
nehmenden Zahl der Verurteilten — eine steigende Verhältniszahl 
der Nichtvorbestraften, sodaß mit fortschreitendem Alter von den 
Kriminellen ein immer größerer Prozentsatz zu den bisher Unbe¬ 
scholtenen gehört 


i 

! 

60—65 

65—70 

70—75 

75—SO | 

1 <30 

1 

o 

UO 

85—90 

Summe der 
Verurteilten 


119 

48 

16 

5 

1 

Davon nicht 
vorbestraft 

107 

84 

34 

11 

4 

1 

Proz. 

53.7 

70.5 

70.8 

68.7 

80 

too 


Wenn auch nach der Kriminalstatistik 53.7 Proz. Nichtvorbestrafte 
im Alter von 60—65 Jahren zweifellos eine Steigerung gegen die 


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Original frorn 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 




Über das Greisenalter in forensischer Beziehung. 


29 


nächst jüngeren Altersklassen bedeuten, so zeigt doch die rapide Stei¬ 
gerung auf 70.5 Proz. im Alter von 65—70 Jahren, daß die starke 
Zunahme der Nichtvorbestraften vorwiegend auf das Konto der Alters¬ 
stufen übet 65 Jahre fällt. Hinsichtlich der Vorbestraften steht die 
Altersstufe von 60—65 Jahren eigentlich dem Alter von 50—60 
Jahren näher, als den späteren Oreisenjahren; sie bildet eine Art 
Übergangszeit, in welcher anscheinend Individuen mit verschieden¬ 
artiger Entwicklung der Involutionserscheinungen Zusammentreffen. 
Gerade deswegen darf aber diese Zeit nicht ohne weiteres aus dem 
Greisenalter ausgeschieden werden, und erfordern die einzelnen fülle, 
wie sich bei der nun folgenden Besprechung der verschiedenen De¬ 
liktsarten für sich ergeben wird, eine individuelle Betrachtung. Wir 
treffen dabei auch in dieser Altersstufe zweifellos Einflüsse seniler 
Geistesveränderung auf die Kriminalität. Wir beginnen zuerst mit 
der Besprechung der 

Sittlich keitsdelikte 

in den einzelnen Altersstufen. Unter denselben sind verschiedene 
Verbrechen und Vergehen zusammengefaßt, die in der nachfolgenden 
Tabelle zusämmengestellt sind. Dieselbe enthält auch, wie oft ein 
Verurteilter mit Sittlichkeitsdelikten rückfällig wurde, so weit dies 
aus den Akten ersichtlich wurde. 


Delikt 

HO—65 

65—70 

70—75 

75—8u 

80—85 1 

1 085—9 : 


V. N.S.W. 

V. N.S.W. 

V. N.S.W. 

V.N. S. W.jV.N. S. W.| 

V. N.S. W. 

Summe 

Notzucht 

: 1 






1 

Schändung 

|s 17—(1) 

1 

3 14 1 (2) 

1 4 2 (2) 

-3 1 (1) 



49 — 73.1 Proz. 
aller Sittl.-Del. 

Notzucht und,— 4 — 

1 4 —(1) 

l--(l) 




10 — 14.9 Proz. 

Schändung 







aller Sittl.-Del. 

Notz. wider 


1 2 - (1) 

— 1 — 




4 — 5.9 Proz. 

die Natur 


i 

1 



1 

aller Sittl.-Del. 

Blutschande 

— 1 — 

- l — 





2 

Verführung 
zur Unzucht 

— 1 — 





i 

i 

* 

Summe 

3 24—(1) 

5 21 1 j 

2_5_2 O) 

-JJU) 

— 

| — 

67 

Gesamt 

* ir 

27 

9 

4 




Prozent der 
Gesamt-Ver¬ 

1 13.5 Proz. 

22.6 Proz. 

118.7 Proz. 

25 Proz. 




urteilung. der 
entsp. Alterest. 

i 


1 



i 



v. = Vorbestraft, N. — Nichtvorbestraft, S. — erste Vorstrafe im Greisenalter, 

W. — Wiederholtes Delikt. 


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Original fro-m 

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30 


I. H. ZlNOERLE 


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Übereinstimmend mit der Eriminalstatistik äußert sieb auch hier 
das Erlöschen des Geschleohtstriebes bei alten Frauen durch das 
Fehlen weiblicher Verurteilter. Die Häufigkeit der Sittlichkeitsdelikte 
bei männlichen Greisen ergibt sich daraus, daß 20.3 Proz. aller Ver¬ 
urteilten dieser Deliktskategorie angehören. Die größte Zahl trifft auf 
das Alter von 60—65 und 65—70 Jahren, wobei beraerkenswerter- 
weise im letzteren Quinquennium keine Abnahme gegenüber dem ersteren 
stattgefunden bat. In den höheren Alterstufen nimmt die Zahl der 
Verurteilungen — absolut genommen — wohl ab. Sie bilden aber 
im allgemeinen einen ansteigenden Anteil der Gesamtverurteilungen 
der betreffenden Altersstufen, woraus sich ergibt, daß die Sittlich¬ 
keitsdelikte in den ansteigenden Altersstufen nicht in 
demselben Verhältnisse abnehmen wie die übrigen Delikte. 
Von den Verurteilten überschritt keiner das Alter von 80 Jahren. 

Parallel der Häufigkeit dieser Delikte geht die hohe Zahl der 
Nicbtvorbestraften (85 Proz.), die hier noch größer ist, als in 
der Kriminalstatistik. Unter den 4 Verurteilten über 75—80 Jahre 
ist überhaupt keiner vorbestraft; in den übrigen Alterstufen läßt sich 
jedoch eine langsam aufsteigende Zahl der Nicbtvorbestraften nicht 
nach weisen. Die Prozentzahl ist sogar für die Verurteilungen von 
60—65 Jahren größer, als für die nächsten beiden Alterstufen. — 
Jedenfalls sondert sich hinsichtlich der Sittlichkeitsdelikte das Alter 
von 60—65 Jahren nicht auffällig gegen die höheren Jahre ab, wie 
dies bei Berechnung der Nicht vorbestraften im allgemeinen auffällig 
war. Rückfällig geworden sind trotz ein- oder mehrmaliger 
Verurteilung 9 = 13-4 Proz., immerhin ein nennenswerter Anteil. 
Was nun die Art der Delikte betrifft, so dominiert in alles über¬ 
ragender Weise die Schändung: 73.1 Proz. aller Sittlichkeitsdelikte sind 
Schändungen unmündiger Kinder. Notzucht allein, sowie Notzucht 
in Verbindung mit Schändung sind dagegen viel seltener und zu¬ 
sammen nur mit 16.4 Proz. vertreten. Alle übrigen Delikte treten 
ganz in den Hintergrund und sind nur mit ganz geringfügigen 
Anteilen beteiligt. 

Die Schändung ist nach allen bisherigen Erfahrungen 
das typische Sittlichkeitsdelikt der Greise. In der Aus¬ 
führung desselben wiederholen sich stereotyp die gleichen Schilde¬ 
rungen. Die Tat beschränkt sich regelmäßig auf Aufheben der 
Kleider, Berühren der Genitalien, Einführung des Fingers und 
Näherung des Gliedes dem Genitale, seltener kommt noch dazu Be¬ 
rührung mit dem Munde, oder die Aufforderung, das eigene Genitale 
zu berühren, um eine Samenentleerung herbeizuführen. Meist 


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Original fro-m 

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Über das Greisenalter in forensischer Beziehung. 


31 


handelt es sich um Mädchen von 7—14 Jahren, seltener um Rinder 
von 1—3 Jahren; in einem Falle manipulierte der 67jährige Täter 
auch an den Genitalien eines 3Vijährigen Knaben. Wiederholt sind 
es Pflegekinder, selbst die eigene Tochter, welche die Opfer bilden. 
Ausgeführt wird die Tat häufig im Walde, bei einer zufälligen Be¬ 
gegnung, oder in einem Garten, unter Versprechung von Süßigkeiten, 
oder Geld; mitunter geschieht es — besonders von Krämern oder 
kleineren Kaufleuten unter Anlockung durch Waren in einem dem 
Laden benachbarten Raume, oder in einem Zimmer, dies besonders 
von Greisen, denen — wie dies häufig zu Lande vielfach der Fall 
ist —, Kinder zur Aufsicht übergeben werden und selbst mit ihnen 
in demselben Zimmer schlafen. Meist sucht der Täter die Tat zu 
verheimlichen und die Kinder durch Versprechungen und Drohungen 
vom Verrat abzuhalten. In einzelnen Fällen — und dies ganz unab¬ 
hängig von der Altersstufe — geschieht die Ausführung mit Außeracht¬ 
lassung auch der nötigsten Vorsicht, und ist es besonders interessant, 
daß sich manchmal zwischen dem Greise und dem Kinde ein förm¬ 
liches ^Liebesverhältnis entwickelt; so gebärdete sich ein 67jähriger Mann 
ganz verzweifelt, als das 12jährige Mädchen, mit dem ersieh wieder¬ 
holt vergangen hatte, aus seiner Nähe entfernt wurde. — Ein 
79jahriger verheirateter Schneider hatte mit dem Mädchen durch 
längere Zeit ein zärtliches Verhältnis, das selbst der Umgebung auf¬ 
fiel. Gewalttätiger Überfall zur Erzielung des Zweckes ist sehr selten. 
Z. B. überfiel ein 65jähriger Tagelöhner nur mit einem Hemde be¬ 
kleidet, ein Mädchen im Wald. In der Regel ist das Delikt, das zur 
Verhaftung führt, nicht das erste, und läßt sich nachweisen, daß das¬ 
selbe schon öfters mit demselben oder anderen Kindern wiederholt 
wurde. — Ein 65 jähriger Mann war auch vorher gegen eine erwachsene 
Frau aggressiv geworden und hatte in ihrer Gegenwart sein Glied 
entblößt. Nur selten wird berichtet, daß es bei den Manipulationen 
zu einer Ejakulation kam. 

Die Erinnerung an die Tat selbst ist immer vorhanden, und er¬ 
folgt in der Regel ein Geständnis. Geleugnet wird meist nur die 
sexuelle Grundlage des Deliktes, oder wird als Entschuldigung Be¬ 
rauschung oder Verführuug angegeben. Wenn dies nun auch nicht 
für alle Fälle zutrifft, so geht doch aus den Akten zweifellos hervor, 
daß in einem Teile der Fälle der Alkoholgenuß nachgewiesenermaßen 
eine Rolle spielte, und oft erst durch denselben das Delikt provoziert 
wurde. In manchen Fällen nimmt im Alter entschieden die Neigung 
zum vermehrten Alkoholgenusse zu, der natürlich viel schlechter 
vertragen wird und rascher zur Berauschung führt, als früher. So 


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32 


I. H. ZlNGERLE 


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wird z. B. von einem 60 jährigen gut beleumundeten Kondukteure 
angegeben, daß er sich dem Trünke zu ergeben begann, und in diesem 
Zustande zu allem fähig schien, und auch die Schändung beging. 
Ein anderer 63jähriger Knecht hatte vorher */< Liter Schnaps ge¬ 
trunken; ein 67 jähriger Taglöbner befand sich nach dem Gutachten 
der Gerichtsärzte durch relativen Alkoholübergenuß »zur Zeit der Tat 
in einem Zustande verminderter Resistenz gegen obszöne Einfälle“. 

Zweitens hat in nicht wenigen Fällen tatsächlich die Verführung 
durch sexuell verdorbene Mädchen eine nicht zu unterschätzende 
Rolle gespielt Es gibt, worauf auch Kirn, Bloch u. a. hinweisen, 
in den größeren Städten eine Kinderprostitution, die anscheinend die 
Schwäche alter Männer kennt, und sich ihnen in der Hoffnung auf 
Gewinn oder aus anderen Motiven aufdrängt, besonders in abge¬ 
legenen Orten der Peripherie dieselben förmlich an sich anlockt 
Wiederholt ist festgestellt, daß sich derartige Mädchen, denen meist 
von der Schule das schlechteste Zeugnis ausgestellt wird, den 
Männern im Walde zudringlich näherten, und zum sexuellen Mi߬ 
brauch verlockten. Ein 12jähriges Mädchen hatte schon vor zwei 
Jahren mit dem eigenen Vater nachgewiesenermaßen Unzucht 
getrieben. 

Von den übrigen Delikten bezieht sich Notzucht und Verleitung 
zur Unzucht, ebenso wie Blutschande meist auf sexuellen Verkehr 
mit zum Teile erwachsenen Ziebtöchtern, oder der eigenen Tochter, 
wozu sich aus dem engen Verkehr die leichteste Gelegenheit ergibt. 
Es sind dabei die Alterstufen bis zum 75. Jahre vertreten. In dem 
Falle von Blutschande mit der eigenen Tochter veranlaßte der 
60jährige bisher unbestrafte Vater die Tochter auch zur Abtreibung 
der Leibesfrucht. 

Beim Delikte der Unzucht wider die Natur befindet sich nur ein 
Vorbestrafter unter 4 Verurteilten, und zwar ein schon vor Jahren 
straffälliger Päderast Ein anderer Fall betrifft einen 71 jährigen, als 
Schürzenjäger bekannten Auszügler, der seinen eigenen Kindern schon 
längere Zeit sexueller Manipulationen an Tieren verdächtig schien 
und schließlich im Stalle eine Kuh coitierend ertappt wurde. Er 
zeigte Reue über die Tat In den beiden anderen Fällen waren mir 
die Akten nicht zugänglich. Unzucht mit Tieren ist nach den Unter¬ 
suchungen von Haberda und v. Sury ein häufiges Delikt der 
Altersklasse von 14—20 Jahren und sind bemerkenswerterweise, wie 
auch Freud bestätigt, nur ein kleiner Teil der Täter psychisch Ab¬ 
normale. Auch nach Kraft-Ebing entspringt die Tierschändung 
keineswegs immer psychopathologiscben Bedingungen.Nacb diesem Autor 


Gck igle 


Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Über das Greisenalter in forensischer Beziehung. 


33 


besteht aber bei einer Gruppe von Fällen entschieden eine patholo¬ 
gische Grundlage, und erscheint es wohl naheliegend, hierher auch 
jene Fälle im hoben Greisenalter zu rechnen, in denen zum erstenmal 
derartige widernatürliche Neigungen auftreten und hemmungslos in die 
Tat umgesetzt werden. Es ist dabei wohl keine gezwungene An¬ 
nahme, daß sich durch solche erst so spät auftretende und zu rück¬ 
sichtsloser Befriedigung drängende Neigungen eine Umwandlung der 
Persönlichkeit verrät, die auf schwerere Gehirnveränderungen schließen 
läßt Häufig ist das Delikt im Greisenalter keineswegs. Auch v. Sury 
fand es unter 387 Fällen nur 9 mal im Alter von 60—70 Jahren 
und 2 mal im Alter von 70—80 Jahren. Neben der bisher bespro¬ 
chenen Häufigkeit der Sittlichkeitsdelikte im Greisenalter, der merk¬ 
würdigen Tatsache, daß eine so überwiegende Anzahl früher nicht 
vorbestrafter und gut beleumundeter dasselbe begeht, sowie der Eigen¬ 
art der Delikte selbst, ist es eine weitere Tatsache, die sich aus dem 
Aktenstudium ergibt und besondere Erwähnung verdient. 

In einer Anzahl von Fällen besteht ein marantischer Zu¬ 
stand, der wiederholt auch Veranlassung zu gerichtsärzt¬ 
licher Untersuchung bot; es betrifft dies etwa nicht nur Fälle 
im vorgeschrittenen Alter, sondern sehr häufig auch solche selbst im 
Alter von 60—65 Jahre. Ich führe einige derselben hier an. 

65jähriger Tagelöhner (Schändung): hochgradige Taubheit, bringt 
seine Äußerungen oft undeutlich vor. 

69jähriger Nachtwächter (Notzucht und Schändung): hört schlecht, 
erschien durch sein ganzes Gebaren dem Richter als schwachsinnig. 

62 jähriger Sägefeiler (Schändung): körperlich schon sehr^marantisch 

70jähriger Grundbesitzer (Schändung): geistig ganz verloren, 
schlechtes Gedächtnis, erweckte den Eindruck einer „plumpen Simu¬ 
lation“. 

60 jähriger Händler (Schändung, Notzucht und Blutschande) mußte 
nach Abbüßung der Haft (5 Jahre) in die Irren-Anstalt gebracht werden. 

68jähriger Tischlermeister (Schändung): dekrepid, konfuse Ant¬ 
worten, schlechtes Gedächtnis, dem Trünke ergeben, wegen Betteins 
beanstandet, vermochte aber noch das Strafbare der Tat einzusehen. 

70jähriger Tagelöhner (Schändung): schwerhörig, infolge des 
Alters kaum in die Lage gesetzt aufrecht zu stehen, geistig noch regsam. 

60jähriger Ausnehmer (Blutschande): dämmerartige Bewußtseins¬ 
störungen. 

68jähriger Bahnwächter (Notzucht und Schändung): marantisch, 
trunksüchtig, schwerfälliges Wesen. 

Es ist nicht ohne Bedeutung, daß ein Teil der Sittlichkeitsver- 

Archi ▼ für KriminaUtnthropologie« 40. Band« 3 


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brecher derartig offenkundige, zum Teile vorzeitige Involutions¬ 
erscheinungen darbietet. Auch Kirn und Kraft-Ebing schildern, 
daß die senilen Sittlichkeitsverbrecher oft die ausgesprochenen Zeichen 
der körperlichen und psychischen Senescenz zeigen, häufig wegen 
ihrer Arbeitsunfähigkeit sich schon in Armenverpflegung befinden. 

Sind derartige Fälle auch noch nicht unter die entwickelte De¬ 
mentia senilis einzureihen — nach den vorliegenden Gutachten waren 
in keinem unserer Fälle die Intelligenzdefekte derartig starke — so 
ist doch zweifellos bei der Beurteilung die allergrößte Vorsicht geboten. 

Mit Recht hebt v. Kraft-Ebing hervor, daß der Verdacht auf 
pathologische Bedingungen sich ergeben muß, wenn das Individuum 
dekrepid wird, der Trieb sich mit großer Stärke geltend macht und 
zu rücksichtsloser Befriedigung drängt. Eine intellektuelle Schwäche 
braucht dabei noch gar nicht erkennbar zu sein, denn diese Krankheits¬ 
erscheinung kann als Vorbote der Dem. senil, sich lange vorher ein¬ 
stellen, als Ausdruck der initialen Umwandlung des Charakters und 
Abschwächung des moralischen Fühlens. Die Richtigkeit dieser Er¬ 
fahrungen fanden, wie schon erwähnt, durch die Untersuchungen 
Aschaffenburgs über die senilen Sittlichkeitsverbrecher vollauf 
Bestätigung. Die genannten Fälle bieten alle die von Kraft-Ebing 
geforderten Kennzeichen dar und sind wohl als Initialformen der 
Dementia senilis aufzufassen. Für diese Diagnose ist natürlich das 
eine Moment, „daß die Einsicht in das Strafbare der Handlungen 
erhalten ist“, nicht von Belang. Diese Einsicht mag erhalten sein, 
wie es ja auch meist bei den initialen Formen der Paral. progr., der 
arterioskl. Hirnatrophie der Fall ist; der Verstand ist aber bei der¬ 
artigen Gehirnveränderungen außerstande, gesteigerte Triebregungen 
zu unterdrücken, oder den Ablauf der Gemütsbewegungen zu beein¬ 
flussen. Außerdem ist ja immer zu bedenken, daß bei Senilen das 
Vorhandensein der Einsicht zur Zeit der Geistesuntersuchung gar kein 
Beweis dafür ist, daß diese auch zur Zeit der Tat vorhanden war 1 ). 

1) Wie wenig beweisend die Ergebnisse des Examens für die Beurteilung 
des geistigen Inventars ist, bat zutreffend Berzein seiner ausgezeichneten Arbeit 
dargetan. Die Fragestellung führt nach seiner Ansicht oft nur zu einer Über¬ 
schätzung dessen, was man als Einsicht bezeichnet; „sie zeigt oft nur, welches 
Maß von Wissen durch einen so kräftigen Antrieb, wie eben die Fragestellung, aus 
dem Individuum hervorgeholt werden kann, nicht aber, was jene zarteren, ver¬ 
hüllteren Antriebe, die im gewöhnlichen Leben das Individuum beeinflussen, in 
dieser Richtung zu leisten imstande sind.“ — Es ist ganz gut möglich, daß bei 
Senilen die geistige Regsamkeit, ohne welche der geistige Besitz totes Kapital 
ist (Berze) zu gering sein kann, um gegebenenfalls die Denkoperationen ebenso 
anzuregen, wie es im Examen der Fall ist. 


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Über das Greisenaiter in forensischer Beziehung. 


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Der Geisteszustand ist ein viel zu labiler, und sind es eine Menge 
von äußeren und inneren Einflüssen, — z. B. gerade der Alkohol — 
welche eine Änderung des gesamten Bewußtseinzustandes vorüber¬ 
gehend herbeiführen können. Es läßt sich somit auch in unserer 
Kasuistik für einen Teil der Fälle wenigstens, mit größter 
Wahrscheinlichkeit eine pathologische Grundlage für 
die Auslösung von Sittlichkeitsverbrechen erschließen. 

Die Häufigkeit der Sittlichkeitsdelikte im Greisenaiter, also in 
einer Lebensphase, in welcher das allmähliche Erlöschen des Ge¬ 
schlechtstriebes zu erwarten wäre, die Häufigkeit, die meist auch mit 
der körperlichen Hinfälligkeit in einem augenfälligen Kontraste steht, 
hat seit jeher zur Frage gedrängt, welche besonderen Momente im 
Leben der Greise hierbei im Spiele sind. 

Die meisten Autoren neigen zu der Ansicht, daß bei den Greisen 
der schon erstorbene Geschlechtstrieb eine neuerliche Steigerung erfährt 
(Kirn, Breßler, Meyer, v. Kraft-Ebing, Leppmann). 
Nach Aschaffenburg verweisen alle Umstände auf eine der 
Grenze des Unnatürlichen nahestehende Erregung auf sexuellem 
Gebiete hin. 

Es steht hinsichtlich der Sexualität der Greise zweifellos fest, 
daß die Potenz bis in das späte Alter erhalten bleiben kann, und 
wurden selbst noch im Alter von 80—90 Jahren Spermatozoen ge- 
gefunden (Hofmann). Es kommt auch vor, daß die Erektions¬ 
fähigkeit erhalten bleibt, die Ejakulationsfähigkeit erlischt. Ebenso 
sichergestellt ist auch die häufige Abnahme der Potenz im Alter von 
50—60 Jahren mit später eintretender neuerlicher Steigerung des 
Triebes. In unseren Fällen ist einige male eine derartige Steigerung 
ausdrücklich bestätigt. Die Frau eines 65jährigen Grundbesitzers 
(Schändung) gab an, daß ihr Mann schon seit 10 Jahren nicht mehr 
beischlafsfähig war, während bei der Tat das Glied erigiert war. 
Die hochgradige Erregung zeigte sich besonders bei einem 68 jährigen 
Bahnwächter, der noch Onanie betrieb und nacb seiner eigenen 
Angabe öfters Pollutionen hatte. In mehreren Fällen ist auch der 
Samenerguß nachgewiesen. 

Sicher ist aber auch, daß in einer Reihe von Fällen eine ge¬ 
steigerte Geschlechtslust besteht, ohne daß es zur Erektion oder zum 
Samenergüsse kommt, wie wir dies ja bei organischen Rückenmarks¬ 
erkrankungen z. B. bei der Tabes dors. beobachten können, Die 
Ursache dieses Wiederauftretens gesteigerter Sexualerregungen ist 
derzeit wohl nicht ganz klar; wir sehen doch ja auch sonst bei 
Greisen schon verloren geglaubte Funktionen ohne uns bekannte 

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Veranlassungen wieder aufleben. Von Bedeutung sind hier Unter¬ 
suchungen von Becker, der bei Greisen eine Hyperästhesie des 
Gescbmacksapparates nachwies und auch den häufigen Pruritus 
senilis auf eine übermäßige Empfindlichkeit der Haut zurückführt. 
Er erinnert dabei an die senile Hyperaesthesia sexualis und bringt 
diese Erscheinungen mit dem Abbau des Nervensystems, mit degenera- 
tiven Alterationen der Nervenbahnen in Zusammenhang. — Diese 
sind jedoch sicher nicht die ausschließliche Ursache, und können auch 
sicher anderweitige Organstörungen, wie auch im rüstigen Lebens¬ 
alter, eine Rolle spielen. Brunton erwähnt hierbei mit Recht, daß 
die Geschlechtsaufregung älterer Männer wahrscheinlich öfters ihren 
Grund in einer Reizung durch die vergrößerte Prostata, oder in einer 
veränderten Harnzusammensetzung, z. B. starker Azidität desselben 
bei Gicht bat. 

Die erhöhte sexuelle Erregbarkeit reicht aber an sich noch nicht 
aus, die oft rücksichtslose und straffällige sexuelle Betätigung bisher 
ehrenwerter alter Männer zu erklären; das schwächliche und wider¬ 
standslose Nachgeben gegenüber diesen Triebregungen setzt doch eine 
Verminderung von Hemmungen voraus, die früher vorhanden waren, 
mit der senilen Involution aber allmählich verloren geben. Diesem 
Verluste an Hemmungen kommt freilich etwas zugute, daß die 
Sexualmoral unter den verschiedenen Ständen und Individuen eine 
äußerst ungleichmäßige Ausbildung überhaupt zeigt und man unter 
den gebildeten Ständen und selbst bei sonst geistig hochstehenden 
Menschen darüber Anschauungen begegnet, die direkt an partielle 
ethische Defekte denken lassen; es sind oft nicht höhere Gefühls¬ 
werte, welche kriminelle Sexualdelikte verhindern, sondern ausschließlich 
die Furcht vor Strafe 1 ). 

Überhaupt gehören die Regungen des Geschlechtslebens, wie 
Freud hervorhebt, zu jenen, die schon normalerweise von den 
höheren Seelentätigkeiten am schlechtesten beherrscht werden und 
daher auch bei psychischen Abnormitäten besonders leicht in Mit¬ 
leidenschaft gezogen werden. Es ist daher verständlich, daß auch 
bei den Seelenveränderungen der Greise die Steigerung des Sexual- 

1) Dieser Erfahrung läßt sich an die Seite stellen, daß nach den Ergeb¬ 
nissen der österr. Krim.-Stat. schon seit Dezennien ein starkes Ansteigen der 
der Anteile bei den Sittlichkeitsdelikten in allen Altersklassen, eine tatsächliche 
Vermehrung derartiger Verbrechen über den Bevölkerungszuwachs hinaus erkenn¬ 
bar ist, und daß dabei das eigentliche Alpengcbiet sich am stärksten vertreten 
zeigt — Die Krim.-Stat. führt diese Zunahme auf die geänderten Lebensverhält¬ 
nisse und auf soziale Erscheinungen zurück. 


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Über das Greisenalter in forensischer Beziehung. 37 

triebes so leicht Veranlassung zu gesetzwidrigen Handlungen bildet. 
Vielleicht ist hier auch noch ein weiteres Moment nicht ohne Be¬ 
deutung. Arteriosklerotische Gefäßveränderungen kommen bei Greisen 
doch häufig vor und wissen wir, daß dieselben mit häufigen 
Blutdruckschwankungen und einer Neigung zu anfallsweise auf¬ 
tretenden psychischen Störungen einhergehen. Gerade die sexuellen 
Erregungen führen zu heftigen Blutdruckschwankungen, an denen 
auch das Gefäßsystem des Gehirns beteiligt ist, und können dadurch, 
infolge der vorhandenen Gefäßveränderungen Störungen in der 
Regulierung des Blutumlaufes eintreten, die sich auch im Ablaufe 
der psychischen Funktionen geltend machen, nach Abklingung der 
Erregung aber wieder sich ausgleichen. Der erschwerte Ausgleich 
rasch eintretender Blutdrucksschwankungen macht sich bei Senilen 
und Arteriosklerotikern ja auch bei starken Affekten, beim Alkohol- 
genusse, überhaupt bei den die Zirkulation beeinträgenden Er¬ 
krankungen geltend. 

Haben wir bisher die gesteigerte sexuelle Erregung und die er¬ 
höhte Neigung zu Sittlichkeitsdelikten überhaupt bei Greisen auf, dem 
Alter eigentümliche Veränderungen zurückzuführen versucht, so ist 
damit noch nicht aufgeklärt, warum sich dieser Trieb in der über¬ 
wiegenden Mehrzahl auf die Schändung unmündiger Kinder richtet. 
Zunächst wäre daran zu denken, daß alte Leute schwerer Gelegenheit 
finden, in Beziehung mit erwachsenen Mädchen zu treten und daher 
naturgemäß mit ihren Begierden auf Kinder angewiesen sind. Dies 
trifft jedoch nicht im allgemeinen zu. In der Stadt finden sich auch 
für alte Leute ,genug Gelegenheiten zu nicht krimineller sexueller 
Betätigung, außerdem sind unter den Tätern eine Auzahl Verheirateter, 
für welche der Mangel an Objekten überhaupt nicht in Betracht kommt. 

Vielfach vertreten ist die Anschauung, daß die Kinder infolge 
der verminderten- Beischlafsfähigkeit vor den Erwachsenen bevorzugt 
werden (v. Kraft-Ebing, Aschaffenburg, Breßler). Aber 
auch gegen die Gültigkeit dieser Annahme spricht die Erfahrung, 
daß doch auch die Notzuchtsattentate sich fast immer gegen Kinder 
richten, und daß, wie Leppmann richtig betont, eben eine gesteigerte 
Sexualerregung nach längerem Sistieren des sexuellen Empfindens 
eintritt. 

Es scheint vielmehr tatsächlich eine Verkehrung der Trieb¬ 
richtung vorzuliegen, die gerade nach dem kindlich unentwickelten 
Körper als Sexualziel ein besonderes Verlangen trägt. In dieser 
Hinsicht ist ja auch der von Breßler geführte Nachweis über 
die Häufigkeit der Ehen von Männern über 60 Jahre mit Mädchen 


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unter 20 Jahren von Interesse. Daß der kindliche Körper unter 
abnormen Zuständen an Stelle des normalen Sexualobjektes treten 
kann, siebt man ja auch an sexuell Übersättigten, die oft im Verkehr 
mit Kindern die Befriedigung finden, die sie mit Erwachsenen nicht 
mehr hervorrufen können. Auch bei Psychopathen kann man einen 
derartigen auf das Kind gerichteten Sexualtrieb als dauernd das ganze 
Leben hindurch bestehen bleibende Perversion beobachten. Ich kenne 
einen derartigen, schon wiederholt wegen Schändung und Notzucht 
abgestraften Mann im Alter von ca. 35 Jahren, der von Jugend auf 
nur am Verkehre mit Kindern Gefallen findet und selbst den Verkehr 
mit erwachsenen Frauen nur dann ausüben kann, wenn er gleich¬ 
zeitig eine Puppe im Bette liegen hat, mit der er sich in seiner 
Phantasie beschäftigt. Die körperlichen Zeichen der weiblichen 
Reife, besonders das Vorhandensein der Crines erregen ihm nach 
seiner Angabe, direkt Abscheu. 

Für eine Perversion des Triebes spricht ja auch weiterhin die 
Erfahrung, die auch Leppmann erwähnt, daß sich der Trieb mit¬ 
unter auch auf Knaben richten kann. Auch unsere Fälle bieten der¬ 
artige Beispiele. 

Es ist nicht ohne weiteres verständlich, auf welche speziellen 
Umstände bei den Altersveränderungen die Vorkehrung der Trieb¬ 
richtung zurückzuführen ist, deren Feststellung das Verdienst Lepp- 
manns ist. Er führt diesen Wechsel darauf zurück, daß aus Mangel 
an Kraft, neue Phantasievorstellungen zu bilden, die wiedererwachte 
Geschlecbtslust zu den Anfängen geschlechtlichen Fühlens, zur Kind¬ 
heitsepoche zurückkehrt, es treten die treu bewahrten Eindrücke an 
die Objekte, welche die ersten sexuellen Erregungen veranlaßten, mit 
erneuter Deutlichkeit wieder auf. 

Diese Annahme will im wesentlichen wohl besagen, daß der 
Gescblechtstrieb, der nach Freud „bei Erwachsenen durch die Zu¬ 
sammenfassung vielfacher Regungen des Kinderlebens zu einer Ein¬ 
heit entsteht“, durch den Involulionsprozeß wieder in seine Kompo¬ 
nenten zerfällt. Dies stimmt mit den Anschauungen Freuds überein, 
der die Perversionen teils als Hemmungen, teils als Dissoziationen 
der normalen Entwicklung auffaßt. Unter diesem Gesichtspunkte 
wird es auch verständlich, daß der Geschlechtstrieb bei Greisen in 
der Mehrzahl der Fälle mit dem Beschauen, Betasten, Berührenlassen 
der eigenen Genitalien schon seine Befriedigung findet, und sich 
somit wieder auf ein Sexualziel beschränkt, das auch im kindlichen 
Sexualleben die Hauptrolle spielt. 


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Über das Greisenalter in forensischer Beziehung. 39 

Diebstahl und Diebstahlsteilnehmung. 

Wie schon die Kriminalstatistik ergeben hat, ist die Zahl der 
einfachen Diebstähle an und für sich noch eine hohe, wenn auch in 
Hinsicht auf die Gesamtheit der Verurteilungen eine hochgradige 
Verminderung im Greisenalter eintritt Die Gesamtsumme der Ver¬ 
urteilten beträgt hier 95 = 25 Proz. aller Delikte. Davon sind 66 
Männer = 20 Proz. der männlichen Verurteilten, also etwas weniger 
als bei den Sittlichkeitsdelikten. 20 sind Frauen, diese machen 
49 Proz. der weiblichen Verurteilungen aus, und zeigt sich darin, 
daß die Diebstähle nahezu die Hälfte aller weiblichen Delikte bilden. 

Die größte Zahl der Verurteilten trifft auf das Alter von 60—65 
Jahren; sie nimmt nur langsam bis zum 75. Jahre ab, von da tritt 
ein starker Abfall ein; die ältesten Verurteilten finden sich aber noch 
im Alter von 80—85 Jahren. Im Vergleiche mit den Sittlichkeits¬ 
delikten ist die Zahl der Nichtvorbestraften eine auffällig geringe — 
34.1 Proz. der Männer, — 55.1 Proz. der Frauen. In den einzelnen 
Altersstufen steigt die Zahl der Nichtvorbestraften bei den Frauen 
schon im Alter von 65—70, bei den Männern erst von 70—75 Jahren, 
und hier viel weniger ausgesprochen, als beim weiblichen Geschlecht. 
An den Delikten selbst ist nichts besonders auffällig. Zu einem Teile 
sind es einfache, ohne besondere Vorbereitung verübte Diebstähle, 
z. B. Wild, Fische, ein Hund, ein Hut, kleinere Geldbeträge aus einem 
verschlossenen Zimmer oder aus einer Tasche, Getreide u. dgl. Zu 
einem Teile sind es schwerere Delikte. Einbrucbsdiebstahl (meist von 
Kriminellen verübt) ist nur mit wenigen Fällen vertreten. 

Mitunter verrieten sich die Täter durch unnütze und übermäßige 
Ausgaben. 

Die Verurteilungen wegen Betrug ergeben hier etwas andere 
Zahlen, als bei der Kriminalstatistik, weil Meineid und falsche 
Zeugenaussage, welche bei dieser unter Betrug einbezogen sind, 
hier abgetrennt sind. 

Betrugsdelikte werden an sich im Greisenalter noch häufig be¬ 
gangen, (52 — 13.2 Proz. aller Delikte). Davon sind 40 Männer 
— 12.1 Proz. aller verurteilten Männer, und 12 Frauen = 19.5 Proz. 
der verurteilten Frauen. Im Verhältnisse zu den Gesamtverurteilungen 
der Frauen ist das Delikt bei diesen also häufiger, als bei den Männern. 

41 Fälle — also die Hauptmenge — fallen auf das Alter 
von 60—70 Jahren. Über 70 Jahre nehmen die Verurteilungen 
rasch ab. 

In der Kriminalstatistik fanden wir wohl eine hohe Zahl der 
Nichtvorbestraften, dagegen keine starke Zunahme derselben gegenüber 


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den übrigen Altersstufen. Hier ist das Verhältnis der Nichtvor¬ 
bestraften nicht so hoch, wie in der Kriminalstatistik. Es sind 62.5 
Prozent der wegen Betrug verurteilten Männer, 41.7 Proz. der Frauen 
nicht vorbestraft Es kommen also bei letzeren im Verhältnisse mehr 
Kriminelle vor, als bei den Männern. 

Außerdem ist aber in unseren Fällen ein starkes Steigen 
der Nichtvorbestraften in den höheren Altersstufen 
deutlich. 

Die Altersstufen unterscheiden sich diesbezüglich sehr stark von 
einander. So sind im Alter von 60—65 Jahren unter 17 Frauen 10 
nichtvorbestraft, von 65—70 Jahren unter 14 Frauen schon 11, von 
70—75 Jahren von 6 sogar 5. 

Die Delikte selbst sind gewöhnlich ganz einfacher Art, beziehen 
sich auf Entlockung von Geld und Waren, Betteln mit gefälschten 
Zeugnissen, Falschspiel, Fundverheimlichung, Fälschung von Arbeits¬ 
büchern, Verrücken von Grenzsteinen und Wahlfälschung. 

Wegen Meineid und falscher Zeugenaussage sind 29 
= 7.4 Proz. der Gesamtsumme verurteilt; davon sind die Hauptzabl 
Männer 24, und nur 5 Frauen. 

Nicht vorbestraft sind 68.9 Proz., also etwas mehr, als bei den 
übrigen Betrugsdelikten, und nimmt die Zahl der Nichtvorbestraften 
in den höheren Altersstufen wiederum stark zu. Aus der Art der 
Delikte läßt sich nicht ersehen, ob Gedächtnisstörungen, oder ge¬ 
steigerte Beeinflußbarkeit eine besondere Rolle spielen. 

Von den übrigen Eigentumsdelikten ist Veruntreuung mit 
wenigen Fällen vertreten, unter welchen die Nichtvorbestraften nicht 
so auffällig hervortreten, wie in der Kriminalstatistik (44.4 Proz.). 
Die Zahlen sind hier wohl zu klein, um daraus Schlüsse zu ziehen. 

Auffällig groß ist dagegen das Verhältnis der Nichtvorbestraften 
bei den Delikten der Krida und ExekutionsVereitlung. 

Bei letzterem ist unter 16 Fällen einer, bei ersterem sind unter 
16 Fällen nur 4 vorbestraft. Unter den Verurteilten über 65 Jahre 
finden sich überhaupt nur Erstbestrafte. 

Wegen Brandstiftung sind 8 verurteilt, (2.4 Proz. aller Ver¬ 
urteilten), und zwar nur Männer. 4 davon, also 50 Proz. sind nicht 
vorbestraft. Darunter befindet sich der älteste aller Verurteilten, ein 
87 jähriger Greis. 

Interessant ist ein Eingehen auf die Motive des Deliktes; es er¬ 
gibt sich dabei, daß 3 Fälle eigentlich noch dem Betrug anzureihen 
sind, da bei ihnen die Brandlegung vorbedacht verübt wurde, um 
die Versicherungssumme zu erlangen. Die übrigen 5 Fälle sind 


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Über das Greisenalter in forensischer Beziehung. 41 

Affektdelikte, bei welchen Aufregung, Zorn und Rache das treibende 
Motiv darstellten. Von diesen ist ein 60jähriger Krimineller, der 
schon vor 10 Jahren einmal eine Brandstiftung verübte. Auffällig 
macht sich ein bedenklicher Mangel an Hemmungen ein Überwiegen 
des Affektes teilweise in Verbindung mit vorgeschrittenen Involutions¬ 
erscheinungen bei den folgenden bemerkbar: 

1. Ein marantischer TOjähriger Einleger, zündete nach voraus¬ 
gegangenem Alkoholgenuß und Streit ein Haus an und wollte sich 
selbst darin verbrennen. — Tod nach 2 Jahren in der Anstalt an 
Marasmus. 

2. Ein 63 jähriger Knecht zündet nach geringfügigem Streite aus 
Rache das Haus an, in dem er durch 30 Jahre bedienstet war. 

3. Eine 64jähriger Einleger, körperlich hochgradig marantisch mit 
stark ausgesprochenen Alterserscheinungen, „aber noch mit Einsicht 
in das Strafbare des Anzündens“ droht in aufgeregtem Zustande mit 
Brandstiftung. 

4. S7jähriger Einleger marantisch, nicht vorbestraft, Anlaß — 
Affekt. 

Der körperliche Verfall zeigt sich auch darin, daß es meist 
Einleger, also schon Arbeitsuntüchtige sind. Das Impulsive, Un¬ 
überlegte, das Mißverhältnis der auslösenden Veranlassung zur 
Schwere des Deliktes, läßt in diesen Fällen wohl zweifellos einen 
Einfluß der psychischen Involution erkennen. Im 1. Falle ist aus 
der Art der Ausführung und dem baldigen Tod an Marasmus der 
Verdacht auf Dementia senilis wohl gerechtfertigt. Die fahrlässige 
Brandstiftung fehlt unter den Fällen. 

Der Nachweis des Einflusses seniler psychischer Minderwertigkeit 
läßt sich auch bei den folgenden Affektdelikten erbringen. 

Wegen öffentlicher Gewalttätigkeit sind verurteilt 32 
= 8.1 Proz., darunter nur 2 Frauen. 23 Fälle betreffen das Alter 
von 60—65 Jahren, die höheren Altersstufen sind nur geringfügig 
beteiligt. Nicht vorbestraft sind 13 Männer = 43.3 Proz., also be¬ 
deutend weniger, als in der Kriminalstatistik. Die Mehrzahl der 
Kriminellen fällt aber in das Alter von 60—65 Jahren, von 65—75 
Jahren sind dagegen die Nicht vor bestraften beträchtlich in der Überzahl. 

Über die Täter und die Ausübung der Delikte, die sich auf 
Verhinderung der Pfändung, Widersetzlichkeit gegen Behörden, An¬ 
griffe auf Wachmänner bei der Verhaftung, Demolierung des Besitzes 
andrer usw., beziehen, liegen ganz lehrreiche Beobachtungen vor. 
Auffälligerweise sind auch bei diesem Delikte eine Reihe von Aus¬ 
züglern und Vaganten, also Leute, die bereits unfähig zu dauernder 


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Beschäftigung geworden sind. Die unmittelbare Veranlassungzum Delikt 
gibt naturgemäß vielfach der Alkohol, in manchen Fällen aber auch die 
schon länger bestehende, reizbare Gemütsart; so werden einige der 
Täter als jähzornig, reizbar, gewalttätige Charaktere, die auch in der 
Haft aggressiv und unverträglich sind (ein 70jähriger Mann!) ge¬ 
schildert. In einem Falle entwickelte sich der Affekt auf Basis einer 
depressiven Verstimmung. Es betraf einen 62 jährigen, gut beleumun¬ 
deten Herrn der gebildeten Stände, der anläßlich einer behördlichen 
Kommissionierung seines Hauses sich ohne sonstigen Anlaß zu groben Be¬ 
schimpfungen hinreißen ließ. Die äußeren Anlässe sind überhaupt 
vielfach geringfügige und in einem Mißverhältnisse zur Reaktion. 
So drohte z. B. ein 71 jähriger Tagelöhner im angeheiterten Zustande 
mit Erschlagen mit der Schaufel und Erstechen, weil ihm der Vor¬ 
wurf gemacht wurde, daß er trinke. — Wir sehen also bei diesem 
Delikte in einer Reihe von Fällen habituelle Zornmütigkeit, eine 
äußerlich veranlaßte Depression, sowie chronischen und Gelegenheits¬ 
alkoholismus die Grundlage bilden, auf welcher vielfach aus kleinlichen 
Anlässen der Konflikt entsteht. 

Ähnlich liegen die Verhältnisse auch beim Delikte des Tot¬ 
schlages, der schweren körperlichen Beschädigung und 
Mord. 

Verurteilt sind 31 = 7.9 Proz. der Gesamtverurteilten, davon 
sind 29 Männer und nur 2 Frauen. Die Frauen treten hier, wie bei 
der öffentlichen Gewalttätigkeit ganz in den Hintergrund. 

Die Delikte vermindern sich allmählich in den höheren Alters¬ 
stufen, die ältesten Verurteilten fallen aber noch in das Alter von 
75—80 Jahren. 

Nichtvorbestraft sind von den 31 Verurteilten 19 = 61.2 Proz., 
wobei aber die Zahl derselben in den höheren Altersklassen — wenn 
auch nicht ganz gleichmäßig — zunimmt 

Die Frauen sind — wie bei der öffentlichen Gewalttätigkeit — 
sämtlich unbestraft 

Von den Delikten sind alle unvorbereitete Gelegenheitsverbrechen, 
— ausgenommen die 2 Fälle von Mord. Breßler bat darauf hin- 
gewiesen, daß bei den zweifelhaften Geisteszuständen inkriminierter 
Greise Mordversuche nicht gerade selten sind, und daß auffallender¬ 
weise die Ehefrau häufig das Opfer bildet Auch in einem unserer 
beiden Fälle bandelt es sich um einen 66jährigen unbestraften Grund¬ 
besitzer, der einen anderen zur Ermordung seiner Gattin anstiftete 
und schon nach einem Jahre an Marasmus starb. Im 2. Falle 
betraf es einen 72 jährigen Greis, der als roher, jähzorniger und gewalt- 


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Über das Greisenalter in forensischer Beziehung. 


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tätiger Charakter geschildert wird, und kaum leserlich schreiben 
konnte. Er beging die Tat aus Haß, vorbereitet, durch Messerstiche. 
Bei den Fällen mit schwerer körperlicher Beschädigung rekrutieren 
sich die Täter vorwiegend aus der ländlichen Bevölkerung, sind 
größtenteils kleine Grundbesitzer, Knechte, einige Bergarbeiter, Wirte 
und Handwerker. 

Nur in 2 Fällen ist angegeben, daß die Tat aus Rache bei Gelegenheit 
eines zufälligen Streites begangen wurde. In der Mehrzahl sind es 
kleinliche Anlässe, Streit, Wortwechsel usw., welche zu oft brutalen 
Gewaltakten führen, die selbst bei Berücksichtigung der Roheit der 
ländlichen Bevölkerung vielfach auf eine excessive Reizbarkeit 
schließen lassen. Es erinnert dies an die Erfahrung, die auch Nötzli 
betont, daß bei beginnender Dementia senilis, noch in den Frühstadien 
eine Neigung zu plötzlich auftretenden impulsiven Gewaltakten be¬ 
steht, die sich bei geringstem Widerspruche äußert. So fügt ein 
75 jähriger Mann gelegentlich eines Wortstreites einem anderen eine 
schwere Verletzung mit einer Sichel zu. — Ein anderer 65 jähriger 
Mann schlägt sofort mit dem Schürhaken los, ein 65jähriger un¬ 
bestrafter Jagdaufseher gibt ohne weiteres mehrere Schüsse auf 
beerensuchende Frauen ab. Ein 62jähriger unbestrafter ehemaliger 
Berufssoldat und Invalide wird aus geringfügigem Anlasse gewalt¬ 
tätig und begeht dabei Majestätsbeleidigung; eine 64jährige Oebstlerin 
überschüttet nach einem Wortwechsel den Gegner mit siedendem 
Wasser; ein 71 jähriger Wirt mißhandelt sein Mündel derart, daß 
der Tod die Folge ist; ein 62jähriger unbestrafter Grundbesitzer gibt 
Schüsse ab, ein anderer 64jähriger Bauer schlägt wiederum bei einem 
Wortwechsel sofort mit dem Dreschflegel auf Leute los, von denen 
er sich frühereinmal beleidigt wähnte. Auch unter den Vorbestraften 
sind dabei nur ganz vereinzelt wirklich Kriminelle, meist sind es 
einmalige geringfügige Delikte, Ehrenbeleidigung, Übertretungen, ver¬ 
einzelt auch körperliche Beschädigung, die auf ein schon früher vor¬ 
handenes, reizbares Temperament schließen lassen. 

Einigemale ist auch über Angetrunkensein berichtet und darf 
wohl auch in den Fällen, wo das Delikt bei Wirtsbausstreitereien 
verübt wurde, eine Mitwirkung des Alkohols vermutet werden. 

In einer Reihe von Fällen wird aber außerdem Uber auffällige 
körperliche nnd seelische Erscheinungen berichtet, die auf eine aus¬ 
gesprochene senile Involution schließen lassen, einige Fälle lassen 
sogar den Verdacht auf eine pathologische Geistesverfassung ge¬ 
rechtfertigt erscheinen. 

So wurde bei einem 60 jährigen unbestraften Grundbesitzer, der 


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mit einer Hacke auf seine Umgebung ohne begründete Ursache los¬ 
ging, festgestellt, daß er an Beeinträchtigungsideen litt 

Ein 61 jähriger unbestrafter Grundbesitzer war schon länger 
jähzornig und erregbar, ging bei einer geringfügigen Differenz mit 
seiner Frau auf diese mit dem Messer los und legte das Gewehr 
auf sie an. 

Ein 69jähriger unbestrafter Grundbesitzer galt als jähzornig, rob, 
gewalttätig, „wisse in der Wut nicht was er tue“. Er war geizig, 
mißtrauisch, lebte darum mit seiner Frau in beständigem Streite, hatte 
die fixe Idee, von ihr bestohlen zu werden und bedrohte sie am Leben. 

Ein 64jähriger unbestrafter Knecht wird als kränklich und ge¬ 
brechlich geschildert. 

Bei einem 65jährigen unbestraften Mann, der guten Leumund 
genoß und für den sich die ganze Gemeinde einsetzte, bestand eine 
Lungenerkrankung. Er ließ sich bei einem Streite zu Gewalttätigkeit 
gegen seine notorisch zanksüchtige Frau hinreißen. Es ist bekannt, 
daß körperliche Erkrankungen an sich die psychische Widerstands¬ 
fähigkeit schwächen können, besonders aber wenn die Disposition 
dazu aus anderen Ursachen schon vorhanden ist. Hier entstehen die 
Affekte sodann auf einem doppelt vorbereiteten Boden und erlangen 
dadurch eine über das Normale hinausgehende Intensität. 

Frühzeitiges Auftreten von marantischen Erscheinungen, schwä¬ 
chenden Einfluß des Alkohols, von körperlicher Erkrankung treffen 
wir also auch bei diesem Delikte in einer Reihe von Fällen; speziell 
sei hier auf das vorwiegende Auftreten von schweren Involutions¬ 
erscheinungen im Alter von 60—70 Jahren hingewiesen. Die Wahr¬ 
scheinlichkeit, daß dieselben eine Dementia senilis einleiten, wird da¬ 
durch nicht widerlegt. B r e ß 1 e r hat speziell hervorgehoben, daß 
die Dem. senil, vorwiegend in den 60er Jahren eintritt, also nicht 
die ausschließliche Folge hohen Alters ist. 

Unter den wegen Majestätsbeleidigung Verurteilten 
sind der größte Ted vorbestraft und sind auch darunter keine Frauen. 
Meist ist das Delikt in angetrunkenem Zustande, im Gasthause bei 
einer Verhaftung, begangen worden, und befinden sich unter den Ver¬ 
urteilten vorwiegend Kriminelle, wiederholt straffällig Gewordene. 

Wegen Verleumdung sind nur Männer verurteilt. 

Ein häufigeres Delikt ist wieder das Vergehen gegen die 
Sicherheit des Lebens, das vielfach auf Fahrlässigkeit, die ja in den 
senilen Geisteseigenschaften ihre Begründung finden kann, beruht. 
Bestraft sind 13 Männer und 5 Frauen, also 18 im ganzen == 4.6 
Proz. aller Delikte. 


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Über das Greisenalter in forensischer Beziehung. 45 

Die älteste Verurteilte befindet sich schon im Alter von 80—85 
Jahren. 

Die vor dem Senium nicht Vorbestraften befinden sich hier weit¬ 
aus in der Überzahl — 15 = 83.3 Proz. — und nähert sieb die Pro¬ 
zentzahl somit der bei den Sittlichkeitsdelikten. Auch im Alter von 
60—65 Jahren sind nur 2 schon früher Bestrafte. 

Die Delikte beziehen sich auf Verkauf verdorbener Lebensmittel, 
Außerachtlassung von Sicherheitsvorkehrungen, die Beschädigungen 
zur Folge hatten, z. B. schlechte Verwahrung von Hunden, Unbe¬ 
aufsichtigtlassen von Kindern. 

Nur von Männern verübt ist das Delikt der Vorschub¬ 
leistung zur Desertion: beide Verurteilte sind unbestraft. 

Interessant ist, daß sich unter der relativ nicht großen Zahl der 
Verurteilten 3 Fälle von Bigamie im Alter von 60—75 Jahren 
befinden. Sämtliche sind nicht vorbestraft. In einer gewissen Pa¬ 
rallele steht damit, daß B r e ß 1 e r in seiner Statistik bei vorschrifts¬ 
widriger Eheschließung die Zahl der Verurteilten im 7. Jabrzent 
noch einmal zunebmen sah. 

Unsere Statistik steht somit in den wesentlichen Punkten in 
guter Übereinstimmung mit den Ergebnissen der Kriminalstatistik. 

Sie zeigt dieselben Verhältnisse bezüglich der Häufigkeit der Sitt¬ 
lichkeitsdelikte, der Eigentums- und Affektverbrechen. Die Unter¬ 
schiede hinsichtlich der Zahl der Nichtvorbestraften, die bei einzelnen 
Delikten bestehen, verlieren wohl in Hinsicht auf die beträchtlich 
kleineren Zahlen, mit denen hier zu rechnen ist, an Bedeutung. 
Ergänzend hat sich aber ergeben, daß in der Regel die Zahl der 
Nichtvorbestraften in den fortschreitenden Alterstufen zunehmend steigt 
Bei der individuellen Betrachtung der Delikte und der Täter ergibt 
sich ferner besonders bei Affektverbrechen ein Mißverhältnis zwischen 
Anlaß und Stärke der Reaktion. Bei einer Reihe von Delikten spielt 
Alkoholgenuß und vielfach verminderte Toleranz gegen denselben, 
eine Rolle. Wichtig ist ferner, daß besonders bei Sittlichkeita- und 
Affektdelikten sich in einem Teile ein vorzeitiger körperlicher und 
psychischer Marasmus offenkundig machte und daß in einigen Fällen 
aus gewissen Erscheinungen, respektive aus dem späteren Verlaufe 
das V orhandensein einer pathologischen senilen Degeneration zur Zeit 
der Tat als wahrscheinlich anzunebmen ist. 

III. 

„Man sollte meinen“ — so äußert sich ein Autor (Feisen- 
berger) — „ein langes Leben, in dem ein normaler Mensch in 


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seinem Daseinskämpfe vielfache Erfahrungen gesammelt hat, in dem 
sein Blick weiter und seine Urteilsfähigkeit schärfer geworden ist, sei 
kein Grund, um eine strafbare Handlang in einem milderen Lichte 
erscheinen zu lassen.“ 

Daß diese theoretische Überlegung a limine abzuweisen ist, 
wurde schon auf dem Budapester Kongresse der internationalen 
Kriminal-Vereinigung in der schärfsten Weise betont; auch die 
vorliegenden Erhebungen ergeben wohl zweifellos eine Reihe gewich¬ 
tiger Momente zugunsten der von namhaften Autoren (Le pp man, 
Breßler, Salgo, Aschaffenburg, Nicoladoni) vertretenen An¬ 
nahme, daß die im Greisenalter eintretende psychische Umgestaltung, 
also innere, im Seelenzustande selbst gelegene Ursachen bei der Kri¬ 
minalität der Involutionszeit eine erhebliche Rolle spielen und dem 
Einflüße abgeklärter Lebenserfahrungen entgegenwirken. Die Delikte 
tragen nicht etwa ausschließlich das Gepräge des Greisenhaften in 
dem Sinne an sich, daß Mangel der körperlichen Rüstigkeit, veränderte 
Bedürfnisse, verminderte Initiative und Abnahme der geistigen Spann¬ 
kraft die kriminellen Äußerungen gegenüber dem rüstigen Alter ver¬ 
ändern. Wir haben es bei den Senilen nicht einfach mit Kriminellen 
zu tun, welche in Rücksicht auf ihre körperlich und seelisch ver¬ 
minderte Leistungsfähigkeit nur mit andern Mitteln arbeiten und 
deshalb auch in der Wahl der ihnen möglichen Delikte etwas be¬ 
schränkt sind, im übrigen aber nach denselben Motiven handeln, wie 
im rüstigen Alter, für welches der Gesetzgeber die Freiheit der Ent¬ 
schließung voraussetzt. 

Wir treffen in dieser Lebensphase zum Teil auch neue, eigenartige 
Verhältnisse. In erster Linie findet die Tatsache der ausgesprochenen 
Zunahme der Nichtvorbestraften im Greisenalter im allgemeinen und 
in den aufsteigenden Altersstufen desselben speziell Beachtung. Es 
steht mit der Annahme von der Bedeutung der im höheren Alter 
vorauszusetzenden Lebensklugheit in einem unlösbaren Widerspruche, 
daß der größere Teil der Verurteilten Leute sind, die ein ganzes 
Leben ohne kriminelle Neigungen hinter sich haben. Daß nicht die 
mit der verminderten Arbeitskraft sich steigernde Not und Armut die 
Ursache dieser Erscheinungen ist, wie Feisenberger meint, erweißt 
sich daraus, daß gerade die Diebstahls- und Betrugsdelikte im Ver¬ 
hältnisse zu den früheren Lebensaltern auffällig stark abnehmen, daß 
bei diesen Delikten die Zahl der Nichtvorbestraften am geringsten 
zunimmt und daß, wie wir sehen konnten, unter unseren Fällen zum 
größeren Teile selbstständige Besitzer oder schon in ständiger Armen¬ 
versorgung Stehende sich befinden. Hinsichtlich dieser Tatsache er- 


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Über das Greisenalter in forensischer Beziehung. 


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gibt sich wohl nnr der eine Schluß, daß sich mit der Involution 
eine seelische Umwandlung vollzieht, bei welcher die bisher das 
Handeln bestimmenden Motive an Wertigkeit eine stetig zunehmende 
Einbuße erleiden und die Beherrschung antisozialer Regungen — im 
Gegensatz zu früher — erschwert wird. Es kommt auf endogenem 
Wege zu einer verminderten moralischen Widerstandskraft, die Nico- 
ladoni wohl zutreffend darauf zurückführt, daß das Greisenalter die 
Kraft der primären Motive verstärkt, die Kraft der sekundären Motive 
dagegen schwächt. 

In zweiter Linie sind es die Sittlichkeitsdelikte, die nicht nur 
durch ihre Häufigkeit, sondern durch ihre Art einen für das Greisen¬ 
alter geradezu spezifischen Charakter an sich tragen, wobei noch zu 
beachten ist, daß dieselben vielfach von körperlich dekrepiden Greisen 
begangen werden, also direkt in einem Gegensätze zum Allgemein¬ 
zustande des Täters stehen. Nach „theoretischen* 1 Voraussetzungen 
würde man im Greisenalter gerade eine starke Abnahme dieser De¬ 
likte erwarten müssen. Diese Voraussetzungen versagen auch hier 
wieder vor der Wirklichkeit, weil eben — wie früher auseinander¬ 
gesetzt — tiefgreifende Veränderungen der somatischen und psychischen 
Sexualspbäre das Triebleben in neue Bahnen lenken. 

Weiter lassen gerade die Delikte, welche verhältnismäßig eine 
geringere Abnahme im Greisenalter zeigen, eine nahe Beziehung zum 
eigenartigen Geisteszustände des Seniums erkennen. Als relativ 
häufigste Delikte fanden wir (außer den Sittlichkeitsdelikten) in Über¬ 
einstimmung mit den Autoren Brandstiftungen, Majestätsbeleidigungen, 
Vergehen gegen die Sicherheit des Eigentums, Betrugsdelikte und 
öffentliche Gewalttätigkeit. 

Es ist einerseits die leichte und weniger hemmbare Affekterregbar¬ 
keit der Greise, andererseits sind es Abnahme der geistigen Regsam¬ 
keit, Gedächtnisstörungen und erhöhte psychische Beeinflußbarkeit, 
sowie Erschwerung der komplizierteren Urteilsleistungen, welche in 
diesen Delikten zum Ausdrucke kommen 1 ). 

Abgesehen von diesen rein statistischen Ergebnissen macht sich 
auch bei der individuellen Betrachtung der einzelnen Fälle der Einfluß 
bestimmter Minderwertigkeitseigenschaften des Alters bei allen Arten 


1) Gerade hinsichtlich der Häufigkeit der Brandstiftungen im Greisenalter 
ist es interessant, das Aschaffenburg unter den Brandstiftern überhaupt so¬ 
viel 8chwacb-sinnige traf, daß er es für eine genauere Untersuchung wert hält, 
ob dieser Delikt auch bei vollständig normalem Gehirne vorkommt — Er ver¬ 
weist auch auf die Beziehungen zwischen Epilepsie, Brandstiftung, Grausam¬ 
keit und sexueller Erregung. 


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von Delikten relativ häufig geltend. — Eine, besonders bei Affekt- 
verbrecben häufige Rolle spielt offenbar die verminderte Toleranz 
gegen Alkohol, überhaupt die allgemein verminderte psychische Wider¬ 
standsfähigkeit, infolge welcher Schädlichkeiten wie depressive Affekte, 
körperliche Erkrankungen das Seelenleben derart beeinflussen, daß 
anf geringfügige äußere Anlässe hin Affekterregungen ablaufen, welche 
unverkennbar den Hemmungen der normalen Seelentätigkeit mehr 
weniger entrückt sind. — Man begegnet deshalb sehr häufig einem 
Mißverhältnisse zwischen Reiz und Reaktion, das mir gerade für die 
senilen Affektdelikte bis zu einem gewissen Grade charakteristisch 
zu sein scheint. — Die übermäßige Reaktion bezieht sich dabei nicht 
nur auf den unvermittelten Ausbruch und die Intensität der Erregung, 
sondern auch auf das Maßlose in der Wahl der Mittel. — In einer 
relativ beträchtlichen Anzahl von Fällen läßt sich schließlich eine 
Schwäche der Gehirnleistungen direkt aus dem frühzeitigen Auf¬ 
treten ausgesprochener körperlicher und seelischer Involutionser¬ 
scheinungen erschließen. — Dabei läßt sich, wie wir gesehen haben, 
die Grenze gegen das Krankhafte nicht überall mit Sicherheit ab¬ 
stecken. — 

Nach dieser Feststellung, daß beim Greisen infolge der veränderten 
seelischen Konstitution, die verschiedensten Anlässe imstande sind, 
kriminelle Reaktionen auszulösen, zu deren Hemmung die Einsicht in 
das Strafbare, die Summe der bisher erworbenen Lebenserfahrungen 
nicht mehr ausreicht, daß also der Greis aus endogenen Ursachen in 
größerer Gefahr steht, die soziale Anpassungsfähigkeit* zu verlieren, 
erhebt sich die praktisch wichtige Frage, welche Konsequenzen 
in foro sich daraus ergeben, ob die Rechtspflege, dieser noch 
nicht direkt krankhaft zu nennenden Änderung der geistigen Verfassung 
der Greise Rechnung tragen soll oder nicht 

Tatsächlich hat, wie in den Zusammenstellungen von Nicoladoni, 
Bressler, Leppmann entnommen werden kann, in einigen Gesetz¬ 
büchern das Greisenalter eine besondere Berücksichtigung gefunden, 
und wird je nach dem Grade der Altersschwäche als strafausschließendes 
oder — milderndes Moment ausgeführt — Sehr dezidiert bat sich 
Nicoladoni in seinem Referate für eine besondere kriminalistische 
Behandlung des Greisenalters ausgesprochen; er verlangt daß bei allen 
verbrecherischen Handlungen von Greisen zu prüfen ist, ob die beim 
normalen Menschen vorauszusetzende Urteilskraft oder Willensbestimm¬ 
barkeit aufgehoben, vermindert, oder ungeschmälert ist. — Im zweiten 
Falle bestehe verminderte Zurechnungsfähigkeit, im dritten Falle habe 
das Greisenalter als Milderungsgrund zu gelten. — 


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Über das Greisenalter in forensischer Beziehung. 


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B r e s s 1 e r, der die großen Verschiedenheiten hinsichtlich des 
Eintritts der degenerativen Alterserscheinungen im Auge behält, geht 
auf die Frage über eine generelle Berücksichtigung des Greisenalters 
in foro nicht ein. — Er legt das Hauptgewicht auf die Schwierigkeit 
der Unterscheidung von Normalem und Abnormalem, plädiert des¬ 
halb, „von mildernden Umständen, oder vielmehr mildernden Zuständen 
und vom § 51 d. R. St G. freigebiger Gebrauch zu machen, als bei 
Personen der anderen Lebensalter. — Er regt auch schon die Frage 
der bedingten Verurteilung resp. des Strafaufschubes an. — 

Gegen eine generelle Sonderstellung des Alters spricht sich auch 
Saig 6 aus, obwohl auch er hervorhebt, daß die Unterscheidung von 
ausgesprochener Krankheit nicht immer leicht ist, zweifelhafte Zu¬ 
stände sogar häufig sind. — Nach ihm gebührt nicht dem Alter als 
solchen eine Sonderstellung, wohl aber den Menschen in vorgerücktem 
Alter, wenn sich bei ihnen die psychischen Merkmale der Involution 
oder direkt krankhafte Züge nachweisen lassen. — 

Auch Achaffenburg neigt — trotz seiner wichtigen Befunde 
bei senilen Sittlichkeitsverbrechern — mehr einer individuellen Be¬ 
rücksichtigung zu, verlangt in jedem Falle von Sittlichkeitsdelikt eine 
Untersuchung des Geisteszustandes, evtl, die bedingte Verurteilung. 
Am ausführlichsten hat sich Leppman über diese Frage geäußert 
Von ihm stammt die Resolution der internationalen K. V., welche be¬ 
sagt, daß diejenigen Zustände geistiger Veränderung, welche durch 
das Greisenalter häufig geschaffen werden, einer besonderen recht¬ 
lichen Behandlung bedürfen. Es handelt sich nach seiner Ansicht um 
eine Minderung der freien Willensbestimmung, für welche er 1900 
die bedingte Begnadigung oder bedingte Strafentiassung zur Diskussion 
brachte. In der letzten Arbeit 1909 betont er neuerdings, daß die 
meisten Delikte der nicht ausgesprochen irrsinnigen Greise ihre natür¬ 
liche Erklärung in den beginnenden geistigen Mängeln, in den Minder¬ 
wertigkeitseigenschaften, finden. Er lehnt es aber derzeit noch ab, 
bestimmte Forderungen über die Art der Sonderstellung aufzustellen, 
welche die geistige und körperliche Gebrechlichkeit des Greisenalters 
erheischt Er regt aber außer der bedingten Begnadigung an, daß 
jeder erstmalig unter Anklage stehende Greis im Alter von 70 Jahren 
und darüber, gerichtsärztlich auf den Geisteszustand untersucht werde, 
auch wenn kein besonderer Grund dazu vorliegt. 

Abgesehen von Feisenberger, dessen Anschauungen keine 
weitere Berücksichtigung erheischen, sind somit alle Autoren im Prin- 
zipe einig; Meinungsverschiedenheiten bestehen nur darüber, ob das 
Alter als solches eine besondere Berücksichtigung erfordert, oder ob 

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eine solche nur unter bestimmten Bedingungen gewährt werden kann 
die in jedem einzelnen Falle erst festgestellt werden müssen. Be¬ 
stimmend für die letztere Forderung ist die Anschauung, daß nicht 
jeder Greis der psychischen Degeneration verfällt, und daß durch 
eine Verallgemeinerung von Maßnahmen auch solche, denen ein 
Schutz nicht gebührt, daraus Gewinn ziehen würden, ln diesem Punkte 
muß jedoch festgestellt werden, daß wohl kein Greis den Involutions¬ 
vorgängen ganz entgeht, und daß es sich hier nur um ein weniger 
oder mehr bandeln kann. Sind aber Veränderungen vorhanden, so 
läßt sich auch bei anscheinend intakten Fällen ihr Einfluß nicht ohne 
weiteres ablehnen. Die Frage ist aber, ob dieser auch dann ein der¬ 
artiger ist, daß er praktisch irgendwie in Rechnung gezogen werden 
soll. Bei Beurteilung dieser Verhältnisse fehlt uns ein verwendbarer 
Maßstab. 

Wenn wir weiter berücksichtigen, daß die bisherigen Erhebungen 
nicht bei allen Delikten mit gleicher Sicherheit den Einfluß der 
Minderwertigkeitseigenschaften des Alters erkennen ließen, wie z. B. 
bei den Diebtsahlsdelikten, so kann der Forderung nach einer indi¬ 
vidualisierenden Beurteilung des einzelnen Falles eine Berechtigung 
nicht abgesprochen werden. Trotzdem glaube ich nicht, daß man auf 
Grund der bisherigen Ergebnisse, derselben in ihrer Gänze beipflichten 
darf, sondern daß eine Einschränkung notwendig ist. EineDelikts- 
art ist als solche, an sich, für das der Involution ver¬ 
fallene Greisenalter charakteristisch, so daß derselben 
ohne weiteres grundsätzlich eine Ausnahmestellung 
einzuräumen ist; es sind dies die an Kindern und Jugend¬ 
lichen verübten Sittlichkeitsdelikte der Greise. Diese 
Delikte sind das Ergebnis einer endogen bedingten, eigenartigen Per¬ 
version des Geschlechtstriebes, die auf eingreifendere Involutions¬ 
vorgänge schließen läßt und tatsächlich in der großen Zahl der 
Fälle die Einleitung einer pathologischen Degeneration, der Dementia 
senilis, bildet Bei diesen Delikten ist ohne weiteres, auch bei er¬ 
haltener Einsicht und Intelligenz, im Sinne unserer früheren Aus¬ 
führungen der Einfluß des Alters bedeutungsvoll und zu berück¬ 
sichtigen. Hier liegt schon eine an der Grenze des Psychopathischen 
stehende Minderwertigkeit vor, durch welche das Handeln wesentlich 
mitbestimmt wird; für eine sicherlich beträchtliche Minderung der 
„freien Willensbestimmung“ spricht auch die relative Häufigkeit, der 
trotz Bestrafung erfolgenden Wiederholung der Delikte. 

Es würde der Eigenart und Bedeutung der diesen Delikten zu¬ 
grunde liegenden geistigen Veränderung nicht voll entsprechen, würde 


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Über das Greisenalter in forensischer Beziehung. 


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man das Greisenalter dabei nur als Milderungsgrund gelten lassen. 
Bei diesen zwischen geistiger Gesundheit und ausgesprochener 
Geistesstörung eine Mittelstellung einnehmenden Zuständen trifft wohl 
die Annahme einer verminderten Zurechnungsfähigkeit zu, und ist 
dies in foro zu berücksichtigen. 

Wir kommen somit zu der Forderung, daß für diese Sittlich¬ 
keitsdelikte generell der Einfluß des Alters anerkannt 
werden soll, ohne daß die Zuerkennung eines Schutzes von der 
individuellen Betrachtung des einzelnen Falles abhängig gemacht 
werden soll. 

Dieses ist bei Senilen der einzige Fall, daß die Deliktsart als 
solche die Geistesveränderung verrät 

Die übrigen Delikte gestatten einen derartigen Schluß nicht ohne 
weiteres, und ist man daher bei diesen auf die Art der Ausführung, 
Motivierung, kurz auf die individualisierende Betrachtung angewiesen. — 
Auch aus dieser ergeben sich für die Beurteilung wichtige Gesichts¬ 
punkte für die strafrechtliche Berücksichtigung des Greisenalters. — 

In erster Linie ist hier auf die Bedeutung von nachweisbaren 
psychischen und körperlichen Involutionserscbeinungen hinzuweisen. 
Sind solche deutlich ausgeprägt, so haben wir wohl ein Recht, — auch 
bei Fehlen eines Intelligenzdefektes — einen Einfluß des Alters auf 
die I>ebensbetätigungen des Greises anzunehmen, und diesen bei der 
Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit in Rechnung zu ziehen. — Es 
ist dabei besonders zu betonen, daß es nicht ausschließlich auf das 
Hervortreten der psychischen Erscheinungen ankommt, sondern daß 
die Zeichen des beginnenden körperlichen Marasmus denselben Wert 
haben, da sie ein Indikator für die allgemeine Involution, auch die 
des Gehirnes sind. 

Diese Involutionserscbeinungen sind ein äußerer Ausdruck für 
die Minderwertigkeitseigenscbaften des Alters und geben uns — was 
besonders wichtig erscheint — die Möglichkeit an die Hand, von 
einer — wie alle Autoren einstimmig zugeben — zeitlichen Ab¬ 
grenzung des Greisenalters gegen das rüstige Mannesalter, abzu¬ 
sehen. — Eine gesetzliche Festlegung der Grenze, in welcher das 
Greisenalter beginnt, würde auf große Schwierigkeiten stoßen und den 
tatsächlichen Verhältnissen niemals gerecht werden. — Bei einer Ab¬ 
grenzung z. B. mit dem 65. Jahre müßten alle jene Fälle mit Senium 
praecox im Alter von 60—65 Jahren und selbst noch früher unbe¬ 
rücksichtigt bleiben, die gar nicht so selten sind, und auf Basis 
hereditärer Belastung, von Konstitutionserkrankungen und chronischen 
Intoxikationen nicht gerade selten sind. — Gerade in diesem früh- 

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zeitigen Senium, das wegen der Intensität der Involutionserscheinungen 
als praecox bezeichnet wird, sind diese oft hochgradiger, als in weit 
vorgeschritteneren Jahren und rekrutiert sich aus diesen ein nicht 
kleiner Teil der späteren Dem. senilis. — Nehmen wir dagegen die 
körperlichen und psychischen Zeichen der Involution als Maßstab der 
Greisenalters, so werden wir sicher alle Fälle einbeziehen, welche eine 
Berücksichtigung verdienen; und es wird sich auch eine Überein¬ 
stimmung mit unseren statistischen Erhebungen ergeben, daß in den 
Übergangsjahren nur ein Teil der Fälle dem Greisenalter zuzurechnen ist 

und daß in den aufsteigenden Altersstufen immer mehr des Schutzes 

• • 

des Alters teilhaftig werden. Uber 70 Jahre wird wohl kaum noch 
ein auszuscheidender Fall sein; es wird so praktisch dasselbe erreicht, 
was bei einer generellen Einschätzung des Alters Uber 70 Jahre als 
Milderungsgrund erstrebt ist, hat aber den großen Vorteil, daß auch 
das Greisentum der früheren Jahre von der Wohltat nicht ausge¬ 
schlossen ist. — 

Es wird wohl von der Intensität der Involutionserscheinungen 
abhängig zu machen sein, ob man das Greisenalter einfach als Mil¬ 
derungsgrund in Betracht zieht, oder ob verminderte Zurechnungs¬ 
fähigkeit in Rechnung gezogen wird. Letzteres wird, abgesehen von 
den Fällen mit schwererem Marasmus wohl auch in jenen der Fall 
sein müssen, in welchen gleichzeitig noch andere Schädlichkeiten, wie 
deprimierende Affekte, Alkoholgenuß, körperliche Erkrankungen, welche 
eine weitere Schwächung der psychischen Widerstandsfähigkeit im 
Gehirne zur Folge haben, zur Einwirkung gekommen sind. 

Neben den Involutionserscheinungen sind natürlich die auch schon 
früher besprochenen Momente bei Ausführung der Delikte und ihr 
Verhältnis zu äußeren Anlässen zu beachten; aus diesen Momenten 
ergeben sich ja oft auch wichtige Hinweise auf das Bestehen seniler 
Geistesveränderungen und Einblicke in dem Alter entsprechende Reak¬ 
tionsweisen. 

Aus der vorliegenden Darstellung ergibt sich die Stellung, welche 
wir zu der im Vorentwurfe zu einem Österreich. Strafgesetzbuche vor¬ 
gesehenen Berücksichtigung des Alters einnehmen. Der fortschrittlich 
gedachte Entwurf, in welchem die Notwendigkeit betont ist, außer 
der Beschaffenheit der Tat auch die persönlichen und wirtschaftlichen 
Verhältnisse des Täters zu berücksichtigen, führt unter den mildernden 
Umständen das Alter zwischen 18 und 20 Jahren, sowie das Greisen¬ 
alter an. Bei Vorhandensein mildernder Umstände darf unter das 
Mindestmaß der Strafart nicht herabgegangen werden. 

Diese Berücksichtigung des Greisenalters ist an sich auf das 


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Über das Greiscnalter in forensischer Beziehung. 53 

freudigste zu begrüßen. — Es muß auch als zweckmäßig anerkannt 
werden, daß von einer zeitlichen Abgrenzung dieser Epoche abgesehen 
ist; wünschenswert wäre daher nur, daß zum Ausdrucke gebracht 
wäre, nach welchen Gesichtspunkten die Einreihung in das Greisen- 
alter zu erfolgen hat. — 

Die Momente, welche gegen eine allgemeine Berücksichtigung 
des Greisenalters einfach als Milderungsgrund sprechen, gehen aus 
unseren früheren Darlegungen hervor, welche zu dem Ergebnisse 
führten, daß es noch im Rahmen der nicht pathologischen Benilen 
Degeneration zu psychischen Veränderungen verschiedener Intensität 
kommt, daß es dabei zur Entwickelung dauernder oder vorüber* 
gehender seelischer Zustände kommt, bei welchen „die Herabsetzung 
oder Schwäche der Fähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen oder 
den Willen dieser Einsicht gemäß zu bestimmen“, größer ist, als beim 
Durchschnitte der senilen psychischen Involution. — 

Die Möglichkeit, das Greisenalter generell als mildernden Um¬ 
stand gelten zu lassen, konnte aber außerdem den Übelstand zeitigen, 
daß die Senilen überhaupt weniger einer Sachverständigenuntersuchung 
zugeführt werden, und dadurch jene Fälle beginnender pathologischer 
Degeneration, die schon zur Zeit der Untersuchung diagnostizier bar 
sind oder bei denen der Anspruch einer Erkrankung wenigstens wahr¬ 
scheinlich ist, nicht die ihnen gebührende Beurteilung finden. — 

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Beurteilung spiritistischer Medien. 

Von 

Dr. Freihemi v. Sohrenok-Notzing, München. 


I. Der Prozeß der Bombastuswerke. 

A) Anklageschrift der Kgl. Staatsanwaltschaft in Dresden gegen den Fabrik¬ 
besitzer Adolf Bergmann. 

B) Beweisaufnahme. 

C) Gutachten des Verfassers über den Geisteszustand des Fabrikbesitzers 
A. Bergmann. 

1. Ergebnis der Untersuchung. 

2. Die mediumistische Tätigkeit B.’s. 

3. Die Frage der Zurechnungsfähigkeit. 

D) Urteil. 

El Kritisches zum Prozeß der Bombastuswerke. 

II. Einiges über Geistesstörung und Spiritismus. 

III. Zur Psychologie des mentalen Mediumismus. 

IV. Beiträge aus der forensen Kasuistik. 

V. Schluß. 


Vorbemerkung. 

Der Begriff „spiritistische Medien“ ist in nachfolgender Arbeit 
nur auf diejenige Klasse solcher Agenten bezogen, welche die angeb¬ 
lichen Kundgebungen der Geisterwelt psychisch vermitteln durch 
Psychographien, Trancereden, automatisches Schreiben usw. Die so¬ 
genannten physikalischen Manifestationen (die telekinetischen und 
teleplastischen Phänomene, wie Fernwirkung auf leblose Gegenstände, 
Apporte, direkte Schrift, Materialisation usw.) dienen im Sinne der 
spiritistischen Auffassung hauptsächlich dazu, die Tatsächlichkeit 
der Geisterwelt zu demonstrieren, ohne aber den Inhalt der 
Gedankenwelt dieser angeblichen Geister den Sterblichen zu offen¬ 
baren. Sie stellen ein besonderes, allerdings auch forensisch inter¬ 
essantes in sich abgeschlossenes Gebiet dar, dessen Behandlung 


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von der Psychoanalyse der Medien weit ab in die Erörterung 
der Taschenspielerei, spezieller Formen des Betruges und auch 
der Physik führen würde. Der Status psychicus der Medien für 
intellektuelle und physische Phänomene ist in allen Fällen der 
gleiche, höchstens mit dem Unterschiede, daß der präparierte bewußte 
Betrug bei den materiellen Manifestationen eine noch größere Rolle spielt 
Das physikalische Phänomen bedeutet also nur einen Spezialfall der 
Mediumschaft und wurde aus Gründen der Kürze und Klarheit in 
dieser mehr dem psychischen Zustand der Medien gewidmeten Arbeit 
nicht mit berücksichtigt. 

I. Der Prozeß der Bombastuswerke. 

A) Anklageschrift 

der Staatsanwaltschaft beim Königlichen Landgerichte zu Dresden 
gegen den am 26. April 1861 zu Potschappel geborenen, unbe¬ 
straften, in Potschappel wohnhaften früheren Inhaber der Bombastus¬ 
werke Potschappel-Dresden. 

Emil Adolf Bergmann wegen Betrugs und einfachen 
Bankrotts. 

Die auf den Antrag Bl. 11 d. A. gegen den Angeschuldigten ge¬ 
führte Voruntersuchung hat im wesentlichen folgendes ergeben: 

I. 

Bergmann hat von 1875 bis 1878 das Fletscherche Seminar 
in Dresden besucht. Nachdem er dann von 1881/82 in Potschappel 
die Porzellanmalerei erlernt und etwa ein Jahr lang praktisch ge¬ 
arbeitet batte, bezog er die Berliner Kunstakademie. Hiernach arbeitete 
er, etwa bis 1886, in der Porzellanfabrik von Lehnert & Balke in 
Stein-Schönau in Böhmen und später in einer Fabrik in Heida als 
Glasmaler. Er batte sich inzwischen auch verheiratet, indessen war 
seine Frau nach kurzer Ehe gestorben. Bis September 18S8 war der 
Angeschuldigte in Brüssel bei der Firma Gyard & Hagemeyer 
tätig und verzog dann, nachdem er sich zum zweiten Male verheiratet 
batte, nach Hohnstein bei Teplitz, wo er etwa ein Jahr lang in der 
Majolikafabrik von G. Bloch Beschäftigung fand. Von Hohnstein 
wendete sich Bergmann nach Wien, kehrte aber nach kurzer Zeit 
nach Potschappel zurück. Hier arbeitete er etwa fünf Jahre lang für 
Dresdener Firmen der Porzellanbranche und wendete sich dann der 
Miniaturmalerei zu. 

Durch Bücher und Schriften, die in seine Hände gefallen waren, 
hatte der Angeschuldigte den Spiritismus kennen gelernt. Er bandelte 


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nach der in jenen Büchern enthaltenen Anweisung, namentlich zur 
Erlangung der sogen. Konzentrationsfähigkeit, und übte zunächst allein 
das automatische Schreiben. Während er zuerst nur flüchtige Linien 
auf das Papier brachte, will er durch dauernde Übung die Fertigkeit 
erlangt haben, deutliche Schriftzeichen und Sätze zu schreiben. 

Im Jahre 1898 begannen er und sein Freund Max D., die sich 
schon früher immer über Spiritismus unterhalten hatten, spiritistische 
Sitzungen abzuhalten und allmählich sammelten sich um Bergmann 
eine ganze Anzahl Anhänger. Jeder neu Hinzutretende wurde zu¬ 
nächst in den „Äußeren Kreis* 1 aufgenommen. Nachdem er hier mit 
dem Spiritismus und den Äußerungen der Geister vertraut gemacht 
worden war und sich bewährt hatte, wurde er in den „Inneren Kreis" 
aufgenommen, andernfalls als nicht geeignet fallen gelassen. Im 
inneren Kreise fanden dann die Sitzungen statt, in denen Bergmann 
als Medium auftrat und als solches die Kundgebungen der sich durch 
ihn angeblich offenbarenden Geister den Gläubigen enthüllte. Der 
Führer des spiritistischen Bundes war angeblich der „Weiße Schwan u , 
der sich auch als „Martin Luther“, und zuletzt als „Erzengel 
Sonsoja“ manifestierte, wie der Angescbuldigte angibt. Auf eine 
Kundgebung des „Weißen Schwans“ hin (9. Juni 1906), wurde dann 
der Bund in einen Zirkel „Weißer Schwan“ und in einen „Bund der 
Freunde“ erweitert. Während sonst die Sitzungen häufig, meistens 
aller 14 Tage stattfanden, ordnete diese Kundgebung, die auch sonst 
die eingehendsten Vorschriften über Tagung, Abstimmung usw. dieser 
Zirkel enthält, sich also als ein regelrechtes Statut darstellt, an, daß 
der „Bund der Freunde“, von besonderen außerordentlichen Zu¬ 
sammenberufungen abgesehen, nur viermal jährlich Sitzungen ab¬ 
halten solle. 

In allen Fällen war der Angeschuldigte der „irdische Führer“ 
und Leiter des ganzen Bundes und zahlreiche Kundgebungen weisen 
die übrigen Mitglieder auf die große Bedeutung Bergmanns als 
Vermittler zwischen den übrigen Mitgliedern und der Geisterwelt hin. 

Die Situngen des inneren Kreises wurden stets in Bergmanns 
Wohnung in folgender Weise abgehalten: An einem länglichen Tische 
saßen bis zu acht Teilnehmern, an der oberen Schmalseite Berg¬ 
mann, in der Regel D. rechts und der frühere Gärtner B., ein Mit¬ 
gründer, links neben ihn. Mehr als acht Personen nahmen hinter 
den am Tische Sitzenden Platz. Alle Sitzungen begannen mit einem 
stillen oder auch mit einem laut gesprochenen Gebet, dann folgte — 
seit 1905 — Harmoniumspiel, worauf ein Bibelabschnitt verlesen 
wurde. Schon während des Gebetes lehnte sich Bergmann in 


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seinen Stuhl zurück und schloß die Augen, schlug sie dann wieder 
auf und blickte anscheinend starr ins Leere, er war angeblich in 
„Trance** gefallen. Papier und Bleistift lagen stets vor ihm. Durch 
Greifen nach dem Bleistift gab der Angeschuldigte zu erkennen, daß 
er schreiben wollte. In einem solchen Falle bildeten die um den 
Tisch Sitzenden rasch die sogen. „Kette**, indem sie sich die Hände 
reichten. Die Kette wurde in der Weise mit Bergmann ge¬ 
schlossen, daß der rechts neben ihm Sitzende — also regelmäßig D. 
— seine linke Hand an den Hinterkopf Bergmanns hielt, der 
linke Nebenmann Bergmanns aber — also regelmäßig B. — seine 
rechte Hand auf die linke des Angeschuldigten legte. Wenn, was 
auch vorkam, durch Bergmann mündliche Kundgebungen er¬ 
folgten, die von B. stenographiert, später in Maschinenschrift über¬ 
tragen und an die Beteiligten verteilt wurden, wurde die Kette nicht 
geschlossen. 

Durch Bergmann manifestierten sich in der eben angegebenen 
Weise außer dem „Weißen Schwan“ Martin Luther, Erzengel 
Sonsoja, der Geist des Borabastus Paracelsus von Hohenheim, sowie 
die Geister verschiedener, den Mitgliedern befreundet gewesener Ver¬ 
storbener. 

Außerdem produzierte Bergmann noch Kundgebungen der 
„Lucinda“. Diese erfolgten jedoch niemals in den Sitzungen, sondern 
nur, wenn der Angeschuldigte sich allein befand. Er behauptete, daß 
Lucinda der Geist eines verstorbenen weiblichen Wesens sei, dessen 
Stimme er vor seinen Ohren deutlich höre; diese spreche zu ihm und 
weise ihn an, ihre Reden niederzuschreiben. Diese so erhaltenen 
Kundgebungen wurden den Mitgliedern in Abschrift mitgeteilt. 

Während die Kundgebungen zunächst nur in Mitteilungen mora¬ 
lischen und religiösen Inhalts bestanden, nach Art der bekannten 
spiritistischen Offenbarungen, soll nach der Angabe Bergmanns seit 
1902 bereits der Geist des Bombastus auch Rezepte für kosmetische 
Mittel manifestiert haben. Nachdem diese Mittel anfänglich nur für 
Bergmann und seine Freunde hergestellt worden waren, fertigte sie 
der Angeschuldigte später zum Zwecke des Gelderwerbes an und trieb 
mit ihnen Handel. Das zur Gründung dieses Geschäfts zur Verfügung 
stehende Kapital war sehr gering. Der Angeschuldigte selbst ver¬ 
fügte über keinerlei Geldmittel, erhielt aber von D. 4000 Mark und 
von B. 25000 Mark, die diesem sein Vater gegeben hatte. So wurde 
am 23. April 1904 die Firma „Bombastus-Werke Potschappel-Dresden“ 
und als deren alleiniger Inhaber der Angeschuldigte Bergmann in 
das Handelsregister des K. Amtsgerichts Döhlen eingetragen. Dem 


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Unternehmen war der Name des Bombastus beigelegt worden, weil 
ja angeblich der Geist des Bombastns Paracelsus von Hohenheim die 
Rezepte geoffenbart hatte. Er hat jedoch keinen Gewinn erzielt, das 
eingezablte Geld ging für die Fabrikation auf. Die Fabrikation wurde 
zuerst in bescheidenem Umfange in dem Hause Burgwartstraße 16 
in Potschappel betrieben, wo auch damals Bergmann und D. wohnten. 
Im Erdgeschoß befanden sich ein Raum, in dem die Kontorarbeiten 
erledigt wurden, zwei einfenstrige Zimmer, die als Laboratorium dienten, 
ein Maschinenraum, in dem die Siede- und Mischmaschinen standen, 
und ein Packraum. Ein nach dem Hofe zu gelegener Teil dieses 
Packraums war schwarz ausgeschlagen und umplankt. Hier sollten 
die hergestellten Mittel durch Übertragung von tierischem Magnetis¬ 
mus aus menschlichen Körpern, namentlich aus dem Körper des D., 
heilkräftig gemacht werden. Dieser Raum dürfte nur von Bergmann, 
B. und D. betreten werden. Außer den genannten Räumen gab es 
noch einen kleinen Lagerraum, eine als Spülraum eingerichtete Küche 
und einen zweifenstrigen Raum zum Füllen der Flaschen und zur 
Aufbewahrung von Drucksachen. 

Diese Räume genügten jedoch dem Angeschuldigten bald nicht 
mehr. Nachdem bereits im Herbst 1905 der Entschluß gefaßt worden 
war, wurde im März 1906 mit dem Baue eines neuen Fabriksgebäudes 
für die Bombastuswerke begonnen. Das dazu nötige Areal kostete 
über 12000 Mark, während an den Baumeister L. insgesamt etwa 
60000 Mark von Bergmann gezahlt wurden. Im September 1906 
war der Bau vollendet Im Mai 1906 begann Bergmann mit dem 
Bau einer Villa. Auch diesen Bau führte der Baumeister L. aus» 
die Kosten beliefen sich auf ungefähr 105000 Mark. Hiervon bat 
der Angeschuldigte angeblich 50000 Mark, die durch Hypotheken 
beschafft wurden, 5000 Mark, die er dazu von seinem Freunde H. 
durch Vermittlung W.s erlangt haben will, sowie 12000 Mark dadurch 
an L. gezahlt, daß er L.sche Akzepte in dieser Höhe einlöste. Berg¬ 
mann selbst beziffert seine Zahlungen an L. auf 70 000 Mark und 
will dazu keinerlei Mittel aus dem Geschäfte verwendet haben. Die 
neuerbaute Villa ließ der Angeschuldigte auf das Komfortabelste ein¬ 
richten und stattete sie auf das Beste aus. So schaffte er sich 
Teppiche an, von denen einer 1400 Mark, ein anderer 680 Mark und 
ein Dritter 325 Mark kostete, er kleidete sich sehr elegant und bezog, 
in der Zeit vom Februar 1906 bis Juli 1908, also in 2 1 /* Jahren 
allein von dem Herrengarderobengeschäft P. & Co., in Dresden für 
3075 Mark Garderobe. Entsprechend war auch sein sonstiger Auf¬ 
wand. Seine Kinder fuhren nach Dresden in die Schule und zwar 


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II. Klasse, er hielt sich zwei Dienstmädchen und einen Feuermann. 
Dabei hatte der Angeschuldigte seit 1905 jeden Erwerb durch Minia¬ 
turmalerei aufgegeben, war also für seinen und seiner Familie Lebens¬ 
unterhalt lediglich auf sein Einkommen aus den Bombastuswerken 
angewiesen. Er selbst behauptet, daß er nur 200 und später 250 Mk. 
monatlich für sich aus der Geschäftskasse entnommen habe. Dieser 
Betrag konnte natürlich auch nicht annähernd für seinen Lebensunter¬ 
halt und zur Bestreitung der vorerwähnten Ausgaben genügen, so daß 
Bergmann, wie er selbst zugibt, ständig die Hilfe und Unter¬ 
stützung seiner wohlhabenden Freunde in Anspruch nehmen mußte. 
Einen Gewinn erzielte sein Unternehmen auch später nicht. Zwar 
stieg der Umfang der Bombastus-Werke bedeutend, allein noch rascher 
und höher stiegen die Ausgaben. Die für das fortwährend notleidende 
Geschäft immer von neuem nötigen Kapitalien aus eignen Mitteln zu 
beschaffen, war Bergmann bei seiner völligen Vermögenslosigkeit 
natürlich nicht imstande. Er wandte sich daher an die dem inneren 
Kreise angehörenden wohlhabenden Männer, und wußte diese, vor 
allem den Fabrikant Franz H., den Ingenieur Hermann M., den In¬ 
genieur Paul R. und den Oberstabsarzt a. D. Dr. K. durch allerhand 
„Kundgebungen“ zur Hergabe der nötigen Gelder zu veranlassen. 

Der Ingenieur Hermann M. hatte schon seit früher Jugend Inter¬ 
esse für den Spiritismus gezeigt. Seit etwa 1885 war er spiritistischen 
und occultistischen Angelegenheiten näher getreten, hatte sich mit 
der einschlagenden Literatur befaßt und häufig spiritistischen Sitzungen 
beigewohnt. Ira Jahre 1901 lernte er bei dem ihm befreundeten 
Samtfabrikanten B. in D. den Angeschuldigten kennen und wurde 
auf B.s Empfehlung hin aufgefordert, den Sitzungen des Bergmann- 
sehen Kreises beizuwohnen. Die erste Sitzung, an der M. teilnahm, 
fand am 31. Angust 1901 statt. Bergmann produzierte darin unter 
anderem eine Kundgebung des Geistes des am 15. Juli 1901 verstor¬ 
benen B., worin dieser seine Freude darüber äußerte, daß M. den 
Sitzungen beiwohnte. Dadurch war M. um so fester für den Berg¬ 
mann sehen Zirkel gewonnen. 

Seit dem Jahre 1904 hat M. nach und nach ungefähr 34000 Mark 
bares Geld aus seinen Mitteln in die Borabastuswerke eingezahlt. 
Weiter hat er der Sächsischen Diskontbank an seinem Grundstücke 
eine Sicherungshypothek von 50 000 Mark für die Borabastuswerke 
eingeräumt, weitere 3 Hypotheken im Gesamtbeträge von 55 000 Mark 
auf sein Grundstück aufgenommen und dieses Geld dem Unternehmen 
Bergmanns zugeführt. Irgendwelche Sicherheiten hat er nicht 
erhalten. 


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Der Ingenieur Paul R. wurde durch D. mit Bergmann be¬ 
kannt und im Jahre 1901 dem Spiritismus zugeführt. Er hat ein¬ 
mal I 000 Mark und dann 13000 Mark für die Bombastuswerke hin¬ 
gegeben. 

Der Fabrikant Franz H. ist schon seit Jahren Anhänger des 
Spiritismus. Er wurde durch R. mit dem Angeschuldigten bekannt 
Um Weihnachten 1904 wurde er in den inneren Kreis aufgenommen 
nnd bat seit 1905 nach und nach etwa 130000 Mark an Bergmann 
für das Geschäft gegeben und bei der Sächsischen Diskontbank für 
die Bombastuswerke Bürgschaft in Höhe von 110000 Mark über¬ 
nommen. 

Der Oberstabsarzt a. D. Dr. K. ist ebenfalls Spiritist. Er ist durch 
den Kaufmann Sch., ein Mitglied des Berg mann sehen Kreises, 
diesem zugeführt worden. Er hat in den Jahren 1904/1905 insgesamt 
6000 Mark, im Jahre 190S erst 12000 Mark, dann 28000 Mark, im 
Herbst desselben Jahres nochmals 6000 Mark und schließlich noch 
3500 Mark, insgesamt also 55 500 Mark an Bergmann für dessen 
Geschäft gegeben, ohne die Darlehen, die er dem Angeschuldigten 
persönlich gewährt hat. 

Bestimmend für diese vier Männer, die vorgenannten Beträge und 
Sicherheiten zu gewähren, waren die von Bergmann produzierten 
„Kundgebungen“, in denen angeblich Geister zur Unterstützung der 
Bombastuswerke mit Geldmitteln aufforderten, den Helfern reichen 
Segen, und nicht zum mindesten, erheblichen Geldgewinn in Aussicht 
stellten und die nächste Zukunft des Unternehmens im rosigsten Lichte 
malten, das beständige Geld bedürfDis der Fabrik und die Tatsache, 
daß jeder Gewinn bisher beharrlich ausgeblieben war, aber lediglich 
als eine nur vorübergehende Prüfung der Geldgeber darstellten und 
so jeden Verlust und sogar jede Gefährdung des Vermögens für die 
Helfenden auf das Bestimmteste verneinten. 

So bezeugt M., daß er durch Kundgebungen, in denen „Bombastus“ 
das Geldbedürfnis der Fabrik bestätigt und durch Kundgebungen der 
Lucinda zur Gewährung der Geldleistungen bewogen worden ist. 
Das Gleiche bestätigen R. H, der schließlich in richtiger Erkenntnis 
dar Sachlage Anzeige erstattet hat, und Dr. K. Es erscheint selbst¬ 
verständlich, daß diese Zeugen nicht mehr angeben können, durch 
welche einzelnen Kundgebungen ihr Wille beeinflußt worden ist. Man 
muß davon ausgehen, daß jene Männer als überzeugte Spiritisten an 
die Echtheit der Kundgebungen und daran, daß der Angeschuldigte 
wirklich mit Geistern in Verbindung stand, glaubten und lediglich 
im Vertrauen darauf, getäuscht durch die ganze „Aufmachung“, ihre 


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materielle Unterstützung dem Bergmann’sehen Unternehmen zu¬ 
gewendet haben. Auf keinen Fall hätten sie die Geldopfer gebracht, 
wenn sie gewußt hätten, daß es sich bei den Kundgebungen ledig¬ 
lich um ein vom Angeschuldigten geschickt in Szene gesetztes Gaukel¬ 
spiel handelte, durch das er sie unter Ausbeutung ihres Glaubens an 
Geister und an übernatürliche Kräfte von Anfang an planmäßig und 
bewußt täuschte. 

Der Angeschuldigte hat sich stets darauf bezogen, daß er sich 
in den Sitzungen im „Trance“, d. h. in einem Zustande von ver¬ 
ändertem bzw. eingeengtem Bewußtsein, der dem hypnotischen oder 
autohypnotischen gleichwertig ist, befunden habe. Solche Zustände 
kommen nach dem Gutachten des Sachverständigen Dr. Henneberg 
in sehr verschiedenen Graden vor, von ganz oberflächlichen Zuständen 
der Konzentration bis zu tief greifenden delirösen Bewußtseinstrübungen 
und Dämmerzuständen. Das Urteil aller Sachverständigen geht dahin, 
daß bei einer in voll entwickeltem Trancezustand befindlichen Person 
die freie Willensbestimmung im Sinne des § 51 Str.G.B. während 
der Dauer dieses Zustandes ausgeschlossen ist. Dies gilt jedoch keines¬ 
wegs von ganz oberflächlichen Zuständen von Konzentration. Ledig¬ 
lich in einem solchen Zustande aber hat sich Bergmann befunden, 
wenn überhaupt bei ihm ein Trancezustand Vorgelegen hat; das geht 
aus folgendem hervor: 

Die angeblichen Trancezustände Bergmanns traten niemals 
Bpontan ein, sondern sie wurden von ihm willkürlich bervorgerufen 
und zwar nur in den Sitzungen und mit großer Regelmäßigkeit. Er 
hatte das Eintreten völlig in der Hand, niemals ist er zu ungelegener 
Zeit oder an einem nicht bereits vorher bestimmten, nicht gelegenen 
Orte, z. B. auf der Straße in „Trance“ gefallen. 

Was den religiösen und moralischen Inhalt der Kundgebungen 
anlangt, so steht dieser völlig auf dem Niveau der gewöhnlichen 
spiritistischen Produkte dieser Art Alle Kundgebungen zeigen aber 
einen durchaus logischen und disponierten Gedankengang wie z. B. 
die -Glaubenslehre“ und das „Buch der Weisheit und der Magie“. 
Es kam vielfach vor — gerade die obengenannten Schriften beweisen 
dies deutlich — daß die Kundgebungen in der einen Sitzung ab¬ 
gebrochen und in der nächsten, Wochen später stattfindenden, dann 
durchaus sinngemäß fortgesetzt wurden. Schon alles dies läßt als 
gänzlich ausgeschlossen erscheinen, daß sie einem Zustande tiefer Be¬ 
wußtseinsstörung vom Angeschuldigten produziert sein können. Das 
gilt vor allem auch für den geschäftlichen Inhalt der Kundgebungen. 
Dieser Inhalt ist, wie auch der Sachverständige hervorhebt, der 


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Situation stets angepaßt. Je mehr Geld für das Geschäft gebraucht 
wurde, um so häufiger wurden die Kundgebungen. Soß ermutigt 
„Bombastus“ am 2. September 1905. also zu einer Zeit, wo mit Rück¬ 
sicht auf den schon damals geplanten Fabrikneubau größere Summen 
benötigt wurden, „diejenigen, die Hilfe bringen können, wenn sie 
wollen", verheißt ihnen großen Segen und verspricht, „daß er nicht 
dulden werde, daß unangemessene Aufwände gemacht würden“. 
Kurze Zeit später spricht derselbe Geist sich dahin aus, daß die 
Freunde die Pflicht hätten, für das Wohl und Wehe Bergmanns zu 
sorgen, und begegnet einem etwaigen Einwande, daß er den Schutz 
Bergmanns doch selbst in erster Linie übernehmen könne, mit dem 
weiteren Hinweise, daß die irdischen Freunde ein größeres Interesse 
an dem Wohlbefinden Bergmanns hätten als dieser selbst. Der 
„Der weiße Schwan“ animiert am 16. Dezember 1905 Dr. K. zur 
Hingabe von Geld und zwar geschieht dies, da Dr. K. besonders viel 
daran lag als „Freund“ zu gelten und sich als solcher zu betätigen, 
dadurch, daß diesem gesagt wird: sein Scherflein fiele zwar nicht 
ins Gewicht, aber er hätte sich dann eben nicht als Freund zu er¬ 
kennen gegeben. Die am 9. Juni 1906 „offenbarten“ Statuten des 
„Weißen Schwans“ und des „Bundes der Freunde“ zeigen einen 
hohen Grad von Scharfsinn und Überlegung. Das Gleiche gilt von 
den, fast ausschließlich geschäftliche Dinge enthaltenden Kundgebungen 
vom 6. Januar 1907, 28. November 1907 und 17. Juni 1908 in denen 
vor allem auf das in allernächster Zeit (Jahr 1907) erfolgende 
Emporblühen der Fabrik und dem dann erzielten großen Gewinn bin- 
gewiesen wird. Diese Kundgebungen und ebenso die vom 20. Mai 
1903 (Verbot des Rauchens an den Versammlungsabenden) 17. 
Juni 1905 (Anordnung, daß ein weißes Tafelbuch aufgelegt und 
Blumen darauf gelegt werden sollen) die Anweisung, daß bei der 
Behandlung von Frauen nnd Mädchen mittels magisch-magnetischer 
Heilweise stets eine dritte Person als Zeuge zugezogen werden sollt!) 
und die mit Geschick dargestellten, fast alle Pausen erscheinenden 
Zeichnungen einer Destilliervorrichtung und eines Fixierröhrchens und 
die Beschreibungen dieser Apparate lassen die Möglichkeit schlechter¬ 
dings ausgeschlossen erscheinen, daß die Kundgebungen von Berg¬ 
mann in bewußtlosem Zustande produziert worden sind. 

Die Rezepte, die in den Kundgebungen enthalten sind, sowie die 
Anweisungen zu „magisch-magnetischen“ Kuren stammen offenbar 
aus alten Rezeptbüchern, wie denn z. B. im Buch der „Weisheit und 
der Magie“, das im Jahre 1901 entstanden ist, empfohlen wird: 
Rai mann, Fr. „Sympathetischer Ratgeber“, und zwar bei der Geheim- 


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wissenschaftlichen Zentralbuchhandlung V. F. G. Mi kl in München. 
Tatsächlich befand sich diese jetzt in Wien befindliche Firma früher 
in München und hatte in ihrem Katalog 1901 jenes Buch als selten 
angepriesen. 

Was die ausschließlich schriftlich produzierten Kundgebungen der 
„Lucinda“ anlangt, so sind diese, wie Bergmann selbst zugibt, nie 
im Beisein von Zeugen erfolgt. Der Angeschuldigte behauptet hier 
selbst nur, daß er sich dabei in „HalbMrance befunden habe, sich 
ihres Inhaltes dunkel bewußt und imstande gewesen bei, beim Schreiben 
der Blätter selbständig umzuwenden. Kann schon hiernach keine 
Rede von einem Zustande der Bewußtlosigkeit sein, so spricht auch 
der ganze Inhalt dieser Lucindakundgebungen gegen eine solche An¬ 
nahme. Sie beschäftigen sich fast ausschließlich mit geschäftlichen 
Dingen. „Lucinda“ gibt Ratschläge über Einwickelblocks und 
Affichen, Reklame, schlichtet Streitigkeiten, sie kennt die deutschen 
Medizinalgesetze und warnt vor ihnen, diktiert Verträge, vor 
allem verspricht auch sie Gewinn in nächster Zeit, erklärt, daß 
die Bombastuswerke nur noch 80 000 Mk. bedürften, die H. beschaffen 
soll (22. April) 1908 auch K. soll helfen (25. Juli 1908) und sie 
stellt ebenfalls das dauernde Geldbedürfnis der Fabrik nur als 
Prüfung dar, nachdem H. Zweifel geäußert hatte. Lucinda beant¬ 
wortete auch an sie gestellte Fragen und der Angeschuldigte holte 
bei allen wichtigen geschäftlichen Angelegenheiten ihre Genehmigung 
ein. Nach seiner eigenen Angabe geschah dies sehr häufig in der 
Weise, daß die Fragen und die Entwürfe von Bergmann in ein 
bestimmtes Fach gelegt wurden mit dem Gedanken, daß die Geneh¬ 
migung als erteilt gelte, wenn innerhalb einer bestimmten Frist keine 
Antwort erfolgt. Nach Ablauf der Frist entnahm der Angeschuldigte 
dem Fache das Schriftstück als genehmigt, und versah es mit dem 
Zeichen der „Lucinda“. Oft unterließ er sogar das Unterzeichnen. 

Hat nach alledem Bergmann sich nicht in einem Zustande von 
Bewußtlosigkeit befunden, als er die Kundgebungen, von denen im 
Vorstehenden nur ein kleiner Teil als Beispiele aufgeführt sind, pro¬ 
duzierte, so hat er auch absichtlich getäuscht. Wie schon aus dem 
vorher Ausgeführten bervorgeht, handelte er planmäßig. Dies folgt 
auch daraus, daß er in den Sitzungen wiederholt durch den „Weißen 
Schwan“ die Kundgebungen Lucindas bestätigen ließ, um jeden 
Zweifel an deren Echtheit zu zerstreuen. Gegen die Annahme der 
bewußten und gewollten Täuschung durch den Angeschuldigten sind 
die Angaben der Mitglieder des Bergmannseben Kreises nicht zu 
verwerten. Diese Mitglieder sind eifrige und überzeugte Anhänger 


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des Spiritismus. Die Erwartung, die vorgefaßte Meinung sowie daB 
Bedürfnis und der Wunsch, sich von der Realität der spiritistischen 
„Wunder“ und von der Wahrheit der spiritistischen Lehre überzeugen 
zu lassen, trübt ihre Beobachtungsgabe, so daß insoweit ihren Angaben 
keine Bedeutung beigemessen werden kann. 

Der Angeschuldigte verfolgte mit seinen Machinationen die Ab¬ 
sicht, die Mitglieder seines Kreises zu täuschen und sie dadurch zur 
Hergabe von Geldmitteln für sein Unternehmen zu veranlassen. Dies 
ist ihm auch, wenigstens bei den oben erwähnten vier Personen, ge¬ 
lungen. Ein Recht auf diese Vermögens vorteile hatte er nicht und 
das ist ihm auch zweifellos bewußt gewesen. 

Lediglich er war derjenige, der, wie schon aus dem]obenjAusgeführten 
liervorgeht, ,von den gewährten Geldmitteln Vorteile hatte. Die ge¬ 
täuschten Geber sind durch Hingabe der Gelder und die Gewährung 
der Sicherheiten zugunsten des Bergmannschen Unternehmens in 
ihrem Vermögen geschädigt worden, wobei es gleichgültig ist, ob die 
Gelder Darlehen oder Einlagen waren. (Kundgebung vom 5. Januar 
1907). Inzwischen wurde über Bergmanns Vermögen das Konkurs¬ 
verfahren eröffnet und eine G. m. b. H. gegründet, die die Verbind¬ 
lichkeiten der alten Firma übernommen hat. 

II. 

Der Angeschuldigte Bergmann war Kaufmann im Sinne des 
Handelsgesetzbuches. |Über sein Vermögen ist am 16. Oktober 1908 
das Konkursverfahren eröffnet worden. Als Kaufmann war der An¬ 
geschuldigte verpflichtet, Bücher zu führen und in diesem seine 
Handelsgeschäfte und die Lage seines Vermögens nach |den Grund¬ 
sätzen ordnungsmäßiger Buchführung ersichtlich zu \ machen, sowie 
eine Inventur und Bilanz bei Beginn seines Geschäftes und dem 
Schlüsse jedes Geschäftsjahres aufzustellen. 

Nach dem Gutachten des Sachverständigen ist der Angeschuldigte 
diesen Verpflichtungen nur ganz ungenügend nachgekommen und 
seine gesamte Buchführung ist derart unordentlich, daß sie keine 
Übersicht über seinen Vermögenszustand gewährt. In dieser Beziehung 
ist namentlich folgendes bervorzuheben: 

Das „Geheimbuch“ ist einfach vernichtet worden. 

Der Saldo des reinen Kassabuches stimmt mit 'dem Saldo der 
zusammengefaßten drei Kassenkladden Nr. 2, 3 und 2a vom 30. Juni 
1906 an nicht immer überein. Am 30. Juni 1906 ergibt sich näm¬ 
lich eine Differenz von 1353,16 Mark, am 31. Juli 1906 eine solche 

ArcMr für Kriminal an thropologie. 40. Bd. 5 


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von 1293,96 Mark. Es fehlt jeder Nachweis, wo diese Beträge bin- 
gekommen sind. 

Am 24. März 1908 sind laut Geheimjournal Nr. 14, Fol. 20 von 
Dr. K. dem Geschäfte 12000 Mark zur Verfügung gestellt worden. 
Dieser Posten ist aber weder im Kassaeingang gebucht, noch ist er 
durch das Scheck- oder Bankkonto gegangen. 

Die unterm 1. Mai 1905 in der reinen Kassa Nr. 9 Bl. 21 ge¬ 
buchten 22483,15 Mark für geheime Ausgaben, sowie die dort auf 
Bl. 33 als Ausgabe gebuchten 26678,35 Mark entbehren jeder Auf¬ 
klärung. Auch sonst lassen zahlreiche Einträge für Ausgaben nicht 
erkennen, für wen oder für was diese Beträge verausgabt worden sind. 

Im Memorial Nr. I befinden sich unübersichtliche, ungenaue und 
unrichtige Buchungen in großer Anzahl. Mod es wird für eine 
Kautionshypothek mit 25000 Mark kreditiert, obwohl doch auch der 
Darleiher der mit der Hypothek gesicherten Beträge als Gläubiger in 
den Büchern erscheint. 

Das Warenkonto wird zugunsten des Freundschaftsbundes 
„Weißer Schwan“ mit 200 Mark belastet, obwohl nicht zu ersehen 
ist, was dieser Bund hergegeben bat. Im Zinsenkonto sind 3120,70 
Mark Gerichtskosten gebucht. 

Im Kreditorenkonto ist gebucht: an Reklamekontea: 5941,56 
Mark. Diese Buchung zeigt deutlich die Liederlichkeit der ganzen 
Buchführung, sie betrifft nämlich die „Rückbuchung des irrtümlich 
als Rechnung kreditierten Kostenanschlages und Ausgleich bereits ge¬ 
zahlter noch offenstehender Posten". Weiter ist ebendort die Firma 
Rudolf Mosse in Dresden mit 670 Mark erkannt, obwohl deren 
Forderung 8,70 Mark betrug. 

Unterm 3t. Dezember 1906 sind zwei Differenzen, eine solche 
von 3227,72 Mark zwischen Debitorenbuch und Debitorenkonto — 
und eine solche von 2330,55 Mark zwischen ,Kreditorenbuch und 
Kreditorenkonto“ einfach ausgebucht worden, ohne sie zu suchen, 
so daß der ganze Jahresabschluß nicht stimmte. Die von D. und B. 
an Baumeister L. am 15. Mai 1907 gezahlten 2900 Mark finden sich 
Bl. 187 im Memorial 1 eingetragen, ebenso wie andere Zahlungen 
betr. die Wohnhäuser der Genannten, obwohl alle diese Zahlungen 
doch dem Geschäfte nichts angingen. 

Vom Dezember 1907 ab fehlen sämtliche Hauptbuchtlbertragungen, 
aber auch schon im Dezember 1907 wurden die Saldis nicht addiert 
und verschiedene Abschlußbuchungen nicht übertragen. 


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Der Prozeß der Bombastnswerke usw. 


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Die 12000 Mark, die Dr. K. am 24. März 1908 gegeben bat 
finden sich auch nicht unter seinen Konten im Hauptbuche, eben¬ 
sowenig wie die von ihm am 4. April 1908 gegebenen 28000 Mark. 

Nach dem Geheim-Journal Nr. 14, Bl. II bat Scb. einen Wechsel 
über 5500 Mark gegeben und den Betrag dafür in bar erhalten. Dieser 
Wechsel ist verschwunden, das Wechselbuch gibt hierüber keine 
Auskunft. 

Am 11. Juli 1908 sind in der Sächs. Diskontbank 4200 Mark „in 
unser Depot“ gegeben worden, ohne daß irgendwo etwas davon zu 
finden wäre. 

L. S. hat nach Geheimjournal Nr. 14 Seite 19 sein Akzept über 
5000 Mark gegeben, ein Konto ist für S. nicht eingerichtet. Berg¬ 
mann bekommt für das Akzept 5000 Mark von der Bank, aber nicht 
Bergmann, sondern das Reklamekonto ist damit belastet. 

Was die Inventuren anlangt, so ist die erste Inventur vom 
1. März 1904 nicht vollständig. Es fehlt der Nachweis über die 
fertige und halbfertige Fabrikationsware, sowie über die vorhandenen 
Gläser, Körbe, Flaschen, Wagen und Gewichte. Auch die zweite 
Inventuraufmachung für 31. Dezember 1905 und die dritte für den 
31. Dezember 1906 sind unvollständig und lassen die Debitoren- und 
Kreditorenaufstellung, namentlich aber die Spezifizierung des Gebeim- 
kontos vermissen. Eine weitere Inventur ist nicht aufgemacht. 

Die Eröffnungsbilanz ist falsch. Es fehlen die angeblichen Bei¬ 
lagen. Rezepte waren wenigstens nicht greifbar vorhanden. Der da¬ 
für eingesetzte Wert ist nur ein willkürlich angenommener, mithin 
ist auch das eingesetzte Nettovermögen Bergmanns nur ein an¬ 
genommenes. 

Die nächste am 31. Dezember 1905 gezogene Bilanz zeigt bereits 
einen Verlust von 62349,49 Mark, sie kann nicht als richtig an¬ 
gesehen werden, da die ihr zur Grundlage dienende Inventur un¬ 
richtig ist 

Die nächste Bilanz am 3t. Dezember 1906 weist einen Gesamt¬ 
verlust von 142606,57 Mark auf. Sie bat ebenfalls keinen Anspruch 
auf Richtigkeit infolge der vorhandenen, unaufgeklärten Differenzen 
im Debitoren- und Kreditorenkonto und, da das Geheimkonto mit 
9755,12 Mark als Aktivum erscheint, obwohl nichts mehr davon vor¬ 
handen war. 

Seit 31. Dezember 1906 ist auch keine Bilanz mehr bücherlich 
festgelegt worden. 

Daß Bergmann bei allen diesen unordentlichen Buchführungen 
gehandelt bat in der Absicht, seine Gläubiger zu benachteiligen, er 

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scheint ebensowenig erweislich, wie die Tatsache, daß er in der 
gleichen Absicht Vermögenstticke beiseite geschafft hat 

Nach alledem wird der Angeschuldigte angeklagt: 
zu Potschappel und bzw. Zauckerode seit 1904, 
zu I. in der Absicht, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen 
Vermögensvorteil zu verschaffen, das Vermögen anderer da¬ 
durch, daß er durch Vorspiegelung falscher Tatsachen einen 
Irrtum erregte und unterhielt, beschädigt, 
zu II. als ein Schuldner über dessen Vermögen das Konkursver¬ 
fahren eröffnet worden ist, 

a) Handelsbücher, deren Führung ihm gesetzlich oblag, vernichtet 
und so unordentlich, daß sie keine Übersicht des Vermögens¬ 
zustandes gewähren, geführt, 

b) gegen die Bestimmungen des Handelsgesetzbuches es unter¬ 
lassen zu haben, die Bilanz seines Vermögens in der vor¬ 
geschriebenen Zeit zu ziehen. 

Zu I. Vergehen nach § 263 St. 0. B. 

zu II. Vergehen nach §§ 240 Ziffer 3 und 4 K. V. 0. 


B) Beweisaufnahme. 

Die Hauptverhandlung begann vor der 2. Strafkammer des 
Landgerichts Dresden am 26. Oktober 1909 und dauerte bis zum 
28. Oktober. 

Aus der persönlichen Vernehmung des Angeklagten geht folgen¬ 
des hervor: Bergmann wurde 1861 in Potschappel als Sohn 
eines Maschinenbauers geboren, besuchte anfangs die Volksschule, bis 
zum 16. Lebensjahre das Fletschersche Lehrerseminar, wurde dann 
Porzellanmaler und ging dann auf 2 Jahre auf die Berliner Akademie. 
Mitte der achtziger Jahre nahm er eine Stelle in Brüssel an und ar¬ 
beite darauf in Teplitz und Wien und kehrte 1890 nach Potschappel 
zurück. 

Auf welche Weise die Bombastuswerke gegründet worden 
sind, erzählt Bergmann folgendermaßen: Im Jahre 1898 war er in¬ 
folge des Todes eines vierjährigen Kindes sehr niedergeschlagen und 
erschüttert. Ein Freund, der Zeuge D., soll ihn auf den Okkultismus 
aufmerksam gemacht und auf ein Wiedersehen nach dem Tode hin¬ 
gewiesen haben. Damit sei bei Bergmann das Interesse für okkul¬ 
tistische Vorgänge erweckt worden. In der Folge las B. spiritistische 
Bücher. Es bildete sich ein enger spiritistischer Kreis, dem zunächst 


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Der Prozeß der Bombastuswerke usw. 


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Bergmann, seine Frau und seine Schwester Alexa und der Zeuge D. 
angehörten Es wurden Sitzungen abgehalten, in denen Bergmann als 
Medium diente. Er will dabei „in Trance** gekommen sein und die 
Stimmen von Geistern vernommen haben. In diesem Zustande seien 
von seiner Hand nach den Eingebungen von Geistern eine An¬ 
zahl Schriften enstanden. Bergmann verwahrt sich aber gegen 
die Behauptung, daß er gesagt habe, es sprächen Geister aus 
ihm. Damals wurde noch nicht an die Gründung der Bombastus¬ 
werke gedacht. 

Einst habe Bergmann an Kopfschuppen gelitten. In der nächsten 
spiritistischen Sitzung habe ein Geist durch Bergmanns Hand ein 
Rezept gegen Kopfschuppen diktiert. Das Mittel wurde hergestellt 
und von den Mitgliedern des Zirkels ausprobiert. Das Mittel soll 
sich ausgezeichnet bewährt haben, ebenso ein vom Geiste diktiertes 
gegen kranke Zähne. Diese Geisterrezepte seien stets mit „Bombastus“ 
unterschrieben worden. Wer aber „Bombastus“ war oder gewesen 
ist, will keins der Mitglieder des engen Kreises gewußt haben. Erst 
ans dem Lexikon wurde die Persönlichkeit des „Bombastus“ fest¬ 
gestellt- Von da an wurden regelmäßige Sitzungen abgehalten, bei 
denen eine strenge Tischordnung beobachtet werden mußte. Das 
Medium Bergmann saß in der Mitte, zur Rechten der Zeuge D., zur 
Linken der Zeuge B. Die geeignetsten Zeiten zur Abhaltung der 
nächsten Sitzung will Bergmann durch eine in seinem linken Ohre 
klingende Geisterstimme erfahren haben. Mit Harmoniumspiel und 
Absingen geistlicher Lieder wurden die Versammlungen eingeleitet. 
Jedenfalls soll „Bombastus“ eine große Menge sehr wertvoller Rezepte 
niedergesch rieben haben. 

Im Jahre 1904 faßte man den Plan, die „Bombastus-Werke“ 
zu gründen, um die Rezepte zu verwerten. Zunächst stellt der 
Vorsitzende fest, daß bei einer Haussuchung keines der Original- 
Bombastus-Rezepte gefunden worden ist, wohl aber ein Buch, in das 
die Bombastus-Rezepte eingetragen waren.' Danach muß der „selige 
Bombastus“ bereits mit den neuesten Erfindungen auf dem Gebiete 
der Kosmetik bekannt gewesen sein. Bergmann erklärt dies damit, 
daß die Originale durch den vielen Gebrauch abgenützt und dann 
vernichtet worden seien. Am *23. April 1904 wurde die Firma 
„Bombastus-Werke“ beim Amtsgericht Döhlen handelsgerichtlich ein¬ 
getragen. Der Entwurf zum Gesellschaftsvertrage soll von dem 
Geiste „Lucinda“ diktiert worden sein. Gesellschafter waren Berg¬ 
mann, D. und der Gärtner B. Die beiden letztgenannten gaben zu¬ 
nächst je einige Hundert Mark, Bergmann die Bombastus-Rezepte. 


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Die Hauptbeteiligten Bergmann und D. sollten zunächst monatlich 
200 Mk., B. 150 Mk. erhalten. Die Geschäftsräume umfaßten an¬ 
fangs nur ein halbes Parterre; ein Chemiker wurde nicht gebraucht, 
Bergmann und B. stellten die kosmetischen Mittel nach den bewährten 
Bombastus-Rezepten her. 

Im Jahre 1906 war das Unternehmen bedeutend gewachsen, so- 
daß in Zauckerode ein Fabrikneubau errichtet werden mußte. Geister¬ 
kundgebungen sollten hierbei nicht mitgespielt haben. Die Gesell¬ 
schafter griffen tief in die Tasche; es waren inzwischen neue Teil¬ 
haber gewonnen worden. Eine enorme Reklame kostete schweres 
Geld. In welcher Weise die Reklame betrieben wurde, geht daraus 
hervor, daß Angeklagter Geschäftsreisen nach Florenz und Berlin 
unternahm und eine Audienz beim Kaiser von Österreich zu er¬ 
zwingen suchte. Für die Gräfin Montignoso opferten die Bombastus- 
werke 12000 Mk., um der Gräfin die Rückkehr nach Dresden zu 
ermöglichen. In einer spiritistischen Sitzung soll die „Göttin Lucinda“ 
durch den Mund Bergmanns befohlen haben, der Gräfin Montignoso 
4000 Mk. zu senden. Die Gesellschafter waren mit dem „Geister¬ 
befehl“ einverstanden. Im Jahre 1905 betrug die Unterbilanz 
bereits 62000 Mk., 1906 aber 142000 Mk., 1907 sogar 251000 Mk., 
obwohl für das letzte Jahr in einer spiritistischen Sitzung ein Geist 
eine Dividende von 50 Proz. vorausgesagt und den Gesellschaftern 
den Rat gegeben hatte, Hypotheken zu kündigen und Wertpapiere 
zu verkaufen, das Geld aber in die Bombastus werke zu geben. 

Am 16. Oktober 1908 mußte über das Vermögen der Gesellschaft 
der Konkurs eröffnet werden. Bis jetzt ist eine Abschlagszahlung 
von 9 Proz. gezahlt worden. Bergmann behauptet, daß die Bombastus- 
Werke wohl prosperiert hätten, wenn nur die ersten fünf Jahre über¬ 
standen gewesen wären; übrigens seien die von den Geschädigten 
gegebenen Gelder nicht Darlehen, sondern Geschäftsanteile gewesen. 
Im Jahre 1909 sei ein Gewinn sicher gewesen, da aus Rußland ein 
Auftrag von über 500000 Mark vorlag. Auf den Vorhalt, daß Berg¬ 
mann für sich mindestens jährlich 10000 Mk. verbraucht habe und 
sich eine eigene Villa bauen ließ, erklärt Bergmann, daß er auf 
Wunsch der Gesellschafter entsprechend repräsentieren sollte. Der 
Konkurs wurde auf Antrag des früheren Teilhabers H. eröffnet. Wie 
Bergmann behauptet, soll H. von zwei früheren Angestellten der Bombastus- 
Werke, dem Buchhalter D. und dem Chemiker L., aufgehetzt 
worden sein. D. und L. sollen bei einem der schärfsten Konkurrenten 
der Bombastus-Werke gewesen sein und gegen das Unternehmen 
agitiert haben. 


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Der Prozgfi der BombastusWerke new. 


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Bezüglich des Konkursvergehens erklärt Bergmann, daß er die 
Führung der Bücher dem Mitinhaber H. überlassen habe. 

Der Angeklagte erhielt *200 Mk. Gehalt. Die Fabrik beschäftigte 
zuletzt 60 Personen, arbeitete allerdings mit Verlust, obwohl der 
Umsatz in den letzten 3 Jahren sich bedeutend steigerte. Das im 
ganzen investierte Kapital dürfte sich auf annähernd 700000 Mk. be¬ 
laufen, wobei etwa 250000 Mk. auf das Anteil H.s fielen. 

Zeugen B. und M. leisteten an Bareinlagen und Hypotheken 
jeder mehr als 100000 Mk., wurden namentlich durch die Sitzungen 
mit Bergmann in ihrem Geisterglauben bestärkt, fühlten sich nicht 
geschädigt und betonten, daß der ganze Betrieb der Fabrik auf Treu 
und Glauben zum Zwecke allgemeiner Mildtätigkeit errichtet worden 
sei. Aus der Aussage des Hauptbelastungszeugen H. geht hervor, 
daß auch dieser die Trance-Zustände des Bergmann für echt hielt, 
wenn er auch mit dem geschäftlichen Gebaren der Fabrik nicht 
einverstanden war und sich schließlich genötigt sah, sein Kapital zu 
kündigen. Er hob besonders den Aufwand hervor, welchen der An¬ 
geklagte getrieben hätte; der im Kostenanschläge auf 30000 Mk. ge¬ 
schätzte Villenbau für Bergmann sei auf 105000 Mk. gekommen. 
Einige Zimmer seien mit fürstlicher Pracht eingerichtet und für den 
von Bergmann erwarteten Besuch der Gräfin Montignoso reserviert 
worden. Die Handschrift der Montignoso ahmte Bergmann in seinen 
Briefen und Eingaben in einer Weise nach, daß man kaum einen 
Unterschied vom Original finden konnte. Um die Gräfin zu be¬ 
suchen, sei Bergmann I. Klasse Luxnszug nach Florenz gereist Er 
hoffte geadelt zu werden und für seine Frau den Rang einer Hofdame 
zu erreichen. Die Kundgebungen hielt Zeuge im Anfang für echt 
und benützte dieselben auch für seine private geschäftliche Tätigkeit, 
indem er Fragen stellte, die sich auf den Kurs der Wertpapiere und 
das Börsenspiel bezogen. Er verkaufte auf den Rat der Geister 
Aktien und verlor sein Geld. Später wurde er mißtrauisch, erkannte 
die unsinnige Wirtschaft und das konstante Geldbedürfnis der Fabrik. 
Die wirkliche Seele deB Ganzen sei D. gewesen, unter dessen Einfluß 
Bergmann gehandelt habe. 

Durch den Apotheker N. wurde bekannt, daß Bergmann eine 
alte Sächsische Pharmakopöe und auch sonstige pharmazeutische 
Bücher besaß, die aus der Bibliothek seines Onkels stammten. Seit 
1907 besaß er auch ein pharmazeutisches Lexikon von 10 bis 12 Bänden. 

Hierbei ist zu bemerken, daß Bergmann dem Schreiber dieses 
bei der Voruntersuchung trotz wiederholter Befragung niemals zu¬ 
gegeben hat, im Besitz pharmazeutischer Literatur zu sein. 


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Der pharmazeutische Sachverständige Dr. B. hat einige der 
kosmetischen Präparate der Bombastus-Werke untersucht und das 
Rezeptbuch studiert. Dasselbe enthält viele Anleitungen Uber Mittel, 
deren Zusammensetzung, Wirkung, Verwendung usw. Der Salbei 
sei als besonders heilkräftig oft genannt in vielen Zusammensetzungen. 
Einzelne Präparate seien mystischer Natur. Als ein Mittel gegen 
Erblindungsgefahr und Erblindung wurde geweichtes 
Brot angegeben, das auf das Lid gelegt werden solle, 
und eine Salbe aus Walrat mit verschiedenen Zusätzen und Ölen, 
die unter mystischen Formeln vergraben werden und nachher 
aufgelegt werden sollten. Der Sachverständige verliest dann noch 
eine Anzahl anderer Rezepte und Herstellungsangaben, darunter 
schließlich ein Rezept zur Heilung von Muskelrheumatismus und 
Muskellähmung. Dieses Rezept, aus Salbei, Rosmarin usw. ist gleich¬ 
falls von Bergmann im Trancezustand manifestiert worden und durch 
eine ausführliche zeichnerische Darstellung über die Technik des er¬ 
forderlichen Destillierapparates ergänzt worden. Ebenso sind andere 
Rezepte durch Zeichnungen illustriert. Insgesamt enthält das Rezept¬ 
buch Vorschriften für 25 Präparate. Auffallend findet der Sach¬ 
verständige, daß mit dem Zeichen Paracelsus Bombastus in dem 
Buche viele Präparate und Stoffe signiert seien, die Bom¬ 
bastus (1493—15öl) sicher nicht gekannt habe. Es seien 
dies: Lanolin (1685 von Liebreich gefunden), Vaseline, als 
Salbengrundstoffe, Kaliumchlorid als Bestandteil des Bombastus- 
Seifenpulvers, Chinin, Perubalsam und Natriumbikarbonat, Saccharin, 
Glyzerin, Essigäther, Alloxan, Wasserstoffsuperoxyd und verschiedene 
Riechstoffe z. B. Junon, lauter Ergebnisse der neuer Chemie. 

Der Angeklagte Bergmann hält es, über die Aussagen 
Dr. B.s befragt, daß in den Bombastusrezepten Stoffe genannt sind, 
die Bombastus nicht habe kennen können, für durchaus möglich, 
daß sich Bombastus in seinen Kundgebungen dem modernen 
Stande der Wissenschaft angepaßt habe. 

Nach den Bekundungen des Sachverständigen entsprechen die 
Bombastus-Präparate den modernsten Anforderungen der Wissenschaft, 
die man an solche Kosmetika stellen kann; ihre Rezepte lassen sich 
mit Hilfe eines modernen Drogenlexikons sehr wohl kombinieren. 

Zeuge Oberarzt Dr. K. hat auch heute noch volles Vertrauen 
zum Angeklagten, den er für einen ehrlichen, keines Betruges fälligen 
Menschen hält. Auch er ist beteiligt, gläubiger Spiritist und fühlt 
sich nicht geschädigt. 

Eben so günstig sagt der Zeuge Kaufmann Sch. für B. aus. Die 


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Der Prozeß der Bombastuswerke usw. 


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Trancezustände sind nach ihm echt. Er will bei der spiritistischen Abend¬ 
mahlsfeier beobachtet haben, daß Bergmann einen schweren Pokal, 
der 3—4 Flaschen Wein fassen konnte 45 Minuten starr in der Hand 
hielt. Er habe gegenüber der Fabrik immer nur den idealen Stand¬ 
punkt eingehalten, den Angeklagten ebenso wie die Fabrik wieder¬ 
holt erheblich unterstützt (mit größeren Summen) und auch in Zukunft 
werde er für Bergmann tun, was in seinen Kräften stehe. Im übrigen 
machte er die Bemerkung, daß Bergmann beim Anhören von Musik 
auch außerhalb der Sitzungen schläfrig werde und leicht in Trance 
verfalle. 

Nächster Zeuge ist Albrecht K. aus Nürnberg, Inhaber eines Ex¬ 
portgeschäftes besonders kosmetischer Artikel; er trat 1907 mit den 
Bombastuswerken in Beziehungen und wurde ihr Hauptvertreter. 
Er ist auch dem Bunde der Freunde beigetreten und hat 2 oder 3 
Sitzungen mitgemacht. Mit den Artikeln der Bombastuswerke habe 
er die beste Erfahrung gemacht und habe sie beibebalten trotz der 
Verdächtigungen durch die Konkurrenz. Anfang 1908 habe er 
zunächst das bayerische Absatzgebiet organisiert, weiter sei er nach 
Dänemark, Schweden, Norwegen, Finnland gereist, wo er Vertreter 
gewonnen und große Abschlüsse gemacht habe. Überall sei das Ge¬ 
schäft vorzüglich gewesen, bis der Feldzug der Konkurrenz in Szene 
gesetzt und die Direktoren der Bombastuswerke verhaftet worden 
seien; auch in Buß 1 and sei ein glänzendes Geschäft angebahnt worden. 
Er habe sich mit R.. dem Vermittler der Einfuhrerlaubnis bei der 
russischen Medizinalbehörde, in Verbindung gesetzt und bereits hierzu 
die Erlaubnis erhalten, als die Katastrophe eintrat. Die Konkursver¬ 
waltung weigerte sich nun, den bereits erwirkten Teilerlaubnisschein 
för die Einfuhr herauszugeben. Dadurch kam die Einfuhr nicht zu¬ 
stande. R. habe anonyme Briefe erhalten: er solle alles tun, um die 
Einfuhrerlaubnis für die Bombastuspräparate unmöglich zu machen 
und später 6000 Rubel als Anerkennung erhalten. Die russischen Zeitungen 
seien auch sofort von dem Krach der Bombastuswerke informiert 
worden; auf brieflichem Wege wäre das so schnell gar nicht möglich 
gewesen. Das Geschäft in Rußland sei also nicht zustande ge¬ 
kommen. Anderenfalls hätte man in Rußland auf einen Umsatz von 
einer Million Rubel in diesem Jahre sicher rechnen können. Ein 
Direktor der Medizinalbehörde in Petersburg hat die Mittel untersucht 
und erklärt, sie seien das beste, was ihm je vorgekommen sei. 
Der Zeuge ist der Ansicht, daß die große Reklame in Zukunft nicht 
mehr nötig gewesen wäre, daß der Umsatz aber um das Zehnfache 
gestiegen sein würde. Bergmann sei durchaus nicht von den Be- 


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Stimmungen D.s abhängig gewesen, sondern habe in letzter Instanz 
über dessen Verfügungen zu entscheiden gehabt. Die Rezepte seien 
mit mindestens 50 Proz. des Gesamtwertes zu taxieren. 

Von den ferner vernommenen Zeugen sind lediglich noch die 
Depositionen des Kaufmanns D. für diese Arbeit von Interesse. Er 
war Mitbegründer des Bundes der Freunde und hielt von jeher Berg¬ 
mann für ein außergewöhnliches Medium. Er war auch stets dabei 
wie Bergmann im Verlauf von 1 x k Jahren seine Glaubenslehre mani¬ 
festierte (die als gedruckte Broschüre vorhanden ist), für welche D. 
die Einleitung verfaßte. Nach seiner Meinung decken sich die Berg- 
mannschen Trancezustände mit den wissenschaftlichen Ergebnissen. 
Er halte Bergmann für anormal, verträumt uud bestätigte das spontane 
Auftreten von Trancezuständen. Er hat mehr als 300 Sitzungen 
beigewohnt 

Es erfolgt nun die Vorlesung einiger Kundgebungen, die in den 
Jahresbänden vom Freundeskreise gesammelt sind. Diese betreffen: 
Geschäftliche Ratschläge, Reklameentwürfe, das Verhalten in den 
Sitzungen und die Montignosoaffaire. In einer heißt es: 

„Sendet sofort 4000 Mk. an eure eigentliche Königin Louise nach 
Italien. Fraget nicht, warum. Um allen bösen Einflüssen vorzu¬ 
beugen, zeige diese Kundgebung nicht allen Freunden. Die Bom- 
bastuswerke sollen die Summe auslegen, denn sie werden später 
den Nutzen davon haben. Du kannst den Betrag an Louise auf 
Rechnung ihres späteren Gewinnanteils setzen und vorläufig im Ge¬ 
heimbuch als Darlehen notieren. Es gilt rasche Hilfe, um sie 
zu befreien. Sorget nicht wegen dieses Betrages, der Lohn wird 
kommen. Lohe empor, Flamme des Guten, im Herzen der Menschen! 
Jauchze, sehnende Seele; die lohnende Helle wird sich wandeln in 
Glut und preiset Gott, der die Seelen bereiten hilft usw. usw/ Der 
Angeklagte bemerkt, daß er die Kundgebung im Halbtrance geschrieben 
habe. 

Eine andere Kundgebung beklagt das übertriebene Rauchen: 
„Es ist mir schon fast gar nicht mehr möglich, in eurer Mitte zu 
weilen. Versteht mich nicht falsch; uns ist das Rauchen nicht 
schädlich, aber euch, und deshalb betrübt es uns.“ Mehrere Kund¬ 
gebungen sind in Spiegelschrift geschrieben, manche in ganz 
mysteriösen Runen, die der Angeklagte selbst nicht lesen kann; andere 
wieder empfehlen den einzelnen Freunden direkt Grundstücksverkäufe 
und ähnliches. So heißt es einmal: „Unser Freund Hermann mag 
darein willigen. daß sein Haus zum Verkauf gestellt wird, ln der 
Zwischenzeit aber, ehe dieser Verkauf geregelt, ehe ferner die Hypo- 


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Der Prozeß der Bombastuswerke usw. 


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theken geordnet sind zu dem Bau der Fabrik, in dieser Zwischenzeit 
kann unser Freund Franz helfen, ohne Geld auszugeben, indem er 
vorläufig seine geliehenen Baugelder als Darlehen oder Einlage be¬ 
trachtet und auf das Grundstück eine Buchhypothek Euch einzutragen 
genehmigt .... Soviel wisset, daß das Bild sich ändern wird in un¬ 
erwartet glücklicher Weise, sobald Ihr diesmal noch Vertrauen habt 
Dann werdet Ihr alle, die Ihr heute noch nicht so recht froh seid, in dank¬ 
barer Liebe meiner gedenken. Dessen sollt Ihr eingedenk sein, daß 
sich der Gewinn rasch heben und 50 Proz. rasch erreichen wird.“ 

Aus dem nun folgenden Gutachten des Professor Henneberg 
(Berlin) mögen nur einige Punkte hervorgehoben werden: 

Sachverständiger nimmt eine Skala von Trancezuständen an vom 
leichten Wachträumen bis zur Tieftrance. Der Spiritismus beruhe 
nicht immer auf Schwindel und Betrug. Bei Medien, die oft in An¬ 
spruch genommen werden, verflachen die Trancezustände. Die Wissen¬ 
schaft besitze keine Kriterien, die Trancezustände als echt zu er¬ 
kennen; sie seien sozusagen Vertrauenssache. Bergmann habe sich 
im wachen Zustande auf das vorbereitet, was er im Trance sagen 
werde und sei nur in oberflächlichen Trance während der letzten 
Jahre verfallen. „Derartige Leute erinnern an die pathologischen 
Schwindler . u Denn sie haben ein unklares Gefühl von ihrem Schwindel, 
glauben aber daran. Strafrechtlich charakterisieren sie sich als geistig 
minderwertig. Wenn aber der Gerichtshof zu der Überzeugung komme, 
daß Tieftrance Vorgelegen sei, dann wäre die freie Willensbestimmung 
auszuschließen. 

„Der Angeklagte sei ein Mensch von hysterisch-psychopathischer 
Anlage und deswegen vermindert zurechnungsfähig.“ 


C. Gutachten des Verfassers über den Geisteszustand 
des Fabrikbesitzers Emil Bergmann. 

1. Ergebnis der Untersuchung. 

Explorand ist 48 Jahre alt. Vater streng kirchlich gesinnter 
Maschinenbauer, der schon in seiner Wohnung religiöse Vorträge 
halten ließ. Starb 63 Jahre alt Mutter litt an Migräne, starb 
62 Jahre alt an Lungen- und Rippenfellentzündung. Eine lebende 
gesunde Schwester. Ein Bruder starb mit 40 Jahren. Kinderkrank¬ 
heiten: Masern, Windpocken. 

Im Alter von sieben Jahren sogenanntes Nervenfieber (wahr¬ 
scheinlich Typhus), das den Angeklagten ' A ,U Jahre ans Bett fesselte 
und wohl eine schwere konstitutionelle Schädigung des B. bedeutet. 


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Seit dieser Zeit Anfälle von Kopfschmerz, von träumerischen 
Absencen, d. h. von leichten Störungen des Bewußtseins. Die 
Schmerzanfälle wiederholten sich mitunter mehrmals wöchentlich, teil¬ 
weise auch seltener. Diese dauern in der Regel 24 Stunden und ver¬ 
schwinden in der nächstfolgenden Nacht. 

Während der Zustände träumerischer Abwesenheit wurden vom 
Exploranden Handlungen vorgenommen, an die er sich nachträglich 
nicht erinnern konnte. 

Der heute noch beim Exploranden zu konstatierende nervöse 
Husten besteht schon seit länger als zwei Jahrzehnten. 

Er besuchte von 1875 bis 1878 ein Seminar in Dresden, machte 
normale Fortschritte und wurde nach Absolvierung der Berliner Kunst¬ 
akademie Glas- und Porzellanmaler (für Miniaturen). 

Tn seinen Schilderungen zeigt Explorand große Weitschweifig¬ 
keit mit der Neigung, einzelne Punkte des Inhaltes weiter zu spinnen; 
der Gedankenablauf erreicht nur auf umständliche Weise sein eigent¬ 
liches Ziel. 

Mimik und Gestik normal. Bei starken Erregungen Spinal¬ 
irritation. 

Tast-, Temperatur-, Farben- und Schmerzempfindungen ohne Ab¬ 
weichung. 

Dagegen sind Halluzinationen zu konstatieren; Bergmann 
sieht, wenn er allein ist, mitunter nebelhafte Gestalten. Er unter¬ 
scheidet an diesen Gestalten männliche und weibliche Gesichter. Diese 
treten nur auf im Zustand der Ruhe und werden beim Schließen der 
Augen noch deutlicher. Sie sind mit angenehmen oder unangenehmen 
Geruchseropfindungen verknüpft, je nachdem die Person ihm sym¬ 
pathisch oder unsympathisch ist. Die Bilder treten immer von der 
linken Seite her zuerst auf. 

Fast immer sieht der Angeklagte dieselben Bilder. Seit etwa 
G—8 Jahren, also nach Beginn der Sitzungen traten Halluzinationen 
zuerst auf. 

Eine dieser Figuren trägt die Gesichtszüge der Königin Marie 
Antoinette, deren Bild-auf Bergmann einmal einen tiefen Eindruck 
gemacht hat. 

Ebenso bestehen Gehörshalluzinationen, nur für das linke 
Ohr; so glaubt B. Glockenläuten zu vernehmen, das von ferne kommt 
sich annähernd verstärkt, dann wieder schwächer wird und verklingt. 
Derselbe Vorgang bei Halluzinieren von brausendem und dann wieder 
sich abschwächendem Orgelspiel. B. hört auch Stimmen, so diejenige 


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Der Prozeß der Bombastuswerke usw. 


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La ein das and auch anderer Wesen. Die letzteren jedoch sollen 
unzusammenhängend sein, weshalb sie nicht niedergeschrieben werden. 
Stimmungslage in hohem Grade von äußeren Ein¬ 
drücken abhängig. Er gibt sich dem Eindrücke des Augen¬ 
blicks gerne ganz hin. 

B. ist leicht ergriffen, zu Tränen gerührt, ebenso auch 
zu Zornausbrüchen geneigt. Weiche Natur mit besonderer 
Betonung des Gefühlsmäßigen. 

Gedächtnis unzuverlässig. Teilweise scharfe Er¬ 
innerungsfähigkeit an alle Einzelheiten gewisser Erlebnisse, 
sogar aus längst vergangenen Zeitperioden. 

Demgegenüber steht der völlige Ausfall von Erinne¬ 
rungen an gewisse Vorgänge und Handlungen, die ihm durch 
seine Umgebung nachgewiesen werden. So erinnert er sich an Aus¬ 
sprüche seines Vaters aus seinem sechsten Lebensjahre, dagegen hat 
er den Inhalt der ersten ärztlichen Besprechung mit dem Verfasser, 
bei welcher sein Anwalt und Herr D. als Zeugen zugegen waren, 
völlig vergessen. 

Es scheint hier Funktionsausfall und Funktions¬ 
steigerung (Afunktion und Hyperfunktion) nebeneinander vor- 
zukommen. 

Orientierung im Raume ohne Störung. 

Ticken der Uhr wird links nur bis zu einer Entfernung der¬ 
selben bis zu 10 cm vom Ohr wahrgenommen, rechts bis zu einer 
Entfernung von 30 cm. 

Durch spezialärztliche Untersuchung wurde eine Erkrankung des 
inneren Ohrs festgestellt. 

In das Gebiet von Halluzinationen des Tastsinns 
gehört der von B. geschilderte Vorgang, wonach er sich im Seminar 
einmal, während er allein im Zimmer war, von einer Hand berührt 
glaubte. 

Multiziplieren zweistelliger Zahlen gelingt mangelhaft.) 

Die Reflexe sind gesteigert und suggestiv beeinflußbar. 
Pupillen reagieren prompt. 

Die körperliche Untersuchung ergibt keine Abweichung von 
der Norm. 

Dagegen zeigt die Untersuchung des Herzens ein ausgesprochenes 
systolisches Geraus c,h an der Mitralklappe und Er¬ 
höhung des zweiten Pulmonaltones, Herzdämpfung rechts 
vergrößert. Der bei Bergmann bestehende Herzfehler ist als 
Insuffizienz der valvuia mitralis anzusprechen. 


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Um die Suggerierbarkeit des Angeklagten zu prüfen, 
wurde er am 12. Juli vom Verfasser hypnotisiert nach der Bern¬ 
heim sehen Methode durch Suggerieren von Schlafsymptomen. Schon 
nach kaum einer Viertelminute Tremor des oberen Augenlides, leichtes 
Tränen, die Augen schließen sich. 

Der Versuch gegen den Willen des Suggerierenden die Augen 
zu öffnen, gelingt nicht. Suggestivkatalepsie. Die Glieder 
behalten die ihnen gegebene Stellung. 

Kontrakturen auf Suggestion erzielbar. Anal¬ 
gesie. £ine aseptisch gemachte Nadel wird durch eine auf¬ 
gehobene Hautfalte der Hand gestochen, ohne daß der Hypnotisierte 
im geringsten darauf reagierte. 

Cornealreflex auslösbar. 

Der hypnotische Versuch wurde am 13. abends in Gegen¬ 
wart von zwei Nervenärzten mit dem gleichen Erfolge wiederholt. 
Beide Male die gleichen, oben geschilderten Erscheinungen. Be¬ 
merkenswert ist ein leichter Tremor der Unterlippe, 
wie er auch in den spiritistischen Sitzungen zu beobachten war. 

Um den Grund der Snggestibilität, die Halluzinierbarkeit des 
Angeklagten zu prüfen, wird ihm in der ersten der oben genannten 
Sitzungen vom Verfasser suggeriert, eine Zigarette zu rauchen. Mit 
einer Handbewegung sage ich zu ihm: Hier, rauchen Sie diese 
Zigarette. Er greift in das imaginäre Etui, als ob er eine Zigarette 
herausnehmen würde, nimmt vom Verfasser das eingebildete Streich¬ 
holz und fuhrt die sämtlichen Bewegungen des Ansteckens und 
Rauchens aus. Er zieht den Rauch ein, bläst ihn heraus. Schlie߬ 
lich sage ich z. B.: Werfen Sie doch die Zigarette weg, sie ist 
schlecht, Ihnen wird ja ganz übel. Bergmann führt die Geste 
des Wegwerfens aus und zeigt in seinen Gesichtszügen den Ausdruck 
der Übelkeit. 

Die dramatische Darstellung von suggerierten 
oder autosuggerierten Persönlichkeiten oder Cha¬ 
rakteren ist auch im tiefenSomnarabulismus der nor¬ 
malen Hypnose äußerst selten und darf nicht als ein Symptom 
derselben angesprochen werden. Dagegen findet sich diese Erscheinung 
ungemein häufig bei Hy st erischen im Zustande des 
Somnambulismus. Man hat diese als Objektivation 
des Types bezeichnet 

Die Snggestibilität der Hysterisehen ist hypernormal, ten¬ 
diert zu Übertreibung und kann zu suggestiv bedingten kontrast- 
artigen Umwandlungen der ganzen Persönlichkeit führen. Eine 


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Der Prozeß der Bombastoswerke usw. 


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Bedingung hierzu ist das Vorhandensein der hysterischen 
Dissoziabilität. D. h. dieser krankhafte Vorgang be¬ 
steht darin, daß Vorstellungsverbin düngen besonders leicht disso¬ 
ziiert, d. h. getrennt werden oder den Zusammenhang verlieren, so 
daß eine einzelne, isolierte Gruppe von Ideenverbin- 
dnngen das Subjekt momentan vollkommen beherrschen kann. 
Die Kontrakturen, Anästhesien, Lähmungen ent¬ 
stehen auf diese Weise, ebenso wie die Erscheinungen des Doppel- 
ich, der Vervielfältigung der Persönlichkeit, des graphischen 
Automatismus usw. Derartige hysterische Somnambule sind als 
Träumer anzusehen, die den Inhalt ihrer Träume wirklich erleben 
und realisieren. 

Nun ist Bergmann, wie aus dieser ganzen Darlegung hervor¬ 
gebt, ein solcher hysterischer Somnambuler, womit sich 
seine spiritistischen Leistungen ebenso erklären wie die nach¬ 
folgend geschilderten experimentell erzeugten Persönlichkeitsver¬ 
änderungen. 

Am 12. Juli wurde ihm im Zustand der Hypnose suggeriert: 
Lucinda werde sich durch den Angeklagten kundgeben und eine 
schriftliche Mitteilung machen. Der Hypnotisierte ergriff die Bleifeder 
und schrieb, während ihm vom Verfasser die Augen zugehalten 
wurden, in Spiegelschrift von rechts nach links: „Ich war gestern 
Abend nur einen Moment bei Euch, die Antworten waren nicht von 
mir. Lucinda.“ (Bezieht sich auf eine am Abend vorher abgehaltene 
spiritistische Sitzung). In dieser und in der folgenden Sitzung wurde 
dem Somnambulen vom Verfasser suggeriert, außer der Genannten 
noch folgende Persönlichkeiten dramatisch darzustellen: 

Christoph Wieland, Bismarck im Reichstage, Prin¬ 
zessin Luise von Sachsen, Bombastus Paracelsus, Berg¬ 
mann als Knabe von 15 Jahren, Freund D. usw. 

Mimik, Gestik, Stimme werden bei Darstellung dieser Typen 
regelmäßig nach Möglichkeit dem Charakter angepaßt Als Bismarck 
und Wieland gehobene und laute Stimme, feierliche, würdevolle 
Haltung, dagegen bei Darstellung des weiblichen und kindlichen 
Wesens affektierte Nachahmung durch leise, dünne Stimme, ent¬ 
sprechende Gestik. 

Der Inhalt der Kundgebungen entfernt sich nicht aus den Grenzen 
der einfachsten Gewobnheitserinnerungen. 

So läßt Bergmann den von ihm geschaffenen Bismarck 
folgende mit theatralischem Pathos gesprochene Worte reden: „Wir 
Deutsche fürchten Gott und sonst nichts in der Welt Die Engländer 


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fürchten die Deutschen, sonst nichts auf der Welt. Otto von Bis¬ 
marck.“ 

Bei Wieland gibt er nur Geburts- und Sterbetag an. 

Dagegen weiß er als Knabe von 15 Jahren die Genusregel 
„panis, piscis, crinis, finis“, und deklamiert mit kindlichem Ausdruck 
ohne Stocken das Gedicht: „Glockenguß zu Breslau“. 

Ebenso gibt er auf eine Reihe von Fragen entsprechend dem 
geistigen Erinnerungsschatz eines Fünfzehnjährigen Antwort, fällt aber 
aus seiner somnambul dargestellten Rolle auf die Frage, ob er Sch. 
(mit dem er erst als Mann in späteren Lebensjahren bekannt wurde) 
kenne. Er antwortete: Sch. sei ihm ein guter Freund und. 
37 Jahre alt. 

Ferner zeichnete er seine Najmensunterscbrift mit kindlich 
verstellter Handschrift auf ein Papier: 

„Emil Bergmann, Seminarist der V. Klasse“. 

Auch als Paracelsus schrieb er, befragt nach dem Ursprung 
der kosmetischen Rezepte, automatisch die Worte: „Was ihr wollt, 
kann ich Euch nicht sagen“. 

Diese Versuche bestätigen die von mir in meiner Arbeit über die 
Spaltung der Persönlichkeit (Wien, Hölder, 1896 S. 8) bereits erwähnte 
Tatsache, daß die auf Suggestion (oder Autosuggestion) dramatisch 
von Somnambulen dargestellten Persönlichkeiten in der Regel auf 
vorhandenen Erinnerungsbildern beruhen, aber mit zahlreichen Vor¬ 
stellungen, Zügen und Cbaraktereigentümlichkeiten der späteren und 
gegenwärtigen Person durchsetzt sind. So erklärt es sich, daß im 
Trancezustand die Königin Marie Antoinette und die Staatsmänner 
des Altertums wie Solon', Perikies, Demosthenes, sobald sie sich 
durch das Medium äußern, deutsch reden im Stile und Dialekt des 
Herrn Bergmann. 

Die hypnotischen Versuche bieten hier den Schlüssel 
zum psychologischen Verständnis der schauspielerischen Lei¬ 
stungen im Trancezustand. 

In ähnlicher Weise läßt sich die Bewußtseinsveränderung des 
Versuchsobjektes im Momente der Ausführung posthypnotischer 
Suggestionen vergleichen mit den Zuständen der Halbtrance, 
welche regelmäßig eine Ideenverbindung zeigen mit dem Vorstellungs¬ 
inhalt der Tieftrance. 

Während der ersten hypnotischen Sitzung wurde Bergmann 
suggeriert, er möge nach dem Erwachen einen kleinen an der Bücher¬ 
stellage hängenden Spiegel herunternehraen, sich darin betrachten und 
diesen wieder aufhängen. 


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Der Prozeß der Bombaatuswerke usw. 


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Nach dem Erwachen erinnerte Explorand sieb nicht mehr an 
die Vorgänge in der Hypnose und führte die posthypnotische 
Saggestion prompt aas. Beim Herunternehmen des Spiegels 
entschuldigte er Bich damit, daß seine Krawatte ihn drücke. 

Am 13. Juli wurde dem Hypnotisierten die viel komplizierter 
auszuführende Suggestion einer posthypnotischen negativen 
Halluzination gegeben. Der Rechtsanwalt Dr. Fleischhauer sollte 
für ihn verschwunden sein bis zu dem Moment, in welchem Verfasser 
das Wort „Justizrat“ ausspräche. Außerdem sollte er 5 Minuten nach 
dem Erwachen ein auf der Chaiselongue liegendes Paket weißes, un¬ 
beschriebenes Briefpapier in die Hand nehmen, es für ein Buch über 
„Porzellanmalerei“ halten und daraus eine Seite vorlesen. Der nach 
dem Erwadben für den Inhalt der vorausgegangenen Hypnose amne¬ 
stische Explorand ignorierte offenbar die Anwesenheit des Dr. F.; 
als wir das Gespräch auf den Anwalt brachten, schloß er sich unserer 
Meinung an, daß Dr. Fleischhauer im Wartezimmer sein würde. Auch 
als Privatdozent Dr. Specht das Wort „Justizrat“ aussprach, reagierte 
der Angeklagte nicht darauf; gebeten, auf einem Stuhle Platz zu 
nehmen, setzte er sich auf die Knie des Dr. Fleischhauer. Nach 
Verlauf von etwa 5 Minuten ergriff Bergmann das erwähnte Paket 
Briefpapier und las uns aus dem vermeintlichen Buche über Porzellan¬ 
malerei fließend eine Seite vor, die von dem Ursprung der Porzellan¬ 
malerei und von deren Technik handelte. Als hierauf vom Verfasser 
das Wort „Justizrat“ ausgesprochen wurde, erblickte Bergmann den 
Anwalt und äußerte, er habe ihn nicht hereinkommen sehen. 

Die hier geschilderten Experimente reichen vollkommen aus, um 
sich über die individuelle Suggestibilität des Bergmann, speziell 
über seine Empfänglichkeit für hypnotische Manipulationen 
ein Urteil zu bilden. 

Um aber das Bild zu vervollständigen, versuchte ich am 14. Juli, 
ihm eine Erinnerungsfälschung im wachen Zustande zu 
suggerieren. 

Ich sagte also zum Angeklagten: Übrigens, Herr Bergmann, 
wir kennen uns schon. Erinnern Sie sich nicht, daß ich Ihnen einmal 
vor zwei oder drei Jahren in Dresden auf der Straße begegnete, wo 
Sie mir durch einen Herrn vorgestellt wurden. Der Angeklagte stutzte, 
besann sich und gab zögernd, schließlich aber ganz offen zu, den 
Verfasser schon von früher zu kennen; er schmückte sogar das Er¬ 
lebnis durch Einzelheiten aus. Der Herr, welcher ihn vorgestellt 
habe, sei ein Russe mit langem, dunklen Vollbart gewesen. Er habe 

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damals zu mir gesagt, er kenne meinen Namen schon aus der Literatur. 
Wir hätten auch über seinen nervösen Husten gesprochen. 

Das Ergebnis der Suggestionsversuche mit dem Angeklag¬ 
ten ist folgendermaßen zusammenzufassen: Bergmann ist außer¬ 
ordentlich leicht hypnotisierbar, verfällt in tiefen Somnambulismus 
mit Amnesie nach dem Erwachen. Prompte Realisierung der 
schwierigsten posthypnotischen Aufträge. Hochgradige 
anormale Suggestibilität sowohl im hypnotischen wie im wachen 
Zustande. 

Der hohe Grad der Gefügigkeit, den Bergmann zeigte, 
die Erzeugung suggerierter Analgesie, von Kontrakturen, 
die schauspielerische Darstellung von allen möglichen Cha¬ 
raktertypen, die leichte Halluzinierbarkeit erwecken schon an 
sich hier den Verdacht, daß Bergmann an Hysterie leidet und 
daß es sich bei ihm um die Erscheinungen eines hysterischen 
Somnambulismus bandelt 

Wenn zur Entscheidung dieser Frage das Resultat der sonstigen 
Untersuchung herangezogen wird, so bleibt wohl kaum ein Zweifel 
darüber zurück, daß Bergmann wirklich an Hysterie leidet In 
diesem Sinne sind aus unserer Untersuchung folgende Punkte zu be¬ 
rücksichtigen: Die schwere, sich auch auf das Gehirn erstreckende 
Erkrankung im 10. Lebensjahre, die migräneartigen An¬ 
fälle von Kopfschmerzen, träumerische Absencen, nervöse 
Erregbarkeit und Emotivität, die Halluzinationen im Ge¬ 
biete des Gesichts-, des Gehörs- und des Tastsinnes, die 
für Hysterie typischen Störungen des Gedächtnisses, die 
Dissoziabilität, der Wechsel von Hyperfunktion und Afunk- 
tion, endlich die Einseitigkeit einzelner Symptome (Schwerhörig¬ 
keit und Halluzination). Im Sinne einer hysterischen Uberleistung 
ist auch das Halten eines schweren Pokals in dem Trancezustand 
während einer Zeitdauer von 45 Minuten, wie es Zeuge Schönfelder 
beobachtet hat, aufzufassen. Ich will noch erwähnen, daß ich am 
Tage vor der Sitzung in Gegenwart des Prof. Henneberg und der 
Verteidiger den Bergmann 1 im Gerichtsgebäude hypnotisiert habe 
mit demselben Resultat, wie geschildert. Auch bei diesem Versuch 
verfiel er in tiefe Hypnose mit Amnesie und führte die suggerierten 
und posthypnotischen Aufträge prompt aus. 

2. Die mediumistische Tätigkeit Bergmanns. 

Bevor nun die Rolle, welche Bergmann als Medium gespielt 
hat, zur Erörterung gelangt, erscheinen für das Verständnis seiner 


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Tätigkeit einige allgemeine Bemerkungen über Mediumismus 
and Trance notwendig. 

Medium bedeutet Mittelperson; damit ist eine Persönlichkeit ge¬ 
meint, durch welche die gewünschten Manifestationen zustande 
kommen. In den Sitzungen der Offenbarungsspiritisten — und um 
solche handelt es sich in diesem Falle — soll durch das Medium 
der Verkehr mit einer Welt von Geistern oder Verstorbenen unter¬ 
halten werden. Man unterscheidet physikalische und psychische 
Medien; während die ersteren greifbare, sinnfällige Veränderungen in 
unserer körperlichen Umgebung hervorzubringen suchen (z. B. Be¬ 
wegung von Gegenständen ohne Berührung), ist die Wirkung der 
psychischen Medien meist auf die rein intellektuellen Phä¬ 
nomene beschränkt. Letztere bestehen in Mitteilungen und Kund¬ 
gebungen angeblicher Verstorbener und Geister, welche nach dieser 
Anschauung sozusagen vom Medium Besitz ergreifen und sich ent¬ 
weder durch den Mund (Sprache) oder die Hand (Schrift) des 
Mediums äußern. Man nennt die letztere Klasse der Medien auch 
-Schreib-“ oder „Sprechmedien“. Diese spielen in den volks¬ 
tümlichen spiritistischen Sitzungen die größte Rolle. Der geistige 
Inhalt der Kundgebungen hat vielfach eine religiöse, moralisierende 
Färbung. Mit Ausnahme einiger in der Wissenschaft wohl beglau¬ 
bigter, allerdings außerordentlich seltener Fälle von Hellsehen geht 
im allgemeinen alles, was in solchen Sitzungen produziert wird, nicht 
über das geistige Niveau des Mediums und der jeweiligen 
Zirkelteilnehmer hinaus. Es wäre falsch, das Medium allein 
für die in dem Zirkel zustande kommenden Phänomene verantwort¬ 
lich zu machen; denn vielfach befindet sich das .Medium während 
der Manifestation in einem veränderten (hypnotischen oder bypnoiden) 
Bewußtseinszustande; meistens handelt es sich bei den Medien um 
hysterische Individuen mit abnorm verfeinerten Sinnes¬ 
organen und großem S pürsinn. Sie können zu einem willenlosen, 
suggestiven Instrument des Zirkels werden, ganz besonders nach Ein¬ 
tritt der Trance, die nichts anderes als eine Hypnose oder hysterischer 
Somnambulismus ist und in den tieferen Graden ein völliges Aufgeben 
geistiger Selbständigkeit bedeutet. 

Derartige Somnambulen sind imstande, aus den unschein¬ 
barsten, veräterischen Zeichen die Wünsche der Experimen¬ 
tatoren, also des Zirkels zu erkennen und bestrebt, diese nach 
Möglichkeit und in der traditionellenjForm der Geisterlehre vermittelst 
ihrer traumhaft arbeitenden Phantasie zn realisieren. Solche An¬ 
regungen z. B. für eine sogar in sich geschlossene dramatische Dar- 

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Stellung eines Verstorbenen können auch ungewollt von den Zirkel¬ 
teilnehmern gegeben werden. 

Der Zirkel spielt also meist die Rolle des Ilypnotiseurs, 
des Agenten, des Suggerierenden; das Medium diejenige 
des Hypnotisierten oder Perzipienten. Demnach ist der Zirkel 
nicht nur für die Vorgänge während der Sitzungen mitverantwortlich, 
sondern auch für die posthypnotisch fortwirkenden aus der Sitzung 
entstehenden Folgen und Ideengänge des Mediums. 

Andrerseits ist aber auch zu berücksichtigen, daß solche Mittels¬ 
personen namentlich nach längerer Übung und Dressur imstande 
sind, die Trancezustände willkürlich hervorzurufen. Dieser Umstand 
spricht aber weder gegen den pathologischen Charakter noch gegen 
die Echtheit der Zustände. Ja es sind auch Fälle bei Medien be¬ 
kannt geworden, in denen diese ihre Trancereden und Schriften im 
wachen Zustande sorgfältig vorbereitet haben (Konzepte für die 
Trancereden). 

Die geistigen Produkte solcher Sitzungen setzen sich also zu¬ 
sammen aus den Erinnerungsbildern, Phantasievor¬ 
stellungen, durch Dressur automatisch gewor¬ 
denen Fertigkeiten des Mediums, d. b. aus Bestandteilen 
seines geistigen Besitzes, ferner aus allen Anregungen 
und Einwirkungen, welche während der ganzen, mitunter jahre¬ 
langen Dressur von den Zirkelteilnehmern auf das Medium bewußt 
oder unbewußt ausgeübt wurden. Demnach sind die vom Medium 
in Form der Geisterdramatisierung vertretenen Anschauungen, Lehren, 
Ratschläge usw. auch als geistiger Niederschlag des konstant auf das 
Medium wirkenden Zirkels anzusehen. Zudem ist der passive Zustand 
des Mediums dadurch charakterisiert, daß Kritik und Hemmung mehr 
oder minder aufgehoben sind, womit das Versuchsobjekt zum willen¬ 
losen S p i e 1 b a 11 seiner eigenen traumartig wirkenden 
Phantasie und der von den Anwesenden ausgehenden Inten¬ 
tionen und Suggestionen wird. 

Es kann sich sogar in einzelnen Fällen im somnambulen Zustande 
die Leistung auf dem Gebiete des geistigen oder künstlerischen 
Schaffens zu einer im Vergleich mit der Normalleistung des wachen 
Zustandes ungewöhnlichen Höhe steigern; es können schlummernde 
in wachem Zustande gehemmte Anlagen frei werden. . Hier ist z. B. 
zu denken an derartige Leistungen auf dem Gebiete der Tanzkunst, 
des Zeichnens, der Dichtkunst usw. Stets ist aber hierzu das Vorhanden¬ 
sein solcher Talente und Anlagen in dem betreffenden Individuum 
Voraussetzung. 


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Die vorstehenden Ausführungen gelten nun auch für den 1898 
von Bergmann und D. in Potscbappel-Dresden gegründeten 
spiritistischenZirkel, über dessen Entwicklung alles Nähere 
in der Anklageschrift ausgeführt wurde, sodaß an dieser Stelle die 
Geschichte des „Bundes der Freunde“ als bekannt vorausgesetzt 
werden kann. 

Bergmann funktionierte während länger als ein Jahr¬ 
zehnt als Medium dieses Zirkels, verfiel seit 1898 regelmäßig bei 
den durch Harmonium-Spiel und Vorlesen von Bibelstellen eingelei¬ 
teten Sitzungen in Trance nnd suchte in diesem Zustande mit dem 
Aufgebot seines ganzen, durch keine Kritik gehemmten Könnens eine 
große Zahl von Persönlichkeiten aus der Bibel, aus der Geschichte 
und aus der Geisterwelt dramatisch darzustellen, indem er entweder 
automatisch niederschrieb, wie wenn eine von ihnen den Inhalt in 
die Feder diktieren würde, oder aber Ansprachen mit wechselnden, 
je der Rolle angepaßten Ansdrucksbewegungen hielt, die von den 
Anwesenden nachgeschrieben wurden. 

Der geistige Inhalt dieser Kundgebungen wurde sorg¬ 
fältig in wohlgeordneten Jahresbänden gesammelt und aufbewahrt. 
Schon eine flüchtige Durchsicht zeigt, daß ihr ganzer Inhalt religiös 
moralisierende Tendenzen auf christlicher Basis enthält 
und sozusagen eine besondere Art „Predigten“ über die verschieden¬ 
artigsten Themata darstellt. Sie enthalten keinerlei Mitteilungen, die 
einen Rückschluß auf das Vorhandensein besonderer z. B. hellseherischer 
Befähigung erlaubt hätten oder auch nur über den Bildungsgrad der 
Verfasser hinausgegangeu wären. Die in Trancekundgebungen zu¬ 
sammengesetzte und gedruckte Glaubenslehre stellt ein in sich ge¬ 
schlossenes Ganze dar und es muß die Frage offen bleiben, ob Berg¬ 
mann sich hierzu im Wachzustände vorbereitet hat. 

Schon in den ersten Jahren 1898—1902 wurden auf diesem 
Wege wahrscheinlich auf Befragen des Mediums Ratschläge über 
persönliche Angelegenheiten z. B. bei Krankheitsfällen, jedoch 
immer nur in ganz besonders wichtigen Lebensfragen erteilt. Diese 
Antworten blieben schon damals Direktiven für das Leben der 
Zirkelteilneh mer. 

Diese Hereinziehung der persönlichen Lebensinteressen in die 
spiritistische, einem religiösen Drange entsprechende Tätigkeit aus 
rein egoistischen Motiven bedeutet für das Medium eine Art Dressur. 
Denn auch wenn Bergmann eine in diesem Punkte den Zirkelteil¬ 
nehmern entgegengesetzte Willensmeinung geäußert hätte, — de facto 
wäre es ihm infolge seiner somnambulen Geistesbeschaffenheit 


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unmöglich gewesen, Widerstand zu leisten oder den ausdrücklichen 
Wünschen des Zirkels zuwider zu bandeln. Sicherlich tragen 
viele der Kundgebungen einen selbständigen und vielleicht auch mit¬ 
unter einen scheinbar den Wünschen der Teilnehmer entgegengesetzten 
Charakter; aber im großen und ganzen ist das geistige Überge¬ 
wicht und die Möglichkeit einer selbständigen und freien 
Willensäußerung bei demselben gegenüber dem passiven medialen 
Instrument ganz unverkennbar. 

Die ärztl ich en Ver ord nun gen sind in einem besonderen Bande 
zusammengestellt und bestehen vielfach aus einfachen, schon bekannten 
Hausmitteln, Anhauchen, Glaubensanstrengung, magneti¬ 
siertem Wasser und aus Rezepten, wie sie in alten Büchern 
über „Sympathie und Geheim Wissenschaft“ Vorkommen. Diese Pharma¬ 
kopoe des Bundes der Freunde kennt etwa nur 20—30 Heilmittel 
pflanzlicher oder chemischer Herkunft Was an medizinischem, speziell 
physiologisch-anatomischem Wissen bei dieser Gelegenheit vorgebracht 
wird, ist phantastischer Unsinn. 

Angeblich haben die Verordnungen regelmäßig bei den Patienten 
Erfolg gehabt. Bei allen ärztlichen Kundgebungen wird das 
Medium von „Martin Luther“ und von dem „weißen Sch wan“ 
inspiriert, während vom Jahre 1902 an der Geist des Theophrastus 
Bombastus Paracelsus die Zusammenstellung der kosmetischen 
Mittel angab, welche Veranlassung zur Gründung der Fabrik wurden. 

Die „Bombastus Werke“ zur Herstellung kosmetischer Präparate 
wurden 1904 durch Teilnehmer des Zirkels gegründet; die erste An¬ 
regung hierzu ging nicht, wie man mir mitteilte, von dem Medium 
sondern vom Zirkel aus. 

Trotz seiner Mittellosigkeit aber wurde „Bergmann“ als „Ge¬ 
schäftsinhaber“ in das Handelsregister eingetragen. 

Wie sehr diese Sitzungen zu materiellen Zwecken ausgenutzt 
werden, zeigt auch die Tatsache, daß wiederholt über das Sinken und 
Steigen von Wertpapieren bei dem mediumistischen Orakel Rat ge¬ 
holt wurde, um danach an der Börse zu spekulieren. 

Es besteht nun die Frage woher Bergmann die Kenntnisse 
hat, um Rezepte zu geben, deren Herstellung doch einen gewissen 
Grad fachmännischen Wissens voraussetzt; dasselbe gilt für in eng¬ 
lischer Sprache erfolgte Antworten des Mediums, die den Zirkel 
glauben machten, das Medium spräche in ihm unbekannten Sprachen, 
ferner für die verschiedenen durch das Medium produzierten Hand- 
sch r i ften. 


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Wir müssen annehmen, daß alles, was Bergmann befähigte, 
diese auffallenden Leistungen zu produzieren, in seinem Lebensgange 
erworben war und daß [auch für diesen Fall der alte Satz: „Nihil 
in intellectu, quod non prius fuerit in sensu“ seine Geltung besitzt. 

Ein „zweites Ich“ oder ein vom Medium dargestellter „Geist“ 
ist meistens nicht imstande, eine Sprache zu reden, die es nicht vorher 
einmal erlernt hat 1 ). Sehr treffend erscheint in dieser Beziehung 
das in der Literatur bekannt gewordene Beispiel des Grob¬ 
schmiedes, der plötzlich im Fieberdelirium homerische Verse zu 
deklamieren begann, obwohl er niemals griechischen Unterricht er¬ 
halten batte. Der Fall erklärte sich in folgender Weise auf: Ein 
neben dem Schmiede wohnender Gymnasialsehüler batte bei offenem 
Fenster homerische Verse mit lauter Stimme auswendig gelernt, sodaß 
der Schmied diese anbören mußte, auch wenn er ihnen seine Auf¬ 
merksamkeit nicht direkt zuwandte. 

Alles was B. also in den Sitzungen produziert, setzt sich aus 
psychischen Bestandteilen zusammen, die er irgendwo einmal 
in sich aufgenommen haben muß, ohne Rücksicht darauf, ob er sich 
daran erinnert oder nicht, und wann, wo und wie diese Vorstellungen 
in ihm entstanden sind (Kryptomnesie). 

Dies gilt ebenso für die kurzen englischen Sätze, die B. produzierte, 
wie für die Handschriften, welche doch trotz der durch die be¬ 
treffenden Rollen gebotenen Abweichungen unverkennbar die Grund¬ 
linien der Bergmannseben Schriftzüge zeigen. 

Daß Bergmann seine chemischen Kenntnisse aus alten 
Büchern geschöpft hat und diese auch teilweise auf dem Wege der 
Konversation (z. B mit Apothekern oder dem Gärtner B.) gewonnen hat, 
ist durch den Gang der Hauptverhandlung höchst wahrscheinlich 
geworden. Dafür sprechen auch die Angaben des Zeugen N., nach 
welcbem B. im Besitz einer pharmazeut. Bibliothek gewesen ist, ferner 
das Gutachten des Dr. B., wonach auch erst in neuester Zeit von der 
Chemie gefundene Stoffe für die Komposition der Kosraetica ange¬ 
wendet wurden. Bergmann suchte diese Tatsache zu verschleiern, 
indem er trotz wiederholten Befragens in der Voruntersuchung dem 
Sachverständigen den Gebrauch der pharmazeut. Literatur leugnete. 
Mit dieser Feststellung wird auch der letzte rätselhafte Punkt aufgeklärt, 
welcher Anlaß geben könnte bei Bergmann außergewöhnliche Fähig- 

1) Allerdings finden sich in der spiritistischen Literatur auch von zuver¬ 
lässigen Beobachtern Fälle verzeichnet, in welchen ein direktes Ilellseheu eintritt, 
wobei also das Wissen und Können des Mediums nicht ausreicht zur Erklärung 
der Leistungen. Vgl. „Die Mediumschrift der Frau Piper*, Leipzig Mutze 1903. 


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keiten zu vermuten. Selbst die Originalität der meist aus sehr ein¬ 
fachen Bestandteilen komponierten Rezepte ist anzuzweifeln. 

Um nun über den Geisteszustand des Angeklagten während 
seiner Sitzungen aus eigner Anschauung ein Urteil zu bekommen, 
verenstaltete ich in meiner Wohnung am 11. und 13. Juli 1909 zwei 
Sitzungen, an denen folgende Personen teilnahmen: Bergmann und 
seine Freunde D. und Sch., außerdem Rechtsanwalt Dr. Fleischbauert 
Privatdozent der Psychiatrie Dr. Specht und Nervenarzt Dr. von 
Gulat Wellenburg. Während der Sitzungen wurde stenographisches 
Protokoll geführt. 

Die beiden Sitzungen verliefen genau so, wie sie wiederholt in 
den Akten und der Anklageschrift geschildert sind. 

Eine durch das Medium auf geschlagene Bibelstelle wird von 
Herrn D. als Einleitung vorgelesen und zwar mit monotoner Stimme. 
Schon dieser eintönige Gehörsreiz, verknüpft mit dem leb¬ 
haften, suggestiven Wunsch aller Beteiligten, Bergmann möge in 
Trance verfallen, genügt zur Erzeugung einer Hypnose, namentlich 
bei byperempfindlichen, hysterischen Individuen, wozu noch die durch 
fast ein Jahrzehnt geübte Gewohnheit tritt. 

Einer meiner Patienten, der längere Zeit täglich nach dem Essen 
auf einem Schlafsopha hypnotisiert wurde, begann schon Zeichen von 
Müdigkeit zu äußern, wenn er nur das Sopha erblickte. 

Es handelt sich also bei der Einschläferung Bergmanns 
durchaus nicht lediglich um autosuggestive Prozeduren, 
soudem die von außen auf ihn wirkenden indirekt suggestiven Ein¬ 
flüsse des Zirkels, der Musik, des monotonen Vorlesens, der Beleuch¬ 
tung, der feierlichen Stimmung (keine Konversation), der von seiten 
der Teilnehmer auf die Einschläferung gerichteten Erwartung, Fak¬ 
toren, welche an sich schon genügen, um allmählich, auch ohne erheb¬ 
liche Mitwirkung des Mediums dieses in den gewünschten Trance¬ 
zustand zu bringen. 

Für die Ei n s ch 1 äf e r u n g s p r o ze d u r ist also der Zirkel 
mindestens ebenso verantwortlich (wie schon oben ausge- 
führt), wie das passive Medium selbst. Der auf diese 
Weise eintretende veränderte Zustand des Bewußtseins 
muß als eine Hypnose tiefen Grades, also als aktiver Somnambulis¬ 
mus angesprochen werden. 

Bergmann reagierte auf jede von mir ausgeübte Suggestion, 
zeigte Suggestivkatalepsie, Kontrakturen. Als das Medium einmal 
während der Sitzung aufwachte, hypnotisierte ich ihn von neuem 


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Der Prozeß der Bombastuswerke ubw. 


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und es traten die für den Tranceznstand charakteristischen dramatischen 
Kundgebungen ein. 

Es ist also hiernach festgestellt, daß der Trancezustand des 
Bergmann eine tiefe Hypnose darstellt, welche teilweise 
suggestiv durch den Zirkel, teilweise autosuggestiv durch ihn selbst 
hervorgerufen wird. Was nun die spontanen Äußerungen 
des pseudowachen Somnambulen Bergmann betrifft, 
so dramatisierte er zuerst den Dichter Wieland, der sein Geburts- und 
Sterbejahr angab, ferner einige Bemerkungen über seine Studien und 
seine ehelichen Verhältnisse einfließen ließ und sich mit den Worten 
,Sein oder Nichtsein“ empfahl. 

Hierauf beantwortete „Lucinda“ eine Reihe von Fragen in der 
Form einer oberflächlich geführten Konversation und bot nichts Auf¬ 
fallendes. 

In der folgenden Sitzung äußerte sich im norddeutschen Dialekt 
ein gewisser Assessor Joseph Lehnert, der durch Selbstmord 
im Tiergarten geendet haben soll. Es liegt sehr nahe, daß eine ge¬ 
lesene Zeitungsnotiz die Veranlassung zu dieser medialen Schöpfung 
wurde. Ferner manifestierte sich in derselben Sitzung ein Dr. Leonardt, 
welcher ein Rezept für Dr. Specht aufschrieb (automatische Schrift). 

Das Medium wurde vom Verfasser nach der entsprechenden 
Desuggestionierung geweckt 

Eine weitere spiritistische Sitzung wurde am 27. Oktober im 
Dresdner Gerichtsgebäude vor den beiden Anwälten und den beiden 
Sachverständigen gehalten, die ähnlich verlief wie die oben geschilderte. 
Anschließend daran nahm Verfasser hypnotische Versuche mit dem 
Angeklagten vor und demonstrierte seine hohe Suggerierbarkeit. Der 
Auffassung, als ob die Wissenschaft keine Mittel besäße, einen tiefen 
hypnotischen oder Trancezustand als solchen zu erkennen und nur 
auf das Vertrauen zu dem Okjekt angewiesen sei, kann ich nicht bei¬ 
pflichten. Allerdings ist es nicht immer möglich, einen materiellen 
Beweis aus unsimulierbaren körperlichen Symptomen abzuleiten. Wo 
das möglich ist, handelt es sich um schwere pathologische Fälle. 

Aber auf dem Gebiet der psychischen Tatbestände kann auch 
nur eine psychologische und keine physiologische Be¬ 
weisführung verlangt werden, so schwierig die Klarstellung werden 
mag bei Hysterischen und krankhaften Schwindlern. Aber auch von 
diesen ist ein geübter Experimentator nicht leicht zu täuschen. Denn 
zur konsequenten Simulation gehören größere Kenntnisse und um¬ 
fassendere Intelligenz, als Bergmann sie besitzt. Andererseits ist 
für jeden, der, wie Verfasser, zahlreiche Hypnotisierte beobachtet 


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II. v. Schrenck-Notzino 


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hat, das ganze Bild des Versuchsobjektes im hypnotischen Zustande 
so typisch und gleichartig, daß ein Irrtum kaum möglich erscheint. 
Die Methoden der modernen Psychoanalyse sowohl in der Psycho¬ 
pathologie wie in der Psychologie besitzen trotz ihrer Exaktheit nicht 
das Kriterium einer materiellen Beweisführung — und werden dennoch 
im Krankenexamen, bei kriminellen Fällen und in den Laboratorien 
täglich angewendet. Es handelt sich also bei dem Trancezustand 
Bergmanns um die echte tiefe Hypnose eines Hysterischen. 

Nach den gegebenen Aufklärungen erhellt ohne weiteres, daß 
die spiritistischen Leistungen Bergmanns auf falsche, 
abergläubische und laienhafte Interpretation der Er¬ 
scheinungen des aktiven hysterischen Somnambulismus 
und psychischen Automatismus zurückzuführen sind. 

Nun wurden nach den Feststellungen der Akten bei Berg¬ 
mann auch autohypnotische Zustände beobachtet. Der 
Angeklagte behauptet, die Eingebungen der „Lucinda“ in halb¬ 
wachem Zustande empfangen und durch automatische Schrift nieder¬ 
gelegt zu haben. In der Regel war er allein. Der Inhalt der Kund¬ 
gebungen Lucindas bezog sich in den letzten Jahren auf Ratschläge 
in bezug auf die Fabrik. Es unterliegt keinem Zweifel, daß aus der 
Befolgung dieser Ratschläge für das Medium erhebliche materielle 
Vorteile entstanden. Demnach ist der Verdacht begreiflich, daß diese 
Zustände vorgetäuscht sind. 

Denn soweit sich aus der Beweiserhebung erkennen läßt, wurde 
während der ganzen Zeitdauer des Bestehens der Babrik keine wich¬ 
tigere geschäftliche Entschließung gefaßt, ohne Befragung der Geister. 
Und selbst die kompliziertesten Verträge diktierte Lucinda dem 
Medium in die Feder. Außerdem erholte sich Bergmann zu wieder¬ 
holten Malen die nachträgliche Genehmigung der Lucinda, wenn 
er einmal ohne sie Entscheidungen getroffen batte. 

Schon hieraus geht hervor, wie schwierig es ist, eine Willens¬ 
beeinträchtigung des Angeklagten für die Halbtrancezustände nach¬ 
zuweisen. 

Zur Aufklärung der sogenannten H al b t r anc e" erscheinen 
einige Bemerkungen über den psychologischen Mechanis¬ 
mus der Suggestion erforderlich. 

Das Wesen der Suggestion besteht in der Besei¬ 
tigung bzw. Absch wächnng der einer suggerierten Vor¬ 
stellung im Wege stehenden Vorstellungen, Empfin¬ 
dungen, Antriebe. Der beginnende psychische Vorgang ist 
konzentrierte Einstellung der Aufmerksamkeit auf die suggerierte 


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Der Prozeß der Bom bastu »werke usw. 


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Vorstellung, also ein Konzentrationszustand. Sobald nun 
die Intensität der Suggestion intensiver wird, verstärkt sich ihre Ge- 
fiihlsbetonung, sie wird allein herrschend und erhält schließlich die 
Bedeutung einer wirklichen Wahrnehmung (Neigung zur Halluzina¬ 
tion). Mit der Zunahme ihrer Energie nimmt die hemmende Wirkung 
der im Wachen instinktiv gewordenen Logik des Denkens ab. Schlie߬ 
lich bekommen die aus solchen Vorstellungen resultierenden Hand¬ 
lungen den Charakter der Traumhandlung. 

Infolge des Wegfallens der Gegenmotive, des Gegen¬ 
wissens und der Gegenerfabrung (Theorie von Lipps) sind 
die für die suggerierte Aufgabe zur Verfügung stehenden psychischen 
und physischen Mittel freier, unmittelbarer zur Verfügung. Die 
Hindernisse des Wachzustandes sind beseitigt. Die durch diesen 
Prozeß bedingte Bewußtseinsveränderung kann 
alle Stadien von der einfach leichten Konzen¬ 
tration bis zum tiefsten Somnambulismus durch¬ 
laufen. 

Infolgedessen scheinen die Leistungen B e rg m a n n s, sowohl 
was die Geschlossenheit des geistigen Inhalts seiner 
Kundgebungen, wie was die dramatische Form betrifft, in 
welche er sie infolge der spiritistischen Glaubensanschauung kleidet, 
sein Können im Wachzustände zu übertreffen. 

Wenn ihm durch die ganze spiritistische Betätigung in den, 
Sitzungen die Aufgabe gestellt wird, durch seine Rezepte 
Ratschläge, Anweisungen die Fabrik zu fördern (denn das 
ist der Wunsch des Zirkels), so ist ihm auch das Wissen 
dieser Aufgabe im wachen Zustand gegenwärtig und er nimmt 
es mit in seine autohypnotischen und hypnoiden Bewußtseinszustände 
hinein. 

Schon der Umstand, daß im wachen und hypnotischen Zustand 
dasselbe Thema — nämlich die Entwicklung der Fabrik — sein 
Denken beschäftigt, macht es außerordentlich schwierig, zu ent¬ 
scheiden, wie weit seine Ideengänge und Entschlüsse in voller gei¬ 
stiger Klarheit zustande kamen und inwieweit er dabei unklar und 
halbbewußt gehandelt hat. 

Infolge seiner langjährigen Dressur ist er imstande, 
ohne Schwierigkeit einen hypnoiden, traumartigen Bewußtseinszustand 
durch richtige psychische Einstellung zu erzeugen. Daß dabei aber 
auch die egoistischen Wünsche der eigenen Per¬ 
sönlichkeit hineinspieien und in dramatischer Form 
wieder geäußert werden, erscheint begreiflich. Die von ihm drama- 


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tisierten Geister stellen nun außerdem eine in sieb zusammenhängende 
psychische Reihe dar, die regelmäßig während der Hypnose in die 
Erscheinung tritt und amnestisch von dem Vorstellungsleben des 
wachen Zustandes getrennt ist. 

Es besteht an die spiritistischen Kundgebungen in der tiefen 
Hypnose keine Erinnerung, wohl aber meistens an diejenigen 
der „Lucinda“ im Halbtrance. 

Das Erinnerungsvermögen wechselt also je nach der 
Bewußtseinsveränderung. Je leichter die Zustände der 
Traumbefangenheit sind, um so lebhafter ist die nachträgliche Erinnerung. 

Die auf den Verkehr mit den Verstorbenen be¬ 
züglichen Vorstellungsreiben, die in sich abgeschlosse¬ 
nen Bilder der einzelnen, dargestellten Persönlichkeiten mit besonderen 
Ich-Vorstellungen bilden als Ganzes die psychische Kette der 
medialen Betätigung. 

Sobald Bergmann sich psychisch auf diese Tätigkeit einstellt, 
beginnt der spiritistische Vorstellungskomplex die wache 
Persönlichkeit zu verdrängen; es treten zunächst Zustände psy¬ 
chischer Konzentration, dann eine Art Traumbefangenheit 
und schließlich wirklicher, aktiver Somnambulismus ein. 

Das Vorhandensein des psychischen Automatismus, des als fremd¬ 
artig empfundenen Schreibens der „Lucinda“ setzt aber schon eine 
Veränderung des wachen Bewußtseinszustandes voraus. 

Infolge seiner Hysterie neigt sein geistiges Leben zur Disso¬ 
ziabilität, liefert also infolge krankhafter Anlage besonders günstige 
Bedingungen zum Eintritt der genannten Vorgänge. 

Auch die Zustände der Halbtrance scheinen mir daher, selbst bei 
willkürlicher Erzeugung durch das Medium in leichten Bewußt¬ 
seinsstörungen zu besteben, — in welchen bereits die normalen 
Vorstellungsbedingungen gelockert sind. 

Ferner ist hierbei schon mit der Möglichkeit von Erinnerungs¬ 
mängeln infolge der hysterischen Anlage zu rechnen. 

Insofern die Erwerbung von Kenntnissen (z. B. der Rezeptformeln) 
behufs nachträglicher Nutzbarmachung in den Sitzungen zu der Auf¬ 
gabe gehört, die dem Medium durch das spiritistische Glaubens¬ 
bekenntnis sowie durch die Zirkeldressur suggeriert wurde, könnte eine 
eine solche auch in den zu diesem Zwecke hervorgerufenen Halb- 
trancezuständen stattgefunden haben, an welche dann eine nach¬ 
trägliche Erinnerung im Wachzustände nicht zu bestehen brauchte. 

Außerdem können Hypnotisierte an ihren Lügen ebenso festhalten 
wie wache Personen. 


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Der Prozeß der Bombastuswerke usw. 


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Es bestand also zweifellos eine Skala von Trancezuständen verschie¬ 
denen Grades von der einfachen Konzentration der leichtenTraumbefangen- 
heit bis zur ersten tiefen Hypnose resp. dem hysterischen Somnambulismus. 

Wenn Bergmann rechtswidrige oder egoistische Absichten 
hatte, so sind diese im wachen Zustande konzipiert und auf die 
Trancezustände willkürlich oder unwillkürlich übertragen worden, da 
sie die Interessen und Wünsche des Mediums zum Ausdruck bringen 
in Form von Geisterkundgebungen. 

Die Art und Weise, wie sich Angeklagter der „Lucinda“ gegenüber 
dem geistergläubigen Zirkel bediente, um seine Wünsche in Erfüllung zu 
bringen, stellt einen leichtfertigen Mißbrauch menschlicher Leicht¬ 
gläubigkeit dar und könnte als schwindelhafte Manipulation ange¬ 
sprochen werden, besonders wenn man die nachträgliche Genehmigung 
seiner geschäftlichen Manipulationen durch dieses angebliche Geist¬ 
wesen berücksichtigt. 

Was nun den Charakter des Angeklagten betrifft, so macht 
Bergmann zunächst auf alle, die mit ihm in Berührung traten, 
einen bescheidenen sympathischen Eindruck. Weiches Gemüt. Sehr 
empfänglich für äußere Anregungen. Man könnte versucht sein, ihn 
für einen idealen Träumer zu halten. Beobachtet man ihn aber 
länger, wie z. B. in der mehrtägigen Hauptverhandlung, so zeigt 
es sich, daß er klug ist Welches Raffinement geht z. B. aus 
dem unter der Flagge der „Lucinda“ verfaßten Vertragsentwurf her¬ 
vor, der mit dem Prosperieren des Geschäftes stufenweise den Wert 
der Rezepte erhöht. Bergmanns Verteidigung war sehr geschickt 
und verständig. Ferner bedenke man, welche zähe Konsequenz und 
Schlauheit dazu gehört, jahrelang den Freunden die Quelle seiner 
Kenntnisse zu verheimlichen, niemals aus der Rolle zu fallen und 
diesen logenähnlichen Freundeskreis durch das Eingehen auf das tief 
im Menschen schlummernde metaphysische Bedürfnis diese zu einem 
gefügigen Werkzeug seiner Wünsche zu machen. 

Allerdings war Bergmann anfangs uninteressiert und blieb auch, 
wenigstens was sein Gehalt betrifft, in bescheidenen Grenzen. Wo es 
sich aber um sein eigenes Wohl und seine Zukunft handelte, da zeigte 
er Selbständigkeit und Egoismus (z. B. Villenbau, zunehmender Wert 
der Rezepte, die er als Einlage in das Unternehmen gegeben hatte). 
Er liebte den Luxus, wünschte zu repräsentieren, kleidete sich gut 
nchtete seine Wohnung ein, wie ein wohlhabender Mann, benutzte die 
I. Klasse im Luxuszuge usw. 

Außerdem schmeichelte es ihm offenbar, Gegenstand des Inter¬ 
esses zu sein; seine Reise nach Florenz und die damit verknüpften 


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Hoffnungen auf den Logierbesuch der Gräfin Montignoso sind Be¬ 
weise für seine Eitelkeit und Selbstgefälligkeit. In diesem Sinn ist 
auch die Nachahmung der Handschrift der Gräfin Montignoso bei 
seinen Briefen zu verstehen. 

Wenn ihm ein gewisses Organisationstalent nicht abzusprechen 
ist, so bekundet doch sein Verhalten in Geldsachen, die Art, wie die 
Bücher geführt wurden, einen erheblichen Grad von Leichtfertigkeit 
und Skrupellosigkeit, sowie von geschäftlichem Dillettantismus. 

Sobald ihm eine Sache, eine Frage nicht bequem waren, wußte 
er geschickt seine Erregung zu verbergen. Während der Haupt¬ 
verhandlung stellten sich einzelne, direkt unwahre Aussagen heraus. 
Bergmann ist also kein aufrichtiger, wahrheitsliebender Mensch, wo¬ 
bei allerdings mit seiner hysterischen Geistesanlage zu rechnen ist 
So mag er in einzelnen Fällen die Produkte seiner Einbildungskraft 
wirklich geglaubt haben. 

Im übrigen aber besteht darüber kein Zweifel, daß er ganz und 
gar im Bann der spiritistischen Glaubenslehren handelte. 

Ein gewisser schwindelhafter, ja hochstapleriscber Einschlag ist 
in seinem ganzen Tun und Treiben nicht zu verkennen, wenn auch auf der 
Basis einer hysteropathischen Konstitution. In den spiritistischen Kund¬ 
gebungen findet man eine überwuchernde Phantasie, pastorales Pathos 
und große Phrasenhaftigkeit. Daneben lassen sich aber auch eine 
für seinen Bildungsgrad ungewöhnliche Gewandtheit des sprachlichen 
Ausdrucks und ein gewißer Schwung der Darstellung nicht verleugnen. 

3. Die Frage der Zurechnungsfähigkeit. 

Was nun die Zurechnungsfähigkeit des Exploranden betrifft, so 
sind folgende Punkte zu berücksichtigen. Bergmann zeigt er¬ 
hebliche Suggestibilität und Willensschwäche (Beispiel: Suggerierte 
rückwirkende Erinnerungsfälschung in wachem Zustande); sein ihm 
bis dato nicht bekannt gewordener Herzfehler (Puls in den 
Sitzungen bis zu 136) ist jedenfalls auch nicht ohne schädliche 
Rückwirkung auf sein Nervensystem geblieben. Außerdem leidet er 
an Hysterie. 

Die hier genannten Faktoren prädisponierten ihn in her¬ 
vorragender Weise zur Entwicklung als spiritistisches und 
hypnotisches Medium, einem zu gefügigen Instrument in der Hand 
der gläubigen Zirkelteilnehmer. 

Seine individuelle Suggestibilität ist krank¬ 
haft gesteigert. Die vieljährige spiritistische Betätigung als 
Medium mit dem regelmäßigen Hervorrufen der Trancezustände darf 


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Der Prozeß der JBombastuswerke usw. 


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als starke hypnotische Erziehung oder Dressur an¬ 
gesprochen werden. 

Bergmann stand infolge ungenügender Bildung 
kritiklos den spiritistischen Glaubenslehren gegenüber und gut¬ 
gläubig gab er sich ebenso sehr dem Banne, der geheimnisvollen, 
abergläubischen auf die christliche Religion bezugnehmenden Lehren 
nnd Gepflogenheiten des Geisterglaubens hin wie die übrigen Mit¬ 
glieder des Bundes der Freunde. 

Sowohl in der artifiziell erzeugten Hypnose Bergmanns, 
wie in dem Zustande der Volltrance lassen sich hervorrufen: Hallu¬ 
zinationen auf allen Sinnesgebieten, Analgesie auf tiefe Nadelstiche, 
Kontrakturen, posthypnotische komplizierte Suggestionen. Nach dem 
Erwachen Amnesie. Da die Wissenschaft andere objektivere Merk¬ 
male einer tiefen Hypnose nicht kennt, so sind wir berechtigt, die 
Volltrance Bergmanns als Hypnose tieferen Grades (als 
Somnambulismus) zu bezeichnen. 

Mit Berücksichtigung der bereits vor Beginn der Sitzungen be¬ 
stehenden psychopathischen Anlage beim Exploranden stellen dem¬ 
nach die als „aktiver hysteri scherSomnambulismus“ 
aufzufassenden tiefen Trancezustände, eine krankhafte Stö¬ 
rung der Geistestätigkeit dar, welche die freie Willens- 
bestimmung ausschließt. 

Was nun die Halbtrancezustände betrifft, in denen 
sieb der Geist Lu ein das manifestiert haben soll, so sind ihre 
Hauptmerkmale: der Zwang zum S c h re i b e n (Grap bischer 
Automatismus) und G e h ö r s h a 11 u z i n a t i o n e n (Stimme 
L u c i n d a s). Das Bewußtsein war hierbei nicht völlig klar, son¬ 
dern wies leichtere Grade traumartiger Benommenheit 
oder Einengung auf. Die hier genannten Symptome drücken 
eine leichte krankhafte Veränderung des Zentralnervensystems aus. 

Für den Inhalt dieser Halbtrance bestand regelmäßig volle 
Erinnerungsfähigkeit, und Bergmann ist imstande, sie will¬ 
kürlich jederzeit hervorzurufen, was in demselben 
Grade von den Tieftrancezuständen sich nicht behaupten läßt. 

Die in diesem Zustande der Konzentration oder leichter Benommen¬ 
heit produzierten Kundgebungen haben durchweg irgend eine Be¬ 
ziehung zu dem geschäftlichen Betrieb der Fabrik und sind wohl in 
allen Fällen als geistiger Niederschlag, als eine in die dramatische 
Form gebrachte Wiedergabe der Wünsche und Interessen des Mediums 
anzuseben. Sie sind in diesem eigenartigen Ritus des logenähnlichen 
Bundes der Freunde zu einem traditionellen Ausdrucksmittel für alle 


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wichtigeren auf die Fabrik bezüglichen Verfügungen geworden, so 
daß auch da, wo sofort gehandelt werden mußte und eine vorherige 
Befragung L u c i n d a s nicht möglich war, nachträglich erst die Ge¬ 
nehmigung eingeholt wurde. 

Der Inhalt dieser geschäftlichen L u c i n d a -Kundgebungen ist 
stets den Verhältnissen angepaßt, teilweise sogar recht scharfsinnig 
und unterscheidet sich in keinem Punkte von ähnlichen bei 
wachem Bewußtsein getroffenen Anordnungen. Für ihr Zustande¬ 
kommen war die dramatische Einkleidung in die Form der Lucinda- 
Kundgebung nicht erforderlich. 

Eine scharfe Unterscheidung vom Wachzustand existiert also 
nicht; dem Angeklagten stand es bei dem absoluten Vertrauen seiner 
Freunde vollkommen frei, dieses Mittel der Halbtrance zu selbstsüch¬ 
tigen Zwecken zu mißbrauchen. Er war sozusagen in der Anwendung 
dieses Mittels unkontrollierbar. 

Die im Zustande der Halbtrance reproduzierten Entschlüsse 
wurden zweifellos vorher im wachen Zustande gefaßt; sie waren stets 
vernünftig und sinngemäß und zeigen keinerlei Merkmal krankhafter 
Geistesbescbaffenheit. 

Somit kann ein Anschluß der freien Willensbestimmung für die 
Halbtrance nicht angenommen werden. Daher ist der Angeklagte 
für die in diesem Zustande vorgenommenen Handlungen 
verantwortlich zu machen 1 )- 

D) Urteil. 

Nach Beendigung des Plaidoyers des Staatsanwalts und der Ver¬ 
teidiger zog sich der Gerichtshof zur Beratung zurück und verkündete 
gegen den Direktor der Bombastus-Werke, Bergmann nach längerer 
Beratung folgendes Urteil: 

Der Angeklagte Bergmann wird wegen einfachen 
Bankrotts zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt, 
die durch die erlittene Untersuchungshaft als 
verbüßt erachtet werden. Von der Anklage des Betruges 
wird der Angeklagte freigesprochen. 

In der U rteilsbegründung führte der Vorsitzende aus: 
Der Angeklagte ist in erster Linie des Betruges angeklagt. Der 

1) Die nach Abschluß der Verhandlung über das Betrugsvergehen eröffnet« 
Beweisaufnahme über den zweiten Teil der Anklage betreffend die den gesetz¬ 
lichen Vorschriften widersprechende Führung der Bücher ergab in mehreren Punkten 
ein Verschulden Bergmanns; an dieser Stelle soll aber darauf nicht weiter ein¬ 
gegangen werden, weil sie zu dem eigentlichen Gegenstand dieser Abhandlung 
in keiner Beziehung steht. 


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Der Prozeß der Bombaetuswerke usw. 


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Betrag soll dadurch begangen sein, daß er Oeisterknndgebnngen vor¬ 
gespiegelt hat. Nach der Überzeugung des Gerichtshofes bat es sich 
aber niemals um Kundgebungen von Geistern gehandelt Es muß 
besonders öffentlich festgestellt werden, daß es von vorn¬ 
herein ausgeschlossen ist, daß Geister erschienen sind. Von etwas 
Überirdischem kann nicht die Rede sein. Die Frage, ob er das im 
bewußten oder unbewußten ;Zustand getan hat, ist nach dem Gut¬ 
achten des Sachverständigen nicht völlig aufgeklärt. Der Gerichts¬ 
hof bat angenommen, daß es leicht möglich ist, daß der Angeklagte 
den Trancezustand nur vorgetäuscht hat Der Gerichtshof hat 
außerdem Bedenken, ob die anderen Tatbestandsmerkmale des Be¬ 
truges gegeben sind. Es ist zweifelhaft, ob eine Vermögensbeschä¬ 
digung vorliegt Die Beteiligten wissen heute nicht mehr, in welcher 
Weise sie die Gelder hergaben, ob als Darlehen oder als Einlage. 
Es kommt ferner in Betracht, daß der Angeklagte eine pathologisch 
veranlagte Person ist die sich einer Beschädigung des Vermögens 
nicht bewußt war. Aus allen diesen Gründen konnte eine Ver¬ 
urteilung nicht eintreten. Andererseits hat der Angeklagte allerdings 
einen Aufwand getrieben, der in krassem Widerspruch zu seinen 
Vermögensverhältnissen stand. Der Aufwand wird gefunden in dem 
Bau der Villa, der weit über seine Verhältnisse hinausgehende Aus 
gaben erforderte. Festgestellt ist die unordentliche Buch¬ 
führ u n g und die nicht erfolgte Bilanzziebung. Der An¬ 
geklagte war deshalb zu bestrafen und es erschien ein Strafmaß von 
zwei Monaten angemessen. Die Strafe ist deshalb so niedrig 
bemessen worden, weil die ganze Persönlichkeit des Angeklagten in 
Betracht gezogen wurde. 

E) Kritisches zum Prozess der Bombastuswerke. 

Der Prozeß um die Bombastus-Werke liefert einen neuen inter¬ 
essanten kulturhistorischen Beitrag zur Geschichte des 
Aberglaubens und lehrt, daß die der modernen Justiz zur Ver¬ 
fügung stehenden Mittel für einen erfolgreichen Kampf mit dem tiefsten 
Mystizismus ungenügend sind. 

Ein auf der spiritistischen Glaubenslehre eingerichteter Apparat 
von Geistern führt zunächst zur Gründung einer kosmetischen Fabrik, 
welche im ganzen drei Vierteile einer Million Mark bis heute ver¬ 
schlungen hat; darauf dirigieren die Geister unter Anwendung mo¬ 
dernster Geschäftsreklame die sämtlichen geschäftlichen Vorgänge der 
Fabrik mehr als ein halbes Jahrzehnt hindurch, geben finanzielle 

AreJüT für Kriminalanthropologie. 40. Bd. 7 


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II. v. Schrenck-Notziko 


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Winke, veranlassen Transaktionen an der Börse, nehmen Stellung 
zum Montignosokult und ermuntern zum Villenbau für die Direktoren 
aus den Gesellschaftsmitteln, wobei auch die Abfassung der Pläne 
und Einrichtung von ihnen inspiriert wird. „Und unter all diesen 
längst dahin Geschiedenen, taucht das Bild des Philippus Au r e - 
olus Theophrastus Bombastus Paracelsus von 
Hohenheim, des Zeitgenossen von Luther, der den Stein der 
Weisen und die Universalmedizin finden wollte, aus dem ewigen 
Schlummer geweckt im Kreise der Dresdner Freunde auf 1 ) und 
diktiert Rezepte, welche den modernsten Anforde¬ 
rungen der Chemie entsprechen, den Grundstein für den steigenden 
Umsatz der Fabrik bilden und die gläubigen Zirkelteilnehmer kommen 
zu dem Entschluß, wie ein Zeuge erklärte, Gut und Blut für das 
Unternehmen und dieses Treiben der Geister, einzusetzen.“ Die Leip¬ 
ziger Neuesten Nachrichten 1 ), welche die Tätigkeit des Freundesbundes 
vortrefflich charakterisieren, fuhren in ihrer Schilderung fort, wie folgt: 
„Theophrastus Bombastus steigt nicht allein aus seinem Grabe empor, 
auch „Lucinde“, die sogar neue Flaschenverschlüsse zeich¬ 
net, Brechmittel zusammenstellt und sich gegen das Rauchen erklärt, 
auch der „Weiße Schwan“, der die Abstimmungen regelt und in 
Spiegelschrift weise Vorschriften über Hypotheken, Darlehen und 
Verkäufe gibt. Die Königin Marie Antoinette setzt ihr blutiges Haupt 
wieder auf die Schultern, um die Dividenden der Bombastuswerke 
zu erhöhen, und Solon und Demosthenes realisieren die schwierigsten 
Geschäfte. Das Harmonium wird gespielt, Bibelstellen werden ver¬ 
lesen und immer sprechen die Geister in dem sächsischen Dialekt 
ihres Beschwörers. Der tiefsinnige Jakob Böhme, die Nonne Katha¬ 
rina Emmerich — wer zählt die Geister, nennt die Namen!“ 

Bei aller Komik, welche die naive Leichtgläubigkeit der ortho¬ 
doxen Spiritisten mit sich bringt, hat doch dieses spezielle Gebiet des 
Aberglaubens einen ernsteren Hintergrund. 

Zunächst fällt die enorme Verbreitung des Spiritis¬ 
mus nicht nur in den mittleren und unteren Schichten des Volkes, 
sondern auch unter den oberen auf, ferner der tiefgreifende Einfluß, 
den der Geisterglaube, sobald er zur religiösen Überzeugung geworden, 
auf alle möglichen Lebensverhältnisse auszuüben vermag. 

Und die Gläubigen selbst bestehen keineswegs nur aus minder¬ 
wertigen Köpfen oder Schwachsinnigen und Psychopathen, sondern 
es handelt sich hier vielfach um durchaus ehrliche und in ihrem 
Beruf tüchtige Männer in geregelten Lebensverhältnissen. 

1) Leipziger Neueste Nachrichten vom 81. Oktober 1909. 


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Der Prozeß der Bombastuswerke usw. 


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Sie stehen dem „Wunder“, das sich da vor ihren Augen abspielt, 
geistig hilflos, also unkritisch gegenüber, erliegen dem Geisterglauben 
wie einer psychischen Infektion, um so mehr als auch ihre eignen 
christlichen Ideen von dem Leben der Seele nach dem Tode zahl¬ 
reiche Anklänge bietet, — und werden schließlich zu vollkommenen 
Fanatikern. 

Diese Entwicklung wird gefördert durch die Produktionen der 
Medien, durch regelmäßige Abhaltung spiritistischer Sitzungen mit den 
intellektuellen Kundgebungen im Trancezustand und mit den angeb¬ 
lichen physikalischen Manifestationen. 

Das „Wunder“ selbst kommt meist zustande durch falsche 
rn i ß v e r s t ä n d 1 i c h e D eu t u n g einfacher hypnotischer 
oder hysterisch somnambuler Zustände bei fast aus¬ 
schließlich psychopathischen Individuen, die entweder unter -dem sug¬ 
gestiven Einflüsse des Zirkels und des Geisterglaubens unbewußt oder 
halbbewußt alle möglichen intellektuellen (Trancereden und -schreiben) 
oder physikalischen Manifestationen von sich geben — oder aber mit 
vollem Bewußtsein, also wissentlich unter Anwendung.präparierter 
Apparate, Stoffe usw. (Materialisationen) betrügen. Vielfach sind auch 
betrügerische Handlungen bei echten') Medien in ihrem 
Trancezustande und neben sogenannten wirklichen 
medialen Vorgängen beobachtet worden. Religiöse Be¬ 
fangenheit, der Einfluß der Gemütsbewegung, die 
unvermeidlicheMitwirkung normaler Beobach tungs- 
fehler in diesen Sitzungen, der durch keinerlei psychologische oder 
medizinische Sachkenntnis getrübte Blick des Spiritisten, der t i e f i n 
der menschlichen Natur wurzeln de metaphysische 
Drang tragen das ihre dazu bei, um jede objektive Fest¬ 
stellung zu erschweren. 

Dazu tritt in der ganzen spiritistischen Bewegung ein tiefer 
Zug von Unehrlichkeit hervor, der dazu führt, den offen¬ 
baren Schwindel mancher Medien nicht anerkennen oder beschönigen 
zu wollen. Denn selbst Entlarvungen, gerichtliche Bestrafung be¬ 
trügerischer Medien, der klar in foro geführte Nachweis der 
Schwindeleien, sogar das ausführliche Geständuis der Angeklagten 
genügen in manchen Fällen nicht, um überzeugte Spiritisten in ihrem 
Aberglauben und in ihrem blinden Vertrauen zu dem Vermittler dieser 
Wunder wankend zu machen. Nach Abbüßung der Freiheitsstrafen, 

1) Echte Medien sind solche, deren Leistungen nicht auf die genannte oben 
bewußt oder unbewußt betrügerische Art zustande kommen, — sonderen als 
nova facta sui generis einer wissenschaftlichen Aufklärung harren. 


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erfreuen sie sich in ihrer Gemeinde desselben Ansehens wie vorher 
und die Sitzungen nehmen mitunter ihren Fortgang. 

Die Frage der Verantwortlichkeit solcher meist psycbopatihsch ver¬ 
anlagter Individuen kann große Schwierigkeiten darbieten. Sobald 
■die Schwindeleien im tiefen Trancezustand erfolgten, wird wohl immer 
bei sachverständigem Nachweis der traumhaften ßenommenheit Frei¬ 
sprechung erfolgen müssen. Übrigens hat die Anwendung des Be¬ 
trugsparagraphen noch die Schwierigkeit, daß die rechtswidrige 
Absicht des angeklagten Mediums, — das infolge hysterischer Sug- 
gestibilität oder einer „pseudologia phantastica“ gutgläubig der Meinung 
sein kann, lediglich als Werkzeug für höhere außer ihm stehende 
Wesen oder Mächte zu dienen, — nachgewiesen sein muß. Ebenso 
ist die Zahl derer unter deu Spiritisten, welche durch die dem Medium 
gebrachten Geldopfer sich für geschädigt erachten, nur gering. Und 
der vollendete Betrug verlangt bekanntlich auch als Tatbe¬ 
standsmittel den Beweis der Schädigung. 

Wie das Urteil im B ergmann-Prozeß sagt, erachtete das Ge¬ 
richt den Beweis in diesem Punkte nicht für genügend. Schon des¬ 
wegen mußte Freisprechung von der Betrugsanklage erfolgen. 

Auch in diesem Prozeß nahmen die meisten Zeugen, soweit sie 
zum Bunde der Freunde bzw. dem Kreis der gläubigen Spiritisten 
angebörten, die Partei für das Medium. Es ist das auch insofern 
begreiflich, als gerade der religiös gefärbte Offenbarungs-Spiritismus 
das Glaubensbedürfnis der Teilnehmer befriedigt, fast immer ethische 
Ziele verfolgt und meistens keine zu hohen Ansprüche an die Geld¬ 
börse der Teilnehmer macht. 

Die in den volkstümlichen Sitzungen traditionell gewordene Art 
der Behandlung der Somnambulen erleichtert diesen den Mißbrauch der 
Leichtgläubigkeit und damit die schwindelhafte Ausnützung der An¬ 
wesenden. 


II. Einiges über Geistesstörung und Spiritismus. 

Wenn auch Geisteskranke schwerer Art sich wenig zu spiriti¬ 
stischen Medien eignen so kann doch in foro die Frage nach der 
Beziehung mediumistischer Tätigkeit zu den Geistesstörungen von 
Wichtigkeit sein. 

Bei Entscheidung dieses Punktes ist zunächst darauf zu achten 
ob die Beschäftigung mit dem Spiritismus in ein ätiologisches Ver¬ 
hältnis zu der bestehenden Geistesstörung gebracht werden kann, oder 
ob sie bei bereits vorhandener Erkrankung verschlimmernd wirkte. 


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Der Prozeß der Bombastuswerke usw. 


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Trancereden können auch einen delirösen Eindruck erwecken (im 
Gegensatz zu den meist in sieb abgeschlossenen Darbietungen der Sprech- 
medien); endlich bilden Vorstellungen mystischer und spiritistischer 
Natur nicht selten den Inhalt der Wahnsysteme nnd Sinnestäuschungen 
bei Paranoia, Manie, progressiver, Paralyse, Epilepsie usw. Periodische 
Persönlichkeitsveränderungen ohne amnestische Spaltung finden sich auf 
dem Gebiete des manisch-depressiven Irreseins 1 ) mit amnestischer Spal¬ 
tung beim epileptischen Äquivalent. In der überwiegenden Mehrzahl 
der Fälle bandelt es sich allerdings bei den spiritistischen Medien 
um hysterische Persönlichkeiten. Etwa bei solchen zur Entwicklung 
gelangende Psychosen besitzen eine ausgesprochene hysterische Färbung. 

Charcot 2 * ), Gilles de la Tourette 8 ), Pick 4 ), Henneberg 5 ) 
Young 6 ), Vigouroux 7 ), Forbes Winslow 5 ), Sasdernacki 9 ), 
Forel 10 ), berichten über hysterische Anfälle und Psychosen infolge 
der Teilnahme an spiritistischen Sitzungen. Von den deutschen 
Autoren wurde diese Frage am ausführlichsten und gründlichsten von 
Henneberg erörtert unter Beifügung von 8 Fällen aus seiner Praxis. 

Bei dem ersten handelt es sieb um Trugwabrnehmungen spiri¬ 
tistischen Inhalts bei einem Alkoholiker, in dem zweiten um mania- 
kaligcbeExaltation bei einer Neuropathie als Folge von Psychograpbieren 
und Trancereden, der dritte betrifft Ausbruch katatonischer Symptome 
bei einem Tischler in Anschluß an die Beteiligung an einem spiri¬ 
tistischen Privatzirkel. Die 33 jährige Patientin der dritten Beobachtung 
hatte als Medium bei psyebographiseben Versuchen gedient und ver¬ 
fiel in einen hysterischen Dämmerzustand mit ekstatischen Reden. 
Fall 4 betrifft eine 42jährige Kutscherwitwe mit akuten hysterisch- 

1) Young: Zur Psychologie und Pathologie sogenannter occulter Phänomene. 
Leipzig, 1902. 

2) Charcot: Legons sur les maladics du Systeme nerveux. Paris 1887, 
p. 226. 

31 Gilles de la Tourette: Spiritismus et hysterie. Progres med. 1885. 

4) Pick: Krankenvorstellung. Prager med. Wochenschrift. 1888. Nr 48, 
p. 523. 

5) Henneberg: Über die Beziehungen zwischen Spiritismus und Geistes¬ 
störung. Berlin 1902, 

6) Young, loco cit. 

7) Vigouroux: Spiritismus und Geistesstörung. Psychische Wochenschrift 
1900, S. 33 und 64. 

8) Forbes Winslow: Spiritualistic medness. London 1877. 

9) Sasdernacki: Ein Fall von Irresein infolge von Beschäftigung mit dem 
Spiritismus. Arch. Psych. Bd. III. Heft 2. 

10) Forel: Durch Spiritismus erkrankt, durch Hypnotismus geheilt. Zeitschr. 
für Hypn. 5. 


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II. v. Schkenck-Notzino 


delirösen Erregungszuständen, entstanden durch gewohnheitsmäßiges 
Psychograpbieren. Gegenstand der fünften Krankengeschichte ist 
ein 25 jähriges Dienstmädchen, welches sich zum Zwecke des Geister¬ 
verkehrs mit Psychograpbieren und automatischem Schreiben be¬ 
schäftigte. In Folge davon: hysterische Anfälle und Wahnvorstellungen, 
Halluzinationen und sinnlose Handlungen. Der nächste Bericht (No. 6) 
betrifft: Verwirrtheit, Angstzustände, phantastische Vorstellungen, 
Größenideen bei einer 40jährigen Witwe, die in ihrer Wohnung spiri¬ 
tistische Sitzungen arrangiert hatte und sich von Geistern verfolgt glaubte. 

Im Fall 7 kam es bei einer 33jährigen Schneiderin, die als 
Schreibmedium tätig gewesen sei, zur Entwicklung eines hysterisch 
gefärbten paranoischen Zustandes, der zwar gebessert aber nicht völlig 
beseitigt werden konnte und in leichter chronischer Form außerhalb 
der Anstalt bestehen blieb. 

Bei der leltzten Beobachtung Hennebergs machte sich lebhafte 
Schwärmerei für den Spiritismus in einem Vorstadium der dementia 
paralytica bei einem 44jährigen Schneider geltend, der dann später 
an dem genannten Leiden zugrunde ging. 

Auch Verfasser konnte mehrfach hysterische Störungen der Geistes¬ 
tätigkeit infolge spiritistischer Prozeduren beobachten, so einmal bei 
einem 19jährigen Privatmedium, das dem Arbeiterstande angehörte 
und einen heftigen hyslero-epileptischen Anfall im Anschlüsse an eine 
spiritistische Sitzung (1886) erlitt. Weitere Fälle des Verfassers 
stammen aus den Jahren 1887—1890; der erste betrifft ein weibliches 
Medium, das durch hypnotische Manipulationen einer Freundin, welche 
die Geister befragen wollte, in ein hysterisches Delirium verfiel; in 
dem zweiten Falle blieb ein zu demselben Zweck benutztes junges 
Mädchen mehrere Tage nach stattgehabter Trance in einem Zustande 
von Somnolenz, verbunden mit Kopfschmerz und Weinkrämpfen. 
Die dritte Beobachtung bezieht sich auf eine kleine spiritistische Haus¬ 
epidemie. Ein 12jähriges, früher gesundes Mädchen entpuppte sich 
zum Erstaunen der geistergläubigen Eltern als Trancemedium, durch 
welches sich die Geister historischer Persönlichkeiten kundgaben. 
Das Wunderkind wirkte ansteckend auf die mehrere Jahre ältere 
Schwester, die ebenfalls in sich mediale Eigenschaften entdeckte. Das 
überreizte Nervensystem des Wunderkindes reagierte schließlich durch 
heftige hysterische Anfälle und Absencen, die immer häufiger (bis 
zu 12 mal am Tag) auftraten und die Fortsetzung des Schulunter¬ 
richts unmöglich machten. Hypnotische Suggestivbehandlung und 
Einstellung der spiritistischen Versuche führten völlige Heilung in 
kurzer Zeit herbei. 


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Der Prozeß der Bombastuswerke usw. 


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In dem vierten Fall bandelt es sich um ein Privatmedium Lina M., 
das bei mediumistischen Sitzungen in tiefen Trance verfiel und auch 
für hypnotische Versuche sich vorzüglich eignete. Der sogenannte 
Trancezustand selbst ging leicht in hysterische Delirien mit lebhaften 
Affektäußerungen und in hysterische Krampfanfälle über. Einmal 
trat nach einer solchen Sitzung eine mehrere Stunden dauernde pein¬ 
liche Seelenblindbeit auf. Außerdem waren zu konstatieren: auto¬ 
somnambule Delirien, Schlafstörungen, Kopfdruck, erhöhte nervöse 
Erregbarkeit. Wegen dieser Gesundheitsstörungen gab sie die .medi¬ 
um istische Tätigkeit auf und siedelte nach Amerika über. 

Auch von den zahlreichen anderen professionellen und privaten 
Medien, die Verfasser vorübergehend beobachten konnte, zeigte ein 
erheblicher Teil typische Zeichen von Hysterie (wie z. B. Eglinton, 
Eusapia Paladino, Politi); dagegen blieben andere trotz gewohnheits¬ 
mäßiger Ausübung ihrer spiritistischen Tätigkeit völlig immun gegen 
die zweifellos mit dem häufigen Hervorrufen tiefer Trancezustände 
und der Steigerung des psychischen Automatismus verbundene Schäd¬ 
lichkeit. 

Wenn also auch im großen und ganzen die Ausübung raedi- 
umistischer Tätigkeit als nachteilig für das Nervensystem anzusehen 
ist, so läßt sich doch eine allgemein gültige Kegel dafür nicht auf¬ 
stellen. Ebenso wie das Hypnotisieren (z. B. zu Heilzwecken) völlig 
unschädlich ist, sobald es von einem in dieser Wissenschaft erfahrenen 
Arzt vorgenommen wird, können auch mediumistische Experimente 
(zu wissenschaftlichem Zweck) völlig harmlos bleiben bei sachverstän¬ 
diger Leitung. 

Einzelne Autoren wie Jan et 1 ) und Grass et 2 ) behaupten, daß 
die Medien beinahe immer neuropatbisch, wenn nicht geradezu hyste¬ 
risch sind; ihre Leistungen müssen als Zeichen psychopathischer 
Minderwertigkeit nach dieser Anschauung aufgefaßt werden. Der¬ 
selben widerspricht mit großer Entschiedenheit Maxwell 3 ) unter 
Hinweis auf die umfassenden eignen Erfahrungen und die Forschungs¬ 
ergebnisse englischer und französischer Gelehrter (wie Hodgson, Myers, 
Riebet usw.). Er will mit einer Reihe von Privatmedien (normalen 
gesunden Personen) längere erfolgreiche Versuchsserien angestellt 
haben ohne nachteilige Rückwirkung auf ihr Nervensystem. Aller¬ 
dings handelt es sich hierbei wohl teilweise mehr um physikalische 
Manifestationen als um intellektuelle Kundgebungen. Denn Maxwell 

1) Jan et: Nevroses et les id6es fixes et Automatisme psychologique. 

2) Grasset: Le spiritisme devant la Science. Paris 1904. 

3) Maxwell: Neuland der Seele. Stuttgart 1910. 


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II. t. Schrenck-Notzing 


h&lt sich streng an die beobachteten Tatsachen, indem er vorerst jede 
Theorie für übereilt erklärt und vor allem die Geisterlebre ad ab¬ 
surdum führt. 

Die Frage Job und inwieweit mediumistische Versuche gesund¬ 
heitsschädlich wirken, läßt sich nicht summarisch beantworten, sondern 
sie hängt jeweils von den individuellen Verhältnissen des Einzel¬ 
falles ab. 

So verschwindend und gering auch der etwa durch von sach¬ 
verständiger Seite auf diesem Gebiet vorgenommene Experimente 
veranlaßte Schaden für die Versuchsperson auch sein mag, so ge¬ 
fährlich und gesundheitsschädlich sind die religiösen Gebräuche der 
spiritistischen Zirkel sowohl für das Medium selbst wie auch für 
manche neuropathisch beanlagte Teilnehmer. 

Henneberg 1 ) macht mit Recht darauf aufmerksam, daß die 
kritiklose Hingabe (an den Spiritismus das Symptom eines senilen 
geistigen Schwächezustandes sein kann und betont die Anziehungs¬ 
kraft, welche die Geisterlehre auf psychisch minderwertige Individuen 
ausüben kann. 

Es ist stets zu berücksichtigen, daß der Nährstoff des Spiritismus das 
durch die christliche Religion nicht genügend befriedigte Glaubensbedürf* 
nis ist, und daß der Geisterglaube nicht nur unter den Halbgebildeten 
und in den weitesten Schichten des Volkes seine Anhänger findet, 
sondern auch in den höheren Ständen verbreitet ist. Zweifellos liegt 
in seiner enormen sektenartigen Ausbreitung eine große Gefahr für 
die soziale Gemeinschaft. 

IQ. Zur Psychologie des mentalen Mediumismus. 

Die Klasse der sogenannten psychischen Medien (für rein men¬ 
tale Phänomene) beschränkt sich meistens auf geistige Kundgebungen 
durch Psychographieren (mittels besonderer Apparate oder durch 
Tischbewegungen), Übertragung unwillkürlicher MuBkelzuckungen 
auf leblose Gegenstände; (Theorie von Preyer und Carpenter) 
durch die automatische Schrift und durch Reden im 
Trancezustandein dramatisierter Form. 

Wie Jschon in dem Gutachten über »Bergmann“ hervor¬ 
gehoben wurde, handelt es sich bei den meisten Medien dieser Art 
um hysterische, hystero-hypnotische (oder som¬ 
nambule) Vorgänge wie: automatisme ambulatoire, 
graphischen Automatismus, periodische Amne- 

1) Henneberg, loc. cit. 


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Der Prozeß der Bombastuswerke usw. 


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sie, doppeltePersönlichkeit,pathologische Träu- 
merei und Lüge, hysterische Anfälle and Delirien. 
Die scheinbare Steigerung der geistigen Funktion (un¬ 
bewußte Mehrleistung) erklärt sich durch Aufhebung der Hemmungen 
des Wachzustandes. 

Zu dieser Eiasse gehören auch jene Medien, die während der 
Trance imstande r sind, höhere Leistungen auf künst¬ 
lerischem und intellektuellem Gebiet zustande zu 
bringen, als im Wachzustände, wobei stets als Charakteristikum die 
spiritistische Besessenheitsvorstellung besteht; hiernach wird die be¬ 
treffende Leistung vom Individuum als etwas ihm Fremdartiges an¬ 
gesehen und sozusagen personifiziert, d. h. einem Geist, einem Kon* 
trolspirit zugeschrieben. Während z. B. die choreographischen Lei¬ 
stungen einer Magdaleine G. sich ohne die Hilfe der Geister im 
hystero-hypnotischen Somnambulismus vollziehen, glaubt die Traum¬ 
malerin Frau Aßmann ihre somnambulen Leistungen dem Kon- 
trolspirit „ H e 1 i z “ zu verdanken, ebenso wird das in tiefem hyp¬ 
notischen Zustande zum Klavierspiel befähigte Medium „Aubert“ 1 ) 
von seinem geistigen Führer „Georges“ beeinflußt 

In Wirklichkeit bedeuten diese erhöhten Leistungen nichts weiter 
als eine freiere Entfaltung im Wachzustände schlummernder Fähig¬ 
keiten. Die Hemmungen des normalenTagesbewußt- 
seine sind aufgehoben; die Welt der Erinnerungen und 
Phantasie ist von einer Fessel befreit Meist haben solche Per¬ 
sonen zu ihrem Können im Wachzustände kein Vertrauen und erst 
die Ekstase gibt ihnen den nötigen Mut aus sich herauszugehen. Im 
letzten Grunde ist für alle schöpferischen und künst¬ 
lerischen Leistungen Inspiration nötig, und ihre 
tiefsten Quellen liegen im Unbewußten. Diese fließen am besten, je 
mehr das Individuum von den Zerstreuungen und Störungen des 
wachen Lebens abgewendet sich einer Traumbefangenheit, einer Art 
geistigen Bausch hingibt. 

Bei stark entwickelter hysterischer Dissozia¬ 
bilität kann sich in dem veränderten Bewußtseinszustand eine 
neue Persönlichkeit aus den Elementen der alten, 
mit besonderer Ichvorstellung, besonderem Gedächt¬ 
nis, Wortschatz, Ausdrucksmitteln und Charakter 
bilden; fast alle entwickelten Trancemedien haben mehrere derartige, 
schon durch Dressur und Gewohnheit in sich abgeschlossene Persön- 

1) Aubert wurde 1906 von Pariser Psychologen wissenschaftlich untersucht. 
Annales des sc. psych. 1906. p. 109. 


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II. v. Schhemck-Notzing 


lichkeiten in ihrem Traumrepertoire zur Verfügung, welche abwechselnd 
das somnambule Bewußtsein der Medien beherrschen. Längstvergessene 
Bilder und Kenntnisse werden in dieser Verbindung von neuem leben¬ 
dig (Glossolalie, Kryptoranesie). 1 ) 

Hierzu treten in der Regel vorhandene hysterische Ge¬ 
dächtnisstörungen, Erinnerungslücken und -Mängel; 
infolge dieses dissoziativen Prozesses werden ganze.psychische Reihen 
und Erlebnisse von dem Medium als fremdartig empfunden. Zu be¬ 
rücksichtigen sind ferner: die halluzinatorischen Erlebnisse 
und die stärkere Plastizität der erträumten Situation 
und die fast bei allen Hystero-Somnambulen zu beobachtende fein¬ 
sinnige Aufnahme und Verkörperung der leisesten 
gewollt oder ungewollt vom Zirkel ausgehenden sug¬ 
gestiven Anregungen. Dazu kommt außerdem die Fähigkeit, 
in den Zuständen der tiefsten Ekstase, des Besessenseins, 
des Hemisomnambulismus oder auch des nur eingeschränk¬ 
ten Wachseins komplizierte automatische Handlungen 
auszufübren, namentlich automatische Schrift, Spiegelschrift, 
Trancereden. 

Wie Henneberg 2 ) ausführt, befinden sich derartige von ihm 
beobachtete automatische Personen entweder in völlig wachem Zu¬ 
stande, oder in dem der Zerstreutheit und Ermüdung; wieder 
andere sind in ausgesprochener Trance (Autohypnose); Übung scheint 
hier immer notwendig zu sein. Die von Henneberg explorierten 
Personen gaben zum Teil an, daß sie beim Schreiben fühlten, wie 
ihre Hand von einer unsichtbaren Macht bewegt werde, während sie 
selbst sich ganz passiv zu halten glaubten. Eine der Patientinnen 
teilte mit, sie hätten schon gewußt, was geschrieben wurde. 

Verfasser dieses stellte mit einer hysterischen Somnambulen Versuche 
an, um das scheinbare Nebeneinander zweier psychischer 
Prozesse (automatisch Schreiben und gleichzeitig Vorlesen) zu unter¬ 
suchen 3 j. Die Resultate zeigten, daß die Aufmerksamkeit intermittierend 
von einer Tätigkeit (des Schreibens) zur anderen (des Vorlesens) hin 
und her wanderte. Bei einem fortlaufenden innigen Vorstellungs¬ 
zusammenhang der Erzeugnisse im Trance, d. h. im Somnambulis¬ 
mus, kann man diese sämtlichen durch mehr oder minder aus- 


1) Flournoy: Los Indes au planfcte du Mars. 

2) Henneberg: Über Spiritismus und Geistesstörung, Archiv für Psychiatrie, 
Bd. 34, Heft 3. 

3) von Schrenck-Notzing: Das Doppelich, Wien. Holder. 1896. 


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Der Prozeß der Bombastuswerke usw. 


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gesprochene Amnesie vom Wachen abgetrennten bystero-hypnotischen 
Bewußtseinsveränderungen als „zweiten Zustand“ bezeichnen. 
(Azam)<). Mitunter treten die pathologischen Merkzeichen derart 
zurück, daß die Kranken für den unerfahrenen Beobachter nichts 
Auffälliges darbieten a ). „Ein nicht vorher Unterrichteter könnte in 
Verlegenheit kommen, zu entscheiden, ob nicht vielleicht der krank¬ 
hafte Zustand der gesunde sei und umgekehrt" 

Oder man erkennt zwar 1 2 3 ), daß die betreffenden Kranken nicht 
ganz bei sich sind, ohne aber an ihrem Gebaren etwas Ungewöhn¬ 
liches oder Krankhaftes entdecken zu können. Diese leichten, dem 
epileptischen Äquivalent oder den leichten epileptoiden Bewußtseins¬ 
zuständen vergleichbaren Absencen oder hemisomnambulen Zu. 
stände sind von Young 4 5 ) vortrefflich beobachtet und beschrieben. 
Eine seiner Kranken (ein hystero-somnambules, spiritistisches Medium) 
wurde im lebhaftesten Gespräch in eigentümlich monotoner Weise 
verwirrt sprach sinnlos weiter und schaute träumerisch mit halb- 
geschlossenen Augen vor sich bin. Diese Absencen dauerten meist 
nur wenige Minuten, waren mit Schwindel und Kopfschmerz ver¬ 
bunden und traten wider ihren Willen auf. Diese befielen sie auf 
der Straße, im Geschäft, kurz in jeder Situation, wurden von ihr 
den Geistern zugeschrieben und waren vielfach mit Visionen ver¬ 
knüpft 

Man kann nun den zweiten Zustand in seinen verschiedenen 
Abstufungen und Formen auch durch Suggestion willkürlich 
eintreten lassen. 

Das künstliche Hervorziehen gewisser mit dem Inhalt der zweiten 
Person zusammenhängender mnemonischer Elemente hat zur Folge, 
daß die ganzen abgespaltenen und fest assoziierten Vor- 
stellnngsreihen des 2. Zustand es zur Innervation 
gelangen, ins Bewußtsein treten, was eine Verdrängung der In¬ 
halte des Wachzustandes bedingt Wenn z. B. die Traumtänzerin 
Magd. G. Melodien hörte, die sie in ihrem somnambulen Zustande 
interpretiert hatte, so trat oftmals unvermittelt (z. B. beim Anhören 
einer Oper) der 2. Zustand ein b ). 


1) Azam: Hypnotisme et double conacience. Paria 1893. 

2) Löwenfeld: Neurasthenie und Hysterie. Wiesbaden 1894. 

3) Gilles de la Tourette: Hypnotismus. Leipzig. 1889. 

4) Young: Zur Psychologie und Pathologie sogenannter bisulter Phänomene. 
Leipzig, 1902. S. 27. 

5) von Schrenck-Notzing: Die Traumtänzerin Magdeleine G. Stuttgart, 
Enke. 1904. 


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II. v. Schrenck-Notzing 


Dasselbe Verhalten ist nicht selten bei spiritistischen Medien zn 
konstatieren. 

Der Inhalt einer spiritistischenSitzung bekommt, 
sobald darin die AusfUhrnng bestimmter Handlungen von dem Medium 
bzw. von den Geistern verlangt wird, nicht selten den Charakter 
einer hypnotischen oder posthypnotischen Suggestion 
Das Versuchsobjekt bemüht sich, die Wünsche der Zirkel- 
teiln e h m er, d. h. die ihm gegebenen Suggestionen zu realisieren 
in derselben oder posthypnotisch in der nächstfolgenden Sitzung. Der 
unbewußt von den Teilnehmern gegebene Auftrag wirkt latent im 
Wachzustände des Mediums weiter als dunkler Trieb zu Handlungen, 
welche die Suggestion realisieren. Das Lebendigerwerden der auf die 
Sitzung bezüglichen Vorstellungen des wachen Mediums hat nun, wie 
im Fall Bergmann ausgeführt, mitunter den äußerlich kaum 
bemerkbaren Wechsel der Persönlichkeit zur Folge; 
die Nachtseite des geistigerDoppellebens tritt hervor; 
pseudowach oder träum befangen führt das Medium die Vor¬ 
bereitungen für die nächste Sitzung aus, ohne sich als wache Person der 
betreffenden Manipulationen bewußt zu sein. Die Abschwäcbung 
oderVerdunklung des Bewußtseins unterliegt ver¬ 
schiedenen Graden, von der einfachen traumhaften Einengung 
(eingeengtes Wachsein) mit unklarer Erinnerung an die Handlungen 
bis zu dessen völligem amnestischen Verschwinden. 

Nur so erklärt es sich, warum manche durchaus ehrliche, wahr¬ 
heitliebende Charaktere unter dem Medien, denen die Betrugsabsicht 
völlig fern liegt, unbewußte Betrüger geworden sind. 

Wie die Erfahrung lehrt, sind die geistigen Kundgebungen in 
den Sitzungen oftmals präpariert oder auch direkt irgendwelchen 
Werken literarischen oder religiösen Inhalts wörtlich entnommen. Der 
Nachweis des automatischen Charakters solcher Handlungen oder der 
sie begleitenden leichten Bewußtseinsstörungen kann für den Sach¬ 
verständigen schwierig, ja unmöglich sein. Denn andererseits ist 
nicht zu vergessen, welche große Rolle die betrügerische Absicht, das 
willkürliche Hervorrufen von Trancezuständen und die egozentrische 
Tendenz der Hysterischen in bezug auf den Glauben an ihre Wunder¬ 
kraft bei diesen Vorgängen spielen. 

Interessant werden die im Somnambulismus produzierten Kund¬ 
gebungen, sobald sie inhaltlich Zusammenhängen und im Vergleich 
zu dem Können im Wachzustände eine Mehrleistung darstellen. 

1) von Schrenck-Notzing: Über Spaltung der Persönlichkeit (sogenannte« 
Doppclich). Wien, 1896. Hölder. 


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Eines der bekanntesten Beispiele dieser Art bietet der in der spiri¬ 
tistischen Literatur sehr bekannte amerikanische „Seher“ Andrew 
Jackson Davis*)• Ein angeblich ungebildeter Jüngling diktierte 
er im „magnetischen Schlaf“ in 157 Vorträgen ein vollständiges 
System der Natur- und Geisteslehre, betitelt: „Die Prinzipien der 
Natur, ihre göttliche Offenbarung und eine Stimme an die Mensch¬ 
heit“ (übersetzt von Wittig, 2 Bände, Leipzig, 1896). 

Das Diktat seines Buches erlebte in Amerika 30 Auflagen während 
zweier Jahrzehnte. Er schrieb auch noch andere Werke im halb¬ 
somnambulen Zustande. Auch Romane, Gedichte und Opern sind so 
entstanden 2 ). 

Auch das Medium Bergmann (Prozeß der Bombastus-Werke) 
verfaßte in seinen Trancezuständen teilweise durch Diktat (Trance¬ 
reden), teilweise durch automatische Schrift im Somnambulismus eine 
Glaubenslehre und brauchte hierzu länger als ein Jahr. 

Vielfach findet man in der Literatur der Somnambulen und 
Trancemedien auch Leistungen verzeichnet, die in noch höherem 
Grade, wie die bisher erwähnten ihr Wissen uud Können zu über¬ 
ragen scheinen und daher der Inspiration einer göttlichen Macht 
(oder Geistern) zugeschrieben werden. Hierzu gehören: das Voraussagen 
bestimmter Ereignisse, die Psychometrie, die prophetische Gabe (zeit¬ 
liches oder räumliches Hellsehen) sowie das Reden in fremden Sprachen. 
Löwenfeld 3 ) erörtert ausführlich die Fehlerquellen bei solchen Be¬ 
obachtungen (Kombinationsgabe, Autosuggestion, Verfeinerung der 
Sinneswahrnehmungen, unbewußte Denkvorgänge, die Rolle des Zu¬ 
falls u. a.), ohne jedoch die Möglichkeit einer Erweiterung unseres 
Erkenntnisvermögens völlig zu negieren. 

Eine der sorgfältigsten Untersuchungen dieser Art, welche die 
amerikanische Gesellschaft für psychische Forschung anstellte, betrifft 
den somnambulen Vorstellungsinhalt des amerikanischen 
Mediums Frau Piper, deren Leistungen sich lediglich auf geistigem 
Gebiet bewegen. In ihrer dramatischen Spaltung sind es hauptsächlich 
zwei in seltener Kontinuität sich äußernde und charakterologisch un¬ 
gewöhnlich scharf und detailliert herausgearbeitete Personifikationen 
oder psychische Existenzen „Phinuit“ und „George Pelham“ 
welche über lange Zeiträume hindurch ein weit über die Erfahrung 
der Beobachter hinausgehendes Wissen bekundeten und den schärfsten 
Kontrollmaßregeln unterworfen wurden. Schon die einzige Tatsache, 

1) Aksakoff: Animismus und Spiritismus. Leipzig, Mutze. 

2) R ichard Hennig: Der moderne Spuk- und Geisterglaube. Leipzig 1905. 

3) Löwenfeld: Somnambulismus und Spiritismus. Wiesbaden 1900. S. 48. 


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daß der genannte George Pelham’) (ein 1872 verstorbenes, be¬ 
kanntes Mitglied der amerikanischen Society f. psych. Rec.) von 
250 Sitzungsteilnehmern gerade jene 30 Personen sofort und 
richtig erkannte und sich mit jedem einzelnen je nach den individuell 
verschiedenen Lebensinteressen so unterhielt (durch den Mund der 
Frau Piper), wie es George Pelham im Leben getan haben würde, 
erscheint auch bei der Annahme eines ungewöhnlich hoch entwickelten 
somnambulen Spiritismus geradezu rätselhaft. Dabei redete George 
P. seine Freunde nicht nur bei ihrem Namen an, sondern auch in 
dem Ton, den er gewöhnlich im Leben jedem gegenüber gebrauchte. 

Was nun das so viefach behauptete „Schreiben und Reden“ 
in fremden Sprachen (Glossolalie) betrifft, so sind in der ganzen 
großen Literatur des Spiritismus eigentlich nur zwei Fälle genau 
genug beschrieben und psychologisch analysiert, daß man sich ein 
Urteil bilden kann. Der eine betrifft Helene Smith 1 2 ), die sich im 
Trancezustand eine eigene Sprache, die Marssprache, geschaffen 
hatte. Flournoy wies durch eine überaus sorgfältige Studie nach, 
daß das Marsalphabet, die Marspbonetik und die Marsgrammatik, deren 
sich die durch Helene Smith sprechenden Marsbewohner bedienten, 
nichts anderes als entstelltes Französisch war. Auch für andere Sprachen, 
deren sich Helene bediente, gelang es ihm, das Rätsel zu lösen und nachzu¬ 
weisen woherdas Medium die Kenntnisse geschöpft hatte. (Kryptomnesie.) 

Den zweiten Fall beobachtete Charles Riebet 3 ) in Verbindung 
mit anderen französischen Psychologen. Es handelt sich um eine 
35jährig e des Griechischen unkundige Dame, Madame X, 
welche im Trancezustand mit geschlossenen Augen und dem 
lebhaften Ausdruck des Leidens in Gegenwart des Beobachters Serien 
von griechischen Sätzen, Phrasen, ja ganze Absätze (bis 
zu 20 Zeilen) in griechischer Sprache niederschrieb, mit rich¬ 
tiger Orthographie, Akzent und Satzbildung, sowie mit der graphischen 
Genauigkeit eines gut entwickelten Sprachkenners. Die Kundgebungen 
waren teilweise unterzeichnet von dem Urgroßvater des Mediums, 
einem bekannten Pariser Bibliophilen, der in der ersten Hälfte des 
19. Jahrhunderts gelebt hatte. Auf Gruud sorgfältiger Nachforschungen 
in dem Privatleben der Madame X wird die Möglichkeit, daß sie 
diese Kenntnisse erworben haben könne, in Abrede gestellt, 
ebenso wie die Betrugsannahme absolut auszuschließen sei. 

1) Sage: Die Mediumschaft der Frau Piper. Leipzig, 1903. 

2) Flournoy, loc. ciL 

3) Ch. Rieh et, Xenoglossie: l’ecriture, automatique en langues etrangeres. 
Ann. des Sc. psych., Juin 1905. 


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Endlich ist auch die Hypothese eines schöpferisch tätigen 
Gedächtnisses hier nicht anwendbar. Eichet zögert nicht, 
diese unter Vermeidung aller Fehlerquellen sorgfältig an- 
gestellte und sehr gründlich analysierte Beobachtung als 
nach dem gegenwärtigen Standpunkt des psychologischen Wissens 
unerklärlich hinzustellen. 

Leistungen, wie die hier geschilderten, die in der Tat ein 
wissenschaftliches Interesse bieten, sind aber außerordentlich selten 
und in den volkstümlichen spiritistischen Sitzungen fast niemals an* 
zutreffen. Meistens beschränken sich die geistigen Kundgebungen im 
vulgären Spiritismus auf Erbauungspredigten, Begrüßungs¬ 
reden, allerlei Ratschläge zum rechten Lebenswandel und 
für das praktische Leben und entsprechen der Bildungsstufe des 
„Geisterwerkzeuges“^ Predigtstücke, Bibelsprüche, Gesangs- 
buchstrophen, wie man sie in der Schule auswendig lernt, werden 
am häufigsten in solchen Reden reproduziert. Ein gutes Gedächtnis 
und festes Vertrauen zur eigenen Leistungsfähigkeit sind allerdings 
erforderlich, ebenso Übung und Dressur. Der pastorale Stirn m - 
fall, der Brustton der Überzeugung, die hyste¬ 
rische Autosuggestibilität mit ihrer lebhaften Ge¬ 
fühlsbetonung verfehlen ihren Eindruck auf das meist wenig 
gebildete Auditorium selten. Wenn wirklich einmal kurze Sätze und 
Phrasen aus dem Medium nicht bekannten Sprachen vorgebracht 
werden, so sind diese fast regelmäßig irgendwo gehört worden, oft 
zeigen auch die Art der Reproduktion, die Fehler in der Wiedergabe 
deutlich den Ursprung des Wissens an. 

Die spiritistische Literatur besteht fast zu zwei Dritteln 
aus Werken, in denen die Geisterkundgebungen durch die 
Vermittlung solcher Medien gesammelt worden sind. Aber dieses 
riesige Material an Druckerschwärze und Papier, dieser reichhaltige 
geistige Niederschlag medialer Emanation hat nicht eine ein¬ 
zige neue Idee, nicht den geringsten Fortschritt unserer heute 
für jedwede Anregung so empfängliche Kultur zutage gefördert. 
Wir begegnen zwar immer wieder darin den Namen der größten 
Geister aller Zeiten, welche angeblich durch das Medium sich geäußert 
haben, — nirgends aber ist eine geistreiche Zeile, ein 
philosophischer Ausspruch, ein noch so winziges 
poetisches Produkt zu finden, das mit den sonstigen Lei¬ 
stungen der angeblichen Autoren qualitativ in Einklang zu bringen 
wäre. Eine erschreckende geistige Monotonie und Gedankenarmut 
herrscht in diesen bedauerlichen Produkten medialer Weisheit. 


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112 


II. v. Schrenck-Notzino 


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Allerdings ist die scheinbare Überlegenheit des Kundgebungs¬ 
inhaltes über die Leistungsfähigkeit der Medien vielfach von Spiri¬ 
tisten, namentlich von Aksakoff behauptet, indessen niemals mit der 
erforderlichen Genauigkeit begründet worden. 

Der Beweis, daß ein Medium diese oder jene Sprache nicht 
kenne, obwohl die Trancemitteilungen eine solche Kenntnis voraussetzen, 
ist in jedem Fall sehr schwer zu führen. Endlich klingen die eben¬ 
falls hiefür angeführten Nachrichten über das Auftreten raediumisti- 
scher Leistungen im zarten Kindesalter zu abenteuerlich und anek¬ 
dotenhaft, als daß sie ernst genommen werden könnten. Ungewöhn¬ 
liche geistige Frühreife, namentlich auf dem Gebiet der Kunst nnd 
Mathematik, sowie einseitige Gedächtnisentwicklung bei Kindern 
dürften ausreichen zur Erklärung derartiger Fälle. Aber selbst 
angenommen, es wären unbegreifliche Leistungen einwandfrei von 
zuverlässigen Beobachtern konstatiert worden, die Geisterhypothese 
könnte zur Erklärung des Falles nicht beitragen. 

Der blinde, fanatische Geisterglaube trübt die Urteilsfähigkeit der 
Anhänger; ihre Berichte über spiritistische Sitzungen sind infolge 
der unvermeidlichen Beobachtungsfebler und Erinnerungsverfälschun¬ 
gen in der Regel unzuverlässig. 

Dieses kritiklose Verhalten fordert die Medien geradezu heraus, 
das ihnen gebotene Vertrauen zu mißbrauchen, sodaß die zahllosen 
Betrügereien der Medien mindestens zur Hälfte durch die Spiritisten 
selbst verschuldet sind. 

IV. Beiträge aus der forensen Kasuistik. 

Lina Gerber. 

Die Bergarbeitersfrau Lina Gerber hielt im Juli 1896 Kanzel¬ 
reden und Ermahnungen zur Büßfertigkeit, Reue, frommem Leben 
angeblich im Zustande der Verzückung (Trance) und galt als ein 
Mensch, der mit [den Überirdischen in Verbindung steht. Bei an¬ 
deren Gelegenheiten sollen die Seelen verstorbener Angehöriger der 
Anwesenden sich durch sie geäußert haben. 

Sie wurde wegen groben Unfugs zu 60 Mark Geld¬ 
strafe verurteilt, legte Berufung ein, die am 29. Januar 1897 
verworfen wurde. Das von der Gerber beobachtete Verfahren wurde 
von den Sachverständigen als auf Trug und Täuschung basierend 
erklärt. Der § 51 war nicht gegeben; es bestand kein hypnotischer 

1) Geipol: 2 Prozesse gegen spiritistische Medien, Münchener medizin. 
Wochenschrift, 1S9S. S. 664. 


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Der Prozeß der Bombastuswerke usw. 


113 


Zustand. Die Vorführung des Traumzustandes mit dem üblichem 
Sermon überzeugte das Gericht durch Augenschein, daß es sich um 
versuchte Täuschung der Angeklagten handelte. Auch das Ober* 
Ian d e sgerich t bestätigte das Erkenntnis. 

Der zweite Fall des Verfassers betrifft die Verurteilung der Frau 
Rothe wegen groben Unfugs zu Geldstrafe. 


Hans Forstner (eigne Beobachtung.) 

Der 18 Jahre alte Schauspieler Forstner diente im 
Jahre 1902 bei einer Frau D. als Medium zu spiritistischen 
Sitzungen, bei welchen er in Trance verfiel und unter konvul¬ 
sivischen Bewegungen der Hand Geisterbotschaften niederschrieb. 
Die an diesen Sitzungen teilnehmende Bäckerswitwe Marie B. 
war ebenso wie die Mutter des Mediums Frau F. von dem spiri¬ 
tistischen Aberglauben vollkommen beherrscht und glaubte durch das 
Medium mit ihrer vor 12 Jahren verstorbenen Mutter zu sprechen. 
Als die letztere ihr kundtat, sie möge'ihre Stellung verlassen, sonst 
sterbe sie am 4. September, verließ sie auch wirklich ihren Posten 
im Löwenbräukeller, um einer unsicheren Zukunft entgegen zu gehen. 
Bei einer spiritistischen Sitzung — der „Geist“ schrieb dies durch 
Vermittlung des jungen F. — wurde der Frau befohlen, sie solle 
„das Geld hergeben“. Da man nicht wußte wieviel, und zu welchem 
Zwecke, wurde der Geist in einer neuerlichen Sitzung befragt; er 
antwortete, die B. Bolle 500 Mark zur weiteren Ausbil¬ 
dung des jungen F. bergeben. Gelegentlich weiterer Sit¬ 
zungen verlangte der Geist, die B. möge für Hans F. Beträge 
von 10 Mark, 5 Mark und 3 Mark in der Ofendurchsicht 
hinterlegen. Endlich verlangte der Geist, Frau B. möge, wenn sie 
zu ihrer Schwester nach Nürnberg reise, 100 Mark im Interesse der 
Sicherheit in eine Kassette F.s legen. Frau B. tat dies auch, als 
sie aber von Nürnberg zurückkam und das Geld 
wieder an sich nehmen wollte, war die Kassette 
leer. Sie fragte F. nach dem Gelde und dieser behauptete, er habe 
das Geld verwendet, um „für alle miteinander“ Messen lesen zu lassen, 
in Wirklichkeit verbrauchte er das Geld für sich. 

Therese und Hans F. hatten sich am 1. Dezember vor dem 
Landgericht München wegen Betrugs auf Grund dieser Handlungen 
zu verantworten. Als Sachverständiger war Verfasser tätig. Durch 
die Beweiserhebung war festgestellt, daß F. während einer Sitzung 
unter krampfartigen Erscheinungen vom Stuhl gefallen sei. F. war 
Behr suggestibel, Neigung zu pseudologia phantastica, Lügenhaftigkeit, 

Archiv für KriminjüAnthropologie. 40. ß<L 8 


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II. v. Schrenck-Notzing 


1U 

hysterische Absencen und Autohypnosen, erbliche Belastung. Über¬ 
trug die persönlichen Wünsche auf die automatisch niedergeschriebenen 
Produkte und die Trancezustände, welche nicht simuliert wurden. 
Völlige abergläubische Verblendung. F. ist vermindert zu¬ 
rechnungsfähig, verantwortlich für die nachträglich im wachen 
Zustande begangenen Handlungen, dagegen nicht verantwort¬ 
lich für sein Tun und Lassen in den hysterischen 
Hypnosen. F. wurde wegen Unterschlagung zu 14 Tagen 
Gefängnis verurteilt, seine Mutter jedoch freigesprochen. 

Frau N. Winter. 

Frau W., Sprechmedium in einem religiös spiritistischen Zirkel 
in Glatz, hielt imTrancezustandePredigten. Im September 
1907 gab sich angeblich durch ihren Mund der Geist der ver- 
storbenenTochterdesGemeindevorstehersS. kund. 
Unter anderem äußerte diese über deren Vater: „seine irdische 
Laufbahn sei beinahe beendet, doch habe er noch manches gut zu 
machen. Er sei Ortsvorsteher dieser Gemeinde und 
habe manchen ungerechten Heller auf dem Ge¬ 
wissen.“ 

Gegen das Medium stellte nunmehr der k. Landrat Anklage 
wegen Beleidigung. Am 12. September 1908 wurde die Winter 
zu 3 Monaten Gefängnis verurteilt Ihr Anwalt Dr. Bohn 
legte Berufung ein, da die Angeklagte im Trancezustan4e gehandelt 
habe und sich ihrer Äußerungen nicht mehr erinnere (posthypnotische 
Amnesie). Die in der Berufungsinstanz eingeholten Gutachten 
der Sachverständigen Dr. Häusler, Dr. Henneberg und Dr. 
Moll kommen zu dem Resultat, daß die W i n t e r ihre Äußerungen 
wahrscheinlich in einem echten Trance- oder Traumzustand 
gemacht habe. Sie sei stark hysterisch, verfalle leicht in auto- 
bypnotisohe Zustände mit Empfindungslosigkeit der Haut 
und nachträglicher Amnesie. Die Träume hatten spiritistische Färbung 
bekommen, und für den Inhalt ihrer Träume könne 
sie nach §51 nicht zur Verantwortung gezogen 
werden. Zudem sei sie keine Sch windlerin, sondern eine gut¬ 
gläubige, ehrliche Frau. 

Das Gericht gelangte zur Freisprechung der Angeklagten ')• 


1) Übersinnliche Weit. Jahrgang XVII, Nr. 1 und Nr. 4. ,.Breslauer General* 
anzeiger“ vom 11. XII. 06. 


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Der Prozeß der Bombastuswerke usw. 


115 


V. Schluß. 

Wie wir aus Vorstehendem ersehen haben, dienen die menta¬ 
len Medien (für geistige Kundgebungen) hauptsächlich dem Offen¬ 
barungsspiritismus, der die Massen zum Aberglauben und die 
Medien zum Schwindel verführt. Wie weit bei einzelnen Fällen sich 
im Trancezustande bisher psychologisch nicht erklärte, über die jetzt 
bekannten Erkenntnisgrenzen hinausgehende Wahrnehmungsfähigkeiten 
(für Telepathie, Hellsehen usw.) geäußert haben und sich äußern 
können, das ist eine bisher noch nicht befriedigend beantwortete Spe¬ 
zialfrage, die den Forscher interessieren kann und wohl sehr selten 
bei mentalen Medien eine Rolle spielen dürfte. Von diesem Punkt 
aber abgesehen, bietet der Trancezustand solcher meist hysteropa- 
thisch veranlagter Personen, soweit er nicht schon vornherein er¬ 
schwindelt ist, kein Novum für die Psychopathologie, sondern 
ist als eine besondere Form des hysterohypnotischen Somnam¬ 
bulismus mit schauspielerischer Darstellung bestimmter 
Persönlichkeitstypen und psychischer Mehrleistung an¬ 
zusehen. 


s* 


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III. 


Der Erkennungsdienst der Kgl. Polizeidirektion Mönchen. 

Von 

Dr. Theodor Harster, Bezirksamtsasseasor bei der Kgl. Polizeidirektion München, 
Referenten für den Erkennungsdienst. 


Die Kriminalbeamtenkonferenz in Berlin vom 14. und 15. Jnni 
1897, der wir die allgemeine Einführung der Körpermessung nach 
B er t ill on s System im Deutschen Reiche verdanken, hatte auch für 
München die Einrichtung eines Erkennungsdienstes bei der K. Polizei¬ 
direktion zur Folge. Es wurde ein Atelier bereitgestellt, ein photo¬ 
graphischer Apparat nach Bertillons System, eine Kamera für Tatbe¬ 
standsaufnahmen und ein Vergrößerungsapparat beschafft Beamte 
wurden im Messen und Photographieren ausgebildet und gegen Ende 
des Jahres 1898 konnte der Erkennungsdienst seine Tätigkeit be¬ 
ginnen. Diese beschränkte sich in der Folgezeit auf photographische 
Personen- und Tatbestandsaufnahmen und auf die Bertillonschen 
Messungen. Die Daktyloskopie wurde nur im Anschluß an die 
Messungen gepflegt; die Fingerabdruckkarten wurden mit den Me߬ 
karten an die Meßkartenzentrale beim Berliner Erkennungsdienste 
geschickt; ein Exemplar wurde dem Personalakt einverleiht. Eine 
daktyloskopische Registratur bestand nicht, wohl aber kam im Laufe 
der Zeit ein nicht unansehnlicher Vorrat von Meßkartenduplikaten 
zusammen, der in einer kleinen Meßkartenregistratur ver¬ 
einigt wurde. 

Im Jahre 1909 wurde nun eine durchgreifende Aus¬ 
gestaltung des Erkennungsdienstes in Angriff ge¬ 
nommen. Sie ist jetzt im wesentlichen vollendet, und wenn auch 
zu tun noch manches übrig bleibt, so ist doch vielleicht eine Schil¬ 
derung der bisher getroffenen Einrichtungen von einigem Interesse. 
Von einem Abschluß in der Entwicklung, einem Fertigwerden in 
der organisatorischen Arbeit kann ja bei einem Erkennungsdienste, 
der seine Aufgaben erfolgreich lösen will, überhaupt nie die Rede sein. 


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Der Erkennungsdienst der Kgl. Polizeidirektion München. 


117 


I. Das Fingerabdruckverfahren. 

Wer die Entwicklung der Daktyloskopie vorarteilsfrei verfolgt, 
wer die Erfahrungen berücksichtigt, die man in England oder die 
man bei den Erkennungsdiensten in Wien, in Dresden, in Hamburg 
gemacht hat, der wird nicht im Zweifel darüber sein, daß der Dak¬ 
tyloskopie die Zukunft gehört. Es gibt kein Erkennungsmittel, das 
sich an Sicherheit, Einfachheit, Billigkeit und Bascbheit des Ar¬ 
beiten mit dem Fingerabdruckverfahren vergleichen ließe. In kurzer 
Zeit können wenige Beamte mit geringen Kosten einen gewaltigen 
Vorrat von Fingerabdruckbogen, also von Material für künftige Iden¬ 
titätsfeststellungen sammeln, und je größer der Vorrat an Identifi¬ 
kationsmaterial, desto größer ist natürlich auch die Zahl der Iden¬ 
tifikationen, die Zahl der Erfolge! 

Es ergab sich also als vordringlichste aller Aufgaben bei der 
Neugestaltung des Münchener Erkennungsdienstes die Einrich¬ 
tung einer daktyloskopischen Registratur. 

Dabei bot die größte Schwierigkeit die Wahl des Systems 
für die Klassifiziere ng und Registriernng der Finger¬ 
abdruckbogen. Von vornherein stand fest, daß für München nur 
ein Verfahren in Betracht kommen konnte, das im Gebiete des 
Deutschen Reiches bereits irgendwo Boden gefaßt hatte. Zur Wahl 
standen also das englische System Henry, dessen eifrige Verfech¬ 
terinnen die Polizeidirektionen Wien und Dresden sind, dann das 
von Bertillon und Klatt modifizierte Henrysohe Verfahren, nach 
dem der Berliner Erkennungsdienst arbeitet, und die Registrie- 
rungsmetbode, die Polizeidirektor Dr. Roscher in Hamburg er¬ 
dacht and bei der Polizeibehörde in Hamburg eingeführt hat. 

Da das Verfahren Henrys das daktyloskopische Ursystem ist 
und von allen Klassifikationsmetboden die weiteste Verbreitung 
genießt, so mußte ihm der Sieg bleiben, wenn nicht eine der anderen 
Methoden als erheblich besser erfunden wurde. Das war aber nicht 
der Fall. Da andere größere Polizeibehörden vielleicht in nicht zu 
ferner Zeit vor die gleiche Wahl gestellt werden wie München, sei mir 
gestattet, die Gründe etwas ausführlicher darzuBtellen, die für die 
Einführung des Systems Henry den Ausschlag gaben. Ich darf da¬ 
bei wohl diese durch das Werk von Windt und Kodioek auch 
uns Deutschen geläufig gewordene Klassifizierungs- und Registrie- 
rungsmethode als bekannt voraussetzen. 

1. Das System Bertillon-Klatt, nach dem wie gesagt 
in Berlin registriert wird, will das unbestreitbar ziemlich kompli- 


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118 


1IL Th. Haksteb 


zierte System Henry vereinfachen. Die wesentlichsten Abänderungen 
bestehen darin, daß a) die Unterscheidung der Schlingenmuster in 
Ulnar- und Radialschlingen wegfällt und die Schlingenmuster in 
solche, die nach rechts auslaufen (E-Formen) and in solche, die 
nach links auslaufen (J-Formen), eingeteilt werden; ferner b) daß 
die Unterklassifizierung der Schlingen- und Wirbelmuster in den 
Zeige- nnd Mittelfingern durch Zählen der Papillarlinien (in den 
Sohlin genmustern) und Nachfahren der Wirbel (in den Wirbelmastern) 
wegfällt und statt dessen lediglich die beiden Zeige- und Mittel¬ 
finger nach ihren Formen benannt werden (E =■*• Schlingen nach 
rechts, J — Schlingen nach links, U = Bogen, 0 — reine Kreise und 
Spiralen, W = Doppelscblingen, Zwillingsschlingen, Taschen, zu¬ 
fällige Muster). 

Die Vereinfachung, die durch das unter a beschriebene Ver¬ 
fahren gewonnen wird, halte ich nicht für groß; in der unter b dar¬ 
gestellten Abänderung des Henrysohen Systems aber dürfte nicht 
nur keine Verbesserung, sondern eine wesentliche Verschlechterung 
zu erblicken sein, wie die nachfolgenden Ausführungen dartun mögen: 

Es ist statistisch festgestellt, daß etwa 60 % aller Muster Ulnar¬ 
schlingen sind, nach Berliner System also E-Formen in der rechten, 
J-Formen in der linken Hand. Der häufigste Fall ist mithin das 
Vorkommen von Ulnarschlingen in allen 10 Fingern. Das Berliner 


System hat hierfür nur eine einzige Formel — 


1 Ee 

Tjf 


während Henry 


in richtiger Würdigung der statistischen Ergebnisse durch die von 
Berlin mißbilligte Unterklassifizierung nach der Papillarlinienzahl 
die Formel für den angegebenen Fingerabdruckbogen in 16 Unter¬ 


abteilungen 

e 1 U ii 


1 U 11 1 ü 11 . . , . • „„ 

—rr-.-, : , T . usw.) zerlegt hat. In Mün- 
1 U io l U oi 


ohen ist man, wie schon jetzt vorgreifend bemerkt werden soll, noch 
weiter gegangen und hat angeordnet, daß hier in dem besprochenen 
Fall die Unterklassifizierung auch im Ring- und kleinen Finger vor¬ 
zunehmen ist, so daß an Stelle einer einzigen 256 Formeln treten- 
Der geringe Mehraufwand an Zeit und Mühe wird reichlich belohnt 
durch die Raschheit des Zureohtfindens, die bei dem Berliner System 
begreiflicherweise zu wünschen übrig läßt. Die große Häufigkeit 

der Fingerabdruckbogen mit der Formel ■ j. - hat zur notwendigen 


Folge, daß auch eine große Anzahl der neu zugehenden Bogen sich 
immer wieder zu dieser Formel drängt, so daß die einschlägige 
Mappe an Umfang nicht mit dem Anwachsen der übrigen Registra- 


Difitized 


bv Google 


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Der Erkennungsdienst der Kgl. Polizeidirektion München. 


119 


tur Schritt hält, sondern ihm weit voraneilt und bald ungeheure 
Dimensionen annimmt. Man hat diesem Übel nun in Berlin da¬ 
durch abzuhelfen versucht, daß man innerhalb der Formel die Bogen 
nach dem Geburtsjahr des Verbrechers und erat innerhalb der 
einzelnen Jahrgänge nach der Papillarlinienzahl des rechten kleinen 
Fingers einlegt Gegen diese letzte Art der Unterverteilung, die 
ja aus Henrys System übernommen wurde, ist nichts einznwenden, 
dagegen bestehen gegen die Unterverteilung nach dem Geburtsjahr 
erhebliehe Bedenken. M. E. dürfen zur Klassifizierung von Finger¬ 
abdrücken nur solche Unterscheidungsmerkmale verwendet werden, 
die sich aus den Fingerabdrücken selbst ergeben. Wenn der Ver¬ 
brecher sein Geburtsjahr wissentlich oder unwissentlich falsch an¬ 
gibt oder wenn er sich überhaupt weigert, Angaben darüber zu 
machen, ist der Beamte gezwungen, das Alter schätzungsweise zu 
bestimmen. Wie unzuverlässig aber solche Schätzungen sind, weiß 
jedermann. Wer z. B. schon versucht hat, das Alter eines Zigeuners 
oder einer Zigeunerin in den mittleren Jahren zu schätzen, wird 
wissen, welch gewaltige Fehler dabei unterlaufen können. Auch 
durch die Berliner Vorschrift, daß der Beamte an der Hand der 
Zahl der Papillarlinien des kleinen Fingers die nächsten 10 jün¬ 
geren nnd die nächsten 10 älteren Jahrgänge durcbzusehen bat, 
werden solche Fehler nicht völlig ausgeschlossen. Dabei bürdet 
aber diese Vorschrift dem Beamten eine solche Last auf, daß von 
einer Vereinfachung des Henryschen Systems wohl nicht mehr ge¬ 
sprochen werden kann. Und noch eins: Die Papillarlinienzahl läßt 
sich nicht immer zweifelsfrei feststellen, der eine Beamte zählt 
z.B. 15, der andere 16, der den Ausschlag gebende dritte 14 Papil¬ 
larlinien. Naeh 5 Jahren soll der gleiche Bogen unter anderem 
Kamen und anderer Geburtszeit eingelegt werden. Die Beamten 
haben inzwischen gewechselt, im rechten kleinen Finger werden 
16 Papillarlinien gezählt und — der frühere Bogen wird nicht ge¬ 
funden. Das hat die nach Henry registrierenden Behörden zu der 
Anordnung geführt, daß bei sonst gleicher Formel um 2—3 Papillar¬ 
linien auf und abwärts von der festgesetzten Zahl nachgeforscht 
werden mnß. Für die Berliner Beamten würde eine solche Anord¬ 
nung, die aber im Interesse der Sicherheit des Registrierens uner¬ 
läßlich ist, eine viel größere Belastung als für die nach Henry re¬ 
gistrierenden bedeuten, weil sie ja schon die Fehlergrenzen für die 
Einschätzung des Geburtsjahrs zu beachten haben. Henrys Unter¬ 
verteilungen sind so wohl durchdacht und statistisch so gut begründet, 
daß Vereinfachungen im Klassifizieren nur mit beträchtlichen 


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120 


III. Tb. Harster 


Erschwerungen im Einregistrieren der Fingerabdruckbogen and 
im Sachen nach bereits vorhandenen gleichen Bogen erkauft werden 
können. Vor allem bei der besprochenen häufigsten Formel verdient 
Henrys System (Ansohreiben der Masterart der Zeigefinger (U), Auf¬ 
sachen der Unterklassen nach der Papillarlinienzahl der Zeige- and 
Mittelfinger (i oder o) und Aaszählen der Papillarlinien im rechten 
kleinen Finger mit einer Fehlergrenze von 2—3 Linien auf- and ab¬ 
wärts) entschieden den Vorzug. Wenn die sämtlichen ans den 
Fingerabdrücken gewonnenen Unterscheidungsmerkmale erschöpft 
sind, können die Bogen unbedenklich bei gleicher Papillarlinienzabl 
im rechten kleinen Finger nach dem Geburtsjahr und bei gleichem 
Geburtsjahr alphabetisch oder besser phonetisch nach dem Familien¬ 
namen gelegt werden; nur das geht m. E. nicht an, daß das Ge¬ 
burtsjahr oder der Name innerhalb des Systems zum Unter¬ 
scheidungsmerkmale werde wie in Berlin, wo wie gesagt zuerst die 
Unterverteilung nach dem Geburtsjahr und dann erst die nach der 
Papillarlinienzahl des kleinen Fingers stattfindet. 

Die Zweckmäßigkeit des Münchener Verfahrens, wonach, 
wenn in den Zeigefingern Radial- oder Ulnarschlingen und in den 
Mittel-, Ring- und kleinen Fingern Ulnarschlingen stehen, diese 
sämtlichen Finger zur Unterklassifizierung heranzuziehen sind, dürfte 
sich aus folgenden Zahlen ergeben: Am 1. Juli 1910 enthielten von 

8616 Fingerabdruekbogen 434 die Formeln bis ] H °° . Die 

1 U u 1 U oo 

1. Og 

Berliner Formel --f— war hier also 434 mal vorhanden, aber in 16 

1 11 ' 


Unterabteilungen zerlegt. Trotzdem wies die Formel 


1 U ii 


noch 


103 und die Formel 


1 U oo 


noch 109 Bogen auf. 


1 U ii 
Beim Einlegen 


1 U oo 

eines unter diese Formeln fallenden Bogens war also trotz des noch 
verhältnismäßig kleinen Registraturbestandes (Berlin bat zehnmal so 
viel Bogen) noch eine ziemlich große Anzahl von Bogen zu ver¬ 
gleichen. Die angeführte Maßnahme, durch die jede der Henryschen 

Formeln wieder in 16 Unterabteilungen, die Berliner Formel - j. e 


also in 256 Unterabteilungen zerlegt wird, schuf eine Erleichterung, die 
sich beim Einregistrieren neuer Bogen sehr angenehm fühlbar macht. l ) 


1) Wie ich erfahren habe, bat mittlerweile auch die Kgl. Polizeidirektion 
Dresden weitere Unterklassifizierungen der Formeln jj und ff. eingefQhrt 


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Der Erkennungsdienst der Kgl. Polizeidirektion München. 


121 


Bei der Formel —^— (Wirbelmuster in allen zehn Fingern) 

erzeugt nach dem Berliner System das Wegfallen der Unterklassi- 
fizierung durch Nachfahren der Wirbel ähnliche, wenn auch gerin¬ 
gere Schwierigkeiten. Wenn alle Wirbel als O-Formen bezeichnet 

( ii ii ii \ 
werden, entfallen Henrys 81 Unterklassen f-rr-, -r—, -— usw.) 
’ r \ u ’ im 10 / 

Wenn dagegen die Wirbel in 0- und W-Formen unterschieden 
werden, so stehen den 81 Klassen Henrys nur 16 Unterklassen 
gegenüber. Dazu kommt, daß die strikte Unterscheidung der 0- 
und W-Formen bei der großen Mannigfaltigkeit der Muster auch er¬ 
fahrenen Beamten mitunter recht erhebliche Schwierigkeiten macht, 
die leicht Unsicherheit in den Klassifikationsergebnissen zur Folge 
haben können. 

Nach dem allem dürften die Berliner Vereinfachungen des eng¬ 
lischen Systems kaum als Verbesserungen anzusehen sein. Wenn 
auch die Schwierigkeiten der Erlernung etwas größer sein mögen, 
so gewährleistet Henrys System dem Beamten, dem es einmal in 
Fleisch und Blut übergegangen ist, eine viel größere Sicherheit des 
Arbeitens als Bertillons und Klatts Abänderungen des Ursystems. 

2. Das Hamburger System. Die Klassifizierungs- und 
Registrierungmethode, die Polizeidirektor Dr. Roscher in Hamburg 
erdacht und im Jahre 1905 an Stelle des Henryschen Systems bei 
der Polizeibehörde in Hamburg eingeführt hat, ist im Band 17 dieser 
Zeitschrift (S. 129 ff.) und in einer Broschüre Dr. Roschers (Hand¬ 
buch der Daktyloskopie, für den Selbstunterricht bearbeitet. Leipzig, 
C. L. Hirschfeld 1905) eingehend dargestellt; hier dürfte also nur 
eine ganz kurze Erläuterung der Grundzüge nötig sein: 

Dr. Roscher unterscheidet wie Henry Bogen (A), Radialschlingen 
(R), Ulnarschlingen (U) und Wirbel. Diese Muster werden durch 
die Musterzahlen 1 — 9 bewertet. Jedem Muster werden annähernd 
soviel Musterzahlen zugeteilt, als der statistisch festgestellten Häufig¬ 
keit seines Vorkommens entspricht. Darnach entfallen auf A und 
R (5,3 und 5,0 Proz.) je eine, auf U (60 Proz.) 4 und auf W (30 
Proz.) 3 Musterzahlen. W kommt dabei etwas besser weg, da die 
bewährte Henrysche Unterverteilung durch Nachfahren der Wirbel 
in die Klassen i, m und o beibehalten werden sollte. Die Unter- 
rerteilung der U-Klasse wird durch Auszählen der Papillarlinien 
gewonnen. Die Musterzahlen sind demnach folgende: 

1 für A (Bogen), 

2 „ R (Radialsohlingen), 


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122 


111. Th. Harstes 


3 für Ulnarschlingen mit 1—9 Papillarlinien, 

4 „ ,, i, 10 13 ,, 

5 „ D n 14 16 » 

6 „ „ „17 u. mehr ,, 

7 „ Wirbelmueter i, 

8 „ „ m, 

0 „ Oi 

0 „ fehlende Abdrücke. 

Die Master werden zuerst an der linken, dann an der rechten 
Hand in der Reihenfolge: Zeigefinger, Mittelfinger, Ringfinger, kleiner 
Finger, Danmen anfgenommen. Der Grand für diese Umstellung 
liegt in der Erfahrung, daß die Zeigefinger die größte Mannigfaltig¬ 
keit an Mustern auf weisen, so daß durch ihre Voranstellung eine 
möglichst große Verteilung auf die Anfangszahlen, die Zehntausende, 
erreicht wird. 

Die so ermittelten Musterzahlen werden in der Weise zur 


Klassifikationsformel zusammengestellt, daß die Masterzahlen der 
linken Hand den Zähler, die der rechten den Nenner eines Zahlen¬ 


bruches bilden. 


Die Formel lautet also z. B. 


28544 

79156 


oder 


37964 
53340 ' 


Die Vorzüge dieses Systems sind augenfällig: Es ist wie kein 
anderes auf sorgfältig ermittelten statistischen Ergebnissen aufge¬ 
baut, die Zahl der Unterverteilungen richtet sich nach der Häufig¬ 
keit der einzelnen Muster, die Zahlenbrüche als Klassifikationsfor¬ 
meln sind leichter zu handhaben als die aus Zahlen und Buchstaben 
gemischten Brüche Henrys, das Registrieren der klassifizierten Bogen, 
das einfach nach der Zahlenfolge geschieht, macht keine Schwierig¬ 
keiten. Die Klassifizierung der Bogen scheint mir dagegen ver¬ 
glichen mit Henrys System nicht wesentlich vereinfacht; es ist viel¬ 
mehr gerade das beibehalten, was die Hauptsohwierigkeiten des 
englischen Systems ausmacht: das Ermitteln der A-, R-, U- und W- 
Muster und die Klasseneinteilung der Schlingen nach der Papillar- 
linienzabl und der Wirbel nach dem Ergebnis des Naohfahrens. 
Dabei hat aber Dr. Roschers Methode Mängel, die gegenüber jenen 
Vorzügen schwer in die Wagsohale fallen: Das Auszählen der Pa¬ 
pillarlinien in den Ulnarschlingen und das Nachfahren der Wirbel 
ist bei allen Fingern nötig, in denen diese Muster Vorkommen. Da 
sich also diese Arbeit in der Regel auf alle 10 Finger erstreckt, 
während sie nach Henrys System nie häufiger als an 5 Fingern 
vorzunehmen ist, so erlangt Henry schon hierdurch einen Vorsprung 
an Mühe- und Zeitersparnis wie auch — und das kommt vor allem 
in Betracht — an Rücksicht auf die Augen der klassifizierenden 


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Der Erkennungsdienst der Kgl. Polizeidirektion München. 


123 


Beamten. Ob ein Schlingenmuster mehr oder weniger als 9 bzw. 
10 Papillarlinien aufweist (Henry), wird ein geübter Beamter in den 
allermeisten Füllen ohne Vergrößerungsglas feststellen können, ob 
die Linien aber innerhalb der Klassen 1—9, 10—13, 14—16 oder 
17 nnd mehr liegt (Roscher), das läßt sieb nicht in gleich ein¬ 
facher Weise bestimmen; der Beamte wird also, da eben Ulnar¬ 
schlingen am häufigsten Vorkommen, bei den meisten Mustern des 
zu klassifizierenden Bogens mit der Lupe arbeiten müssen. Nun 
war oben schon die Rede davon, daß es oft und zwar besonders bei 
schlechten Abdrücken schwer ist, festzustellen, ob die Papillarlinien¬ 
zahl eines' Schlingenmusters die Henryscbe Grenzzahl 9 bzw. 10 
überschreitet oder nicht. Nach dem Hamburger System verdreifacht 
sieb mit der Anzahl der Grenzzablen (9, 13, 17) naturgemäß auch die 
Häufigkeit der Irrtümer. Der Einfluß eines solchen Irrtums auf die 
Formel ist aber bei Dr. Roschers System viel größer als bei der 
Methode Henrys. Selbst da, wo bei Henry falsches Bestimmen von 


i oder o am unangenehmsten ist, nämlich bei der Formel 


l U 
1 U ’ 


weiß der registrierende Beamte doch, daß der Bogen nicht weit von 
dem Platz entfernt sein kann, wo er sucht; der Bogen liegt eben 

nicht unter j - ^ II , sondern beispielsweise unter ^ ^ I? , die Auf¬ 
findung ist also nicht allzusobwer, zumal wenn früher auch schon 
Zweifel über die Formel bestanden haben und daher neben dem unter der 


Formel 


1 U ii 


registrierten Bogen auch ein Verweisungsbogen unter 


I U ii 

der Formel * ^ V? eingelegt worden ist. Bei dem Hamburger 

System aber entfernt ein Irrtum beim Auszählen der Papillarlinien 
den Bogen unter Umständen weit von dem Ort, an dem er liegen 
sollte. Wenn z. B. im linken Zeigefinger statt 16 Papillarlinien 17 
gezählt werden, rückt der Bogen aus den 50 000 in die 60 000 ab. 
Kommt dann noch bei einem zweiten oder dritten Finger ein sol¬ 
cher Zweifel oder Irrtum dazu, so ist die Wahrscheinlichkeit spä¬ 
terer Auffindung des Bogens, wenn ein neuer der gleichen Person 
eingelegt wird, nicht gerade groß. Die Notwendigkeit der Zählung 
in allen Fingern mit Ulnarschlingenmnstern gestaltet also auch 
den Einfluß von Zweifeln nnd Irrtümern wesentlich fühlbarer als. 
nach Henrys System. Auch die Anlegung von Verweisungsbogen 
wird hier, wenigstens bei schlechten Abdrücken, bei denen sich die 
Undeutlichkeit auf mehrere Finger erstreckt, nicht viel helfen. 


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III. Th. Harster 


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Diese Mängel waren auch wobl die Ursache, daß Dr. Roschers 
System trotz seines geistvollen und statistisch einwandfreien Auf¬ 
baues bisher außerhalb Hamburgs nicht Fuß fassen konnte'). 

Die E. P o 1 i z e i d i r e k t i o n München hat das 
System Henry den beiden anderen Methoden vor¬ 
gezogen, weil sie das Ursystem trotz mancher Mängel immer 
noch für besser hält als die abgeleiteten Systeme Berlins und 
Hamburgs und außerdem auch deshalb, weil das englische System 
in Deutschland und im Ausland am weitesten verbreitet ist. Über 
eine kleine Ausgestaltung des Systems bei der Klassifizierung der 
Schlingenmuster wurde bereits gesprochen. 

Am 1. Juli 1909 trat die Registratur für Fingerabdruck¬ 
bogen beim Münchener Erkennungsdienst ins Leben. Finge r - 
abdrüoke sind zu nehmen von allen Personen, die wegen 
begangener strafbarer Handlungen der Polizeidirektion vorgeführt 
und in Haft behalten werden. Bei Übertretungen sind Fingerab¬ 
drücke nur in den Fällen der §§ 361, 363 R.-St.-G.-B. zu nehmen. 

Am 1. Juli 1910, nach Ablauf des ersten Jahres ihres Bestehens, 
enthielt die Münchener Registratur 7995 in München aufgenommene 
und 621 von auswärts eingesandte, insgesamt also 8616 Finger¬ 
abdruckbogen. Die Fingerabdruckkontrolle durch Abdruck 
des rechten Zeigefingers auf der Personalkarte fand in 2715Fällens tatt. 
Es wurden also vom 1. Juli 1909 bis zum 30. Juni 1910 in München 
10710 vorgeführte Personen daktyloskopisch behandelt. 

Die Zahl der Identitätsfeststellungen durch die Re¬ 
gistratur betrug im ersten Jahre 52. Bei zweifelhafter Identität 
werden Fingerabdruekbogen versendet an die Registraturen in Basel, 
Berlin, Brüssel, Budapest, Bukarest, Dresden, Hamburg, Kopenhagen, 
Luzern, Nürnberg, Prag, Stuttgart, Wien und Zürich. Durch Finger¬ 
abdrücke auf Glas, die am Tatort zurüokgelassen worden waren» 
gelang die Überführung eines Wirtshauseinbrechers, der zu einer 
längeren Zuchthausstrafe verurteilt wurde. Auf gleiche Weise wurde 
ein sehr „schwerer Junge“, ein Einbrecher, der mit Schweißapparat 
und Dynamit arbeitete und nebenbei als internationaler Hoteldieb 
auftrat, ermittelt. Er erhielt die höchste zulässige Strafe von 15 
Jahren Zuchthaus. 

Durch eine Entschließung des K. Staatsministeriums des Innern 
vom 9. April 1910 wurde die Einführung des Finge rabdruc k- 
verfahrens in den A rbeitsh äusern Rebdorf und St. Georgen 

1) Ausgenommen Japan, wo die Annahme des Hamburger Systems mittler¬ 
weile erfolgt ist oder unmittelbar erfolgt. 


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für alle dort befindlichen und künftig zngehenden Gefangenen ge¬ 
nehmigt. Die Fingerabdruekbogen werden an die Polizeidirektion 
München geschickt nnd dort registriert. Damit ist der Anfang zur 
Landeszentrale für Bayern gemacht und es steht zu er¬ 
warten, daß schon in allernächster Zeit im ganzen Königreiche, sei 
es nun in den Gerichtsgefängnissen oder hei den Polizeibehörden 
oder Gendarmeriestationen das Fingerabdruckverfahren allgemein 
eingeführt werden wird. 

Beim Stadtpolizeiamte Stuttgart werden Fingerabdrücke in 
ähnlich weitem Umfange wie in Dresden und München genommen. 
Die dortige Registratur würde für eine Landeszentralregistratur voll¬ 
kommen ausreichen. Es wäre mit größter Freude zu begrüßen, wenn 
im Jahre 1911 neben die sächsische und die bayerische auch eine 
württembergische Landeszentralregistratur treten würde. 

Auch im übrigen Deutschen Reich e sollte man all¬ 
mählich zum Fingerabdruckverfahren im weitesten Umfang über¬ 
gehen. Der Hauptvorteil der Daktyloskopie gegenüber der Körper¬ 
messung — die Raschheit und Billigkeit der Aufnahme — muß 
endlich dazu führen, den Kreis der diesem Verfahren zu unterwer¬ 
fenden Personen viel weiter zu schlagen, als dies für die Körper¬ 
messung geschehen ist. Es bedarf wohl keiner Ausführung, daß 
nicht bloß der Berufsverbrecher der Polizei Interesse bietet; auch 
das große Heer der Vaganten, der Dirnen usw. nimmt dieses In¬ 
teresse in hohem Maße in Anspruch. Es kommt sehr oft vor, daß 
die richtigen Personalien schwerer Verbrecher durch einen Finger¬ 
abdruekbogen festgestellt werden, der zu einer Zeit aufgenommen 
wurde, da der Betreffende noch keine Ursache hatte, sich falscher 
Namen zu bedienen. Man batte ihn damals daktyloskopiert wegen 
eines verhältnismäßig harmlosen Deliktes; den schwerfälligen Appa¬ 
rat der Bertillonage seinetwegen in Bewegung zu setzen, hatte aber 
kein Anlaß bestanden. 

Ich habe an anderer Stelle 1 ) daraufhingewiesen, daß jetzt schon 
nach dem Stande vom 1. Januar 1910 dem Gesamtbestande der 
Meßkartenzentrale in Berlin von 96298 Karten in den 6 deutschen 
daktyloskopischen Registraturen ein Bestand von 235676 Fingerab¬ 
druckbogen gegenübersteht und betont, daß, wenn auch ein einheit¬ 
liches Klassifizierungs- und Registrierungssystem im Deutschen Reiche 
wünschenswert wäre, es doch zunächst nicht darauf ankommt, nach 
welchem System, sondern nur darauf, daß überhaupt registriert 

1) Körpermessung und Fingerabdruckverfahren. Blätter für administrative 
Praxis, Band LX Seite ISO ff. 


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111. Th. Haksteb 


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wird. Nach dem Muster Sachsens müßten überall im ganzen 
Deutschen Reiche Aufnahmestellen und zwar am besten 
au jedem Amtsgeriohtssitze geschaffen werden. Heute gibt 
es im Deutschen Reiche bisher noch Städte mit 30- und 40000 Ein« 
wohnern, in denen niemand imstande ist, einen brauchbaren Finger- 
abdruokbogen aufzunehmen. 

Der Kreis der Personen, von denen Fingerabdrücke 
zu nehmen sind, müßte sehr weit und sein Mindestinhalt müßte 
für alle Aufnahmestellen gleich bemessen werden. Zum mindesten 
dürften Fingerabdrücke zu nehmen sein von allen Zuchthaussträf* 
lingen und Arbeitshausinsassen, allen berufsmäßigen Verbrechern, 
allen Personen, deren Identität zweifelhaft ist, und allen Zigeunern. 
Auch die Ausdehnung auf Landstreicher, Prostituierte, auf Personen, 
die unter Polizeiaufsicht gestellt sind, und auf solche, über die die 
Zwangserziehung verhängt ist, dürfte sich empfehlen. 1 ) Den ein¬ 
zelnen Bundesstaaten, ja auch einzelnen größeren Polizeibehörden 
könnte freigestellt werden, noch weiterzugehen, wie dies ja in 
Sachseo, in München und in Stuttgart bereits geschehen ist. 

Landesregistraturen sollten außer in Sachsen, Bayern und 
Württemberg zum mindesten noeh errichtet werden für Baden, 
Hessen, die Reicbslande, die thüringischen Staaten, vielleicht auch 
noch für die beiden Hansestädte Bremen und Lübeck. 

Der Kostenaufwand ist nicht groß: München hat seine Regi¬ 
stratur, die zur Aufnahme von 190000 Karten ausreieht, mit einem 
Kostenbeträge von rund 1400 Mark eingerichtet. Die Apparate, 
mit denen die Aufnahmestellen zn versehen wären, bat die K. 
Polizeidirektion Dresden den sächsischen Anfnahmestellen seinerzeit 
zum Preise von 2,88 Mark geliefert. 

Das Königreich Preußen ist für eine einzige daktylo¬ 
skopische Registratur, wenn das Fingerabdruckverfahren in dem 
vorgeschlagenen Umfang eingeführt werden sollte, viel zu groß. 
Städte wie Breslau, Cöln, Frankfurt a. M., Hannover, Magdeburg, 
Stettin u. a. sollten eigene Registraturen haben, die man zu Pro¬ 
vinzzentralen (für eine oder mehrere Provinzen) machen 
könnte. Berlin wäre preußische Landeszentrale wie bisher; 
d. b. in allen den Fällen, in denen nach den bisherigen Vorschriften 
Fingerabdruckbogen nach Berlin geschickt werden mußten, wären 
in Zukunft 2 Bogen - aufzunehmen, einer wäre an die Provinzzen¬ 
trale, einer an die Landeszentrale zu schicken. So würde vermieden, 


1) a. a. O. S. 197. 


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Der Erkennungsdienst der Kgl. Polizeidirektion München. 127 

daß Berlin plötzlich mit Tausenden von Fingerabdruokbogen über¬ 
schwemmt würde; der Berliner Erkennungsdienst würde nicht mehr 
Bogen erhalten, als er aufarbeiten kann und auf der anderen Seite 
würde die Rücksicht auf die Ausdehnungsfähigkeit der Berliner 
Zentrale und die Zahl und Arbeitsfähigkeit ihrer Beamten der Ent¬ 
wicklung der übrigen preußischen Registraturen nicht hindernd im 
Wege stehen. 

Aber wir wollen uns von diesen Zukunftsplänen auf den festen 
Boden der Gegenwart zurückbegeben. 


n. Die Photographie. 


Der Münchener Erkennungsdienst verfügt über ein ausreichendes 
photographisches Atelier mit 2 geräumigen Dunkelkam¬ 
mern. Im Neubauplan für das Polizeigebäude, das schon im nächsten 
Jahr an Stelle des alten Augustinerstocks erstehen soll, sind große 
Räume für photographische Zwecke vorgesehen. An Apparaten 
besitzt der Erkennungsdienst 3 Reisekameras (24 mal 30, 13 mal 1$ und 
9 mal 12), einen Apparat für Bertillonsche Aufnahmen, der seit 
dem Jahre 1899 im Betrieb ist und seitdem mehr als 10 000 Auf¬ 
nahmen geliefert hat, und eine von der Firma Ernemann in Görlitz 
hergestellte Kriminalausrüstung „Globus II“ mit Optik von Berthiot- 
Lacour (System Bertilion) für metrische Photographie. Zum Photo¬ 
graphieren von Fingerabdrücken u. dgl. sind die vorhandenen Appa¬ 
rate ansreichend. Liefern sie keine genügenden Ergebnisse, so 
werden die betreffenden Gegenstände an die vorzüglich arbeitende, 
mit den modernsten und besten Apparaten ausgerüstete Lehr- und 
Versuchsanstalt für Photographie, Chemigraphie, 
Lichtdruck und Gravüre in München hinübergegeben, die dann die 
Aufnahme besorgt. 

Das Anwachsen der photographischenArbeiten, die 
der Erkennungsdienst in den letzten Jahren zu erledigen hatte, mag 
die folgende Übersicht veranschaulichen: 


Aufnahmen 

lebender Personen 

Sonstige 

Aufnahmen 

Summe der 
Aufnahmen 

Kopien 

1903 

894 

31 

925 

4027 

1904 

1006 

35 

1041 

3619 

1905 

845 

26 

871 

2979 

1906 

923 

53 

976 

4880 

1907 

902 

44 

946 

4713 

1908 

871 

63 

934 

5908 

1909 

1307 

282 

1589 

9125 


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III. Th. Harster 


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Im Jahre 1909 worden gefertigt: 

Aufnahmen lebender Personen.1307 

„ von Leichen.- . . . 5 

„ „ Fingerabdrücken nnd Fußspuren 67 

„ „ Tatorten u. a. 98 

,, „ Diapositive zu Unterrichtszwecken 112 


1589 

Die Bilder der lebenden Personen wurden früher — das 
Verbrecheralbum in Buobform wurde mit Reeht abgelehnt — nach 
Verbrecherspezialitäten geordnet in Schachteln aufbewabrt. Der Wert 
dieser Photographiensammlung war nicht sehr groß, da 
ein Naohsuchen nur dann Erfolg versprach, wenn die Verbrecher¬ 
kategorie des Gesuchten die gleiche war wie die, unter der die 
Photographie seinerzeit einregistriert worden war. Beging der Ein- 
mietscbwindler einen Fahrraddiebstahl oder der Taschendieb ein 
Sittlichkeitsverbrechen, so war er in der angegebenen Kategorie 
nicht zu finden. Die übrigen, Tausende von Photographien ent¬ 
haltenden Schachteln zu durchsuchen war derart mühsam, daß man 
sich nur in besonders wichtigen Fällen dieser Arbeit unterziehen 
konnte. Photographien auswärts verhafteter Unbekannter wurden 
gleichfalls nur in der Kategorie registriert, in der sie am Haftort 
aufgetreten waren; ein Durchsehen der übrigen Schachteln war in 
der Regel ausgeschlossen. Es sind dies die gleichen Schmerzen, 
die auch bei anderen Polizeibehörden aufgetreten sind und die ihren 
Hauptgrund darin haben, daß die Verbreohenskategorie sich von 
Fall zu Fall ändern kann, so daß sie für die Photographiensamm¬ 
lung als einziges Einteilungskriterium nicht brauchbar ist 

Diese Erkenntnis führte Dr. Robert Heindl in München 
zu seinen, den Lesern des Archivs bekannten Vorschlägen einer 
anderen Einteilung der Pbotographiensammlung '). Heindl ordnet 
die Schachteln mit den Photographien in einen wagreeht und 
senkrecht in gleich große Fächer geteilten Schrank ein. Die 
Photographien werden zunächst nach der Körpergröße ge¬ 
ordnet. Die oberste Fachreihe enthält die größten, die unterste 
die kleinsten Verbrecher. Die 8 wagrechten Reihen sind nach der 
Verbreohensspezialität senkrecht geteilt. In den einzelnen 
Schachteln sind die Photographien nach dem Geburtsjahr des 
Verbrechers gelegt; der älteste liegt am weitesten hinten, der jüngste 
liegt ganz vorn. Diese Dreiteilung nach den Dimensionen 

1) L>r. Robert Heindl: Ein Beitrag zum Problem des Verbrecheralbums. 
H. Groß' Archiv Band 33 S. 135 ff. 


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Der Erkennungsdienst der Kgl. Polizeidirektion München. 


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des Sehrankes (Breite: Körpergröße, Höhe: Verbrecbensspezialität, 
Tiefe: Alter) ermöglicht ein sicheres, planmäßiges Sachen, das bei 
der Einteilung lediglich nach der Verbrechensspezialität wie gesagt 
nieht möglich war. 

Fand sich z. B. früher ein Herr beim Erkennungsdienst ein, der an* 
gab, in der Tbeatergarderobe habe sich ein Unbekannter an ihn heran* 
gedrängt und ihm in einem günstigen Augenblicke die Uhr oder die 
Börse aus der Tasche gezogen, so legte man ihm die Photographien 
sämtlicher Taschendiebe vor; fand er den Gesuchten nicht darunter, 
so war ein Suchen in den anderen Verbrecherkategorien zwecklos. 
Jetzt fragt der Beamte des Erkennungsdienstes zunächst nach der 
Körpergröße. Wenn auch diese erfahrungsgemäß oft falsch geschätzt 
wird, so ist sie doch immerhin der Signalementsbestandteil, der 
sich dem Gedächtnis wohl am leichtesten einprägt. Man unter¬ 
stützt die Sehätzung am besten dadurch, daß man Vergleiche mit 
der eigenen Körpergröße des Fragenden und der anderer gerade 
gegenwärtiger Beamten des Erkennungsdienstes veranlaßt, vor allem 
aber muß man natürlich weite Fehlergrenzen in Betracht ziehen. 
Wird nun z. B. die Größe 1,77 m angegeben, so sucht man zunächst 
beiden Taschendieben der wagrechten Reihe 2 (Größe 1,78—1,75 m) 
und in Berücksichtigung der Möglichkeit ungenauer Schätzung 
vielleicht auch noch bei denen der Reihen 1 und 3, die die Körper¬ 
größen von 1,79 m und mehr bis herab zu 1,72 m enthalten. Findet 
sich der Gesuchte hier nicht, so wird nicht senkrecht bei den klei¬ 
neren Taschendieben der übrigen Reiben, sondern wagrecht bei den 
gleich großen Verbrechern anderer Kategorien naohgesucht. Es 
seheidet also bei diesem Verfahren eine große Anzahl von Schachteln 
von vornherein aus und die Zahl derer, auf die sich die Nachfor¬ 
schungen erstrecken, wird in den allermeisten Fällen so gering sein, 
daß die Aussicht auf Erfolg die aufzuwendende Mühe Uberwiegt. 

Noch einfacher liegt die Sache bei den auswärts verhafteten 
Unbekannten. Man verlangt genaue Angabe der Körpergröße und 
sucht dann lediglich die entsprechende wagrechte Reihe des Schrankes 
durch. Findet man den Gesuchten hier nicht, so kann man mit viel 
ruhigerem Gewissen eine Fehlanzeige machen als bei jeder anderen 
Einteilung des Verbrecheralbums. 

Im Jahre 1909 wurde die Photographiensammlung nach Heindls 
Vorschlägen umgelegt. Auch die K. Polizeidirektion Dresden hat 
mittlerweile, soviel mir bekannt ist, die gleiche Einteilung durch¬ 
geführt und damit ebensogute Erfolge erzielt wie München. 

Eine Registrierung der Steckbriefphotographien hat 

Archiv für Krimitulmthropologie. 40. Bd. 0 


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ISO 


III. Ta. Hakstee 


vor dem Jahre 1909 in München nicht stattgefunden. Sie war bei 
der früheren Anlage der Photographiensammlung unmöglich. Wie 
eine Umfrage bei den Polizeibehörden in Wien, Berlin, Dresden, 
Hamburg und Stuttgart ergab, werden dort, ebenso wie dies bisher 
in München geschah, die Photographien steckbrieflich verfolgter 
Personen, die die Fahndungsblfttter und Zentralpolizeiblfttter bringen, 
nicht registriert; sie werden chronologisch gesammelt, meist am 
Jahresschlüsse gebunden und erhalten dann auf irgend einem Bücher* 
regal ein ehrenvolles Begräbnis. Heindls System führt von selbst 
zur Registrierung der Steckbriefphotographien. Sie werden in eigenen 
Sehachteln nach der Grobe gesammelt und hinter der letzten Ver¬ 
brechensspezialität als letzte Reibe: „Gesuchte Personen“ dem Photo¬ 
graphienschrank eingegliedert. Die Bilder der Personen, deren 
Größe nicht bekannt ist, werden in einer eigenen Schachtel aufbe¬ 
wahrt. Soll eine in München oder auswärts aufgenommene Photo¬ 
graphie eingelegt werden, so sind, wenn irgend welche Zweifel an 
der Identität bestehen, zunächst die Bilder der gesuchten Personen 
durohzusehen. Wenn die Registratur, was selbstverständlich nötig 
ist, mit peinlicher Sorgfalt auf dem Laufenden gehalten wird, so 
kann es nicht Vorkommen, daß ein Festgenommener, gegen den ein 
wenn auch noch so alter Steckbrief vorliegt, wieder auf freien Fuß 
gesetzt wird, weil der Steckbrief in Vergessenheit geraten ist. Die 
bei den größeren Polizeibehörden üblichen, nach dem Namen ge¬ 
ordneten Steckbriefregistratnren bewahren vor diesem unliebsamen 
Ergebnis nicht, da ein gewiegter Verbrecher sich hüten wird, sich 
unter dem Namen, unter dem er ausgeschrieben ist, in der Welt 
berumzutreiben. 

Erwähnt sei noch, daß im ersten Halbjahr 1910 auch beim 
Stuttgarter Erkennungsdienst die Photographiensammlung nach 
Dr. Heindls Vorschlägen umgelegt und eine Registratur der Steck¬ 
brief photographien nach dem Münchener Muster eingerichtet wor¬ 
den ist. 


III. Weitere Hilfsmittel. 

Von der Körpermessung nach Bertilions System wurde 
bereits gesprochen. Sie wird noch angewendet, wenn klassifizierbare 
Fingerabdrücke nicht zu erlangen sind, und bei den berufsmäßigen 
internationalen Verbrechern. Im Jahre 1908 wurden lediglich 34 
im Jahre 1909 18 Personen gemessen. 

Der Erkennungsdienst besitzt ferner eine Sammlung von 
Nachrichten über Verbrechensspezialitäten, die den 


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Dei Erkennungsdienst der Kgl. Polizeidirektion München. 


131 


Zweck verfolgt, beim Auftauchen bestimmter Verbrecbensspezialisten, 
eigenartiger Verbreohertrieks usw. sofort Vorgänge gleicher oder 
ähnlicher Art nachznweisen und das rasche Auffinden der ein¬ 
schlägigen Personalakten und Photographien zu ermöglichen. Die 
Almhfltteneinbrecber, Bankräuber, Einmietschwindler, Eisenbahn¬ 
diebe, Fahrraddiebe, Heiratsschwindler, Hoteldiebe, Münzfälscher, 
Falschspieler, Messerstecher, Zopfabsohneider u. s. w. sind in 
eigenen Mappen mit genauen Signalementsangaben, Mitteilungen 
über die Besonderheiten der Verbrecbensausführung usw. gesam¬ 
melt Über auswärtige Vorkommnisse unterrichten verlässige Zei- 
tungsauscbnitte. Die Verbüßung längerer Freiheitsstrafen wird 
gleichfalls vorgemerkt. Diese Sammlung leistet besonders bei der 
Aufspürung ganz einseitiger Spezialisten z. B. der Türdrückerdiebe, 
Treibriemendiebe, Handkarrendiebe, Diebe von Billardbällen usw. 
gute Dienste. 

In Hamburg habe ich eine, soviel ich weiß, von Kriminal¬ 
inspektor Hinsoh ausgearbeitete Anleitung zur Beschreibung von 
Wertgegenständen gesehen, die eine Anzahl von Zeichnungen ent¬ 
hält deren Benützung die Beschreibung abhanden gekommener 
Wertgegenstände wesentlich erleichtert. Ich habe nun durch Sicher- 
heitskommissär Hübner eine Mustersammlung von Wert¬ 
gegenständen ausarbeiten lassen, die nach dem Hamburger 
Muster angelegt ist, es aber an Umfang weit übertrifft. Der Text 
gibt zunächst eine Beschreibung der 24 meistverbreiteten Edelsteine 
und Halbedelsteine, dann der Perlen und Korallen und der wich¬ 
tigsten Edelmetalle. Dann folgen Mitteilungen über Juwelierwaren 
mit Erläuterungen technischer Ausdrücke z. B. Collier de ohien, 
Marquisring, Fassung ä jour, Krappenfassung, Boutons, Pendeloques, 
usw. Die Zeichnungen bringen 17 Uhrformen, 6 Uhrgehäuse- 
und 3 Bügelformen, 6 Muster für Hals- und Kopfschmuck, 19 Uhr¬ 
ketten-, 26 Armbänderformen, 52 Fingerringe, 9 Ohrringe, 37 Busen¬ 
nadeln, 21 Broschen, 9 Lorgnons und Lorgnettes, Feldstecher, 
Operngläser und photographische Objektive, alles, soweit nötig, mit 
erläuterndem Text. Diese Mustersammlung leistet ausgezeichnete 
Dienste vor allem auch in den Fundbureaux. Wie schwer es 
auch für einen gebildeten Menschen ist, beispielsweise eine Uhrkette 
ans dem Gedächtnisse so zu beschreiben, daß sich der Adressat 
dieser Schilderung das richtige Bild von der Kette machen kann, 
davon kann sieb jeder durch eine einfache Probe überzeugen. Das 
Vorlegen der Mustersammlung, deren Einzeltypen nach Katalogen 
der größten Münchener Juweliergeschäfte gezeichnet sind, wirkt hier 

9* 


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III. Th. Harster 


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wahre Wnnder. Alle Referenten und Hilfsarbeiter des Sicherheits¬ 
dienstes, jede Schutzmannsstation, jede Polizeiwache und jeder Kri¬ 
minalschutzmann ist im Besitz einer solchen Mustersammlung. Nach 
ihr arbeiten ferner die gesamte bayerisoheGendarmerie, 
die 1100 Exemplare besitzt, und die Polizeibehörden in 5 9 un¬ 
mittelbaren und mittelbaren bayerischen Städten. Auch das 
Stadtpolizeiamt Stuttgart bat sie angenommen. Wird in Stutt¬ 
gart oder Nürnberg eine Uhr gestohlen, und telegraphiert die Poli¬ 
zeibehörde nach München: „Goldene Herrenuhr MS 3, 10, 9, 25 
gestohlen“, so weiß die Polizeidirektion München ohne weitere Mittei¬ 
lung, daß es sich um eine Uhr mit 2 Sprungdeokeln, mit arabischen, 
rund eingefaßten Ziffern, mit Sekundenzeiger, mit Monogramm auf 
guilloehiertem Grund und mit ovalem Bügel handelt. 

In engem Zusammenhänge mit dieser Mustersammlung steht die 
nach einem Berliner Vorbild eingerichtete Kartensammlung 
für gestohlene und verlorene Wertgegenstände. 
Die Erregung, die der Diebstahl oder der Verlust eines Wertgegen¬ 
standes hervorruft, hält von dem Betroffenen abgesehen in der Regel 
nicht lange an. Das Publikum vergißt rasch und auch die Auf¬ 
merksamkeit der Polizeibehörden wird bald vom Vergangenen ab¬ 
gelenkt und gezwungen, sich auf die Ereignisse der Gegenwart zu 
richten. Schon nach wenigen Wochen und gar nach Monaten oder 
Jahren denkt niemand mehr an die Einzelheiten eines Diebstahls, 
bei dem der Täter nicht ermittelt wurde, und wenn man später bei 
einem Festgenommenen einen Wertgegenstand findet, den man f&r 
gestohlen hält, so ist es in der Regel sehr schwer festzustellen, von 
welchem Diebstahl die Sache herrührt, zumal wenn die Nachfor¬ 
schungen nicht auf den Wirkungskreis der eigenen Behörde be¬ 
schränkt bleiben, sondern sich auf auswärts begangene strafbare 
Handlungen erstrecken müssen. Gerade die gewandten Diebe aber 
pflegen die gestohlenen Gegenstände nicht unmittelbar nach der Tat, 
sondern erst nach Monaten oder Jahren wiederabzusetzen, wenn 
Gras über die Sache gewachsen ist, d. b. wenn sie annehmen 
können, daß die Polizeibehörden ihr Erinnerungsvermögen im Stiche 
läßt. Dieses Erinnerungsvermögen auch auf Jahre hinaus wachzu¬ 
halten, ist der Zweck der Kartensammlung. Die Karten sind ver¬ 
schiedenfarbig und zwar weiß für Wertpapiere, gelb für Uhren, blau fttr 
Fingerringe, orangerot für Halsketten, Uhrketten und Armbänder, grttn 
für Busennadeln, Hutnadeln, Broschen, Ohrringe und Mansohetten- 
knöpfe, rosenrot für Fahrräder, hellviolett für Kraftwagen und Kraft¬ 
räder, und grau für sonstige Gegenstände von größerem Wert und 


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Der Erkennungsdienst der Egl. Polizeidirektion München. 


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ohne Rücksicht auf den Wert für solche Gegenstände, die mit einem 
schweren Verbrechen Zusammenhängen und zur Überführung des 
Täters beitragen können (z. B. für eine Nickeluhrkette, einen Spa¬ 
zierstock u. dgl., die bei einem Mord abhanden gekommen sind). 
Unter allen Umständen aber ist es eine Voraussetzung der Auf¬ 
nahme, daß die Gegenstände so genau beschrieben werden können, 
daß ihre Wiedererkennung möglich ist. Die Beschreibung erfolgt 
womöglich unter Benützung der Mustersammlung, Abbildungen des 
Gegenstandes können auf der Rückseite der Karte aufgeklebt werden. 
Das Registratnrschema richtet sich nach der Häufigkeit der Karten. 
Bei den Uhren sind z. B. viele Unterabteilungen nötig (Herren- oder 
Damenuhr, Metall, Fabriknummer, Monogramm, Gehäuseform, Bügel¬ 
form, Beschaffenheit der Ziffern, des Zifferblattes usw.). Ist ein 
Gegenstand, für den eine Karte aufgenommen wurde, ermittelt, so 
ist dies der Registratur mitzuteilen, damit die Karte aus der Samm¬ 
lung entfernt werde. Je wertvoller der Gegenstand, desto wichtiger 
ist die Kartensaromlung. Wird z. B. einer verdächtigen Person ein 
wertvolles Perlenkollier abgenommen, so gibt die Kartensammlung Auf¬ 
schluß, welche Perlenkolliers in den letzten Jahren der Polizeidirektion 
München als gestohlen oder verloren signalisiert worden sind. Die 
Nacbforschungsarbeit wird dadurch wesentlich erleichtert. 

Die Ausgestaltung dieser Kartensammlung zur Landeszentrale 
für Bayern ist zurzeit im Werke. 

Die Anlegung einer Handschriftensammlung ist für die 
nächste Zeit in Aussicht genommen. Auch die Polizeihunde wären 
hier zu erwähnen. Die K. Polizeidirektion München besitzt ihrer 15 
(11 deutsche Schäferhunde und 3 Airedaleterriers), die als Schutz¬ 
bunde und an der Peripherie der Stadt auch im Kriminaldienst 
gute Dienste leisten. 


IV. Die Tätigkeit des Erkennungsdienstes bei der 
Tatbestandsaufnahme. 

Bei allen bedeutenderen Verbrechen, zu deren Klarstellung durch 
photographische oder zeichnerische Aufnahmen, Messungen, Asser- 
vierung von Gegenständen, Fixierung von Finger- und Fußspuren 
u. dgl. der Erkennungsdienst irgendwie von Vorteil sein kann, ist 
er znr Tatbestandsaufnahme hei anzuziehen. Der Polizeibeamte, der 
als erster an den Tatort kommt, hat den Referenten sofort durch 
den Fernsprecher zu verständigen oder, wenn die Umstände sein 
Verbleiben am Tatort erheischen, dafür zu sorgen, daß ein anderer 
Polizeibeamter schleunigst die Benachrichtigung übernehme. Für 


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134 


III. Th. Habsteb 


die Beamten des Erkennungsdienstes ist außerhalb der Bureaustunden 
ein regelmäßiger Bereitsohaftsdienst eingerichtet, der auch 
zur Nachtzeit die sofortige Heranziehung ermöglicht. Allen Polizei¬ 
beamten ist eiugeschärft, daß bis zum Eintreffen des Erkennungs¬ 
dienstes der Tatort aufs strengste abgesperrt und alles in unver¬ 
änderter Lage belassen werden muß. Gegenstände, deren Berührung 
nicht vermieden werden kann, dürfen nur mit Handschuhen angefaßt 
werden. Der Vollzug dieser Weisungen gibt selten Anlaß zu Bean¬ 
standungen, in der Regel werden sie aufs Genaueste befolgt. Häufig 
freilich kommt es vor, daß schon der Schutzmann, der als erster 
eintrifft, den Tatort nicht mehr unverändert findet, aber dagegen ist, 
wie jeder Kriminalist weiß, eben kein Kraut gewachsen. Die Haupt¬ 
sache ist, daß vom Erscheinen des ersten Polizeibeamten an der Vor¬ 
schrift entsprechend rasch und doch mit Besonnenheit gearbeitet wird. 

Der Erkennungsdienst bedient sich beim Tätigwerden außerhalb 
des Polizeigebäudes eines kleinen Handkoffers, der mit allem 
notwendigen Material ausgestattet ist. Die von Groß 1 ) vorgesohla- 
genen Gebrauchsgegenstände sind fast alle darin enthalten, 
dazu aber noch manches andere, da der Koffer in der Regel mit 
dem Automobil an den Tatort gebracht wird, so daß ein größeres 
Gewicht nicht hinderlich ist. 

Die Inanspruchnahme des Erkennungsdienstes bat sich in der 
letzten Zeit beträchtlich gesteigert: während er ira Jahre 1909 31 
mal geholt wurde, hatte er schon im ersten Halbjahr 1910 56 mal 
auszurüoken. 

Die Fingerspuren werden wie oben angegeben behandelt, zum 
Abformen der Fußspuren wird Gips, Wachs oder Schwefel, bei 
Schneespuren Leim verwendet. Mit dem von Professor H. Groß im 
Archiv (Band 37 S. 186) empfohlenen „Mollin“ wurden beim Ab¬ 
formen von Werkzeugspuren gute Erfahrungen gemacht. 

Die Tatortaufnahmen und die Aufnahmen aller Spuren werden 
in ein Album eingeklebt. Wird der Täter überführt, so wird seine 
Photographie beigefügt; bleibt er unermittelt, so sind künftig, wenn 
Verbrechen ähnlicher Art geschehen, die Fingerabdrücke aller ver¬ 
dächtigen Personen mit den photographierten Fingerspuren aus 
früheren Zeiten zu vergleichen. 

Zur Tätigkeit des Erkennungsdienstes gehört ferner auch das 
Studium der Zentralpolizei- und Fabndungsblätter. Die 
beigegebenen Photographien werden ausgeschnitten, aufgeklebt und 
der Registratur der Steckbriefphotograpbien einverleibt; für die als 

1) Handbuch fUr Untersuchungsrichter, 5. Aufl. S. 163. 


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Der Erkennungsdienst der Kgl. Polizeidirektion München. 


135 


abhanden gekommen signalisierten Gegenstände werden Karten ge¬ 
schrieben and za der im vorigen Abschnitt besprochenen Karten- 
sammlnng genommen. 

Sind unbekannte Verhaftete ausgeschrieben, für die nicht schon 
Nachforschungen im Laufe sind, so wird die aussohreibende Behörde 
um die Übersendung eines Fingerabdruckblattes und einer Photo¬ 
graphie ersucht; im Wiederholungsfälle schickt sie dann beides in 
der Regel unaufgefordert. 

Im Jahre 1910 wurden zwei Ausbildungskurse in allen 
Zweigen des Erkennungsdienstes, besonders im Klassifizieren und 
Registrieren von Fingerabdruckbogen nach Henrys System abge¬ 
halten. An den Kursen nahmen auch auswärtige Kriminalbeamte teil. 

T. Die Zigeunerzentrale. 

In der Bekämpfung der Zigeunerplage kann Bayern eine 
führende Stellung beanspruchen. Es ist mit der Zentralisierung 
des Nachrichtenwesens bahnbrechend vorgegangen, das von 
Polizeidirektor Dillmann herausgegebene Zigeunerbuoh ist als 
sehr schätzenswertes Hilfsmittel allgemein bekannt, die Akten der 
bayerischen Zigeunerzentrale sind in ganz Deutschland, vor allem 
in Württemberg, Baden, Hessen und den Reiohslanden vielbegehrt 
und für Bayern haben die von der Regierung getroffenen Maßnahmen 
auch unbestrittenen Erfolg gehabt. Er hätte freilich viel größer sein 
können, wenn sich die übrigen Bundesstaaten zu einheitlichem Vor¬ 
gehen mit Bayern entschlossen hätten. Solange dies nicht geschieht, 
wird der ganze Kampf gegen das Zigeunerwesen leider eine Halb¬ 
heit bleiben. 

Eine Entschließung des K. Staatsministerinms des Innern vom 
28. März 1899 hat folgende Anordnungen getroffen: Jedes Erscheinen 
von Zigeunern in einem Distriktsverwaltungsbezirke hat der Polizei¬ 
beamte, der zuerst davon erfährt, der K. Polizeidirektion 
München sofort telegraphisch oder telephonisch mitzuteilen. Die 
Distriktsverwaltungsbehörden haben sodann der K. Polizeidirektion 
München schleunigst eine eingehendere Mitteilung zu übersenden, die 
Ober die Personalien der Beteiligten, ihre Legitimationspapiere, über 
Herkunft und Richtung der Wanderung, über hervorgetretene An¬ 
stände, strafbare Handlungen usw. und Über die getroffenen polizei¬ 
lichen Maßnahmen Auskunft zu geben hat. Die dem Erkennungs¬ 
dienste der Polizeidirektion München angegliederte Zigeuner¬ 
zentrale dient auf Grund des bei ihr gesammelten Materials als Aus- 
kunftsbehtfrde und gibt den signalisierenden oder anfragenden Be- 


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136 


111. Th. Uabstkr 


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hörden alles Wissenswerte über Heimat dsw. der betr. Zigeuner, über 
anhängige strafrechtliche Untersuchungen, bestehende Aufenthalts* 
verböte, etwa veranlaßtes polizeiliches Einschreiten usw. bekannt. 

Das K. Staatsministerium der Justiz hat mit einer Entschließung 
vom 21. Mai 1899 auch einen staatsan w a 1 tsc h aft li o h e n 
Nachrichtendienst eingerichtet. Wird bei der Staatsan¬ 
waltschaft die Anzeige einer strafbaren Handlung angebracht, die 
von Wanderzigeunern begangen wurde, so ist der Inhalt der An¬ 
zeige der K. Polizeidirektion München mitzuteilen; der Mitteilung sind 
die Anhaltspunkte beizufügen, die zur näheren Kennzeichnung der 
Truppe dienen, der die Angeschuldigten angehören. Sind diese in 
Haft, so ist es zu bemerken, andernfalls ist die Polizeidirektion zu 
ersuchen, die Staatsanwaltschaft zu benachrichtigen, wenn die Truppe, 
zu der die Angeschuldigten gehören, in einem anderen Bezirk er¬ 
mittelt oder angehalten wurde. Wird erst im Laufe des Verfahrens 
die Persönlichkeit der Angeschuldigten, ihre Heimats- und Staats¬ 
angehörigkeit festgestellt oder wird bekannt, daß sie früher schon 
Strafen erlitten haben, so sind diese Verhältnisse ebenfalls der 
Polizeidirektion mitzuteilen. Wurden die Angeschuldigten in dem 
gegen sie eingeleiteten Strafverfahren verurteilt, so ist der Polizei¬ 
direktion der Urteilssatz mit einem kurzen Bericht über die Tat¬ 
sachen, auf Grund deren die Verurteilung erfolgte, und mit dem 
Beifügen mitzuteilen, an welchem Orte die Verurteilten die Strafen 
erstehen und an welchem Tage sie aus der Haft entlassen 
werden. 

Die Zigeunerzentrale hat vor allem durch ihren Nachrichten¬ 
dienst und ihre Mithilfe zur Einfangung steckbrieflich verfolgter 
Zigeuner die Zigeunerplage in Bayern erheblich gemindert. Im 
Jahre 1909 sind 280 größere Banden, 134 Zigeunerfamilien und 
95 Einzelzigeuner aufgetreten. In diesen Zahlen ist das wiederholte 
Auftreten derselben Bande usw. inbegriffen. Ausschreibungen er¬ 
folgten in 354, Festnahmen in 314, Bestrafungen in 173, Reichs- 
verweisungen in 9, Landesverweisungen in 6 und Einschaffungen 
ins Arbeitshaus in 26 Fällen. 

Die Bekämpfung des Zigeunerunwesens verlangt wie kaum eine 
andere auf polizeilichem Gebiete auftaucbende Frage nach inter¬ 
nationaler Regelung. Ganz Deutschland, aber auch Öster¬ 
reich-Ungarn, die Schweiz und Frankreich hätten eine Interesse 
daran. Zum mindesten sollten Landeszentralen geschaffen 
und ein internationaler Nachrichtendienst einge¬ 
richtet werden. Die Grundlage hätte die Daktylo- 


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Der Erkennungsdienst der Kgl. Pohzeidirektion München. 


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skopie zu bilden 1 )- Von jedem Zigeuner, der irgendwo be¬ 
treten wird, müßten Fingerabdrücke genommen werden. Die Finger- 
abdruckbogen wären der Landeszentrale einzusenden, die mit den 
ausländischen Zentralen in ständiger Verbindung stehen müßte. So 
wäre die größte Schwierigkeit beseitigt, die der Zigeuner macht: 
man wüßte jederzeit, wen man vor sieb bat. Der Zigeuner wechselt 
den Namen nach Belieben, leiht oder kauft sieb Legitimationspapiere, 
ist natürlich niemals vorbestraft und versteht es ausgezeichnet, den 
begreiflichen Wunsch der Polizeibehörden und Gerichte, ihn so bald 
als möglich wieder loszuwerden, zu seinen Gunsten auszunützen. 
So kommt es, daß die Münchener Zigeunerzentrale oft für denselben 
Zigeuner unter verschiedenen Namen drei, vier oder noch mehr 
Personalakten führen muß und daß vor allem die Straflisten niemals 
stimmen 2 ). Nur die Daktyloskopie kann hier Wandel schaffen. 
Von der dringenden Notwendigkeit ihrer baldigen allgemeinen Ein¬ 
führung die maßgebenden Stellen und Behörden des In- und Aus¬ 
landes za überzeugen, wird für die nächste Zeit die vornehmste 
Aufgabe der Kriminalisten sein. 

1) Vgl. auch F. Paul, Die Reform der Kriminalpolizei, H. Groß’ Archiv 
Band 36 S. 4. Unzutreffend ist aber die Angabe Pauls, in Frankreich bestehe 
bereits ein Gesetz, wonach jeder Zigeuner berdllonisiert und daktyloskopiert 
und mit einer Legitimation versehen werden müsse, deren Abgang ihn strafbar 
mache. Der Polizeipräfekt zu Paris hat der Kgl. Polizeidirektion München am 
IS. Juli 1910 auf eine Anfrage mitgeteilt, n qu’ il n’ y a, dans la legislation fran^aise, 
aucune disposition spdciale assujettissant les nomades ä des formalitös präven¬ 
tives d’identitö.“ 

2) Als Beweis hierfür möge der folgende typische Fall dienen: In K. am 
Main saß vor kurzem die Bande W., vier Männer, zwei Frauen und mehrere 
Kinder, in Haft. Erstaunlicherweise wurde ziemlich gleichzeitig die Festnahme 
derselben Bande mit den gleichen Personalien auch aus D. an der Donau gemeldet. 
Nach längerem Leugnen gestanden die in K. angehaltenen Zigeuner zu, nicht W., 
sondern K. zu heißen. Das Haupt der Bande, % Anton Paul K., gab an, er habe 
den falschen Namen Franz W. angenommen, weil gegen ihn ein Strafverfahren 
anhängig sei. Seine Kinder Franz, Christian und Sophie habe er auf den Namen 
W., seinen Sohn Konrad auf den Namen A. taufen lassen; denn er sei im Jahre 
1S82 in R. zu 16 Monaten Gefängnis verurteilt worden, er sei aber nach Ver¬ 
büßung eines Monats aus dem Gefängnis entwichen. Den ihm abgenommenen 
Staatsangehörigkeitsausweis des Franz W. habe ihm dessen Sohn Johann geliehen, 
die Geburtsurkunde für seinen Sohn Konrad gehöre dem Konrad W.; Johann W. 
habe sie ihm mit dem Staatsangehörigkeitsausweis geschickt. Der Sohn Franz K. 
erklärte, er habe sich das ihm abgenommene Arbeitsbuch von der Gemeinde¬ 
behörde R. auf den Namen Alois W. ausstellen lassen. Der zweite Sohn, Christian 
K., reiste mit Legitimationspapieren des Viktor W., die er sich erst im laufenden 
Jahre vom Standesamt und der Gemeinde R. ausstellen ließ, obwohl der richtige 
Viktor W. erwiesenermaßen bereits im Jahre 1894 gestorben ist. 


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IV. 


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Eine schwierige Leichen-Identifizicrung. 

Von 

Kurt Weise, Kriminal-Kommissar am Königl. Polizei-Präsidium in Berlin. 

(Mit 1 Abbildung). 


Fälle, in denen Leichen zerstückelt worden sind in der Absicht, 
die Identifizierung zu erschweren oder gar unmöglich zu machen, 
weist die Kriminalgeschichte häufiger auf. Einen besonders schwierigen 
Fall von Leichenidentifizierung bietet derjenige der Leiche der Prosti¬ 
tuierten Anna A. in Berlin. Dieser Fall ist um so lehrreicher, als der 
Täter die Leiche derartig zerstückelt hatte, daß die Kunst der Ärzte 
anfangs völlig versagte und es ihnen sogar unmöglich war mit 
Bestimmtheit zu begutachten, ob die ihnen vorgelegten und zur Ob¬ 
duktion übergebenen Leichenteile einer Frau oder einem Manne an¬ 
gehörten. Nur dem Umstande, daß es den mit den Nachforschungen 
betrauten Kriminalkommissaren gelang, auf anderem Wege den be¬ 
stimmten Nachweis dafür zu erbringen, daß die an verschiedenen 
Orten und zu verschiedenen Zeiten gefundenen Teile (der Kopf der 
Leiche fehlt bis auf den heutigen Tag noch) unzweifelhaft der Leiche 
der Prostituierten Anna A. angeboren, ist es zu verdanken, daß auch 
die Ärzte schließlich an Hand der Krankenakten der Anna A. die 
Leichenteile mit ziemlicher Sicherheit als der Anna A. gehörig zu 
identifizieren vermochten. 

Am 5. Dezember 1909 wurde in Berlin an der Micbaelbrücke in 
der Spree die obere Hälfte eines mit einem dicken Bindfaden um¬ 
schnürten menschlichen Rumpfes von Schiffern gesichtet und gelandet. 
Reste von braunem Packpapier ergaben, daß der Leichenteil ursprüng¬ 
lich in Papier gehüllt gewesen war, das Papier sich jedoch im Wasser 
abgelöst hatte. Die gerichtsärztliche Obduktion des Rumpfes erfolgte 
am nächsten Tage, am 6. Dezember 1909. Es war ein Rumpf, der 
vom vierten Halswirbel begann und bis zum zweiten Lendenwirbel 
reichte. Das Brustbein fehlte, die Brusthöhle war eröffnet und es 
fehlte außen die Gegend der Brüste. An deren Stelle waren große 


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Eino schwierige Leichen-Identifizierung. 


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Defekte, die bis in die Muskulatur bineinreicbten, derartig tief, daß 
Drüsensubstanz nicht mehr festgestellt werden konnte. In der ge* 
öffneten Brusthöhle hingen Herz und beide Lupgen. 

Die Arme waren ans den Gelenken gelöst; unterhalb dieser 
Schnitte standen noch einige Acbselhöhlenhaare. Die Gerichtsärzte 
gaben ihr Gutachten dahin ab, daß jeder Anhalt für das Geschlecht 
der verstorbenen Person fehle, nur der ganze Habitus den Eindruck 
einer weiblichen Person mache. Auch wurde dieses Gutachten später¬ 
hin mit Rücksicht darauf, daß die große Körperschlagader einige 
kleine gelbliche Flecke aufwies, was auf Arterienverkalkung deutete, 
dahin erweitert, daß es sich um ein schon älteres Individuum handele. 

Der Rumpf, ebenso die später gefundenen Leichenteile wurden 
anf richterliche Anordnung konserviert. An eine Identifizierung des 
Rnmpfes war nur dann zu denken, wenn die übrigen Körperteile oder 
wenigstens doch einige herbeigeschafft werden konnten. Zu diesem 
Zwecke wurden nun äußerst umfangreiche Maßnahmen getroffen, ins¬ 
besondere auch Bekanntmachungen an den Anschlagsäulen und ent¬ 
sprechende Preßnotizen erlassen, in denen unter Hinweis auf die aus¬ 
gesetzte hohe Belohnung von 3000 Mark um sachdienliche Mittei¬ 
lungen gebeten wurde. Diese Maßnahmen hatten sehr bald Erfolg. 

Am 7. Dezember 1909, früh gegen 7 V 2 Uhr, fanden zwei Männer 
auf dem Tempelhofer Feld ein mit Bindfaden umschnürtes Paket. 
Es enthielt ein schwarzes Jackett, in diesem lag eine schwarze Schürze 
hierin eine weiße Frauenunterhose, und in diese waren zwei mensch¬ 
liche Arme eingewickelt. Am Goldfinger der linken Hand befand 
sich ein unechter, ganz minderwertiger, zusammengedrückter soge¬ 
nannter „Marquisring“, dessen Stein fehlte. 

Die Finger hatten sogenannte „Waschhaut*, was eine Identifi* 
zierung der Leiche auf daktyloskopischem Wege völlig unmöglich 
machte ')• Die Arme erschienen an ihrer Oberfläche gelblich, sodaß 
es den Eindruck machte, als seien sie entweder der Einwirkung von 
Säuren oder heißen Wassers ausgesetzt gewesen. Eine einfache 
Prüfung mit Lackmuspapier schaffte bald die Gewißheit, daß von 
Sänrewirkung nicht die Rede war. Es war die gelbe Farbe nur das 
natürliche Produkt der Lufteinwirkung. 

Die sofort vorgenommene gerichtsärztliche Obduktion ergab, daß 
die Arme eine Muskulatur aufwiesen, welche wie gekocht aussab. Sie 
hatte die Farbe von zartrosa Schinken, war trocken und trübe und 

1) Sofern ein daktyloskopischer Abdruck hätte genommen werden können, 
so wäre die Identifizierung ein leichtes gewesen, da die Anna A. in Hamburg 
daktyloskopiert worden war. 


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Original from 

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IV. Kurt Weiss 


fQblte sich fettig an. Am oberen Teile der Oberarme, die, wie die 
vorstehenden Oberarmköpfe zeigten, ans den entsprechenden Schulter¬ 
gelenken gelöst waren, standen einige krause Achselhöhlenhaare. Die 
Gericbtsärzte gelangten schließlich im weiteren Verlauf ihrer Unter. 
Buchungen zu der festen Überzeugung, daß die Arme gekocht worden 
sind und zwar auf Grund folgenden Befundes: Die Abklärung der 
Oberhaut (wie bei Verbrühungen) war an allen Teilen eine voll¬ 
kommene, die Kontraktur der Arme war eine außergewöhnlich starke, 
fernerhin sprach hierfür die quasi Krallenstellung der Finger und die 
ganz auffällige Beugung beider Hände, endlich die ganz charakte¬ 
ristische Färbung und das trübe, trockene, graurote Aussehen des 
Muskelfleisches ')• 

Im übrigen paßten die Arme zu dem gefundenen Rumpfe der 
Größe und dem vorhandenen Fettpolster nach, und die Untersuchung 
der Haare bestätigte dies. Den Gerichtsärzten fiel noch besonders 
auf, daß an der linken Hand ein Stück der Haut an der Handrücken- 
fläche offenbar absichtlich herausgeschnitten worden war, ein 
Umstand, der natürlich Anlaß gab, bei den polizeilichen Nach¬ 
forschungen besonders berücksichtigt zu werden, und der, wie wir 
später sehen werden, es den Ärzten ermöglichte, den wissenschaft¬ 
lichen Nachweis für die Richtigkeit der polizeilichen Ermittelungen 
bezüglich der Identität der Anna A.schen Leichenteile zu führen. 

Mit demselben Augenblick, in dem die Zugehörigkeit der Arme 
zu dem Rumpfe festgestellt erschien, gewannen die Kleidungsstücke 
(Jackett, Schürze, Unterhose) und der Ring eine außerordentliche Be¬ 
deutung. 

Es galt deshalb, deren Herkunft zu ermitteln. Diese Ermittelungen 
gestalteten sich äußerst schwierig, da das Jackett, ebenso der Ring, 
Dutzendware ohne besondere Kennzeichen war. Nur die Schürze 
und die Unterhose zeigten solche. Die Schürze war nämlich, obwohl 
aus schwarzem Zeug gefertigt, mit blauem Garn nachgenäht. 
Die Unterhose war geflickt. Im Jackett steckte und zwar in der 
Innenseite in der vorderen Ecke eine Stecknadel. 

Die Gegenstände wurden sämtlich ausgestellt, in Bekanntmachungen, 
Preßnotizen usw. auch eingehend beschrieben. Das große Interesse, 
das die Berliner Bevölkerung dem Fall entgegenbrachte, äußerte sich 
nunmehr in einer großen Anzahl von Anzeigen, in denen einzelne 
Personen bald das Jackett, bald die Schürze usw. als irgend einer 

1) Das Kochen der Leichen Ermordeter steht übrigens in der Kriminal- 
geschichtc nicht vereinzelt da; ich verweise nur auf den vom Staatsanwalt Dr. 
Xemanitsch in H. Groß, Archiv VIII, S. 327 ff. bekanntgegebenen Fall. 


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Eine schwierige Leichen-Identifizierung. 


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bestimmten Person gehörig zu erkennen behaupteten. Alle diese zum 
Teil mit größter Bestimmtheit aufgestellten Behauptungen erwiesen 
sieh aber bei näherer Prüfung als nicht stichhaltig. 

Unter den Personen, die Angaben über die Herkunft des Jacketts 
machten, befand sich auch der Schneidermeister T., der behauptete, 
das Jackett sei von ihm etwa Ende Oktober oder Anfang November 
1909 an eine jüngere Frauensperson verkauft worden, die in Be¬ 
gleitung einer älteren in seinen Laden gekommen wäre und auf ihn 
den Eindruck einer Prostituierten niedrigster Kategorie gemacht hätte. 

Wenngleich T. Fachmann und demgemäß seiner Kekognition des 
Jacketts von vornherein ein gewisser Wert beizumessen gewesen war, um 
so mehr, als seine Ehefran und eine andere Zengin, die Friseuse R., 
seine Angaben durchaus bestätigten, so war Joch andererseits zu 
berücksichtigen, daß das Jackett auch von anderer Seite mehrfach 
rekognosziert wurde. — Es galt also die Richtigkeit der Angaben 
des T. nachzuprüfen. 

Das von T. seinerzeit an die beiden Frauen verkaufte Jackett 
hatte T., wie er angab, zugleich mit 29 anderen Jacketts im August 
1907 von einem Händler B. gekauft. Dieser wiederum hatte die 
Jacketts aus einer Konfektionswerkstätte bezogen, die damals von 
einer Frau L. und dem Schneidermeister C. gemeinsam betrieben 
wurde. Aus den übereinstimmenden Angaben der L. und des C. in 
Verbindung mit der Aussage einer seinerzeit in deren Betrieb be¬ 
schäftigt gewesenen Arbeiterin P., welche an dem ihr vorgezeigten 
Jackett mit Bestimmtheit Einzelheiten entdeckte, die ihr beim Fertigen 
von Nähten und dergleichen mehr eigentümlich warenging mit 
Sicherheit hervor, daß das auf dem Tempelhofer Feld gefundene 
Jackett tatsächlich aus der L.sehen Werkstätte herstammte. Damit 
hatten die Angaben des Schneidermeisters T. außerordentlich an Wahr¬ 
scheinlichkeit gewonnen. 

Da außerdem die Maße des Rumpfes zu dem Jackett paßten, 
der Schneidermeister T. die Käuferin auch für eine Prostituierte ge¬ 
halten batte und immer mehr dafür sprach, daß eine solche in Betracht 
kam, so wurden die T.schen Angaben der Presse übergeben. 

Unter genauer Beschreibung der älteren und jüngeren Frauens¬ 
person und der begleitenden Umstände des Kaufes wurde unter Hin¬ 
weis auf die ausgesetzte Belohnung ein Aufruf erlassen dahingehend, 
daß jeder, der über die gesuchte Frauensperson irgendwelche Angaben 

1) Jede Arbeiterin hat bekanntlich ihre Eigentümlichkeiten, so daß sie wohl 
imstande ist, ihre Arbeit von der einer anderen Person zu unterscheiden, ein 
Umstand, auf den hier besonders hingewiesen sein mag. 


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IV. Kurt Weiss 


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% 


zu machen imstande wäre, dies unverzüglich bei der Kriminalpolizei 
tun möge. Dieser Aufruf hatte den gewünschten Erfolg. Bald mel¬ 
deten sich Leute, welche angaben, die gesuchte ältere Frau wäre 
identisch mit einer Handelsfrau Sch., die jüngere mit der seit einiger 
Zeit vermißten Prostituierten Anna A. 

Frau Sch. wurde daraufhin dem Schneidermeister T. sowie den 
übrigen Rekognoszenten gegenübergestellt. Die T.schen Eheleute 
und die Friseuse B. erkannten in der Frau Sch. sofort die von ihnen 
gemeinte ältere Frau. Frau Scb. gab ihre Identität mit der gesuchten 
Frau zu und bestätigte, daß die jüngere die Prostituierte Anna A. ge¬ 
wesen wäre. 

Die schon durch die Identifizierung des Jacketts begründete An¬ 
nahme, die Ermordete sei die Prostituierte Anna A., wurde am nächsten 
Tage zur Gewißheit. Die Schwägerin der Prostituierten Anna A., eine 
Frau Adeline A., erkannte das Jackett ebenfalls sofort als ihrer 
Schwägerin gehörig. Frau Adeline A. bekundete auch ausdrücklich, 
ihre Schwägerin hätte die Gewohnheit gehabt, ihr Cachenez mittels 
einer Stecknadel zusammenzustecken und habe sie diese, wenn sie 
das Cachenez abgenommen, unten in das Jackett gesteckt. Am wesent¬ 
lichsten aber war die Bekundung der Frau Adeline A., wonach diese 
die Unterhose als diejenige erkannte, welche sie selbst gearbeitet und 
geflickt und am 26. November 1909 zugleich mit der ebenfalls von 
ihr mittels blauen Garnes ausgebesserten schwarzen Schürze und 
anderen Kleidungsstücken der Prostituierten Anna A. gegeben batte. 
Zum Beweise für die Richtigkeit übergab Frau Adeline A. der Kri¬ 
minalpolizei eine Probe von diesem blauen Garne. Damit waren 
Jackett, Schürze und Unterhose einwandfrei rekognosziert. 

Auch der Ring konnte, als aus einem Restaurant, in dem Anna 
A. bis kurz vor ihrem Tode verkehrt hatte, herstammend nacbge- 
wiesen werden. Die Tochter des Inhabers dieses Lokals batte der 
Anna A. den Ring zum Geschenk gemacht. 

Am 8. Dezember 1909 wurde auf dem Tempelhofer Felde in 
einem zusammengeschnürten Paket ein Paar Strümpfe gefunden, 
welche Frau Adeline A. auf Grund daran befindlicher Flickarbeit 
ebenfalls als Eigentum der Anna A. mit Bestimmtheit erkannte. 

Wenn die Gerichtsärzte im Laufe der weiteren Untersuchungen 
der Leichenteile schon die feste Überzeugung gewonnen hatten, daß 
der Rumpf einer weiblichen Person angehört haben muß, und die 
gekochten Arme zu diesem Rumpf gehören, so benahm der weitere 
Fund eines Leichenteiles, nämlich ein am 2. Februar 1910 im Rixdorfer 
Stichkanal gefundener weiblicher Oberschenkel, jeden etwa noch vor- 


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Eine schwierige Lcichcn-ldentifizierung. 


143 


handenen Zweifel. Der Oberschenkel war ein linksseitiger, an dem 
an der Stelle, wo die äußeren Geschlechtsteile gewesen, noch einige 
Schanihaare bemerkbar waren. Oberhalb der Schambeinfuge hingen 
noch Reste von Weichteilen; so war u. a. die Gebärmutter und der 
linke Eierstock zu erkennen. 

Die Gerichtsärzte gelangten auf Grund des Obduktionsbefundes 
zu dem Gutachten, daß es sich um die linke Gesäßhälfte und den 
oberen Teil des linken Oberschenkels einer weiblichen erwachsenen 
Person handle, der Oberschenkel passe durchaus zu dem bereits ge¬ 
fundenen Rumpf und gehöre dazu. 

Am 17. Mai .1910 wurde in der Spree unweit der Brommybrücke 
ein menschlicher linker Unterschenkel und am 21. Mai 1910 ca. 150 
Meter stromabwärts der Brommybrücke ein menschlicher rechter Unter¬ 
schenkel gesichtet und gelandet. Beide Schenkel bildeten laut Gut¬ 
achten der Gerichtsärzte mit den bereits gefundenen Leichenteilen ein 
gemeinsames Ganzes. 

Obgleich es für die Berliner Kriminalpolizei seit der Rekognition 
der der Anna A. gehörigen Kleidungsstücke feststand, daß die ge¬ 
fundenen Leichenteile der Anna A. angebörten, so fehlte doch immer 
noch der wissenschaftliche Nachweis hierfür. Auch ein solcher 
konnte endlich nach Aufwand vieler Mühe geschafft werden und zwar 
auf folgende recht umständliche aber äußerst interessante Weise: 

Bezüglich der Persönlichkeit der Prostituierten Anna A. wurde 
nämlich u. a. ermittelt, daß sie sich viel in Hamburg und Altona 
unter falschem Namen herumgetrieben und dortselbst in den 
niedrigsten Spelunken und Kaschemmen verkehrt hatte. In einer dieser 
Kaschemmen war die Anna A. vor vielen Jahren mit einem Zuhälter 
in Streit geraten; im Verlauf desselben hatte sie einen wuchtigen 
Schlag mit einem Bierseidel auf den linken Handrücken erhalten. 
Die diesbezüglichen weiteren Nachforschungen ergaben, daß die Anna 
A. im Jahre 1903 unter dem falschen Namen Sch. im allgemeinen 
Krankenhaus St. Georg Aufnahme gefunden hatte. Die Kranken¬ 
akten der Anna A. alias Sch. besagen u. a., daß bei ihr im Jahre 
1903 eine schmierige Wunde auf dem licken Handrücken vorhanden 
war. Späterhin heißt es: „Bewegungen der Finger links tadellos“. 
Demnach muß also die Verletzung der Hand eine schwerere gewesen 
sein, denn die Eintragung „Finger der linken Hand tadellos be¬ 
weglich“ wären in einem Krankenblatt nicht gemacht worden, wenn 
eben nicht eine Verletzung der licken Hand Vorgelegen hätte, die die 
Beweglichkeit zu beeinflussen imstande gewesen wäre. 

Diese Notiz auf dem Krankenblatte, ebenso der Umstand, daß, 


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144 IV* Kckt Warn? 

eiagsäg« ermähnt, ari ifer linken Hand des gefundenen 
LäehRQtedes ein Ötücis der llaüt in der Haudriickenfläcke offenbar 
absichtlich vom Täter beräusgeseh bitten worden war, veranlage die 
{ U-ncbtsMrzte, die linke Hand mit Rünfgenslrahleu zu untersuchen. 
2wat ^cate es .ja wne EleiiiigketV gewesen, die Knochen heratiszu- 
nehmen und direkt zu untersuchen, aber mit Rücksicht darauf, «faß 
dadnrcb das Gesamtbild in unwiederhrijigiieber Weise zerstört worden 
wäre, und andererseits auch eine etwaige Verletzung der Knochen 
nicht annähernd so deutlich hätte dafgestelU werden können wie mit 



Röntgenatrahlen, wurde von dieser Art der Üittersaehang Abstand 
trenommen Das Ergebnis der fbönigeouotersöchUBg der liakea Hand 
(siehe- obige Abbildung) ergab, daß an ihr zwei Knochenbriiche 
deutlich erkennbar sind, nämlich am . Mittelhandknocben' r des' linken- 
Zeigefingers und des Äljttelfinjryrs; und autjerdegt erkenat nian an 
dem Nagelglied des iinken Daumen eme SteUe, die wie ein verheilter 
Knochenbrußh ausstebt- Das geiieb^KsflicUe ^uttichteu schließt mit 
dem. Vermerk; ..theyorhmfldtmen Ktiottheidjrö^feäindansclieincnd durch 
^ihe stumpfe Owa at« entständen 4 . 

liezugiich jfer Iföhtgenpdiotograidtie wird tm gericbtsärzütcheri 
.Gutachten hervofgehoben. daß diese nicht vollkommen klar ist, und 










Eine schwierige Leichen-Identifizierung. 


145 


dies daran läge, weil die Hand zur Faust geballt und außerdem auch 
noch gegen den Vorderarm winklig abgeknickt fixiert war. Eine Hand 
in diesem Zustande zu photographieren ist nicht leicht, und es ent¬ 
stehen alsdann einige Schatten, die auch bei bester Technik nicht 
zu vermeiden sind. 

Mit dieser wissenschaftlichen Feststellung ist auch für die Ge¬ 
richtsärzte jeder Zweifel für die Zugehörigkeit der gekochten Arme 
zu den Körperteilen der vermißten Anna A. beseitigt 

Wie durchtrieben der Täter bei der Zerstückelung zu Werke 
gegangen ist, um eine Identifizierung der Leichenteile zu hintertreiben 
erhellt der Umstand, daß er die peinlichste Sorgfalt darauf verwandt 
hat, jedes besondere Merkmal, das zur Identifizierung der Leichen¬ 
teile dienen konnte, zu vernichten. So hat der Täter nicht nur die 
auf dem linken Handrücken befindlich gewesene Narbe herausge- 
schnitten, sondern auch das Brustbein am Rumpfe sicherlich nur 
deshalb entfernt, weil die Anna A., wie aus den Krankenakten der¬ 
selben weiter hervorgeht, am Brustbein eine auf Syphilis zurückzu¬ 
führende Narbe besaß. Da am Kopfe der Anna A. besonders viele 
Kennzeichen vorhanden waren, wie zum Beispiel mehrfach Warzen 
und Leberflecke am Kinn und eine Narbe an der Oberlippe, so wird 
der Täter bei der Vernichtung des Kopfes natürlich besonders sorg¬ 
fältig zu Werke gegangen sein. Trotz der umfassendsten Maßnahmen 
der Berliner Kriminalpolizei konnte der Kopf bis auf den heutigen 
Tag nicht herangeschafft werden. Die vom Täter geleistete Arbeit 
spricht übrigens dafür, daß er den Körper der Anna A. und insbe¬ 
sondere seine Merkmale sehr genau gekannt hat, demnach häufiger 
mit der letzteren in Berührung gekommen sein muß. 


Archiv für Kriminalanthropologie. 40. Bd. 


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Kleiner« Mitteilungen. 


Von Medizinalrat Prof. Dr. P. Näcke in Hubcrtuabtirg. 

1 . 

fcur Mörderphysiognomie. Ebstein hat in di&em Archiv, Bd. 38, 
p. 68 88. über den Mörder Rfltgerodt in der Lavaterschen Auffassung 
geschrieben nnd uhe Lavaters tolle Phanthasien Aber dessen Silhonette Und 
Abbildnng mitgeteilt. Man versteht dann, daß Lichtenberg schon damals 
nichts von der Physiognomik wissen wollte. Gegen verschiedene falsche 
Auffassungen Ebsteins selbst muß ich aber hier entschieden Verwahrung 
einlegen. Er scheint von der Kriminalanthropologie im LombroSoschen 
Sinne und ihren Gegnern recht wenig zu wissSü, sonst würde er vom 
„geborenen Verbrecher* anders sprechen, als er dies S. 7 7 f. tut. Lombroso 
nnd seine Schule hat, wie er ganz richtig sagt: „bestimmte anthropol. Merk¬ 
male des geborenen Verbrechers“ aufgestellt, d. h. er will also damit eine 
Art von Rasse, wie etwa die des Negers, Mongolen, verstanden wissen, in¬ 
dem nämlich nicht x-beliebige Stigmata sich am Kopfe häufen, Sondern 
eben ganz bestimmte, wie dies ein Rassencharakter verlangt. Nun hat 
Lombroso diesen Typus erst auf 40 Proz. der Gewohnheitsverbrecher be¬ 
rechnet, später ist er auf 25 Proz. herabgestiegen und weitere Unter¬ 
suchungen von anderer Seite zeigten, daß auch dieser Prozentsatz noch viel 
zu hoch ist, ferner, daß er sich auch bei Nichtverbrechern findet und bei 
sog. „geborenen Verbrechern“ oft genug fehlt Also von einem bestimmten 
Typus kann nicht die Rede sein! Ich selbst habe s. Zt. auf der 
Insel Nisida bei Neapel, im Bagno, wo die schwersten Verbrecher an- 
gesammeit waren, den Typus nur sehr selten gesehen und der leider so 
früh verstorbene Prof. Penta, der sicher mehr Verbrecher als Lombroso 
sah, sagte mir, daß, wo dieser sog. Typus sich fände, er z. T. durch die 
langjährige Haft entstanden sei, z.T. durch die Provenienz des Verbrechens 
selbst, da es Striche in Italien gebe, wo dieser Typ gang und gäbe wäre, 
ohne deshalb reicher an Delikten zu sein, als andere. Das Amüsante meines 
Besuches im Bagno dort war aber auch, daß der langjährige Direktor, ein 
älterer Mann von großen Verdiensten, den echten Lombrososchen Typ auf¬ 
wies! Auch konnte ich an den mir vorgeführten Mördern auch nicht ein 
eiuzigesmal den kalten, glasigen, stechenden Blick erkennen, der nach 
Lombroso für den Mörder typisch sein soll. Die Wissenschaft hat 
jetzt fast allgemein den Typus des „geborenen Verbrechers“ 
abgetan, was Ebstein ebensowenig zu wissen scheint, wie daß der Be¬ 
griff des „geborenen Verbrechers“ im strengen Sinne Lom- 
brosos fast allseitig ab gelehnt wird. L nennt einen Verbrecher 
nämlich deshalb einen „geborenen“, weil er ein solcher werden mußte und 


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Kleinere Mitteilungen. 


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des nt eben falsch. L. selbst hat das z. T. wohl auch emgeeehen, indem 
er später von der Heilbarkeit gewisser „geborener“ Verbreoher spricht, was doch 
sonst ein nonsens wäre. Will man den Ausdruck überhaupt noch beibehalten, 
was gleichfalls die meisten ablehnen, so kann er nur so verstanden werden, 
daß es Menschen giebt, die schon bei relativ leichten Anlässen und Ver¬ 
suchungen Delikte begehen, sie also nicht begehen müssen, außer unter 
bestimmten Bedingungen. Damit wär aber die Definition von reinem Kaut¬ 
schuk. Denn von wo ab beginnen die „relativ leichten“ Versuchungen 
und Anlässe, daß wir alsdann von „geborenen“ Verbrechern reden könnten? 
Das schwebt also sehr in der Luft, genau so wie die Definition von „moral 
insanity“. 

Wie subjektiv und kritiklos Lombroso bei der Beschreibung und Be¬ 
wertung seiner Stigmata und auch sonst vorging, »ist bekannt genug, ja er 
scheute sich sogar nicht vor Fälschungen, indem er z. B. ein Gehirn 
ganz fälschlich unterschob, was ihm Spitzka jun. in New-York nachwies. 
Daher sind auch seine Resultate alle mehr als fraglich. Was für Subjektivitäten 
auch anderen unterlaufen können, zeigt aber Ebstein selbst. Er findet an 
Rütgerodts Bildern, die aus Lavater stammen, ganz willkürlich ver¬ 
schiedene Zeichen, die ich und gewiß auch andere darin sicherlich nicht 
finden werden. Er findet I. Schädeldeformation, die ich an den Bildern 
nicht finde. Der Schädel erscheint hoch, aber nicht deformiert, soweit 
die Bilder es sehen lassen. 2. Vorspringende Jochbeine kann man nicht 
an den Bildern sehen, was Ebstein gleichwohl angibt, während der Ver¬ 
brecher offenbar ein Progenee = Vorderkauer war, Ebstein dies aber 
übersehen hat. 3. Die Glabella ist nicht eingedrückt und 4. sind an den 
Bildern die Ohren nicht groß, dagegen erscheint das dargestellte rechte 
oben rechteckig gebildet und das Ohrläppchen wohl schlecht angeheftet. 
Man sehe sich nur die Bilder auf p. 72 an, um mit mir anderes zu sehen 
als Ebstein. Und er scheint nun gar des Mörders Bild mit dem aus 
H. Ellis abgebildeten auf S. 77 vergleichen zu wollen, die fast toto coelo 
verschieden erscheinen! Er schreibt nämlich wörtlich: „loh glaube, die 
Gegenüberstellung beider Köpfe bedarf keiner Worte weiter.“ Ebstein hat 
also falsch gesehen und .interpretiert, wie es in großem Maßstabe Lom¬ 
broso und seine Schule so oft tun. Und das will sich dann Wissenschaft 
nennen! Wo nicht Maß und Gewicht angewendet werden kann, sondern nur 
da- Eindruck entscheidet, wie so oft bei gewissen Anomalien, namentlich 
Asymmetrien des Gesichts und Schädels, da sollten wenigstens, wie ich dies 
immer wiederholte, 2 Beobachter gleichzeitig untersuchen, um die Sub¬ 
jektivität möglichst einzudämmen, was ihnen freilich auch dann nicht immer 
gelingen wird. Dann wenigstens sei man in seinen Behauptungen vorsichtig, 
damit man keine Angriffspunkte für eine Kritik gewähren kann. Das S uib - 
jektivete von allem is.t und bleibt aber die Physio¬ 
gnomie, daher denn die Physiognomik wie die Gra¬ 
phologie (alsCharakterde-ntung)sicher nie zum Ran ge 
einerWiseenechaft aufsteigen werden. 


2 . 

Ein bemerkenswertes Urteil. In den „ArchivoB de PBiquiatria 
j eriminologia “ 1910, p. 355 ist unter dem Titel „Condena de Radowsky“ 

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ein gewöhnlicher Fall eines politischen Attentats mitgeteilt, aber mit unge¬ 
wöhnlicher Urteilsfällung. Am 14. November 1909 hatte ein junger Russe, 
ein Arbeiter, in Buenos Aires eine Bombe geworfen, wodurch auf der 
Straße der Polizeichef und sein Sekretär schwer verwundet worden waren. 
Der Verbrecher hatte bloß den Ersteren töten wollen. Er war nach 
gerichtsärztlicher Untersuchung als geistig durchaus gesund befunden worden 
und der Staatsanwalt beantragte die Todesstrafe, besonders in Anbetracht 
des rohen Verfahrens seitens des Verbrechers. Schließlich wurde er aber 
wegen doppelten Menschenmords zu unbestimmter Gefängnisstrafe ver¬ 
urteilt, mit zeitweiser Isolierung, (condenando ä Simon Radowsky, como 
autor del doble homicidio perpetrado 1.. . ä sufrir la pena de peniten- 
ciaria por tiempo indeterminado. ..“) Es ist dies meines Wissens der 
1. Fall, daß statt lebenslänglicher Gefangenschaft, solche auf „unbestimmte 
Zeit“ festgesetzt ward. Es liegt somit die Möglichkeit einer Begnadigung 
oder bei gutem Benehmen später erfolgenden Befreiung vor. Man sieht 
also, daß wir hierbeizttglich noch nicht so weit sind. Doch erscheint das 
Vorgehen des argentinischen Gerichts fOr bestimmte Fälle sicher nach¬ 
ahmenswert. 


3. 

Höchst komplizierter Fall von Selbstmord. In den Archivos 
de Psiquiatria y crimonologia, Buenos Aires, 1910, p. 301 ss. beschreibt 
Dr. Bravo y Moreno 1 ) einen sehr eigentümlichen Fall. In Barcelona fand 
man im Juni 19o9 in einer kleinen Stube 4 stinkende Leichen; davon 
gehörten 2 einem Ehepaare an, 1 ihrem Töchterchen von einigen Monaten, 
die vierte endlich einem Manne von 28—3» Jahren an. Der Letztere wies 
32 Wunden auf und zwar 1. 21 oberflächliche Hautwunden, meist auf 
der rechten Körperseite gelegen, 2 davon am Kopfe, mit einem scharfen 
Messer oder dergleichen beigebracht; 2. 4 Wunden mit einem Revolver, 
am Kopfe aber nur oberflächlich, endlich 3. 7 Beilhiebe in den Kopf, 
davon 6 tödliche Wunden darstellend. Es fand sich neben Knochenbruch 
eine Blutung der Gehirnhäute und eine Kontusion der rechten Hirnhälfte. 
Hier liegt wohl sicher Selbstmord vor und zwar in der Reihe von Messer¬ 
stichen, Revolverwunden und tödlichen Beiihieben. Derselbe Mann hat 
offenbar mit einem Beile die 3 anderen Personen vorher getötet Die Tat 
lag schon einige Tage zurück. Man sah keinerlei Spuren von Widerstand. 
Ebensowenig fand man ein Motiv zur Tat. Mit Recht macht Verfasser 
auf die große Seltenheit solcher zähen Selbstmordversuche bis zum 
endlichen Gelingen aufmerksam. Die Literatur kennt nur wenige Fälle. 
Hier konkurrierten also nicht weniger als 3 verschiedene Werkzeuge. Ebenso 
selten dürfte bei einer solchen Mordtat von 4 Personen das Fehlen jeg¬ 
lichen ersichtlichen Motivs sein und ebenso das jeglichen Widerstands. 


4. 

Einfluß von Erdbeben auf Schwangerschaften. Ich habe 
kürzlich über die höchst merkwürdigen Zusammenhänge zwischen dem 
Erdbeben in Messina und Psychosen und Neurosen an dieser Stelle berichtet. 


1) Triple homicidio v suicidio. 


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Nicht weniger merkwürdig ist aber auch der Einfluß auf die Schwanger¬ 
schaften. Rebaudi aus Genua hat 25 schwangere Frauen genau beobachtet, 
die dem Erdbeben Messinas entronnen waren und nach Genua kamen. J ) 
Alle wurden, bis auf eine, zur normalen Zeit entbunden, und die Neu¬ 
geborenen boten keine Mißbildungen dar. Und doch hatten alle diese 
Frauen furchtbare physische und innerliche Qualen durchgemacht: nächtliche 
Flucht, Fehlen warmer Kleider, Angst oder Trauer um Angehörige, Auf¬ 
enthalt in den Baracken, ungenügende Nahrung und selbst Durst, ohne 
von Wunden und dem Hinfallen Zureden. Das Referat schließt — offenbar 
im Sinne des Autors — mit den Worten: „Von allen physischen und 
moralischen Faktoren scheint mir der einzig wirksame das direkt oder indirekt 
auf die Gebärmutter wirksame Trauma zu sein 4 *. Nun, diesen Schluß halte 
ich für durchaus voreilig. Wenn nach all dem Durchgemachten die 
Schwangerschaften normal verlaufen, so ist das wohl mehr Zufall und 
spricht jedenfalls sehr für die robuste Gesundheit der Gebärenden. Daß 
die Neugeborenen ohne Mißbildungen geboren wurden, hängt wohl mehr 
davon ab, daß die Frauen sich in späteren Schwangerschaftsmonaten 
befanden, was im Referate nicht gesagt ist. Mißbildungen durch heftigen 
Schreck, Kummer etc. und zwar auf dem Wege der dadurch ver¬ 
änderten Ernährung können nur in den ersten Monaten entstehen, 
später nicht Übrigens wäre es sehr interessant, die Neugeborenen hier bei 
den 25 Frauen weiter zu verfolgen. Es wäre immerhin möglich, daß die 
physischen und moralischen Qualen der Mütter doch auf die Psyche der¬ 
selben gewirkt haben und später sich Neurosen, Psychosen oder Entartung 
zeigen, besonders wenn etwa hereditäre Disposition dazu vorliegen sollte. 

5. 

Ein Beispiel unglaublicher Fruchtbarkeit beim Menschen. 
Ich lese folgendes hierüber 1 2 ). In der Sakristei der Pfarrkirche in Bönning¬ 
heim (Würtemberg) ist auf Holz in der Mitte Adam Strotzmann und sein 
Eheweib Barbara Schmotzerin, mit ihren 53 Kindern dargestellt. Die 
Frau starb angeblich 1504 und soll 18 mal Einzelgeburten, 5 mal Zwillinge, 
4 mal Drillinge, 1 mal Sechslinge und 1 mal Siebenlinge geboren haben, 
darunter 19 Totgeborene. Keines der 53 Kinder — 38 Knaben und 15 
Mädchen — wurde über 9 Jahre alt Über den Fall sind 2 Protokolle 
aufgenommen worden, und der berühmte Berliner Gynäkolog Prof. Olshausen 
hält die Sache für glaubhaft. Letzteres ist ja zunächst die Hauptsache! 
Der Fall lehrt aber vor allem, daß je mehr Geburten, besonders Mehr¬ 
geburten, desto mehr Totgeburten stattfinden nnd desto mehr nimmt die 
Lebensfähigkeit ab. Keine der lebend geborenen Kinder ward dort über 
9 Jahre alt! Weiter sehen wir, daß die Frau zu Mehrlingen neigte 
und das ist oft der Fall. Sie brachte es sogar zu Sechs- und Siebenlingen! 
Auch das bedeutende Vorherrschen der Knabengeburten scheint die Regel 
dann zu sein, wie in allen Fällen von schlechter oder Unterernährung. 
Man kann den Fall beinahe als einen Atavismus hinstellen. Denn mit 


1) Nach einer Notiz der Archives de Neurologie, 1910, II, p 58. 

2) Nach einer Mitteilung von Back: Sexuelle Verirrungen des Menschen 
und der Natur. Berlin, Standard-Verlag. Ohne Jahreszahl (1910) p. Sl. 


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da* Evolution der Tiere nimmt die Zahl der Geburten ab. Sehr interessant 
ist es in solchen Fällen der Anamnese nachzuspüren. Gewöhnlieh stammen 
solche Franen von sehr fruchtbaren Frauen und solchen mit Mehrgeburtea 
ab, vor allem aber ist es oft eine Entartun gserscheinung, daher sind 
sog. sehr fruchtbare Ehen im allgemeinen nichts weniger als 
wünschenswert: Sein- kinderreiche . amilien bieten häufig genug mehr 
körperliche und seelische Abweichungen in ihren Einzelgliedern dar, als 
weniger zahlreiche. Also schon deshalb ist auoh hier auf das quäle 
und nicht das quantum der Nachdruck zu legen. 

6 . 

Folgen der Prügelstrafe. Es ist immer ein heikles Ding, wenn 
ein Laie über ihm fremde Gegenstände spricht. Wohl kann er dazu be¬ 
scheiden seine persönlichen Ansichten äußern, aber ausdrücklich nur als 
Laie. Das ist leider in dem Aufsatze von Asnaurow in diesem Archive 
nicht geschehen. Verf., ein Pädagoge, hat wohl einiges über sein Thema 
gelesen und selbst einige hierhergehörige Fälle seiner Erfahrung mitgeteilt. 
Als Laie aber verallgemeinert er die letzteren und weiß vor allem nieht 
die Grundursachen aufzudecken. Er hat offenbar meinen Artikel über das 
gleiche Thema 1 2 ) nicht gelesen, sonst würde er sich etwas vorsichtiger aus¬ 
gedrückt haben. Alle die Beispiele, die für einen schädigenden 
Einfluß der Prügelstrafe nach sexueller Richtung hin, an¬ 
geführt werden, sind eben nur ungeheure Ausnahmen, wenig¬ 
stens bei uns. Unzählige Tausende von Kindern wurden und werden 
noch geprügelt, ohne Sadisten oder Masochisten zu werden, sogar auch 
nicht in den Zwangserziehungsanstalten und ähnlichen Instituten, wo der 
Bakel an der Tagesordnung ist. Nur Disponierte werden Sadisten 
usw. und das sind eben zum Glück doch nur sehr wenige. Ich 
zweifle selbst daran, ob im heiligen Rußland mit der weichen, passiven 
Slavenseele mehr wirkliche Sadisten und Masochisten sich finden, als bei 
uns, mag dort vielleicht auch die natürliche Bedingung dazu etwas günstiger 
liegen, als hier. Ich habe aber ausdrücklich auch die Prügelstrafe 
auf das äußerste beschränkt wissen wollen, um unter anderem auch 
diese geringe Möglichkeit nach Kräften auszuschließen. Ganz wird sie sich 
aber wohl kaum umgehen lassen und zwar erstens weil nur ein minimaler 
Prozentsatz der Lehrer solche „geborene“ Pädagogen sind, daß sie durch 
das bloße Wort die Kinder leiten können und zweitens weil es sicher unter 
den Kindern, besonders Knaben refraktäre Elemente gibt, denen man kaum 
auf anderem Wege beikommen kann. 

7. 

Bordelle oder nicht? Schon früher habe ich mich auf die Seite 
derer gestellt, die nicht für Abolition der Kasernierung von Dirnen waren, 
trotzdem sie große Fürsprecher hat wie z. B. Bloch. Ich habe s. Z. 


1) Asnaurow: Algolagnie und Verbrechen. Dies Archiv, Bd. 38 (1910) 
p. 289 ss. 

2) Nücke: Die Prügelstrafe, besonders in sexueller Beziehung. Dies Archiv, 
Bd. 35. 


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an dieser Stelle d$s, großp Nater-Experiment in Italipp angeführt, dag di? 
Bordelle aufbob. Seit dieser Zeit nun mehrten sigb npgepeuer die Ge? 
schlechtskrankbeiteg der Soldaten, und viele Klagen ehrbarer Mädchen über 
sexuelle Attacken wurden laut. Daraufhin wurde das Verbot wieder aufge¬ 
hoben. Auch ist kürzlich ähnliches aus Freiburg i. Br. berichtet worden, 
wenn auch natürlich; in kleinerem Maßstabe. Jeijzt aber wird ein Gleiches 
aus Amsterdam berichtet Nach einer Notia$ in den „Sexual-Problemen“ 
1910 Seite 787 wurden dort 1902: 90 öffentliche Häuser geschlossen, dafür 
gab es aber 1909: 366 geheime Bordells mit 656 Frauen; 50 Proz. 
dieser Haren batten Zuhälter und die Straßenprostitution hat, sich mehr 
entwickelt als vor der Aufhebung der Bordelle. Trotzdem hat der Ge¬ 
meinderat von Rotterdam die Aufhebung der Bordelle beschlossen. Wir 
werden ja 6ehen, mit welchem Erfolge! — Ich sagte immer: der Geschlephts- 
trieb des Menschen läßt sich nicht unterdrücken und alle Sittlichkeitsapostel 
etc. ändern nichts an der Sache. Da nun schwerlich die Ehemöglichkeit 
eine frühere sein wird, als jetzt, so muß dieser Libido ein Ventil geschaffen 
werden. Geheime Huren scheinen mir aber bei der Ansteckungsgefahr 
gefährlicher zu sein als kasernierte bei regelmäßiger* Untersuchung und so 
traurig auch die Tatsache der weißen Sklavenschaft ist, so ist es wohl eine 
Notwendigkeit, und die freie Prostitution hat mehr den Schein der 
Freiheit, als der Tat nach, da diese Dirnen eben auch aus Notlage meist 
zu Sklavendiensten sich hergeben müssen. Eine Einschränkung der Bor¬ 
deliierung scheint mir geradezu gefahr-voll zu sein. Das Richtigste ist und 
bleibt: sexuell abstinent bleiben, bis zur Ehe. Aber wie viele werden es 
tun? Der Mensch ist schwach, besonders in der Großstadt und selbst alle 
angeratenen Vorsichtsmaßregeln werden im Moment der Leidenschaft oder 
Versuchung gewöhnlich über den Haufen geworfen. 


Von Gerichtsassessor Dr. Albert Hellwig, Berlin-Friedenau. 

8 . 

Meineid und Volksglaube. Schon verschiedentlich habe ich darauf 
bingewiesen, daß in weiten Volkskreisen die Auffassung des Meineides als 
eines schweren religiösen Delikts noch weit verbreitet ist und daß man 
noch annimmt, der Meineidige werde von Gott bestraft, oft auf der Stelle 
oder doch in allen sichtbarer Weise. Gerade dieser Volksglaube macht es 
meiner Ansicht nach wünschenswert, den Eid als religiöse Beteuernngsform 
beizubehalten. Ich habe auch schon verschiedene Fälle angeführt, die 
jenem Volksglauben gewissermaßen Recht zu geben schienen, indem ein 
des Meineids Verdächtiger gelähmt wurde oder bald nach der Eidesleistung 
starb. 1 ) Dafür, welche Rolle derartige Scheinbestätigungen des Volksglaubens 
spielen, vermag ich einige woitoro interessante Belege anzuführen. 

Bei den Redjangs glaubt mau allgemein, der Meineid werde von den 
höheren Mächten bestraft; man glaubt dies so felsenfest, daß seiten ein 
Mann, der Familie oder Vermögen hat, es riskieren wird, einen Meineid zu 


11 Vgl. meine Skizze über „Bestrafung des Meineides durch Gott“ in dem 
»Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik“ Bd. 31, Leipzig 190S, 
S. 103/106. 


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Kleinere Mitteilungen. 


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leisten. „Kommt das doch vor, so wird das Ergebnis so sorgfältig im 
Gedächtnis bewahrt, und alles Unheil, welches dem betreffenden Eidbrüchigen, 
seinen Kindern und Enkeln zustößt, dieser Ursache allein zugeschrieben. 0 
Ein gewisser Dupatti Gunong Selung schwur im Jahre 1770 feierlich einen 
Meineid. Bald darauf wurde einer seiner Söhne in einem Streite tödlich 
verwundet, zwei starben innerhalb einer Woche, der vierte ward lahm und 
der letzte endlich blind. Der Dupatti selbst kam ein Jahr später, während 
eines Aufstandes in seinem Distrikt, ums Leben. Allgemein sah man diese 
einander rasch folgenden Unglücksfälle als Folgen des falschen Eid¬ 
schwures an 1 ). 

Ein anderes Beispiel, das in interessanter WeiBe zeigt, wie gewisse 
neue Eidformen entstehen und in den Ruf besonderer Wirksamkeit gelangen 
können, wird uns von den Batak berichtet in einem Buch, dessen reichhaltige 
Materialien über den Eid von Lasch noch nicht berücksichtigt werden 
konnten. DieBataks haben zahlreiche Schwurzeremonien für die verschiedensten 
Gelegenheiten Am heiligsten aber gilt der Schwur beim zerschmetterten 
Frosch, der erst seit etwa 1840 bekannt ist. „Der Ursprung des Schwures 
beim zerschmetterten Frosch ist dieser: Es war einmal ein Häuptling, der 
war unwillig Uber die Redeweise eines seiner Mithäuptlinge. Deshalb traten 
sie einander gegenüber, um sich Stirn gegen Stirn Rede und Antwort zu 
stehen. Da sprach der Gegner des Häuptlings: „Was das betrifft, wes¬ 
wegen du mich im Verdacht hast, meine schlechten Worte gegen dich, so 
ist es nicht wahr, ich will es beschwören, wann immer du mir einen Eid 
vorhältst, auch beim hingestreckten Bild.“ Da sprach der Häuptling: 
„Wenn du schwören willst, dann schwöre jetzt.“ Da sprach sein Gegner 
„Schön, halte mir ein Bild zum Schwören hin; welches willst du ge¬ 
brauchen Der Häuptling antwortete: „Dann schwöre beim hingestreckten 
Frosch, denn unter den Schwurbildern ist kein Unterschied, wird doch 
unser Großvater Gott den, der falsch schwört, strafen.“ Darauf zerschmetterte 
er einen Frosch, ließ jenen dabei schwören und sagte: „Wie du zer¬ 
schmettert bist, Frosch, so zerschmetfere ihn Gott, wenn seine Worte nicht 
wahr sind.“ Es waren aber viele Häuptlinge und Hunderte von Menschen 
zugegen, denn solch ein Schwur war unter den Batak noch nie vorge¬ 
kommen. Und als jener geschworen hatte, da traf ihn nach nicht langer 
Zeit wirklich sein (falscher) Schwur, denn der Schwörende wurde zer¬ 
schmettert und starb zusammen mit seinen Untertanen. Seitdem beob¬ 
achtete man den Schwur beim zerschmetterten Frosch bis heute, dieser ist 
der heiligste und der gefürchtetste Schwur nach der Meinung der Batak.“ 2 ) 
Dieser Bericht zeigt uns, daß zu den alten Eidesformen neue, die auf dem¬ 
selben Gedanken beruhen, hinzutreten können und mitunter durch an¬ 
scheinende Bestätigung ihrer Wirksamkeit in den Ruf kommen können, 
ganz besonders verbindlich und gefährlich zu sein. 

Dafür, daß auch in dieser Beziehung der moderne Volksglaube mit 


1) Richard Lasch: „Der Eid. Seine Entstehung und Beziehung zu Glaube 
und Brauch der Naturvölker* (Stuttgart 1908) S. 97. 

2) Joh. Warn eck: „Die Religion der Batak. Ein Paradigma für ani- 
mistische Religionen des indischen Archipels“ (-Religionsurkunden der Völker“, 
herausgegeben von Julius Böhmer, Abt. IV, Bd. 1), Leipzig 1909, S. 41 f. 


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den primitiven Anschauungen der Naturvölker noch völlig übereinstimmt, 
vermag ich zn dem schon in meiner oben erwähnten Abhandlung gegebenen 
Beispiele — dessen Glaubwürdigkeit übrigens durch diese Bestätigungen 
gestützt wird — noch zwei andere anzuführen. 

Das eine wurde im Sommer 1909 vermutlich auf Grund einer Zeitungs¬ 
notiz in einer okkultistischen Zeitschrift mitgeteilt. Der Bericht lautete wört¬ 
lich folgendermaßen: „Vor einigen Tagen erschienen zwei Kaufleute vor 
dem Richter. Der eine hatte Ware bestellt, der andere sie zu teuer ge¬ 
liefert. Die Debatte wurde immer hitziger und schließlich kam es zum 
Eid. Der Kläger schwor, er habe nur zu einem bestimmten Kaufpreise 
die Ware bestellt. Damit war der Prozeß zu seinen Gunsten entschieden. 
Als die beiden Gegner den Gerichtssaal verließen, sagte der Verurteilte 
laut: „Sie haben mich durch Ihre Unwahrheit ins Unglück gebracht, Gottes 
Strafe wird übrigens nicht ausbleiben, verlassen Sie sich darauf!“ Am 
nächsten Tage wurden die Bekannten der beiden Kaufleute durch die 
Nachricht aufgeschreckt, der Prozeßgewinner sei plötzlich einem Schlagan¬ 
fall erlegen. Vollständig gesund hatte er sich vom Lager erhoben, ein 
junger lebenskräftiger, kerngesunder Mann, und zwei Stunden darauf war 
er tot. Der Fall hat in den kaufmännischen Kreisen Wiens das größte 
Aufsehen erregt, die Vorgeschichte wurde in unzähligen Veränderungen 
wiedergegeben, und der Unglückliche, der so rasch seiner Familie entrissen 
wurde, wird als ein vom Gottesurteile Niedergestreckter angesehen.“ Die 
Redaktion der Zeitschrift, der wir diesen Fall entnehmen, setzt dann hinzu, 
solche Beobachtungen werde wohl jeder Okkultist gemacht haben; die 
Ladungen vor Gottes Richterstuhl von seiten unschuldig Verurteilter vom 
Scheiterhaufen her seien historisch beglaubigte Tatsachen; weniger bekannt 
dürfte es sein, daß Linnö, der bekannte Botaniker, „derlei markante Fälle 
der ausgleichenden Gerechtigkeit gesammelt und unter dem Titel ,Nemesis 
divina* veröffentlicht“ habe. „Schwieriger allerdings ist die Beantwortung 
der Frage, weshalb oft die Gerechtigkeit lange auf sich warten läßt oder 
scheinbar ganz ausfällt? Nur Reinkarnation und Karma lösen sie.“ 1 ) Diese 
Bemerkung gibt uns einen neuen Beleg dafür, daß der in einem bestimmten 
Vorurteil Befangene auch eine Erklärung für diejenigen Fälle hat, die 
seiner vorgefaßten Meinung zu widersprechen scheinen: Er deutet sie eben 
derart um, daß sie in sein System hineinpassen. Diese Umdeutung ist 
natürlich keine bewußte, sondern entspricht einer bei jedem Menschen mehr 
oder minder vorhandenen Neigung, die auf natürliche psychologische Ursachen 
zurückgeht. 

Ein anderer Fall, der noch frappierender wirkt, weil der wirklich oder 
angeblich Meineidige noch vor Gericht vom Schlag getroffen wurde, stand 
etwa ein Jahr früher in verschiedenen Blättern. Vor dem Amtsgericht zu 
Kreuznach war ein Prozeß anhängig zwischen einem dortigen Weinhändler 
nnd einem Wirt aus Kreuznach, da der Weinhändler auf Bestellung 72 
Flaschen Wein geliefert hatte, während der Wirt behauptete, er habe nur 
22 Flaschen bestellt. Da der Wirt infolgedessen die Abnahme des Weins 
verweigerte, verklagte ihn der Händler auf Erfüllung des Vertrages. In 
diesem Prozeß sollte der Kläger beschwören, daß der Wirt tatsächlich 72 


1) „Zentralblatt für Okkultismus“, Jahrgang 11 (Leipzig 1909) S. S9f. 


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Kleinere Mitteilungen. 


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Flaschen Wein bestellt bebe. Kaum hatte er aber die Schworform^l S ßr 
sprechen, als der Beklagte ihm erregt zuriet: „Eben hast du einen Meineid 
geschworen^. In demselben Augenblick brach der Weijihändler vor decp 
Richter wie vom Blitz getroffen zusammen« Ihn hatte ein Schlagaafail 
getroffen, der ihm die eine Seite lähmte, schwerkrank mußte er aus dem 
Gericktssaal herausgetragen werden und starb wenige Tage danach an den 
Folgen dieses Schlaganfalls •). 

Was das Tatsächliche dieser Fälle anbelangt, so habe ich kein Bedenken« 
daß die Schilderungen den wirklichen Vorkommnissen entsprechen. Wie sie 
im einzelnen zu erklären sind, läßt sich nicht immer zweifelsfrei feststellen. 
"Wir können nur sagen, daß manche angeblichen Folgen des Meineides, so 
a. B. das Sterben der Kinder des Meineidigen nach, unserer Auffassung mit 
dem Meineide in einen ursächlichen Zusammhang nicht gebracht werden 
kann, wenngleich ich nicht bestreiten möchte, daß auf Grund der An¬ 
schauungen der Bibel sehr kirchlich gesinnte Leute auch hier einen Zu¬ 
sammenhang konstruieren könnten. Andere Folgen, wie insbesondere der 
Tod infolge eines Schlaganfalls, sind möglicherweise nur auf einen Zufall 
zu setzen, können aber sehr wohl auch die Folge nachträglicher Reue und 
Gewissensangst eines Meineidigen sein. In allen diesen Fällen muß man 
es aber, wenn nicht andere Beweise vorliegen, dahingestellt sein lassen, ob 
überhaupt ein Meineid geleistet worden ist, denn die Wirkung, nämlich der 
Tod des Schwörenden an einem Scblaganfall unmittelbar nach der Eides¬ 
leistung, lassen sich ganz gnt auch dann erklären, wenn man von der 
Voraussetzung ausgeht,, daß der betreffende keinen falschen Schwur getan 
hatte. Einmal durch sonderbares Spiel des Zufalls, dann aber auch durch 
die Wirkung der durch die Meineidsverdächtigung von seiten des Gegners 
bewirkten ungeheuren inneren Aufregung, die bei besonders dazu disponierten 
Naturen imstande sein wird, zu einem Schlaganfall zu führen. Für die 
Bedeutung dieser Vorkommnisse, für die Bestätigung des Glaubens, daß 
der Meineid durch Gott bestraft werde, ist es übrigens völlig irrelevant, ob 
der betreffende in der Tat einen Meineid geleistet hatte oder nicht: Der 
Abergläubische sieht in dem Unglück, das einen Schwörenden trifft, ganz 
besonders natürlich wenn er in so markanter Weise des Meineides beschuldigt 
worden war, einen sicheren Beweis dafür, daß der Schwur ein falscher 
war und wird durch derartige anscheinende Bestätigungen seines Glaubens 
naturgemäß in seiner Auffassung bestärkt. Daß in so zahlreichen Fällen 
offenbar Meineidige doch nicht von der göttlichen Strafe erreicht werden, 
macht ihn in seinem Glauben auch nicht irre, da er wie der Buddhist oder 
der moderne Okknltist sich mit der Lehre von der Reinkarnation tröstet 
oder als positiv gläubige)' Christ meint, der Meineidige werde seiner Strafe 
doch nicht entgehen, wenn dies auch nicht sichtbar werde, zum mindestens 
werde er im Jenseits für diese Todsünde büßen müssen. So bedauerlich 
es auch ist, daß durch diesen Glauben mancher Unschuldige in den Verdacht 
kommen mag, einen Meineid geleistet zu haben, so muß man doch im Inter¬ 
esse der Rechtspflege wünschen, daß dieser Volksglaube noch recht lange 
lebenskräftig bleiben möge. 


1) „Neues Wiener Journal“ vom 23. Juni 190S. 


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.Kleinere Mitteilungen. 


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9. 

Vampirglanb e und Okkultismus. Schon verschtedftoilich 
haib« ich darauf hinge wiesen, daß der Okkultismus wie verschiedenen an¬ 
deren Aberglauben, so auch den Glauben an das tatsächliche Vorkommen 
ran Vampiren zu verteidigen sacht, indem er zugibt, daß es solche 
Phänomene, wie man sie unter dem Begriff des Vampirismus versteht, tat¬ 
sächlich gäbe, , and sie zu erklären sucht 1 ). Einzelheiten habe ich aber 
noch nicht angeführt. Deshalb mag es nicht uninteressant sein, wenn ich 
im folgenden über einige derartige Anschauungen berichte, die sieb im 
letzten Jahrgange einer neueren okkultistischen Zeitschrift finden, um so 
mehr als darin auch eine Leichenschändung, welche diesen Aberglauben 
nun Motiv batte, berichtet wird. 

Der Redaktion des „Zentralblattes ffir Okkultismus“ wird aus Budapest 
geschrieben : „Im griechisch-katholischen Friedhof der größtenteils von Serben 
bewohnten Stadt Lagos, des Zentrums des Banats, wurde kürzlich in der 
Nacht das Grab der jüngst verstorbenen Greisin Gerga heimlich geöffnet, 
die Leiche herausgezogen, verstümmelt und schließlich mit Spießen von 
Eschenholz durchbohrt. Die Frau hatte als Hexe gegolten, und durch die 
geschilderten Prozeduren sollte verhindert werden, daß die Leiche aus dem 
Grabe steige und und als Vampir im Dorfe amgehe.“ Im Anschluß daran 
bemerkt die Schriftleitung, daß Lagos nicht weit von dem Schauplatz des 
serbischen Vampirromans „Dracula“ liege und daß es in jener Gegend 
noch immer Fälle von „echtem Vampirismus“ zu geben scheine sowie daß 
man durch derlei Prozeduren großem Unheil vorbeuge. Die Greisin sei 
118 Jahre alt geworden, sei also vielleicht schon bei ihren Lebzeiten ein 
„unbewußter Vampir“ gewesen.“ 2 ) 

In derselben Zeitschrift findet sich ein ganz eigenartiger Aufsatz über 
Schutzhüllen, der jeden, der nicht okkulitisoh „gebildet“ ist, auf’s äußerste 
frappieren dürfte. Nach Angabe des Verfassers erkundigen sich viele, die 
Theosophie studieren, „nach der besten Methode zur Bildung einer Hülle, 
die ihrem Körper Schutz gegen schädliche Einflüsse gewähre“. Verfasser 
meint, man könne Hüllen von dreierlei Qualitäten herstellen, entsprechend 
dem ätherischen, Astral- und Mentalkörper. In jedem Falle würden sie 
durch Willenskraft erzeugt, und bevor man daran gebe, die Hülle zu 
bilden, müsse man sich klar darüber sein, ans welchem Material sie 
zn bilden sei und welche schädlichen Einflüsse sie abzuhalten habe. Die 
ätherische Hülle diene zum Schatze des physischen Körpers einschließlich 
des ätherischen, um die verschiedenen ihm drohenden Gefahren fernzuhalten, 
insbesondere um sensitive Menschen im Gedränge zu schützen. 

„Der Zweck einer Hülle im Gedränge ist gewöhnlich zweifach, und 
zwar Schutz zu gewähren gegen den schlechten, unangenehmen und schäd¬ 
lichen physischen Magnetismus, der beinahe immer im Überfluß aus einer 
Menge verschiedener Menschen ausströmt, und zu vermeiden, ein Opfer 


1) Vgl. außer meinem Buch über „Verbrechen und Aberglauben“ be¬ 
sondere meine Skizze über den kriminellen Aberglauben und seine Bedentung 
für die gerichtliche Medizin in der „Arztliehen Sachverständigen Zeitung“ (Berlin 
1906, Nr 16ff.) sowie meine Abhandlung. 

2) „Zentralblatt für Okkultismus“, Bd. 3 Leipzig 1010 1 S. 427 


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dessen za werden, den man einen unbewußten ätherischen Kleptomanen 
nennen kann. Unter einer großen Menge von Menschen ist es beinahe 
ausgeschlossen, nicht einen dieser Unglücklichen zu finden, die, physisch 
schwach, den Umstehenden gleich mächtigen Vampiren oder riesigen 
Schwämmen große Mengen Lebenskraft aussaugen, ohne selbst irgend 
welchen Nutzen davon zu haben, da sie dieselbe gleich wieder zerstreuen, 
ohne sie vorher zu assimilieren. Es gibt Fälle, wo sie sich darauf be¬ 
schränken, nur die weißlich blauen Radiationen, welche jeder normale 
Mensch emaniert, aufzusaugen; dann richten sie keinen Schaden an, da es 
sich um Materie handelt, die der Mensch ausstößt, nachdem er sie bereits 
verarbeitet hat. Aber gewöhnlich bleibt das Phänomen nicht darauf be¬ 
schränkt, da die Nähe allein des unbewußten Vampirs in jenen Personen, 
die ihn umgeben, die Emanition der ätherischen Strahlen anregt, und zwar 
derart, daß nicht nur das bereits verarbeitete weißlich blaue Fluid aus¬ 
strömt, sondern wie durch Wirkung einer mächtigen Säugpumpe, der 
Prozeß so sehr beschleunigt wird, daß auch die rötliche Materie mit der 
anderen wie ein reißender Strom aus allen Poren des Körpers mitgerissen 
wird, bevor das unglückliche Opfer Zeit hat, sich selber zu assimilieren. 
Elin guter Vampir kann auf diese Art in wenigen Minuten aus jemandem 
der sich in seiner nächsten Nähe befindet, die ganze Kraft aussaugen !‘‘ 

„Sicherlich ist er stets ein Ding des Mitleids; nichtdestoweniger 
wäre es ein großer Fehler, wollte man ihm aus Erbarmen gestatten, seinen 
Vampirismus auf uns wirken zu lassen, unter dem falschen Eindrücke, ihm 
dadurch zu helfen. Denn, wie ich bereits erwähnt, zerstreut er sogleich 
die zwecklos erworbene Materie, indem er sie ohne vorherige Assimilierung 
ausströmt und, ohne seinen krankhaften Durst zu stillen, sich selbst zu 
opfern, um ihm frische Materie zu liefern, hieße, um ein indisches Sprich¬ 
wort zu gebrauchen, ,Wasser in ein Gefäß ohne Boden schütten 1 . “ 

„Die einzige Hilfe, die man diesen unbewußten Vampiren angedeiben 
lassen kann, ist ihnen die Lebenskraft (Prana), nach der sie sehr dürsten, 
in ganz beschränkten Mengen zu liefern und gleichzeitig zu trachten, durch 
mesmerische Wirkung die Elastizität ihres ätherischen Körpers wieder herzu- 
stellen, damit das kontinuierliche Aussaugen und Ausströmen nicht mehr 
stattfinden könne. Dieses Zerstreuen geschieht immer aus den Poren der 
Haut, wegen Mangel ätherischer Elastizität, und nicht aus einer Art Riß 
oder Wunde im ätherischen Körper, wie einige glauben; denn nichts was 
mit einem dauernden Riß oder Wunde im ätherischen Körper verglichen, 
werden kann, ist mit den Eigenschaften der ätherischen Materie unseres 
Doppelkörpers vereinbar.“ 

„Eine starke Hülle ist eines der Mittel, um sich vor solchem Vampirismus 
zu schützen, und für viele, im jetzigen Stadium, auch das einzig erlaubte“'). 

Es fehlt mir an Raum und auch an Lust, die weiteren Ausführungen 
des Verfassers wiederzugeben; ich bin überzeugt, daß auch so schon der 
Leser sich ein Urteil über den Wert der okkultistischen Auffassung über 
Vampire gebildet haben wird. Wenn freilich derartiges im zwanzigsten 
Jahrhundert allen Ernstes als Wissenschaft verzapft wird, kann man sich 
über den Vampirglauben serbischer Bauern nicht wundern! 

1) C. W. Leadbater: .Schutzhüllen“ im .Zentralblatt für Okkultismus“ 
Bd. 3 (Leipzig 1910) S. ;S42ff). 


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Besprechungen. 


1. 

A. Ny ström: La vie Sexuelle et ses Lois. Paris, Vigot, 1910. 351 S. 

6 Francs. 

Ein sehr gutes populäres Werk über die Sexualität des Menschen. 
Mit Recht wird der Geschlechtstrieb von dem Fortpflanzungstrieb scharf 
unterschieden und ersterer nicht als verächtlich hingegestellt, wie ihn die 
Kirche so oft behandelte. Die Stärke desselben ist sehr verschieden. 
Wenn daher auch bis zur Heirat die meisten ohne Schaden sexuell ab¬ 
stinent bleiben können, so werden sicherlich andere, besonders solche 
mit starkem Triebe oder nervös Veranlagte, dadurch neurasthenisch usw. 
Das ist sicher, nur glaubt Ref., daß Verfasser die Zahl solcher Fälle doch 
wohl zu hoch einschätzt. Absolut unmöglich ist es aber, daß Geistes¬ 
krankheiten oder Epilepsie so entstehen können, wie Verf. annimmt. Ref. 
sah nie dergleichen und kennt keinen Fall darüber aus der neueren Lite¬ 
ratur, ebenso nie Fälle, die durch abusus cohabitationis oder Onanie ent¬ 
standen wären. Die vielen Beispiele des Verf. bez. des Schadens der Ab¬ 
stinenz dürften meist nicht einer strengen Kritik standhalten. Doch ist 
jedenfalls ein eventueller Schaden zuzugeben, vielleicht aber nur als Mitur¬ 
sache. Die Onanie bietet teilweis ein Ventil für den Geschlechtstrieb 
dar, ihre Schäden sind sehr überschätzt In gewissen Fällen hat also der 
Arzt sogar das Recht, zum Coitus zu raten, das ist sicher, wie er auch 
— und darin steht Ref. dem Verf. bei — das Recht hat, Präventivmittel 
in der Ehe anzuraten. Das Kind hat ein Recht auf gute Erziehung nsw. 
und darum muß die Kinderzahl eventuell beschränkt werden, auch oft der 
Mutter wegen. Unter Umständen sind Gewissensehen durchaus am Platze. 
Die geschichtlichen Exkurse des Verf. sind sehr interessant und überall 
merkt man den warmen Menschenfreund, der sich durch theologische und 
teleologische Exklamationen nicht hindern läßt. In einzelnen Nebenpunkten 
kann Ref. dem Verf. nicht beistimmen, doch das tut dem schönen Buche 
keinen Abbruch. Prof. Dr. P. Näcke. 

2 . 

Knecht: Die Fürsorgeerziehung in Pommern. Psych. Neurol. Wochenschr. 

Nr. 19/20, 1910. 

Es ist ein trübes Bild, das uns Verf. hier entwirft, das aber dem in 
andern Erziehungsanstalten ähnelt. Er untersuchte in drei Fürsorgeanstalten 
Pommerns 222 männliche Zöglinge und 95 weibliche, fast alle waren über 
das schulpflichtige Alter hinaus. 20 Proz. männl. und 18 Proz. weibl. 
waren unehelich geboren (2‘/2 mehr Uneheliche als in Pommern!). Von 


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Besprechungen. 


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171 Vätern waren 20,5 Proz. Verbrecher; 38,6 Proz. der Väter der männl. 
und 31,8 Proz. der Väter der ehelich geborenen weibl. waren Säufer. In 
mindestens der Hälfte der Fälle also war der Alkohol verhängnisvoll. Die 
wenigsten Eltern waren gesund oder ordentlich. Die männl. Btammten 
sehr viel aus sehr kinderreichen Familien (13 mal mehr als 12 Kinder, 
1 mal sogar 24!). Und so waren sehr viele Zöglinge körperlich und 
geistig zurückgeblieben, mit vielen Entartungszeichen behaftet, epileptisch, 
geisteskrank, geistesschwach usw. In 172 mal von 222 der männl. Zög¬ 
linge war Diebstahl Ursache der Einlieferung, sonst Umhertreiben, Unfug, 
bei den Mädchen meist sexuelle Ausschweifungen (unter 95 Mädchen batten 
ca. 10 schon geboren!). 42 der Mädchen waren geistesgeschwächt, bei 
den Knaben einige. Weit verbreitet war die epileptische Anlage. Geistig 
minderwertig waren unter den männl. ca. 43 Proz, von den weibl. 48 
unter 73. Verf. fordert mjt Recht, daß ein Arzt von vornherein die Auf¬ 
zunehmenden untersucht, um die Unpassenden anszuscheiden, ebenso auch 
noch vor der Entlassung. Sie sollten möglichst frühzeitig eingeliefert 
werden und das erste Haupterfordernis scheint dem Ref. die Einlieferung 
schonals Kind womöglich; denn später lassen sich die bösen Einwirkungen 
des traurigen Milieus meist nicht mehr ganz beseitigen. Zu fragen wäre 
aber auch, ob nicht die Anhäufung so vieler minderwertiger 
Elemente aufeinander schädlich einwirkt Familienpflege wäre 
vielleicht besser! Höchst wertvoll wäre eine Statistik über Leute, die von 
20, 25 Jahren usw. die Füreorgeanstalt verlassen hätten. Man würde 
sicher sehen, daß die schließlichen Resultate im ganzen sehr traurige waren. 

Prof. Dr. P. Näcke. 

3. 

Esp§ de Metz: Le Coutean, essai dramatique sur les limites du droit 
chirurgical. Paris, Grasset, 1910. 297 S. 3,50 Fr. 

Vorliegendes Buch und Scbauerdrama gehört zu den wenigen rein 
medizinischen Dramen, von denen Verf. (sein richtiger Name ist der deB 
ausgezeichneten Psychologen Dr. Saint-Paul, der noch unter dem Pseudo¬ 
nym Laupts das Beste über Homosexualität in Frankreich geschrieben hat) 
bereits früher das Drama: „Plus fort que le mal“ verfaßt hat. Bezog 
sich dieses auf die furchtbaren Folgen der Syphilis und ihre mögliche 
Heilung, so zieht das vorliegende gegen das gewissenlose Operieren Geld¬ 
oder Ruhmes halber, besonders wie es früher (siehe Zolas „Föconditd“) in 
Paris mit den Kastrationen von Frauen so üblich war. Es ist geist- und 
gedankenreich geschrieben und streift auch soziale und philosophische 
Fragen. Seine Meinung bez. des OperierenB ist die (S. 15): „Wer un¬ 
nützerweise operiert, ist ein Elender, wer aus Geldgier operiert ein Dieb, 
wer ohne Notwendigkeit operiert und tötet ist ein Mörder.“ 

Prof. Dr. P. Näcke. 

4. 

Berze: Die hereditären Beziehungen der Dementia praecox. Leipzig und 
Wien, Deuticke 1D10. 168 S. 

Diese durch zahlreiche Krankheitsgeschichten gestützte ausgezeichnete 
Untersuchung des Verfassers fordert für die Dementia praecox^Gruppe zu¬ 
nächst eine bestimmte Anlage, wahrscheinlich in ein«- besonderen enge- 


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Besprechungen. 


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börenön Wlderetabdsunfähigkeit des Nervensystems beruhend. Diese Anlage 
kann in der Aszendenz auch andere PBychosen oder abnorme Charakter, 
Alkoholismus bedingen; dadurch erweitert sich der Kreis der gleichartigen 
Vererbung der Detn. praecox. Ja, auch Fälle von Alkoholismus, pras¬ 
senden öder senilem Irrsinn und gewisse „Degenerations-Psychosen“ ge¬ 
hören schließlich dazu. Nahe verwandt mit ihrer Anlage ist die der Para¬ 
lyse, 80 daß daher Kombinationen Vorkommen und in der Aszendenz von 
Dem. praecox oft Paralyse vorkommt. Polymorphismus kömmt also bloß 
innerhalb einer bestimmten Anlage vor. Dem. praec. und Hysterie schließen 
sich in der Vererbung aus ; üsw. Aus der gerat- und gedankenreichen 
Schrift ist noch sehr viel anderes zu lernen, was aber mehr ftlr den 
Psychiater von Interesse ist Ob die Anschauungen Berzes über die er¬ 
weiterte Anlage der Dem. praecox überall Anklang finden wird, möchte 
Ref. aber bezweifeln. Er sieht sicher zu viel Detn. praec., - während jetzt 
überall die Neigung besteht, sie zugunsten des manisch-depressiven Irre¬ 
seins immer mehr einzuschränken. Prof. Dr. P. Näcke. 


5. 

Kurelia. Cesare Lombroso als Mensch und Forscher. Wiesbaden, Berg¬ 
mann, 1910. 86 S. 2,40 M. 

In ansprechender Form Bebildert Verf. den Lebenswerdegang und das 
Lebenswerk Lombrosos. Daß es hier zu einer Apotheose desselben kommen 
mußte, versteht sich von selbst, da Kurella ein waschechter Lombrosianer 
ist und nur hie und da schüchterne Einwendungen macht, allerdings den 
Spiritismus Lombrosos ablehnt. Hatten die speziellen Lehren Lombrosos 
zum Glück in Deutschland nie eigentlich Wurzel geschlagen, so schweigt 
jetzt hier fast alles darüber, meist auch anderwärts. Seine Theorien, auch 
die über die Prostituierte, sind als falsch erkannt oder übertrieben dargestellt 
befunden worden, wie auch seine Ideen über das Genie. Die Wissen¬ 
schaft hat sehon jetzt fast alles weggefegt! Was bleibt, ist 
die Erkenntnis, daß es unter den Verbrechern so viel minderwertige Men¬ 
eehen gibt, für die es aber keine charakteristischen Stigmatas gibt Lom- 
broeo hat die ganze Frage des Verbrechens neu aufgerollt, und das ist 
sein Hauptverdienst. Seine unzähligen Daten leiden alle an Kritiklosig¬ 
keit, sind daher siebt brauchbar oder nur mit der größten Vorsicht. Der 
wissenschaftliche Kriminalanthropologe ist Baer und nicht Lombroso! 

Prof. Dr. P. Näcke. 

6 . 

Sommer: Klinik für physische und nervöse Krankheiten. V. Bd. 2. H. 
Halle, Marhold, 1910. 3 M. 

Enthält nur eine einzige, sehr eingehende Arbeit von Rauschburg 
über die diagnostische und prognostische Verwertbarkeit von Gedächtnis- 
messungen. Auf Grund seiner Wortpaar-Methode glaubt er hierbezüglich 
wichtige Fingerzeige zur Differentialdiagnose zu gewinnen, allerdings meist 
nur unterstützende, nie absolut charakteristische. Prof. Dr. P. Näcke. 

7. 

Neul'an'fl dös Wissens. Hlüstrierte Halbmonatsschrift Über die Fort¬ 
schritte der Wissenschaft. 1. Jahrg. Kleinoktav, vierteljährlich 


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Besprechungen. 


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(6 Hefte) M. 1,50. Verlag von Hermann Loele, Leipzig, Göschen¬ 
straße 1. 

Ref. möchte die Leser des Archivs nachdrücklichst auf das neue Unter¬ 
nehmen lenken, das seiner Billigkeit und seines gediegenen Inhalts wegen sehr 
zu empfehlen ist. Es hat gute Mitarbeiter und die Artikel, meist länger 
als die der Umschau, betreffen alle Wissenschaften, insbesondere alle 
brennenden Fragen in allgemein verständlicher Sprache. Insbesondere 
werden die Naturwissenschaften nicht so in den Vordergrund gestellt, wie 
in der sonst vortrefflichen „Umschau“. Man lasse sich nur Probenummern 
schicken und man wird sehen, daß Ref. nicht zuviel gesagt hat 

Prof. Dr. P. Näcke. 

8 . 

Reichel: Über forensische Psychologie. Mönchen, Beck, 1910. 64 S. 

1,80 M. 

Eine gute Zusammenfassung über das Kapitel, das zwar dem Kenner 
kaum Neues bringen wird, wohl aber leider den meisten Juristen. Verf. 
weist sehr energisch die Bedeutung der forensischen Psychologie, und zwar 
auch für den Zivilrichter nach und macht am Ende sehr gute Vorschläge, 
besonders die Schaffung eines forensisch-psychologischen Instituts und eines 
eignen Lehrstuhls für forensische Psychologie durch einen Juristen. Mit 
Recht betont er, daß es nicht wahr sei, der Verbrecher habe seine Psycho¬ 
logie für sich allein, und gerade an diesem Studium fehle es noch. Die 
Ausstattung der Schrift ist vornehm. Prof. Dr. P. Näcke. 

9. 

Dubois: Die Psychoneurosen und ihre seelische Behandlung. Übersetzt 
von Ringier. Bern, Francke, 1910. 2. Aufl. 484 S. 10 M. 

Ein außerordentlich anregendes, geist- und gedankenreiches Werk, 
wenn auch etwas weitschweifig. Verf. gibt mehr, als der Titel besagt. 
Es finden sich philosophische, historische Exkurse usw. Dubois ist Monist, 
Determinist und berührt auch juristische Dinge, z. B. die Willensfreiheit, die 
Verantwortlichkeit, die er verwirft und für die er nur die „soziale“ Ver¬ 
antwortlichkeit setzen will. Er verwirft einen „geborenen“ Verbrecher und 
spricht dagen von „moral insanity“. Bezüglich der Psychoneurosen will er 
darunter nur die Neurasthenie, Hysterie und die leichteren Fälle von Hypo¬ 
chondrie und Melancholie verstanden wissen. Er verwirft hierbei alle 
medikamentöse und anderweite Behandlung, will auch hierfür nicht die 
Suggestion anwenden, weil sie durch „Überrumpelung“ wirkt, sondern 
in der Hauptsache nur die „Persuasion“, die Psychotherapie, welche dem 
Kranken sein Leiden als ein rein nervöses hinstellen, sein Selbstvertrauen 
stärken und ihn die psychisch bedingten Symptome überwältigen lassen 
soll. Verf. bringt eine Menge von Beispielen, z. T. sehr ausführlich, die 
allerdings sehr für seine Methode zu sprechen scheinen. Doch fürchtet 
Ref., daß Verf. etwas zu sehr Optimist ist und vielleicht gerade zufällig 
auf solche Kranke traf, die eine große Willensstärke besaßen, was leider 
gewiß nur Ausnahme ist Die Freudsche Therapie der Hysterie berührt 
er nicht einmal und hat mit seiner Methode sicher mindestens ebenso 
recht, wie Freud mit seiner sehr gewagten Psychoanalyse. Verf. warnt 


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Besprechungen. 


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geradezu vor Übertreibungen bez. erotischer Vorstellung an. Er sagt sehr 
richtig (p. 347): „Es gibt Ärzte, die sich ein laszives Vergnügen daraus 
maehen. ... an ihre Klienten höchst indiskrete Fragen zu stellen. . . . 
Trauen diese Ärzte nicht vielleicht ihren Patientinnen ihre eigene „sala- 
dtas“ zu?“ Prof. Dr. P. Näcke. 


10 . 

Dr. phil. W. A. Schmidt, Prof, der Chemie an der staatl. 
Hochschule für Medizin in Kairo, gerichtl. Sachver¬ 
ständiger des ägypt. Justizministeriums: „Die Er¬ 
kennung von Blutflecken und die Unterscheidung von 
Menschen- und Tierblut in der Gerichtspraxis“. Quelle 
u. Meyer in Leipzig. Ohne Jahreszahl. 

Die kleine Schrift enthält nichts Neues, aber die für den Kriminalisten 
so überaus wichtige Frage der Blutnnterscheidung ist auf 31 Seiten so un¬ 
vergleichlich klar und leicht verständlich, dabei vollständig und erschöpfend 
behandelt, daß namentlich der Jurist nicht leicht bequemer und besser Uber 
die in Frage kommenden Momente wird unterrichtet werden, als gerade 
durch dieses treffliche Schriftchen. H. Groß. 


11 . 

A. Büttner: „Zweierlei Denken. Ein Beitrag zur Physiologie 
des Denkens“. Leipzig, J. A. Barth. 1910. 

Der außerordentlich anregende Vortrag bespricht die zwei Formen 
des Denkens: des vorstellenden und begrifflichen Denkens und sucht, dem 
Namen nach vertraute, der Vorstellung nach unbekannte geistige Erschei¬ 
nungen unter der Form physikalisch-chemischer Vorgänge zu deuten. Das 
sind Fragen, die für den denkenden Kriminalisten wichtig genug sind. 

' _ H. Groß. 

12 . 

J. v. Kiene in Stuttgart: „Alkohol und Zurechnungsfähigkeit 
im Strafrecht und Zivilrecht“. Stuttgart, D. Heß. 1909. 
Verfasser, der sich als Indeterminist bekennt, zeigt zuerst in den be¬ 
kannten schrecklichen Zahlen die Gefahren und verschiedenen Schäden, 
die durch Alkoholgenuß veranlaßt werden, bespricht die diesfalls im Zivil- 
recht zur Sprache kommenden Momente und geht dann auf die straf¬ 
rechtliche Seite über. Hier wird die Hauptfrage in verschiedenen fremden 
Strafgesetzen, dann die Auslegung des Gesetzes im D. R. Str. G. und die 
Judikatur besprochen, endlich auch die Reformfragen. H. Groß. 


13. 

Dr. Adelbert Düringer: „Richter und Rechtsprechung“. Leipzig. 
Veit u. Comp. 19o9. 

Die Schrift will die Stellung des Richters zum Gesetze untersuchen 
und besieht zuerst die Stadien, die ein Urteil durchlaufen muß, um Recht 
zu schaffen. Dies geschieht unter den Parteien erst durch das rechts¬ 
kräftige Urteil, weshalb es Hauptaufgabe des Richters ist, den möglichen 
oder voraussichtlichen Erfolg des Urteils in Betracht zu ziehen. Dann 

Archiv für Kriminal&nthropologie. 40- Bd 11 


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162 


Besprechungen. 


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wird Rechtsprechung und Verkehrssitte untersucht und die Ausbildung der 
Richter besprochen, das Ansehen des Richterstandes, Parteibetrieb und das 
Reichsgericht Bowie ähnliche Fragen erörtert, die alle in gewissem Sinne 
auf unsere strafrechtlichen Momente sinngemäße Anwendung finden können; 
wenn man sich auch keineswegs mit dem Verfasser in allen Punkten ein¬ 
verstanden erklären kann, so sind sie doch stets anregend. Der Rest des 
Buches ist eine Polemik gegen die Schriften des Rechtsanwalts Ernst 
Fuchs. H. Groß. 

14. 

Dr. Matti Helenius-Seppälä: „Über das Alkoholverbot in den 
Vereinigten Staaten von Nordamerika“. Gustav 
Fischer, Jena. 1910. 

Zu den vielen Unbegreiflichkeiten, denen man in der Tätigkeit der 
Staaten begegnet, gehört deren Stellungnahme gegen den Alkoholgenuß. 
Jedermann kennt den schädigenden Einfluß, den dieser auf die Gesundheit 
und die Erwerbstätigkeit des Volkes nimmt, jedermann weiß die Millionen 
zu nennen, die durch den Alkoholgenuß alljährlich in allen Staaten an 
Menschen und Geld zugrunde gehen, jedermann weiß auch, welche un¬ 
geheure Zahl von Verbrechen direkt und indirekt durch den Alkohol ver¬ 
anlaßt wird, und jedermann weiß endlich, daß der Staat den Freiver¬ 
kauf von Gift verbietet, daß Alkohol ein Gift ist und daß dieser also 
eigentlich nicht verkauft werden dürfte. Eis geschieht aber doch und die 
Schädigungen werden in geometrischer Progression vervielfältigt — weil 
eine Anzahl von Produzenten ihren großen Vorteil davon hat und weil 
der Staat die riesigen Steuern braucht, welche von diesen bezahlt werden. 
So ist’s nicht bloß im alten Europa, das junge Amerika hat’s auch nicht 
ideal, wie in der vorliegenden Schrift etwas breit, aber sehr gut unter¬ 
richtend dargestellt wird. Das allgemeine Alkoholverbot wurde zu Beginn 
der 50 er Jahre des vorigen Jahrhunderts in 16 Staaten und einigen Terri¬ 
torien eingeführt — im Jahre 1906 galt es nur mehr in drei Staaten, 
sonst gibt es nur mehr „lokales Alkoholverbotsrecht“ und als Ergänzung 
die sehr hohen Steuern für Schankerlaubnis, die Verf. als stete Quelle für 
politischen Verfall bezeichnet Verf. zeigt auch, daß das sog. „Ordnen“ 
des Alkoholgenusses, womit man mäßigen Verbrauch erziehen wollte, über¬ 
all mißlungen ist. 

Die Tendenz des wertvollen Buches geht dahin, zu zeigen, daß Alkohol 
einer der Hauptgründe des Volksverfalles und der Begehung unzähliger 
Verbrechen ist — will der Staat hier abhelfen, so ist das lediglich möglich 
durch Alkoholverbot. Es bedarf also nur des ernsten Willens und Verzichts 
auf eine allerdings hohe Steuersumme, von der kein Vespasian sagen 
dürfte „non ölet!“ _ H. Groß. 

15. 

Josef Köhler: „Gedanken über die Ziele des heutigen Straf¬ 
rechts“. (11. Heft der Birkmeyer-Naglerschen „Kri¬ 
tischen Beiträge“.) Leipzig, W. Engelmann. 1909. 

Die geistvolle Schrift vertritt den Standpunkt der klassischen Schule 
in vornehmer und versöhnlicher Weise. Köhler will, daß der Gesetzgeber 
gewisse Grundgedanken nicht übergehen darf, er verlangt aber nicht, daß 


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Besprechungen. 


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diese im Gesetze ausdrücklich hervorgehoben werden müßten. Die Ab¬ 
schreckungstheorie und was im Grunde dasselbe sei, die Theorie vom 
psychologischen Zwange entbehre jeder ethischen Grundlage; auch die Be¬ 
straf ungstheorie lenke das Strafrecht von seiner direkten Bahn ab. Will 
man nur den Verbrecher, nicht das Verbrechen strafen, so komme man 
auf Gedankengänge des kanonischen Rechtes zurück, man strafe nur, um 
eine sündhafte Seele zu reinigen. Es bleibe also nur die Vergeltung oder 
Sühnung und dies sei die Hegelscbe Lehre, übertragen aus der Hegelschen 
Dialektik in die Wirklichkeit des Lebens, so wie es eigentlich schon Thomas 
von Aquin gelehrt habe. 

Die Annahme, daß wir zum arbiträren richterlichen Strafrecht zurück¬ 
kehren sollten, sei ein ungeheuerlicher Rückschritt, aber Barmherzigkeit 
und Schonung müsse in vielen Fällen in den Vordergrund treten. Aus 
Amerika seien drei Maßregeln zu übernehmen: Probation, Reformatory- 
school und Haftung der Eltern. 

Ebenso seien sichernde Maßnahmen nötig, also namentlich Freiheits¬ 
entziehung neben der Strafe, wo Sicherung nötig ist. Köhler tritt erfreu¬ 
licherweise auch für Versuche mit Deportation ein. 

Auch jeder Anhänger der modernen Schule wird die Schrift mit 
größtem Interesse lesen. H. Groß. 

16 . 

Dr. Ad. Baginsky: ,,Die Kinderaussage vor Gericht“. Berlin, 
J. Guttentag. 1910. 

Die Arbeit findet ihre Besprechung im Aufsatze: „Zur Frage der 
Zeugenaussage“, dieses Archiv Bd. 36, p. 362. H. Groß. 

17 . 

Dr. W. Klette: „Sehstörungen bei Kindern“. Berlin. Berliner 
Verlagsanstalt 1900. 

Das, nebenbei gesagt, gute Schriftchen behandelt zwar nur die Frage, 
wie mangelhaftes Sehen bei Kindern zu verhüten, zu erkennen und zu 
korrigieren sei; es zeigt aber auch, wie häufig Kinder fehlerhaft sehen 
und daher ebenso, wie Erwachsene, unrichtig wahrnehmen. Man setzt dies 
irrigerweise in der Regel nicht voraus. H. Groß. 


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Von H. Pfeiffer, Graz. 

Rückenmark (Stichverletzong). 

H. Werner: Die Stich Verletzungen des Rückenmarks vom gerichtsärzt¬ 
lichen Standpunkte. 

Auf Grund von 22 aus der Literatur gesammelten Einzelfällen wird 
ausführlich die Rolle des verletzenden Werkzeuges, die dadurch bedingten 
Verletzungen der Wirbel, Zwischenwirbelscheiben, des Rückenmarkes und 
seiner Häute, sowie die pathol. anat. Veränderungen am Orte der Gewalt¬ 
einwirkung, die klinischen Erscheinungen, sowie die Prognose der Ver¬ 
letzungen besprochen. Auch die gerichtsärztliche Bedeutung derartiger Ver¬ 
letzungen im Sinne der Bestimmungen über Körperbeschädigungen werden 
eingehend erörtert, ferner, wie im Einzelfalle die folgenden Fragen ent¬ 
schieden werden können: 1. Liegt Mord vor? 2. Liegt Körperverletzung 
mit tödlichem Ausgange vor? 3. Handelt es sich um einen Selbstmord 
oder 4. um einen Unfall? 

(Friedreichs Blätter f. gerichtl. Medizin, 1910, Heft 1 u. 2.) 

Rnptur (Mtiskel). 

G. Corin: Sur les ruptures traumatiques du psoas. 

Ein Magazinarbeiter verunglückte beim Abladen eines Karrens, indem 
ihm in gebückter Stellung, mit dem Rücken gegen den Karren gestemmt, 
dieser in seine Lendengegend fiel. Der Mann verspürte sofort einen 
heftigen Schmerz in der rechten Lendengegend, konnte mit Hilfe anderer 
nach Hause gehen, beschäftigte sich nachmittags, ohne schwere Arbeit zu 
tun, mußte sich aber dann krank melden. Der Arzt fand den Mann in 
folgender Stellung zu Bette: Flexion des Oberschenkels gegen den Unter¬ 
bauch und des Unterschenkels gegen den Oberschenkel, Lähmung der 
Extremität und heftige Schmerzen. Allmählich bessern sich die Schmerzen 
etwas und es entwickelt sich nun ein etwa apfelgroßer Tumor am inneren 
Rande des rechten Muse. Psoas, welcher nicht verschieblich, derb und nicht 
fluktuierend ist. Da andere Entstehungsursachen auszuschließen sind, muß 
die Geschwulst als Folgeerscheinung (Muskelhernie, hypertrophisches Narbeo- 
gewebe) einer Zerreißung dieses Muskels aufgefaßt und mit dem Unfälle 
in ursächlichen Zusammenhang gebracht werden. Die Einschränkung der 
Erwerbsfähigkeit wird auf 20 Proz. eingeschätzt. 

(Arch. Internat, d. M6decine Legale, Vol. 1, Fase. I, Jänner 1910.) 

Schwangerschaft (eingebildete). 

G. Neumann: Zum Kapitel der eingebildeten Schwangerschaft. 

Während es sich in dem erstbeschriebenen Falle um eine „echte ein¬ 
gebildete Schwangerschaft“ handelt, deren Ursache zwar nicht klar ist. 


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die man aber durch den schlechten Ernährungszustand, durch eine gewisse 
Stuhlträgheit der Patientin und mancherlei Beschwerden seitens des 
retrofiektierten Uterus wenigstens andeutungsweise erklären kann, so läßt 
sich im zweiten Fall die Annahme nicht von der Hand weisen, daß hier 
die „Einbildung“ wohl nur Mittel zum Zweck (Eingehen einer neuen Ehe) 
gewesen ist; der angebliche Abort sollte wohl der mehr oder minder be¬ 
wußten Farce zu einem natürlichen Ende verhelfen. 

(Friedreichs Blätter f. gerichtl. Medizin, 1910, Heft 2.) 

Selbstverletzungeil. 

F. Straß mann: Merkmale der behufs Vortäuschung fremden Angriffs 

bewirkten Selbstverletzungen. 

Vortragender berichtet zunächst die folgenden Eigenbeobachtungen: 
In einem Badeorte wurde ein 30 jähriger Idiot des Nachts mit durch¬ 
schnittenem Vorderhalse im Bette aufgefunden. Die Krankenwärterin, 
welche ihn schon lange Zeit pflegte, gab an, einen Mann in der Dunkelheit 
forthuschen gesehen zu haben, worauf sie Alarm schlug. Auch an ihr 
fand man eine mehrfach unterbrochene Schnittwunde, welche vom linken 
Schlüsselbein ausgehend nach innen und oben hin in der Richtung auf 
den Kehlkopf zu verlief. Sie war von verschiedener 'riefe. In Anbetracht 
der Tatsache, daß die ersten Sachverständigen die Schnittverletzung am 
Körper und in dem Nachtjäckchen der Betreffenden nicht in Überein¬ 
stimmung bringen konnten nnd in Anbetracht der wechselnden Tiefe der 
Wunde gaben sie ihr Gutachten dahin ab, daß es sich höchstwahrscheinlich 
um eine Selbstverletzung zur Vortäuschung eines Angriffes durch fremde 
Hand handeln dürfte. Daraufhin wurde die Anklage wegen Ermordung 
des Idioten gegen die Pflegerin erhoben. Bei der Hauptverhandlung aber 
konnte Straßmann zeigen, daß die Schnitte am Körper und Nachtjäckchen 
vollkommen zum Decken gebracht werden können, so daß es keinem 
Zweifel mehr unterlag, daß die Verletzung beigebracht worden war, während 
die Angeklagte Hemd nnd Nachtjacke trug. Auch für den auffallenden 
Unterschied in der Tiefe der Wunde ergab sich aus der Stellung des 
Bettes und der Lage der Angeklagten eine Aufklärung. Anschließend an 
diesem Fall bespricht Strassmann die einschlägige Literatur. In der 
Diskussion werden hierher gehörige Eigenbeobachtungen vorgebracht von 
Lochte, Kratter, Ziemke, Kalmus, Zangger uam. 
(Vierteljahrsschrift für gerichtl. Medizin, 1910, Suppl., Salzburger-Tagung.) 

Simulation (Geisteskrankheit). 

E. Regie: Un cas de sursimnlation. 

Ein 30-jähriger Mann eines möglicherweise epileptischen Vaters, er¬ 
mordet in 8 Tagen vier Leute mit einem Gewehre und beraubt sie dann. 
Er selbst ist weder geistesgestört, noch Epileptiker; er verfügt über eine 
zwar etwas beschränkte, aber immerhin genügende Intelligenz. Er ist sich 
seiner Verbrechen bewußt und hat dabei nicht einem unwiderstehlichem 
Zwang gehorcht Im weiteren Verlaufe der Voruntersuchung hat er sich 
durch Simulation von Irrsinn der Verfolgung zu entziehen gesucht. Er 
ist voll verantwortlich für seine Handlungen. Der Verbrecher wurde kurz 
vor Begehung der Mordtaten von seinem Dienstgeber nicht nach Gebühr 


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entlohnt. Es mag sein, daß eine fixe Idee von Zurücksetzung und Über¬ 
vorteilung ihn in seinem Entschlüsse beeinflußt hat. Diese Beeinflussung 
ist aber nicht als entscheidend anzusehen und kann seine Verantwortlich¬ 
keit höchstens etwas vermindern, aber nicht aufheben. 

Der Verbrecher erhängte sich am Tage vor der Gerichtsverhandlung. 
(Archiv d’Anthropologie Criminelle, T. XXV, No. 193—194, 1910.) 

Sinnestäuschungen (taktile). 

Ponzo Mario: Intorno ad alcune illusioni nel campo delle sensazioni 
tattili, suir illusioni die Aristotele e fenomeni analoghi. 

Von den zahlreichen Versuchen der Arbeit sei nur der nachfolgende 
wiedergegeben: Wenn zwei Körperteile, von denen wir verschieden klare 
Lagevorstellungen haben, in anormaler Weise miteinander in Berührung 
gebracht werden, so wird die Vorstellung von geringerem Klarheitsgrade 
durch die anderen modifiziert. Eine merkwürdige Täuschung über die 
Bichtung der Zähne des Unterkiefers erhält man z. B., wenn man unter 
den vorderen Teil der Zunge ein Stäbchen schiebt und nun mit der Zungen¬ 
spitze über die obere Kante der Schneidezähne streicht. Eis entsteht dann 
die Vorstellung, als währen diese Zähne (fast in horizontaler Richtung) 
nach Innen gekehrt Außerdem scheint die Form der ganzen unteren 
Zahnreihe verändert. 

(Arch. f. d. gesamte Psychologie, XVI. Band, 3. u. 4. Heft, 1910.) 

Stich-Schnittwunden. 

Kratter, Graz: Demonstrationen. 

Vortragender demonstriert Lichtbilder einer penetrierenden Schädel- 
Stichwunde, in der das Messer in die Schädelbasis sich derart einge¬ 
klemmt hatte, daß es erst in der Nahrkose wieder entfernt werden konnte. 
Reaktionslose Heilung! Ferner werden atypische Hals - Schnittwunden 
demonstiert, die eine von einem linkshändigen Selbstmörder sich selbst bei¬ 
gebracht, wo die Hauptverletzung an der rechten Halsseite vorgefunden 
wurde, die andere vom Vorderhalse eines durch seinen Vater im Bette er¬ 
mordeten Kindes, welche alle Charaktere der eigenhändigen Beibringung zeigte. 

(Vierteljahrsschrift f. gerichtl. Medizin, 1910, Suppl. Salzburger-Tagung.) 

Schröpfen. 

Israel: Todesfall infolge von Schröpfen. 

Eine Arbeitersfrau läßt sich durch eine Hebamme blutige Schröpf¬ 
köpfe setzen, um damit ihren Muskelrheumatismus zu bekämpfen. An den 
Eingriff schließt sich ein Wund-Erysipel mit allgemeiner Sepsis und Tod 
der Frau an. Bemerkungen über die Vorschriften für Heilgehilfen, 
Hebammen usw. 

(Zeitschrift f. Medizinalbeamte, 23. Jahrgang, 1910, Nr. 11.) 

Schuüverletzung (Mord oder Selbstmord). 

Rehberg: Über Selbstmord durch Erschießen mit abnormer Einschu߬ 
öffnung und die Entscheidung, ob Mord oder Selbstmord vorliegt. 

Die fleißige Arbeit bringt neben einer gründlichen Besprechung und 
Wiedergabe der einschlägigen Literatur, die im Originale nachgeleeen zu 
werden verdient, die Mitteilung dreier Fälle von teils sichergestelltem, teils 


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vermutetem Selbstmorde mit abnormer Einschußöffnung, welche im Berliner 
gerichtsärztlichen Institute znr Beobachtung kamen. Im ersten Falle han¬ 
delt es sich um einen Einschuß an der Stelle der großen Fontanelle 
mit sehr undeutlichen Nahschußsymptomen. Die Richtung des Schußkanales 
geht senkrecht von oben nach unten durch den rechten Schläfenlappen. — 
Am Kadaver einer 22jährigen Frau wieder fand sich die Einschußöffnung 
ohne wesentliche Nahschußerscheinungen in der Mitte der Pfeilnaht. Der 
Schußkanal ging durch die rechte Großgehirnhälfte. — Im dritten Falle, 
der nach den Umständen fremdes Verschulden nicht ausschließen ließ, lag 
die durch Flammen- und Gaswirkung nicht veränderte Einschußöffnung 
links an der Hinterfläche des Schädels; der Schußkanal ging von links 
hinten nach rechts vorne in die vordere Schädelgrube. Die Obduzenten 
nehmen des Fehlens der Nahschußsymptome und der Lage der Einschu߬ 
öffnung wegen fremdes Verschulden, die Sachverständigen im Waffen¬ 
fach hingegen ohne zureichende Begründung Selbstmord an. Nach dem 
Obergutachten Straßmanns hingegen sind die Argumente der Obduzenten 
nicht stichhaltig, denn die abnorme Lage der Einschußöffnung und die 
Richtung des Schußkanales schließt Selbstmord keineswegs aus. (Anmerk, 
des Ref.: Auch im Universitätsinstitute für gerichtliche Medizin in Graz 
wird der Schädel eines Mannes aufbewahrt, der links, dicht hinter der 
Eminentia occipitalis externa die (Revolver-) Einschußöffnung, im rechten 
Stirnbeine die Ausschußöffnung zeigt. Die Schußverletzung wurde, wie 
sichergestellt ist, durch eigene Handanlegung erzeugt.) Nahschußerschei¬ 
nungen fehlen bei rauchschwachem Pulver sehr häufig, auch bei Schwarz¬ 
pulver können sie fehlen. Um die bei diesem Falle aufgetauchten Fragen 
experimentell zu prüfen, führte nun der Verfasser eine Reihe von Schie߬ 
versuchen an der Leiche und an Präparaten aus, die ihn zu folgenden 
Schlußsätzen berechtigen: Bei einem Abstande der Waffe vom Körper, 
der mehr als 1 cm beträgt, können die Nahschußwirkungen so gering sein, 
daß ein solcher ohne mikroskopische Untersuchung nicht mehr nachzuweisen 
ist. Durch eine Kopfbedeckung erleidet die Revolverkugel keine wesent¬ 
liche Abschwächung ihrer Durchschlagskraft. Die heute über das Thema 
vorliegende Literatur zwingt dazu, auszusprechen: 

1. Selbstmord durch Erschießen ist von jeder Seite des Schädels aus 
möglich. Deshalb ist diese Möglichkeit bei jedem abnormen Einschuß ins 
Auge zu fassen. 

2. Den begleitenden Nebenumständen ist besonderer Wert beizumessen, 
weil der Befund oft nicht so eindeutig ist, daß er allein in allen Fällen 
die Entscheidung ermöglicht. 

3. Daher kann weder die Lage des Einschusses noch der Verlauf 
des Schußkanales Selbstmord ausschließen. 

4 . Das Fehlen von Nahschußerscheinungen berechtigt noch nicht die 
Annahme eines Fernschussee. 

(Vierteljahreschr. f. gerichtl. Medizin, 39. Band, 1910, H. 2.) 

Selbstmorde. 

Chavigny: Suicide et suicide manque dans l’armde. 

Die allermeisten Selbstmordversuche in der französischen Armee werden 
von hereditär belasteten oder geistig mehr minder gestörten Individuen 


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ZeitBchriftcnscbau. 


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unternommen. Melancholiker, Degenerierte liefern den größten Prozentsatz. 
Fehlgeschlagene Selbstmordversuche sind besonders häufig bei geistig 
Minderwertigen, vielleicht weil sie weniger imstande sind, ihren Plan auch 
durchzuführen. In allen solchen Fällen soll eine Untersuchung des Geistes¬ 
zustandes jeder disziplinären Strafe vorausgehen. 

(Annales d’Hyg. Publ., Tome XIII, Jnni 1910.) 

Selbstmorde. 

Ci Heule: Le suicide dans 1'armOe fran^aise, Ätiologie et Prophylaxie. 

Der Verfasser kommt zu ähnlichen Schlußfolgerungen wie Chavigny. 
Auch er meint, daß die überwiegende Zahl der Selbstmorde in der Armee 
von Geisteskranken oder psychisch minderwertigen Individuen begangen 
wird, wobei natürlich Gelegenheitanrsachen mit eine Rolle spielen. Gr hält 
den Ausschluß solcher Individuen für das geeignete Mittel, die Selbstmord¬ 
ziffer herabzubringen. Auch der Kampf gegen den Alkoholismus wird 
empfohlen. 

(Annales d'Byg. Publ., Tome XIII, Juni 1910.) 

Spermanachweis. 

Käthe, Hans: Der Spermanachweis. 

Die gründliche Arbeit, die nicht nur eine ansgedehnte Literaturkennt¬ 
nis, sondern auch ein selbständiges, auf praktischen Erfahrungen basiertes 
Urteil verrät, stellt ein kritisches Sammelreferat dar, welches mit Ausnahme 
der jüngsten bedeutungsvollen Mitteilungen von Corin und Stockis über 
die Verwendung des Erythrosins zum mikroskopischen Spermanachweis so 
ziemlich vollständig und erschöpfend genannt werden muß. Nach einer 
kurzen Erörterung über die Samenflüssigkeit selbst und ihre Bestandteile, 
wird die Behandlung des Untersuchungsmateriales, die Methoden des mikro¬ 
skopischen, chemischen und biologischen Spermanachweises eingehend ge¬ 
würdigt. Hinsichtlich der erstgenannten Methoden von Flourence und 
Barberio mit ihren verschiedenen Modifikationen kommt der Verfasser 
zu dem berechtigten Schlüsse, daß sie zwar einer praktischen Bedeutung 
nicht entbehren, daß aber der Spermanachweis nach wie vor noch immer 
an die Auffindung von Spermatozoen geknüpft sein muß. Das Problem 
des biologischen Spermanachweises durch die Methode H. Pfeiffers hält 
Verfasser im Prinzipe für gelöst, hält aber, worauf dieser Autor schon in 
seiner ersten Publikation hingewiesen hat, ihre praktische forensische Ver¬ 
wendung für zu kompliziert, um Allgemeingut der Gerichtsärzte zu werden. 
Erfolg verspricht sich Käthe vielleicht von einer von ihm vorgeschlagenen 
Fruchtbarmachung der Komplementbindungsmethode für die Ziele der 
forensischen Spermauntersuchungen. 

(Friedreichs Blätter f. gerichtl. Medizin, 1910, Heft 3.) 

Spermanachweis. 

Marique, L.: Nouveau proced6 pour la recherche des spermatozoldes. 

Der Verfasser hat das schon in den achtziger Jahren von Vogel 
und Tilomonsi-Guelfi vorgeschlagene Verfahren zur besseren Isolierung 
der Spermatozoen an Tuchstücken, sie durch Schwefelsäure zu zerstören, 
neuerdings aufgegriffen und modifiziert. Er versetzt ein 2 cm großes 
Stück des verdächtigen Fleckes mit 4 ccm konz. Schwefelsäure und 1 ccm 


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Wasser, wodurch eine Erwärmung der Flüssigkeit bis auf 85 0 erfolgt. 
Nach kurzer Zeit ist das Gewebe, ohne zu verkohlen, nur unter leichter 
Bräunung zerstört Fügt man nun 15 ccm kalten Wassers hinzu und 
kühlt unter dem Leitungswasser ab, so steigen mit Gasblasen vermischt 
kleinste Gewebsrestchen, die Spermatozoen enthalten und durch sie von 
der Zerstörung geschützt wurden, sowie isolierte Spermatozoen an die 
Oberfläche, wo sie sich leicht durch einen Spatel abheben und auf dem 
Objektträger ausbreiten lassen. Zur Färbung der hier in der Flamme 
filierten Zellen schlägt er das Hinzufügen von 2—3 Tropfen einer alko¬ 
holischen Eosinlösung vor. Färbung darin durch zehn Minuten und Aus¬ 
waschen in Wasser, bzw. wenn Überfärbung eingetreten ist, in konz. 
Alkohol. Auch ein, bis zur makroskopischen Entfärbung fortgesetztes 
Waschen in Alkohol und Nachfärben mit Löfflers Methylenblau gab gute 
Resultate. 

(Arch. Internationales de Mddecine Legale, April 1910.) 

Spuren (Druck). 

Meurice: Hecherches d’empreintes d’impression k sec sur un buvard. 

Der Sachverständige war beauftragt festzustellen, ob die durch Auf¬ 
druck ohne Farbe auf einem Löschpapier sichtbaren Spuren identisch seien 
mit einem anarchistischen Aufrufe, der als Vergleichsexemplar vorlag. Die 
Aufgabe wurde durch den Charakter des Papieres außerordentlich erschwert, 
welches weder eine Behandlung mit farbigen Pulvern, noch mit wässerigen 
Flüssigkeiten gestattete. So arbeitete der Verfasser folgende Methoden 
aus: Er preßte das Löschblatt, welches in Form von Reliefs die Abdrücke 
der Buchstaben trug, zwischen zwei Zinnfolien und stellte von diesen Gips¬ 
abdrücke her, welche nunmehr die oben gestellte Frage zu entscheiden ge¬ 
statten. Schließlich wurde das Papier außerdem mit einer Lage Harz über¬ 
zogen, mit einer dünnen ölschichte bedeckt und von ihm selbst direkt 
ein Gipsabguß genommen. Die Details müssen im Originale eingesehen 
werden. 

(Arch. Internationales de Medecine Legale, April 1910.) 

Statistik. 

Schenk, P.: Wahrheit und Täuschung in der medizinischen Statistik. 

Treffliche und launig geschriebene Kritik Uber den Modus, wie heut¬ 
zutage in der Medizin Statistik getrieben wird. Zu kurzem Referate leider 
ungeeignet. 

(Ärztliche Sachverständigen-Zeitung, 1910, Nr. 7.) 

Sterilität, männliche. 

Posner: Zur Begutachtung der männlichen Sterilität; mit Bemerkungen 
über Laboratoriums-Atteste. 

Das wesentlichste ist der Nachweis von Spermatozoen an sich. Als 
vornehmstes Kriterium für die Befruchtungsfähigkeit gilt ihre Beweglichkeit, 
so daß ein Mann, welcher bewegliche Spermien liefert, auch als befruch¬ 
tungsfähig bezeichnet werden muß. Besteht Mangel an Beweglichkeit und 
fehlen dabei insbesondere Eiterzellen und Blutkörperchen, so handelt es 
neh gewöhnlich um normale, inzwischen abgestorbene Samenfäden. Die 
Nekrospermie“ ist fast immer ein Folgezustand einer bestehenden Eite- 


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rung, manchmal vielleicht auch die Folge eines abnormalen Prostatasekretes. 
Der Zustand der „ Oligospermie 11 ist sicherlich nur ein äußerst seltener und 
durfte in der Mehrzahl der Fälle nur vorgetäuscht sein. 

Ein Fehlen von Samenfäden (Azoospermie) tritt meistens ein infolge von 
Obliteration der ableitenden Samenwege oder angeboren auf konstitutio¬ 
neller Basis. Eine Differentialdiagnose ermöglicht die vom Verfasser vor¬ 
geschlagene Hodenpunktion. Bei der ersten Art der Fälle könne noch bis 
zu 20 Jahren nach dem Verschluß die Spermatogenese im Gange sein, bei 
der letzteren werden keine Spermien zutage gefördert Bei dem foren¬ 
sischen Nachweis von ausgetrocknetem Sperma hat sich die Flourencesche 
und Barberiosche Reaktion gelegentlich bewährt. (Das letztere möchte 
Referent nach seinen Erfahrungen anzweifeln!) Ist absolute Azoospermie 
entgültig festgestellt, so soll der Mikroskopiker die Diagnose der Sterilität 
niemals dem Patienten, sondern nur dem behandelnden Arzte mitteilen, der 
dann nach seinem Gutdünken davon Gebrauch machen kann. 

(Ärztliche Sachverständigen-Zeitung, 1910, Nr. 12.) 

Tätowierung. 

E. Martin: Le Tatouage chez les enfants. 

Der Verfasser berichtet über 50 Fälle von Tätowierungen im Kindes¬ 
alter, die teils durch die Kinder selbst, teils durch ihre Kameraden vor¬ 
genommen werden, häufig nur in Versuchen bestehen, die Initialen oder 
irgend welche Embleme einzuritzen, manchmal aber auch umfänglicher aus¬ 
geführt werden. Unter 44 Kindern zwischen 10 und 12 Jahren beob¬ 
achtete Martin in einer Schule Lyons 6 unter 49 Kindern zwischen 12 
und 14 Jahren 11 Fälle von Tätowierung. Als Ort wird meistens der 
linke Oberarm oder die Wade gewält Während der Pubertät nähern sich 
die Formen jenen, die bei Erwachsenen angetroffen werden. Derartige 
Tätowierungen am Vorderarme eines Kindes zeigen immer, daß es sich in 
einer schlimmen Umgebung bewegt und cs sei Pflicht des Arztes, solche 
Beobachtungen den Eltern und Lehrern mitzuteilen, damit eine strenge Über¬ 
wachung und Erziehung sich bemühe, den moralischen Verfall aufzuhalten. 

(Arch. d’Anthropologie Criminelle, T. XXV, No. 193—194, 1910). 

Toxikologie. 

Kionka: Zur Kritik toxikologischer Untersuchungen. 

Hinweis auf Fehlschüsse, die aus pathologisch-anatomischen, durch 
spontane Erkrankungen bedingten Befunden auf Giftwirkungen bei toxiko¬ 
logischen Versuchen gezogen werden können. Insbesondere ist eine Kritik 
bei Hunden und Katzen notwendig, da gerade diese Tiere sehr häufig 
teils Residuen überstandener interkurrenter Erkrankungen aufweisen, teils 
gewisse Veränderungen (Blutungen, Hyperämien, Anaemien) durch die 
Tötungsart bedingt sein können, also mit der Giftwirkung nichts zu tun 
haben, die von Ungeübten als Entstehungsursache angeführt wird. 

(Ärztliche Sachverständigen-Zeitung, 1910, No. 3.) 

Trauma (Geisteskrankheit). 

Weyert: Das Trauma als ätiologischer Faktor von Geisteskrankheiten. 

Verfasser kommt in seiner interessanten Arbeit zu folgenden Schlu߬ 
sätzen : 


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„Es können sich an einen Unfall die verschiedensten Geistesstörungen 
anschließen. 

Sehr häufig handelt es sich um die Verschlimmerung einer bereits 
bestehenden Psychose, wie durch die Erhebung einer objektiven Vorge¬ 
schichte festgestellt werden kann. 

Das Trauma kann eine latent oder in der Anlage bereitB vorhandene 
Psychose zum Ausbruch bringen. 

Selbst bei völlig gesunden Gehirnen können sich infolge des Unfalles 
die mannigfaltigsten akuten Geistesstörungen entwickeln, wie besonders 
die Ausführungen über das traumatische Irresein zeigen. 

In zahlreichen Fällen setzt der Unfall die Wiederstandsfähigkeit des 
Gehirnes herab, so daß auf diesem vorbereiteten Boden durch andere 
Schädigungen, z. B. Syphilis, Alkoholismus, Bakterien usw. — oft erst 
nach Jahren — Psychosen entstehen können. 

Der Unfall verursacht häufig eine psychische Degeneration und zere¬ 
brale Reizung, die Affekthandlungen oder infolge Alkoholintoleranz patholo¬ 
gische Rauschzustände bedingen können. 

Es gibt eine wohl charakterisierte chronische, oft schleichend sich ent¬ 
wickelte Hirnstörung, die zu einer weitgehenden Verblödung führt, die 
posttraumatische Demenz.“ 

(Ärztliche Sachverständigen-Zeitung, 1910, No. 4.) 

Tripper (Gonorrhoe). 

Ledermann R.: Gonorrhoe und Sachverständigentätigkeit. 

Die vorzügliche Arbeit bringt in knapper Form einen so weit er¬ 
schöpfenden Überblick über den gegenwärtigen Stand der Tripperfrage vom 
gerichtsäztlichen Standpunkte aus. Zunächst wird das Wesen der Gonorrhoe 
in großen Zügen dargelegt und insbesondere der Nachweis ihres Erregers 
eingehend besprochen. In dieser Hinsicht werden insbesondere die 
Differenzialdiagnose gegenüber anderen Coccenformen und ähnlichen Er¬ 
krankungen des Harn- und Geschlechtapparates, die Schwierigkeit des 
Nachweises bei alten Fällen und bei vertrockneten Eiterflecken (an der 
Leibwäsche) erörtert. Gewicht wird auf die Gewinnung und Behandlung 
des Untersuchungsmateriales (der Sekrete, Filamente und Exprimate der 
Prostata und Samenbläschen) gelegt und dann die strafrechtlichen und 
dvilrechtlichen Fälle angeführt, bei denen in diesem Belange das ärztliche 
Gutachten eingeholt wird. Auch das von Franz v. Liszt propagierte 
Sondergesetz, die wissentliche Übertragung von Geschlechtskrankheiten be¬ 
treffend, wird kurz berührt und zum Schlüsse auf die Konflikte hinge¬ 
wiesen, die sich in der Praxis zwischen Richter und Arzt über die Be¬ 
deutung von nicht mehr infektionsfähigen Residuen nach Trippererkrankung 
ergeben. Interessant ist endlich eine Beobachtung Ledermanns an einem 
sechsjährigen Mädchen, das, ohne defloriert zu sein, eine frische Tripper¬ 
erkrankung darbot Es stellte sich heraus, daß ein 18-jähriger Mensch 
(zur sexuellen Befriedigung oder aus Aberglauben?) den Tripperreiter von 
seinem Gliede mit dem Finger auf die Geschlechtsteile des Kindes ge¬ 
strichen hatte. 

(Ärztliche Sachverständigen-Zeitung, 1910, No. 1.) 


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Tod, plötzlicher. 

Gilbert et Bauduin: La mort subite hördditaire. 

Der akute Herztod in einer Synkope ist nach Ansicht der Verfasser 
häufig hereditärer Art. Manchmal wiederholte er sich in zwei, manchmal 
in drei Generationen ihres Beobachtungsmateriales. Geschlecht und Alter 
spielen dabei sicherlich eine Rolle. Es gibt prädisponierende Ursachen, 
wie Alkoholismus, Morphinismus, Syphilis und Arteriosklerose. Aber auch 
Gelegenheitsursachen können die tödliche Synkope bei prädisponierten In¬ 
dividuen auslösen, so chirurgische Eingriffe (Kauterisation, Narkose, Wespen¬ 
stich), pleurale Ergüsse. Die tödliche Synkope ist manchmal von prämo- 
nitorischen, schweren Herzattacken eingeleitet. 

(Arch. Internationales de Mddecine Legale, April 1910.) 


Tod, plötzlicher (Magengeschwür). 
Mayrac: Mort subite et latence de l'ulc&re simple gastrique de Cru- 
veilhier. 

Der Verfasser bespricht die Bedeutung des während des Lebens oft 
ganz unbemerkt gebliebenen Magengeschwürs für den plötzlichen Tod. 
Aus bestem Wohlbefinden heraus kommt es plötzlich zu stürmischen Er¬ 
scheinungen der peritonealen Reizung und im Verlaufe weniger Stunden 
zum Exitus. Bei der Obduktion entleert sich aus der Bauchhöhle eine 
große Menge dünnflüssigen Eiters. Als Quelle der Eiterung wird in einer 
durch chronische Entzündung mehr minder veränderten Magenwand ein 
durchbrochenes Magengeschwür gefunden. (Solche Fälle geben im Grazer 
Gerichtssprengel, insbesondere bei jugendlichen Frauenspersonen, häufig An¬ 
laß zu gerichtsärztlichen Obduktionen, da die Vermutung eines kriminellen 
Abortus besteht. Ref.) 

(Arch. d’Anthropologie criminelle, Mai 1910, Nr. 197.) 

Todeszeit. 

Balthazard : Determination de l’dpoque de la mort chez les individus 
rasds. 

Die Barthaare wachsen täglich durchschnittlich 0,5 mm. Wenn nun 
bekannt ist, wann ein Individuum an einem bestimmten Tage rasiert wurde 
oder sich hat rasieren lassen, so kann man aus der Länge der Bartstoppeln 
die Stunde des Todes genau bestimmen, indem man die Länge dieser 
durch 0,021 mm — das Wachstum des Haares in einer Stunde — divi¬ 
diert. Wenn andererseits der Moment des Todes bekannt ist, so kann 
man umgekehrt aus demselben Maß die Stunde bestimmen, in welcher der 
Betreffende zum letzten Male rasiert wurde, was freilich ein geringeres 
kriminalistisches Interesse hat. 

Ein postmortales Wachstum der Haare ist nicht nachgewiesen, auch 
nicht sichergestellt. Solche Angaben erklären sich sicherlich aus einem 
Vordrängen der Haarspitzen durch eine, durch die Todesstarre ausgelöete 
Kontraktion der Musculi arrectores pili. 

(Arch. Internationales de Mddecine Legale, April 1910.) 


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Zeitschriftenschau. 


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Trauma (Herz* und Lunge, Unfall). 

Stursberg: Bemerkungen über die praktische Bedeutung der Unter¬ 
suchungen von Külbs über „Herz und Trauma“ und „Lunge und 
Trauma“. 

Der Verfasser wendet sich gegen die üblich gewordene Deutung der 
Külbsschen Klopfversuche an Hunden, in denen dieser Autor angeblich 
durch leichte traumatische Einwirkung auf die Brustwand von Hunden 
schwere und verschiedenartige Schädigungen an Lunge und Herz beob¬ 
achtet haben soll. Die Gutachter halten es dadurch für erwiesen, daß 
auch beim Menschen durch geringfügige Erschütterungen des Brustkorbes 
schwere Schädigungen sich einstellen können. Diese Deutung ist nun nach 
Stursberg absolut unzulässig. In den Versuchen von Külbs war viel¬ 
mehr die Gewalteinwirkung erheblich nnd erzeugte bei einer ganzen Reihe 
dieser Tiere unmittelbar lebensgefährliche Verletzungen. Sie beweisen da¬ 
her für praktische Zwecke lediglich, daß Gewalteinwirkungen auf Brust, 
Herz und Lungen Veränderungen herbeiführen können, ohne gleichzeitige 
Hervorrnfung erkennbarer Verletzungen an den äußeren Bedeckungen, wie 
das ja schon aus Beobachtungen am Menschen bekannt war. 

(Ärztliche Sachverständigen-Zeitung, 1910, Nr. 6.) 

Trauma (Unfall). 

Becker, L.: Trauma und Geschwulst. 

Ein jugendlicher kräftiger Ackerarbeiter erhält beim Pflügen einen 
Stoß gegen den Kopf. Im Anschlüsse daran treten bei dem vorher voll¬ 
kommen gesunden Menschen die Erscheinungen eines rasch wachsenden 
Gehirntumors auf, der nach einem halben Jahre als hühnereigroße Ge¬ 
schwulst operativ entfernt wird. Exitus des Patienten nach acht Tagen. 
Das Trauma als direkte Geschwulstursache läßt sich nach Becker nicht 
beweisen. Man wird wohl zu dem Schlüsse kommen, daß die Geschwulst¬ 
bildung und somit der Tod des Betroffenen mit dem Stoß gegen den 
Kopf in ursächlichem Zusammenhänge steht. 

(Ärztliche Sachveretändigen-Zeitung, 1910, Nr. 8.) 

Trauma, psychisches (Unfall). 

Fürbringer: Psychisches Trauma und Schlaganfall. 

t. Ein 50jähriger Polier, der nachgewiesenermaßen schon lange Zeit 
an Arteriosklerose leidet, hat eine, ihn stark erregende Auseinandersetzung 
mit einem Untergebenen und erleidet unmittelbar darauf einen zum Tode 
führenden Schlaganfall. Fürbringer bejaht die Frage hoher Wahrschein¬ 
lichkeit eines kausalen Zusammenhanges mit der heftigen, unter Blutdruck- 
Steigerung einhergehenden, im Betriebe erlittenen Erregung, da insbesondere 
die Kontinuität der Erscheinungen in diesem Sinne gedeutet werden muß. 
Die Hinterbliebenenrente wird bewilligt 

2. Ein 4 7 jähriger Arbeiter, der sich in ähnlicher Weise aufgeregt 
hatte und gleichfalls an Arteriosklerose erkrankt war, zeigt sichere Symp¬ 
tome einer Apoplexie, welche aber erst nach einer Reihe von Stunden auf- 
treten, nachdem der Betroffene in der Zwischenzeit durch Treppensteigen 
sich körperlich angestrengt hatte. Obwohl es möglich sei, daß im vor¬ 
liegenden Falle der erste Beginn der Blutung bereits am Vormittage statt- 


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Zeitschriftenschau. 


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hatte, so kann doch hier ein Zusammenhang nicht als hinreichend wahr¬ 
scheinlich angenommen werden. Ablehnung der Rentenansprüche der 
Hinterbliebenen nicht aus Gründen medizinischer Natur, sondern weil das 
Vorliegen eines Betriebsunfalles verneint wird. 

(Ärztliche Sachverständigen-Zeitun g, 1910, Nr. 9.) 


Trommelfellrisse. 

Müller: Trommelfellrisse. 

Ausführliche Darstellung der Häufigkeit, Entstehungsart, Prognose 
und Behandlung der Trommelfellrisse auf Grund des in der Ohrenstation 
des Garnisonslazarettes I in Berlin gesammelten Materiales. Zu kurzem 
Referate ungeeignet. 

(Ärztliche Sachverständigen-Zeitung, 1910, Nr. 11.) 


Vergiftungen (Bromoform). 

Gereon: Eine Bromoform Vergiftung. 

Mitteilung eines Falles, in dem ein % Jahre altes Kind Bromoform 
verordnet bekommen hatte. Aus Fahrlässigkeit erhielt es von seinem Vater 
4,1 g des Medikamentes in Wasser verdünnt auf einmal. Folgeer¬ 
scheinungen: Schwerste Narkose, Cyanose, Miosis, fliegender Puls und 
Asphyxie. Therapie: Kräftige Excitantien Magenspühlung. Nach4 Stunden 
Erwachen aus der Narkose. Keine Nachkrankheit. 

(Ärztliche SachverBtändigen-Zeitung, 1910, No. 1.) 


Vergiftung (Sublimat). 

De Rechter: Un cas d’intoxication aigüe par le sublime. 

Eine 2 4-jährige Frau trinkt in selbstmörderischer Absicht die Lösung 
einer Sublimatpastille zu lg in 250ccm Wasser. Ihr Mann überrascht sie 
dabei und veranlaßt durch sofortiges Einführen eines Fingers Erbrechen, 
so daß ein beträchtlicher Anteil wieder erbrochen wird. Unter entsprechen¬ 
der Behandlung (Darreichung von Eiweiß, Magenspülung usw.). Wieder¬ 
herstellung nach einem länger dauernden Stadium akuter Vergiftungs¬ 
symptome. 

(Arch. Internat, de Mödecine Lögale, Vol I, Fase. I, Jänner 1910.) 


Versicherungswesen (internationale Erfahrung). 
Blind: Internationale Erfahrungen in der Arbeiterfürsorge und deutsche 
Reichsversicherungsordnung. 

Nach der Referate Lumbrosos auf dem internationalen Kongreß für 
Unfallheilkunde in Rom, 1909, und nach den Anschaungen des Verfassers 
sei nichts geeigneter, Unfallneurasthenie zu züchten, als ein schleppendes 
Entschädigungsverfahren. Der Kampf um die Rente züchte geradezu 
diese psychisch nervöse Epidemie unserer Tage. Man muß daher mit 
allen Mitteln darnach streben, den Instanzenweg abzukürzen und rasch 
eine Entscheidung herbeizuführen. Auch die Frage nach den Vor- and 
Nachteilen in der Entschädigungsform — ob Kapitalabfindung oder Renten¬ 
gewährung — wird erörtert. Im Sinne dieser Ausführungen stellt der 
Entwurf zur neuen deutschen Versicherungsreform keineswegs einen Fort- 


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Zeitschriftenschau. 


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schritt dar, da besonders durch Einführung des „Versicherungsamtes“, also 
einer neuen, keineswegs den Bedürfnissen entsprechenden Instanz sie nur 
geeignet sei, den Weg bis zur Entscheidung noch zu verlängern. 

(Ärztliche Sachverständigen-Zeitung, 1910, No. 4.) 


Vergiftung (Essigessenz). 

Romeik: Tödliche Vergiftung mit Essigessenz. 

Ein 70 jähriger Arbeiter trinkt zufällig an Stelle von Schnaps 40 ccm 
Essigessenz, klagt sofort über heftige Leibschmerzen und Brennen im 
Schlnnde. Erbrechen und Diarrhoe sollen nicht aufgetreten sein. Am 
folgenden Tage Exitus. Die Obduktion ergibt Verätzungen an der Cardia, 
im Pylorus und im Zwölffingerdarm, sowie eine entzündliche Reizung der 
Dflnndarmschleimhaut. Keine Degeneration der Organe. Der Tod ist bei 
dem, durch sein hohes Alter besonders disponierten Individuum an Alkali¬ 
verarmung eingetreten. Neuerlich die Forderung, die Essigessenz als 
starkes Gift dem Handel zu entziehen und den Verkauf den Apotheken 
zu übergeben. 

(Zeitschrift f. Medizinalbeamte, 23. Jahrgang, 1910, Nr. t.) 

(Vergiftung (ßlei). 

Wengler: Bleivergiftung durch irdenes Topfgeschirr. 

Mitteilung eines Falles familiärer Bleivergiftung, die höchstwahrschein¬ 
lich durch irdenes Topfgeschirr mit mangelhafter Bleiglasur bedingt war. 
Zu beachten ist, daß infolge längeren Gebrauches die gesundheitsschädliche 
Glasur bi3 auf geringe Reste vollständig verschwinden kann, so daß eine 
chemische Untersuchung, obwohl in diesen Töpfen die Giftquelle gesucht 
werden muß, nur ein negatives Resultat zutage fördert. 

(Zeitschrift f. Medizinalbeamte, 23. Jahrgang, 1910, Nr. 12.) 


Vergiftung (fahrlässige). 

Sarda: Responsabilitd medicale: Erreur de dose. 

Die Arbeit knüpft an ein Erlebnis aus der Praxis an. Ein Arzt hatte 
einer Patientin aus Versehen 20 Centigramm Morphium in zwei Supposi- 
torien mit der Anweisung verordnet, sie an einem Tage anzuwenden. Sein 
Rezept war nicht datiert, die Dosis lediglich in Ziffern geschrieben. Die 
Patientin starb am nächsten Tage unter den Erscheinungen einer Morphium- 
rergiftung. Sarda konnte nach eingehender Erwägung aller Umstände 
einen Zusammenhang des Todes mit der fahrlässigen Morphiumtherapie 
nicht in Abrede stellen und gab dieser seiner Überzeugung auch in einem 
Gutachten Ausdruck. Der angeklagte Arzt verschaffte sich von zwei Ge- 
ricbtsärzten ein „Gegengutachten“ (!), welches jede Beziehung zwischen 
dem letalen Ausgange und der zweifellosen Vergiftung leugnete. Bei der 
Verhandlung, der Sarda nicht beiwohnen konnte, wurde der Arzt frei- 
gesprochen. Der Staatsanwalt meldete die Berufung an, die denn auch 
in einer zweiten Verhandlung des Angeklagten — zu 10 Franken Geld¬ 
strafe führte (!). 

(Arch. d’Anthropologie criminelle, April 1910, Nr. 196.) 


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Zeitschriftenschau. 


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(Vergiftung (Kohlenoxyd). 

Balthazard, Ogier et Dnmoot: Asphyxie par l'oxyd de carbone. 

1. Der Tod der Eheleute Buissons wurde durch eine Vergiftung mit 
Kohlenoxyd bewirkt. Dies beweist das Ergebnis der Obduktion und die 
chemische Untersuchung des Blutes, sowie der Zimmerluft. 

2. Die Quelle des giftigen Gases war ein, in einem Ladenraume unter¬ 
gebrachter Ofen. Durch seinen schlechten Zustand, sowie durch einen 
Konstruktionsfehler kam es zum Ausströmen des Gases. 

(Annales d’Hyg. Publ., Tome XIII, Mai 1910.) 


Wandertrieb (bei Kindern). 

Benon et Froissart: Les fugues de l’enfance. 

Die Verfasser hatten Gelegenheit, ein Kind genau zu untersuchen, 
welches infolge von schlechter Behandlung zu Hause, Zurückbleiben 
in der Schule hinter seinen Altersgenossen, zuerst wiederholt entflohen war 
und sich allmählich einen Hang zur Vagabondage angewöhnt hatte. In 
psychischer Hinsicht fanden sich keinerlei Abnormitäten. Der Mangel an 
Zuneigung zu den Eltern bedeutet hier keine Verminderung seiner ethischen 
Eigenschaften. Es scheint den Verfassern unumgänglich notwendig, daß 
derartige Kinder von Schulärzten in psychischer und nervöser Hinsicht 
untersucht und überwacht würden. 

(Annales d’Hyg. Publ., Tome XIII, Juni 1910.) 


Werkzeug (verletzendes). 

A. de Dominicis: Apprtfciation de la violence d’un traumatisme par 
l’examen de l’arme. 

Die praktische Erfahrung lehrt, daß die Tiefe einer Wunde, wenn 
eine Klinge in den Körper auch nur zum Teile eingedrungen ist, im all¬ 
gemeinen größer ist, als die Länge, des eingedrungenen Klingenteiles. 
Dieser Anteil gibt sich häufig durch seine Blutbesudelung zu erkennen. 
Daher genaue Beschreibung der Blutverunreinigungen bei solchen Werkzeugen. 
(Arch. Internat, de Mödecine Legale, Vol. I, Fase. I, Jänner 1910.) 


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V. 


Zar Reform unserer Kriminalpolizei. Reichs- und Landes¬ 
kriminalpolizei. fiin allgemeiner Deutscher Polizeikongress. 

Von 

Polizeipräsident Koettig, Dresden. 


Bereits in Band 36 dieser Zeitschrift hat Herr Landgerichtsrat 
Panl-Olmiitz darauf hingewiesen, daß in Frankreich mit dem Jahre 
1908 eine wichtige Reform der Kriminalpolizei vollzogen worden ist, 
indem in Frankreich an 12 Hauptorten sogenannte brigades regionales 
de police mobile stationiert worden sind, die, ohne an örtliche Zu¬ 
ständigkeitsgrenzen gebunden zu sein, ausschließlich zur Erörterung 
schwerer Kriminalfälle bestimmt sind, zu diesem Zwecke den Staats¬ 
anwaltschaften an den cours d’appel zur Verfügung stehen und 
einer einheitlichen Zentralleitung im Ministerium des Innern unter¬ 
stellt sind. 

Diese Reform der französischen Kriminalpolizei hat Herrn Land¬ 
gerichtsrat A. Müll er-Meiningen in Nr. 21 der „Deutschen Juristen¬ 
zeitung K zu dem Vorschläge veranlaßt, für das Deutsche Reich nach 
dem geschilderten französischen Muster gleichfalls eine einheitliche 
kriminalpolizeiliche Organisation zu schaffen, wodurch die Frage der 
Einrichtung einer Reichskriminalpolizei erneut in den Vordergrund 
gerückt worden ist. 

Schon als im Frühjahr 1909 Herr Kriminalkommissar Weiß 
vom Königlichen Polizeipräsidium Berlin in Heft 5, Band 29 von 
Liszt, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft im Anschluß 
an eine Besprechung der französischen Landeskriminalpolizei die 
Errichtung einer in Berlin oder Leipzig zentralisierten Reichs¬ 
kriminalpolizei forderte, entbrannte ein heftiges Für und Wider der 
Meinungen. 

Während ein Teil der Presse (vgl. Hamburger Nachrichten vom 
13. März 1909, Münchener Neueste Nachrichten vom 7. April 1909, 
Frankfurter Zeitung vom 30. Juli 1909 u. a. m.) die Schaffung einer 
der französischen Organisation im Deutschen Reiche ähnlichen Ein- 

AroWr für Kri mfnmlanthropologle. 40. Bd. 12 


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V. Koettig 


richtung als dringend wünschenswert bezeichnete, wurde insbesondere 
in einem aus halbamtlicher Feder stammenden Artikel in Nr. 339 des 
Berliner Lokalanzeigers vom 2. Juni 1909 bzw. in Nr. 126 der Nord¬ 
deutschen Allgemeinen Zeitung vom selben Tage ausgeführt, daß die 
bei unsern westlichen Nachbarn getroffenen Einrichtungen nicht als 
vorbildlich für uns angesehen werden könnten, da sowohl in Preußen 
wie in den anderen deutschen Bundesstaaten genügende, gut aus¬ 
gebildete kriminalistische Kräfte vorhanden seien, um das Bedürfnis 
zu decken. Die größeren Städte des Deutschen Reiches seien fast 
ausnahmslos im Besitze einer mit guten Hilfsmitteln ausgerüsteten 
Kriminalpolizei, die nicht nur für die innerhalb des eigenen 
Amtsbezirkes notwendig werdende kriminalistische Tätigkeit 
bereit ständen, sondern auch außerhalb desselben im weitesten 
Umfange Verwendung finden dürften. Auch seien die Vorstände der 
betreffenden Polizeiverwaltungen in der Lage, sich gegebenenfalls im 
Requisitionswege die Hilfe und Unterstützung ihrer übrigen Spezial¬ 
kollegen zu erbitten. Für die in Frankreich ins Leben gerufenen 
fliegenden Kriminalpolizeibrigaden Bei daher im Deutschen Reiche 
vernünftigerweise kein Platz. 

Soweit die halbamtlichen Betrachtungen. 

Ich kann mich diesen Ausführungen nicht anschließen. 

Zuzugeben ist, daß die großen Städte zumeist mit einer gut ge¬ 
schulten, tüchtigen und geübten Kriminalpolizei versehen sind. Aber 
in den kleineren Städten und auf dem Lande ermangeln die berufenen 
Polizeiorgane fast durchweg der nötigen Sonderausbildung und Aus¬ 
rüstung, um in schwierigen Kriminalfallen die für den Ausgang der 
Verfolgung oft ausschlaggebenden ersten Schritte sachgemäß zu unter¬ 
nehmen, weshalb die Verbrechensverfolgung hier vielfach versagt 
Diesem Mangel kann meines Erachtens durch das in dem Artikel des 
Berliner Lokalanzeigers bzw. der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung 
erwähnte Requisitions- und Entsendungsverfabren nicht ausreichend 
abgeholfen werden. 

Die Nachteile der jetzigen Einrichtung lassen sich annähernd 
dahin zusammenfassen: 

1. In den kleineren Städten, Ortschaften und namentlich in den 
Landgemeinden mangelt es an kriminalistisch ausgebildeten und er¬ 
fahrenen Beamten. Die kriminalpolizeiliche Tätigkeit ist hier den 
durch allerhand sonstige polizeiliche Aufgaben vollauf in Anspruch 
genommenen und nicht selten mit Arbeit überlasteten Gemeindeschutz- 
lenten oder Landgendarmen überlassen, für deren Anstellung und 


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Zur Reform unserer Kriminalpolizei usw. 


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Ausbildung selbstverständlich andere, als rein kriminalistische Inter¬ 
essen maßgebend sind und sein müssen. 

2. Die Polizeibeamten sind in ihrer Tätigkeit an ganz bestimmte 
räumliche Zuständigkeitsgrenzen gebunden. Während der Verbrecher 
der schnellsten und modernsten Verkehrsmittel sich bedient, um sich 
in Sicherheit zu bringen und eine Freistatt zu gewinnen, ist der 
Polizeibeamte an seinen Bezirk gefesselt und darf in einem anderen 
Bezirke ohne Zustimmung der örtlich zuständigen Polizeibehörde in 
der Regel nicht tätig werden. 

3. Weder die Polizei in den kleineren Städten und Ortschaften 
noch die Landgendarmerie verfügt über die modernen Hilfsmittel der 
Kriminalpolizei (gute photographische Apparate, Material und Instru¬ 
mente zum Auffinden und Sichern von Fingerabdrücken, zur Auf¬ 
nahme von Fußspuren usw.). Es ist hierbei darauf hinzuweisen, daß 
die Kriminalistik in den letzten 10—15 Jahren eine Periode elemen¬ 
tarer Entwicklung und Umgestaltung durch Heranziehung bisher 
unbekannter Hilfs- und moderner Identifizierungsmittel durchgemaoht 
und die Kriminaluntersuchung auf ein höheres wissenschaftliches 
Niveau sich erhoben hat Diese modernen Hilfsmittel sind auch ihrer 
Kostspieligkeit wegen für kleinere Gemeinden nicht zu beschaffen und 
würden schließlich in den Händen von Beamten, die nicht mit ihrer 
zum Teil schwierigen Handhabung vertraut sind, kaum wesentlichen 
Nutzen bringen. 

4. Auch wenn in den kleineren Städten und auf dem Lande in 
einzelnen fallen geschickte und brauchbare Beamten vorhanden sind, 
so fehlt es ihnen an der fortwährenden Gelegenheit zur Übung und 
Erprobung ihrer Fähigkeiten, ohne die es nicht möglich ist, die Lei¬ 
stungen auf die erforderliche Höhe zu bringen und sie auf dieser zu 
erhalten. 

5. In den kleineren Städten und auf dem Lande liegen auch die 
kriminalpolizeilichen Erörterungen in den Händen uniformierter 
Exekutivbeamter, so daß es nicht möglich ist, die gerade in Kriminal¬ 
eachen unbedingt notwendige Diskretion zu wahren, weil jedermann 
das Einschreiten der Beamten wahrnimmt und sofort weiß, daß poli¬ 
zeiliche Erörterungen im Gange sind. Auch wird häufig schon durch das 
Bekanntwerden der Tatsache, daß überhaupt in einer Sache erörtert 
wird, der Erfolg der Erörterungen von vornherein gefährdet, da der 
Täter hierdurch gewarnt, den zu befragenden Zeugen die Unbefangen¬ 
heit genommen wird und sie zur Zurückhaltung veranlaßt werden. 
Ebenso sind zahlreiche Fälle bekannt, daß die Ergreifung eines Täters 
mißlang oder erheblich verzögert und erschwert wurde, weil der mit 

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V. Koettig 


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der Festnahme beauftragte Beamte durch seine Uniform schon von 
weitem erkenntlich war und vom Täter als Polizeibeamter erkannt 
wurde. 

6. Will die Kriminalpolizei unter den jetzigen Verhältnissen außer¬ 
halb ihres Amtsbezirks Erörterungen anstellen, so ist sie in der Haupt¬ 
sache auf schriftliche Ersuchen fremder Behörden angewiesen. Diese 
bringen naturgemäß viel Schreibarbeit und hierdurch die Inanspruch¬ 
nahme der verschiedensten Dienststellen und Dienstkräfte mit sich. 
Das Verfahren wird dadurch zeitraubend und unpraktisch und bringt 
die folgenschwersten Verzögerungen mit sieb. 

7. Auch kann das schriftliche Ersuchen einer Behörde niemals 
die eigene Arbeit der von Anfang an mit der Sache befaßten Beamten 
ersetzen. Denn abgesehen davon, daß die Kenntnis des Falles aus 
eigener Anschauung und die persönliche Vertrautheit mit allen, auch 
scheinbar nebensächlichen Einzelheiten, die in schriftlichen Ersuchen 
naturgemäß nicht mitgeteilt zu werden pflegen, den Erfolg der Er¬ 
örterungen günstig beeinflußt, wird sich der ersuchte Beamte selten 
der auswärtigen Sache mit solchem Eifer annehmen, wie es der mit 
dem Falle von Anfang an befaßte und für den Erfolg mit seiner 
Dienstehre haftende Beamte zu tun pflegt Es ist dies zwar nicht 
zu billigen, aber menschlich-erklärlich und in der Erfahrung be¬ 
gründet. 

8. Das Gebundensein des Beamten an seinen Dienstbezirk hindert 
ihn an der Gelegenheit, seinen Blick durch das Kennenlernen und 
Studieren der Lebensgewohnheiten anderer örtlicher Kreise, in denen 
nicht selten besondere eigenartige Verbrechergewohnheiten und Gauner¬ 
praktiken begründet sind, zu schärfen und zu weiten. 

Das Bestehen der vorstehend geschilderten Mängel wird nicht 
behoben, sondern im Gegenteil auf das schlagendste bewiesen durch 
die Gepflogenheit, beim Vorkommen besonders schwerer Verbrechen 
auf dem Lande auf Ersuchen der zuständigen Polizei oder Staats¬ 
anwaltschaft geübte Kriminalbeamte der großen Polizeibehörden, ins¬ 
besondere für Preußen des Polizeipräsidiums Berlins, in die Provinz 
zu entsenden. 

Diese eröffnen dann nachträglich eine kunstgerechte Untersuchung 
und Verfolgung und es gelingt ihnen auch in verhältnismäßig vielen 
Fällen, sie mit Erfolg durebzuführen. Nicht selten jedoch müssen 
sie in Fällen versagen, wo sie wahrscheinlich erfolgreich gewesen 
wären, wenn sie von vornherein die Verfolgung in der Hand gehabt 
hätten. Dadurch, daß diese Kriminal-Spezialisten erst herbeigerufen 
werden, nachdem sich herausgestellt hat, daß eine Aufgabe die Kräfte 


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Zur Reform unserer Kriminalpolizei usw. 


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der zuständigen Organe übersteigt, ergibt sieb stets Zeitverlust, der in 
vielen fallen nicht wieder gut zu machen ist und den weiteren Nach¬ 
teil mit sich bringt, daß die geschulten Kriminalbeamten nicht die 
systematische Verfolgung unter Beobachtung aller Kunstregeln er¬ 
öffnen und mit den neuesten technischen Hilfsmitteln alle Spnren 
der Tat, auch solche, die dem Unerfahrenen unwichtig erscheinen, 
aber später oft als bedeutsam sich heransstellen, sichern können, weil 
diese durch die lokalen Polizeiorgane bei dem Versuche der Tat¬ 
bestandsaufnahme — man denke an Fingerabdrücke, Fußspuren 
und dergleichen — verwischt oder in Unterschätzung ihrer Bedeutung 
überhaupt nicht beachtet worden sind. Dazu kommt, daß die Ver¬ 
wendung gewisser Hilfsmittel, z. B. eines Polizeihundes, nur während 
verhältnismäßig kurzer Zeit Aussicht auf Erfolg eröffnet, ferner, daß 
den entsendeten Beamten der erste Eindruck des in seiner Ursprüng¬ 
lichkeit in der Kegel nicht mehr erhaltenen Tatbefundes fehlt, daß 
die entsendeten Beamten mit den am Tatorte bisher beschäftigten 
örtlichen Polizeiorganen erst eingehende und zeitraubende Fühlung 
nehmen müssen, alles Umstände, durch die naturgemäß der Erfolg 
des ganzen Verfahrens in Frage gestellt wird. 

Nach alledem kann die Entsendung von kriminalistisch geschulten 
Beamten der großstädtischen Polizeibehörden in die Landbezirke den 
Mangel einer geübten Kriminalpolizei in diesen nicht beheben, ganz 
abgesehen von den Übelständen, die es für die stark mit Arbeit be¬ 
lasteten großstädtischen Polizeibehörden auf die Dauer mit sich bringen 
muß, wenn Ersuchen um Entsendung ihrer Beamten nach außen sich 
häufen. 

Es liegt also meines Ermessens ein unbedingtes Bedürfnis nach 
Schaffung einer einheitlich organisierten allgemeinen Kriminalpolizei 
vor, die, ohne an irgendwelche örtliche Zuständigkeitsgrenzen gebunden 
zu sein, ohne weiteres berechtigt wäre, ihre kriminalpolizeiliche Tätig¬ 
keit allerorten zu entfalten. 

Ich pflichte daher dem schon wiederholt in Polizeikreisen aus¬ 
gesprochenem Wunsche nach Schaffung einer Reichskriminalpolizei 
mit mobilen Polizeibrigaden durchaus bei. Dieser Wunsch zeugt von 
praktischem kriminellen Blicke für das, was unserer gegenwärtigen 
Strafrechtspflege im Deutschen Reiche ernstlich not tut zur Herbeiführung 
besserer Erfolge bei Aufdeckung und Verfolgung von schweren Ver¬ 
brechen; denn lediglich solche kommen für die Behandlung durch 
die Kriminalbrigaden in Betracht. 

Nun ist allerdings richtig, daß gegen die Schaffung einer Reichs¬ 
kriminalpolizeibehörde gewisse in der Verfassung begründete Bedenken 


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V. Kosma 


za erbeben sind, indem die Reicbsverfassang in Artikel 4 genau die 
einzelnen Materien bestimmt, welche der Beaufsichtigung seitens des 
Reichs und der Gesetzgebung unterliegen. Da das Polizeiwesen im 
allgemeinen unter diesen Materien nicht aufgeführt ist, erscheint eine 
reichsgesetzliche Regelung auf diesem Gebiete bis zu einer Änderung 
der betreffenden Verfassungsbestimraung ausgeschlossen, die Polizei 
vielmehr der Landesgesetzgebung unterworfen. Es ist aber nicht ab¬ 
zusehen, warum eine derartige Verfassungsänderung auf Schwierig¬ 
keiten stoßen soll, wenn es sich darum handelt, die Staatsgewalt in 
ihrem aufreibenden ständigen Kampfe gegen das immer kühnere Ver¬ 
brechertum, das dank den modernen Verkehrsmitteln längst seines 
örtlichen Charakters entkleidet ist und zahlreiche Hilfsmittel der mo¬ 
dernen Technik in seinen Dienst stellt, durch zweckmäßige Einrich¬ 
tungen wirksam zu unterstützen. Denn unter nichts leidet das An¬ 
sehen der gesamten Kriminalrechtspflege und damit des Staates mehr, 
als unter Mißerfolgen bei Aufklärung von Kapitalverbrechen, bei Er¬ 
mittelung unbekannter und bei Ergreifung bekannter Täter. 

Freilich würde die Erfüllung des Wunsches nach Errichtung einer 
auf reichsgesetzlicber Basis aufgebauten Reichskriminalpolizei voraus¬ 
sichtlich noch in geraumer Feme und jedenfalls so weit liegen, daß 
es im Hinblick auf die Dringlichkeit des Bedürfnisses angezeigt er¬ 
scheint, inzwischen schon zur Behebung der größten Übelstände Ma߬ 
nahmen zu ergreifen, welche geeignet sind, ein einheitlicheres und 
wirksameres Vorgeben der Kriminalpolizei herbeizufübren. 

Derartige Maßnahmen sind im Königreich Sachsen bereits ergriffen 
worden, indem hier mit dem 1. Januar 1911 in Anlehnung an die 
französische Organisation eine mobile Landeskriminalpolizei in Tätig¬ 
keit getreten ist 

Sie besteht 

1. aus der Zentralleitung, die dem Polizeipräsidenten von Dresden 
bzw. als dessen hierbei ständigem Vertreter dem Vorstande der Dresdner 
Kriminalpolizei übertragen ist, und 

2. aus 7 Kriminalbrigaden, die ihren Sitz in den Städten Dresden, 
Leipzig, Chemnitz, Zwickau, Bautzen, Plauen und Freiberg im An¬ 
schlüsse an die dort bestehenden Landgerichte und deren Bezirke 
haben. 

Zweck und Hauptaufgaben dieser Kriminalbrigaden ist die wirk¬ 
same Unterstützung der Staatsanwaltschaften und Untersuchungs¬ 
richter bei der Unterdrückung, Aufdeckung und Ausforschung solcher 
schweren Verbrechen und Vergehen, welche die öffentliche Sicherheit 
in besonders hohem Maße beeinträchtigen, weil sie sich entweder 


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Zur Reform unserer Kriminalpolizei usw. 


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über weitere Gebiete verbreiten oder die Ermittelung der Schuldigen 
mit besonderen Schwierigkeiten verbunden ist. Außerdem sollen sie 
das jetzt fehlende Bindeglied zwischen den einzelnen lokalen Polizei* 
behörden bilden. 

Die Mitglieder der Kriminalbrigaden sind unmittelbar dem König* 
liehen Ministerium des Innern als Dienstbehörde unterstellt. 

Die Kriminalbrigaden haben, abgesehen von den Weisungen der 
Zentralleitung, lediglich die Aufträge der Staatsanwaltschaften und 
Untersuchungsrichter auszuführen. Sie erhalten die Aufträge un¬ 
mittelbar ohne polizeiliche Zwischendezernenten und erstatten auch 
ihre Berichte unmittelbar, so daß der erstrebte Zusammenhang 
zwischen der Staatsanwaltschaft und diesen kriminalistischen Hilfs¬ 
beamten gewährleistet ist. 

Die Brigaden sind nach französischem Muster „mobile“, das 
heißt sie sind hinsichtlich ihrer Erörterungen innerhalb 
des Königreichs Sachsen an keine örtlichen Zuständig¬ 
keitsgrenzen gebunden und verkehren mit allen Polizei¬ 
behörden und Polizeiorganen unmittelbar. Nur bei der 
Aufklärung von Straftaten, die innerhalb des örtlichen Zuständigkeits¬ 
gebietes der Städte mit revidierter Städteordnung begangen sind, 
unterliegt ihr Eingreifen einer gewissen Einschränkung. 

Die Kriminalbrigaden sind bis auf weiteres, daß heißt bis 
zur sicheren Einschätzung des wirklichen Bedürfnisses, mit 2 bzw. 
4 Kriminalbeamten besetzt, die aus den intelligentesten und tüchtigsten 
Mitgliedern der verschiedenen Polizeikorps des Landes ausgewählt 
und in der Polizeidirektion Dresden für ihre besonderen Aufgaben 
in Theorie und Praxis ausgebildet worden sind. 

Untergebracht sind die Kriminalbrigaden in den Diensträumen 
der örtlichen Polizeibehörden der betreffenden Landgericbtsstädte, die 
in dankenswerter Weise den Mitgliedern der Brigaden ein Unter¬ 
kommen und das Mitbenutzungsrecht an ihren kriminalistischen 
Hilfsmitteln eingeräumt haben. An eigener Ausrüstung besitzen die 
Brigaden je eine Bertillonsche Universal-Beisekamera für Personen-, 
Tatbestands-, Tatspuren und metrische Aufnahmen und eine zweck¬ 
entsprechende Kommissionstasche, mit allem Instrumentarium zur 
Auffindung und Sicherung von Verbrechensspuren. Ihre Buchführung 
ist ohne die Einrichtung umfänglicher besonderer Begistraturen die 
denkbar einfachste und frei von allem bürokratischen Zopf. 

Die Zentralleitung bat die Pflicht, die Kriminalbrigaden in Er¬ 
örterungen, die sich über das ganze Land erstrecken, mit Anweisungen, 


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V. Kosma 


Unterlagen and Hilfsmitteln für ihre Tätigkeit zu versehen, sowie 
die Verbindung der Zentralleitnng mit den einzelnen Kriminalbrigaden 
und dieser unter einander aufrecht zu erhalten und zu überwachen. 
Außerdem liegt ihr die fortgesetzte Ausbildung der Mitglieder der 
Brigaden sowie die Vertrautmachung und Ausrüstung dieser mit den 
jeweils neuesten Hilfsmitteln der Kriminalpolizei ob. Nimmt die 
Zentralleitung die Erörterung eines Verbrechens und Vergehens selbst 
in die Hand, weil sich dieses selbst oder die Spuren der Täter über 
ein größeres Gebiet erstrecken oder weil der Staatsanwalt oder der 
Untersuchungsrichter dies beantragen, so stehen ihr sämtliche Kriminal¬ 
brigaden für diesen Zweck zur Verfügung. 

Selbstverständlich sind sämtliche Brigaden an das Reichstelephon 
angeschlossen, so daß sie mit den Staatsanwaltschaften und der 
Zentralleitung und untereinander leicht und schnell verkehren 
können. Die Mitglieder genießen innerhalb des sächsischen Staats¬ 
gebietes freie Fahrt auf den Eisenbahnen und sind auch sonst in 
dringenden Fällen zur Benutzung der schnellsten Verkehrsmittel er¬ 
mächtigt. 

Die kriminalistischen Kreise Sachsens versprechen sich von dieser 
Einrichtung einer mobilen Landeskriminalpolizei besten Erfolg für 
eine wirksame Bekämpfung des schweren Verbrechertums. Es steht 
vielleicht auch zu hoffen, daß die Überzeugung von der Zweck¬ 
mäßigkeit der Einrichtung auch bei anderen Bundesstaaten Platz 
greifen und diese veranlassen werde, ähnliche Organisationen zu 
schaffen. Haben wir einmal in gewissen Provinzialhauptstädten der 
größeren und in den Hauptstädten der kleineren, eventuell in dieser 
Beziehung zu größeren Verbänden zusammengefaßten Bundesstaaten 
des Deutschen Reichs eine Anzahl Polizeizentralen mit mobilen Bri¬ 
gaden, so wird deren Zusammenschluß zu einer Reicbskriminalpolizei 
nicht lange auf sich warten lassen; denn auch für eine Reichskriminal¬ 
polizeibehörde wird es, wenn sie rasch und sicher arbeiten soll, von 
unschätzbarem Werte sein, wenn sie anstatt mit einer großen Zahl 
Einzelstellen mit verhältnismäßig wenigen Zentralstellen arbeiten kann, 
die ihrerseits wieder unmittelbare Verbindung mit den ihr unterstellten 
mobilen Brigaden unterhalten und über eine Elitetruppe der be- 
fähigsten und und tüchtigsten Kriminalbeamten verfügen. 

Es würde dann auch leicht die Möglichkeit gegeben sein, ohne 
die Notwendigkeit einer Verfassungsänderung auf dem Wege der 
Vereinbarung zwischen den einzelnen Bundesstaaten ein Zusammen¬ 
arbeiten der verschiedenen Zentralstellen unter Leitung einer Reichs¬ 
zentrale und damit eine Organisation herbeizuführen, welche die mit 


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Zur Reform unserer Kriminalpolizei usw. 185 

der Gründung einer Reichskriminalpolizei erstrebten Ziele auf anderem 
Wege erreichte. 

Herr Landgerichtsrat Dr. Müller-Meiningen meint, daß erst, 
wenn eine Reichskriminalpolizei anf reichsgesetzlicher Basis geschaffen 
sei, es möglich sein würde, mobile Kriminnlpolizeibrigaden einheitlich 
zu errichten. Ich glaube nicht, daß der Weg in umgekehrter Richtung 
ungangbar sei, bin vielmehr der Überzeugung, daß die Errichtung 
mobiler Kriminalbrigaden von seiten der einzelnen Bundesstaaten, 
denen natürlich die Bestimmung über die Besetzung der auf ihr 
Staatsgebiet entfallenden Brigaden zu überlassen sein würde, das treff¬ 
lichste Piedestal für den Aufbau einer Reichskriminalpolizei bilden würde. 

Über alle diese Fragen sich schlüssig zu machen, wäre die 
Einberufung eines allgemeinen deutschen Polizeikongresses, 
dringend zu wünschen. 

Die Einberufung eines internationalen Kongresses dagegen, 
wie ihn Dr. Hein dl-München in No. 541 der Münchener Neuesten 
Nachrichten vom 19. November 1910 vorschlägt und wie er in einem 
Artikel der Berliner National-Zeitung vom 7. Dezember 1910 über 
„Modernisierung der Polizei“ in Anregung gebracht wird, halte ich 
vorläufig noch nicht für opportun. 

Die Organisation der Kriminalpolizei im Deutschen Reiche nach 
einheitlichen Gesichtspunkten und nach gleichem System läßt noch so 
viel zu wünschen übrig, daß zunächst einmal im eignen Hause alles 
gefegt und geordnet werden möchte, ehe man sich fremde Gäste 
einläd. Dagegen trete ich für die Abhaltung einer allgemeinen 
deutschen Polizeikonferenz mit großer Entschiedenheit ein; denn es 
gibt auf kriminalpolizeilichem Gebiete eine ganze Menge Fragen all¬ 
gemeiner Natur, die dringend eines Meinungsaustausches, einer gründ¬ 
lichen Beratung und einer Einigung bedürfen. 

Auf einem solchen allgemeinen deutschen Polizeikongresse könnte 
zur Diskussion gestellt werden: 

1. die Herbeiführung eines einheitlichen Nachrichtenaustausches 
über internationale Verbrechen und Verbrecher, 

2. die Herbeiführung einheitlicher Bestimmungen über die Auf¬ 
nahme von Fingerabdrücken und die eventuelle Errichtung mehrerer 
Zentralstellen für deren Registrierung, 

3. die Herbeiführung gemeinschaftlicher Bestimmungen über den 
Zwang zur Vornahme Bertilionscher Messungen, 

4. die einheitliche Ausstattung der verschiedenen Kriminalpolizei- 
behörden mit allen modernen polizeitechnischen Hilfsmitteln und ent¬ 
sprechender Nachrichtenaustausch hierüber, 


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V. Koettio 


5. die Einführung systematisch organisierter, einheitlicher Ma߬ 
nahmen für die Fahndung auf flüchtige Verbrecher, und im Zusammen¬ 
hänge hiermit 

6. die Herausgabe eines speziellen Kriminal-Fahndungsblattes, in 
dem auch die neuesten Verbrechen und Verbrechertricks zur Be¬ 
sprechung gelangen, 

7. die Einführung eines einheitlichen Kodex der Personenbe¬ 
schreibung, 

8. die Einführung eines allgemeinen Telegraphenschlüssels, 

9. die Herbeiführung einheitlicher Ausbildung der Kriminal¬ 
beamten und zu diesem Zwecke 

10. die Gründung staatlicher Vor- und Fortbildungsschulen für 
untere und einer Polizeiakademie für höhere Polizeibeamte nach Art 
des von Professor Reiß in Lausanne geleiteten Institut de police 
scientifique de l’universitä de Lausanne u. a. m. 

So epochemachend in den letzten 10—15 Jahren, wie bereits 
eingangs erwähnt, die Entwickelung der technischen Hilfsmittel der 
Kriminalpolizei gewesen ist, so ist doch in bezug auf die allgemeine 
organisatorische Weiterbildung der Kriminalpolizei seit langen 
Jahren im Deutschen Reiche etwas Bemerkenswertes nicht geleistet 
worden. Es wird höchste Zeit, daß in dieser Beziehung etwas ge¬ 
schieht; denn die jetzigen Zustande sind auf die Dauer unhaltbar 
und bedürfen dringend der Reform. 

Die Beratung auf einem allgemeinen deutschen Polizeikongreß 
über das, was uns nottut, könnte nur befruchtend auf die weitere 
Ausgestaltung unserer Kriminalrecbtspflege wirken und würde voraas¬ 
sichtlich einheitliche Einrichtungen bringen, die den modernen Ver¬ 
hältnissen Rechnung tragen und die Entfaltung einer erfolgreicheren 
Tätigkeit auf kriminalpolizeilichem Gebiete fördern würden. 


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VI. 


Kriminalistische Aufsätze. 

Von 

Kurt Boas in Berlin. 


I. Ein weiterer Fall von Suicidinm menstruale. 

Vor einiger Zeit habe ich *) in diesem Archiv über einen Fall 
von Snicidinm menstruale berichtet, für den bisher keine Analoga in 
der Literatur anzuführen war. Nun hat neuerdings Elpermann 1 2 ) 
aus der Kieler Psychiatrischen Klinik einen dem meinen fast völlig 
identischen Fall mitgeteilt Bei der Seltenheit dieser Fälle erscheint 
mir ein Eingehen auf diesen Fall gerechtfertigt Ich gehe dabei 
nach der Beschreibung des Verfassers unter Weglassung alles Neben¬ 
sächlichen vor. 

Lina K., Frau eines technischen Zeichners, 34 Jahre alt aus 
Kiel. Hereditäre Belastung: ein Bruder der Pat. hat seine Frau und 
dann sich selbst aus Eifersucht erschossen. Mutter nervös. Eltern 
nicht blutsverwandt Sonstige Geschwister gesund. Als junges 
Mädchen gesund und kräftig, lustig und vergnügt. 1898 Heirat. 
6 Wochen nach der Eheschließung kam der Ehemann wegen 
Epilepsie, Tobsuchts- und Verwirrtheitsanfällen in die Provinzial¬ 
anstalt nach S., wo er ein Jahr über blieb. Dieses psychische 
Trauma nahm die Pat. sehr mit, sie war traurig. Zudem kommt ein 
schwerer Vermögensverlust zu Beginn der Ehe. Die Ehe war glück¬ 
lich. 1900 normale Entbindung. Dammriß genäht. Gesundes Kind. 
Kurz nach der Geburt wurde Pat unterleibskrank, mußte sich in der 
Frauenklinik einer Behandlung unterziehen und wurde ausgeschabt 
Vor ca. 3 Jahren wurden ihr wegen chronischer Bauchfell- und 
Eierstocksentzündung beide Eierstöcke exstirpiert Seitdem nur 
spärliche Menses. Nach der Operation bot Pat. ein anderes psychi- 

1) Boas, Forensisch-psychiatrische Kasuistik I. Kapitel 10: Über einen 
Mord- und Suicidversuch in der Menstruation. Dies Archiv 1909 Bd. XXXV. 
8. 226 ff. 

2) Elpermann, Kasaistischer Beitrag zur Lehre von den Menstrual- 
psychosen. Inangural-Dissertation Kiel 1906. 


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VI. Kurt Boas 


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sches Verhalten dar, sie wurde vergeßlich, verlegte Sachen und konnte 
sich nachher nicht mehr erinnern, wohin sie sie gelegt hatte, in der 
Wirtschaft machte sie allerhand Verkehrtheiten, nähte Knöpfe an 
falsche Stellen. Dazu trat eine krankhafte melancholische Verstim¬ 
mung über ihren Zustand. Hinzu kamen pekuniäre Sorgen nm die 
Zukunft des Kindes. Der Ehemann glaubte zu bemerken, daß die 
Pat. sich weniger ihm gegenüber aussprach als ihren Schwestern 
gegenüber. Während der Periode war sie gereizt, nervös 
und hatte sehr viel Schmerzen. Außerdem äußerte sie 
in letzter Zeit wiederholt Gedanken von Taedium vitae. 

Am Dienstag den 9. X. 06 abends sei er mit Frau und Kindern 
auf dem Jahrmarkt gewesen. Alle nahmen Lose in einer Würfel¬ 
bude. Der Ehemann und die Kinder gewannen Gläser usw. Die 
Pat. gewann nichts. Sie sagte bedeutungsvoll: „Ich habe kein 
Glück mehr“. 

Am folgenden Tage fand der Ehemann, als er nachmittags von 
der Arbeit heimkehrte, seine Frau und beide Kinder bewußtlos in 
einem Bette liegend in der Küche vor. In der Küche und auf dem 
Korridor nahm er starken Gasgeruch wahr. Das Mädchen war mit 
Stuhl beschmutzt, die Kinder batten erbrochen. Außerdem fand er 
eine leere Portweinflasche im Bette, er glaubte daher, daß seine Frau 
und Kinder betrunken gewesen seien. 

Der Ehemann habe darum gleich den Gashahn zugedreht, die 
Fenster geöffnet, auf Anordnung eines Arztes kalte Umschläge auf 
Kopf und Leib für Sohn und Frau gemacht, das Mädchen heiß ge¬ 
badet Während die ereteren beiden wieder zu sich gekommen seien, 
sei das Mädchen bald im Krankenhause gestorben. Nach dem Tode 
des Kindes habe er Pat. im städtischen Krankenhause gesprochen, 
ihr aber zunächst den Tod verheimlicht. 

Am 28. X. 06 gibt der Ehemann an, es sei sehr wohl möglich, 
daß seine Frau Grog von Portwein gemacht und für das heiße 
Wasser Gas gebraucht habe, nachher aber aus Vergeßlichkeit den 
Gashahn nicht zugedreht habe. Auf Vorhalten, daß es doch auf¬ 
fallend sei, daß das eine Bett gerade in die Küche gerückt sei, er¬ 
widerte er, das sei so zu erklären: „Im Schlafzimmer, an der Stelle, 
wo das Bett stand, sei der Fußboden sehr schlecht gewesen, er habe 
ihn ölen wollen, seine Frau habe zu diesem Zwecke wahrscheinlich 
schon das Bett in die Küche gerückt gehabt. In der Küche an der 
Wand oben sei die Abzugsklappe für schlechte Luft offen gewesen. 
Läge Mord- oder Selbstmordabsicht vor, so hätte seine Frau diese 
Klappe wohl geschlossen“. 


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Kriminalistische Aufsätze. 


189 


In Übereinstimmung mit dem Manne berichteten die Schwestern 
der Pat, daß diese seit der Operation schwermütig, kopfschwach und 
sehr vergeßlich geworden sei. Die Tat sei ihnen unerklärlich. Zur 
Zeit der Menstruation habe sie immer schlimme Tage 
und wisse dann nicht, was sie tue. 

Die Pat. selbst hat zwei Tage nach der Tat keine Erinnerung 
mehr daran. Sie weiß nicht, was sie getan hat und erinnert sich nur, 
den Kindern Portwein gegeben zu haben, auch selbst davon getrunken 
zu haben, angeblich um dann gut schlafen zu können *). Auf Be¬ 
fragen, warum sie denn das Bett in die Küche geschoben — und 
am hellen Tage mit den Kindern habe schlafen wollen — auch auf 
weitere Fragen antwortet sie stets mit leiser Stimme nach längerem 
Besinnen: „Das weiß ich nicht“. Sie sagte selbst, daß sie nerven¬ 
krank sei und oft, besonders vor den Menses, Zustände von 
Schwermut und Unbesinnlichkeit gehabt habe. Sie habe öfter nicht 
gewußt, was sie tue, so habe sie einmal in einem solchen Zustande 
ihren Kindern statt Butter Seife aufs Brot geschmiert 

Aas dem von Elpermann mitgeteilten ausführlichen Auf¬ 
nahmebefund seien hier nur einige Angaben angeführt Pu¬ 
pillen gleich, mittelweit auf Lichteinfall und Accomodation reagierend. 
Keine Sprachstörung. Leichter Tremor manuum. Keine Motilitäts¬ 
störung. Mechanische Muskelerregbarkeit leicht erhöbt Große Nerven¬ 
stamme druckempfindlich. Ischiadicusdruckpunkte links. Lasnäge- 
sches Symptom vorhanden. Verhalten der Reflexe: Abdominal¬ 
reflex, Patellarreflex, Achillessebnenphänomen, Plantarreflex sämtlich 
positiv. Gang sicher. Romberg negativ. Sensibilität und Schmerz¬ 
empfindlichkeit normal. Im Urin Zucker (1 ‘/i Proz). 

Während ihres Klinikaufenthaltes trug die Pat vorwiegend ein 
— in ihrer Situation lebhaft verständliches — gedrücktes Wesen an 
den Tag, zeigte sich aber im übrigen geordnet und orientiert Sie 
bringt alles mit leiser Stimme vor. Der Urin war schon nach zwei 
Tagen wieder zuckerfrei. Es bandelt sich also um eine vorüber¬ 
gehende Glykosurie. Ihr Benehmen gegen die Außenwelt ist im 
allgemeinen gleichgültig; sie ist einsilbig und spricht spontan fast 
gar nichts. Als sie darauf mit ihrem Manne eine Unterredung hatte, 
fühlte sie sich erleichtert: von jetzt ab ist ihre Stimmung besser. Sie 
unterhält sich mit Mitpatientinnen. Jede Erinnerung an die Tat ist 
erloschen. Sie weiß selber nicht, wie sie zu der Tat gekommen ist. 
Sie weiß, daß sie Portwein getrunken hat, aber nicht weshalb. Weiß 


1) Dabei war es Nachmittag! B. 


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VI. Kurt Boas 


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auch nicht, warum und wie sie das Bett in die Küche gebracht bat 
In der prämenstruellen Zeit (Ovulation) klagte sie über heftige Kopf¬ 
schmerzen. Zugleich bot sie das Bild psychischer Depression dar, 
während sie nach Eintreten der Periode freier und guter Stimmung, 
ja fast fröhlich ist Die gleichen Stimmungsanomalien werden vor 
Eintritt jeder Menstruation beobachtet, während die eigentliche Men¬ 
struation ohne Störungen des psychischen Gleichgewichtes verlief. 
Einmal glaubte sie in der prämenstruellen Zeit ihre kleine Tochter 
am Fenster zu sehen, schrie und jammerte laut und machte einen 
sehr verstörten Eindruck. All diese Erscheinungen klangen bei 
Eintritt der Menses wieder ab. Ein andermal klagte sie während 
der kritischen Zeit über das angebliche liederliche Leben ihres 
Mannes, der der Onanie ergeben sei und sein uneheliches Kind mi߬ 
brauche. 

Es handelt sich also um eine auf der Basis der hereditären Be¬ 
lastung (Mutter nervenkrank, Bruder tötete seine Frau und sich selbst 
im Eifersucbtswahn) entstandene periodische Sinnesstörung. Dazu 
kommen als auslösende Faktoren mehrere psychische Traumen: die 
schwere Operation und der Verlust des Vermögens. Die Kombi¬ 
nation dieser mannigfachen Noxen hat den gegenwärtigen Zustand 
geschaffen, besonders ihr melancholisches Wesen, das in ihren Worten 
„Es wäre wohl besser, wenn wir alle nicht mehr lebten“ und: „Ich 
habe kein Glück mehr“ zutage tritt 

Die Sache liegt hier ganz so wie in einem älteren Falle, wo 
eine Frau ihr Kind ins Wasser warf. Da man für das Vorliegen 
einer Geistesstörung keinen Anhaltspunkt batte, wurde die Frau zum 
Tode verurteilt Am Tage vor der Hinrichtung gestand sie aus 
Scham den Richtern nicht mitgeteilt zu haben, daß sie am kritischen 
Tage die Regel gehabt und infolgedessen nicht gewußt habe, was 
sie tat Die Todesstrafe wurde suspendiert, die Kranke einer 
Irrenanstalt überwiesen, wo sich in der Tat das Bestehen einer 
Menstrualpsychose ergab. Die Mutter wurde daraufhin frei- 
gesprochen. 


II. Der Begriff der „traumatischen psychopathischen Kon¬ 
stitution“ (Ziehen) in der forensischen Psychiatrie. 

Es ist ein hervorragendes Verdienst Ziehens in das dunkle 
Gebiet der Lehre von den Degenerationszuständen einiges Licht ge¬ 
bracht zu haben. Wenngleich wir von einer exakten psychologischen 
Beherrschung dieser Typen noch weit entfernt sind, haben uns doch 


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Kriminalistische Aufsätze. 


191 


seine Untersuchungen am ein gutes Stöck vorwärts gebracht. Vor 
allem haben sie uns zu einer völlig anderen Auffassung hinsichtlich 
ihrer Ätiologie und Symptomatologie geführt. Ziehen hat den 
seit Lombroso vielfach mehr anthropologisch gefärbten Begriff 
„Degeneration“, der sich als außerordentlich dehnbar und daher wenig 
prägnant und charakteristisch erwiesen hatte, vor allem auch im 
Mnnde des Laien seinen wissenschaftlichen Anstrich verloren batte, 
dnrch den weit zweckmäßigeren der „psychopathischen 
Konstitution“ ersetzt. Er versteht darunter ein Individuum, 
dessen Seelenleben durch einen psychischen Faktor irgend welcher 
Art ans seinem Vorleben — Vorleben gefaßt im weitesten Sinne des 
Wortes — gegenüber der normalen Psyche pathologische Ver¬ 
änderungen bietet, die oft nur minimal zu sein brauchen und selbst 
dem gewiegten kundigen Psychiater entgehen bzw. ein anderes Krank¬ 
heitsbild Vortäuschen können. So unterscheidet er z. B. epileptische 
psychopathische Konstitutionen und versteht — um letzteren Begriff 
an einem greifbaren Beispiel nochmals zu erläutern, die psychischen 
Alterationen wie sie bei und für die Epilepsie charakteristisch sind. In 
analoger Weise redet er von alkobolistischer, traumatischer usw., 
„psychopathischer Konstitution.“ 

Im folgenden sollen uns nun die traumatischen psycho¬ 
pathischen Konstitutionen beschäftigen, die neben anderen 
Namen schon älteren Autoren bekannt waren, allerdings nur den 
körperlichen Erscheinungen nach, die aber in der Eigenart des psy¬ 
chischen Verhaltens erst von Ziehen 1 ) und seinem Schüler Pohrt 2 ) 
erfaßt und näher studiert worden sind. Vor allem bedarf der Begriff 
der „traumatischen psychopathischen Konstitution“ eine genaue Ab¬ 
grenzung von der sogenannten „Rentenhysterie“, eine bis zur Ein¬ 
führung der Reichsunfallversicherung unbekannte Form der Hysterie 
— unbekannt in ätiologischer Hinsicht — die einen heutzutage weit 
grassierenden Übelstand darstellt Was vornehmlich differential-dia¬ 
gnostisch hervorgehoben zu werden verdient, ist das vielfach zu be¬ 
obachtende Fehlen aller spezifisch hysterischen Stigmen (hysterische 
Druckpunkte usw.), statt dessen das den nervösen Symptomen gegen¬ 
über mehr in die Erscheinung treten der psychischen Alterationen. 

Daß solche Zustände selten Vorkommen oder selten in die Augen 
springen und vielfach die traumatische Neurose die psychischen Sym- 

1) Ziehen, Zur Lehre von den psychopathischen Konstitutionen, Charite- 
Annalen 1905—1910 und Lehrbuch der Psychiatrie, Leipzig 1907. S. Hirzel. 

2) Pohrt, Beitrag zur Lehre von den traumatischen psychopathischen Kon¬ 
stitutionen, Inaugural-Dissertation Berlin 1909, 30 Seiten. 


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ptotne verblassen läßt, lehrt z. B. eine Arbeit von W. Schmidt 1 ), der 
sich mit den nervösen Erkrankungen von Militäranwärtern im späteren 
Zivilberuf beschäftigt. Derselbe hat an einer größeren Anzahl von nervösen 
Militftrper8oaen, die nach Ablauf der Dienstzeit und Erlangung des 
Militärversorgungsscheines in den Zivildienst als Polizeibeamte, Post¬ 
subalternbeamte übergetreten waren, ätiologische Erhebungen angestellt 
und auch das Trauma mit hineinbezogen. Er gibt einen Fall von 
Trauma an, der, da nähere Einzelheiten fehlten, vom Verfasser wohl 
als traumatische Neurose ohne psychisches Beiwerk gedeutet wurde. 

Ausführlicher bat sich Heilig 2 ), ebenfalls auf Veranlassung von 
M. Laehr 3 ), mit der Ätiologie der Arbeiterneurosen beschäftigt und 
dabei der Rolle des Traumas sein ganz besonderes Augenmerk zu¬ 
gewandt Er äußerte sich über die psychischen posttraumatischen 
Begleiterscheinungen der Arbeiterneurosen wie folgt 4 ): 

„Zu den Affektinsulten, die mehr oder weniger mit einem Trauma 
verbunden sind, kommt das Bewußtsein der Gefahr, gelegentlich einen 
neuen Unfall erleiden zu können, kommt vielleicht auch das Beispiel 
von Arbeitsgenossen, die durch ein solches Trauma brotlos geworden 
sind. Solche Momente vermögen wohl, mit anderen Schädlichkeiten 
kombiniert, zu einer erhöhten Reizbarkeit der Psyche zu führen, zu 
einer nervösen Umstimmung und schließlich zum Bilde der Neur¬ 
asthenie.“ 

Und weiter heißt es bei Heilig: 

„Es zeigt denn auch die Tabelle, daß bei den einfachen funk¬ 
tioneilen Neurosen, in deren Ätiologie Unfälle eine Rolle spielen, es 
sich fast ausschließlich um Neurastheniker handelte, während unter 
den eigentlichen traumatischen Neurosen auch die Hysterie einen 
beachtenswerten Prozentsatz ausmacht. Aber entsprechend der erst¬ 
genannten Tatsache steigt auch bei denjenigen traumatischen Neu¬ 
rosen, in deren Ätiologie sich vor dem die Erkrankung auslösenden 
Trauma noch eine oder mehrere andere fanden, der Prozentsatz der 
Neurastheniker sofort um einen erheblichen Betrag, nämlich von 50 
auf 72,7. Daß die Fälle bei denen hypochondrische Züge das Krank¬ 
heitsbild beherrschten, relativ zahlreich vertreten sind, ist bei der 

1) W. Schmidt, Ätiologische Betrachtungen bei nervösen Erkrankungen 
von Militäranwärtern im späteren Zivilberuf. Inaugural-Dissertation Berlin 190S, 
28 Seiten. 

2) Heilig, Fabrikarbeit nnd Nervenleiden. Beitrag zur Ätiologie der 
Arbeiterneurosen. Inaugural-Dissertation Berlin 1908, 35 Seiten. 

3) La e h r, Die Nervosität der heutigen Arbeiterschaft Allgemeine Zeit¬ 
schrift für Psychiatrie, 13d. 66, S. t, 1908. 

4) 1. c. S. 18/19. 


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Kriminalistische Aufsätze. 


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traumatischen Natnr derselben leicht verständlich. Denn gerade ein 
erlittener Unfall bietet ja außerordentlich bequeme Anknüpfungspunkte 
für hypochondrische Vorstellungen, und um so mehr dann, wenn der 
Kranke in dem Glauben lebt, daß eben durch den Unfall seine Er¬ 
krankung hervorgernfen sei. Daher denn auch Hypochondrie sich 
fast nur bei den echten traumatischen Neurosen fand. Die Misch¬ 
diagnose Hysteroneurasthenie findet sich ebenfalls nur bei Trau- 
matikem und zwar verhältnismäßig häufig, was wohl der nur geringe 
Unterschied zwischen den Zahlen der Hysterie und Neurasthenie bei 
den traumatischen Neurosen erklärt Bei mehrfachem Trauma aber, 
wodurch, wie erwähnt, weit mehr neurasthenische Erkrankung begünstigt 
zu werden scheint, ist auch diese Miscbform bedeutend seltener.“ 

Soweit Heilig. Es ist nicht zu verkennen, daß Heilig nicht 
die neurasthenischen Symptome entgangen sind, ferner daß er die 
Kombination von Hysterie und Neurasthenie bei echten traumatischen 
Neurosen für ein immerhin seltenes Vorkommnis hält Aber er sieht 
dieses neurasthenische Beiwerk mehr als sekundäre Erscheinungen an, 
während sie bei der „traumatischen psychopathischen Konstitution“ 
der Hauptsache nach das Krankbeitsbild beherrschen. Was aber das 
Neue ist, ist die von Ziehen betonte Tatsache, daß es eine Erkrankung 
gäbe, deren nervöse Symptome in nichts von denjenigen der Neur¬ 
asthenie abweichen, deren psychische sieb aber weder unter 
der Hysterie noch unter der Neurasthenie noch unter 
Mischformen beider, Hysteroneurasthenie, unterbringen lassen. 

In einer ebenfalls aus der Laehrschen Volksheilstätte Haus 
Schönow hervorgegangenen Arbeit war bereits vor Heilig Schönhals 1 ) 
den Ursachen der Neurasthenie und Hysterie bei Arbeitern nach¬ 
gegangen an der Hand von 200 Fällen von Arbeiterneurosen. In 
90 von diesen, d. h. in 45 Proz., hat Schönhals das Trauma als 
unmittelbare Ursache der Neurose feststellen können, Trauma in dem 
Sinne, „daß es sich nie um Verletzungen handelt, welche eine grobe Zer¬ 
störung des Gehirns oder Rückenmarks herbeigeführt haben, sondern um 
mechanische Läsionen, welche eine pathologisch-anatomisch 
nachweisbare Schädigung des Zentralnervensystems nicht 
zu hinterlassen pflegen 2 ).“ 

Gerade der entgegengesetzten Ansicht ist Pohrt, wenn er schreibt 3 ): 

»Sehr geklärt würde die Frage werden, wenn es gelänge, eine 
Anzahl von Traumatikergehirnen anatomisch auf kleine Blutungen 

1) Schönhals, Ober die Ursachen der Neurasthenie und Hysterie bei Ar¬ 
beitern. Inangnral-Dissertation Berlin 1906, 2S Seiten. 

2) 1. c. S. 10. 8) 1. c. S. 26. 

Aickir für Kriminalanthropologi«. 40. Bd. 13 


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VI. Kurt Boas 


oder sonstige feine Läsionen hin zn untersuchen, für deren Vorhanden¬ 
sein der leichte Intelligenzdefekt spricht“. 

In den weiteren Ausführungen von Schönhals finden wir zahl¬ 
reiche Anklänge an Ziehens Lehre von der traumatischen psycho¬ 
pathischen Konstitution wieder. Zwar nennt er als Hauptklagen der 
Patienten Mattigkeit, leichte Ermüdbarkeit bei der Arbeit Unter den 
Ursachen erwähnt er naturgemäß an erster Stelle die Commotio cerebri, 
die insgesamt in 55 Fällen = 27.5 Proz. eine Rolle spielt. Daneben 
aber mißt er auch dem Schreck eine ätiologische Rolle bei. Dies Moment 
nimmt er quasi als Hilfsmoment in all den Fällen zu Hilfe, wo die 
Commotio cerebri nicht allzuschwer war und zur Motivierung allein 
nicht ausreicht So mag es auch wohl mit den anderen Fällen sein, 
in deren Anamnese zwar nichts von einem solchen Schok erwähnt ist, 
den man als psychisches Trauma auffassen kann, wie Schreck, Angst 
um sein Leben usw., wo ein solches aber wohl, wenn man die Art 
des Unfalles betrachtet, sicher mitgewirkt hat, z. B. Verletzung bei 
Bränden oder Explosionen, überhaupt da, wo eine nicht sofort eingetre¬ 
tene Bewußtlosigkeit den Mannseinen Unfall als solchen empfinden ließ. 

In anderen Fällen disponiert das Trauma zu nervösen Er¬ 
krankungen, die manifest werden, sobald ein zweites somatisches oder 
ein psychisches Trauma sich hinzugesellt. Schönhals hat acht sichere 
Fälle der ersten Art beobachtet und fünf der zweiten Art In diesen 
handelt es sich meist um Nahrungssorgen, gemütliche Erregungen, 
Todesfälle usw., also alles Dinge, die nicht zu dem Begriff der trau¬ 
matischen psychopathischen Konstitution passen. Ganz besonders be¬ 
tont auch Schönhals bereits die Rolle der Rente 1 ) und führt 
Binswangers 2 ) Worte an: 

„Die Zahl der Unfallsneurosen wächst unheimlich. Die moderne 
Gesetzgebung zwingt den durch ein Trauma geschädigten Arbeiter 
zu einer gesteigerten Selbstbeobachtung. Liebevoll muß er jeden 
Schmerz hüten, jede Anstrengung meiden, um seiner Rente nicht ver¬ 
lustig zu gehen. In dieser halb freiwilligen, halb erzwungenen Ver¬ 
längerung des Krankenlagers liegt die Hauptgefahr. Hier wird die 
krankhafte Überempfindlichkeit gezüchtet, welche den willenschwachen 
Arbeiter schließlich unfähig macht, der krankhaften Empfindungen 
Herr zu werden und durch regelmäßige methodische Übungen seiner 
Körperkräfte die Folge des Unfalls auszugleichen.“ 

Wenn, wie aus diesen Ausführungen hervorgebt, Binswanger 
auch die Gefahr hypochondrischer Vorstellungen nicht verkennt, so 

1) 1. c. S. 12. 

2) Binswanger, Pathologie und Therapie der Neurasthenie. Jena 1896. 


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Kriminalistische Aufsätze. 


195 


spricht er doch nur von der Rentenneurose, d. h. spezifisch nervösen, 
nicht psychischen Erscheinungen. 

Schönhals bestätigt diese Erfahrungen und fügt hinzu'), daß 
„wenn sie die Rente noch nicht haben, die Sorge, ob sie wohl eine 
bekommen, ihren Ideenkreis so vollständig beherrscht, daß dieser 
psychische Zustand, der ja auch oft genng zu einer schweren Melan- 
cholia hypochondrica führen kann, fast eine eigene Krankheit, 
eine Art Paranoia wird.“ Ich erblicke in diesen Worten einen 
gewissen Anklang an Ziehens Lehre von den traumatischen psycho¬ 
pathischen Konstitutionen. 

Welcher Art ist diese Erkrankung; wie änßert sie 
sich, unter welchen krankhaft psychischen Erscheinun¬ 
gen tritt sie auf? Pohrt gibt nun auf diese Fragen eine an¬ 
schauliche Schilderung: Meist langsam, aber unmittelbar an das Trauma 
anschließend entwickeln sich bei dem Patienten reizbare Stimmung, 
eine unbestimmte Depression, die auch nicht verschwindet, wenn der 
Patient frei von wesentlichen Beschwerden ist Einbuße an Viel¬ 
seitigkeit der Interessen und Konzentration derselben anf das Tranma. 
Abnahme der Schnelligkeit nnd Wertrichtigkeit des Urteils nnd 
ein Nachlassen der intellektuellen Produktivität (ein Symptom, das 
Ziehen mit großer Wahrscheinlichkeit auf multiple feinste, organische 
Läsionen des Gehirns zurückffihren zu müssen glaubt). Die Hand¬ 
langen lassen im Vergleich zur Zeit vor dem Trauma Energie und 
Umsicht vermissen. Selten kommt es nachträglich zur Entwicklung 
einer traumatischen Demenz. Doch können sich auch andere Psychosen 
wie Paranoia auf dem Boden der traumatischen psychopathischen 
Konstitution entwickeln. Vollkommene Heilungen sind sehr selten. 

Ziehen 2 ) hat, was Pohrt nicht hervorhebt, noch ganz besonders 
auf den exquisit paranoischen Zug in der psychopathi¬ 
schen Konstitution des Traumatikers hingewiesen. So er¬ 
wähnt er z. B. Fälle, bei denen er seit einer schweren Kommotion 
eine Tendenz zu paranoiden Eifersuchtsideen beobachtet hat Die im 
folgenden wiederzugebenden Krankengeschichten werden die Richtigkeit 
dieser Angabe erhellen. Ziehen hält diese Tendenz in der Regel 
für nicht progressiv, doch kann es auch zum richtigen Ausbau eines 
Eifersuchtswahnssystems kommen, d. h. zur Paranoia chronica simplex. 

Ein anderer Punkt, dem Ziehen ebenfalls bereits in seiner ersten 
Publikation seine Aufmerksamkeit geschenkt hat, betrifft die Auf- 

1) 1. c S. 13. 

2) Ziehen, Zur Lehre von den psychopathischen Konstitutionen, Charitß- 
Annalen 1907, Bd. XXXI, S. 160. 

13 * 


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VI. Kokt Boas 


fassung der querulatorischen Tendenz dieser Trautnatiker. 
Auch diese Frage hat Pohrt in seiner Arbeit nicht erwähnt, und so 
waren meine Schlußbemerkungen über die Beziehungen des Queru¬ 
lantenwahns zur traumatischen und psychopathischen Konstitution 
(S. 208) bereits niedergeschrieben, als ich erst durch die Lektüre der 
Ziehenschen Originalarbeit ersah, daß bereits Ziehen diesen Bezie¬ 
hungen gerecht geworden war, sie damals allerdings nur angedeutet 
batte. 

Stellen wir diese Schilderung, die die Psyche der traumatischen 
psychopathischen Konstitution aufs feinste erfaßt, mit den mehr all¬ 
gemein gehaltenen Heiligs zusammen, so wird uns die grundsätz¬ 
liche Verschiedenheit beider Krankheitszustände nicht entgehen. Um 
das Wesentliche hervorzuheben: Ziehen betont die Störungen der 
Intelligenz und des affektiven Lebens bei solchen Kranken. Durch 
einen Auszug der von Pohrt mitgeteilten Krankengeschichten wird 
die Darstellung an Klarheit gewinnen. 

1. 39jähriger Fabrikarbeiter: Trauma mit großer Weichteilver¬ 
letzung am rechten Ohr, unterhalb deren ein 5—7 cm großes Knochen¬ 
stück nach innen eingetrieben war, das sich später abstieß. Seit dem 
Unfall klagt Pat. viel, ist andauernd traurig, da er keine Arbeit 
finden kann, weil er alles vergißt. Er vergißt Aufträge unterwegs 
auszuführen. Daneben besteht Erinnerung an Früheres. Leicht 
aufgeregt Demoliert öfters die Wohnung und weiß am nächsten 
Tage nichts mehr davon. Auf Vorwürfe der Frau erwidert er, er 
könne nicht dafür. Er leidet an Kopfschmerzen, die sich bei schlechtem 
Wetter verschlimmern. Er ist dann verstimmt und möchte alles zer¬ 
schlagen. 

Die in der Klinik vorgenommene lntelligenzprüfung fiel außer¬ 
ordentlich schlecht aus: 

2 X 2 = ? Antwort 3 

Sprechen Sie die Zahlen naoh 7 2 5 6 Antwort 7 2 3 

» » » » n 8 3 7 4 „ 82 

Zu diesem Resultat ist zu bemerken, daß die Intelligenzprüfung eine 
bedeutend unter dem Niveau des Normalen stehenden Intelligenz ergab. 
Wenn wir von der falschen Lösung des Rechenexempels einmal ganz 
absehen wollen, obwohl wir sie selbst bei vielen Geisteskranken 
verlangen müssen, so ist, was das Nachsprechen von Zahlen betrifft, 
zu betonen, daß selbst der Ungebildete 1 ), obwohl er keine besondere 

1) Bei Dementia praecox, bei der das Erinnerungsvermögen meist ausge¬ 
zeichnet erhalten ist, kommt es gar nicht so selten vor, daß Kranke auch bis 
elfstellige Zahlen mühelos ohne Umstellungen richtig wiedergeben. 


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Kriminalistische Aufsätze. 


197 


Schalung darin besitzt, imstande ist fünf- oder sechsstellige Zahlen in 
der richtigen Reihenfolge zu wiederholen. Versagt er dabei, so ge¬ 
winnt in jedem Falle die Annahme einer schweren Geisteskrankheit, 
die mit ausgeprägtem Intelligenzdefekt in die Erscheinung tritt, an 
Boden. 

Natürlich sind gewisse unerläßliche Kautelen 1 ) zu beobachten, 
deren Nicbtbeobachtnng leicht zu falschen Schlüssen, die für den 
Kranken oft verhängnisvoll werden können, führen könnte. Zunächst 
ist auf rhythmisches Vorsprechen zn achten. Man darf die vier Zahlen 
nicht in einem Tempo nennen, sondern soll sie möglichst in zwei 
Gruppen zn je zwei dem Pat. zum Nachsprechen vorlegen. Ferner 
ist zn beachten, daß der Pat. sich bei der Intelligenzprüfung ganz auf 
die ihm gegebenen Fragen und Exempel konzentriert. Dieses ist ein¬ 
fach so zu erzielen, daß man energisch in den Pat dringt und wie 
in den meisten Fällen wird wohl auch hier energisches Zureden von 
Erfolg gekrönt sein. Zeitigt unter Beobachtung dieser Kautelen die 
Intelligenzprüfung so schlechte Resultate wie im obigen Falle, so gibt 
dies ernstlich zu denken. 

Als der Patient sich die Zahl 87 merken soll, hat er sie schon 
nach wenigen Sekunden wieder vergessen. Zur Prüfung des Intelligenz¬ 
vermögens und der Kombinationsfähigkeit werden ihm noch folgende 
Fragen gestellt: 


Welche Farbe hat der Schnee? 

Berlin, Hauptstadt von? 

Unterschied zwischen Ochse und Pferd? 
Unterschied zwischen Fluß und Teich? 
Darf man stehlen? 

Warum nicht? 

Wann ist man vor Strafe sicher? 


? 

Weiß ich nicht. 

Der Ochse hat Hörner. 
Weiß ich nicht. 

Nein. 

Man wird bestraft. 
Weiß ich nicht. 


Die Beantwortung dieser Fragen, die sich teils auf Dinge aus 
dem alltäglichen Leben beziehen, teils Elementargesetze der Moral 
zum Vorwurf haben, deutet ebenfalls auf einen schweren Defekt der 
Intelligenz und der Ethik hin. Wer bei so einfachen Fragen wie 
nach der Hauptstadt von Deutschland und ähnlichem versagt, bei 
dem ist a limine eine außerordentlich ungünstige Prognose abzu¬ 
geben. Auch das Begriffsvermögen ist bei ihm gehemmt Denn selbst 
von dem Ungebildeten kann man den Unterschied zwischen Fluß 


1) Auf die Frage der Intelligenzprüfung kann ich im Rahmen dieses Themas 
nur kurz eingehen. Dieselbe wird in einem weiteren Aufsatze ausführlich erörtert 
werden nnd muß ich auf die demnächst erfolgende Publikation verweisen. 


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VI. Kurt Boas 


und Teich verlangen. Etwas besser, wenn auch dürftig genug, bat 
der Pat. bei den Fragen aus dem Gebiet der Moral, die ja für uns 
aus forensischen Gründen ganz besonders wichtig sind, abgeschnitten. 
Daß er nicht stehlen darf, dafür ist ihm das Bewußtsein trotz Trübung 
seiner Intelligenz nicht verloren gegangen. Aber das Warum vermag 
er nicht präzise auszudrücken und bringt statt dessen nur die straf¬ 
rechtlichen Folgen vor. 

Spätere Intelligenzprüfungen ergaben teilweise ein besseres Re¬ 
sultat, was wahrscheinlich darauf zurückzuführen ist, daß Pat nun¬ 
mehr mehr auf diese Dinge trainiert ist. Folgende ihm zum Nach¬ 
sagen aufgegebene Zahlen spricht er so nach: 


417 

519 

697 

2951 


41 ... 5 
529 
691 
2987 


Mit Recht tritt P o h r t an dieser Stelle in die Erörterung der 
Frage ein, ob hier nicht etwa Simulation vorliegen könnte, was an 
den Klagen, die die Unfallpatienten Vorbringen, wahr und was als über¬ 
trieben und Ausfluß der hypochrondischen Stimmung gewertet werden 
muß. Die tägliche ärztliche Erfahrung lehrt, daß es Kranke gibt und 
stets geben wird, die wie jener Monsieur Hargon in Moliöres „Malade 
imaginaire“ nicht aus den Klagen berauskommen würden, einmal weil 
sie in hypochondrischen Wahnideen befangen sind und andrerseits die 
gewiß verständliche Tendenz gegeben ist, aus dem Unfall eine möglichst 
hohe Rente herauszuschlagen. Daneben aber gibt es zweifellos, wenn 
auch entschieden in der Minderheit, Kranke, die wirklich objektiv an 
erheblichen Beschwerden leiden. Daraus resultiert die Regel, am besten 
den Mittelweg einzuschlagen. 

Nach diesen medizinischen Vorfragen kommen wir jetzt zu dem 
eigentlichen Thema: der Stellung der traumatischen psychopathischen 
Konstitutionen in der forensischen Psychiatrie. Ein Fall, der uns 
treffend beweist, wie solche Individuen auch mit dem Strafgesetzbuch 
in Konflikt geraten können, zeigt der zweite von Pohrt mitgeteilte 
Fall, aus dem nur das Wichtigste hervorgehoben werden soll. 

Es handelt sich um einen 45jährigen verheirateten Schutzmann. 
Bei dem Pat. war keine hereditäre Belastung festzustellen. In der 
Schule kam er gut mit. Potus: 2 Flaschen Bier täglich, gelegent¬ 
lich auch etwas mehr. Beim Militär ist er einmal mit Arrest bestraft 
worden. Nach Beendigung seiner Dienstzeit erhielt er zunächst eine 
Stelle als Straßenbahnschaffner und wurde dann Schutzmann. Mit 
seiner Frau hat er bis vor wenigen Jahren im besten Einvernehmen gelebt 


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Kriminalistische Aufsätze. 


199 


Die Anamnese ergibt, daß M. zweimal schwere Kopftraumen er¬ 
litten hatte: Das erste Mal drei Säbelhiebe über den Kopf. Danach 
war er zwei bis drei Tage bewußtlos und erbrach andauernd. Man 
soll angeblich das Gehirn durch die Wunde gesehen haben. Das 
zweite Trauma erlitt M. 23 Jahre später bei Ausübung seines Dienstes. 
Diesmal waren es nur Schläge. Bewußtlosigkeit trat nicht ein. 

t903 stellten sich bei ihm Zornanfälle ein in Zwischenräumen 
von etwa zwei bis drei Monaten. „Er bildete sich aber vorher erst 
etwas ein/ So führt die Frau zur Erklärung dieser Erregungszustände 
an. So kam er z. B. einmal zu ihr und sagte: Wem hast du die 
30 Mk. gegeben, die ich dir geben mußte? Was war das für ein 
Kerl? Die Frau stellt einen Vorgang, dem all dies Gerede etwa zu¬ 
grunde liegen könnte, energisch in Abrede. Wir haben es hier 
mit einem Zustande zu tun, der dem klinischen Bilde des sog. 
Eifersncbtswahns der Alkoholisten ziemlich nahesteht. Daß in der 
Tat der Alkoholgenuß eine gewisse Bolle bei dem Auftreten dieser 
Eifersuchtsideenspielte, geht aus der Angabe hervor, daß sich die Anfälle 
häuften und M. nicht nur seiner Frau sondern auch ihm unbekannten 
Personen Szenen nach reichlichem Alkoholgenuß machte. 

Trat schon in diesen Handlungen eine gewisse antisoziale Tendenz 
zutage, so ließ sich M. zu weiteren Taten hinreißen, die zum Teil 
direkt gegen gewisse Gesetzesparagraphen verstoßen. Es wird uns 
nämlich berichtet, daß er in der Nacht vom 4. zum 5. XI. 05 in die 
Wohnung seiner von ihm getrennt lebenden Frau eindrang, diese gegen 
die Wand stieß, die Fenster zertrümmerte und sich schließlich auf 
Zureden seiner Tochter aufs Sofa legte. Dann schlief er ein. Als 
er erwachte, fing er von neuem an zu toben, schlug seine Frau mit 
einem Bierglas und warf ihr mehrere Gläser nach. Über die ge¬ 
schilderten Vorgänge vernommen, gibt M. an, er habe in der be¬ 
wußten Nacht eine große Unruhe verspürt und in einem traum¬ 
haften Zustand seine Wohnung verlassen. Über das, was weiterhin 
passierte, besteht totale Amnesie. Offenbar hat sich M. des Haus¬ 
friedensbruchs und des tätlichen Angriffs auf die Ehegattin schuldig 
gemacht. Leider war nicht zu ermitteln, ob er in der betreffenden 
Nacht unter dem Einfloß des Alkohols gestanden bat 

Einige Zeit darauf tauchen die Eifersuchtsideen in anderem Ge¬ 
wände wieder auf. Er stellt seine Frau vor Dritten zur Rede, weil 
sie ihn angeblich mit einem Bauern bintergangen habe und fragt 
sie: „Du Emma wie heißt der Kerl doch gleich?“ Als ihm darauf 
die Tochter erwiderte, er sei wohl von Sinnen, schlug er sie so heftig 
ins Genick, daß sie Nasenbluten bekam. 


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200 


VI. Kürt Boas 


Wir wollen hier wieder einen Augenblick haltmachen, um zu 
konstatieren, wie weit M. schon auf die abschüssige Bahn des Ver¬ 
brechens geraten ist. Erst treten Eifersuchtsideen auf, die durch 
kleine Zufälligkeiten, aus denen der Eifersuchtswahnsinnige den Stoff 
und Inhalt seiner Ideen hernimmt, begünstigt allmählich feste Gestalt 
annehmen und das ganze Affektleben einerseits und andrerseits das 
Krankbeitsbild beherrschen. Ihn beschäftigt unausgesetzt der quälende 
Gedanke, seine Frau hinterginge ihn und in der plumpesten für den 
Alkoholiker charakteristischen Form stellt er ihr immer wieder die 
stereotype Frage, „wer der Kerl doch gleich sei.“ Er müsse ihn 
doch kennen. Seine Frau, die die Unmöglichkeit eines ehelichen 
Zusammenlebens mit ihm einsieht, verläßt ihn mit ihren Kindern. 
Anfangs läßt er seine Familie unbehelligt, bis er vermutlich wiederum 
unter Alkoholwirkung stehend nachts bei seiner Frau Eintritt begehrt 
und als ihm derselbe verweigert wird, durch Anwendung roher Ge¬ 
walt erzwingt. Er vergreift sich an seiner Frau tätlich, bis er schlie߬ 
lich dem Zureden seiner Tochter nacbgibt und sich schlafen legt, 
nachdem er noch vorher seiner Zerstörungswut hat die Zügel schießen 
lassen. Einige Wochen darauf — man könnte fast von periodischem 
Eifersuchtswahn sprechen — steht er wieder unter dem übermächtigen 
Bann der Wahnvorstellungen, macht seiner Frau in Gegenwart Dritter 
die schwersten Vorwürfe und wird gegen seine Tochter, die ihn ge¬ 
bührend in die Schranken zurückweist, aggressiv in einer Weise, die 
zum mindesten hart an Körperverletzung grenzt. 

Also um den Entwicklungsgang der Straftaten, die wir uns eben 
noch einmal psychologisch klar zu machen versucht haben, noch einmal 
kurz zu wiederholen: Eifersuchtswahn, Hausfriedensbruch, Körper¬ 
verletzung. 

Sein Zustand verschlimmerte sich nun so sehr, daß er am 
3. X. 05 plötzlich aus dem Dienste lief in dem Glauben, seine 
Frau sei ihm untreu. Es war ihm so, als wenn ihm jemand sagte, 
er solle zu seiner Frau geben, um sich zu überzeugen, ob sie ihm 
treu sei. Worte habe er zwar nicht gehört. Er wurde deswegen 
in Strafe genommen. 

In dieser Affäre stellt sich der erste offene Konflikt mit dem 
Disziplinargesetz, dem er als Schutzmann untersteht, dar. Die Eifer - 
BuchtsVorstellungen nehmen jetzt so gewaltig überhand, daß M. im¬ 
perative Stimmen zu hören glaubt. 

Weiter heißt es, er solle eines Tages in einer Droschke bei einer 
Bäckerei vorgefahren sein und den Lehrling mit einem Trinkgeld zu 
dem nebenan wohnenden Schankwirt mit dem Aufträge geschickt 


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Kriminalistische Aufsätze. 


801 


haben, ihm Bier zu holen. Als eine Frau nun den Entsoher auf¬ 
forderte, er möchte doch den betrunkenen Schutzmann nach Hanse 
fahren, stürzte M. auf die Frau, zerriß ihr einen Ärmel and schlug 
nach einem der Frau zu Hilfe kommenden Lehrling mit dem Säbel 

Nach Angabe der Frau weint er täglich, ohne ein Motiv dafür 
angeben zu können. Ferner klagt sie über seinen unsoliden Lebens¬ 
wandel und hänfige Mißhandlungen. Im Gegensatz dazu steht ein 
Bericht eines Vorgesetzten, der M. als pünktlich, verträglich, willig 
and nüchtern schildert. Diese Angaben stehen im krassesten Gegensatz 
za denen seiner Frau, die man nicht ohne weiteres als übertrieben oder 
gar erfanden abweisen kann. Jedenfalls scheint festzustehen, daß 
M.s Alkoholkonsum erheblich größer war als er angibt und daß seine 
Zornaffekte und sonstigen Ausschreitungen vermutlich auf das Konto 
des Alkohols zu setzen sind. Dieses Moment sieht Pohrt jedoch nur 
als sekundäres, als das auslösende an. Das Trauma hat die Alkohol¬ 
intoleranz einerseits erheblich gemindert wie es andrerseits wahrschein¬ 
lich erst den ausgesprochenen Hang zum Trinken geweitet hat. 
Die Zornanfälle deutet Pohrt als für die „traumatische psycho¬ 
pathische Konstitution“ charakteristisch. Der Patient gibt seinen Zu¬ 
stand selbst als traumhaft an und kann sich der ihm zur Last gelegten 
Vorgänge nicht entsinnen. Endlich treten traumhafte Vorstellungen 
aof, so daß Pohrt diesen Symptomenkomplex in seiner Gesamtheit 
als Affektdämmerzustände bezeichnet. 

Ein weiterer von Pohrt mitgeteilter Fall, der gleichfalls neben 
dem rein psychiatrischen Befund noch einen interessanten forensen 
aufweist, betrifft einen 37 jährigen Pferdeverleiher. Derselbe hat ein¬ 
mal einen schweren Unfall erlitten, indem uns berichtet wird, daß 
ihm angeblich ein Maschinenteil von 10—14 Pfund Schwere aus 30 
bis 40 cm Höhe auf den Nasenrücken und die linke Kopf hälfte fiel. 
Am Kopf fand sich eine kleine Wunde, die Nase war „abgeschunden“. 
Keine Bewußlosigkeit, kein Erbrechen, leichter Schwindel. Infolge des 
Unfalles mußte L. seinen Beruf als Maschinentischler mit dem eines 
Pferdeverleihers vertauschen. 

Bei der Aufnahme macht L. einen auffallend mißmutigen und 
gedrückten Eindruck und gibt auf Befragen nach dem Grunde seiner 
Mißstimmung an; er fühle sich von Schutzleuten fortwährend be¬ 
lästigt und benachteiligt. Er sei deswegen an sie herangetreten und 
habe sie gefragt, was sie von ihm wollten; dabei wäre er ausfallend 
geworden und hätte sie beschimpft. So habe er es etwa fünfzehnmal 
getrieben und die Folge davon war, daß er für Beleidigungen in 
Summa etwa 80 Mark hätte zahlen müssen. Er habe eine Wut auf 


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202 


VJ. Kurt Boas 


die Schutzleute. Er hält sich selbst für zanksüchtig und immer zum 
Schlagen bereit, meint aber zu seiner Entschuldigung, er könne nichts 
dafür. Auch seine Frau und seine Kinder hätten viel von ihm aus¬ 
zustehen und würden von ihm geschlagen. Er hat die Empfindung, 
als wenn die Leute auf der Straße ihm aus dem Wege gingen und 
über ihn sprächen, was ihn wütend mache. Diese Erscheinungen 
sollen sich sechs Jahre nach dem Unfall eingestellt haben, bis dahin 
ist er angeblich ganz friedfertig gewesen. 

Während der Beobachtungszeit in der Klinik trug er ein mi߬ 
mutiges, manchmal auch weinerliches Wesen zur Schau. Bei einer 
geringfügigen Untersuchung in der Nasenklinik brach er in jammer¬ 
volles Weinen aus und äußerte, er müsse sich Wasser über den Kopf 
laufen lassen, um ruhig zu werden und nicht alles kurz und klein 
zu schlagen. Dabei zitterte er am ganzen Leibe. Nach einer halben 
Stunde bat er wegen seines Benehmens höflich um Verzeihung, er 
könne nichts dafür. 

Etwa ein halbes Jahr nach seiner Entlassung suchte er wieder 
die Klinik auf. In der Zwischenzeit konnte er angeblich nur 2 bis 
3 Tage in der Woche arbeiten, da er mit den Kunden wegen seiner 
Aufgeregtheit nicht einig werden konnte. Voller Verzweiflung gab 
er dann Anfang Dezember sein Geschäft auf. Mit Polizisten ist er 
wiederholt in Konflikt geraten und hat angeblich 200 Mark Geldbuße 
bezahlen müssen. Er hat angeblich unsinnige Einkäufe gemacht: so 
kaufte er Pferde, wenn er keine nötig hatte; er schaffte ein Klavier an, 
obgleich keines seiner Angehörigen Klavier spielen konnte. Er be¬ 
zeichnet sich selbst als aufgeregt, zänkisch und unverträglich. Er 
kann angeblich nicht mehr richtig schreiben, rechnen und sprechen. 
Öffentliche Vorträge, wie er es früher getan, konnte er nicht mehr 
halten. Er ist vergeßlich geworden, er weiß nicht mehr, wo er seine 
Sachen hingelegt hat. Er hat angeblich unter Einkaufspreis verkauft, 
da er diesen vergessen batte. Er ist, wie er angibt, lebensüberdrüssig. 
Bei einem Termin habe ihm der Staatsanwalt einen Revolver abnehmen 
lassen. Der Geschlechtstrieb ist erloschen, während die Potenz er¬ 
halten ist 

Die Intelligenzprüfung gestaltete sich folgendermaßen: 


Sprechen Sie die Zahlen nach 5 8 3 2 9 7 
„ * * „ „ 4 6 319 5 8 


Nennen Sie die Monate rückwärts. 


5 8 3 2 9 7 
4 1 3 6 2 9 8 
Dezbr., Novbr., Oktober, 
Septbr., August, Juni, 
Juli, Mai, März, April, 
Februar, Januar. 


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Kriminalistische Aufsätze. 


203 


See ist tiefer wie der 
Fluß. See ist Wasser, 
das von nuten zufließt. 
Fluß ist Wasser, das 
eine Quelle hat. 

91 

11 

51 

35 (schnell) 

N/ 

12 

14 
22 

Nach einem Jahre etwa wurde L. zum drittenmal in die Klinik 
aufgenommen. Angeblich hat er vor vier Wochen Mäuse gesehen, 
ohne daß solche in Wirklichkeit vorhanden waren. Er gibt wieder 
an, von der Polizei ungerecht behandelt zu werden. Nach dem Grunde 
gefragt, meint er: Sie müssen vielleicht der Polizei schmeicheln, ich 
nicht Auf die Frage, warum die Richter gegen ihn parteiisch seien, 
(wie er es angegeben batte) erwidert er: Weil ich eine andere Welt¬ 
anschauung habe. Welche denn? Die bestehende Gesellschaftsordnung 
mit Gewalt zum Umsturz zu bringen. Hinsichtlich seiner oben an¬ 
geführten unsinnigen Einkäufe äußert er: Er sähe daraus, daß er 
nicht normal sei. 

Nachzutragen sind noch die Angaben der Frau, die vor dem Un¬ 
fall nichts Abnormes an ihrem Mann entdeckt zu haben vermeint 
Nach dem Unfall sei er furchtbar reizbar und mißhandle sie und die 
Kinder bei den geringsten Kleinigkeiten. Für das Nachlassen seines 
Gedächtnisses, das deutlich auf ein Merkdefekt hinweist, ist folgende 
Episode, die die Ehefrau erzählte charakteristisch: Er fährt auch 
immer verkehrt; wenn er nach der Alexandrinenstraße fahren soll, 
fährt er nach der entgegengesetzten Seite. 

In der Epikrise zu diesem Fall bemerkt Pohrt, das M.s Be¬ 
nehmen nach der Untersuchung in der Nasenklinik, die Angabe, der 
Staatsanwalt habe ihm auf einem Termin einen Revolver wegnehmen 
lassen, die Art und Weise wie er seine Weltanschauung schildert, 
den Anschein eines gewissen Kokettierens mit seiner Krankheit (?), 
einer Pose erwecken. Verfasser erklärt aber nicht damit mehrere Tat¬ 
sachen, die in auffallendem Widerspruch damit stehen und vielleicht 
eine andere Deutung zulassen. 

Wir erfahren aus der Anamnese nichts über Alkoholexzesse. 
Wenn wir dies als tatsächliches Geschehnis dennoch supponieren, so 


18 -f 17 — ? 
36 — 18 = ? 


Unterschied zwischen See und Fluß?. . . 


9 X 
3 X 


13 = 
17 = 


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204 


VI. Kübt Boas 


tun wir das im Hinblick auf die alltägliche Erfahrung, daß Pferde¬ 
händler (einmal gibt Verfasser Verleiher an) in Ausübung ihres Be¬ 
rufes außerordentliche Alkoholquantitäten zu sich nehmen müssen. 
Das liegt darin begründet, daß gewöhnlich derlei Geschäfte entweder 
direkt am Biertisch abgeschlossen werden, oder zum mindesten mit 
einer „Lage“ begossen zu werden pflegen. Die Annahme eines Alkobol- 
mißbrauches erklärt auch zwei Angaben, die mit der Erklärung des 
Verfassers absolut nicht in Einklang zu bringen sind. Zwei Symptome, 
die wir in exquisitestem Maße gerade bei Alkoholikern antreffen: 
den Blaukoller und das Sehen von Mäusen. Wer einmal die wirren 
Reden eines Deliranten (Delirium tremens) mit angebört hat, wird 
immer wieder der Angabe des Kranken begegnen, es spukten allerlei 
Tiere im Zimmer herum, er sähe deutlich Mäuse, könne auch deren 
Zahl genau angeben und dergleichen mehr. Selbst wenn das Delirium 
im Abklingen begriffen ist, bringen die Kranken immer noch wieder 
die Tiergeschichte vor und es fällt sehr leicht, sie durch suggestives 
Zureden von der Anwesenheit solcher zu überzeugen. 

Auch das Symptom der gesteigerten Reizbarkeit, auf das Pohrt 
mit Recht großen Wert legt, paßt in den Rahmen dieser Erklärung, 
und ebenso gliedern sich die anderen psychischen Eigenheiten zwanglos 
ein: die leichte aber anhaltende Depression (andauernd finsterer Ge¬ 
sichtsausdruck und seine Äußerung, er habe keine Freude mehr am 
Leben), der leichte Intelligenzdefekt, der sich zwar in der Intelligenz¬ 
prüfung nicht verrät, den wir aber zur Erklärung der unsinnigen 
Einkäufe heranziehen müssen. 

Das letztere Symptom gerade paßt gar nicht zu dem Bilde der 
Neurasthenia traumatica. Auf Intelligenzprüfungen bei Neurasthenikern 
ist wenig Wert zu legen, da der Neurastheniker bei seiner außerordent¬ 
lich leichten Ermüdbarkeit oftmals Fragen aus dem Wege gehen wird, 
bzw. sie ganz unbeantwortet lassen wird. Es gibt hochgebildete 
Neurastheniker, die bei dem Nachsprechen einer 5—6 stelligen Zahlen¬ 
reihe regelmäßig versagen werden. Hat man also in der Intelligenz¬ 
prüfung hier den richtigen Maßstab für das geistige Inventar? Da¬ 
gegen zeigen die unsinnigen Einkäufe, daß von Neurasthenie absolut 
nicht die Rede sein kann. 

Auf die paranoischen Symptome — M. hat die Empfindung, als 
wenn die Leute auf der Straße ihm aus dem Wege gingen — braucht 
nicht so viel Gewicht gelegt zu werden. Sie können auch bei Neur¬ 
asthenie Vorkommen, oft redet sich der Neurastheniker ein, er sei 
bei allen unbeliebt usw. 

Ein vierter Fall, über den Pohrt berichtet, bietet kein forensisches 


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Kriminalistische Aufsätze. 


205 


Interesse, ist auch ätiologisch sehr anfechtbar, indem hier gleichzeitig 
Potns, Lnes, Bronchialkatarrh nnd ein leichtes Tranma vorliegen 
und es infolgedessen schwer zu entscheiden ist, ob die bestehenden Er¬ 
regungszustände sich allein auf das Tranma beziehen lassen, oder 
aber durch eine Summation aller vier Einzelursachen bedingt sind. 
Im Hinblick auf die Krankheitserscheinungen, die denen der vorher¬ 
erwähnten Fälle außerordentlich ähneln, spricht Pohrt auch hiervon 
„traumatischer psychopathischer Konstitution". 

Eindeutiger ist der fünfte Fall, wo ein 34jähriger Tischler im 
Anschluß an ein Trauma sehr reizbar und schließlich auch kriminell 
wurde (Mißhandlung eines Fremden. Verurteilung zu 30 Mk. Geld¬ 
strafe). Besonders bemerkenswert ist in diesem Fall die Interessen¬ 
verdrängung. Während der Patient früher Vorsitzender des deutschen 
Holzarbeiterverbandes war, während er früher seine Zeitung mit In¬ 
teresse las, beherrscht jetzt nur noch der Kampf um die Rente seinen 
Ideenkreis. 

Um noch einmal mit Pohrt die charakteristischen Symptome 
der „traumatischen psychopathischen Konstitution" zusammenzufassen: 
pathologische Reizbarkeit mit großer Neigung zu Zornhand- 
lungen, bei welcher Desorientiertheit und nachfolgende Amnesie höheren 
oder geringeren Grades beobachtet werden; Weinerlichkeit, rasch 
eintretende geistige Ermüdbarkeitund Sinken der Konzentrations¬ 
fähigkeit der Aufmerksamkeit, als deren Folge Schwäche der Merk¬ 
fähigkeitauftritt; in ausgebildeten Fällen ein leichter Intelligenz¬ 
defekt mit Abnahme der Interessen und der Urteilsfähigkeit gegen 
früher; schließlich eine anhaltende mäßige Depression, die aber 
nicht so hochgradig ist, als daß sie zum Selbstmord führte. 

Die Depression erklärt sich Pohrt namentlich im Anschluß an 
den fünften Fall psychologisch folgendermaßen: 

Der Traumatiker erkrankt zumeist aus voller Gesundheit heraus, 
er muß wegen der Unfallverletzungen öfter auf längere Zeit das Bett 
hüten, es stellen sich quälende nervöse Symptome ein, er gerät in 
Nabrungssorgen für sich und oft auch für seine Familie, tröstet sich 
schließlich mit der Aussicht auf Rente. Es kommt schließlich zur 
Festsetzung einer Rente, die geringer ausfällt als er gedacht hatte. 
Er sieht darin bösen Willen oder Verkennen seiner, wie er glaubt, 
schweren Erkrankung. Er legt Berufung ein und erhält vielleicht 
eine etwas höhere Rente, sie dünkt ihm aber noch nicht hoch genug, 
er legt wieder Berufung ein, sie wird vielleicht wieder herabgesetzt 
Durch die immer neuen Untersuchungen wird er fortwährend auf 


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206 


VI. Kurt Boas 


seine Beschwerden *) hingelenkt, und es stellt sich schließlich eine hypo¬ 
chondrische Betrachtung desselben ein. 

Mit Recht bemängelt Pohrt, daß der geschilderte Symptomen- 
komplex der traumatischen psychopathischen Konstitution an einem 
bedauerlichen Mangel an Einheitlichkeit leide, insofern als ein oder 
eine beschränkte Anzahl von die Symptomatologie beherrschenden 
Symptomen fehlt, daß also die traumatische psychopathische Konsti¬ 
tution als bunte Mischung von Symptomen erscheint, die streng wissen¬ 
schaftlich die Zusammenfassung zu einem einheitlichen Krankheitsbild 
nicht gestatten. Diese Buntheit der Symptomatologie ist bedingt durch 
die Verschiedenartigkeit der für das Trauma in Betracht kommenden 
ätiologischen Faktoren, nämlich: 

1. das Trauma mit oder ohne nachfolgende Kommotionserscbei- 
nungen; 

‘2. der mit dem Trauma verbundene Schreck. 

3. Die Begehrungsvorstellungen und der Kampf um die Rente. 

Welcher der drei Faktoren der ausschlaggebende ist, ist selbst 
im Einzelfall schwer zu entscheiden. 

Die Schwere des Traumas scheint auf die Schwere der Er¬ 
krankungen keinen sonderlichen Einfluß zu haben, da auch Fälle von 
Trauma ohne unmittelbare Kommotionserscheinungen zu einer „trau¬ 
matischen psychopathischen Konstitution“ führen. Hier würde nur die 
Untersuchung von Traumatikergehirnen zu einer definitiven Klärung 
der Frage führen. 

Die Frage nach der Bewertung des Schreckens könnte nur 
durch Sammlung solcher Fälle, in denen allein durch den Schrecken 
eines drohenden Traumas eine typische psychopathische Konstitution 
ausgelöst worden wäre, ihrer Lösung entgegengebracht werden. Vor¬ 
läufig läßt sich darüber nur soviel aussagen, daß vermutlich der 
Schrecken eine sehr wesentliche Rolle spielt 

Ganz besonders schwierig dürfte sich die Bewertung des Renten¬ 
kampfes und der damit Hand in Hand gehenden Begehrungsvor¬ 
stellungen gestalten. Hier muß zunächst eine peinliche Scheidung in 

1) Mit welchem Raffinement die Kranken oft dabei zu Werke gehen, da¬ 
von konnte ich mich in der Ziehen sehen Klinik selbst einmal überzeugen. Es 
handelte sich ebenfalls um einen Pat., der zwecks Rentenfestsetzung der psychia¬ 
trischen Klinik in Berlin zur Begutachtung zugewiesen war. Bei demselben 
wurden regelmäßig dynamometrische Untersuchungen vorgenommen, in deren 
Verlaufe sich der Pat. eine solche Routine aneignete, daß er mit der einen ge¬ 
sunden Hand normale Dynamometerwerte zeigte, während die andere gelähmte 
auffallend geringe Werte ergab. Hier lag, wie Prof. Ziehen bestimmt annahm, 
eine bewußte routinierte Fälschung seitens des Patienten vor. 


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Kriminalistische Aufsätze. 


207 


dem Sinne vorgenommen werden, daß man von einem Einfluß auf 
die Entstehung der Krankheit, und der bestehenden Krankheit gesondert 
sprechen muß. Daß der Rentenkampf für die Entstehung der Krank¬ 
heit verantwortlich zu machen ist, ist wahrscheinlich. Dieser Einfluß 
darf aber nicht zu hoch veranschlagt werden. Der Fall 3, in dem 
die Krankheit vor dem Rentenkampf ausbricht, ist ein typisches Bei¬ 
spiel dafür, daß ein Zustandekommen einer „traumatischen psycho¬ 
pathischen Konstitution“ auch ohne diesen dritten Faktor möglich ist. 

Worin besonders die Gefahr des Rentenkampfes und der damit un- 
auslöslich verbundenen Begehrungsvorstellungen liegt, ist vielmehr, 
daß sie den Patienten nicht zur Ruhe kommen lassen und schlechter¬ 
dings jeden therapeutischen Erfolg vereiteln. Daher immer wieder 
das neue Suchen von Symptomen usw. 

Die Gründe, die P o h r t veranlassen trotz des „Unbehagens des 
Wissenschaftlers“ der traumatischen psychopathischen Konstitution gegen¬ 
über daran festzuhalten, führt er in folgenden Sätzen an. 

„Diese Berechtigung liegt in dem Bedürfnis, gewissermaßen eine 
Rubrik für einen häufigen, nach Trauma auftretenden Symptomen- 
komplex zu haben, den man unter einen anderen Diagnose nicht 
ohne Zwang unterbringen kann. Sie findet die Berechtigung also in 
praktischen Gründen und dient gewissermaßen Ordnungszwecken, 
ist damit eine Etappe auf dem Wege zur Gewinnung eines festen 
Maßstabes zur Bewertung einer Erwerbsbeschränkung psychisch¬ 
erkrankter Traumatiker und damit geeignet zur Einschränkung des 
Rentenkampfes beizutragen.“ 

Zum Schluß gibt P o h r t eine kurze Differentialdiagnose gegen die 
Hysterie, Neurasthenie undHysteroneurasthenie,die ich kurz andeuten will. 


Symptomenkomplex der „traumatischen 
psychopathischen Konstitution“ entlehnt aus der 


Hysterie 

Reizbarkeit, W einerlich- 
keit Depression, Herab¬ 
setzung der Konzentra- 
fähigtionskeit. 

Neurasthenie 
Pathologische Reizbarkeit, 
rasche körperliche und 
geistige Ermüdbarkeit, Sin¬ 
ken der Konzentrations¬ 
fähigkeit, Gedächtnis¬ 

schwäche. 

Hy8teroneuras thenie 

Es fehlt das wichtige 
Symptom der Suggestibili- 
täL 

Es fehlt im Bilde der| 
Neurasthenie die gleich¬ 
mäßige Depression und 
der in manchen Fällen 
leichte Intelligenzdefekt 

Es fehlen ein leichter 
Intelligenzdefekt und die 
eine große Rolle spielenden 
Zornhandlungen. 


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208 


VI. Kürt Boas 


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Zum Schluß möchte ich noch auf die Beziehungen zwischen 
„traumatischer psychopathischer Konstitutionund Que¬ 
rulanten wahn *) kurz eingehen. Der Kampf um die Rente, den 
manche Unfallspatienten bis aufs Messer führen, wird ihnen oft genug die 
Feder in die Hand drücken, um sich in allerlei Eingaben an die be¬ 
treffenden Behörden zu wenden. Wie leicht da die Möglichkeit des 
Zustandekommens eines Querulantentums — wobei freilich ein starker 
Intelligenzdefekt an Dementia traumatica grenzend Voraussetzung ist — 
gegeben ist, liegt auf der Hand und es wird jedenfalls gut sein, den 
Zusammenhang der krankhaft übertriebenen Angaben, denen nichts 
Tatsächliches zugrunde liegt und die von Ausfällen und Beleidigungen 
Strotzen, mit traumatischer psychopathischer Konstitution, insbesondere 
hinsichtlich des Rentenkampfes wenigstens in Erwägung zu ziehen. 

Literatur. 

1. Binswanger, Pathologie und Therapie der Neurasthenie. Jena 1S96. 

2. Heilig, Fabrikarbeit und Nervenleiden. Beitrag zur Ätiologie der 
Arbeiterneurosen. Inaugural-Dissertation Berlin 1908, 85 Seiten. 

3. M. Laehr. Die Nervosität der heutigen Arbeiterschaft Allgemeine Zeit¬ 
schrift für Psychiatrie Bd. 66. S. 1, 1909. 

4. Pohrt, Beitrag zur Lehre von den traumatischen psychopatischen Kon¬ 
stitutionen. Inaugural-Dissertation Berlin 1909, 30 Seiten. 

5. W. Schmidt, Ätiologische Betrachtungen bei nervösen Erkrankungen von 
Militäranwärtera im späteren Zivilberuf. Inaugural-Dissertation Berlin 1908, 28 Seiten. 

6. Schönhals, Über die Ursachen der Neurasthenie und Hysterie bei 
Arbeitern. Inaugural-Dissertation Berlin 1906, 28 Seiten. 

7. Ziehen. Zur Lehre von den psychopathischen Konstitutionen. Charite- 
Annalen 1905—1910. 

8. Ziehen, Lehrbuch der Psychiatrie, Ieipzig 1907. S. Hirzel. 

Nachtrag. 

Die Arbeit von Patv und Cbaumier „Psychoses li£es aux accidents de 
travaiP Lyon medical CIX p. 937, D6c., 8 war mir weder im Original noch im 
Referat zugänglich. 


III. Ein Fall von Saliromanie. 

Im Hinblick auf einen kürzlich von van Waveren 2 ) mitge¬ 
teilten Fall dürfte ein analoger in Berlin beobachteter von einigem 
Interesse sein, zumal er einige bemerkenswerte Besonderheiten aufweist. 

In der letzten Zeit wurden die hellen Kleider zahlreicher Frauen 
auf der Straße von einem Unbekannten beschmutzt, aber nicht mit 

1) Siehe auch die Bemerkungen oben auf p. 196. 

2) van Waveren, Ein Fall von Saliromanie, dieses Archiv 1909, Bd. XXXVI. 


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Kriminalistische Aufsätze. 


209 


Tinten oder scharfen Säuren, mit denen die sog. Säurespritzer sonst 
zu spritzen pflegen, sondern mit einer weniger scharfen Flüssigkeit. 
Der Verdacht der Kriminalpolizei lenkte sich sofort auf einen Mann, 
der ihr schon lange bekannt war. Es ist das ein wiederholt vorbe¬ 
strafter Handwerker, ein sehr nüchterner, ordentlicher und fleißiger 
Mann, der stets Arbeit hat und allem Anschein nach unter einem 
unwiderstehlichen Drange handelt Als er zum letzten Male vor 
Gericht stand, wurde er nicht mehr mit Gefängnis, sondern nur wegen 
groben Unfugs mit 30 Mark Geldstrafe bestraft Er versprach alles 
zu tun, um von seiner Neigung geheilt zu werden und ließ sich 
vorsichtshalber immer von seiner Frau nach der Arbeitsstelle und 
nach Arbeitsscbluß von dort nach Hause begleiten. Solange das 
möglich war, geschah nichts und schon glaubte er, daß er geheilt 
sei. In den letzten Tagen war seine Frau in ihrer Häuslichkeit so 
in Anspruch genommen, daß ihr die tägliche Begleitung ihres Mannes 
nicht mehr möglich war. Infolgedessen war der Kranke doppelt 
vorsichtig. Alle Flüssigkeiten, die ihm zu Hause oder auf der Arbeits¬ 
stelle zu Gebote standen, stellte er, sobald er die Straße betreten 
mußte, sorgfältig aus der Hand. Trotz aller Mühen gelang es ihm 
nicht, einen erneuten Rückfall zu verhüten. Zu seinem Unglück 
„priemte“ er. Wenn ihn seine Krankheit befiel, d. h., wenn er Mädchen 
in hellen, besonders in weißen Kleidern sah, so sammelte er den 
Speichel mit dem Saft des Kautabaks im Munde und 
spritzte ihn auf die Kleider. Als er eines Tages keinen 
Priem hatte, lief er an einen Wagen heran, entnahm mit 
dem Finger der Axe etwas Schmiere, und beschmutzte 
damit das Kleid einer Dame. Vor der Kriminalpolizei, die 
durch Beobachtungen zwei Fälle festgestellt hatte, legte er gestern ein 
Geständnis ab und wurde dann wieder entlassen. Der Unglückliche 
läßt sich jetzt wieder von seiner Frau zur Arbeit begleiten. Er ist 
Bchon wiederholt in Anstalten gewesen, aber alle Heilungsversuche 
sind bis jetzt erfolglos geblieben. Nach dem Gutachten der Irrenärzte 
ist er nicht geisteskrank. — 

So häufig Fälle von Sachbeschädigungen aus sadistischen Motiven 
Vorkommen, so interessant sind doch die Mittel, deren sich die Täter 
bedienen. Wulffen 1 ) hat eine kleine Kollektion solcher Fälle zu- 
sammenge8tellt, in denen wie in dem vorstehenden ebenfalls keine 
Säuren bei der Ausübung des Attentates zur Anwendung kamen, 

1) Wulffen, Encyklopädie der modernen Kriminalistik, Bd. VIII. Der 
Sexual-Verbrecher, Berlin-Groß-Liehterfelde, 1910, S. 337. Verlag Dr. P. Langen- 
scheidt 

Archiv für Krimiiudanthropologie. 40. Bd. 14 


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VI. Kuht Boas 


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sondern relativ harmlosere Substanzen, z. 6. Ruß oder Tinte. Einer 
seiner Fälle ist dem unserigen so analog, daß man, zumal der Name 
des Täters in beiden Fällen nicht oder nur mit den Anfangsbuchstaben 
genannt ist, beinahe auf den Gedanken kommen könnte daß man es in 
beiden Fällen mit demselben Täter zu tun bat In dem Falle Wulffen 
lag nämlich die Sache so, daß ein alter Tintenspritzer — Arbeiter 
von Beruf — von der Kriminalpolizei verhaftet wurde. Derselbe ist 
wiederholt bestraft, zuletzt aber als krank erkannt worden und in 
einer Irrenanstalt gewesen. (NB. Aus diesem Berichte geht nicht 
klar und deutlich hervor, ob sich bei dem Patienten nur die Neigung 
zu Tintenattentaten als solche als krankhaft herausgestellt hat, oder 
ob etwa bei ihm das Vorliegen einer geistigen Erkrankung festgestellt 
wurde, die seine wiederholten Konflikte mit dem Strafgesetzbuch 
hinreichend erklären könnte. B.). Aus der Anstalt entlassen, wurde 
er von seiner Frau überwacht Diese brachte ihn zur Arbeitsstelle 
und holte ihn von dort wieder ab. Er entschlüpfte ihr aber und be¬ 
spritzte in der Lützowstraße einer Dame das Kleid. Auf die Hilfe¬ 
rufe der Dame entfloh er, wurde aber eingebolt und nach der Revier¬ 
wache gebracht. 

Die Psychologie der Säurespritzer (Saliromanen) zeigt viele ge¬ 
meinsame Züge mit derjenigen der sadistischen Messerstecher und es 
besteht zweifellos eine innige Verwandtschaft im Denken und Fühlen 
zwischen diesen beiden Vertretern der sadistischen Triebsrichtung. 
Alle die von Näcke 1 ) beschriebenen psychologischen Merkmale der 
sadistischen Messerstecher lassen sich uneingeschränkt auch auf die 
Saliromanen übertragen und eine nach ähnlichen Prinzipien angestellte 
Umfrage, wie Näcke sie zur Erforschung der Psychologie der 
sadistischen Messerstecher unternommen hat, würde dieselben Er¬ 
gebnisse liefern. 

Die psychologische Analyse der Saliromanie deckt sich ebenfalls, 
was die Person der Opfer betrifft, mit der der Messerstecherattentate. 
Alles, was Näcke hier als wesentlich für das Zustandekommen der 
strafbaren Handlung anführt, muß Wort für Wort unterschrieben 
und bestätigt werden. Die Täter gehen mit großem Raffinement 
vor. Die Person, gegen die sich ihr Attentat richtet, ist ihnen nicht 
etwa gleich, sondern sie machen sich nur an solche weibliche Personen 
heran, von denen sie sich angezogen fühlen. So kommt es, daß 
Näcke sehr oft jüngere Frauenspersonen den sadistischen Messer¬ 
stechern zum Opfer fallen sah, denen jugendliche in ungefähr dem- 

1) Näcke, Zur Psychologie der sadistischen Messerstecher. Dieses Archiv 
1909, Bd. XXXV, S. 343. 


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Kriminalistische Aufsätze. 


211 


selben Alter stehende Täter entsprachen. In unserem Falle ist uns 
leider nichts über das Alter des Kranken und des Opfers mitgeteilt 
Wie stets stellt sich die Handlung bei genauerer Analyse als ein Ge¬ 
misch von Sadismus und Fetischismus dar, bei dem freilich die 
sadistische Komponente stark überwiegt Indessen ist auch ein ge¬ 
wisser fetischistischer Zug bei diesen Handlungen nicht verkennbar und 
tritt fast immer bei näherer Betrachtung zutage. Bei den sadistischen 
Messerstechern liegt nun die Sache insofern etwas anders, als die 
Attentäter die Verletzung sexueller Zonen, also Mamma, Genitalien, 
Unterleibsgegend, besonders bevorzugen. Bei den Saliromanen scheint 
dies wegzufallen und die Täter begnügen sich mit der Ausübung 
von Flüssigkeitsattentaten, ohne besonders die Beschmutzung der 
erogenen Zonen im Auge zu haben. Der fetischistische Zug bei der 
Saliromanie scheint mir darin zu liegen, daß die Täter einer be¬ 
sonderen Kleidung den Vorzug zu geben scheinen. Besonders scheint 
die weiße Kleidung einen Anreiz auf sie ausüben, vielleicht bängt 
damit die Tatsache zusammen, daß zur Sommerszeit die Säureattentate 
an Häufigkeit zunehmen. Man kann also die Saliromanie als 
eine komplizierte fetischistische Handlung auffassen. Der Fetischist 
setzt sich, wie wir dies bei Besprechungen der Fälle von Walther 1 ) 
Aronsohn 2 ) und Pilf 3 ) gesehen haben, in harmloser Weise z. B. 
durch Kauf oder nötigenfalls mit Gewalt z. B. durch Diebstahl oder 
Betrug in den Besitz der Kleidungsstücke, die ihm eine sexuelle 
Befriedigung bedeuten. Der Saliromane hiergegen bat keinen anderen 
sexuellen Wunsch, als die Beschmutzung der Opfer. 

Die beiden Verbrechen unterscheiden sich namentlich in der 
strafrechtlichen Beurteilung. Die Säureattentate werden als Sachbe¬ 
schädigung oder Beleidigung aufgefaßt, und nach den dafür geltenden 
gesetzlichen Bestimmungen mit Gefängnis, in leichteren Fällen bei 
offenkundiger krankhafter Neigung des Täters sogar nur mit Geld¬ 
strafe geahndet, während der sadistische Messerstecher in jedem Falle 
eine Bestrafung wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu gewärtigen 
bat, die eventuell unter Berücksichtigung der besonderen vorliegenden 
Motive leichter ausfallen kann. Mit der Bestrafung der Täter ist 
leider nicht alles getan, sondern es gilt die Gesellschaft gegenüber 


1) Walther, Fetischismus und Psychose. Inaugural-Dissertation Rostock 
LM. 1905. 

2) Aronsohn, Ein seltener Fall von perverser Sexualbetätigung. Deutsche 
med. Wochenschrift 1901, Nr. 4. 

3) Pilf, Ein eigenartiger Fall von Fetischismus, Zeitschrift für Medizinal¬ 
beamte 1909, Nr. 16. 

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VI. Kübt Boas 


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solchen Individuen zu schützen und es tritt die Frage auf: Wie 
können wir uns vor solchen Individuen schützen? Nun, gerade die Fälle 
von Saliromanie haben uns gezeigt, daß es einen solchen Schutz nicht 
gibt und daß die Besserung resp. die Zurückdämmung der perversen 
Neigung jeden Augenblick durch das Eintreten vorher unberechen¬ 
barer Faktoren illusorisch gemacht werden kann. Wir haben gesehen, 
daß die Täter ihr möglichstes zu ihrer Gesundung getan, daß sie sich 
bemüht haben ihre anormale Triebsrichtung wieder in normale 
Bahnen zu leiten. Wie schwer das ist, lehrt der Fall von Aronsohn 
in dem es trotz hypnotischer und psycho-analytischer Behandlung 
nicht gelang, dem Patienten seine normale Triebsrichtung wieder zu 
geben. Andrerseits wäre es eine große Härte, solche Kranke durch 
dauernde Internierung in einer Irrenanstalt unschädlich zu machen. 
Man wird sich in diesen Fällen nicht anders helfen können wie in 
dem obigen, indem man die Ehefrau anweist, ihren Ehemann stets 
und ständig zu überwachen. Daß freilich ein solcher Schutz nicht 
ausreicht, liegt klar auf der Hand und so haben diese Anordnungen 
die Ausübung weiterer Taten und neue Konflikte mit dem Straf¬ 
gesetzbuch nicht verhüten können. 

Zum Schluß noch einige Bemerkungen über die Säureattentate, 
die sich gegen männliche Personen richten und deren psychologische 
Analyse oftmals ernste Schwierigkeiten bieten wird. Sadistische 
Messerstecherattentate gegen männliche Individuen sind mir nicht be¬ 
kannt worden, was natürlich ihr Vorkommen nicht unbedingt aus¬ 
schließt. Bis jetzt hat man sich nicht die Mühe genommen, jeder 
Messerstecherei auf ihre Veranlassung nachzugehen, sondern begnügt 
sich mit der Aufnahme des Tatbestandes. Bei der Wichtigkeit der 
Frage, ob es auch sadistische Messerstecherattentate gegen Angehörige 
desselben Geschlechts gibt, wäre es angebracht, in Zukunft der 
psychologischen Seite solcher Fälle mehr Aufmerksamkeit entgegen 
zu bringen. Jedenfalls liegt hier zu den Säureattentaten, wie sie in 
der Tat mehrfach in der Literatur beschrieben sind, z. B. neuerdings 
von Wach holz 1 ), bisher ein Gegenstück nicht vor. Wie ich schon 
früher bemerkt habe, scheinen mir die Fälle des letztgenannten 
Autors der vollen Beweiskraft zu entbehren, weil sich hier die Atten¬ 
tate gegen Personen richten, die in einem gewissen Autoritäts- oder 
Kollegialitätsverhältnis zu den Tätern standen. So bandelt für ge¬ 
wöhnlich der Saliromane nicht, sondern bei ihm spielt der Zufall eine 
wesentliche Rolle. Wenn er eine ihm zusagende Kleidung sieht, 

1) Wachholz, Zur Lehre von den sexuellen Delikten. Vierteljahrsschrift 
für gerichtliche Medizin 1909, Bd. XXXVIII, S. 64 ff. 


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Kriminalistische Aufsätze. 


213 


kommt die krankhafte Neigung über ihn und er kann sich ihrer 
nicht erwehren. Wie ganz anders nehmen sich demgegenüber die 
von Wach holz berichteten, von ihm als homosexuell-sadistisch 
reklamierten Handlungen aus. Da ist zunächst von der fetischistischen 
Komponente, die wir oben als charakteristisch hervorgehoben haben, 
nicht die Bede, sondern das Attentat gilt in dem einen Fall dem 
entblößten Geschlechtsteil, in dem anderen liegt überhaupt m. E. nichts 
anderes vor als ein Ulk, dessen Folgen sich die betreffenden jungen 
Leute vorher nicht recht klar gemacht haben. Jedenfalls braucht man 
nicht mit zwingender Notwendigkeit, wie Wach holz es tut, in diesen 
Attentaten eine mit Homosexualität komplizierte sadistische Handlung 
zu erblicken. 


IV. Legalität der Fruchtabtreibung im künftigen Strafrecht 

oder nicht? 

In einem kürzlich erschienenen Aufsatz hat Kimmig 1 ) in die 
Debatte über die Stellung der Fruchtabtreibung im künftigen Straf¬ 
recht eingegriffen und ist dabei zu einer wesentlich anderen Auf¬ 
fassung gelangt als Näcke, an dessen Artikel er anknüpft. Kimmig 
hat den von Näcke für die Bestrafung der Fruchtabtreibung vor¬ 
gebrachten Argumente andere, wie er glaubt, schwerwiegendere gegen¬ 
übergestellt und ist auf diesem Wege zu einer Freigabe der Fruchtab¬ 
treibung gelangt Die Argumente, auf die er sich stützt, sind ver¬ 
schiedener Natur und infolgedessen nicht gleichwertig: Kimmig 
macht forensische, medizinische, biologische und soziologische Bedenken 
geltend, die eine Verurteilung der Bestrafung motivieren sollen. In 
einem Bedenken muß man ihm unbedingt zustimmen, nämlich daß 
die Fruchtabtreibung, wie es Marx 2 ) in eine klassische Form ge¬ 
kleidet hat, nichts anderes ist als die Prophylaxe des Kindsmordes. 
Die uneheliche Mutter, die zielbewußt ihr Kind aus der Welt schaffen 
will, wird den Kindsmord nicht skrupelloser finden wie die Frucht¬ 
abtreibung. Auch darin kann vom medizinischen Standpunkt aus 
beigepflichtet werden, daß die Zahl der Todesfälle durch sachgemäß 
vom Arzte ausgeführte Aborte eine Verminderung erfahren wird. 

Aber die Kehrseite der Medaille bat Kimmig leider vollständig 
übersehen, nämlich die Mißbräuche, die sich aus der Freigabe der 
Fruchtabtreibung mit Notwendigkeit ergeben müssen. Es wird heute 

1) Kimmig, Strafrechtsreform und Abtreibung. Dies Archiv 1910, Bd. 
XXXVI, S. 513. 

2) Marx, Über kriminellen Abort. Berl. klin. Wochenschrift 1908, Nr. 20. 


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VI. Kürt Boas 


schon gerade genng gegen das intrauterine Menschenleben gesündigt. 
In einem ebenfalls kürzlich erschienenen Aufsatz unterzieht F. Weber') 
die modernen Indikationen zur Einleitung der künstlichen Frühgeburt 
vom Standpunkt des Praktikers einer herben Kritik: er wendet sich 
namentlich gegen das Dogma, daß Tuberkulose jeden Stadiums eine 
strikte Indikation für den Abort in jedem Falle abgebe. Diese von 
Spezialisten allgemein vertretene Anschauung hat Weber in einer 
mehr als 50jährigen Praxis nie bestätigt gefunden, sondern von dem 
Austragen einer Gravidität bei Phtisikern stets nur die besten Folgen 
für Mutter und Kind gesehen. Nach seinen Erfahrungen liegt nun 
die Sache in Südrußland besonders in der russischen „Riviera* 
(Krim) so, daß Damen der besten Gesellschaftskreise skrupellos in 
illegitimen Verkehr treten und die unerwünschten Folgen einfach 
dadurch beseitigen, daß sie zum Arzt gehen, Tuberkulose vorschützen, 
die Krankheitssymptome trefflich zu simulieren verstehen (über die Ent¬ 
stehung des sogenannten „Bluthustens“ vgl.die Arbeit von Kais erling 1 2 )) 
und so das Gewünschte, nämlich die Fruchtabtreibung, erreichen. 
Wenngleich die Mehrzahl der honneten Arzte ein solches Ansinnen glatt 
abschlagen werden, so wird es doch genug skrupellose Angehörige 
des ärztlichen Standes geben, die sich dazu hergeben werden. Ist 
die Freigabe der Fruchtabtreibung erst einmal als Gesetz durchge¬ 
gangen, so ist solchen Mißbräuchen gesetzlich Tor und Tür ge¬ 
öffnet und die Gesellschaft geht einer nie dagewesenen Korruption 
entgegen. 

Man könnte mir den Einwurf machen, ich sähe die Sache zu 
ernst an, und mir voll pharisäischen Selbstbewußtseins entgegnen, 
wir lebten doch in Deutschland, in einem zivilisierten Lande, und 
nicht in Rußland; bei uns sei so etwas nicht möglich. Ein Beispiel 
aus eigener Erfahrung bat mich gelehrt, daß es bei uns um keinen 
Deut besser ist. In der Poliklinik für Geburtshilfe in Berlin fand 
sich regelmäßig alle halbe Jahre eine tuberkulöse Person — Er¬ 
zieherin von Beruf — mit der Diagnose „Schwangerschaft“ ein. Die 
Patientin, die die Klinik stets im ersten oder zweiten Schwangerscbafts- 
monat aufzusuchen pflegte, klagte über Verschlimmerung ihres Zu¬ 
standes. Sie erreichte denn auch regelmäßig, daß sie der medizinischen 
Klinik zur Untersuchung des Lungenbefundes zugewiesen wurde und von 
dieser zur Frauenklinik zurückgeschickt wurde, mit der Bitte, bei ihr den 

1) F. Weber, Die Indikationen für künstlichen Abort als Schatz des in¬ 
trauterinen Menschenlebens. Allgemeine med. Zentral-Zeitung 1910, Nr. 11. 

2) Kayserling, Über Simulation von Krankheiten durch Zusetzen gewisser 
Substanzen zum Urin. Inaugural-Dissertation, Göttingen 1909. 


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Kriminalistische Aufsätze. 


215 


Abort einzuleiten. So ging es dreimal: Die Patientin ging als Er¬ 
zieherin nnd znr eigenen Erholung mit ihren Herrschaften nach 
Davos, hatte illegitimen Verkehr l ) und wandte keine Schutzmittel zur 
Verhütung des Kindersegens an. Dreimal kehrte sie dann im Frühling 
in anderen Umständen heim und dreimal erreichte sie die Einleitung 
des künstlichen Aborts. Das letzte Mal wurde ihr eröffnet, sie solle 
den geschlechtlichen Verkehr einstellen. Die Patientin schlug diese 
Mahnungen aus dem Wind und ließ sich zum vierten Mal aufnehmen. 
Der Direktor der Klinik beschloß, einen nochmaligen Abort herbeizu- 
führen, zugleich aber die Ovarien mit zu exstirpieren. So blieb der 
Patientin die normale Libido erhalten, nur die Möglichkeit wiederholt 
zu konzipieren, wurde ihr ein für allemal genommen. 

Es unterliegt keinem Zweifel, daß Fälle wie der eben beschriebene 
in der Ära der Freigabe der Fruchtabtreibung an der Tagesordnung 
sein werden. Die Kliniken — denn ein kunstgerechter Abort läßt 
sich nur in der Klinik ausführen — werden mit Frauen gefüllt sein, 
die abgetrieben werden wollen, und die eigentlichen Abteilungen für 
Schwangere werden verödet daliegen. Dann werden die Spezial¬ 
ärzte für Frauenkrankheiten und Geburtshilfe sich auf ihrem Schilde 
noch besonders als Spezialisten für schmerzlose Aborte bezeichnen 
und ich bin sicher, sie werden an dieser Klientel mehr verdienen als 
an den Frauen, die dann noch den Mut — manche Geschlechts- 
genossinen werden freilich sagen, die Dummheit — besitzen werden, 
ihre Schwangerschaft auszutragen und sich ihrer natürlichen Pflichten 
bewußt sind. 

Rostock, 10. April 1910. 


Literatur. 

1. Kaiserling, Über Simulation von Krankheiten durch Zusatz gewisser 
Substanzen zum Urin. Inaugural-Dissertation, Göttingen 1909. 

2. Kimmig, Strafrechtsreform und Abtreibung. Dies Archiv 1910, Bd. 
XXXVI $ 315. 

3. Marx, Über kriminellen Abort Berl. klin. Wochenschrift 1908, Nr. 20. 

4. Weber, Die Indikationen für künstlichen Abort zum Schutz des intrau¬ 
terinen Menschenlebens. Allgemeine mediz. Zentralzeitung 1910, Nr. 11. 

Vgl. ferner die Abhandlungen von 

von Calker, Strafrecht und Frauenheilkunde. Straßburg 1908, und 
Schickele, Frauenheilkunde und Strafrecht Wiesbaden 1909. 


1) Man darf nicht vergessen, daß die Libido bei Tuberkulösen oft enorm 
gesteigert ist. 


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VI. Kürt Boas 


T. Materialien zu einer Pathologie der Zeugnisfähigkeit. 

Einleitung. 

Zu wiederholten Malen ist in diesem Archive, zuletzt u. a. von 
Bu chholz >), zur Psychologie der Zeugenaussagen Stellung genommen 
worden, währenddem die Pathologie der Zeugenaussagen ein wenig 
stiefmütterlich behandelt wurde. Im folgenden sollen nun Materialien 
zu einer Pathologie der Zeugnisfähigkeit gegeben werden, die als 
eine Fortführung einer früher erschienenen kleinen Studie über 
Psychose und Zeugnisfähigkeit 2 ) gedacht sind und in der Folgezeit 
durch eine Reihe weiterer Beiträge und Ergänzungen zu einem Ge¬ 
samtbilde zHsammengefaßt werden sollen. 

Wenn ich kurz noch einmal an meine damaligen Ausführungen 2 ) 
erinnern darf, so handelte es sich an den beiden damaligen Fällen 
um eine akute Paranoia mit zahlreichen Halluzinationen und Akoasmen, 
in welchem Zustande die Zeugnisfähigkeit der Patientinnen strikte 
negiert werden mußte. 

Dann haben wir uns in einem anderen Aufsatze 3 ) über die Zeugnis¬ 
fähigkeit seniler Personen im Anschluß in eine Arbeit von Lieske 4 ) 
in dem Sinne ausgesprochen, daß das gesetzliche Alter der Zeugnis¬ 
fähigkeit auf 75 Jahre festgesetzt werden solle und darüber hinaus 
keine Vereidigung statt haben dürfe. 

In einem weiteren Aufsatze 3 ) haben wir uns mit der Eidesfähig¬ 
keit der Paralytiker beschäftigt und hervorgehoben, daß der Paralytiker 
jeden Stadiums als geschäfts- und eidesunfähig anzusehen sei, daß 
aber leider durch eine falsche Diagnose so oft gegen diese Regel 
verstoßen werde und es so oft zu kolossalen Vermögensverlusten und 
Meineidsanklagen kommt. 

Schließlich haben wir an einem prägnanten Beispiel, das einer 


t) Bucbholz, „Zeugenaussagen“. Dies Archiv 1909, Bd. XXXV, S. 128. 

2) Boas, Psychose und Zeugnisfähigkeit. Dies Archiv 1908, Bd. XXXil, 
S. 158. 

3) Boas. Kritische Studien zur Dementia senilis und Dementia arterio- 
sclerotica, mit besonderer Berücksichtigung ihrer forensischen Bedeutung. Mit¬ 
teilungen von Mordtaten Seniidementer aus der Literatur. Dies Archiv 1910, 
Bd. XXXVII, S. 19. 

4) Lieske, Beitrag zur Untersuchung der Merkfähigkeit im hohen Greisen- 
alter. Inaugural-Dissertation Rostock 1907, 40 Seiten. 

5) Boas, Forensisch-psychiatrischn Kasuistik II. Dies Archiv 1910, Bd. 
XXXVII, p. 52. 


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Kriminalistische Aufsätze. 


217 


Beobachtung von Hay mann >) entnommen war, die Holle der 
Induktion 1 2 ) bei Zeugenaussagen kennen gelernt. 

An die bisherigen Beiträge zur Pathologie der Zeugnisfähigkeit sollen 
sich im folgenden die Besprechung zweier neuer Krankheitsbilder an- 
schliehen, deren eines die sog. Aphasie, in das Gebiet der Nerven- und 
Geisteskrankheiten gehört, deren anderes aber, das Stottern, wegen seiner 
großen Verbreitung eine bedeutsame Holle spielt Beide haben das 
eine wesentliche Symptom, die Sprachstörung, gemeinsam, die bei 
dem als Stottern bezeichnten Krankheitszustand das Primäre darstellt 
und dementsprechend als Angriffspunkt der Therapie betrachtet werden 
muß, während die kortikale Aphasie eine Bindenerkrankung darstellt, 
bei der die Aphasie nur auf den Hang eines sekundären, wenn auch 
typischen Symptomes Anspruch machen darf, das der Krankheit ihren 
charakteristischen Stempel und Namen zugleich verleiht 

I. 

Die Beziehungen des Stotterns zum § 51 des D.RSt.G.B. 
bat. Hoepfner 3 ) in einem Aufsatz zum Gegenstände interessanter 
Darlegungen gemacht, die eine kurze Besprechung an dierer Stelle 
erheischen, um so mehr als sie in einer für den Mediziner (speziell 
den Gerichtsarzt und Psychiater) schwer zugänglichen Zeitschrift 
niedergelegt sind. Er berichtet über einen Fall, in dem ein Stotterer 
aus Angst vor einer einfachen Zeugenaussage, die er in einer ihn 
nicht persönlich betreffenden Sache machen sollte, Selbstmord beging. 

Welcher Natur sind nun die Momente, die den Mann zum Selbst¬ 
mord veranlaßten? Erstens bestehen Schwierigkeiten in der He Zi¬ 
tierung der Eidesformel. Wir wissen aus der alltäglichen Er¬ 
fahrung, daß sich der Stotterer gern gewisser Flickworte bedient, die 
ihn über schwierige Konsonanten hinweghelfen sollen. Daß solche 
Flickwörter, die wir dem Stotterer, der sich natürlich im öffentlichen 
Leben und an so bevorzugter Stelle, wie es das Gericht ist, wo im 
Moment der Eidesabgabe alle Augen auf ihn sich konzentrieren, nicht 
einer Blamage aussetzen will, keineswegs verübeln können. Tout 
comprendre — c’est tout pardonner. Aber ebenso unzweifelhaft ist, 
daß diese Flickwörter die Eidesformel in gewissem Sinne entstellen 

1) Haymann, Kinderaussagen. Sammlung zwangloser Abhandlungen aus 
dem Gebiete der Nerven- und Geisteskrankheiten. Bd. VII, Heft 7. Halle 1909. 

2) Boas, Über die Bedeutung der Induktion in der forensischen Psychiatrie. 
Dies Archiv 1910, Bd. XXXIX, S. 72. 

3) Hoepfner, Der § 51 des D.StG.B. und das Stottern. Therapie der 
Gegenwart 1908, Nr. 8. 


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VI. Kurt Boas 


könnte, ja es kann sogar der Fall eintreten, daß der Eid seine bindende 
Kraft verliert. So gilt z. B. nach Hellwig 1 ) bei den Verbrechern die 
jesnistisch anmutende Anschauung, daß ein Eid, in dessen Reziderung 
einzelne Worte ausgelassen sind, keineswegs als Meineid aufzufassen sei. 

Zu den Gebrauch von Flickwörtern bemerkt Hoepfner folgendes: 

„Man muß von vornherein das festhalten, daß diese Flickwörter 
im Augenblicke, wo sie ausgesprochen werden, dem Stotterer von 
mindestens derselben Wichtigkeit sind wie die Worte der Eides¬ 
formel selber.“ 

Nun meint Hoepfner, die Eidesformel habe den Zweck bei dem 
Schwörenden eine ganz bestimmte „Assoziation“ auszulösen in dem 
Sinne, daß er sich im Bewußtsein auf die ihn etwa treffen könnende 
Meineidsstrafe ganz auf seine eidliche Aussage konzentriert Ob diese 
„Assoziation“ auch beim Stotterer vorhanden ist, dem es vor allem 
nur um seine „Flickwörter“ zu tun ist, ist dem Verfasser zweifelhaft 

Noch ein anderer Fall ist nach Hoepfner denkbar. Es gibt 
Stotterer, die, wenn sie in einem Satz unversehens an einen Konso¬ 
nanten kommen, den sie nicht aussprechen können, die Redaktion 
des angefangenen Satzes zu ändern pflegen. Eine solche Möglich¬ 
keit ist natürlich auch beim Hersagen der Eidesformel gegeben. Die 
an die Eidesformel implicite gebundene „Assoziation“, meint nun 
Hoepfner, wird dabei in der Weise gelockert werden, daß unzweifelhaft 
kleinere und größere Verscbiefungen (?) 2 ) der Wahrheit dem aus¬ 
sagenden Stotterer nicht mit der Folgenschwere imponieren, daß er 
die mit der vom Eide geforderten Strenge zu umgehen sich zwingt“ 
Auch Umschreibungen eines nicht bervorzubringenden Wortes durch 
ein sinnähnliches. — Hoepfner führt als Paradigma Billet und 
Parquetbillet an, wo die Aussprache des p manchen Stotterern viel 
Mühe bereitet — sind geeignet, die Glaubwürdigkeit zu erschüttern. 

Unter solchen Umständen ist die Frage von großer praktischer 
Bedeutung, ob man ganz allgemein Stotterer vereidigen oder unver¬ 
eidigt lassen soll. Hoepfner persönlich äußert sich zu dieser Frage 
folgendermaßen: 

„Der Stotterer hat durchaus hinterher die Einsicht, daß er eine 
Aussage gemacht hat, die die durch nichts beeinflußte Wahrheit 
nicht darstellt, sowohl hinsichtlich der Redaktion der Aussage wie 
hinsichtlich der Überlegung, daß er unter Eid aussagen sollte. Aber 
er wird nicht verfehlen, zu beteuern, daß er in dem Augenblick 

1) Hellwig, Religiöse Verbrecher. Zeitschrift für Religionspsychologie 190S, 
Bd. II, S. 385. 

2) Meint Yerf. etwa Verschiebungen? Boas. 


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Kriminalistische Aufsätze. 


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nicht anders sprechen konnte. Da ist es nun sehr fraglich, 
ob man bei Fällung des Urteils dieser Aussage den Glauben schenken 
wird, den sie verdient“, usw. 

Den folgenden Ausführungen Ho epf ners können wir nicht ohne 
weiteres zustimmen. In Anlehnung an ein Zitat Mendels spricht 
er von einer ausgebildeten „Wahnvorstellung“ des Stotterers, von 
seiner „Imbezillität“, Ausdrücke, die der Psychiatrie entlehnt sind und 
dort ihren guten Sinn haben, mir in dieser Terminologie aber ent¬ 
schieden deplaciert scheinen. Kann man den Ausdruck „Wahnvor¬ 
stellung“ als Mediziner allenfalls akzeptieren, so muß der Ausdruck 
„ausgebildet“ zurückgewiesen werden. Mendel spricht in den von 
Hoepfner angezogenenen Sätzen ganz richtig von einem „Wahn¬ 
system“ und versteht darunter paranoide Vorstellungen, die mit 
Halluzinationen und Akoasmen einhergehen, und sich um einen be¬ 
stimmten „Kern der Wahnidee“ konzentrieren. Demgegenüber ist 
die „Wahnvorstellung“ des Stotterers absolut einseitig: er redet sich 
ein, daß er ein Wort nicht aussprechen könne, aber von da bis zum 
Ausbau eines Wabnsystems ist doch ein weiter Schritt! Auch der 
Ausdruck, „imbezill“ ist hier nicht am Platze und nur geeignet, 
Verwirrungen anzurichten. Und wozu diesen Ausdruck überhaupt 
bringen, um ihn im nächsten Augenblick wieder zu verwerfen. Oder 
ist es nicht eine contradictio in adjecto, wenn Verfasser erst sagt: 
„Es ist im wahrsten Sinne des Wortes, ein „Imbecillus“ und wenige 
Zeilen darauf: „Trifft auch nicht die Schwäche der psychischen 
Entwicklung in dem Maße bei dem Stotterer zu, daß man von echter 
Imbezillität sprechen könnte.“ Eine gewisse Debilität kann nicht 
beim Stotterer geleugnet werden, aber von Imbezillität — „echter“ 
oder „unechter“ — kann hier nicht die Rede sein. 

Hoepfner klammert sich an diesen hier absolut deplacierten 
Ausdruck im Anschluß an eine Bemerkung Moelis, in der dieser 
das egozentrische Wesen (wie es sich im Fühlen und Denken des 
Patienten äußert) als für Imbezillität charakteristisch hervorhebt. Da 
nun Hoepf n er einen gewissen egozentrischen Zug auch beim Stotterer, 
nämlich angeblich eine „Eitelkeit“ zu konstatieren glaubt, so glaubt 
er sich dieses Ausdrucks bedienen zu können und sagt in eigentüm¬ 
licher Gedanken Verkettung: 

„Damit ist eine Basis gegeben für die oben auf gestellte Be¬ 
hauptung, daß der Stotterer sich möglichst nicht als Stotterer dokumen¬ 
tieren will.“ 

Was das mit dem egozentrischen Fühlen und Denken des 
Stotterers zu tun hat, ist mir nicht recht erfindlich. 


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VI. Kurt Boas 


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Dürften Hoepfners Anschauungen über die Eidesfähigkeit 
Stotternder kaum allgemeine Gültigkeit beanspruchen, so dürfte auch 
seine Stellungnahme zu der Frage, ob die Stotterer unter den § 51 
fallen, keineswegs auf allgemeinen Beifall zu rechnen haben, namentlich 
nicht von seiten der Juristen. Verfasser aberkennt nämlich 
dem Stotterer die freie Willensbestimraung. Und hören wir 
seine Begründung: 

„Denn je mehr er sich anstrengt und auf das achtet, was er 
sagen will, desto intensiver beschäftigt sich sein Bewußtsein, mit dem 
„Wie“ der Aussage — desto stärker weiß er, wird er stottern. Eine 
umgehende Beantwortung einer Frage — oft ist diese Umgehung 
eklatant, oft nicht — ist nun aber doch der klassische Beweis dafür: 
daß der Wille, den gefragten Begriff in die exakte, wahrheitsgetreue 
Antwort zu kleiden, unterworfen ist einer höheren Willenstätigkeit, 
nämlich der Assoziation, bei einem bestimmten in der Antwort ent¬ 
haltenen Worte stottern zn müssen — wodurch eben die erwähnte 
Änderung der Redaktion der Antwort eintritt. Für einen gewissen 
Typus der Stotterer, der meistens einen Hauptteil der Gesamtheit 
repräsentiert, ist diese Redaktionsänderung charakteristisch und so 
wird der Richter im höchsten Maße mit der Wahrscheinlichkeit zu 
rechnen haben, daß dies in der Praxis sehr oft zutrifft/ 

Soweit Hoepfner, dessen Anschauungen, wie gesagt, ich mich 
nicht anschließen kann. Das ist aber schließlich eine Frage von 
untergeordneter Bedeutung. Der Wert seiner Arbeit scheint mir darin 
zu liegen, daß meines Wissens zum ersten Mal ein Mediziner die 
Beziehungen des Stotterns zum § 51 aufgeworfen hat. Darüber eine 
Entscheidung herbeizuführen, möge weiteren gemeinsamen Arbeiten 
von Juristen und Medizinern Vorbehalten bleiben. Erstrebenswert wäre 
es, wenn das Gesetz allgemeine Normen über Vereidigung oder Nicht- 
ineidnabme von Stotterern aufstellen wollte. Bis auf weiteres ist 
diese Entscheidung dem individuellen Ermessen des Gerichtshofes 
Vorbehalten. 


II. 

In einer ausführlichen Arbeit über Aphasie streift Richard 1 ) 
zum Schluß auch die Frage der Zeugnis- und Eidesfähigkeit bei 
Aphasie an der Hand eines einschlägigen, Falles der durch seine 
forensischen Komplikationen bemerkenswert ist 

1) Richard, Überblick über den heutigen Stand der Frage nach der Lokali¬ 
sation in der Großhirnrinde und ihre Anwendung in der forensischen Praxis. In- 
augural-Dissertation Göttingen 1906, 69 Seiten. 


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Kriminalistische Aufsätze. 


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Es handelt sich um einen Bergmann, der am 13. IX. 1903 über¬ 
fallen und durch mehrere Beilhiebe schwer verletzt wurde. U. a. 
wies er eine 12 cm lange Wunde an der linken Seite des Schädels 
in der Schläfengegend auf, in deren Längsrichtung der Schädel gespalten 
war und 1 bis 1.5 cm weit klaffte. In dieser Wunde war reichlich 
zertrümmerte Hirnmasse zu sehen. Der Verdacht der Täterschaft 
lenkte sich gegen den Sohn Hermann, mit dem der Patient häufig 
Streit hatte. Dieser war seit einigen Monaten in einer Stadt als 
Arbeiter beschäftigt, von der aus er seinen Heimatsort erst nach 
mehrstündiger Eisenbahnfahrt erreichen konnte. Er wurde sofort 
verhaftet, leugnete indes entschieden jede Täterschaft. Zu jener frag¬ 
lichen Zeit wurde er zu Hause von niemandem gesehen, nur ein aus 
demselben Orte stammender Knabe will eine kurze Strecke lang auf 
der Eisenbahn mit dem Angescbuldigten zusammengefahren sein. 
Die Behörden konnten den Aufenthalt des Angeschuldigten nicht mit 
Sicherheit feststellen. 

Es kam also alles auf die Aussage des Überfallenen selbst an, 
bei dem sich im Anschluß an das schwere Hirntrauma eine motorische 
Aphasie eingestellt hatte. Cr am er, der den Patienten am Morgen 
nach der Tat untersuchte, fragte ihn, ob Hermann der Täter sei und 
erhielt darauf ein leises Kopfnicken, einige Tage darauf sprach der 
Patient auf die Frage, wer ihn verletzt habe, mühsam das Wort 
„Hermann“ aus. Doch erst bei einer weiteren Unterredung mit 
Cramer erfolgte die Beschuldigung gegen seinen Sohn mit solcher 
Deutlichkeit und Schärfe, daß sie für den Ausfall der gerichtlichen 
Verhandlung von Wert sein konnte. Es fragt sich nun, wie man 
die Aussage des Patienten zu bewerten habe. An und für sich 
kann niemand, auch nicht der Geisteskranke, für unfähig erklärt 
werden, als Zeuge vernommen zu werden. 

Aphasie ist eine Herderkrankung des Gehirns, kann sich also 
auf einen bestimmten Herd lokalisieren, ohne daß andere Gehirn¬ 
partien mitergriffen sind. Dies war z. B. in einem Fall von Ziehen 1 ) 
der Fall. Die Aphasie war hier die Folge einer das Gehirn mit¬ 
treffenden Schädelverletzung. Neben schwerer motorischer Aphasie 
bestand zunächst noch rechtseitige Hemiplegie. Die Aphasie besserte 
sich soweit, daß Patient drei Monate nach der Verletzung verständlich 
und ziemlich fließend sprechen konnte, indem er fehlende Worte 

1) Ziehen, Obergatachten über die Zuverlässigkeit eines Aphasischen über 
die Vorgänge bei der seiner Aphasie zugrunde liegenden Schädelverletzung 
(Raubmordversuch). Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin. 3. Folge. 1897, 
Bd. XIV. 


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VI. KtjbtBoas 


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durch Umschreibungen ersetzte. Als er vier Monate nach erlittener 
Verletzung seinem Angreifer, der des Raubmordversuchs verdächtig 
war, gegenüber gestellt wurde, hatte er verhältnismäßig gute Er¬ 
innerung an die Tat, vermochte jedoch die Identität des Verdächtigen 
mit dem Angreifer nicht mit Bestimmtheit zn behaupten. Ziehen 
kommt znm Schluß seines Gutachtens zu dem Resultat, daß optisches 
und sensorisches Sprachzentrum ungeschädigt sind, wohl aber Zahlen¬ 
vorstellungen und motorisches Sprachzentrum eine Schädigung erlitten 
haben, daß keine allgemeine Gedächtnisschwäche besteht und die 
ursprüngliche, totale temporäre Amnesie in Rückbildung begriffen 
sei. Die bezüglichen Erinnerungen sind nur mangelhaft, für die 
zeitlich und örtlich richtige Reproduktion kann nicht gutgestanden 
werden. Ziehen hält es für sehr wahrscheinlich, daß der Patient 
den Angreifer in der Person des Verdächtigen nicht erkannt habe. 
Eine Verwechselung des Äußeren des Angreifers mit dem eines 
anderen, vor der Tat geschehen, sei in der Erinnerung ganz gut 
möglich. Mit der zu erwartenden Rückbildung der Amnesie könnte 
Patient ev. noch weitere Aufschlüsse geben. 

Jolly *) berichtet über folgenden zivilgericbtlichen Fall: Er betrifft 
das Testament eines Apbasischen ans dem Jahre 1882, mitgeteilt in 
den Causes cölöbres et interessantes, recueillies par Mr. Guyot de 
Pitaval, avocat au parlement de Paris. Der Kranke, der an 
motorischer Aphasie und Agraphie litt, vermochte nur „ja“ und 
„nein“ zu sagen, verstand jedoch alles, was zu ihm gesagt wurde. 
Trotz seines geringen Wortschatzes konnte er bei Aufsetzung des 
Testamentes seinen Willen so unzweideutig zu verstehen geben, daß 
Advokat und Zeugen von dem völligen Erhalten seiner Intelligenz 
überzeugt waren. Das Testament wurde zwar von den Verwandten 
angefochten, jedoch von den Gerichten beider Instanzen für gültig 
erklärt. 

Daß die Schwierigkeiten bei motorischer Aphasie zu umgehen 
sind, zeigt die Beobachtung Edmunds’ 1 2 ). Es handelt sich um eine 
Kranke, die ihr Testament machen wollte. Edmunds ließ nun 
Karten mit Druckschrift anfertigen, auf denen die Vermögensverhält- 
nisse, Namen des Testamentsvollstreckers, der Erbenden und andere 
in Betracht kommende Dinge verzeichnet waren. Mittels dieser 


1) Jolly, Über den Einfluß der Aphasie auf die Fähigkeit zur Testaments' 
crrichtung. Archiv für Psychiatrie 1882, Bd. XIII. 

2) Edmunds, Will-making in aphasic paralysis. British medical Journal, 
Nr. 2048. 


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Kriminalistische Aufsätze. 


223 


Karten erfolgte die Verständigung zwischen Patienten und Richter, 
sodaß die Aufsetzung eines gültigen Testaments möglich wurde. 

In dem Falle von Cram er-Richard beantwortete der Patient 
alle anfangs an ihn gerichteten Fragen mit einem stereotypen „Ja“ 
oder „ne“. Erst als im Laufe der Unterredung eine größere Freiheit 
in der Auswahl der noch zu Gebote stehenden motorischen Sprach- 
elemente eingetreten war, wurden die Antworten sinngemäß und ließen 
keinen Zweifel über die Person des Täters. Während Richard den 
früheren monotonen Gebrauch von „Ja“ und „nein“ als Perseveration 
(und wohl als bequemeres Verständigungsmittel) auffaßt, antwortet 
der Patient jetzt ohne Rücksicht auf Inhalt und Antwort der vorher¬ 
gehenden Frage mit aller Entschiedenheit. Einen Irrtum über die 
Persönlichkeit des Täters hält Richard für so gut wie ausgeschlossen, 
zumal da es sich um Vater und Sohn handelt, die nicht zum ersten 
Male mit einander in Streit geraten waren. Das Gericht hielt auch 
auf Grund der Aussagen des Patienten den Sohn trotz seines Leugnens 
und obgleich keine besonders gravierenden Indizien gegen den An¬ 
geklagten Vorlagen, der Tat für überführt und schloß sich bejahend 
dem Gutachten der Sachverständigen über die Zeugnisfähigkeit des 
St an. Wie richtig diese beurteilt worden war, geht daraus hervor, 
daß der Sohn im Beginn der ihm zudiktierten sechsjährigen Zucht¬ 
hausstrafe ein umfassendes Geständnis ablegte und sich als den Täter 
des gegen seinen Vater gerichteten Anschlages bekannte. 

Literatur. 

1. Boas, Psychose und Zeugnisfähigkeit. Dies Archiv 1908, Bd. XXXII. 
8. 158. 

2. Derselbe, Kritische Studien zur Dementia senilis und Dementia arterio- 
sclerotica mit besonderer Berücksichtigung ihrer forensischen Bedeutung. Mit¬ 
teilung von Mordtaten Senildementer aus der Literatur. Dies Archiv 1910, Bd. 
XXXVII, S. t9. 

3. Derselbe, Über die Bedeutung der Induktion in der forensischen Psychia¬ 
trie. Dies Archiv 1910, Bd. XXXIX, 8. 72. 

4. Derselbe. Forensisch-psychiatrische Kasuistik II. Dies Archiv 1910, Bd. 
XXXVII, p. 52. 

5. Buch holz, Zeugenaussagen. Dies Archiv 1909, Bd. XXXV, S. 128. 

6. Edmunds, Will-making in aphasic paralysis. British medical Journal, 
Nr. 2048. 

7. Haymann, Kinderaussagen. Sammlung zwangloser Abhandlungen aus 
dem Gebiete der Nerven- und Geisteskrankheiten. Bd. VII, Heft 7. Halle 1909. 

8. Hellwig. Religiöse Verbrecher. Zeitschrift für Religionspsychologie 1909 
Bd. II, S. 385. 

9. Hoepfner, Der § 51 des D.St.G.B. und das Stottern. Therapio der 
Gegenwart. 1908, Nr. 8. 


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VI. Kurt Boas 


10. Jolly, über den Einfluß der Aphasie auf die Testamentserrichtung. 
Archiv für Psychiatrie 1882, Bd. XIII. 

11. Lieske, Beitrag zur Untersuchung der Merkfähigkeit im hohen Greisen- 
alter. Inaugural-Dissertation Rostock 1907, 40 Seiten. 

12. Richard, Überblick über den heutigen Stand der Frage nach der Lokali¬ 
sation in der Großhirnrinde und ihre Anwendung in der forensischen Praxis. In¬ 
augural-Dissertation Göttingen 1906, 69 Seiten. 

13. Ziehen, Obergutachten über die Zuverlässigkeit der Angaben eines 
Aphasischen Uber die Vorgänge bei der seiner Aphasie zugrunde liegenden 
Schädelverletzung (Raubmordversuch). Vierteljahreschrift für gerichtliche Medizin 
1897. 3. Folge. Bd. XIV. 


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ßrrare hnmanum est. 

Fälle aus der Praxis. 

Von 

Rechtsanwalt Dr. Böokel in Jena. 


I. 

Am 1. Juli d. Js. schickte ich einen Schreiberlehrling auf die 
Post, nm 82 Mark auf Postanweisung einznzahlen. Er bekam 80 Mark 
in Papier und ein Dreimarkstück. Als er zurückkam, meldete er mir mit 
mühsam unterdrückter, den Tränen naher Empörung: „Herr Doktor! 
Der Beamte am Schalter weigert sich, mir eine Mark herauszugeben. 
Er behauptet, er hätte sie mir gegeben. Das ist aber nicht wahr. 
Ein Schreiber von Rechtsanwalt X., der mit am Schalter war, kann 
es bestätigen, daß er mir nichts herausgegeben hat Wir haben auch 
sofort am Schalter alle meine Taschen untersucht Wenn er mir das 
Geld gegeben hätte, müßte ich es doch haben.“ 

Aus der Quittung Uber die Einzahlung ersah ich, daß den Schalter¬ 
dienst ein mir seit bald 20 Jahren als Beamter wie auch persönlich 
wohlbekannter Herr gehabt hatte, an dessen Zuverlässigkeit ich nie¬ 
mals würde zweifeln dürfen. Aber auch der Junge hat in puncto 
Ehrlichkeit mein volles Vertrauen. Freilich hat er schon einmal einen 
Brief verloren, ohne zu wissen, wie. Er hat das aber sofort gemeldet 
Wer sagt nun die objektive Wahrheit? 

Am selben Nachmittag schrieb ich an den Beamten, gleich am 
Abend erwiderte er darauf: 

J. d. 1./7. 8 Nm. 

Sehr verehrter Herr Doktor! 

„Soeben schließe ich nach ganz tollem Dienst den Schalter und 
bin total kaput. Verzeihen Sie daher die Formlosigkeit, daß ich 
gleich hiernach schreibe. Das tut mir ja sehr leid mit dem jungen 
Mann, der auch auf mich den besten Eindruck machte. Gott ja, 
in dem Trubel ist alles möglich. Ich glaubte bestimmt zu wissen, 
daß ich ihm die eine Mark zurückgegeben, und wurde darin be- 

Archiv für Kriminalmnthropologie. 40. Bd. 15 


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VII. Böckel 


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stärkt, weil ein Mann mir das ebenso bestimmt bezeugte nnd zu 
Ihrem Schreiber auf dessen Worte: „Da müßte ich sie doch haben“ 
sagte: „Mir kann ja doch die Sache ganz egal sein, ich weiß aber, 
daß Sie ein Markstück zurtickbekommen haben.“ Ich besah mir 
nämlich erst sehr interessiert den (Meininger) Taler and gab dann 
die eine Mark heraus. Also für mich war die Sache total erledigt; 
ich sagte mir, der wird die Mark schon noch finden. 

Nun werfen Sie mich auf einmal ganz aus meiner Sicherheit 
heraus. Aber errare humanum est! Lassen Sie den Jungen morgen, 
Sonnabend, gegen l jrt Uhr an meinem Schalter nachfragen. Eber 
mache ich nicht Abschluß. Ist die Mark übrig, so soll er sie 
unter Vorbehalt bekommen, anderenfalls — kann ich ihm leider 
nicht helfen! Dann ist er selbst schuld mit seinem Durcheinander, 
da er anscheinend zwei Aufträge erledigte: erst für so und so viel 
Marken — „so und nun geben Sie mir noch einmal das und das“! 
Er soll künftig immej erst ein Geschäft erledigen, eh e er ein 
zweites anfängt 

Ihnen aber, verehrter Herr Doktor, meinen herzlichsten Gruß. 

Ihr ergebenster.“ 

Als ich am 2. Juli mittags gegen x j-i2 Uhr auf mein Bureau kam, 
wurde mir gemeldet: Der Schalterbeamte habe telephonisch mitgeteilt 
daß sich die eine Mark beim Kassenabschluß gefunden habe, nnd 
gebeten, sie abholen zu lassen. 


II. 

Am Vormittag desselben 1. Juli batte ich, durch Zivilprozeß' 
Verhandlungen vor dem Oberlandesgericht und dem Amtsgericht schon 
etwas abgehetzt, noch den Verkauf und die Übereignung eines Grund¬ 
stückes vor dem Amtsgericht zu erledigen. Die Parteien, auf unserer 
Seite eine Miterbengemeinschaft, waren persönlich anwesend. Nur 
einer der Miterben, mein Schwager, weilte in München. Er hatte mir 
aber gelegentlich mündlich und brieflich, zuletzt auch telegraphisch, 
sein Einverständnis mit allen unseren Abmachungen erklärt und uns 
so zu seiner Vertretung bevollmächtigt. 

Nach dem noch geltenden Großherzoglich Sächsischen Landes¬ 
privatrecht erfolgt die Übereignung von Grundstücken in der Weise, 
daß der obligatorische Vertrag gerichtlich verlautbart und die Be¬ 
stätigung durch das Gericht und die Zuschreibung im Kataster be¬ 
antragt wird; Bestätigung und Zuschrift bewirken den Eigentums- 
Übergang. 


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Errare bumanum est. 


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Das amtliche Formular für die- gerichtliche Verlautbarung lautet: 

Verhandelt 

Jena, den 19 

Vor dem hiesigen Großherzogi. S. Amtsgericht erschien auf 
Vorladung 

Gerichtswegen 

wurde denselben der anliegende 

nebst Beilagen 

vorgelesen, ersterer ihnen auch bezüglich ihrer darunter ersichtlichen 
Namensunterzeiebnungen vorgelegt 
Die Erschienenen 

bekannten sich hierauf zu dem ganzen Inhalt des Vertrags nebst 
Beilagen, namentlich zu der beigefügten katastermäßigen Beschrei¬ 
bung der Grundbesitzung und erkannten ihre unter de Vertrag 
ersichtlichen Nämensunterzeichnungen als von ihnen vollzogene an, 
nicht minder die als aufhaftend angegebenen Abgaben und Lasten 
als bestehend.“ 

Der Kaufvertrag war, da eine Einigung der Parteien erst am 
Abend des 30. Juni erzielt war und die Vertragsurkunde erst am 
Vormittag des 1. Juli hatte geschrieben werden können, ununter¬ 
schrieben zum Termin mitgebracht worden. 

Zunächst bereitete der Gericbtsscbreiber die Verhandlung durch 
Ausfüllung des Formulars vor. Erst dann wurde der Richter zu¬ 
gezogen. Die Vertragsexemplare wurden erst mit dem Protokoll 
unterschrieben und dies nach dem vorgedruckten Text im Protokoll 
besonders festgestellt, ferner auch, daß die Akten nach München geben 
sollten, um im Wege der Rechtshilfe dort die Zustimmung meines 
Schwagers einzuholen. 

Als das Protokoll nebst dem Vertrag vor dem Richter verlesen 
wurde, trat die eine Partei auf einmal mit dem Verlangen nach Auf¬ 
nahme weiterer Vertragsbestimmungen hervor. Die andere Partei 
bestritt die Notwendigkeit. Hierdurch kam es zu einer unvorher¬ 
gesehenen längeren Verhandlung, sodaß der Richter den Gerichts¬ 
schreiber ausdrücklich anwies, das Protokoll noch nicht abzuschließen. 
Das hin und her zeitigte die Aufnahme einiger neuer Bestimmungen 
in das Protokoll als Zusätze zu dem Vertrag. Endlich war alles zum 
Unterschreiben fertig. Der sich an den oben gegebenen Vordruck des 
Formulars anschließende handschriftliche Teil des Protokolls wurde 
nochmals verlesen. Alle Anwesenden unterschrieben das Protokoll, 
die Vertragsparteien auch die Vertragsexemplare. 

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VII. Böckel 


Den Kaufvertrag nun unterschrieb ich mit dem ZuRatze: „Zu¬ 
gleich als Vertreter des .... in München.“ 

Meine Unterzeichnung des Kaufvertrags wurde auf einmal von 
dem Richter, der übrigens bis zu der unvorhergesehenen Forderung 
des Käufers nach Aufnahme weiterer Bestimmungen sich begreif¬ 
licherweise mit andern Akten beschäftigt batte, mit der Behauptung 
beanstandet, daß ich dann zu Eingang des Protokolls ausdrücklich 
auch als Bevollmächtigter des Miterben in München aufgeführt werden 
müsse. Ich erklärte eine solche Ergänzung des Protokolls für unnötig: 
Die Frage der Bevollmächtigung sei von uns nicht zum Gegenstand 
der Verhandlung gemacht worden, es genüge die Feststellung des 
Protokolls, daß die Erschienenen ihre Unterschriften unter 
dem Vertrage anerkannt hätten. Diesen Hinweis auf das Protokoll 
bezeicbneten aber Richter und Gerichtsschreiber als unzutreffend und 
stellten alsbald fest, daß im Protokoll der mehrerwäbnte Satz: „Die 
Erschienenen erkannten ihre unter dem Vertrag ersichtlichen Namens¬ 
unterzeichnungen als von ihnen vollzogen an,“ mit Tinte (frisch) durch¬ 
strichen war. Ich erwiderte, daß diese Durcbstreichuug erst nach 
dem ersten Vorlesen erfolgt sei. Der Richter, dem der Gerichtsschreiber 
zustimmte, blieb aber dabei, daß dieser Satz überhaupt nicht verlesen 
worden sei, und fügte hinzu, er habe gerade darauf sein Augenmerk 
gerichtet, da er bei einem flüchtigen Blick auf die Verträge gesehen 
habe, daß diese noch nicht unterschrieben seien. Der, nebenbei be¬ 
merkt, anerkannt gewissenhafte Richter würde sicher seine Angaben 
auch als Zeuge beeidet haben. Nicht minder bestimmt würde aber 
auch ich, nach dem Hergang befragt, als Zeuge bekundet haben, daß 
jener Satz: „Die Erschienenen erkannten ihre unter dem Vertrag er¬ 
sichtlichen Namensunterzeiebnungen als von ihnen vollzogen an,“ ver¬ 
lesen worden sei. Denn ich weiß genau: jener Satz hatte mich plötz¬ 
lich auf den Gedanken gebracht, daß ich auf Grund der formell 
nicht ausreichenden Vollmacht (in Übereignungssachen wird eine 
beglaubigte Vollmacht gefordert) doch wenigstens die noch fehlende 
Unterschrift meines Schwagers unter dem Kaufvertrag, nicht etwa 
unter dem Protokoll, ersetzen könne, sodaß er sich dann in München 
gemäß unserem Verlautbarungsformular nur zu dieser (meiner) Unter¬ 
schrift zu bekennen brauche. Ich betone aber dazu, daß ich nicht 
etwa das Protokoll oder das Formular gesehen, d. h. gelesen hatte. 

Wer hat nun recht? Ist mir durch die berufliche Beschäftigung 
mit solchen Grundstücksrechtsgeschäften das Formular so sehr in 
Fleisch und Blut übergegangen, daß ich mir einreden konnte, der 
Formularsatz sei verlesen? Oder haben Richter und Gerichtsschreiber, 


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Errare humanum cet 


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die ja Tag für Tag fortgesetzt solche Geschäfte formularmäßig ab- 
wickeln, das an dem besonders arbeitsreichen Quartalswechsel, ermüdet 
durch vielstündigen Dienst, so mechanisch getan, daß ihnen die Ver¬ 
lesung des Satzes bei der ersten Verlesung des Protokolles ganz ent¬ 
fallen war? Ich erkläre mir den Hergang so: Der Gerichtsschreiber 
bat zuerst den Satz mit verlesen, dann aber, als die Verhandlungen 
wegen weiterer Bestimmungen ihn zur Untätigkeit verurteilten, den 
vorgedruckten Satz des Formulars sofort wieder weggestrichen, da er 
durch die Feststellung der Unterzeichnung des Vertrags im Termin 
selbst gegenstandslos geworden war, und diese sachlich ja unerheb¬ 
liche Änderung wieder vergessen. Allein: errare humanum est. 

III. 

In einer Alimentensache schützte ich als Vertreter des Beklagten 
die exceptio plnrium vor und benannte den Landwirt Eckardt, gleich 
der Eindesmutter H. wohnhaft im Dorfe N., als Beischläfer. Die 
Angaben dieses Zeugen im Beweisaufnahmetermin stellt das Protokoll 
vom 10. November wie folgt fest: 

„leb heiße Harry, bin 33 Jahre alt, ev. Religion, Landwirt in 
N., mit den Parteien weder verwandt noch verschwägert. 

Z. S. 

Ich habe mit der H. in der Zeit vom 6. Mai bis 4. September 
geschlechtlich nicht verkehrt. Ich habe überhaupt nie geschlecht¬ 
lich mit ihr verkehrt. V. g. 

Auf Vorhalt: Ich gehe jetzt mit der H. Verlobt sind wir nicht 
miteinander. V. g. 

Der Zeuge wurde alsdann vereidigt.“ 

Weiter hatte ich die Kindesmutter als Zeugin, der Gegner sie als 
Gegenzeugin benannt Sie wurde gleich nach dem Zeugen Eckardt 
vernommen und erklärte: 

„Ich habe in der Zeit vom 6. Mai bis 4. September mit dem 
Harry Eckardt aus N. .nicht geschlechtlich verkehrt Ich habe 
überhaupt mit ihm nie geschlechtlich verkehrt Ich gehe jetzt mit 
dem Eckardt Er bat mich ein paar Mal nach Hause gebracht, 
aber nie mit mir den Beischlaf vollzogen.“ 

In der sich anschließenden mündlichen Verhandlung benannte ich 
den Landwirt Sch. als Zeugen dafür, daß er die Kindesmutter während 
der Empfängniszeit gebraucht habe. Der Gegner benannte die Kindes¬ 
mutter als Gegenzeugin. Die Vernehmung des Sch. und der Kindes¬ 
mutter wurde alsbald beschlossen und Termin dazu auf den 24. No¬ 
vember anberaumt. 


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230 


VII. Böckel 


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In diesem Termin gab auch Sch. an, mit der Kindesmutter nie¬ 
mals geschlechtlich verkehrt zu haben. Über die Vernehmung der 
Kindesmutter berichtet das Protokoll sodann: 

„Der Zeugin wurde ihre Aussage vom 10. November vorgelesen, 
worauf sie erklärte: 

Z. S. Ich halte meine Aussage vom 10. November aufrecht. 

Auf Vorb. des kläger. Vertreters ob sie mit Eckardt in der fol¬ 
genden Zeit verkehrt habe, erklärt Zeugin „Nein“. 

Auf Vorhalt des bekl. Vertr. unter Hinweis auf ihre augenschein¬ 
liche Schwangerschaft und Befragen, von wem dieselbe herrührt: 
„Ich bin jetzt schwanger und meine Schwangerschaft rührt von 
Eckardt her. Derselbe hat mich das erstemal geschlechtlich ge¬ 
braucht, als er Pfingsten 1908 mit bei meinen Eltern war, und zwar 
haben wir den Beischlaf vollzogen nach dem Tanze in der Wohnung 
meiner Eltern. Seit Juli bin ich überhaupt bei Eckardt und helfe 
ihm mit in der Wirtschaft, weil seine Mutter krank ist Ein be¬ 
stimmter Lohn ist nicht vereinbart Eckardt will mich heiraten. 
Wir haben in der Zeit, wo ich bei ihm war, öfters miteinander 
geschlechtlich verkehrt. 

Auf Vorhalt: Mit Sch. habe ich in der Zeit vom 6. Mai bis 
4. September geschlechtlich nicht verkehrt. 

Im Jahre 190. hat Sch. allerdings einmal den Beischlaf za 
vollziehen versucht, es ist aber nicht zu einer Beischlafsvollziehung 
mit mir gekommen. Sch. hatte wohl bei jener Gelegenheit sein 
Geschlechtsglied „haußen“, ist aber nicht in mein Glied hinein¬ 
gekommen. Es war bei L. in der Torfabrt“ 

Das für uns psychologisch Interessanteste aber läßt das Protokoll 
nicht erkennen: 

Nachdem Eckardt jeglichen Verkehr, auch außerhalb der Emp¬ 
fängniszeit, mit der Kindesmutter bestritten hatte, teilte mir der Vater 
des Beklagten, ein alter Dorfbürgermeister, entrüstet mit, Eckardt und 
die Kindesmutter H. hätten gelogen. Die H. wohnte schon seit fast 
V 2 Jahr mit Eckardt zusammen und sei auch, ganz offensichtlich, 
von ihm schwanger. Diesen Zustand hatte die H. bei der Vernehmung 
am 10. November durch ihre Kleidung zu verbergen gewußt; in An¬ 
betracht der Winterszeit und der Art der bäuerlichen Bevölkerung, 
sich zu kleiden, war es niemandem aufgefallen. Im Termin vom 
24. November stellte ich nun die aus dem Protokoll ersichtlichen 
Fragen mit dem Bemerken, daß die Zeugin augenscheinlich wieder 
schwanger sei, und zwar nach der mir gewordenen Information von 
Eckardt. Gegen diese Fragen protestierte auf einmal der Vertreter 


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Errare humanom eat 


231 


des Klägers, ein durchaus besonnener und tüchtiger Anwalt, in leb¬ 
hafter Erregung. Die Frage an die Kindesmutter, ob sie schwanger 
sei, und gar, von wem, sei unzulässig und verwerflich. Ich wies den 
unmotivierten Angriff mit der Bemerkung zurück, daß die von mir 
gewünschten Feststellungen angesichts der eidlichen Erklärungen des 
Eckardt und der H., daß sie überhaupt niemals miteinander geschlecht¬ 
lich verkehrt hätten, von entscheidender Bedeutung seien, zum min¬ 
desten für die QlaubWürdigkeit der H., die das Vorliegen der exceptio 
hartnäckig leugnete. Noch mehr erstaunte ich aber, als der Kollege 
entgegnete, Eckardt habe eine derartige Angabe nicht gemacht und 
habe sie nicht machen können, da er gar nicht danach gefragt worden 
sei Diese Behauptung stellte Rechtsanwalt X. mit so großer Be¬ 
stimmtheit und so lebhaftem Unwillen auf, daß er auch den Richter 
unsicher machte. Es mußte erst aus dem Protokoll des vorigen Beweis- 
aufnahmetermins, dem X. von Anfang bis zu Ende beigewohnt hatte, 
das Gegenteil festgestellt werden. Aufs höchste verwunde^ meinte 
X selbst, daß er seine Behauptung, Eckardt habe eine solche Äußerung 
nicht getan und sei auch gar nicht in dieser Richtung befragt worden, 
„als Zeuge glatt beeidet haben u würde. Dabei lagen nur zwei Wochen 
zwischen beiden Beweisaufnahmen! 

Wie das Protokoll ergibt, mußte die Kindesmutter die Unwahrheit 
ihrer eigenen früheren Darstellung und der eidlichen Bekundung des 
Eckardt einräumen. Die Unbedenklichkeit, mit der beide ausgesagt 
batten, ist übrigens in Alimentenprozessen nichts Überraschendes. 


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VIII. 


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Die Epimikroskopie und ihre Anwendbarkeit 
in der gerichtlichen Medizin. 

Von 

M. U. Dr. Ernst Kalmus, Landesgerichts- und Polizeiarzt in Prag. 

(Mit 3 Abbildungen.) 


Auf der Versammlung deutscher Naturforscher und Arzte, welche 
im Herbste 1909 in Salzburg stattfand, habe ich in der Sektion ffir 
gerichtliche Medizin über Versuche berichtet, welche ich mit einigen 
Apparaten angestellt hatte, um die Oberfläche von Gegenständen 
miskroskropisch zu untersuchen. Ich habe damals vorgescblagen. alle 
Verfahren, welche dazu dienen sollen, die Gegenstände im auf¬ 
fallenden Lichte zu untersuchen, unter dem Namen Epimikro¬ 
skopie zusammenzufassen und wollte damit zum Ausdrucke bringen, 
daß dieses Verfahren der Epimikroskopie sich von der gewöhnlich 
von Naturwissenschaft und Medizin angewendeten Mikroskopie da¬ 
durch unterscheidet, daß die Gegenstände nicht etwa in feinsten 
Schnitten oder Stäubchen auf den sogenannten Objektträger gebracht 
und in verschiedenster oft sehr komplizierter Weise präpariert und 
dann im durchfallenden Lichte untersucht werden. 

Für den mit der gewöhnlichen Mikroskopie nicht Vertrauten sei 
hier hinzugefügt, daß z. B. Pflanzen oder Gewebstücke aus tierischem 
Gewebe in der Regel so miskroskopisch untersucht werden, daß 
von ihnen feinste, meist nur mehrere Tausendstel Millimeter dicke 
Schnitte angefertigt und auf einem rechteckigen, ziemlich dünnen 
Glase, dem sogenannten Objektträger, ausgebreitet und dann auf den 
Objekttiscb, welcher sich an jedem Mikroskope befindet, gebracht 
werden. In derselben Weise werden auch Pulver, mikroskopisch 
kleine Kristalle, sehr kleine Lebewesen aus dem Wasser und dgL 
auf dem Objektträger untersucht, indem sie von unten her durch 
einen Spiegel beleuchtet werden. 

Alle diese Verfahren sind jedoch nur dann anwendbar, wenn es 
gestattet ist, das zu untersuchende Objekt mitunter einer ganzen 


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Die Epimikroekopie und ihre Anwendbarkeit in der gerichtlichen Medizin. 233 

Reihe von Veränderungen zu unterziehen, es z. B. gefrieren zu lassen, 
es zu härten, oder in verschiedene Materialien wie z. B. Zelloidin 
and Paraffin einznbetten. 

In der gerichtlichen Medizin handelt es sich jedoch häufiger 
darnm, Aufschluß über verdächtige Spuren zu bekommen, welche 
sich an der Oberfläche verschiedener Gegenstände vorfinden, ohne 
daß man die Spur verändern oder sie etwa von dem Objekte herunter- 
nehmen darf. Für die Untersuchung von derartigen Objekten hat 
man seit jeher sich bemüht, Apparate zu Hilfe zu ziehen, welche die 
oft mit freiem Auge kaum sichtbaren Spuren vergrößern sollen. Der 
einfachste derartige Apparat ist die ja jedem Laien bekannte Lupe. 
Leider reicht jedoch die Lupenvergrößerung nicht sehr weit. Die 
gewöhnlichen Lupen weisen nur eine 2 bis 4 fache, höchstens 6 fache 
Vergrößerung, die Handlupen eine bis 30 fache Vergrößerung auf. 
Man hat in neuerer Zeit, um bei einer derartigen Betrachtung von 
Objekten stereoskopische Bilder zu bekommen, auch binokulare Lupen 
konstruiert, doch geben auch diese nicht über die obengenannten 
Vergrößerungen hinaus. 

Um nun feinere Objekte, welche sonst nur mit Hilfe des Mikroskopes 
znr Anschauung gebracht werden können, im auffallenden Lichte, 
wenn sie an undurchsichtigen Objekten haften, wahmebmen zu 
können, hat man eine Reihe von Apparaten konstruiert, deren möglichst 
allgemein verständliche Beschreibung der Zweck dieser Mitteilung ist. 

Die ersten derartigen Hilfsinstrumente bei der Mikroskopie dürften 
die von der berühmten Firma Zeiß in Jena konstruierten, als 
Vertikalilluminator bezeichneten Apparate sein >). Dieser Apparat 
besteht im wesentlichen aus dem oberhalb der Objektivlinsen ange¬ 
brachten Prisma, das durch eine seitliche Öffnung des Objektivs Liebt 
von der Lichtquelle empfängt und dasselbe von obenher durch die 
Linsen des Objektivs auf das Objekt reflektiert. Da sich dieser 
Apparat nicht an jedem Mikroskop anbringen ließ, ohne daß ver¬ 
schiedene Umgestaltungen vorgenommen worden wären und da er 
auch sonst verschiedene technische Schwierigkeiten bot, so wurden 
von verschiedenen Seiten, vielleicht auch ohne Kenntnis des von der 
Firma Zeiß gelieferten Instrumentes, ähnliche Vorrichtungen kon¬ 
struiert, jedoch lange Zeit nicht für gerichtlich-medizinische Zwecke 
verwendet 

Der erste, der ähnliche Apparate für gerichtlich-medizinische 
Zwecke anzuwenden suchte, war Florence, welcher seit dem Jahre 


1) Siehe den Katalog der Firma Zeiß in Jena vom Jahre 1906, S. 35. 


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234 


VIII. Ernst Kalmus 


1901 verschiedene diesbezügliche Versuche unternommen, aber erst 
im Heft vom 15. Juni 1907 in Archives d’anthropologie criminelle 
eine diesbezügliche Mitteilung gemacht hatte. Es war ihm nach zahl¬ 
reichen Versuchen gelungen, einen im wesentlichen dem Zeiß’scben 
Vertikalilluminator ähnlichen Apparat dazu zu verwenden, um Blut- 
spuren an glatten metallischen Gegenständen, insbesondere an Waffen, 
unter dem Mikroskope sichtbar zu machen. Der von Florence an¬ 
gegebene Apparat ist, wie aus der diesbezüglichen mit zahlreichen 
Abbildungen versehenen Publikation bervorgebt, ein ziemlich umständ¬ 
licher und anscheinend recht kostspieliger, insbesondere, wenn mit 
demselben, wie dies Florence abbildet, photographiert werden soll. 

Es war daher ein glücklicher Gedanke von P. Fräenkel in 
Berlin, daß er einen zu anderen Zwecken konstruierten Apparat, den 
von der Firma Leitz in Wetzlar hergestellten sogenannten 
Opakilluminator zu ähnlichen Zwecken verwendete, wie Florence 
seinen umständlicheren Apparat verwendet hatte. Auf der Naturforscher- 
Versammlung in Dresden im Jahre 1907 demonstrierte Fräenkel 1 ) 
diesen Opakilluminator, indem er zeigte, daß man mit demselben 
Blutkörperchen in einer Blutspur auf Weißblech und ähnlichen Objekten 
sehr gut zur Anschauung bringen könne, wenn Blut auf dem Objekte 
so dünn ausgestrichen ist, daß die Zellen einzeln liegen. Gerade da¬ 
durch sei es möglich noch Blutspuren zu erkennen, die der makro¬ 
skopischen Beobachtung und einem anderen Verfahren entgehen 
müssen. 

Wie schon eingangs erwähnt, habe ich auf der Salzburger 
Naturforschervereammlung im Herbste 1909 diese Angaben Fraenkels 
auf Grund einer damals 2jährigen Erfahrung vollinhaltlich bestätigen 
können 2 ). Damals konnte ich auch auf mehrfache Erfahrungen hin- 
weisen, welche ich nicht nur mit den von Leitz angegebenen 
Opakilluminator, sondern mit einem schon im Jahre 1897 zu technischen 
Zwecken angegebenen Instrumente, dem Metallmikroskop von 
Prof. Rejtö 3 ), Budapest gemacht hatte. 

1) Siche den Bericht Uber die Verhandlungen der III. Tagung der deutschen 
Gesellschaft für gerichtliche Medizin in der Viertoljahrsschrift f. gerichtl. Med., 
XXXV. Band, Supplementheft, Jahrgang 1908, S. 171: „Zum mikroskopischen 
Nachweis von Blutspuren“. 

2) Siehe auch Prager medizinische Wochenschrift, XXXIII, S. 147 u. folg. 
Nr. 12, 1908, woselbst sich eine Abbildung des Opakilluininators und ein Aus¬ 
schnitt aus einer Mikrophotographie findet, auf welch letzterer deutlich die im 
Mikroskope sichtbaren Blutspuren, bzw. Blutzellen von einem blutbefleckten 
Messer sichtbar sind. 

3) Siehe Katalog der Firma C. lteichert in Wien, S. 33, Nr. 55 u. folgende. 


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Die Epimikroskopie und ihre Anwendbarkeit in der gerichtlichen Medizin. 235 

An diesem Instrumente befindet sich in dem das Okular tragenden 
Teile des Tubus eine unter dem Winkel von 45 Grad geneigte plan¬ 
parallele Platte, auf welche das Liebt durch eine an der Frontseite 
des Mikroskopes angebrachte Konvexlinse auffallt und von dieser 
nach abwärts durch die Linse des Objektivs auf das Objekt geworfen 
wird. Als Vorzüge dieses Instrumentes gegenüber dem Opakilluminator 
konnte ich auf Grund meiner Versuche den Umstand feststellen, daß 
die Auswechslung von verschieden starken Objektiven ungehindert 
möglich war, während sie beim Opakilluminator ziemlich umständlich 
erscheint und die Anwendung des sogenannten Revolvers oder anderer 
Aiiswechslungsvorrichtungen, wie sie sonst an Mikroskopen verwendet 
werden, umständlicher ist. Welche Objekte sich zu derartigen Unter¬ 
suchungen im auffallenden Lichte besonders eignen, kann hier nicht 
näher auseinandergesetzt werden. Für den Richter mag hier der 
Hinweis genügen, daß insbesondere Blutspuren aber auch kleine 
Kristalle und ähnliche Objekte, welche sich an glatten, gut licbt- 
reflektierenden Flächen finden, zu derartigen Untersuchungen ge¬ 
eignet sind. 

In neuerer Zeit haben die obenerwähnten Apparate, insbesondere 
der Opakilluminator von Leitz nicht unwesentliche Verbesserungen 
erfahren und es dürfte wohl angezeigt sein, diese technisch sehr gute 
mikroskopische Bilder liefernden Vorrichtungen hier des Näheren zu 
beschreiben, da sie auch den Gerichtsärzten kaum allgemein bekannt 
sein dürften und meines Erachtens gewiß verdienen, in allen jenen 
Fällen verwendet zu werden, wo es sich um den Nachweis feinster 
Blutspuren an Waffen oder Messern oder ähnlichen Instrumenten 
bandelt. Diese Verbesserungen des Opakillüminators betreffen einer¬ 
seits die bessere Beleuchtung, andererseits die Möglichkeit, ohne 
Deckglas zu mikroskopieren, eventuell die so gemachten Befunde 
durch Mikrophotographie zu fixieren. 

Der Freundlichkeit der Firma Leitz verdanke ich die Klischees 
der beiden umstehenden Abbildungen Figur 1 und 2. 

Auf Figur 1 findet sich ein kleines Metallmikroskop abgebildet, 
an welches der verbesserte Opakilluminator angesetzt ist. An dem¬ 
selben Ist das mit einer verschiebbaren Linse versehene Ansatzrohr 
sowie die Schraube sichtbar, mittelst welcher das im Innern des 
Opakilluminators befindliche Prisma, welches auch durch eine plan¬ 
parallele Platte ersetzt sein kann, eingestellt werden kann. Ferner 
ist an dem Metallmikroskop ein verschiebbarer Objekttiscb angebracht, 
so daß es ohne Verschiebung des Okulars möglich ist, Objekte von 
verschiedener Dicke unter das Mikroskop zu bringen. Das auf 


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236 VIII. Ernst Kalmus 

Figur 1 gJeifllixtitig Äbgefeldöte Statjy trägiöinen Bdeuebtanggappar&t, 


welcher es gestattet de.» Opaldllumihiiter aueh hei Tageshehl zu be- 
nützen, was olme.diese Vorrichtung bisher flieht möglich war. 
Dadurch ist es tfiögheli gemuehl, dir Objekte i« ihren uatyrücüea 
Farben zu sehe?). Oienäberfe • Emnditrmg dreier Apparate ist aus 
Figur 2 zieoihcli deutlich ersichtlich. Für denjenigen, der sich em- 
gehemW mit der Technik dieses Verfahrenst befassen wdt, muß auf 
den von der Firma Ernst Leiu in Wetzlar herausgegehenen Katalog 


Nr. 43 B, sowie «uf die Oebj^nebjOnweisuug; Idflg^wiesen werdett, 
welche jederh derartigen Aßpfuraie von (hT hrrriia lieigegeheu werden. 
Was die terhesserte.:Optik anlialattcr, so hat sich mir als starke 
Vergrößerung djätis von der geuanhlen Firma gelieferte Objektiv 7» 
mit kurzer Fassung stur, üntersnichuftg von Objekten ohne Deckglas 
sehr gut WwShrt, da es sehr scharfe und lichtstarke Bilder liefert 
Was diOui.Jielifi'oile des Blutnaehweises iu leisteü vermag, taög« 

I ,- :^d‘Ä { xi^d.\ 4 > . a ___ 1. f *u -i.a^ w'v.w :' A 


ans der Photographie eines 

Taschenmessers ersehen werden, , -d ' 1 '\V-T- .vT- 


y\q\t\i 





Die Epimikroskopio und 


Medizin. 237 


ln diesem Falle galt es, möglichst rasch den Nachweis zu bringen, 

ob sich an einet der beiden Klingen des Messet», bzw. an welcher 

' 

Blutgpuren finden. Es war dies um so schwieriger, als mit freiem 


Auge wohl fiostfiecken und nur an der »Spitze der kleinen Klinge 
ein ganfc wüntigfr. kaum »teeknadelkopfgrofter auf Blut verdächtiger 


Blutfleck 




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238 


VIII. Ernst Kalmus 


braunroter Fleck sichtbar war. Irgendwelche Manipulationen oder 
eine chemische Reaktion sollten mit dem genannten Flecke nicht 
vorgenommen werden, da sich die betreffende Angelegenheit damals 
noch im Stadium der Voruntersuchung befand und das corpus delicti 
möglichst unverändert gelassen werden sollte. Als ich das Federmesser 
mit dem Opakilluminator absuchte, konnte ich an der Spitze der 
kleinen Klinge ganz deutlich schön isolierte gut erhaltene Butkörperchen 
nicht nur sehen, sondern auch mit Hilfe eines Okularmikrometers 
messen. Es ließ sich also mit Bestimmtheit sagen, daß unter den 
Rostflecken sich auch sicher Blutflecken befänden und tatsächlich 
stellte sich bei genauer Untersuchung der dem Verletzten beigebrachten 
Wunde heraus, daß dieselbe nur mit einer schmalen, kleinen Klinge 
beigebracbt sein konnte. Es war somit in diesem Falle ohne die 
geringste Veränderung ah der Blutspur zu setzen, gelungen, an ganz 
winzigen Spuren den Blutnachweis au führen. 

Auf Grund dieser und anderer Erfahrungen glaube ich in Über¬ 
einstimmung mit P. Fraenkel und Leers 1 ) u. a. diese neue Methode 
aufs beste empfehlen zu können und es wäre nur zu wünschen, 
daß die Gerichtsbehörden den Gericbtsärzten bei der Anschaffung 
dieser an und für sich nicht sehr kostspieligen Apparate die ent¬ 
sprechende Unterstützung angedeihen ließen. Auch für die Polizei¬ 
behörden, welche ja bei uns in Österreich die Voruntersuchung 
führen, würde sich die Anschaffung solcher Hilfsapparate um so mehr 
empfehlen, da ja heute, wenigstens die Polizeibehörden der Haupt¬ 
städte ohnehin mit mikroskopischen und photographischen Apparaten 
ausgestattet sind und es sich auf diese Weise ermöglichen ließe, 
schon in der Voruntersuchung einschlägige Untersuchungen eventuell 
durch die den Behörden zur Verfügung stehenden Amtsärzte vornehmen 
zu lassen. Aber auch im Gerichtssaale selbst könnte, wie ich schon 
anderen Orts hervorgehoben habe, diese Methode des Blutnachweises 
von Nutzen sein, wenn es, wie ich schon in Salzburg ausführte, nach 
dem Vorschläge von Groß, ermöglicht würde, im Gericbtssaale etwa 
vor Geschworenen mit Hilfe eines Projektionsapparates die entsprechenden 
mikroskopischen Bilder zu demonstrieren. 2 ) 

J) Siehe Otto Lccrs: Die forensische Blutuntersuchung, Berlin, Verlag von 
Julius Springer, 1910, S. 82 bis 96. 

2) Auch die direkte Projektion mit Hilfe des Opakilluminators ist mir, 
allerdings für einen kleinen Zuhörerkreis, wiederholt an geeigneten Objekten 
gelungen. 


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IX. 


Das Schicksal von Grnftleichen. 

Von 

Hans Gross. 


Was geschieht mit Graftleichen d. h. mit Leichen, die in ver¬ 
schlossenen Metallsärgen in gemauerten Grüften bestattet werden — 
wie zersetzen sie sich, in welcher Zeit geschieht dies, was hat darauf 
Einfluß, mit anderen Worten: unter welchen Umständen kann der 
Kriminalist noch annebmen, daß an einer Graftleiche eine Verletzung, 
eine Vergiftung oder sonst ein Verbrechen nachweisbar ist? 

Diese Frage kann sicher von Wichtigkeit werden, gleichviel 
fehlen, so viel mir bekannt, irgend welche Angaben; in der Literatur 
fand ich hierüber nichts und die Blätter brachten meines Erinneras 
bloß einmal einen Fall einer Exhumierung einer Gruftleiche. Damals 
war ein reicher Wiener Juwelier ohne Hinterlassung von Erben und 
Testament gestorben. Einer seiner Freunde, der sich Hoffnungen 
gemacht batte, erwirkte die Exhumierung des Juweliers, um nach¬ 
zusehen — ob er nicht etwa das Testament im Leichenrocke habet 
Die Tageblätter berichteten nun genau über die Exhumierung und 
daß die Leiche lediglich eine Pferdebahnkarte in der Tasche trug, 
aber über den Zustand der Leiche wurde nichts gesagt. — 

Tatsächlich kommen ja Exhumierungen in Grüften bestatteter,, 
also wohlhabender Personen gewiß selten vor. Jeder praktische 
Kriminalist hat Exhumierungen von Leichen beigewohnt, die in Holz¬ 
särgen, oder auch ohne solchen in der Erde vergraben waren, man ist 
also hierdurch und durch diesfällige gerichtlich-medizinische Angaben 
genügend darüber unterrichtet, in welchem Zustande man die betreffende 
Leiche nach den obwaltenden Verhältnissen finden wird; ebenso weiß 
man, wie die Verwesung von frei an der Luft liegenden Leichen 
vorscbreitet. Namentlich seitdem die sog. Leichenfauna durch 
Lacassagne, Dutrait, Brourardel, Megnin, Niezabitowsky, Biondi, 
Lichtenstein u. a., die auf die alten Arbeiten von Gürtz (1827) und 
Krahmer (1851) aufgebaut hatten, ihre Bearbeitung gefunden hat* 
ist man in der Frage der Todesdatierung usw. weit vorgeschritten. 
Aber, wie gesagt, handelt es sich immer nur um Leichen, die im 
Freien lagen oder in Holzsärgen oder — bei Verbrechen, im Kriege 


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240 


IX. Hans Gross 


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usw. — ohne solchen in der Erde vergraben waren. Über Gruftleichen 
finde ich nichts, denn auch bei Neubestattungen berühmter Männer 
wird über das den Kriminalisten Interessierende nicht berichtet; war 
die Leiche in einem Holzsarge, so wissen wir ohnehin Bescheid, 
befand sie sich aber in einem woblverschlossenen Metallsarge, so bat 
man diesen vernünftigerweise auch verschlossen gelassen und der 
Zustand historischer Leichen, die Jahrhunderte lang bestattet waren, 
interessiert uns von unserem Standpunkte aus nicht 

Zu den Leichen in Holzsargen sind auch in der Erde vergrabene 
Leichen in Metallsärgen zu rechnen; letzere bestehen in der Regel aus 
schwachem Blech, und werden von der Last der Erde zerdrückt: dann 
hat Luft und Feuchtigkeit zum Leichnam Zutritt und sein Schicksal 
ist fast dasselbe wie eines im Holzsarge Begrabenen. Vielleicht 
nicht viel anders verhält es sich auch bei vielen Gruftleichen, wenn 
der Metallsarg überhaupt nicht luftdicht geschlossen war, oder wenn 
er, etwa verlötet aber aus schwachem Blech hergestellt, durch die 
Fäulnisgase gesprengt wurde. Die Gruft ist natürlich auch nicht 
luftdicht und so wird in einem solchen Falle — also Leiche in 
schlechtschließendem Sarge in der Gruft — der Zersetzungsvorgang 
ähnlich, wenn auch langsamer vor sich gehen, wie in einem Erdgrabe. 
Was geschieht aber, wenn der Sarg aus starkem Metall hergestellt 
und sorgfältig verlötet wurde, wie es ausnahmslos bei Transportleichen 
und auch sonst in manchen Fällen geschieht? Dann ist Entweichen 
der Flüssigkeit und somit Mumifikation wohl ausgeschlossen. Ist 
der Betreffende im Sommer gestorben, so hat er sicherlich zahlreiche 
Fliegeneier mit in den Sarg bekommen. Diese entwickeln sich, es 
entsteht wohl eine Anzahl von Fliegengenerationen im Sarge und ihre 
Larven verzehren die Leiche bis auf die festen Gewebe. Aber im Winter? 

Ich meine, es wäre eine dankenswerte Arbeit, wenn üns Fach¬ 
männer in der Sache unterrichten und uns namentlich darüber auf¬ 
klären wollten, unter welchen Verhältnissen die Exhumierung einer 
Gruftleiche noch kriminalistischen Wert haben könnte. 

Man wird vielleicht sagen: die Frage sei in besonderem Falle 
leicht zu lösen, man sieht eben nach, was gerade bei Gruftleichen 
keine großen Schwierigkeiten bietet. Allerdings: technische Schwierig¬ 
keiten gibt es hierbei selten, aber die Scheu vor Erregung von Auf¬ 
sehen, gewisse Rücksichten, die Forderungen von Pietät und andere 
Gründe werden die Veranlassung dazu geben, die Öffnung eines 
Gruftsarges auf jene Fälle einzuschränken, in welchen im voraus 
positives Ergebnis erwartet werden kann. Wann dies aber sein kann, 
sollten wir im allgemeinen wissen. — 


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X. 


Aus dem Tierärztlichen Institut der k. k. Deutschen Universität 

in Prag. 

Zur Diagnostik aufgefundener Kadaverteile. 

Von 

Privatdozent Dr. Ludwig Freund. 

(Mit 3 Figuren mit Text.) 


Im Jahre 1906 veröffentlichten Prof. Dexler in dieser Zeitschrift •) 
eine Mitteilung über den Fund zweier Hände in einer Müllablagerungs¬ 
stätte, die, ursprünglich für Menschenhände gehalten, zu gerichtlichen 
Schritten Anlaß gaben, bei näherer Untersuchung aber sich als Löwen¬ 
tatzen entpuppten. Die Diagnose war nicht auf den ersten Blick zu 
fallen gewesen, vielmehr bedurfte es einer sorgfältigeren Analyse, 
bevor die Provenienz der Präparate festgestellt werden konnte, trotz¬ 
dem die Zahl der Extremitätenformen von Säugetieren, die von Laien 
mit menschlichen verwechselt werden können, nicht groß ist Es kamen 
eigentlich zum Schlüsse nur die großen Katzen oder Bären in Betracht, 
von denen die erstere Möglichkeit zutraf. 

Eis dürfte nun die Leser dieser Zeitschrift interessieren zu erfahren, 
daß kürzlich auch die zweite Möglichkeit von Verwechslungen in die 
Tat umgesetzt wurde. Der Fund einer Hinterextremität gab Anlaß 
zu einer Untersuchung, die ursprünglich auf die Herkunft von einem 
Menschen, dann von einem Affen abzielte, schließlich aber das auf¬ 
fallende Ergebnis zeitigte, daß es sich um eine Bären-Extremität 
handle. Daß sich Laien, weiter aber Mediziner täuschen ließen, kann 
nicht weiter wundernehmen, weil jedoch auch berufenere Fachmänner 
auf den ersten Blick eine Fehldiagnose stellten, oder es doch an einer 
vorauszusetzenden sofortigen Sicherheit fehlen ließen, wird es vielleicht 
nicht uninteressant sein, auf den Fall näher einzugehen. 


1) Bd. 23, p. 249: Zur Diagnostik aufgefundener Kadaverteile. 
Archiv für KriminaUnthropologie. 40. Bd. 16 


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X. Lt’bwia Fiu'Pkd 


ijfp: handelte sich utu eine vollständige, rechte HinterexfremHät 
eines groben Säugetieres (F%> U bestehend aus Cttgr* und IJnter- 
sobenkelkuneben mit Kniescheibe nebst Fuß, dem die letzten Zebra* 
glieder im Gelenk entfernt worden waren. Die Extremität war größtere- 
teifa abgefleisehf,die Knochen jedoch noch durch Sehnen and FUdseb- 
reste ii» Zusammenhang belasset?. Die Abfleiadhüng war mit einem 
Messer Vorgenommen worden; insbesondere an doo langen Röhren* 
knockten eine ziemlich vollkommene, w^agkieh Perio 3 tstreifeo noch 
vorhanden waren. In den Winkeln der Knockten* am Knie und am 
Fuße, besonders der Fußsohle und zwischen den Zehen, wareu etwas 
mehr Muskel, K<*tt- und S'bnenifste erhalten. Alle ’W Geh teile war«n 
ganz Fingetrueknet, die Muskulatur dankeirotbraun, Feit gelb, Sehnen 


juf ütnn tt<yi}eu fi«-|5«?ncl^a ; £xtrmuUttt vän vorne. 


Go gle 


und Bind.egew«.*i»H beHbraurt-gelh, an den Kanten durchscheinend, die 
Knochen Mihiratuu, die dlst&Ieu freien Gvhiukfiäcbeo der Mitrekehem 
giieder duokelhmun, glänzend. Das ganze Präparat machte nach der 
Färbung den Eindruck, als ob es geräuchert worden wäre, worauf 
auch der scharfe Geruch bmwkts. Die Endzebejiglteder waren nbrr 
sicher vor der eventudleo ftäisefoerang abgenomreen vt;örd&K Eine 
andere Ansicht gingdahin,\daß es sich vielleicht um. ein altes, ein* 
getrocknetes Karbolpräftarat handle,, 

Vvm den Knüclten (Fig. *2) ist folgende» m vermerken. Der 
Femur, von .gewöhnlicher Form besitzt von der Spitze des Trochanter 
oiajor im zitru distalen Ende des C'ondvlus lateralis eine Lange von 
TüTt* mm, «äne maximale Dicke \jbd 3*> min; der Schaft ist gerade, 
ein Trochanter icrbos fehlt. Tibia und Fibula von gewöhnlicher 
Form feind in der M Ute tiefe Spatium interossettui 28 min von einander 
entfernt. Die Tibia bat vom Oondylnt; medialis bis zum Malleolus 







Zur IKägnustik aur^fuäil&itfr KaitaVerteiie. 243 

medialia eine- Länge »oft äspjr mm, m 4& Mitte ein« iaÄX>*<fiafe frontale 
Uicke von 29 mm. Die mütfece/FikulÄdißke betrat Wh&’iDt». 
Patella ist im Zusammenhang*? mit der Tibia, Die Fuüwarzei (Fig. tj 
Ss : H4) ißt von Weichteilen gedeckt, »ür das Tuber Calcaoei ist deutlich, 
schlank, seitlich komprimiert. Es sind fünf gut aüsgebiiüete Zehen 
vorhanden, sie sind langgestreckt, parallel gestellt, etwas medial ziehend 
Die dritte und vierte Zehe sind am längsten, _ _____ 

die zweite and fünfte etwas kürzer als i'y : 
diese, die erste etwas kürzer ai.> !Hzter\ 

Die Metatarsalia sind wob! rn’.x, ii-krl:. «!»<• 

Phalangen kurz, die Oruodphalangen etwas - 

auf-, die Mittelphalang* n etwas »itgebogn». 

Die Endphalangen sind wie m-wähnr sorg- 
fähig exarlikulierf, Die futbmhle ist etwas vBk 

ausgehöhlt.die Längsachse d<~ ) uik-s senk:, 
recht zu der des l’ntertiehecikeho die Fuji-' ' ... 

flädi-e im allgeimtneti i?nf dem »ttß*T'*n if/’ ! 

Fußrande mehr äüf tldft tSndeti ätifrtlljebd 
.Der Fuß ist somit dh: jifentigiitdi’r fSeliiere 
eängerfußi 
Wenn 


W»Pv,:(iä$ non der. Fracit- der 
Hetkunffsmöglmhke'it dihse.s Präparates stn- 
wendftn, Sfi zeugt ups ein Dlick auf die 
heigegebenen .Anbiid fingen. daß die von 
Laien geäußerte : it!is‘{d|tv. : ''Ö'j ■■■ lifthdle «ich 
um ein humanes Organ, ^ntHdmldhar ist, 
namentlich wenn ma»'. pfpi. dt« CH*pr- 
und V ntersebenfedß, ';d^‘;^.i|b^higkeit des 
Fußes, seine Plant igradie ';>t*yr.' ui Ue- 
rrächt zieht ,Div vci'm«Vpt.U<ihp. 1 ' ift^riku«|(y 
von einem Affen klingt schon h*)ü2?t 
plausibel, Wed dieser Faß von eimm< m 
riesigen Anthropoiden stammen rtiußm r daß 
dessen rdodett oder ein TOI dea<Pibeft .'im 
Hinblick auf seinen iieiUdiimth.m Kauf wärt 
.nicht. ohne w:oitercs „gefunden“ w^ rdcB dürfte*. Aber abgesehen davon 
«prede'i» gegen beide Anseliaiuingrü einige. • KcaWwleftteiten» die In i 
■näherer IMhichtuog sofort aaffallei»; ?<> das abweichende 14»ng«*n- 
fisrhlltnis von Ober- tmd Üutersghonki.C das große Spatium inter* 
das sghtanke Tuber CäieartcL diu Kürze der Phalangen gegen¬ 
über dep: Afetatiarftaliftu, kurz to Längen Verhältnis der Zehen über- 


Figr & r*t tH:TjOi!dic|i 1 de*t 
Mt j fgeh^u^t e n Ex l r*u i i $1., 


Go gle 





X. Eiüjiwn* r«erift> 


vor ailem aber die Form der großen Zehe, Diese ist heim 
Menschen 'fiel dicker und breiter, heirö Affe» opponicrbär and daher 

iifig ähnlich 


ehenfells anders gebaut wie hier, 


wo das tfetaharpal?.' 
dem der andern Zehen, eng diesen ängesiddosäen und parallel 
lagert ist. 

Sind sojuit diese beiden Formen ausgeschlossen, so kann eigent¬ 
lich im Hinblick auf die Größe der vorliegenden Knochen nur noch 
ein Raubtier in Frage kommen und von diesen mit Rücksicht auf 
die Sold*mgftit0£k*ft nur e * n t-räi'de. Dafür spricht auch vor allem 
ein äußere-» Kennacieben des vorliegenden Präparates, auf das schon 
im Prinzipe Prof. Dexter seinerzeit bragewiesen hat, der die gleiche 
Erscheinung auch bei deo yöa ihm beschriebenen Lövventntzen beob- 


ObpDÄDbiL^t dt*« Filti**. 


■ 

achten und deuten keimte, Mmiicli die sorgfältige Abtrenmiogder 
Endzehenglieder. Diese trägen auch hei den fjrsiden gtosle. wohl 
aasgebildete Flomkrallen, die ebe-nso wie hei iden großes Katzen einen 
Umuitlfewert (als Jagdtröphäe* besitzen. 

Weitere Stützen för diese Annahnti* liefert dann die osteologisehe 
Untersuchung -und- ^NiatÄ^r^öichwgV Sb ergeben schon die 
liingen, die Giebel un Brrnrn?Klassen und: Ordnungen dea Tier¬ 
reichs, ß. Bd . 5. Abt. jb Mt2r.vbiU£eh»oF, «ntd- ; 3 *tbfc ; bei.- .Drän* arctos 
angibl ;$$0: ttimvOiidv'SSfif '«•tne fitst völlige IJbereißstiHimttng mit 
unseren Massen 


Ferner weist pi»wer (Eid? iVi dtg--'Osteologie der 
^«geti^'H|rG^p ÄHeh . auf du» von »iis beachtete beträchtliche 
Spatium tnterossetn« zwischen Tibia und Fibula bei {len Raren hin, 
Am wesentitebsten eitel aber die Eigenschaften des FiißeiSi. der alle 
für die Bären charakteristischen Eigentümlichkeiten aufweist. So 


Original frorm 

UNIVERSiTY OF MtCHIGAN 









Zur Diagnostik aufgefundener ivada^verteile. 


245 


haben alle Ursiden den an unserem Präparate sichtbaren flachen, 
breiten und starken, typisch plantigraden Fuß, bestehend aus fünf 
Zehen (Bronn, p. 616; M. Weber, Die Säugetiere, p. 317 und 521). 
Die Innenzehe (große Zehe) ist in der Familie der Ursidae vorhanden 
und gut entwickelt, wenn schon kürzer als die übrigen Zehen (Flower, 
p. 317). Die (hier nicht vorhandenen) Nagelphalangen sind stets 
seitlich komprimiert und bei hoher Ausbildung der Hornkrallen mit 
einer basalen Hornscheide des Nagelbettes versehen (Weber, p. 522). 
Falls das vorhandene Objekt vollständig mazeriert wäre, so würde 
ein auffallendes Merkmal sichtbar werden, nämlich das Vorkommen 
einer sechsten Zehe, die bei Ursus angetroffen wird und nur mit dem 
Entocuneiforme artikuliert (Bronn, p. 617). 

Ziehen wir nun aus all diesen Angaben unsere Schlußfolgerung, 
so erscheint die Diagnose des in Rede stehenden Objektes als Hinter¬ 
extremität eines ausgewachsenen Ursiden und zwar wahrscheinlich 
eines braunen Bären berechtigt. Für die Frage, wieso eine Bären¬ 
extremität ein Fundobjekt werden könne, dürfte der Charakter der 
erhaltenen Weichteile einen Fingerzeig geben. Die Extremität scheint, 
wie oben erwähnt, geräuchert worden zu sein, die Knochen somit 
von einem Bärenschinken zu stammen. Als Sammlungspräparat hat 
sie wegen des Mangels der Endzehenglieder wohl ihren Wert ver¬ 
loren. Hinzuweisen wäre nur noch auf die gewiß merkwürdige Er¬ 
scheinung, daß den ersten Betrachtern des vorliegenden Präparates 
keine Ahnung von der wahren Diagnose desselben aufdämmerte. 
Begründet ist dies, wie es schon Prof. Dexler ausführlich besprochen 
hat, in der absoluten Seltenheit solcher Funde, wodurch kein Zweifel 
bei der Heranziehung der naheliegenden und gewöhnlichsten Deu¬ 
tungen laut wird. Soll es ja vorgekommen sein, daß vor Jahren 
in Ungarn ein aus der Donau gezogener Bärenkadaver für einen 
Verunglückten gehalten, obduziert, sogar mit irgend jemandem identi¬ 
fiziert und mit kirchlichen Ehren bestattet worden ist. Der Irrtum 
soll jedoch erkannt und der Kadaver vom Friedhof entfernt worden 
sein. Hoffentlich schärft die Publikation und das dadurch herbei¬ 
geführte Bekanntwerden solcher Vorkommnisse, wie des vorliegenden 
oder des von Prof. Dexler besprochenen, den Blick der in Betracht 
kommenden Persönlichkeiten, wodurch der beabsichtigte Nutzen er¬ 
reicht wäre. 


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Original from 

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XI. 

Zur Kriminalitftt des Kindesalters. 

Von 

Oberarzt Or. Mönkemöller, Hildesheim. 


Im Aufträge des Landesdirektoriums der Provinz Hannover 
habe ich im letzten Quartale 1909 die schulpflichtigen Fürsorgezöglinge 
der Provinz, soweit sie in Anstalten untergebracbt waren, einer systema¬ 
tischen psychiatrisch-neurologischen Untersuchung unterzogen. Es 
handelte sich im wesentlichen darum festzustellen, in welchem Maße 
die geistige Minderwertigkeit in diesen Abschnitt der Fürsorgeerziehung 
hineinragt. In praktischer Beziehung war der wichtigste Zweck dieser 
Untersuchungen die Ermittelung derjenigen Zöglinge, bei denen die 
geistige Schwäche so stark ausgeprägt war, daß ihre Überführung 
in eine Hilfsschule bzw. in eine Abteilung für Schwachbefähigte 
erforderlich erschien, die auch mittlerweile erfolgt ist. (Die ausge¬ 
wählten evangelischen männlichen Fttrsorgezöglinge sind in der an 
das Stepbansstift zu Hannover angegliederten Hilfsschule untergebracbt 
worden.) Was die Einzelheiten dieser Untersuchung in pädagogischer 
Hinsicht anbetrifft, verweise ich auf den an das Landesdirektorium 
zu Hannover erstatteten ausführlichen Bericht*). 

Wenn ich an dieser Stelle nochmals besonders auf die Ausbeute 
dieses Materials in krimineller Beziehung eingehe, so rechtfertigt 
sich das sicherlich, weil ein Material von einer ähnlichen Zusammen¬ 
setzung wie das jetzt durchforschte, in einer solchen Menge und unter 
diesen Gesichtspunkten bisher wohl noch nicht einer derartigen Unter¬ 
suchung unterzogen worden ist. Zugleich erschien es als nicht so 
fernliegend, manche Vergleiche mit einem ähnlichen Materiale zu ziehen, 
das mir Vorjahren an der Zwangserziebungsanstalt der Stadt Berlin 


1) Bericht an das Landesdirektorium der Provinz Hannover über die 
psychiatrisch-neurologische Untersuchung der schulpflichtigen Fürsorgezögiinge 
der Provinz Hannover. Zeitschrift für die Erforschung und Behandlung de 
jugendlichen Schwachsinns. Jahrgang IV, Heft 1. 


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Zur Kriminalität des Kindesalters. 


247 


zu Lichtenberg') zu Gebote stand, an der ich 300 Zwangszöglinge 
einer ähnlichen Untersuchung unterzog, nur daß damals die Unter¬ 
suchungen, abgesehen von der Feststellung der psychischen Eigenart 
auch nicht unwesentlich von kriminalantbropologischen Ge¬ 
sichtspunkten beeinflußt wurde. 

Was derartigen Untersuchungen nach dieser Richtung hin ihre 
Bedeutung gibt, das ist vor allem die Möglichkeit, die hier vorzu¬ 
liegen scheint, daß man noch am einwandfreisten festzustellen ver¬ 
mag, wie weit das Verbrechen aus der Veranlagung des Täters 
hervorgeht, und wie weit es .von den äußeren Verhältnissen 
abhängig ist Späteren Untersuchungen an erwachsenen Verbrechern, 
denen die Mängel aller retrospektiven Betrachtungen anhaften, können 
fast nie zu ebenso sicheren Resultaten führen, weil eine genaue Vor¬ 
geschichte selten zu erhalten ist. Die eigenen Angaben der Verbrecher 
müssen, ganz abgesehen davon, daß ihre subjektive Glaubwürdigkeit 
nur zu oft nicht über allen Zweifel erhaben ist, mit Vorsicht aufge- 
nommen werden, weil sie selbst unbewußt der Erinnerungsfälschung 
unterliegen. Das Bild der ersten Entwicklung, die für die Genese 
des Verbrechens oft so unendlich wichtig ist, wird durch die später 
bineinspielenden Ereignisse und Einflüsse verwischt und entzieht sich 
einer ungetrübten Deutung. 

Das Material, wie es mir bei meinen Untersuchungen vor 
Augen trat, erfreut sieh der Einheitlichkeit, soweit man eine solche 
bei derartigen Untersuchungen erwarten darf, und stellt die Verwahr¬ 
losung in ihrer schwersten Gestalt dar, die in den weitaus 
meisten Fällen schon zu Konflikten mit den Gesetzen 
geführt hat Mit ganz vereinzelten Ausnahmen stehen die Zöglinge, die zur 
Untersuchung kommen, noch im Zwange der Schule. Eine Reihe von 
ursächlichen Faktoren, die später in der Gestaltung der persönlichen und 
speziell der psychischen Verhältnisse schon des Jugendlichen ein gewich¬ 
tiges Wort mitzusprechen haben, Eintritt in das Geschlechtsleben, Al¬ 
koholismus, Syphilis usw. kommen noch nicht in Betracht. Sie sind 
noch nicht in das Leben binausgetreten, sie haben noch nicht mit 
den Gefahren der Selbständigkeit zu kämpfen gehabt, der Kampf ums 
Dasein, die Sorgen um die Existenz, die trüben Seiten des Familien¬ 
lebens, die Konkurrenz der Berufsgenossen ist ihnen bis jetzt erspart 
geblieben. Gefängnis und Zuchthaus haben noch nicht die ungünstigen 
Einflüsse, die ihnen manchmal nicht zu nehmen sind, auf sie wirken 
lassen. Das jahrelange Vagabundenleben hat noch nicht in dem 

1) Mönkemö IIer, Psychiatrisches aus der Zwangserziehungsanstalt. Aligem. 
Zeitwhr. für Paych. 1899, Bd. 56, S. 14. 


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248 


XI. Mönkemöller 


Maße wie später die ungeselligen und sozialparasitiscben Triebe ge¬ 
schärft Der Einfluß zünftiger Verbrecher bat noch nicht seine Wirk¬ 
samkeit entfaltet. 

Im Gegensätze zu dem schulentlassenen jugendlichen Krimi¬ 
nellen, dessen Psyche auch in mancher anderen Beziehung verwickelter 
und unübersichtlicher erscheint, ist dem kindlichen Verbrecher noch 
eine schwere Prüfung in den meisten Fällen erspart geblieben: Die 
Pubertät mit all den schädlichen Einflüssen, die ihr manchmal 
in körperlicher und geistiger Hinsicht anhaften, steht der großen 
Mehrzahl der Zöglinge erst bevor oder ist doch noch nicht zum Ab¬ 
schlüsse gelangt 

In dieser Lebensperiode läßt sich die Macht der äußeren un¬ 
günstigen Einflüsse, die im wesentlichen in den Eindrücken 
gipfelt, die dem Kinde im Elternhause zugeführt werden, noch ver¬ 
hältnismäßig leicht übersehen. So kann man die psychische Eigenart 
und die Wirkung des Milieus in ihrem Zusammenhänge mit dem 
sozialen Verfalle und dem Eintritte in die kriminelle Karriere, der für 
die spätere Verbrecherlaufbahn von größtem Belang ist, einigermaßen 
gerecht abschätzen. 

Da das Kind noch unter der dauernden Aufsicht und Beobachtung 
der Schule steht oder doch stehen sollte, müßte man einen weitgehen¬ 
den Aufschluß über die bisherige geistige Leistungsfähigkeit, über 
krankhafte Äußerungen seines Seelenlebens und seine Stellung zu Moral 
und Ethik erwarten. 

Und wenn man bedenkt, welche praktischen Folgen aus der 
möglichst frühzeitigen Feststellung dieser kriminellen Neigungen 
erwachsen können, daß die vorbeugenden Maßregeln, so weit sie 
der angeborenen Verbrechernatur überhaupt Herr werden können, in 
diesem frühesten Stadium einsetzen müssen und gewaltig von dem 
psychischen Zustande dieser Rekruten des Verbrechens beeinflußt 
werden, so liegt die Bearbeitung derartiger Untersuchungen auf der 
Hand. Sie liefern für spätere Zeiten, wenn das kindliche Verbrecher¬ 
tum sich als bedeutungsvoller Vorläufer eines chronischen Kampfes 
mit den Gesetzen erwiesen hat, zugleich eine Vorgeschichte, die 
vor allem für die psychiatrische Beurteilung, der es ja ab und zu wenig¬ 
stens vergönnt ist, in das Dunkel der Verbrecherseele Licht zu bringen, 
in keiner anderen Weise gewonnen werden kann. Und da der Erfolg 
der erziehlichen Einflüsse, die für die Gestaltung der späteren 
Kriminalität wesentlich ins Gewicht fallen, nicht minder durch die 
Gestaltung der kindlichen Psyche beeinflußt wird, so erscheint die 
Feststellung des Geisteszustandes um so mehr indiziert. 


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Zur Kriminalität des Kindesalters. 


249 


Das Material, das zur Untersuchung stand, erscheint auf dem 
ersten Blatt in ethnischer Beziehung insofern ziemlich einheitlich, 
als es die Fflrsorgezöglinge einer Provinz in sich faßt Sieht man 
allerdings, wie wenig bodenständig die Kreise sind, aus denen unsere 
Füreorgezöglinge stammen, so wird in diese Einheitlichkeit bedenk¬ 
lich Bresche gelegt " 

Was den Gesamtbezirk anbetrifft, aus dem sich die Anstalts¬ 
bevölkerung rekrutiert, so sollte man keine zu große Kriminalität 
erwarten. Hannover hat im großen und ganzen den Charakter einer 
ländlichen Provinz, die Fabrikstädte sind verhältnismäßig wenig ver¬ 
treten, wenn auch andererseits einige Seestädte kompensierend daftlr 
eintreten. Mit verhältnismäßig wenigen Ausnahmen stehen die Zög¬ 
linge im Alter bis zu 14 Jahren. Alle entbehren sie der Selbständig¬ 
keit, an allen muß noch das Problem der Erziehung gelöst werden. 
Auch insofern scheinen sie auf demselben Niveau zu stehen, als sie 
der Verwahrlosung im allgemeinen verfallen sind oder ihr zuzutreibeu 
drohen. 

Mit Rücksicht auf ihr Verhältnis zur Kriminalität allerdings 
müssen sie von vornherein verschieden gewertet werden. Die vor¬ 
nehmste Aufgabe des Fürsorgeerziehungsgesetzes soll es ja sein, die 
Verwahrlosung zu verhüten und das Kind von vornherein außer¬ 
stand zu setzen, mit den Strafgesetzen in Konflikt zu kommen. Wie 
wir sehen werden, hat die Praxis in der Ausführung der Bestimmungen 
des Fürsorgeerziehungsgesetzes es dahin gebracht, daß weitaus die 
meisten Kandidaten der Fürsorgeerziehung ruhig in den Registern 
der jugendlichen Kriminalität mit geführt und unter demselben Gesichts¬ 
winkel betrachtet werden können. 

Was ihr Verhältnis zum späteren Verbrechertum anbetrifft, so 
müssen auch solche, die sich schon mehrerer Gesetzesübertretungen 
schuldig gemacht haben, mit verschiedenem Maß gemessen werden. 
Eine Anzahl von ihnen, an denen die Fürsorgeerziehung glückt, 
werden in den Listen der erwachsenen Verbrecher nicht auftauchen, 
weil sie nur aus Zufall, infolge von äußeren Ursachen kriminell ge¬ 
worden sind, und bei ihnen die Fürsorgeerziehung zum erstrebten 
Ziele führt Andererseits gibt es hier auch Zöglinge, die sich noch 
keiner Gesetzesübertretung schuldig gemacht haben, — oder denen 
doch noch nicht eine solche nachzuweisen gewesen ist, — die sich 
trotzdem aber später einen Platz im Reiche des Kriminellen sichern 
werden. 

In dem Materiale, das in den Fürsorgeerziehungsanstalten zur 
Aufnahme gelangt, fehlen weiterhin die jugendlichen Verbrecbernaturen, 


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250 


XI. Mönkemöller 


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die besseren und wohlhabenderen Bevölkerungsscbichten 
entstammen. Treten hier bei jugendlichen Individuen derartige 
kriminelle Instinkte zutage, so wird für sie wohl ausnahmslos io 
anderer Weise gesorgt und ihnen eine straffere Erziehung zugänglich 
gemacht, ohne daß die Maßregeln der Fürsorgeerziehung in Tätigkeit 
zu treten brauchen. Es sind das gerade die Elemente, bei denen der 
Verfall in die Kriminalität dem Milieu fast nie zur Last gelegt werden 
kann, sondern einzig und allein auf Rechnung der angeborenen Ver¬ 
anlagung gesetzt werden muß. Die soziale Umgebung war bei unseren 
Zöglingen im wesentlichen die gleiche. 

Im ganzen wurden 589 Zöglinge untersucht, und zwar verteilten 
sie sich auf 10 verschiedene Anstalten in folgender Weise: 


Tabelle I. 

Name der Anstalt männlich 

weiblich 

Summa 

Bernwardshof (katholisch) 

32 

— 

32 

Klein-Bethlehem „ 


20 

20 

Schladen (evangelisch) 

76 

— 

76 

Großefehn 

44 

12 

56 

Himmelpforten „ 

37 

10 

47 

Stephansstift „ 

57 

— 

57 

Burgwedel „ 

92 

— 

92 

Hünenburg „ 

j 38 

22 

60 

Thnine (katholisch) 

[ 24 

8 

1 32 

Linerhaus (evangelisch) 

! 72 

45 

| 117 

Sa.: 

472 

| 117 

589 


Außerdem habe ich noch in mehreren dieser Anstalten 34 pri¬ 
vate Zöglinge mit untersucht, die von ihren Eltern, Vormündern und 
mehreren Stadtgemeinden und Landkreisen dort untergebracht waren. 
Die Fürsorgeerziehung war noch nicht über sie verhängt. Sie sind 
deshalb in den Zahlen meines Berichts auch nicht mit berücksichtigt 
worden. Sie stellen insofern ein besseres Material dar, als die 
Aufnahme in die Anstalt meistens schon dann veranlaßt wurde, wenn 
die Verwahrlosung noch nicht zu hohe Grade erreicht hatte. Erfolgte 
sie durch die Eltern, so bewiesen diese dadurch, daß sie noch ein 
Urteil für die Lage der Sache hatten, und daß es ihnen selbst nicht 
an dem Bewußtsein der eigenen Unfähigkeit fehlte, dem kriminellen 
Niedergange entgegenzuarbeiten. Sie entsprachen den ziemlich ver¬ 
einzelten Eltern, die in ihrem Kummer über den moralischen Unter- 


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Original fro-m 

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Zur Kriminalität des Kindesalters. 


251 


gang ihrer Kinder und dem Gefühle der eigenen Ohnmacht selbst 
den Antrag auf Fürsorgeerziehung gestellt haben. Bei einigen dieser 
privaten Zöglinge erfolgte diese anscheinend so verständige Maßregel 
nnr deshalb, damit die schon drohende Fürsorgeerziehung nicht ver¬ 
hängt werden sollte, sodaß diese Zöglinge kaum auf einem anderen 
Boden stehen wie ihre diesem Verfahren regulär verfallenen Kameraden. 

Diese 34 privaten Zöglinge unterschieden sich in ihrem äußeren 
Gebaren zunächst nnr recht wenig von ihren Kameraden. Es wurden 
untersucht in 

Schladen 2 private Zöglinge 

Burgwedel 6 B „ 

Stepbansstift 24 „ „ 

Linerhans 2 „ „ 

Summa: 34 

Was die Religion der untersuchten Zöglinge anbetrifft (539 waren 
evangelisch, 84 katholisch), so muß man sich wohl aller Schlu߬ 
folgerungen auf irgend einen Zusammenhang zwischen ihr und der 
bestehenden Kriminalität enthalten. Muß schon so wie so den ur¬ 
sächlichen Beziehungen zwischen beiden nur mit größter Vorsicht 
nacbgegangen werden, so kommen sie für das kindliche Alter, in dem 
unsere Zöglinge stehen, erst recht nicht in Betracht Dabei sind die 
Zahlen, die hier zur Verfügung stehen, viel zu klein, um irgendwelche 
Verallgemeinerung zu erlauben. 

Dieselbe Beschränkung müssen wir uns in unseren Schlußfolge¬ 
rungen aaferlegen, die wir aus der zahlenmäßigen Verteilung nach 
dem Geschlechte ziehen könnten. Das enorme Überwiegen der 
männlichen Anstaltsbevölkerung gegenüber der weiblichen, 506 zu 117, 
fordert ja zum Nachdenken heraus. Aber man darf nicht vergessen, 
daß nur ein Teil des Fürsorgeerziehungsmaterials in Anstalten weilt. 
Ein weit größerer Teil wird in Familienpflege untergebracht Für 
die kindlichen Stadien der frühzeitigen kriminellen Entartung, in der 
das weibliche Element sowieso zurücktritt, sind die weiblichen Zög¬ 
linge im Gegensätze zu ihren männlichen Altersgenossen, die über 
größere Körperkräfte verfügen und der Initiative nicht entbehren, 
lenksamer und williger. Sie halten sich deshalb in der Familienpflege 
besser. Für sie fällt noch mehr wie für die Knaben ein Hauptfaktor 
in ihrem kriminellen Leben, die Geschlechtsreife, mit verschwindend 
wenigen Ausnahmen aus. In den Jahren, in denen sie mannbar 
geworden sind und zum Teil der Prostitution und damit indirekt der 
Kriminalität zustreben, sind sie, wenn sie der Fürsorgeerziehung über- 


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252 


XI. Mönkemöller 


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antwortet werden, meist der Familienpflege derart entwachsen, daß 
sie die Anstalten füllen, sodaß sich für die späteren Perioden der 
Fürsorgeerziehung die Zahlen zu ungunsten der weiblichen Fürsorge¬ 
zöglinge in recht bemerkbarer Weise verschieben. Was sich in schul¬ 
pflichtigem Alter an weiblichen Zöglingen in den Anstalten aufhält, 
stellt in der Regel die schwereren Formen der kindlichen Verwahr¬ 
losung dar. 

Dem Alter nach verteilen sich die Zöglinge in folgender Weise: 




Tabelle II. 



Jahre 

Knaben 

Mädchen j 

Jahre 

Knaben 

| Mädchen 

5 

— 

1 

13 

96 j 

20 

7 

6 

1 3 

14 

113 

25 

8 

15 

2 

15 

' 71 

IS 

9 

25 

10 

16 

I 11 1 

i 3 

10 

39 

12 

17 

, 4 

i 

11 

53 

11 

18 

! 1 

2 

12 

l 72 

1 9 

Summa: 

| 506 | 

i 11" 


Da die Anstalten (bzw. im Stephansstift die entsprechende Abteilung) 
nur zur Aufnahme von Schulpflichtigen bestimmt sind, stellen die 
Zöglinge der höheren Jahresstufen nur vereinzelte Ausnahmen dar, 
die durch äußere Verhältnisse, meist durch ein Versagen in der Lehre 
und Familienpflege zur Zeit der Untersuchung vorübergehend in die 
Anstalt zurückgetrieben sind. 

Für unsere Zöglinge schließt der Anstaltsaufenthalt in der Regel 
zunächst mit der Konfirmation ab. Da diese in Ostfriesland in der 
Regel erst mit dem 15. Jahre stattfindet, und eine nicht geringe Anzahl 
der Zöglinge so spät und in einem geistig so verwahrlosten Zustande 
in die Anstaltslaufbahn eintritt, daß die Konfirmation noch hinaus¬ 
geschoben werden muß, ist die Zahl der 15jährigen verhältnismäßig 
sehr groß. Die jüngsten Jahrgänge sind spärlich vertreten, weil man 
sie nur mit einem gewissen Widerstreben, wenn die Verwahrlosung 
zu Hause besonders schlimme Auswüchse treibt, der elterlichen Pflege 
entzieht und, solange es irgendwie geht, nur der Pflege und Er¬ 
ziehung in fremden Familien anvertraut. 

Je mehr die körperliche Kraft und die Selbständigkeit steigen, 
und die Umsetzung krimineller Triebe in die Tat möglich wird, um 
so mehr strömen sie der Fürsorgeerziehung zu. Sie erweisen sich 
allmählich für die laxeren Maßregeln der Disziplin, wie sie den Fa- 


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Original fro-m 

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Zur Kriminalität des Kindesalters. 


253 


milien zur Verfügung stehen, ungeeignet und erwerben sich die 
Anstaltsreife. 



Tabelle III. 


Heimat 

Zahl 

Heimat 

Zahl 

Hannover (Stadt; . . . 

90 

Goslar. 

2 

Linden. 

38 

Stade. 

8 

Omabrück. 

21 

Celle. 

17 

Hildesheim. 

29 

Lünebarg. 

14 

Harburg. 

54 

Emden. 

5 

Wilhelmsburg 

1 13 i 

Hameln. 

4 

Lehr, Bremerhaven. 

i 

Kleine Städte .... 

i 101 

Geestemünde . . . 

t 29 ; 

Land. 

1 196 


Göttingen. 7 I! Sa.: j 623 


Da Hannover im allgemeinen ein starkes Überwiegen der länd¬ 
lichen Gemeinden über die städtischen aufweist, ist der unverhältnis¬ 
mäßig große Anteil, den die Städte als hauptsächlichste Brutstätten 
der Verwahrlosung stellen, und der in jeder Form der Kriminalität 
znm Ausdruck kommt, um so markanter. Vergessen darf hierbei nicht 
werden, daß die unsicheren und asozialen Elemente, die auf dem 
Lande geboren sind, gern der Stadt Zuströmen. Auch nimmt man 
in der Stadt, in der man mit der Einrichtung der Fürsorgeerziehung 
vertrauter ist, in welcher der gerichtliche Apparat müheloser zur Ver¬ 
fügung steht, schneller seine Zukunft zu ihr wie auf dem Lande, wo 
man sich eher mit den Auswüchsen der Verwahrlosung abzufinden 
vermag. Manchmal spielen hier auch zweifellos Zufälligkeiten mit 
Daß Celle z. B. verhältnismäßig stark vertreten ist, hat sicherlich 
nicht den letzten Grund darin, daß ein Mitglied des Oberlandesgericbts 
der Vorsitzende des Kuratoriums des benachbarten Rettungsbauses 
Linerhaus ist 

Der verderbliche Einfluß der Fabrik- und Seestädte prägt sich 
auch hier zahlenmäßig sehr scharf aus. Eine hervorragende Stellung 
nimmt unter ihnen Harburg ein. Nicht nur, daß es den Charakter 
einer Fabrik- und Seestadt in sich vereinigt, ist es zweifellos, daß 
hier die Antragsbehörden ihr Recht zur Erwirkung der Fürsorge¬ 
erziehung auf das Energischeste ausnutzen, und daß die Vormund¬ 
schaftsbehörde diesen Anträgen sehr weit entgegenkommt, sodaß hier 
die sozialethische Bedeutung der Fürsorgeerziehung in vollstem Maße 
zur Geltung kommt 

Sehr bedeutungsvoll ist auch hier die Rolle, die die Polen spielen, 
die nicht weniger als 42 Zöglinge hierher entsandten, für den Westen 


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254 


XI. Mönkemöller 


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Deutschlands eine ganz ungeheure Zahl. Es ist die alte Erfahrung, 
die man auch in anderen Ablagerungsstätten sozialen Verfalles, in 
Strafanstalten, Korrektionsanstalten, Irrenhäusern macht, daß die Polen, 
die den Zug nach dem Westen mitmachen, einen sehr großen Prozent¬ 
satz von minderwertigen und resistenzlosen Stammesgenossen mit- 
schleppen, die in der neuen Heimat bald die Unterkunftsanstalten 
sozialer Rückständigkeit fällen. 

Tabelle IV. 


Beruf der Ehern 

Ländliche Berufe. 

Arbeiter. 

Handwerker. 

Armenhäusler, Vagabunden, Invaliden . 

Wanderberufe. 

Sonstige Berufe. 

Sa.: 


96 

358 

80 

21 

23 

J5 

623 


Die unverhältnismäßig große Klasse der Arbeiter, die sich aus 
Fabrikarbeitern, Tagelöhnern usw. zusammensetzt, saugt auch noch 
einen Teil der Landbewohner in sich auf, die den auf dem Lande 
gelegenen Fabriken Zuströmen. Wie es kommt, daß die Armenhäusler, 
Invaliden, Vagabunden und ähnliche zerschellte Existenzen ihre Nach¬ 
kommenschaft der Verwahrlosung überantworten, bedarf keiner näheren 
Erklärung. Was sich unter den Wanderberufen birgt, den Schirm¬ 
flickern, Lumpensammlern. Orgeldrehern, Harfenmädchen, Schieü- 
budenbesitzern, sind zum Teil soziale Parasiten, die unter dieser Maske 
ibre Leistungsunfähigkeit, sich in geordneter Weise zu ernähren, ver¬ 
bergen. Zum Teil liegt es auf der Hand, daß die Art der Lebens¬ 
weise, der Mangel eines geordneten Unterrichts und der kriminelle 
Anstrich, den diese Berufe so leicht gewinnen, der Verwahrlosung 
Vorschub leisten muß. Bei drei Zöglingen war in den Akten lako¬ 
nisch vermerkt, daß sie auf der Landstraße geboren waren. Unter 
den sonstigen Berufen verlangen die besser stehenden auch eine ge¬ 
wisse Beachtung. Bei ihnen berührt dies Herabsinken in die Ver¬ 
wahrlosung von vornherein eigentümlich und erlaubt oft gleichzeitig 
gewisse Rückschlüsse auf die hereditäre Belastung. Es braucht kaum 
hervorgehoben zu werden, daß der Titel Arbeiter häufig nur als 
Deckmantel dazu dient, den sozialen Parasitismus unkenntlich zu 
machen, der als Prostituierte, Zuhälter, Arbeitsscheuer, Krüppel die 


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Zur Kriminalität des Kindesaltcrs. 


255 


Mitwelt aasnutzt and die Nachkommenschaft gleichzeitig durch die 
erbliche Belastung wie durch das Milieu des Elternhauses der Mitwelt 
aufhalst 

Zur Erhebung einer möglichst genauen Vorgeschichte und 
einer lückenlosen Feststellung alles dessen, was in ursächliche Be¬ 
ziehung zur Verwahrlosung und kriminellen Gestaltung des Lebens 
gebracht werden konnte, waren zunächst die Charakteristiken 
benutzt worden, die nach den Urteilen angelegt werden, nach denen 
die Fürsorgeerziehung verhängt worden war. Es kommen hier die 
Eltern oder gesetzlichen Vertreter zu Worte, der Gemeindevorstand, 
die zuständigen Geistlichen, die Leiter oder Lehrer der Schule, die 
sie besucht haben, wie auch dem Landrate bzw. dem Gemeindevorstand 
oder dem Vorsteher der Königlichen Polizeibehörde Gelegenheit zu 
einer Äußerung gegeben ist. Besonders ausgiebig sind die Aussagen 
der Polizei und der Lehrer, die über das Milieu und das in der 
Schule gezeigte Verhalten ausreichende Auskunft geben. Meist hatte 
sich eine Konferenz der in der Anstalt tätigen Erziehungskräfte über 
den Charakter, das intellektuelle Niveau, die Ethik und die ins Auge 
fallenden Eigentümlichkeiten eines jeden einzelnen Zöglings klar gemacht 
nnd das Ergebnis in einem ausführlichen Fragebogen niedergelegt. 
Dieser war im wesentlichen nach dem bekannten C r a m e r sehen 
Master abgefaßt, nur daß er speziell für die Zwecke der Erhebung 
der Anamnese ausführlicher gestaltet und im übrigen dem Alters¬ 
abschnitte entsprechend angepaßt war. Während der Untersuchung 
wurde noch durch Befragung des Lehrpersonals die Anamnese 
ergänzt, und von den Zöglingen selbst alles zu ermitteln gesucht, was 
sie aus ihrem Vorleben mitzuteilen vermochten. Daß deren Angaben 
nur mit einer gewissen Vorsicht zu verwerten „waren, war dadurch 
bedingt, daß sie zum Teil nicht über die Details ihrer Vorgeschichte 
orientiert sein konnten und mit der Wahrheit nicht immer auf dem 
besten Fuße standen. Schließlich wurde noch der Anamnesen- 
bogen, der mit Rücksicht auf diese Erhebung möglichst spezialisiert 
und so abgefaßt war, daß er auch für Laien verständlich war, den 
Polizeibehörden des Heimatsortes zugeschickt, damit diese die vor¬ 
handenen Lücken ausfüllten. Zum Teil war diese Vervollständigung 
unmöglich, weil die Eltern verstorben, verzogen, verschollen oder nicht 
mehr erreichbar waren, da sie bei ihrer geringen Seßhaftigkeit sehr 
häufig den Wohnsitz wechseln. Zu berücksichtigen waren auch die 
Widersprüche, die sich zwischen den Angaben der Eltern, 
dem Befunde der Akten und den gerichtlichen Feststellungen ergaben, 
und die dadurch hre Deutung fanden, daß sich die Eltern über heredi- 


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25ü 


XI. Mönkeuölleb 


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täre Belastung, Alkoliolismus, Kriminalität, Mißhandlungen ihrer Kinder 
ein vornehmes Stillschweigen auferlegten, oder daß sie der Befragung 
durch die unteren Polizeiorgane den verbissenen Negativismus ent¬ 
gegensetzten, von dem die in Frage kommenden Schichten der Be¬ 
völkerung der Polizei gegenüber häufig durchsetzt sind. 

Jedenfalls ist bei der Erhebung dieser Anamnese alles geschehen, 
was getan werden konnte, wie das Landesdirektorium überhaupt den 
ganzen Untersuchungen, die es aus eigenster Entschließung heraus 
veranlaßt hatte, das verständnisvollste Interesse und das weitgehendste 
Entgegenkommen bewies. Daß diese Erhebungen sich noch nicht 
mit der vollen Wahrheit decken, ist in der Natur der Sache begründet 
Eine erschöpfende Erforschung des Vorlebens bei einer größeren 
Menge derartiger Elemente selbst für diese kurze und anscheinend so 
übersichtliche Lebensepoche wird wohl immer ein unerreichbares 
Ideal bleiben. 

Tabelle V. 


Erbliche Belastung I Zahl 


Geisteskrankheit. 39 

. Geistesschwäche. 4T 

Nervenkrankheiten . . 45 

Epilepsie . 25 

Trunksucht. 312 

Eigentümliche Charaktere. 79 

Taubstummheit. 1 

i 

Selbstmord.• 15 

Lungenschwindsucht. 90 

Vorbestraft . 2S8 

Prostituierte und Zuh&lter. 95 

# > 

Eltera-Zwangszöglinge. 2 

Geschwister-Fürsorgezöglinge .... 106 

Einzelheredität . 248 

Doppelheredität. 234 


Man muß sich darüber klar sein, daß auch die genauesten Nach¬ 
forschungen im vollen Maße die Wucht der erblichen Belastung nicht 
zum Ausdrucke zu bringen vermögen. Bei den 122 unehelich 
geborenen war es nur in den wenigen Fällen, in denen das Kind 
später anerkannt worden war, möglich, über die psychische Gestaltung 
des Vaters ein einigermaßen klares Bild zu schaffen. Auch bei den 
Zöglingen, deren beide Eltern verstorben waren, versagte meist die 
Anamnese ganz und gar. Trotzdem übertrifft das Bild, das durch 
diese Nachforschungen geschaffen worden ist, noch immerhin die 


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Zur Kriminalität des Kindesalters. 


257 


sonst bekannten Zahlen über die Bedeutung der Heredität bei jugend¬ 
lichen Kriminellen. Nur bei 141 schwiegen die Nachforschungen 
über derartige hereditäre Einflüsse ganz und gar. 

Dabei darf natürlich der Einfluß der Lungenschwindsucht 
als erblich belastender Faktor nur insofern in Rechnung gesetzt werden, 
als er manchmal die allgemeine Widerstandskraft der Nachkommen 
herabsetzt und einen Rückschluß auf die kümmerlichen und ungesunden 
Verhältnisse erlaubt, in denen das Kind aufwachsen mußte, sodaß 
er zum Teil als Milieufaktor aufgefaßt werden muß. Allerdings 
erschien er meist in Gemeinschaft mit anderen hereditären belastenden 
Einflüssen. 

Eine gewisse Vorsicht muß man sich auch in der Wertung der 
Vorbestraften auferlegen. Es ist der persönlichen Willkür über¬ 
lassen zu entscheiden, wie oft und in welcher Weise die Eltern mit 
den Strafgesetzen in Konflikt gekommen sein müssen, um als krimi¬ 
nelle Persönlichkeiten zu gelten, die imstande sind, ihre Eigen¬ 
schaften auf ihre Nachkommenschaft zu vererben. Man kann zudem 
durchaus verschiedener Meinung darüber sein, ob sich'diese Eigen¬ 
schaften als solche überhaupt vererben können. Außerordentlich 
häufig erledigen sich diese Bedenken dadurch, daß die Vorbestraften 
gleichzeitig Alkoholisten sind, und daß sich ihre meisten Straf¬ 
taten als typische Alkoholdelikte erweisen. Auch wenn man hier die 
Grenzen in angemessener Enge zieht, ist die Zahl der vorbestraften 
Eltern recht beträchtlich, wenn man auch von „Verbrecherfamilien“ 
im engeren Sinne nur in ganz wenigen Fällen zu sprechen braucht. 

Faßt man die schädigende Wirkung ms Auge, der die Nach¬ 
kommen in Moral, Ethik und zielbewußter Willenskraft ausgesetzt 
sind, so kommen die Kinder der sozialen Parasiten, der Prostitu¬ 
ierten und Zuhälter noch schlechter weg. Der soziale Parasitis¬ 
mus wirkt nicht nur durch die Übertragung der Veranlagung, auf 
deren Boden diese asozialen Eigenschaften erwachsen sind, er schafft 
in der Regel auch ein besonders widerwärtiges Milieu, in dem die 
Tätigkeit jeder Erziehung ohne weiteres lahm gelegt werden muß. 

Das Gleiche gilt auch von den „eigentümlichen Charak¬ 
teren“, die nicht so sehr durch die Derbheit ihrer Ausdrucksform 
imponieren, dafür sich aber um so größere Fehler in der Erziehung 
des Kindes zuschulden kommen lassen. Hierhin gehören die weichen, 
schlaffen Naturen, die dem Kinde alles durchgehen lassen, jeder Kon¬ 
sequenz in der Erziehung entbehren, für jede kriminelle Entgleisung 
eine Entschuldigung bereit halten, vor jeder Züchtigung zurückschrecken 
nnd so die Verwahrlosung systematisch, züchten. Ihnen gegenüber 

Archiv für Kriminal«nthropologie. 40. Bd. 17 


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XI. Mönkemöller 


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stehen die harten und die schroffen Gemüter, deren erzieherische 
Tätigkeit sich in Schimpfworten und Mißhandlungen erschöpft, die 
dem Kinde das Elternbaus zur Hölle machen und es auf die Gasse 
stoßen und damit oft auf die kriminelle Laufbahn. 

An der Spitze steht in unheimlicher Beleuchtung die elterliche 
Trunksucht, die alle anderen Faktoren der elterlichen Belastung 
weit hinter sich läßt. Sie war in einer recht großen Reihe von Fällen 
bei beiden Eltern nachweisbar. Stets worden nur solche Fälle gebuebt, 
in denen der chronische Alkoholmißbrauch eine derartige Zerrüttung 
des Charakters und der häuslichen Verhältnisse gezeitigt hatte, daß 
die Polizei in ihren Angaben die Trunksucht konstatieren konnte. 
Wir vernichtend sie auf die Psyche des Kindes einwirkt, wie sie 
später dauernd ein Milieu schafft, in dem auch vollwertige Kinder 
dem kriminellen Abgrunde zugedrängt werden müssen, braucht hier 
nicht erörtert zu werden. In einer anderen Reihe von Fällen war 
der Stiefvater Alkobolist, von dem sich ja natürlich nicht die 
schädlichen Folgen der Trunksucht direkt auf das Kind übertragen 
können, der dafür aber um so erfolgreicher durch die Schaffung 
einer Trinkerehe in idealer Konkurrenz mit den durch die Trunk¬ 
sucht gesteigerten Auswüchsen des Stiefvatertoms das nachholt, was 
ihm an der direkten Beeinflussung ermangelt. Recht häufig hatte 
die Trunksucht bei den Eltern schon derartige Formen angenommen, 
daß man mit Fug und Recht von einer Psychose sprechen 
konnte. 

Insofern traten sie in gewissem Maße kompensierend ein für die 
verhältnismäßig wenigen Fälle von ausgesprochener Geistes¬ 
krankheit, die ja in allen Statistiken über die hereditäre Belastung 
der Kriminellen nur eine geringe Rolle spielen. Welche Bedeutung 
dabei dem hindernden Einflüsse zukommt, den sich die Geisteskrank¬ 
heit auf Eheschließung und Kindererzeugung erzwingt, braucht nicht 
ausgeführt zu werden. 

Bemerkenswert sind die beiden Fälle, in denen der Vater bzw. 
die Mutter selbst Zwangszöglinge gewesen waren. Indem einen 
Falle wurde der Sohn sogar in derselben Anstalt erzogen, in der 
man früher versucht hatte, der asozialen Eigenschaften des Vaters 
Herr zu werden. In beiden Fällen hatte die traurige Weiterentwick¬ 
lung durch Korrektionsanstalt und Gefängnis hindurch schließlich 
doch nur zur Belastung der staatlichen Erziehung durch ein End¬ 
produkt geführt, dem nach seiner ganzen Veranlassung dasselbe 
Schicksal zu drohen schien. Recht selten sind auch die Familien, in 
denen als den Brutstätten der Minderwertigkeit wie eines depravieren- 


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Zur Kriminalität des Kindesalters. 


259 


den Milieus die ganze Nachkommenschaft gleichzeitig den Weg 
in die Ffirsorgeerziehnngsanstalt antreten mußte. 

Die einzelnen Formen der erblichen Belastung treten nur in der 
Minderzahl der Fälle isoliert auf, während die mannigfachsten Kom¬ 
binationen das Milieu des Elternhauses entsprechend färbten. In den 
Zahlen, welche die erbliche Belastung verkörpern, steckt eben ein 
großes Stück der ungünstigen Beeinflussung des Kindes durch das 
Milieu. Für unsere Altersklassen ist so gut wie ausschließlich das 
Elternhaus der Quell, aus dem sich die objektive Verwahrlosung 
ergießt. 

Tabelle VI. 


Abnorme Zustände im Elternbause ; Zahl 

Uneheliche Geburt. 122 

Die Eltern sind tot (einer oder beide). 195 

Die Eltern leben getrennt. 63 

Die Eltern sind geschieden . 17 

Der Vater ist verschollen. 32 

Die Eltern sind sehr arm. 215 

Die Eltern sind kränklich. 58 

Die Eltern arbeiten außer dem Hause.i 346 

Vater oder Mutter leben im Konkubinat.| 28 

Die Eltern führen ein Wanderleben. 23 

Die Eltern üben einen aktiv schlechten Einfluß aus . j 67 

Stiefeltern. | 145 


Welcher Einfluß der unehelichen Geburt gerade in deu 
Kinder- und Schuljahren auf die kriminelle Gestaltung zukommt, ist 
bekannt Die Macht der ungünstigen Einflüsse wird häufig noch 
dadurch verstärkt daß die Mutter, um den Lebensunterhalt zu erwerben, 
außerhalb des Hauses arbeiten muß. In gewissem Maße scheint der 
ungünstige Einfluß in manchen Fällen dadurch ausgeglichen zu sein, 
daß die unehelichen Mütter später geheiratet batten. Aber einerseits 
waren sie manchmal gerade durch das Schicksal, das sie betroffen 
hatte, verhindert, bei der Wahl ihrer legitimen Ehemänner allzugroße 
Ansprüche zu machen, und andererseits war der Einfluß der Stief¬ 
väter, wie so häufig, durch das geringe Wohlwollen, das sie den 
unehelichen Stiefkindern entgegenbrachten, in recht bedenkliche Bahnen 
geleitet. 

In die gänzliche Auflösung der Familienbande, wie sie 
dorcb Trennung, Sebeidnng, Verecbollensein des Vaters versucht 
wird, spielt wieder in einer großen Zahl von Fällen der Alkoholis¬ 
mus hinein, nachdem er schon vorher durch das ganze Elend einer 

17* 


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XI. Mönkemöller 


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Säuferehe die kindliche Seele vergiftet hatte. Außerordentlich schwierig 
war die Feststellung und Abwägung des Einflusses von Armut in 
der Familie auf den Werdegang der Kinder. Bei der großen Mehr¬ 
zahl der Eltern waren die Vermögensverhältnisse nicht günstig, meist 
aber nur, weil die Eltern vermöge ihrer minderwertigen Eigenschaften 
ihre ökonomischen Verhältnisse nicht hatten im Gleichgewichte halten 
können. 

Verhältnismäßig gering war die chronische Krankheit ira Eltern¬ 
hause, die meistens recht offenkundig dazu beitrug, daß die Zügel 
der Erziehung schleiften. Noch schlimmer wie das trübe Schicksal, 
das manchen Stiefkindern blüht, ist oft der bemitleidenswerte Zustand, 
wenn die Eltern im Konkubinate lebten. Die Fälle, in denen dieses 
uneheliche Zusammenleben lediglich seinen Grund in der Ungunst 
der ökonomischen Verhältnisse hat, die eine reguläre Ehe verbieten, 
sind selten. In der Mehrzahl der Fälle ist das Niveau dieses Pseudo¬ 
familienlebens, was Moral und Ethik anbetrifft, sehr niedrig. 

Verhältnismäßig gering an Zahl, dafür um so gewichtiger an 
Einfluß auf die Gestaltung der kindlichen Psyche sind die Fälle, in 
denen von den Eltern eine aktive ungünstige Beeinflussung 
auf die Kinder ausgeübt wurde, in denen sie zum Stehlen und Betteln 
angehalten wurden, in ihrer frühzeitigen Neigung zum Alkoholismus 
unterstützt und in ihrer Neigung zum Schulschwänzen bestärkt wurden. 

Tabelle VII. 


Ursächliche Faktoren 

Zahl 

Schwere Geburt .... 

99 

Mißhandlungen 

104 

Unfälle. 

117 

Alkoholgenuß, Bier . . . 

153 

„ Schnaps . 

119 

Onanie. 

30 

Häufige Schul Versäumnis . 

399 

Schulwechsel. 

53 

Arbeit außer dem Hause . 

5s 


Die Erhebungen über die sonstigen ursächlichen Faktoren, 
die sich in einer Umgestaltung der kindlichen Psyche bemerkbar 
machen können, kommen wieder recht zu kurz. Spontanäußerungen 
der Eltern, die hier oft einen wertvollen Aufschluß geben könnten, 
fehlen so gut wie immer. Bei Anfragen werden hier mit voller Ab¬ 
sicht bedenkliche Lücken gelassen. Dabei ist es bei manchen Mo¬ 
menten, die in der Vorgeschichte erscheinen, auch wenn ihnen von 


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Zur Kriminalität des Kindesalters. 


261 


seiten der Umgebung eine hohe Bedeutung beigelegt wird, außer¬ 
ordentlich schwer zu entscheiden, ob überhaupt auf sie Gewicht ge¬ 
legt werden darf, und wie hoch man ihre Tragweite einschätzen darf. 

Daß diese ätiologischen Momente, die ja häufig von unleugbarer 
Bedeutung sein können, dies nicht immer müssen, zeigt zunächst 
die schwere Geburt. Schädigt sie den Schädel und das Gehirn, so 
können sich unausgleichbare psychische Schädigungen einstellen. 
Ebensogut kann das kindliche Gehirn auch bei den schwierigsten 
Geburten ohne den geringsten Nachteil davon kommen. 

Die Mißhandlungen können wieder, wenn sie recht oft und 
intensiv erfolgen, nicht nur eine Verschüchterung und passive Auf¬ 
lehnung gegen die Brutalität der Eltern hervorrufen, unter der die 
Ethik leidet, wie auch das Elternhaus den Knaben verleidet werden 
muß. Sie können auch, zumal wenn sie ihren Ursprung in den 
schweren Erregungzuständen der alkoholistischen Väter haben und in 
der sinnlos übertriebenen und rohen Weise verübt werden, die diesen 
Zuständen eigen ist, eine direkt schädliche Wirkung auf das 
kindliche Gehirn ausüben. Gelegentlich stellen sie die Ausartungen 
einer in der besten Absicht vollzogenen Züchtigung besorgter 
Eltern dar, die mit dem ethischen Verhalten ihrer Sprößlinge nicht 
anders fertig werden zu können glauben. Daß sich hier eine haar¬ 
scharfe Grenze manchmal gar nicht ziehen läßt, ist gleichgültig, da der 
Erfolg derselbe bleibt, und anstatt der erhofften wohltätigen Ein¬ 
wirkung eine grenzenlose Verbitterung des Objektes dieser ungeeigneten 
Erziehung die Folge ist. Daß Mißhandlungen stattgefunden hätten, 
wurde auch bei Kindern geleugnet, deren Schädel in typischer Weise 
die zahllosen kleinen Narben aufwies, die bei den Sprossen entarteter 
Alkoholisten oft auf den ersten Blick ihren Ursprung verrieten und 
durch die Aussage der Kinder bestätigt wurden. 

Auch über die Bedeutung der Unfälle darf man sich kein zu 
weitgehendes Urteil erlauben. Die Fälle, die hier notiert wurden, 
gingen zwar ohne Ausnahme über das Maß der kleinen Verletzungen 
hinaus, die wohl jedes Kind im Laufe seiner Kindheit durchgemacht 
hat. Sie waren alle derart, daß bei ihnen eine schwerere Schädigung 
der Psyche vermerkt werden kann, auch wenn man nicht auf diesen 
schädlichen Einfluß zu schwören geneigt ist. Die geringe Reaktion 
der kindlichen Psyche selbst auf die schwersten traumatischen Ein¬ 
flüsse ist oft ganz erstaunlich. 

Auch in der Wertung der Onanie in der Vorgeschichte muß 
man sehr vorsichtig sein. Die Überlegung, ob sie überhaupt als ätio¬ 
logischer Faktor in Betracht zu ziehen ist, erübrigt sich deshalb 


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XI. Mökkemöllek 


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häufig, weil sie gerade, wenn sie exzessiv betrieben wird, als Sy m pto m 
der bestehenden geistigen Schwäche aufgefaßt werden muß. Dabei 
ergeben die Nachforschungen hierüber ohne jede Frage nur einen 
geringen Bruchteil der Wirklichkeit. 

Um so unheimlicher ist die Rolle, die der beginnende Alkoho¬ 
lismus in der Vorgeschichte spielt und die würdige Fortsetzung der 
durch den elterlichen Alkoholismus übernommenen Schädigung des 
Organismus darstellt. Natürlich sollen die beigebracbten Zahlen nicht 
besagen, daß die Kinder, die hier registriert werden, Alkohol in einem 
solchen Maße zu sich genommen hätten, daß dadurch allein eine 
körperliche und geistige Schädigung hätte verursacht werden können. 
Die hier aufgeführten Kinder haben, zum Teil schon in frühester 
Jugend, Alkohol öfters zu sich genommen; einmaliger Genuß ist nicht 
erwähnt worden. Das beweist den vollkommenen Mangel an Ver¬ 
ständnis der Eltern dafür, daß der Alkoholgenuß für die Kinder in 
diesem Alter in hohem Maße schädlich ist, vor allem deshalb, weil 
er ihnen diesen Genuß als etwas Erlaubtes und Selbstverständliches 
erscheinen läßt, sie daran gewöhnt und ihnen den Weg zum Alkoho¬ 
lismus mit allen seinen unseligen Folgen bahnt 

Erwähnt ist auch nicht der Genuß von Süß- und Braunbier, die 
ja beide meist nur als Nähr- und Stärkungsmittel dienen sollen und 
mit den anderen Alkobolsorten nicht auf eine Linie gesetzt werden 
dürfen. Ganz abgesehen aber davon, daß die kräftigende Wirkung 
zweifellos durch andere Maßnahmen viel besser erreicht werden kann, 
gewöhnt er wieder die Kinder an den Genuß gegorener Ge¬ 
tränke und bildet so wieder die Brücke zum späteren Alkoho¬ 
lismus. 

Im übrigen waren die Symptome eines sich entwickelnden Al¬ 
koholismus häufig schon in recht kräftigen Andeutungen nacbzuweisen. 
Es waren hier die verschiedensten Vertreter des kindlichen Alkoholis¬ 
mus vorhanden. Da waren die Kinder, die für den Vater Schnaps 
holen mußten und ihn auf dem Wege probierten; Bolche, denen der 
Vater im trunkenen Zustande Schnaps einflößte, oder die sonst von 
ihm angebalten wurden, Schnaps zu trinken; denen in den ersten 
Kinderjahren Schnaps „aus Scherz“ oder als Stärkungsmittel eingeflößt 
worden war; oder die von den Bauern, bei denen sie in Pflege unter¬ 
gebracht waren, Schnaps bekommen batten, wenn das übrige Gesinde 
damit traktiert wurde. 

Ein Knabe war schon im Alter von 15 Jahren so weit gekommen, 
daß er aus eigenem Antriebe Schnaps in größeren Quantitäten zu 
trinken pflegte. Bei einem anderen hatte die Polizei spontan in ihrem 


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Zur Kriminaiitit des Kindesalters. 


263 


Führungebericbte eingetragen, daß er häofig Wirtschaften besuchte 
und durch den häufigen Alkoholgenuß schon ganz nervös geworden 
sei. Ein dreizehnjähriger Knabe hatte Geld in der ausgesprochenen 
Absieht gestohlen, um sich dafür Schnaps, zu kaufen. Ein anderer 
hatte bei einem Einbrüche in ein Sommerlokal eine Menge Spirituosen 
gefunden und sich so berauscht, daß er am andern Morgen sinnlos 
betranken aufgefunden wurde. Drei Knaben hatten zusammen einen 
Einbruch in einen Neubau unternommen, weil sie wußten, daß die 
Handwerker Schnaps zurückgelassen hatten. Zwei von ihnen leerten 
zusammen eine Flasche, die ein halbes Liter Schnaps enthielt. 

Die Schul Versäumnisse haben für unsere Zöglinge zunächst 
den Nachteil, daß sie ihre Ausbildung weiter zurückbringen und so für 
den späteren Kampf um das Dasein ihre Chancen schmälern. Sie 
gewöhnen sie an das Umhertreiben und ein unstätes Leben mit all 
seinen Übergängen zur Kriminalität; sie erziehen sie zur Lüge gegen¬ 
über Eltern und Lehrern und stören bald den Verkehr mit ihren ge¬ 
sitteteren Schulkameraden und Altersgenossen. In nicht seltenen Fällen 
sind sie nur der Ausdruck der inneren Zerfahrenheit, der Lust zum 
Ungebundenen, des Wandertriebes, der hier seine erste schüchterne 
Betätigung erfährt, aber gelegentlich auch in längere Streifen und 
regelrechtes Vagabundieren ausartet. In anderen Fällen tritt die 
geistige Inferiorität als ursächlicher Faktor insofern zutage, als die 
schlechter Veranlagten den Aufgaben, die an sie gestellt werden, in 
der Schule nicht gewachsen sind. Ihnen drohen die Strafen für ihre 
Faulheit und Leistungsunfähigkeit, sie wollen dem Spotte ihrer Alters¬ 
genossen ausweichen und erweitern die Lücken, die bei ihnen klaffen, 
durch das unzweckmäßige Heilmittel immer mehr. 

Die Nachteile, die sich infolge eines häufigeren Schulwechsels 
gerade bei den schlechter Veranlagten bemerkbar machen, sind be¬ 
kannt Bei dem unstäten Leben der Eltern mancher unserer Zöglinge, 
die meist durch diese Eltern so wie so schon geschädigt sind, macht 
er sich manchmal in nachdrücklichster Weise bemerkbar. 

Die Arbeit außer dem Hause tritt bei unserem Materiale in¬ 
sofern nicht so unangenehm in die Erscheinung, als das Leben in 
der Großstadt, das gerade bei dieser Ausbeutung der kindlichen 
Arbeitskraft dieser Betätigung einen so schädigenden Einfluß verleiht, 
da sie meist im Straßenhandel ausgenutzt wird, nicht so häufig in 
Betracht kommt Beklagenswert bleibt diese Beschäftigung unter 
allen Umständen, da sie das Kind körperlich ungebührlich angreift, 
ihm die Arbeiten für die Schule erschwert und nebenbei noch ver¬ 
bittert es unzufrieden macht. 


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XI. Mönkemöller 


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Die körperlichen Krankheiten kommen insofern für 
eine kriminelle Gestaltung des späteren Lebens in Frage, als sie die 
Widerstandsfähigkeit gegen äußere Einflüsse herabsetzen, die Stimmung 
schädigen und nur zu oft ein Gefühl von Mißmut und Verbitterung 
bervorrufen. Gelegentlich stehen sie auch in einem gewissen Ab- 
hängigkeitsverbältnisse von den sonstigen ungünstigen Verhältnissen, 
unter denen das Kind heranwachsen muß. In der Regel brauchen 
sie nur insofern berücksichtigt zu werden, als sie im Vereine mit 
anderen ursächlichen Faktoren die Gestaltung des Lebens 
beeinflussen. Die akuten Krankheiten treten an Bedeutung zurück, 
wenn sie ohne alle Komplikationen verlaufen. 


Tabelle VIII. 

Körperliche Krankheiten 


Allgemeine Körperschwäche . . 


Akuter Gelenkrheumatismus 

2 

Blutarmut. 

1 10 

Influenza. 

5 

Englische Krankheit 

03 

Typhus ... . 

o 

Spät laufen gelernt. 

| 120 

Ruhr .... ... 

l 

Skrophulosc. 

59 

Kopfrose. 

2 

Knochentuberkulose .... 

4 

Mandelentzündung ... 

IG 

Knochenhäuten tzünduug . . . 

2 

Masern. 

IVO 

Gelenkleiden.. . 

5 

Scharlach . .... 

G7 

Brechdurchfall 

5 

Frieseln .... 

11 

Chron. Magen- u. Darnikatarrh 

i 

Windpocken. 

10 

Gelbsucht. 

2 

Keuchhusten. 

18 

Blinddarmentzündung . . 

2 

Diphtherie. 

Go 

Rippenfellentzündung ... 

1 3 

Gehirnentzündung. 

9 

Lungenentzündung .... 

' 78 

| Wasserkopf . .. 

l 

Lungenschwindsucht 

7 

Cerebrale Kinderlähmung 

2 

Brustfelleiteruug. 

o 

i Spinale Kinderlähmung . 

1 

Herzerkrankungen . ... 

4 

Ü Chorea. 

5 

Nierenentzündung. 

3 

Basedowsche Krankheit . . . 

1 

Mittelohrkatarrh. 

57 

Hereditäre Syphilis .... 

1 

Chirurgische Krankheiten 

25 

Psoriasis. 

1 


Trotz der genauen Nachfragen ist das Ergebnis für manche und 
gerade die wichtigsten Krankheiten, die den Organismus am meisten 
schädigen, offenbar wieder lückenhaft geblieben. Die englische 
Krankheit z. B. war mehrfach in der Anamnese gar nicht ermähnt, 
obgleich die körperlichen Residuen der überstandenen Krankheit bei 
der Untersuchung noch deutlich erkennen ließen, daß die Krankheit 
in ihrer schwersten Form bestanden haben mußte. Die Angehörigen 
haben für diese Krankheiten oft eine sehr schlechte Beobachtungsgabe, 
ihr Gedächtnis läßt sie im Stich, und manchmal glauben sie sich 


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Zur Kriminalität des Kindesalters. 


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direkt etwas zu vergeben, wenn sie das Bestehen einer solchen Krank¬ 
heit zugeben sollen, die ein schlechtes Licht auf die häuslichen Er- 
nährungs- und Pflegeverhältnisse werfen könnte. 

Dieser Fehler prägt sich noch mehr aus in den Nachforschungen 
über nervöse und psychische Krankheitssymptome. Sie dUrfen 
ja immer nur als Einzel Symptome aufgefaßt werden, die nicht 
immer einen Rückschluß auf eine allgemeine nervöse oder psychische 
Krankheit erlauben. Aber bedenkt man, wie innig der Zusammen¬ 
hang zwischen der psychischen Krankheit einerseits und der Krimi¬ 
nalität andererseits ist, dann gewinnen solche einzelne Symptome, 
die auf eine Störung am Nervensysteme hinweisen, doch sehr häufig 
die Bedeutung eines leicht erkennbaren Warnungssigoals, das zu einer 
genaueren Untersuchung führen sollte. 


Tabelle IX. 

Nervöse und psychische Abnormitäten 


Krämpfe (einschl Zahukrüinpfei 87 Aufschrecken aus dem Schlafe . 48 

Kopfschmerzen. 54 Zähneknirschen im Schlafe . . 12 

Schwiudelanfälle. 82 Wandertrieb. 5 

Resistenzlosigkeit gegen Hitze . 9 Depressionszustände .... 2 

* „ Alkohol 1 Erregungszustände. 2 

Olimnachten. 12 Selbstmordversuch. 3 

Absencen. 6 Globus .. 4 

Bettnässen. % . . § 239 ii Schrei- und Lachkrämpfe 1 

Einschmutzen. 4 Agoraphobie .... 1 

Nachtwandeln. 25 „Nervöses Kind ‘. 55 

Sprechen im Schlafe 57 „Abnormes Kind". 1 88 


Bei weitem am ausgiebigsten sind die anamnestischen Daten, die 
in das Gebiet der Epilepsie hineingehören und gerade für die 
Deutung mancher kriminellen Erscheinungen eine gewisse Bedeutung 
erlangen können. Am wichtigsten sind zweifellos die Krampfanfälle 
in der frühesten Jugend, die ja nicht selten ganz vom Schauplatze 
abtreteu und zunächst ohne Bedeutung sein können. Manchmal aber 
deuten sie darauf hin, daß eine epileptische Diathese besteht, die später 
in irgend einer Form wieder zum Durchbruch kommen kann. Eine 
Scheidung in Zahnkrämpfe und andere Krämpfe habe ich mir 
geschenkt. Die Angaben der Angehörigen über das zeitliche Auf¬ 
treten dieser Anfälle sind manchmal alles andere als unfehlbar. In der 
Regel werden alle krampfartigen Zustände, die in diese Periode fallen, 
mit dem Titel „Zahnkrämpfe“ geschmückt. 


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XI. Mönkbmölleb 


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Daß das Bettnässen nicht nur eine schlechte Angewohnheit 
ist, sondern als nervöses oder psychisches Krankheitssymptom zu 
deuten ist, scheint jetzt immer mehr auch in weiteren Kreisen bekannt 
zu werden. 

Der Wandertrieb war in fünf deutlich ausgesprochenen Fällen 
vertreten, wobei die Kinder ohne jeden erfindlichen Grund das Weite 
gesucht hatten. 

Einer der Selbstmordversuche gewann bei der Exploration 
eine recht eigenartige Umdeutung. Es handelte sich um einen Knaben, 
der in der Anstalt in einen Teich gesprungen war. Jetzt gab er an, 
daß er vorher die Tiefe des Teiches ausgemessen hätte. Er wollte 
nur den Vorsteher der Anstalt in Aufregung versetzen und ihm einen 
Streich spielen. 

Unter der Rubrik „abnormes Kind u ist alles zusammengefaßt, 
was in den Berichten dafür sprach, daß schon vor dem Eintritte in 
die Anstalt das Kind von seiten der Umgebung in geistiger Beziehung 
nicht als voll angesehen wurde. Hierher gehören auch die Kinder, 
die schon eine Hilfsschule besucht hatten, oder bei denen die Lehrer 
in den Schulzeugnissen zu erkennen gaben, daß jene nach ihrer An¬ 
sicht über die Grenzen der von seiten der Schule konzedierten physio¬ 
logischen Dummheit hinausgegangen waren. 

Es versteht sich von selbst, daß die ganze Tiefe des ursächlichen 
Einflusses, der allen diesen Faktoren inne wohnt, sich nicht ans diesen 
Tabellen ersehen läßt. Um so anschaulicher ist das Bild, das sich 
uns vor Augen stellt, wenn wir in der Zusammenstellung der ein¬ 
zelnen Fragebogen sehen müssen, wie unter der Häufung der 
mannigfachsten Schwierigkeiten das einzelne Individuum zu kämpfen 
hatte. Sie machte es oft ohne weiteres verständlich, daß es auf 
kriminelle Abwege geriet. 

Was die kriminelle Vorgeschichte anbetrifft, so erlaubt die 
Begründung der Überweisung in die Fürsorgeerziehung in knappster 
Form ein zutreffendes Bild über die kriminelle Gestaltung der Per¬ 
sönlichkeit, wie auch die Einschätzung des Einflusses der Umgebung 
zu einem allgemeinen Ausdrucke gelangt. Die nachfolgende Zusammen¬ 
stellung entbehrt der Genauigkeit insofern, als ich in den ersten Fällen 
diesen Vermerk nicht in den Fragebogen eingetragen hatte, und bei 
den vorläufigen Überweisungen das ausschlaggebende Motiv nicht 
immer deutlich ausgesprochen war. Es kann sich allerdings nur um 
ganz geringfügige Abweichungen handeln. Für die privaten An¬ 
staltszöglinge kommen diese Feststellungen ja überhaupt nicht in 
Betracht. 


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Zur Kriminalität des Kindesaiters. 


267 


Die Absätze des § 1 des Fürsorgeerziehungsgesetzes, in denen 
die Scheidung in die verschiedenen Kategorien der Minderjährigen 
niedergelegt ist, für welche die Fürsorgeerziehung in Frage kommt, 
haben folgenden Wortlaut: 

Ein Minderjähriger, welcher das achtzehnte Lebensjahr noch nicht 
überschritten hat, kann der Fürsorgeerziehung überwiesen werden, 

1. wenn die Voraussetzungen des § 1666 oder des § 1831 des 
Bürgerlichen Gesetzbuches vorliegen, und die Fürsorgeerziehung er¬ 
forderlich ist, um die Verwahrlosung des Minderjährigen zu verhüten; 

2. wenn der Minderjährige eine strafbare Handlung be¬ 
gangen hat, wegen der er in Anbetracht seines jugendlichen Alters 
strafrechtlich nicht verfolgt werden kann, und die Fürsorgeerziehung 
mit Rücksicht auf die Beschaffenheit der Handlung, die Persönlich¬ 
keit der Eltern oder sonstiger Erzieher und die übrigen Lebens-Ver¬ 
hältnisse zur Verhütung weiterer sittlicher Verwahrlosung des Minder¬ 
jährigen erforderlich ist; 

3. wenn die Fürsorgeerziehung außer diesen Fällen wegen Unzu¬ 
länglichkeit der erziehlichen Einwirkung der Eltern oder sonstigen 
Erzieher oder der Schule zur Verhütung des völligen sittlichen 
Verderbens des Minderjährigen erforderlich ist. 

Tabelle X. 


Der Fürsorgeerziehung 
wurden überwiesen auf 
Grund des § 1 des Für¬ 
sorgeerziehungsgesetzes 
nach Ziffer 

Zahl 

’ r ~~ I 

St» 

2 ! 

173 

3 

265 

1 und 2 

14 

2 und 3 j 

37 

1 und 3 

11 

1, 2 und 3 

3 

£>a.: 

5SÜ 


Der Absatz 1, der bei einer idealen Ausführung des Fürsorge¬ 
erziehungsgesetzes berufen sein sollte, die Verwahrlosung und den 
Verfall in die Kriminalität zu verhüten und damit die vornehmste 
Aufgabe eines solchen Gesetzes zu erfüllen, ist ganz in den Hinter¬ 
grund getreten. Was den Fürsorgeerziebungsanstalten zuströmt, das 
steht in der überwältigenden Mehrzahl der Fälle im Banne des Ah- 


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XI. Mönkemöller 


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satzes 2, ist also der offenbaren Kriminalität verfallen; oder des Ab¬ 
satzes 3, dem nur noch die undankbare Aufgabe zufällt, das völlige 
sittliche Verderben der Zöglinge zu verhüten. Was das bedeutet, dar¬ 
über wird man sich erst dann in vollem Maße klar, wenn man sich 
vor Augen hält, daß unser Material beim Eintritte in diese Form der 
Erziehung zum weitaus größten Teile nicht einmal das t4. Lebens¬ 
jahr erreicht hat. 

Das beweist wieder einmal die traurige Tatsache, daß das Gesetz, 
wie es jetzt gehandhabt wird, der Verwahrlosung in ihrem ganzen 
Umfange nicht Herr zu werden vermag. Es erfaßt die Verwahrlosung 
erst in ihren letzten Ausläufern, wenn sie bereits in offenkundiger 
Kriminalität ihren Ausdruck gefunden hat; es kämpft im wesentlicbeu 
gegen die kindliche Kriminalität an. 

Daß das Gesetz erst in diesen vorgerückten Stadien der Verwahr¬ 
losung einzuschreiten wagt, haben wir im wesentlichen den bekannten 
Kammergerichtsentscheidungen von 1901 zu verdanken, nach denen 
in den meisten Fällen die Gerichte, die über die Verhängung dieser 
Maßregel zu befinden haben, erst dann den Zeitpunkt des Einschreitens 
der staatlichen Erziehung als gegeben ansehen, wenn die kriminelle 
Gestaltung der Persönlichkeit schon eine sehr scharfe Ausprägung 
erfahren hat. Gleichzeitig wird auch wohl an die Gestaltung des 
Milieus, soweit es die Verwahrlosung im Gefolge hat, ein zu geringer 
Maßstab gelegt. Das fällt am meisten in die Augen bei den Alkobo- 
listen, die für die Fürsorgeerziehung ein so gewaltiges Material 
stellen und die Voraussetzungen des Fürsorgeerziehungsgesetzes meist 
in verwerflich idealer Weise erfüllen. Die Alkoholistenväter sind aber 
zugleich auch diejenigen, die einerseits für ihre Unfähigkeit zum 
Erzieherberufe nicht das mindeste Verständnis haben, die für die De¬ 
likte ihrer Kinder immer eine Beschönigung bereit halten, die selbst 
von den besten Vorsätzen erfüllt sind, ohne sie je zur Tat werden zu 
lassen und die ihnen gesetzlich zustehenden Maßregeln zur Hinter¬ 
treibung der Fürsorgeerziehung bis in die letzte Instanz ausnutzen. 

Ich habe zunächst versucht, festzustellen, in welchem Lebens¬ 
jahre die Entartung der Kinder sich in krimineller Beziehung Luft 
gemacht hatte, um aus dem Zwischenräume, der zwischen dieser 
ersten Entgleisung und dem ersten Einsetzen der staatlichen Erziehung lag, 
die Mängel der jetzigen Handhabung des Gesetzes möglichst scharf 
hervortreten zu lassen. Schon sehr bald mußte ich von diesem Ver¬ 
suche Abstand nehmen. Auf die Angaben der Zöglinge selbst konnte 
selbstverständlich wegen ihrer so. oft nur zu kümmerlich entwickelten 
Wahrheitsliebe und ihren bewußten oder unbewußten Erinnerungs- 


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Zur Kriminalität des Kindesalters. 


269 


fälschungen und Gedächtnisstörungen nicht das geringste Gewicht 
gelegt werden. Die Akten schweigen sich über die zeitlichen Ver¬ 
hältnisse sehr oft ganz aus. Waren bestimmte Angaben darüber vor¬ 
handen, so mußte wieder mit der geringen Wahrheitsliebe der Eltern 
gerechnet werden, die für diese Angaben allem in Betracht kommen, 
aber auch hierin gern dem Negativismus fröhnen, der ihre anamnesti¬ 
schen Angaben so oft unbrauchbar macht. Dazu bringt es gerade 
die Eigenart des kindlichen Verbrechens mit sich, daß es häufig nicht 
bekannt wird, daß man es gerade so oft nicht als solches auffaßt, 
oder doch auf eine gerichtliche Ahndung verzichtet und sich mit einer 
sofort eigenhändig vollzogenen Bestrafung begnügt, zumal die kind¬ 
lichen Individuen zum weitaus größten Teile nicht strafmündig sind. 
Dabei ist noch zu bedenken, daß der sittliche Verfall der kindlichen 
Persönlichkeit oder wenigstens meistens richtiger gesagt, die fehlende 
oder mangelhaft entwickelte ethische und moralische Entwicklung 
des Kindes sich nicht immer in Handlungen auszusprechen braucht, 
die im Kodex des Strafgesetzbuches verzeichnet sind. Es gab unter 
dem Materiale Kinder, die nach allgemeiner Auffassung auf einem 
sehr tiefen ethischen Niveau standen, obgleich ihre anerkannte krimi¬ 
nelle Karriere sonst gleich Null war. Manchmal hatten sie sich nur 
deshalb nicht kriminell betätigt, weil ihnen zufällig die Gelegenheit 
dazu erspart geblieben war - Und für einen nicht geringen Teil der 
Gesetzesüberschreitungen darf man, was ihr Verhältnis zur 
ethischen und moralischen Qualifikation des Täters anbetrifft, nicht 
aus dem Auge lassen, daß sie aus den sozialen Verhältnissen heraus 
beurteilt und demgemäß viel milder angesehen werden müssen. 

Tabelle XI. 


Kriminelle Vorgeschichte Zahl 

Frühzeitige Neigung zu Gewalttaten zeigen 95 

v „ zum Umhertreiben „ . . 332 

» „ n Lügen - . . 294 

,, „ Phantasieren . . 38 

,, „ Stehlen . . 349 

„ „ „ Brandstiften . j 12 

„ zur sexuellen Betätigung „ . 19 

Entjungfert waren | 13 

Ein Inzest war vollzogen an. K 

Eine aktive kriminelle Beeinflussung von Alters¬ 
genossen hatten ausgeübt. . 21 

Konflikte mit dem Strafgesetzbuche waren nachge- 1 

wiesen bei. 456 

Zu Gefängnis waren verurteilt. 51 

Die Gefängnisstrafe war vollzogen an. 3 

Einen Verweis hatten erhalten 41 


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XI. Möhkzmöllbk 


Die unbestimmten, vom Verhalten des Durchschnittskindes ab¬ 
weichenden Neigungen unserer Zöglinge, die oft noch nicht mit 
einer ausgesprochenen kriminellen Gestaltung identisch sind und aus dem 
natürlichen Egoismus des Kindes hervorgehen, sind in prognostischer Be¬ 
ziehung immerhin wertvoll, weil sie einen, wenn auch unbestimmten 
Fingerzeug dafür geben können, in welche spezielle Bahnen einmal eine 
spätere kriminelle Gestaltung ihres Lebenslaufes gedrängt werden kann. 
Damit soll natürlich nicht gesagt sein, daß diese abnormen Ausflüsse 
der kindliche Psyche unter allen Umständen mit dem späteren Ver¬ 
laufe des Lebens parallel laufen müssen. Man darf nicht vergessen, 
daß im kindlichen Alter manches auffällig erscheint, was später ganz 
verschwinden kann, und was man nicht ohne weiteres als patho¬ 
logisch ansprechen darf. Manches, was von einem Erwachsenen 
ausgefübrt als auffallend erscheinen müßte, entspricht ganz der Eigen¬ 
art des Kindes, es erklärt sich aus dem Einflüsse der Flegeljahre, der 
einsetzenden Pubertät. Immerhin scheiden sich manchmal unter ihnen 
gewisse Typen schon recht deutlich ab, die ähnlichen kriminellen 
Naturen des erwachsenen Alters entsprechen, die Gewaltnaturen, die 
Lügner, die Eigentumsverbrecher. 

Bedenkt man, daß bei 456 Zöglingen, also bei 73 Proz. schon 
Konflikte mit den Strafgesetzen nachgewiesen waren, so kann man 
sich einen Begriff davon machen, wie weit die Verwahrlosung bei 
unserem Materiale schon vorgeschritten, wieweit die Umsetzung der 
asozialen Instinkte in offene Kriminalität schon gediehen war. Dabei 
darf man nie vergessen, daß das nur die Zöglinge sind, bei denen 
diese Umsetzung schon bekannt und aktenkundig geworden ist Wie 
oft auch bei den nicht anerkannt Kriminellen tatsächlich schon 
Konflikte mit den Strafgesetzen vorgekommen sind, entzieht sich jeder, 
auch der annähernden Berechnung. 

Aus demselben Grunde ist es ganz unmöglich festzustellen, wie 
oft jeder einzelne der jugendlichen Delinquenten straffällig geworden 
ist Soweit das kindliche Verbrechen der Feststellung erreichbar ist 
geben die Akten eine sehr ausgiebige Auskunft, da die Polizei¬ 
behörden bei 'der Verhängung der Fürsorgeerziehung mit vieler 
Gründlichkeit hierüber Klarheit zu schaffen versuchen. Unter der 
geringen Neigung der Eltern, diese Bestrebungen zu unterstützen 
leiden am meisten die ersten Lebensabschnitte, die sieb ganz in 
der Häuslichkeit abspielen. 

Stellt man die einzelnen Straftaten zusammen, die sich aus 
dem Studium der Akten ergeben, so muß man natürlich, um der Eigen¬ 
art des Alters gebührend Rechnung zu tragen, das so formulieren: 


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Zur Kriminalität des Kindesalters. 


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Es sind hier die bekannt gewordenen Taten der Zöglinge anfgefflhrt, 
die, wenn sie von einer strafmundigen und zurechnungsfähigen Person 
ausgeführt worden wären, nach den Bestimmungen des Straf-Gesetz- 
bochs zu einer richterlichen Ahndung hätten führen müssen, sobald 
ein Verfahren eingeleitet worden wäre. 

Die Zusammenstellung ergibt zunächst einmal, daß das Repertoire 
des kindlichen Verbrechens bedeutend vielseitiger ist, als für gewöhn¬ 
lich angenommen wird. Der Machtbereich für kindliche Verbrechen 
ist ja durch die Macht der Verhältnisse weit mehr eingeengt als für 
den Erwachsenen. An seiner körperlichen und geistigen Leistungs¬ 
fähigkeit findet sein krimineller Wirkungskreis eine Begrenzung. Der 
Mangel einer Berufs- und Amtstätigkeit verschließt ihm eine Reihe 
von Delikten ohne weiteres. Das Fehlen der geschlechtlichen Ent¬ 
wicklung versperrt ihm ein weiteres großes Feld krimineller Betätigung 
so gut wie vollständig. 

Tabelle XII. 


Von „Krimiuellen Handlangen“ waren in den Akten vermerkt: 


Diebstahl.bei 

364 

| Bedrohung.bei 

3 

Begünstigung. 

1 

Sachbeschädigung. 

27 

Tuchendiebstahl. 

1 

' Bahnfrevel .... 

1 7 

Veruntreuung. 

2 

i Baumfrevel.. . 

i 4 

Schwerer Diebstahl. 

2 

Waldfrevel. 

! i 

Hehlerei. 

3 

Grober Unfug ....... 

1 6 

G&rtendiebstahl. 

3 

Tierquälerei. 

; iS 

Mundraub. 

f> 

Hausfriedensbruch. 

3 

Einbruchsdiebstahl. 

46 

Widerstand gegen d. Staatsgewalt 

1 1 

Felddiebstahl. 

5 

Päderastie. 

1 

Bandendiebstahl. 

13 

i Sodomie. 

1 

Raub. 

! 11 

Nutzucht. 

1 

Straßenraub. 

5 

* Blutschande. 

2 

BHmg . 

1 26 

1 Sonstige sexuelle Delikte . . . 

27 

Unterschlagung .. 

43 

Betteln. 

40 

Körperverletzung ..... 

17 

Vag&bondage. 

38 

Mordversuch. 

1 

Fälschung von Papieren . . . 

1 

Fahrlässige Tötung. 


Vorspiegelung falscher Tatsachen 

2 

Brandstiftung. 

17 

1 Führung falschen Namens . . 

! 3 

Beleidigung.; 

2 

Urkundenfälschung. 

9 


Und auch die Delikte, die uns hier entgegentreten, dürfen nicht 
ohne weiteres in Parallele gestellt werden mit dem Verbrechen des 
Erwachsenen. In der Regel haftet ihnen das Kindliche der Person 
des Täters an. Der Überlegung, mit der ein Erwachsener vorgeht,, 
entbehrt das Kind fast immer. Wenn es sich vergeht, handelt es 


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XI. Mönkemöller 


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meist aus dem Augenblick heraus und läßt sich von den kleinlichsten 
Motiven leiten. 

Weitaus an der Spitze steht der Diebstahl in seinen verschieden¬ 
sten Abarten. Von ihm gilt das, was im allgemeinen beim Verbrechen 
des Kindes beachtet werden muß, in ganz besonderem Maße. Kleinere 
Diebstähle spielen auch im Leben von Kindern eine große Rolle, bei 
denen man sonst kaum an Verwahrlosung zu denken, und denen man 
nicht eine schlechte Prognose zu stellen braucht. Die 3 Gartendieb¬ 
stähle, die hier vermerkt sind, und die noch am ersten in das Gebiet 
des physiologischen kindlichen Diebstahls fallen, stellen ohne jede 
Frage nur einen ganz geringen Bruchteil der Wirklichkeit dar. 

Im allgemeinen aber gebt das, was hier registriert war, über 
diese physiologischen kindlichen Diebstähle weit hinaus. Meist 
bandelt es sich sogar um mehrfach wiederholte Diebstähle. In 
manchen Fällen sind sie auch mit großem Raffinement und nach 
sorgfältiger Vorbereitung in Szene gesetzt worden. Die Zahl von 4(5 
Einbruchsdiebstählen beweist, wie oft mit Vorsatz, mit Überlegung 
und mit Aufwand von körperlicher Kraft und Benutzung entsprechen¬ 
der Hilfsmittel solche Diebstähle ins Werk gesetzt werden. 

Die Bandendiebstähle, die bei den Erwachsenen in der Regel 
auf eine größere Zielbewußtheit und Raffiniertheit deuten, sind für 
das Kind anders zu beurteilen. Hier finden sich fast immer schwächere 
und energielosere Mittäter, die für sich allein nie einen Diebstahl auf 
sich nehmen würden und nur den Verlockungen stärkerer und aktiver 
veranlagter Naturen unterliegen. Immerhin ist es durchaus nötig, 
daß hier besonders scharf durchgegriffen wird, um so mehr als gerade 
bei diesen Bandendiebstählen der suggestive Einfluß derartiger Ver¬ 
brechen, die dazu noch in gefährlicher Weise mit dem Nimbus des 
Romanhaften und Gefährlichen verbrämt sind, neue Opfer schafft. 
So wurden im Laufe der Untersuchungen 10 Knaben, die in Harburg 
gewohnheitsmäßig den Bandendiebstahl betrieben hatten, auf einmal 
der Fürsorgeerziehung überwiesen. 

Raub und Straßenraub trugen ohne Ausnahme durchaus eineo 
diminutiven Charakter, wie das bei den geringen Körperkräften der 
kindlichen Räuber nicht anders möglich ist. Meist bandelte es sich 
darum, daß ältere Knaben kleineren Kindern unter Drohungen Geld¬ 
beträge oder Schmucksachen abgenommen hatten. 

Betrug und Unterschlagung sind auch reichlicher vertreten, 
als gewöhnlich angenommen wird, da für gewöhnlich bei der man¬ 
gelnden Überlegung, der geringen Neigung, derartige meist kompli¬ 
ziertere Handlungen vorzunehmen, bei denen der Vorteil nicht auf 


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Zur Kriminalität des Kindesalters. 


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der Hand liegt und ohne weiteres nicht erreichbar ist, nnd den 
wenigen Gelegenheiten der Wirkungskreis dieser Delikte eingeengt wird. 

Daß nur 17 mal eine Körperverletzung im Strafregister 
vorkam, erklärt sich wieder lediglich aus dem geringen Maß von 
Körperkräften, die unseren Zöglingen zu Gebote stehen. Daß die 
Veranlagung und die Lust zu solchen Gewaltdelikten diesen Zahlen 
nicht entsprechen, beweist die Tatsache, daß bei 86 eine frühzeitige 
Neigung zu Gewalttaten beobachtet worden war, nur daß sie ihre 
Umsetzung in die Tat auf den kleinsten Umfang beschränken mußte, 
sodaß von einer strafbaren Handlung, die einem der betreffenden 
Paragraphen des Strafgesetzbuches entsprach, nicht die Rede sein 
konnte. Der Mordversuch muß als ein ganz exquisiter Aus¬ 
nahmefall angesehen werden. 

Die Neigung der Kinder zu Brandstiftungen ist bekannt 
und in den 10 Fällen, über die in der Vorgeschichte berichtet wurde, 
ist auf eine wiederholte Betätigung dieses Triebes hingewiesen 
worden. Das Hauptkontingent der jugendlichen Brandstifter, die ja, 
zum größten Teile auf einem in psychischer Beziehung nicht ein¬ 
wandsfreien Boden erwachsen sind, wird allerdings erst im Verlaufe 
oder nach Eintritt der Pubertät mit allen ihren gewaltigen Ein¬ 
wirkungen auf die normale und pathologische kindliche Psyche ge¬ 
stellt. Immerhin füllten 17 Brandstiftungen die Strafregister unserer 
Zöglinge, die zum Teil aus unklaren oder kindlichen Motiven hervor¬ 
gegangen, zum Teil mit bewußter Absicht ins Werk gesetzt worden 
waren. In einem Falle setzte ein Knabe das Haus des Bauern, bei 
dem er untergebracht war, in Brand, weil dieser ihn gezüchtigt hatte, 
wobei ein Kind des Bauern mit verbrannte. 

Die Roh ei tsdelikte traten wieder ganz zurück wegen der ge¬ 
ringen zur Verfügung stehenden Kraft, und weil der Spiritus rector, 
der Alkohol, seine Rolle noch nicht aufgenommen bat. Die 27 Sach- 
beschädigungen sind meist auf Rechnung einer kindlichen Zer¬ 
störungssucht zu setzen, die nicht immer aus unedlen Motiven hervor¬ 
zugehen braucht, und der noch weniger immer ein pathologischer 
Charakter zugeschrieben werden kann. Auch die Bahnfrevel ent¬ 
sprechen mehr der Lust am Unfug, ohne daß sich die Täter bewußt 
gewesen wären, welch’ ungeheuren Folgen sie durch ihr leichtsinniges 
Tun hätten heraufbeschwören können. Einen äußerst ungünstigen 
Rückschluß auf den Charakter des Kindes konnte man sich dagegen 
ausnahmslos bei den Zöglingen erlauben, die wegen Baumfrevels 
(4 Zöglinge) bestraft waren, und noch mehr bei denen, die sich Tier¬ 
quälerei (18 Zöglinge) hatten zuschulden kommen lassen. Daß 

Archiv für Kriminalmnthropologie. 40. Bd. 18 


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XI. Mönkemöller 


dreimal eine Anklage wegen Hausfriedensbrach erhoben worden 
ist,' läßt darauf schließen, daß die Betroffenen sich nicht der richtigen 
Mittel bewußt waren, die ihnen hierbei zu Gebote standen. Daß ein Kind 
von 13 Jahren gar wegen Widerstandes gegen die Staats¬ 
gewalt bestraft wurde, läßt auch nicht gerade vermuten, daß 
besagte Staatsgewalt gewußt hätte, mit wie einfachen Mitteln sie ihrer 
Autorität richtiger und praktischer Geltung hätte verschaffen können. 

Dem Bereiche der Sittlichkeitsdelikte sind ja durch das Alter 
und die körperliche Beschaffenheit unserer Zöglinge gebührende Grenzen 
gesetzt Ganz fehlen sie darum doch nicht. Wie immer läßt sich 
bei dem aus den Fabrik- und Seestädten kommenden Materiale er¬ 
kennen, wie weit schon die Verwahrlosung auf sittlichem Gebiete 
gerade in diesem Punkte gediehen war. Bedenkt man, wie gering 
die Zahl der weiblichen Zöglinge ist, so muß die Zahl der 13 Ent¬ 
jungferten, die unter dem l 4. Lebensjahre standen, und bei denen 
die Menstruation meist noch nicht eingetreten war, recht erheblich 
erscheinen. Ein Inzest war vollzogen an 6, gewöhnlich vom Vater der 
Betreffenden, wobei meist ein Parallelgehen der geistigen Entartung 
beider und die alkoholistiscbe Färbung des Milieus, aus dem beide 
hervor gegangen waren, erkannt werden konnte. Meist waren die 
Kinder, bei denen die geschlechtlichen Triebe so stark entwickelt 
waren, daß sie über die Onanie hinaus nach irgend einer Seite Be¬ 
tätigung suchten, auch körperlich außergewöhnlich weit entwickelt 

Einige ganz außergewöhnliche Beispiele bewiesen meist gleich¬ 
zeitig, daß mit einer derartig vorzeitigen geschlechtlichen Betätigung 
in der Regel eine pathologische Gestaltung der Psyche Hand in Hand 
geht Das zeigte sich am deutlichsten bei einem 13jäbrigen Mädchen, 
das im Laufe eines Jahres von polnischen Saisonarbeitern 70 — 100 
Mal geschlechtlich gemißbraucht worden war und an ausgeprägtem 
Schwachsinn litt. Der Päderast, dem nebenbei sein Vater eine here¬ 
ditäre Syphilis auf den Lebensweg mitgegeben batte, sah schon auf 
eine recht wechselvolle Laufbahn zurück und verkörperte den Degene¬ 
rierten in krassester Weise. Die sonstigen sexuellen Delikte setzten 
sich zusammen aus unsittlichen Berührungen an Kindern, aus der 
Vornahme beischlafähnlicher Handlungen, aus der Schamverletzung 
und ähnlichen Delikten. 

Unter den sonstigen Delikten wird die Bedeutung des Betteins 
mit 40 Delinquenten wieder nicht in das richtige Licht gestellt. Dazu 
ist hier recht häufig der Einfluß der Eltern ganz unverkennbar, die 
sich eine bequeme Erwerbsquelle schufen, meist um dem Alkobolismus 
des Vaters Genüge zu leisten. 


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Zur Kriminalität des Kindesalters. 


275 


Ob eine Vagabo ndage vorlag, die mit dem Stromertume von 
Erwachsenen auf eine Stufe gesetzt werden konnte, ließ sieb nicht 
immer mit Sicherheit entscheiden, weil das Hauptkriterium, das Aus¬ 
weichen vor jeder geregelten Arbeit, nicht in Betracht kam. Das 
Herumliegen auf der Straße, das Scheiden aus der geregelten Häus¬ 
lichkeit, die Flucht vor dem geregelten Schulbetriebe, die Ausnutzung 
der verbrecherischen Nebenbetriebe, die sich mit dem Vagabunden¬ 
leben so häufig paaren, schuf allerdings manchmal Verhältnisse, die 
mit der Vagabondage der Erwachsenen ruhig identifiziert werden 
konnten. 

Während im allgemeinen das Verbrecherleben unserer Fürsorge¬ 
zöglinge des Zielbewußtseins entbehrte, häufig von Zufälligkeiten ab¬ 
hängig war und deutlich den Stempel des Passiven trug, war bei 
einzelnen eine aktive asoziale Tendenz schon außerordentlich stark 
ausgeprägt. Dies zeigte sich am deutlichsten bei den 19, bei denen 
die Erhebung der Vorgeschichte nachgewiesen hatte, daß sie ihre 
Altersgenossen in ihren kriminellen Kreis hineingezogen und sie zum 
Betteln, Stehlen, Vagabundieren angehalten hatten, oder sich ihrer 
nur als Werkzeuge bedient batten, um in den Besitz von Geld zu 
gelangen, während sie selbst sich klüglich im Hintergründe hielten. 
Sie eröffneten bei der sonstigen Gestaltung ihrer Psyche ohne Aus¬ 
nahme noch am ersten für die Zukunft die Prognose, daß sie einmal 
mit der Kriminalität einen engeren Bund eingehen würden. 

Was die Einzelheiten der Technik, die bei den jetzt vorge¬ 
nommenen Untersuchungen angewandt wurde, anbetrifft, muß ich auf 
den Bericht an das Landesdirektorium verweisen, in dem auch die 
Bedenken, die gegen die Art der Untersuchung bestehen, gewürdigt 
worden sind, wie auch die Bedeutung, die derartigen Untersuchungen 
zukommt, im allgemeinen gebührend hervorgehoben worden ist. 

Bei der körperlichen Untersuchung wurden die Knaben 
vom Kopf bis zu den Füßen untersucht, die Mädchen nur so weit, 
als es ohne Ablegung der Kleider möglich war. Gerade unter den 
weiblichen Zöglingen, die der Anstaltspflege überwiesen werden, finden 
wir schon in diesem Alter die sexuell am meisten erregbaren Indivi¬ 
duen, bei denen alles vermieden werden muß, was ihre Sinnlichkeit 
reizen könnte. Daß diese Untersuchung bei dem summarischen Charak¬ 
ter, der ihr nun einmal nicht zu nehmen ist, auf apodiktische Genauig¬ 
keit keinen Anspruch machen kann, ist nicht zu vermeiden. Trotzdem 
ist das Ergebnis unverhältnismäßig reichhaltiger, als man nach den 
Angaben der Vorgeschichte erwarten konnte. 


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XI. Mönkemöller 


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Tabelle XIII. 


Abweichungen vom Normalen im körperlichen Befand. 


Zurückgebliebene Entwicklung • | 

45 ' 1 

Unregelmäßige Zahnstellung . . 

49 

Schlechter Ernährungszustand . j 

28 ; 

Stiftzähne. 

4 

Haut- und Haarkrankheiten . . 

5 

Geriefte Zähne. 

35 

Hereditäre Lues. 

11 

Hutchinsousche Zähne .... 

4 

Rhachitis. 

39 

Überbeißer. 

9 

Skrophulose. 

41 

Prognathie. 

24 

Geschwollene Lympbdrüsen . . 

434 

Fehlen des Zäpfchens .... 

1 

Struma .... 

4 i 

Caput obstipum. 

1 

Schädelasymmetrien .... 

37 

Geschlängelte Schläfenadern . . 

3 

Auffällig jjeiMr Schädelum,an ® 

16 

Herzfehler. 

Unregelmäßige Herztätigkeit . . 

9 

6 

Sohädelnarben. 

85 

Lungenspitzenkatarrh .... 

5 

Jridektomie. 

1 i 

Leistenbrüche. 

11 

Einseitige Blindheit. 

4 

Unterbleiben des Descensus 


Schwachsichtigkeit. 

7 

testiculornm. 

64 

Kurzsichtigkeit. 

19 

Hydrocele. 

1 

Lidhautkatarrhe. 

6 1 

Lordose. 

1 

Schichtstar.. 

1 . 

Kyphose. 

2 

Traumatischer Star. 

1 

| Skoliose. 

2 

Schwerhörigkeit ...... 

45 

| Verstümmelung der Hand . . 

2 

Mittelohrkatarrh. 

17 

1 Schlecht geheilte Knochenbrüche 

6 

Behinderte Nasenatmung . . . 

26 

| Kontrakturen. 

2 

Chronische Mandelschwellung 

38 

Steifes Knie. 

1 

Rachenkatarrh. 

5 

Hüftgelenkentzündung . . . 

1 1 

Zahnlücken. 

28 

Verkrüppelung beider Beiue . . 

1 

Defekte Zähne. 

149 

Klumpfuß. 

1 


Die zurückgebliebene körperliche Entwicklung, mit 
der sieb häufig auch ein Zurückbleiben auf geistigem Gebiete deckt, 
muß in gewissem Grade auf die außerordentlich ungünstigen Ver¬ 
hältnisse zurückgeführt werden, denen unsere Zöglinge entsprossen 
sind. Nur die auffälligsten Grade dieses Zurückbleibens wurden hier 
gebucht, so daß auch hier der Subjektivismus, der trotzdem entsprechend 
in Rechnung gesetzt werden muß, nach Möglichkeit ausgescbaltet ist. 
Auch der Ernährungszustand mußte, soweit man sieb damit auf 
die Verpflegung in der Anstalt selbst Rückschlüsse erlauben wollte, 
mit großer Behutsamkeit eingeschätzt werden. Die meisten Zöglinge 
stehen gerade in dem Alter, in dem das Längenwachstum in vollem 
Gange ist, worunter ja häufig der allgemeine Ernährungszustand zu 
leiden hat. Dabei stammen recht viele aus sehr gedrückten Verhält« 
nissen, in denen die Unterernährung zu Hause ist. Der Übergang 
in die Fürsorgeerziehungsanstalt, die nach einiger Zeit diese Schäden 


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Zur Kriminalität des Kindesalters. 


277 


ausbessert, ist erst seit zu kurzem erfolgt, um diesen Erfolg schon 
erreicht zu haben. Im allgemeinen muß man sämtlichen Anstalten 
das Zeugnis ausstellen, daß sie diese Aufgabe in der rühmlichsten 
Weise erfüllen. Wie groß die Fürsorge ist, die das Landesdirektorium 
diesen Zöglingen angedeihen läßt, kann man am besten daraus ersehen, 
daß alljährlich eine Anzahl von skrophulösen und anämischen Kindern 
in Solbädern und Seebädern zum Kuraufenthalte untergebracbt wird. 

Ebenso anerkennenswert ist die Fürsorge, die trotz der ziemlich 
erheblichen Kosten der Zahnpflege, vor allem auch der konserva¬ 
tiven Zahnbehandlung, zuteil wird, und die mir gegenüber meinen 
früheren Untersuchungen als erheblicher Fortschritt zum Bewußtsein 
kam. Bei den allgemein verbreiteten sehr schlechten Zahnverhält¬ 
nissen, die im besten Falle zu einer Massenextraktion führten, ist diese 
rationelle Zahnpflege ein gar nicht zu unterschätzendes Mittel zur Vor¬ 
beugung von chronischen Verdauungsstörungen und damit zur Stärkung 
des Gesamtorganismus gegen ungünstige Einflüsse. 

Die Zahl der Fälle von Skrophulose, die sich sicher nach- 
weisen ließ, war geringer, als erwartet werden konnte. Daraus kann 
in gewissem Maße gefolgert werden, daß der Aufenthalt in der Für¬ 
sorgeerziehungsanstalt, in der die Kinder unter geregelte hygienische 
Verhältnisse kamen, auf diese chronische Krankheit einen günstigen 
Einfluß ausübt. Auffällig groß war dabei die Zahl der geschwolle¬ 
nen Lymphdrüsen. Die enorme Zahl der geschwollenen Drüsen 
(bei 434 Zöglingen) verbietet es wohl, sie ohne weiteres als skrophu- 
löse bzw. tuberkulöse Erscheinungen zu deuten, wenn sie nicht in 
besonders starkem Maße ausgeprägt sind. Nur wenn sie sich mit 
anderen Residuen der Skrophulose verbinden, dürfen wir wohl die 
perniziöse Grundkrankheit annehmen, zumal sie auch bei kräftigen, 
muskulösen und blühenden Individuen beobachtet wurden. 

Die Schädelnarben sind insofern mehr von Belang, als sie 
einerseits als objektive Überbleibsel einer Verletzung in der Beurteilung 
der psychischen Beschaffenheit in Ansatz gebracht werden können, 
andererseits auf die Vorgeschichte und das Milieu, das meist im Elende 
der Alkoholistenehe gipfelt, ein bezeichnendes Licht wirft Berück¬ 
sichtigt wurden nur größere Narben oder kleinere, wenn sie sich in 
größerer Häufung nachweisen ließen. 

Beachtenswert ist weiterhin die Schwerhörigkeit leichteren 
oder schwereren Grades, die mit früher überstandenen Mittelobr- 
katarrhen in ursächlichen Zusammenhang gebracht werden muß und 
indirekt mit den chronischen Mandelschwellungen und der be¬ 
hinderten Nasenatmung in Zusammenhang gebracht werden muß, die 


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auch in den Untersuchungen von Rizor in auffällig hohem Maße 
festgestellt wurde. Da sie das Folgen im Unterrichte behindert und 
bekanntlich auf die Stimmung meist einen sehr störenden Einfluß 
ausübt, ist sie gerade für die Schulkarriere unserer Zöglinge sicherlich 
nicht ohne Einfluß, sodaß eine rechtzeitige Therapie und Prophylaxe 
auf diesem Gebiete nicht aus dem Auge gelassen werden darf. 

Neben den chronischen Krankheiten des Herzens, der 
Lunge, des Gefäßapparates, die eine vorsichtige Behandlung des 
Zöglings verlangen, sind noch die Residuen alter Gelenkleiden und 
Knochenbrüche zu erwähnen. Im Schulverkehre sind sie für ihren 
Träger, ebenso wie die Verkrümmungen der Wirbelsäule und alle 
sonstigen Entstellungen oft eine recht störende Beigabe, weil sie bei 
den Mitschülern, von denen die Kandidaten der Fürsorgeerziehung 
wegen ihrer sonstigen auffälligen Eigenschaften schon so wie so 
manchmal verhöhnt werden, den Zielpunkt der kindlichen nicht böse 
gemeinten und doch oft grausamen und lieblosen Scherze abgeben. 

Für die Beurteilung des psychischen Zustandes und damit der 
Zurechnungsfähigkeit sind wichtiger die nervösen Symptome. 
Wenn sie an und für sich nicht besonders in die Wagscbale fallen 
und meist nur als Nebenbefund der psychischen Untersuchung ihre 
Teilbedeutung haben, geben sie doch oft einen Fingerzeig dafür, daß 
eine psychische Untersuchung sehr am Platze ist. 


Tabelle XIV. 


Nervöse Symptome 


Sehmerzhafte Schädel perkussion . 

Lidspaltendifferenz. 

Beschleunigter Wimperschlag. . 

Abducensparese. 

Konkomitierendes Schielen . . 

Pupillenstarre (einseitig) . . . 

Hippus. 

Pupillendifferenz. 

Exophthalmus. 

Lagophthalmus. 

Einengung des Gesichtsfeldes . . 

Facialisdifferenz. 

Facialis! ahm ung. 

Schmerzhaftigkeit des Trigeminus 

Tics. 

Aufhebung des Würgreflexes. 

Zäpfchenschiefstand. 

Abweichen der Zunge . . . * 

Zittern und Wogen der Zunge 


5 

S 

1 

11 

2 

3 

24 

1 

1 

7 

21 

1 

79 

8 
45 


9 

8 

38 


I, Herabgesetzte Hautreflexe . . . 

Steigerung der mechanischen 
Muskelerregbarkeit .... 

1 Dermographie. 

| Fingerzittern. 

1 Schlaffe Lähmung. 

i Gesteigerte Sehnenreflexe . . . 

jj Aufhebung des Patellarreflexes . 

ii Differenz der Patellarreflexe . . 

Fußklonus. 

Schwanken bei Augenfußschluß . 

! Lidflattern. 

Stottern 

| Verwaschene Sprache, Lispeln . 
j Herabsetzung der Gefühlstätigkeit 
Steigerung der „ 

Ii Spastischer Gang ...... 

|| Schlotteriger Gang. 


8 

225 

152 

18 

2 

59 

1 

1 

44 

2 

65 

11 

8 

4 
11 

5 


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Zur Kriminalität des Kindesalters. 


279 


Zahlenmäßig tritt hier eine Reihe von nervösen Reizsym¬ 
ptomen auffällig stark hervor: das Zangenzittern, die Schmerz¬ 
haftigkeit des Trigeminus, das gesteigerte vasomotorische Nachröten, 
die Erhöhung der direkten mechanischen Muskelerregbarkeit, die 
Steigerung der Sehnenreflexe. Wenngleich ihre Bedeutung nicht ge¬ 
schmälert werden soll, wenn sie im Vereine beobachtet werden, dürfen 
sie in weniger scharfer Ausprägung und erst recht nicht als Einzel¬ 
symptome in derselben Weise wie beim Erwachsenen angeschlagen 
werden. Man darf nicht vergessen, daß unsere Zöglinge sich aus¬ 
nahmslos im Wachsen befinden, wobei sich das Nervensystem in einem 
Zustande von physiologischer Reizung befindet. Ein Teil dieser 
gesteigerten Reizbarkeit ist dadurch bedingt, daß die Untersuchten 
meist nur ein sehr geringes Fettpolster besitzen, sodaß Muskeln und 
Sehnen leichter von den auf sie einwirkenden Reizen erregt werden 
können. 

Während ich bei meinen Untersuchungen der Lichtenberger 
Zwangszöglinge den körperlichen pathologischen Befunden, denen in 
kriminalanthropologischer Beziehung eine Bedeutung zu¬ 
geschrieben wird, eine weitgehendere Beachtung schenkte, habe ich 
mir bei Zusammenstellung der jetzigen Tabelle eine weit größere 
Zurückhaltung auferlegt. 

Schon damals habe ich mir eine Zusammenstellung der Schädel- 
maße, obgleich ich hierauf viel Zeit verwendet hatte, schließlich 
ganz geschenkt Man muß bedenken, daß unsere Zöglinge sich im 
Wachstum befinden, und daß man, wenn man irgendwelche ver¬ 
gleichenden Folgerungen daraus ziehen will, das Material in unendlich 
viele Unterabteilungen auf lösen muß. Dabei soll gar nicht auf die 
Frage eingegangen werden, ob diesen Maßen irgend eine Bedeutung 
in kriminalanthropologischer Beziehung eingeräumt werden darf. Das 
Material ist ja ohne jede Frage in ethnischer Beziehung viel ein¬ 
heitlicher wie das der Berliner fluktuierenden Bevölkerung. Aber 
trotzdem repräsentiert die ßevölkerungsscbicht, der unsere Zöglinge 
entstammen, nicht den niedersächsiscben Volkstypus allein und in 
seiner ganzen Reinheit Gerade die Bevölkerung der See- und Fabrik¬ 
städte, die einen so erheblichen Teil des Materials stellt, wechselt so 
häufig den Wohnsitz, daß die anscheinende Einheitlichkeit doch so 
wesentlich verwischt wird, daß alle vergleichenden anthropologischen 
Forschungen sich so gut wie ganz erübrigen. 

Genommen wurden an Maßen neben der Körperlänge nur 
Stirnbreite und Schädelumfang. Erwähnt sind hier nur 
die Extreme nach oben und unten, die fraglos als pathologisch anzu- 


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XI. Mönkemöller 


sehen sind, nnd bei denen man sich ohne Zwang einen vorsichtigen 
Rückschluß auf die geistige Beschaffenheit erlauben dürfte. 

Das gleiche gilt von den Schädeldifformitäten, bei denen 
sich zum größten Teile ein Zusammenhang mit einem abnormen 
Geburtsverlaufe oder Rhachitis nachweisen ließ. 

Die Degenerationszeichen habe ich nach altem Branche, 
wie es sich für die Untersnchnng eines kriminellen und geistig minder* 
wertigen Materials ziemt, bei der Untersuchung mit anfgenommen. 
Je länger man sich aber mit derartigen Untersuchungen beschäftigt, 
um so mehr wird man von der Nichtigkeit oder doch von dem nur 
sehr eng begrenztem Werte dieser Degenerationszeicben durchdrungen, 
soweit sie zu vergleichenden nnd diagnostischen Zwecken verwertet 
werden sollen. Zum Teil ist ihre Abhängigkeit von krankhaften 
Prozessen: Rhachitis usw. erwiesen, zum Teil wird ihre Bedeutung 
als Stigmata degenerationis nicht anerkannt Dabei ist die Grenze, 
bei der die Abweichung von der Norm anfängt, nicht mit Sicherheit 
zn ziehen nnd gänzlich der Willkür des einzelnen überlassen, wie 
auch die Entscheidung darüber, wie groß ihre Zahl sein soll, um auf 
die psychische Minderwertigkeit ihres Trägers irgend welche Rück¬ 
schlüsse zu erlauben, dem Belieben des einzelnen anheim gestellt ist 
Das sind alles sehr störende Bedenken, selbst wenn man ihr Vor¬ 
handensein gar nicht auf die vorhandene Kriminalität anwenden, 
sondern nur in berechtigter Weise mit der bei einem großen Teile 
des Materials unstreitig in Betracht kommenden geistigen Minder¬ 
wertigkeit in ursächlichen Zusammenhang bringen will. Ich habe es 
mir darum ganz versagt, die größere oder geringere Zahl dieser Ab¬ 
weichungen von der Norm mit der größeren oder geringeren Krimi¬ 
nalität in eine Parallele zu bringen. Ich habe schließlich überhaupt 
auf die Zusammenstellung verzichtet 

Gerade bei diesen Untersuchungen ist es mir nämlich wieder 
ganz besonders zum Bewußtsein gekommen, wie schädlich in Laien¬ 
kreisen gerade die Betonung des Wertes dieser Degenerationszeichen 
gewirkt hat Man ist sonst überall der entschiedenen Meinung, daß 
der Psychiater gewillt ist, wenn er eines dieser Zeichen entdeckt, bei 
seinem Träger ohne weiteres eine geistige Krankheit anzunehmen, 
nnd glaubt sich berechtigt, diese oberflächliche Beobachtungsweise 
auf die ganze psychiatrische Diagnostik in kritikloser Weise zu über¬ 
tragen. Der Schaden, der dadurch erwächst, daß die psychiatrischen 
Bestrebungen in ein falsches Licht gesetzt werden, steht mit dem 
ganzen Nutzen, den diese Zeichen in diagnostischer Hinsicht besitzen 
in einem solchen Mißverhältnisse, daß man sie in Veröffentlichungen, 


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Zur Kriminalität des Kindeealters. 


281 


die auch für Nichtpsychiater bestimmt sind, am besten ganz aus dem 
Spiele läßt 

Auch die „Verbrecherphysiognomie“ ist mir bei unseren 
Zöglingen, unter denen doch sicher ein Bruchteil demnächst einmal 
in der Verbrecherkarriere eine mehr oder weniger große Rolle spielen 
wird, nicht entgegengetreten. Freche und rohe Gesichter waren aller¬ 
dings, wenn auch ziemlich selten, vorhanden. Wenn wir die Ver- 
brecberphysiognomien, wie sie uns bei erwachsenen Kriminellen vor 
Augen treten, in diesen kindlichen Stadien vermissen müssen, so hat 
das offenbar seinen Grund darin, daß sie noch nicht den vielen Ein¬ 
flüssen unterworfen gewesen sind, die auf die Gestaltung des Gesichts¬ 
ausdrucks von Einfluß sind; vor allem aber darin, daß sie noch nicht 
so lange Gefängnis- und Zuchthausstrafen hinter sich haben, die dem 
Gesiebte ihren Stempel aufdrücken und durch die Uniformität der 
Kleidung, des Haarschnittes usw. das Typische der Physiognomie 
Vortäuschen. Einen stärkeren Prozentsatz stellten wieder die leeren, 
stumpfen, verschlossenen, gleichgültigen Gesichter, die der Spiegel der 
mangelnden geistigen Regungsfähigkeit sind. Eine „Galgenpbysio- 
gnomie“, der das Laster auf die Stirn geschrieben stand, habe ich 
ganz vermißt, und wenn sie wirklich von Bedeutung wäre, dürfte sie 
bei diesen kindlichen Kriminellen, bei denen sich die verbrecherische 
Anlage doch auch schon ausprägen mußte, sicherlich nicht 
fehlen. 

Auch die Tätowierungen erlaubten keinen Rückschluß auf 
die kriminelle Gesinnung ihrer Träger. Die Zahl von 37 bei 623 
Untersuchten ist sicherlich nicht zu groß. Dabei gehörten sie mit 
verschwindend geringen Ausnahmen den Seestädten an, in denen 
der Verkehr mit der seefahrenden Bevölkerung auf dem Wege des 
schlechten Beispiels den „atavistischen“ Trieb in die Brust des jungen 
Verbrechers einpflanzt Das bewies in einzelnen Fällen auch die 
Wahl der eintätowierten Embleme, die im übrigen die gewöhnlichen 
waren. Angebracht waren sie ausnahmslos auf dem Vorderarm oder 
der Hand. Auf die Frage, was sie sich bei der Manipulation gedacht 
hätten, erfolgten stets die üblichen, nichtssagenden Antworten, die nie 
darauf schließen ließen, daß der Täter bei dieser Operation von einem 
tieferen Gedankengange geleitet worden wäre und das bei der Wahl 
der Figuren hätte zum Ausdruck bringen wollen. Der gewerbsmäßige, 
jugendliche Tätowierer, der im Stolze auf die erworbene Kunst diese 
atavistischen Prozeduren an seinen Altersgenossen verübte, ließ sich 
mehrere Male ermitteln. In den Anstalten ist meines Wissens eine 
Tätowierung nicht zustande gekommen. 


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XI. Mönkemöller 


Mehrere Male wurde geklagt, daß die Operation empfindliche 
Schmerzen verursacht habe, wie auch sonst nach den Berichten der 
Erzieher die Herabsetzung der Schmerzempfindlichkeit bei 
kleineren Verletzungen alles andere als deutlich zutage tritt Das dauernde 
Webgeheule, das gelegentlich der Anwesenheit eines Zahnarztes in der 
Anstalt bei der halbjährigen Extraktion sämtlicher fälligen kariösen 
Zähne die psychiatrisch-neurologischen Untersuchung störte, bewies, 
daß die Herabsetzung der Schmerzempfindlichkeit die Zahnnerven 
unberührt gelassen hatte. Die Aufhebung oder Herabsetzung des 
Gefühls, die bei vier Zöglingen festgestellt wurde, fügte sich zwanglos 
in den gesamten Symptomenkomplex der psychischen Krankheit ein, 
an der die Betreffenden litten. 

Auch die für die Linkshändigkeit gewonnenen Zahlen erwähne 
ich gar nicht. Eine Linkshändigkeit beim Schreiben ist bei den 623 
überhaupt nicht festgestellt worden. Sie läßt sich gerade so gut unter¬ 
drücken, wie beim Militär eine Gleichmäßigkeit beim Greifen und 
Schießen erzielt werden kann. Die Linkshändigkeit kommt ja bei 
der Arbeit wieder zum Durchbruch, und so benutzte ich zur Feststellung 
die Art und Weise, wie die Zöglinge beim Graben die Hände hielten: 
Die geschicktere und kräftigere Hand wird hierbei obenhin gehalten. 
In einer Anstalt ergab sich plötzlich für eine bestimmte Altersklasse 
das fast ausnahmslose Bestehen einer solchen Linkshändigkeit Das 
Bätsel wurde bald dadurch gelöst, daß der Bruder, der gerade bei 
dieser Kolonne als Vorarbeiter gewirkt hatte, ein solcher Arbeitslinkser 
gewesen war, der die ganze Kolonne mit einem solchen signum 
degenerationis criminalis beeinflußt batte. 

Bei der Zusammenstellung der psychischen Eigentümlich¬ 
keiten, denen für die Genese des Verbrechens oft eine sehr wesent¬ 
liche Bedeutung zukommt, darf wieder nicht aus dem Auge gelassen 
werden, daß sie nur Einzelsymptome darstellen. Ihnen muß zum 
Teil auch noch zugute gehalten werden, daß sie eben in die Kind¬ 
heit, in die Zeit der beginnenden Pubertät und ihre Vorstadien, die 
an die kindliche Psyche recht große Anforderungen stellen, fallen, 
ohne daß man für die Zukunft zu weitgehende Folgerungen daraus 
ziehen darf. Jedenfalls dürfen Bie nur unter Berücksichtigung der 
gesamten psychischen Konstitution in die Rechnung eingesetzt 
werden. 

Sie sind deshalb so wichtig, weil sie in der Anstalt das behan¬ 
delnde Personal, wenn es eine einigermaßen genügende Anleitung 
dazu genossen hat und anch nur über die bescheidenste Beobachtungs¬ 
gabe verfügt, manchmal in den Stand setzt, die psychisch verdächtigen 


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Zur Kriminalität des Kindesalters. 


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Persönlichkeiten zu erkennen und die für eine eventuelle psychiatri¬ 
sche Untersuchung oft wertvollen Beobachtungen nutzbar zu machen. 
Bei der jetzigen Untersuchung sind einzelne psychische Abweichungen 
von der Norm, die zum Teil für die Beurteilung recht erheblich ins 
Gewicht fallen, entschieden noch etwas zu kurz gekommen. Dahin 
gehören in erster Linie manche Eigentümlichkeiten in den Stimmungs- 
verhältnissen und im Affektleben mit seiner so verschiedenen 
und charakteristischen Entladungsfähigkeit, in deren richtiger Erkennung 
das aufsichtführende Personal noch etwas mehr geschult werden 
müßte. 


Tabelle XV. 


Psychische Eigentümlichkeiten 


Träumerisches Wesen .... 

24 I 

Stilles „ .... 

19 

Finsteres „ .... 

10 

Verschlossenes „ .... 

13 

Verdrossenes „ .... 

31 i 

Gleichgültiges „ .... 

29 i 

Gedrücktes „ .... 

30 

Depressive Zustände. 

8 I 

Unmotiviert gehobene Stimmung 

17 1 

Stimmungswechsel . . . . . 

135 | 

Periodizität dabei angedeutet. . 

4 | 

Selbstmordneigung. 

3 

Neigung zur Selbstbeschädigung 

1 

Stumpfheit. 

45 

Gleichgültigkeit. 

28 

Gespanntheit. 

i 31 

Unkindlicher Ernst. 

8 

Verlangsamung des Denkens . . 

11 

Absencen und Dämmerzustände . 

9 

Fortlaufen aus der Anstalt . . 

43 

Maturierte Sprechweise .... 

3 !, 


Neigung zur verschrobenen Satz¬ 
bildung . 

Neigung zu bestimmten Stellungen 
Läppische Angewohnheiten . . 

Zwangshandlungen. 

Sinnestäuschungen. 

Eigenbeziehungen. 

Onanieren. 

Sonstige starke sexuelle Be¬ 
tätigung . 

Bettnässen. 

Einschmutzen. 

Anstaltsdiebstähle. 

Zer stör nngssucht. 

Freß sucht. 

Reizbarkeit. 

Erregungszustände. 

Wutanfälle. 

Angriffe auf die Umgebung . . 

Simulation. 


3 

1 

3 
1 

4 

4 

67 

5 

141 

3 

32 

2 

103 

12 

2 

17 

2 


Die hier niedergelegten Abweichungen von den normalen Stim¬ 
mungslagen verkörpern ausnahmslos ziemlich derbe krankhafte Äuße¬ 
rungen des Stirnraungslebens. Vor allem die Stimmungsschwankungen 
und der jähe Stimmungswechsel wurden manchmal in den lebhaftesten 
Farben geschildert. 

Auch bei der gesteigerten Reizbarkeit wurden nur die aus¬ 
geprägtesten Vertreter mit aufgezählt. Manche Erregungszustände 
und „Wutanfälle“ konnten nach der Schilderung in jeder Irren¬ 
anstalt bestehen, nur daß ihnen hier durchaus nicht immer der patho- 


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XI. Mönkemöller 


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logische Charakter konzediert wnrde. Die Angriffe auf die Um¬ 
gebung verrieten insofern das kindliche Alter der Täter, als sie sich 
nie gegen Lehrer und sonstige Vorgesetzte richteten und stets die 
Autorität wahrten. Immerhin wurden nur solche Attacken hier auf¬ 
geführt, die über die normalen Jungenprügeleien weit hinausgingen, 
die ja selbst in dem Rahmen einer solchen Anstalt mit ihrer strengen 
Zucht bei der Art des Materials nicht anfzufallen brauchen, nnd bei 
denen ein übertriebenes Kraftgefühl und eine krankhaft gesteigerte 
Reizbarkeit anfs deutlichste zu erkennen gaben, daß sich hier eine 
anormal veranlagte Psyche Luft machte. Das Pathologische erschien 
besonders deutlich in einem Falle, in dem ein Knabe eine Kuh, die 
ihm nicht das mindeste getan batte, mit dem Messer angriff. 

Die Äußerungen der Psyche, die mit Epilepsie oder Hysterie 
in Verbindung gebracht werden können, treten in der Beobachtung 
anscheinend nicht gebührend zutage. So ist z. B. die Zahl von Ab¬ 
sencen bzw. Dämmerungszuständen, über die berichtet wird, wohl 
sicherlich nicht alles, was auf diesem Gebiete geleistet wird. Zweifel¬ 
los geht manche Absence spurlos vorbei oder wird im Unterrichte 
als Zerstreutheit oder gar als strafwürdiger bewußter Mangel an Auf¬ 
merksamkeit gebüßt. Auch manche nervösen Begleiterscheinungen 
des Schlafes, denen ja gerade in diesem Alter eine besondere Be¬ 
deutung zukommt, gehen im Anstaltsgetriebe, wenn sie nicht zu auf¬ 
fällig sind, unbeachtet vorüber. Offizielle Nachtwachen bestehen be¬ 
greiflicherweise nicht, und der Schlaf der Lehrer und Aufseher, denen 
tagsüber von der Jugend genug zu schaffen gemacht wird, ist so 
fest, daß sie bei dem besten Willen hierüber nur negative Auskünfte 
geben können, selbst wenn sie in unmittelbarer Nähe der Zöglinge 
schlafen. 

Um so ausgiebiger sind die Angaben Über das Bettnässen, 
das hier in schwerster Form auftritt, für die Anstalt selbst eine Crux 
ist nnd später oft noch den Eintritt in eine Lehrstelle erschwert oder 
ganz unmöglich macht Daß man diese lästige Erscheinung nicht 
mehr als eine Nachlässigkeit und Unart ansieht, macht sich in er¬ 
freulicher Weise dadurch erkennbar, daß es nie mehr zu Strafen 
Anlaß gibt, daß man alle möglichen Mittel dagegen ersinnt, um dieser 
unangenehmen Eigenschaft der „Schiffkapitäne“ Herr zu werden. 
In einzelnen Anstalten müssen ganze Abteilungen für diese störenden 
Vertreter eigens geschaffen werden. Das Einschmutzen betraf 
mehrere an der Grenze der Idiotie stehende Schwachsinnige. 

Die verschlossenen und zurückhaltenden Elemente, die 
eine deutliche Neigung zur Eigenbeziehung zeigen, sich zurückgesetzt 


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Zur Kriminalität des Kindesalters. 


286 


wähnen, von ihren Lehrern und Kameraden immer nur Feindlichkeit 
and Übelwollen erwarten, die sich in die Anstaltsbehandlung nur 
schwer einfügen können, ist ziemlich selten. Auch die Sinnes¬ 
täuschungen werden nur ganz ausnahmsweise beobachtet, wenn 
auch hier wieder möglicherweise Beobachtnngsfehler in Frage kommen 
können. Zweimal klagten Schwachsinnige über elementare Visionen, 
die nachts aufgetreten waren. Ein Knabe, bei dem eine schwere 
geistige Schwäche von Jugend auf bestand, führte gelegentlich mit 
seinen Stimmen eine Unterhaltung. Bei einem an Dementia para¬ 
noides leidenden Mädchen liefen die Sinnestäuschungen im Inhalte 
parallel mit den Größenideen, unter deren Einfluß sie stand. 

Das sexuelle Gebiet wurde vollständig von der Onanie 
beherrscht. Auch hier sind die Resultate außerordentlich lückenhaft. 
Es ward mit vollem Rechte vermieden, die dahin gehenden Nach¬ 
forschungen zu intensiv zu gestalten und erst recht, die Genossen 
verdächtiger Zöglinge danach zu befragen, um nicht die Knaben 
— unter den Mädchen wurde sie noch weniger nachgewiesen — da¬ 
mit geradezu bekannt zu machen. Die mutuelle Onanie 
wurde ebenfalls nur ganz selten entdeckt Die sonstigen sexuellen 
Delikte gipfelten meist in einem für das Anstaltsleben wenig angeneh¬ 
men Hange zum Küchenpersonal. Päderastische Neigungen wurden 
in keinem Falle nacbgewiesen, auch nicht bei dem Knaben, • der vor 
seinem Anstaltseintntte sich zu päderastischen Betätigungen hatte ge¬ 
brauchen lassen. 

Eine öftere Entfernung aus der Anstalt wurde nur 
dann unter den psychischen Eigentümlichkeiten vermerkt, wenn sie 
nicht im Anfänge der Anstaltsbehandlung vorgekommen war, wenn 
sie mehrere Male sich wiederholt hatte, unter eigentümlichen für den 
Betreffenden unbequemen Begleit-Umständen verlief, wenn der Aus¬ 
reißer ohne jeden bestimmten Zielpunkt loszog und nur sinnlos herum¬ 
dämmerte, wenn die Entweichung ganz plötzlich, gewissermaßen aus 
dem Handgelenke heraus erfolgte und gar nicht dem sonstigem Wesen 
des Täters entsprach und von ihm in keiner Weise begründet werden 
konnte, wenn schärfere Strafen, die gerade hierbei in Kraft traten, 
ohne jeden Einfluß geblieben waren. Meist standen die „Läufer“ 
auch in der Anschauung des Anstaltspersonals in einem merkwürdigen 
Lichte, auch wenn man sie nicht als pathologisch ansprechen oder 
sie durch die Entschuldigung des Wandertriebes von der Verantwor¬ 
tung zu entbinden geneigt war. 

Ancb die Anstaltsdiebstäble wurden nicht mit in die Tabelle 
aufgenommen, wenn sie sich auf das Fortnebmen von Genußwaren 


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286 


XL Mönkemöller 


und Spielsachen beschränkt hatten. In ein pathologisches Licht worden 
sie aber sicher dann gerückt, wenn sie sich trotz empfindlicher Strafen 
immer wiederholten, ganz wertlose Gegenstände betrafen, oder 
von dem Diebe gar nicht ausgenutzt werden konnten. Die Brücke 
zum Verständnis schlug gewöhnlich die Imbezillität Die Zerstö rungs¬ 
such t hatte sich mehrere Male in einer ganz sinnlosen und trieb¬ 
artigen Verwüstung fremden und eigenen Besitztums geäußert und 
meist mehrere Male betätigt 

Die simulatorischen Neigungen hatten sich recht enge 
Grenzen gesetzt In dem einen Falle hatte ein Knabe versucht, in 
einem für ihn unbequemen Moment einen Krampfanfall zu Hilfe za 
rufen und auf entsprechende psychische Beeinflussung davon Abstand 
genommen. Es blieb der einzige Anfall seines Lebens. Ein anderer 
Knabe hatte nachts mehrere Male den Geist seiner Mutter gesehen 
und dadurch die lebhafteste Angst seiner Stubengenossen erregt, was 
auch, wie er später angab, der Zweck seiner simulierten Halluzinatio¬ 
nen gewesen war. Auch der „Selbstmordversuch 11 des Knaben, der 
den Selbstmörderteich vorher ausgemessen batte, gehört hierher. Sonst 
verschmähten es unsere Zöglinge, aus dem reichen Schatze psychischer 
Unzulänglichkeit, der für eine Unsumme von Unzurechnungsfähigkeit 
Material hätte liefern können, zur Entschuldigung ihrer Ausschreitungen 
Kapital zu schlagen. 

Was die Einzelheiten der Intelligenzprüfung anbetrifft, muß 
ich wieder auf meinen Bericht an das Landesdirektorium verweisen. 

Im ganzen wurden als minderwertig 224 bezeichnet Die 
Bezeichnung „minderwertig 11 , die als zusammenfassender Ausdruck 
gewählt wurde, entspricht durchaus nicht dem Ideale einer solchen 
Bezeichnung. Der Ausdruck hat in der Öffentlichkeit eine unverdiente 
und unbequeme Ausbreitung erlangt, und es wird damit manchmal 
ein offenbarer Mißbrauch getrieben. Auf der anderen Seite bergen 
sieb unter dieser Maske fast nur Zustände, die als reelle psychische 
Defektzustände bezeichnet werden müssen. Da die anderen Ausdrücke, 
die zum Ersätze genommen werden könnten, abnorm, anormal, patho¬ 
logisch dieselben oder ähnliche Bedenken haben, mag er als Not¬ 
behelf dienen. 

In der Begrenzung der psychischen Defekte, gerade 
was die angeborene geistige Schwäche anbetrifft, ist natürlich der 
Subjektivismus nicht auszuschalten. Ich kann aber wohl mit gutem 
Gewissen sagen, daß ich hier die Grenze so weit nach unten gezogen 
habe, als sich das mit meinem psychiatrischen Gewissen noch eben ver¬ 
einigen ließ. Das gebt schon daraus hervor, daß ich noch 47 Zöglinge 


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Zur Kriminalität des Kindesalters. 


287 


im Lande des Normalen weiter wohnen ließ, die in der Vorgeschichte 
und in der Benrteilnng durch ihre Lehrer mit der kümmerlichen Be¬ 
zeichnung „schlecht veranlagt* 1 , „kein Licht“ „mangelhaft befähigt“ ab¬ 
geschnitten hatten. Allerdings ist das „Normal“ des Fürsorgezöglings 
mit dem erstrebenswerten und beneidenswerten Ideale geistiger Ge¬ 
sundheit nicht immer ganz identisch. 

Damit ist die Zahl derer, denen für die Zukunft nach dem jetzigen 
Befunde die Anwartschaft auf geistige Gesundheit nicht bedingungslos 
zugesichert werden konnte, noch nicht erschöpft. Bei 52 war mit 
Rücksicht auf den kurzen Anstaltsaufentbalt, die besonders traurigen 
häuslichen Verhältnisse und die verworrene Schullaufbahn angenommen 
worden, daß die außerordentlich geringen Leistungen bei der psychi¬ 
schen Untersuchung auf eine Entwickelungshemmung oder 
Verlangsamung zurückgeführt werden müßten. Sie werden später¬ 
hin zum guten Teile die Zahl der Minderwertigen vermehren. 

33 Zöglinge weiterhin sind nicht als minderwertig bezeichnet, 
die durch ihre negativen Leistungen auf ethischem und 
moralischem Gebiete hinter ihren Altersgenossen zurückblieben, 
den erziehlichen Einflüssen dauernd trotzten, während sie auf in¬ 
tellektuellem Gebiete einigermaßen zu befriedigen vermochten. Auch 
von ihnen werden späterhin ohne jede Frage manche auf die Dauer 
nicht auf eine normale Psyche Anspruch machen köonen 

Man muß sich ja bei der Untersuchung derartiger schulpflichtiger 
Zöglinge, die noch weniger als 14 Jahre sind, vor allem auch bei 
der Art der Untersuchung, der durch die Macht der Umstände, was 
Genauigkeit und Unfehlbarkeit anbetrifft, sehr störende Grenzen ge¬ 
setzt werden, immer bewußt bleiben, daß die gewonnenen Zahlen nie 
mit den Resultaten ähnlicher Untersuchungen verglichen werden 
dürfen, die sich mit höheren Altersstufen befassen. Aus diesem 
Grunde lassen sich auch die Unterschiede verstehen, die gegenüber 
den Cramerschen Untersuchungen auffällig erscheinen könnten, die 
ja anscheinend dasselbe Material an den Fürsorgezöglingen derselben 
Provinz erfassen. 

Es fehlen dabei auch fast alle die Elemente, bei denen die krank¬ 
hafte schwaobe Veranlagung nicht so sehr durch die kümmerlichen 
Leistungen auf intellektuellem Gebiete oder durch Abweichungen 
in der Gefühlssphäre zum Ausdruck kommt, als durch das 
mangelhafte Funktionieren der Energie und Willenskraft Es 
sind die mit leidlichen Anlagen und gutmütigem Charakter ausge¬ 
statteten Naturen, die stets von dem besten Willen beseelt sind und 
trotzdem im Leben nicht zurechtkommen, die in ihren Vorsätzen sofort 


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288 


XI. Mönkemöller 


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erlahmen, von jedem äußeren Ansturm niedergeworfen werden und 
der Versuchung willenlos unterliegen. In dem schwankenden Lebens¬ 
laufe stellt sich die Kriminalität ungerufen ein, auch wenn dem Beobach¬ 
ter die kriminelle Anlage nicht einleuchten will. 

Die Fttrsorgeerziehungsanstalt vermag für diese Altersklassen 
keinen Prüfstein für das Maß der vorhandenen Willenskraft und 
Selbständigkeit abzugeben, wenn nicht besonders günstige Verhält¬ 
nisse diese Willensschwäche zutage treten lassen. Sie ersetzt vielmehr 
die mangelnde Energie durch die straffe Führung von seiten des Er¬ 
ziehers und macht es möglich, daß manche Zöglinge, die später im 
Drange des Lebens kläglich Schiffbruch leiden, hier noch ein gutes 
Renommee genießen und sogar als Musterknaben fungieren. Durch 
eine einmalige Untersuchung lassen sich diese Elemente natürlich 
nicht erfassen, und selbst dem Auge der Lehrer können sie in dieser 
Zeit nicht auffällig erscheinen. 

Dabei ist die Pubertät bei den meisten noch nicht eingetreten, 
oder doch nicht zum Abschlüsse gelangt Wie sie die Psyche gerade 
dieser Willensschwächlinge zu schädigen vermag, wie sie schon vor¬ 
handene leichte Defekte zur schwereren Ausprägung bringt und vor 
allem die kriminelle Ausgestaltung des Lebenslaufes in die Wege 
leitet, ist zu bekannt, als daß man nicht erwarten müßte, daß ihr 
Fehlen sich in einer geringeren Zahl der minderwertigen Elemente unter 
den jüngeren Altersklassen bemerkbar machen müßte. 

Auch macht die Schulentlassung einen sehr scharfen Strich 
zwischen die beiden Phasen der Fürsorgeerziehung. Die letztere 
steht unter dem Zeichen der Loslösung von der Erziehungsgewalt, 
der beginnenden Selbständigkeit, der fortschreitenden körperlichen 
und geistigen Entwicklung und dem sich steigernden Selbstgefühle 
und dem Unabbängigkeitsdrange. Nach dem Abschlüsse der ersten 
Erziehung geht fast alles in die Familienpflege, die Lehre, zur länd¬ 
lichen Arbeit über. 

Was sich unter den neuen Verhältnissen, in denen der keimenden 
Selbständigkeit ein viel weiterer Spielraum gelassen werden muß, 
gut führt, das deckt sich in groben Zügen mit dem, was als 
geistig normal oder doch einigermaßen normal bezeichnet werden 
muß. Was in die Anstalten wieder zurückkehrt, weil es die freiere 
Behandlung nicht vertragen kann, läßt einen unverhältnismäßig 
größeren Einschlag geistiger Krankheit erkennen und treibt somit 
die Zahlen der Minderwertigen für diesen Altersabschnitt hinauf. 

Auf der anderen Seite muß man sich davor hüten, die hier ge¬ 
wonnenen Zahlen, die ja die gewaltige Herrschaft der psychischen 


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Zur Kriminalität des Kindesalters. 


289 


Minderwertigkeit im Reiche der kindlichen Kriminalität veranschau¬ 
lichen, zu überschätzen. Es sind hier ja nur die Zöglinge untersucht, 
die in den Anstalten untergebracht worden sind. Was der Familien¬ 
pflege anvertraut wird, das sind die weniger verwahrlosten, leichter 
erziehbaren, im geringeren Maße asozialen Elemente und damit wieder 
der weniger pathologische Teil des Fürsorgeerziehungsmaterials. Eine 
Kontrolluntersuchung der in der Familienpflege untergebrachten Zög¬ 
linge würde jedenfalls die Zahlen zugunsten der Normalen wesent¬ 
lich verändern. 

In der folgenden Tabelle ist eine Zusammenstellung der nacb- 
gewiesenen Minderwertigkeit nach den einzelnen Anstalten zur Dar¬ 
stellung gebracht Damit lassen sich zugleich in gewissem Maße 
vergleichende Betrachtungen über Geschlecht und Religion 
ermöglichen. 

Tabelle XVI. 


Verhältnis der Normalen zu den Minderwertigen nach Anstalten und Geschlecht 




Normal 


Minderwertig 


Summe 


Anstalt 

männlich 

Prozent 

,3 

£ 

’S 1 
1 s* 

Prozent 

männlich 

Prozent 

weiblich 

Prozent 

1 Normal | 

i . ! 

N 

' i * 

, 1 * 

Minder 

! 

M 

1 o 

u 

! o* 

Bern ward shof katholisch j 

22 

69 



l 10 

1 31 


! ! 

| 1 

22 

69 

1 10 ^ 

31 

Klein Bethlehem „ 



13 

65 



7 

35 

13 

65 

7 1 

35 

Schladen evangelisch 

48 

63 



2S 

37 ' 



48 

63 

; 28 

i 37 

Großefehn Jt 

26 

60 

! 6 

50 

1 18 

40 

6 

50 

32 

57 

24 | 

43 

Himmelpforten „ 

25 j 

67 

4 

; 40 

12 

33 

6 

! 60 

29 

62 

! 18 

32 

8tephansstift „ 

53 

58 

i 


; 24 

42 


1 

33 ! 

58 

( 24 

42 

Borgwedel „ 

65 

70 



27 

30 



65 

70 

! 27 

30 

Hünen bürg „ 

25 

66 

11 

50 

S 13 

34 

11 

50 

36 , 

60 

24 

40 

Thuine katholisch 

16 

66 

3 

! 37 

1 $ 

34 

5 

1 63 

19 

60 

1 13 

40 

Linerhaus evangelisch 

! 5i> 

» 1 

70 

26 

i M 

, 22 

30 

i 

i“ 

42 

76 

65 

41 

35 

Sa.: 

|310 

66 

i 63 

54 

162 

; 34 

54 

46 

1373 | 

63 

|216 

i 37 

Für die Privatzöglinge stellen 

sich 

die Zahlen folgendermaßen: 

Anstalt ! normal 

! minder 

Anstalt 

i 

normal 

minder 

Schladen ... 1 

2 


— 


Stephansstift 


IS 


6 


Burgwedel . . . j 

4 


2 


Linerhaus 


• 1 

2 


— 









Sa.: i 

26 

i 

8 



Die gewonnenen Zahlen weisen keine Differenzen auf, die eine 
Erklärung nötig machten. Man könnte ja daran denken, daß sich 
aus der örtlichen Lage der Anstalten gewisse Unterschiede ergäben, 

Archiv für Kri m inalanthropoLogie. 40. Bd. 19 


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XI. Mönkemöller 


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die im Milieu ihren Ursprung haben, daß genauer gesagt, die Groß* 
und Fabrikstädte den Anstalten, die sie mit ihrem Fürsorgematerial 
versorgen, ein sittlich korrumpierteres und damit auch in psychischer 
Beziehung weniger einwandfreies Material liefern, das unter den un¬ 
günstigen Einflüssen mehr gelitten hätte. Das müßte sich am Stephans¬ 
stifte und Burgwedel aussprechen, die in erster Linie die Ablieferungs¬ 
stätten des sozialen Verfalls für Hannover und Linden darstellen, in 
Himmelpforten, das den gleichen Dienst für Harburg und Lehe ver¬ 
sieht, wie sie in Großefehn die übermächtige Herrschaft des Alkoho¬ 
lismus, der in Ostfriesland herrscht, zum Ausdruck bringen müßte. 

Aber die Überweisungen der zur Fürsorgeerziehung bestimmten 
Zöglinge werden nicht strenge nach derartigen regionären Grund¬ 
sätzen durchgeführt. Gerade bei schwer zu behandelnden und somit 
in psychischer Beziehung verdächtigen Zöglinge erfolgen gelegentlich 
aus disziplinären Gründen Verlegungen von der einen in die andere 
Anstalt Eine Einwirkung auf den psychischen Zustand durch die 
Eigenart der Beeinflussung in Schule und Anstalt, der in einer Um¬ 
wandlung einer vorhandenen pathologischen Anlage sich zu erkennen 
gäbe, ist ausgeschlossen. Eine gewisse Beeinflussung der Zahlen¬ 
werte, die von der Person des Anstaltsleiters abhängig ist, wäre 
höchstens darin zu erkennen, daß eine besonders große Befähigung 
in der Erkennung der psychischen Krankheitssymptome die Angaben 
der Vorgeschichte besonders ausführlich gestaltet und so in zweifel¬ 
haften Fällen das Zünglein der Wage nach der Seite der psychisohen 
Krankheit hinübertreibt. 

Schließlich ist im allgemeinen dank der Rechtsprechung des 
Kammergerichts alles das, was der Fürsorgeerziehung überwiesen 
wird, mag es auf dem Lande oder in der Stadt aufgewachsen sein, 
auf einen derartigen Ton der Verwahrlosung abgestimmt, daß der 
ursächliche Einfluß des Milieus, der in einer Verschlechterung der 
kindlichen Psyche zum Ausdruck käme, sich recht verwischt 

Kleinere Unterschiede erklären sich durch die Macht des Zufalls. 
So mußten bei dem Brande einer Anstalt die schwer zu behandelnden 
Zöglinge für die Zeit io welcher der Neubau der Anstalt erfolgte, 
anderen Anstalten überwiesen werden, wodurch sich die Zahl der 
besseren Elemente natürlich vorübergehend verbesserte. 

Das weibliche Geschlecht ist, was die Minderwertigkeit 
anbetrifft, überall stärker vertreten als das männliche und zwar 
in ziemlich erheblichem Grade. Dieser Unterschied erklärt sich wieder 
ohne weiteres daraus, daß die Mädchen, die in diesem Zeitraum der 
fremden Erziehung überwiesen werden, im allgemeinen bei der ge- 


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Zur Kriminalität des Kindesalters. 


291 


ringeren körperlichen Kraft, der geringeren Initiative zu einer aktiven 
Ausgestaltung ihrer asozialen Instinkte weniger gelangen konnten und 
so leichter in der Familienpflege zu halten sind. Was der Anstalts¬ 
pflege sofort überantwortet wird oder auf dem Umwege der Familien¬ 
pflege in die Anstalt einwandert, stellt in der Regel Ausnahmen vom 
gewöhnlichen Verhalten der weiblichen Jugend in diesem Lebens¬ 
abschnitte dar. Die Auswüchse dieser weiblichen Kriminalität sind 
eben wieder in einem großen Teil der Fälle auf pathologischem Boden 
erwachsen. In der zweiten Hälfte der Fürsorgeerziehung sorgt das 
erwachende Sexualleben, das ja gerade beim Weibe unter diesen Ver¬ 
hältnissen die Brücke zur Kriminalität und zum sozialen Parasitismus 
schlägt, zur Ausgleichung dieses Unterschiedes. 

Die Verteilung der Minderwertigkeit nach Altersklasen kommt in 
der nachstehenden Tabelle zum Ausdruck. 


Tabelle XVII. 


Alter 

Minder- ; 
wertige j 
Knaben 

j Proz. 1 

Minder¬ 
wertige 
| Mädchen 

Proz. j 

.j 

Alter 

] Minder- 
, wertige 
Knaben j 

•ZOJJ 

Minder- |i 
wertige 
Mädchen 

1 

Proz. 

7 Jahre 

1 1 1 

40 

— 

-! 

13 Jahre j 

32 

34 

6 

40 

8 , 

2 

17 

— 


14 

" 

34 

30 

14 

56 

9 . i 

9 

41 

4 1 

40 

15 


26 

36 

11 

61 

10 „ 

14 I 

40 

6 

50 

16 

m 

8 

■ 56 

2 

66 

11 . 

15 

29 

| 2 

18 | 

17 

* 

5 

100 

l 

100 

12 . 

j 25 

36 

4 

44 

18 

*» 

1 

100 

2 i 

100 







Sa.: 

1 170 

i 

l 54 

1 


Da die Anstalten der Regel nach nur zur Aufnahme schulpflich¬ 
tiger Zöglinge bestimmt sind, stellen die vereinzelten Fälle, die vor¬ 
übergehend aus irgend welchen Gründen von der Beobachtung be¬ 
troffen wurden, wie schon erwähnt, Ausnahmen dar, deren Weilen in 
der Anstalt eben seine Erklärung in der eigentümlichen Gestaltung 
ibres Geisteszustandes findet. In den sonstigen Zahlen ist kein gesetz¬ 
mäßiger Unterschied zu finden und braucht auch gar nicht gesucht 
zu werden. Die Kinder gelangen zu allen Zeiten in die Fürsorge¬ 
erziehung, und die Grundsätze, nach denen die Überweisung erfolgt, 
sind im wesentlichen dieselben, sodaß, da bei weitem die psychischen 
Defektzustände von Geburt auf bestehen, ein Unterschied hier gar 
nicht bestehen kann. 

Die Vorgefundenen psychisch abnormen Zöglinge ließen sich unter 
folgenden Diagnosen gruppieren: 

19* 


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XL Mökkemöller 


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Tabelle XVII. 


Klinische Diagnose 


Zahl 


Debilität. 

Imbezillität. 

Imbezillität — Idiotie. 

Epilepsie. 

Hysterie . 

Traumatische Diathese. 

«Pumm geprügelte 41 Kinder. 

Alkoholismus. 

Demenz nach cerebraler Kinderlähmung 
„ „ Hirnhautentzündung . . 

* .. Typhus . 

Pseudologia phantaatica. 

Morbus Basedow! i. 

D£g6ner6. 

Dementia praecox. 

„ paranoides. 

Schwerere Nervosität. 

Sa.: 


36 
j 133 

9 

7 

4 

3 

1 
1 

2 
1 
1 
1 

! 5 

4 

i i 

i_ * 

| 224 


Die Art der Untersuchung bringt es mit sieb, daß man auch bei 
der Würdigung der genaueren Vorgeschichte auf klinische Feinheiten 
keinen Wert legen darf und zufrieden sein muß, wenn man auf 
ziemlich grob abgegrenzte Krankheitsbilder abkommen kann, die aber 
in praktischer Beziehung ihren Zweck vollkommen erfüllen. 

Im allgemeinen bietet dieses Verzeichnis der Krankheit ein ziemlich 
eintöniges Bild, wie das ja bei den psychischen Abweichungen des 
Kindesalters die Hegel ist. Der angeborene Schwachsinn in seinen 
verschiedenen Abstufungen und Abtönungen beherrscht vollkommen 
das Feld. Auf die Hervorhebung der verschiedenen Äußerungsformen 
ist verzichtet worden. Daß bei der Scheidung in Debilität, Imbezillität 
und Idiotie nicht ohne Waltenlassen des Subjektivismus vorgegangen 
werden kann, ist in der Natur dieser Krankheit und der Art der 
Untersuchung begründet. Es sei nur hervorgehoben, daß die De¬ 
bilität schon einen respektabelnen Grad geistiger Schwäche ver¬ 
körperte, die auch von den Erziehern ohne jede Ausnahme zugegeben 
wurde, und daß die Formen von Imbezillität-Idotie von schärferen 
Richtern sonst immer des ersten Teiles ihrer Etikette beraubt worden 
wären. 

So wenig abwechslungsreich auch die geistige Krankheit erscheint, 
um so bedeutungsvoller ist gerade für diese Zeit der Schwachsinn 
in seiner Einwirkung auf die kindliche Psyche. Er vereinigt alles 


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Zur Kriminalität des Kindesalters. 


293 


in sich, was seine Träger in das Gebiet der Kriminellen berüberzu- 
drängen vermag. Er erschwert ihnen das Fortkommen in der Schule 
nnd beraubt sie so der wichtigsten Waffen im zukünftigen Kampfe 
um das Dasein. Er läßt sie in der Schule hinter den Altersgenossen 
zurückstehen und gewöhnt sie jetzt schon an das Unterliegen in einem 
wenn auch noch so friedlichen Konkurrenzkämpfe. Er macht sie oft 
zum Ziele der Scherze und Neckereien der Mitschüler und erweckt 
so Verschüchterung oder Verbitterung. Er macht sie weniger wider¬ 
standsfähig gegen die vielen ungünstigen Einflüsse, die in dem traurigen 
Milieu des Elternhauses auf sie einstürmen. Allen Verleitungen, die 
von außen an sie berantreten, vermögen sie keinen nachhaltigen 
Widerstand zu leisten, da ihnen die Kritik fehlt, die Überlegung nicht 
zn Worte kommt, genügende Hemmungen sich nicht einstellen, und 
die nichtigsten und kümmerlichsten Motive eine ausschlaggebende 
Gewalt gewinnen. Der angeborene Schwachsinn ist für das Kindes¬ 
alter die souveräne psychische Abweichung, die den Weg zur Krimi¬ 
nalität eröffnet 

Die Epilepsie tritt dagegen ganz erheblich zurück. Daß unter 
dem ganzen Material kein einziger Zögling sich befindet, der zur 
Zeit der Untersuchung an klassischen Anfällen litt ist ein Be¬ 
weis dafür, daß gegen früher doch schon eine systematische Aus¬ 
scheidung der Fälle stattgefunden hat, bei denen die Krankheit deutlich 
zutage getreten war, obgleich das Gesetz ja gegen die Überweisung 
von Epileptikern in die Fürsorgeerziehung nichts hat. Wie schon 
erwähnt hatten in den ersten Lebensjahren 87 an epileptischen Krämpfen 
gelitten. Zum Teil mag ja bei ihnen die epileptische Diathese ganz 
erloschen sein, zum Teil wird sie aber im Drange der Pubertät wieder 
zu neuem Leben erstehen, wenn auch vielleicht nicht in der Form 
der Krampfanfälle, so doch in den für die kriminelle Gestaltung des 
Lebens viel wichtigeren mannigfachen Ausdrucksformen der psychi¬ 
schen Epilepsie. Bei den 9 hier aufgeführten Fällen, in denen 
ohne Ausnahme in der frühesten Kindheit ausgeprägte Anfälle be¬ 
standen haben, war das vielgestaltige Bild der Epilepsie recht deutlich: 
geistige Schwäche, Kopfschmerzen, Schwindelanfälle, Absencen, Däm¬ 
merzustände, gesteigerte Reizbarkeit, periodisch auftretende Stimmungs¬ 
schwankungen und auffällige Verstimmungszustände und Erregungen 
beherrschen das Feld. Bei mehreren war der epileptische Charakter 
in seiner ganzen Unleidlichkeit schon deutlich zu erkennen. 

Auch bei den 7 Hysterikern war es der hysterische Charakter 
der dem ganzen Krankheitsbilde seine charakteristische Färbung ver¬ 
lieh, während die körperlichen hysterischen Symptome meist 


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XI. Mönkemöller 


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eine recht geringe Ausgiebigkeit verrieten, die der Hysterie des 
Kindesalters ja so häufig zu eigen ist Auch sie hatten in den ersten 
Kinderjabren fast alle an erheblichen Krämpfen gelitten. Sonst 
zeigten sie das ganze schwankungsvolle Wesen der kindlichen Hysterie: 
Die Neigung zum Phantasieren, die enorme Abhängigkeit des ganzen 
Vorstellungslebens Von affektiven Stimmungen, die Sucht, die eigene, 
kleine Person in den Vordergrund des Interesses der Mitwelt zu 
stellen. 

Dem Einflüsse des Traumas kommt als ätiologischem Teil¬ 
faktor in der Pathologie der Kinderpsyche eine allgemeinere Be¬ 
deutung zu, als es die aufgestellten Fälle beweisen. 

Auch die „dummgeprügelten“ Kinder gehören hierher. Hier 
sind nur diejenigen Fälle aufgeführt, bei denen sich der traumatische 
Symptomenkomplex im Anschlüsse an schwere Schädelverletzungen 
in unverkennbarer Weise eingestellt hatte. Besonders auffällig war 
für sie die gesteigerte Ermüdbarkeit und das schnelle Versagen im 
Verlaufe des Unterrichtes, das den Lehrern ausnahmslos aufgefallen 
war und die Ausbildung wesentlich hemmte. 

In den Fällen, in denen schon ein öfterer Alkoholgenuß 
festgestellt werden konnte, war dieser nie so groß gewesen, um für 
eine direkte Schädigung des kindlichen Organismus verantwortlich 
gemacht zu werden. Eine Ausnahme stellte der bemerkenswerte Fall 
eines neunjährigen Knaben dar, den sein Stiefvater, der ein verkom¬ 
mener Alkoholist war, häufig in die Wirtschaft mitgenommen und 
mit Schnaps traktiert hatte. Schon mit 7 Jahren versuchte er, sich 
alkoholische Getränke zu verschaffen, die er schon in ziemlichen 
Quantitäten zu sich zu nehmen vermochte. Bei einem Fastnachtsbalie 
trank er 13 Glas Braunbier, ohne betrunken zu werden. Seinen 
Pflegeeltern entwendete er eine Flasche mit einem Reste Rum, den 
er sehr schell austrank. Bei einer Hochzeit trank er rasch hinter¬ 
einander 3 Glas Bier herunter und äußerte, als er verwarnt wurde, 
die Absicht, er wolle ein Säufer werden. 

Einzelne Andeutungen, die auf das frühzeitige Auftreten einer 
Dementia praecox deuteten, waren bei mehreren Kindern vorhanden. 
In den beiden hier angeführten Fällen war mit 13 bzw. 14 Jahren 
eine ganz ausgesprochene Veränderung des ganzen Wesens eingetreten, 
die sich ais ein auffälliges Stehenbleiben und Zurückgehen der ganzen 
Entwickelung erwies. Einer der beiden Knaben zeigte ein deutlich 
läppisches und maniriertes Wesen. Ein gleiches psychisches Zurück¬ 
sinken verriet ein 18jäbriges Mädchen, das aber nicht nur geistig 
weniger leistungsfähig geworden war, sondern sich stets zurückgesetzt 


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Zur Kriminalität des Kindesalters. 


295 


and beeinträchtigt fühlte, ein scheues und zurückhaltendes Wesen an 
den Tag legte, oftmals weinte, vor sich hinstarrte, von hoher Ab¬ 
stammung zu sein behauptete und dementsprechend behandelt werden 
wollte, wie es auch an entsprechenden Sinnestäuschungen litt. 

Die Fälle von Nervosität, die hier gebucht sind, sind die 
schwersten ihrer Art, die neben einer Reihe von körperlichen Reiz¬ 
symptomen eine ausgesprochene Resistenzlosigkeit des ganzen Nerven¬ 
systems gegen äußere Einflüsse verrieten. 

Eine Krankheitsform ist hier nicht gebucht, die man in diesem 
Materiale, unter dem sich ja aller Wahrscheinlichkeit nach manche 
Rekruten der späteren großen Verbrechernamen bergen, am ersten zu 
finden erwarten dürfte. Ich meine die Moral insanity. Über die 
Berechtigung dieses Krankheitsbildes, dessen klinische Existenz ja 
mit Recht auf den denkbar kleinsten Bereich eingeschränkt ist, der 
ihm nicht einmal von vielen Forschern gegönnt wird, soll hier nicht 
eingegangen werden. Aber wenn man sich auch mit diesem Krank- 
heitsbegriffe, — unter den Einschränkungen, unter denen er nach den 
heute allgemein anerkannten klinischen Anschauungen geduldet wird, — 
befreundet: von unseren Zöglingen konnte keiner auf diese Bezeich¬ 
nung Anspruch erheben. Gewiß war bei 33, wie schon oben bemerkt, 
die Gestaltung von Ethik und Moral äußerst kümmerlich geraten, 
so daß sie sich merklich von ihren Altersgenossen unterschieden, ohne 
daß zurzeit ein Mangel des Intellekts als Parallelerscheinung für 
einen psychischen Defekt gesprochen hätte. Aber diese negative Aus¬ 
bildung von Gemüt und Charakter war auch in keinem Falle so aus¬ 
geprägt, daß man ihre Träger allein darauf hin in das Reich der 
Krankheit hätte verweisen dürfen. Die Gestaltung ihres Charakters 
war allerdings so, daß ihre Anschauungen für Recht und Unrecht 
auf das kümmerlichste entwickelt waren, daß man von ihnen erwarten 
konnte, daß die erzieherischen Einflüsse bei ihnen wohl das geringste 
Glück haben würden, und daß sie die besten Chancen hätten, später 
einmal den Weg in die Kriminalität einzuschlagen. Sie deshalb aber 
in psychiatrischer Beziehung auf eine andere Stufe zu stellen wie 
einen Menschen mit kriminellen Anlagen, den man noch nach den 
heute geltenden Anschauungen als geistig normal ansehen 
muß, lag kein Anlaß vor. Ihnen deshalb auch für die Zukunft die 
geistige Gesundheit zu garantieren, erschien allerdings eben so wenig 
erlaubt 

Bei einem bestimmten Prozensatze erschien es sogar nicht un¬ 
wahrscheinlich, daß nach Überwindung der Pubertät, in der häufig 
gerade diese Instinkte eine erhebliche Steigerung erfahren, und die 


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körperliche Kraft ihnen auch die Umsetzung in die Tat gestattet, nach 
dem Heraustreten ins Leben beim Anstürme der vielen anderen die 
Psyche schädigenden Faktoren sich neben diesen asozialen Neigungen 
auch andere geistige Ausfallsymptome zeigen würden, die dann die 
geistige Gesundheit dieser so früh mit kriminellen oder doch asozialen 
Neigungen ausgestatteten Individuen in einem recht zweifelhaften 
Lichte erscheinen lassen mußte. 

Daß die geistige Minderwertigkeit in ihren verschiedensten Formen 
für die Fürsorgeerziehung und damit für die Bekämpfung der jugend¬ 
lichen Kriminalität von der größten Bedeutung ist, lehrt auch unser 
Material wieder auf das eindringlichste. Alle Untersuchungen, die 
man hier anstellt, führen zu dem gleichen Resultate, mag auch der 
unvermeidliche Subjektivismus und das Walten des Zufalls kleine 
Unterschiede in den Endzahlen nicht vermeiden lassen. Auf die ge¬ 
nauen Zahlen kann man bei diesen unvermeidlichen Quellen des 
Unterschiedes wie bei allen derartigen Untersuchungen ruhig verzichten. 
Unter allen Umständen, auch bei der mildesten Anschauungsweise, 
wie sie bei diesen Untersuchungen bis ins Extreme durcbgeführt 
worden ist, bleibt ein gewaltiges Stück geistiger Unzulänglichkeit 
zurück, das seine Berücksichtigung gebieterisch erheischt. 

Bei der Übersichtlichkeit der Verhältnisse, die in diesem 
Lebensalter in Betracht kommen, bei der Genauigkeit der Erhebungen 
die wohl bis jetzt noch bei keinem anderen Materiale in diesem 
Maßstabe erreicht worden ist, bei der Möglichkeit, von allen anderen 
Einflüssen, die später auf Psyche und Verbrechertum Einfluß haben, 
absehen zu können, bei der möglichst genauen Feststellung der psychi¬ 
schen Verfassung erscheint dieses Material in idealem Maße zur Ent¬ 
scheidung darüber geeignet, in welchem Maße das Verbrechen als 
Produkt der angeborenen Veranlagung oder des Milieus 
angesehen werden muß. Voraussetzung bleibt dabei natürlich, daß 
unsere Zöglinge, soweit sie kriminell geworden sind, ohne das Ein¬ 
greifen der Staatsgewalt den kriminellen Weg weiter gewandelt und 
Gesetzbrecher von Gewohnheit geworden wären. Man darf natür¬ 
lich auch nur die Fälle heranziehen, bei denen die subjektive Verwahr¬ 
losung sich schon in einer kriminellen Entladung Luft gemacht hat 

Trotz der anscheinenden Durchsichtigkeit der Verhältnisse stellte 
sich aber sehr bald heraus, daß solche Fragen im allgemeinen 
zahlenmäßig gar nicht und auch im einzelnen Falle nicht immer 
unfehlbar oder doch nur nach Vermutungen entschieden werden 
können. Es ließ sich nur in ganz vereinzelten Fällen sagen, daß 
die häuslichen Verhältnisse so geordnet und vortrefflich waren, und 


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Zur Kriminalität des Kindesalters. 


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die erzieherischen Fähigkeiten der Eltern so wenig angezweifelt worden, 
daß die Entgleisung ihrer Nachkommen eben nur aus der inneren 
Veranlagung zu verstehen war. Bedeutend größer war die Zahl 
derer, bei denen die häuslichen Verhältnisse so zerrüttet und deletär 
waren, daß es auch für eine ganz gesunde Natur als ein Wunder er¬ 
schienen- wäre, wenn sie sich auf die Dauer dem moralischen Ver¬ 
falle hätte entziehen können. Hierher durfte man nur die Zöglinge 
rechnen, bei denen die subjektive Verwahrlosung noch nicht 
allzu weit gediehen war, und die in psychischer Beziehung allen 
Ansprüchen genügten. Es waren das natürlich auch die, bei denen 
man mit voller Sicherheit darauf rechnen konnte, daß die Fürsorge¬ 
erziehung dieser äußerlichen Ursachen des Verbrechens und ihrer 
Folgeerscheinungen Herr werden würde. Dann gab es eine Reihe 
von Fällen, in denen es zweifelhaft blieb, ob man den inneren 
oder äußeren ursächlichen Faktoren die Palme reichen sollte. 

In der überwältigenden Mehrzahl der Fälle lag die Sache 
aber so, daß man zu dem Schlüsse kommen mußte, daß in einem 
solchen Milieu beinahe jedes Kind gestrauchelt wäre, und daß bei 
den vorhandenen psychischen Defekten ein solches Straucheln 
ganz unvermeidlich erscheinen mußte. 

Die Lösung einer ähnlichen Frage, die mir beim Beginne meiner 
Untersuchungen vorschwebte, habe ich auch schon nach kurzer Zeit 
wieder fallen lassen müssen, die Frage: Welche Vergleiche sich mit 
den 300 in Lichtenberg von mir untersuchten Zwangszöglingen ziehen 
ließen. Die Gesichtspunkte, die bei einem derartigen Vergleiche in 
Betracht gekommen wären, bieten an und für sich Interesse genug: 
der Einfluß der ethnischen Faktoren auf die Kriminalität, die Ab¬ 
hängigkeit der Verwahrlosung von dem Treiben der mächtigsten 
Großstadt Deutschlands, der Unterschied der sozialen Verhältnisse, 
das Hervortreten des Psychopathologischen in diesem anderen Mate¬ 
riale, die Gestaltung der Minderwertigkeit unter einem anderen Be- 
handlungsregime. 

Die Frage erledigte sich schon deshalb, weil mir die seinerzeit 
abgefaßten Fragebogen nicht mehr zur Verfügung standen, und somit 
eine genaue Scheidung nach Jahrgängen unmöglich wurde. Die 
ist aber deshalb durchaus nötig, weil sich die Pubertät, die Ent¬ 
lassung aus der Schule und der Übergang in ein freieres Leben wie 
eine Schranke zwischen die kindlichen und die jugendlichen Ver¬ 
brecher schieben. Beide Gebiete müssen, da sie in ihren Lebens¬ 
äußerungen und ihrer Behandlung die markantesten Unterschiede 
darbieten, gesondert betrachtet werden. 


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XI. Mönkemöller 


Die Behandlung der ethnischen Fragen stößt erst recht anf 
unüberwindliche Schwierigkeiten. Wenn schon unsere Verwahrlosten 
nur mit gewaltigen Einschränkungen als eine ethnische Einheit an¬ 
gesehen werden dürfen, so bietet die Bevölkerung von Berlin ein 
noch komplizierteres Völkergemisch dar, so daß die Herausschfilung 
bedeutungsvoller Tatsachen, die in einen solchen Vergleich gezogen 
werden sollen, sich erst recht verbietet Dabei mußte die Lichten- 
berger Anstalt, die auf einen Bestand von 200 zugeschnitten war, 
sich damals im Laufe des Jahres 400 Neu- oder Wiederaufnahmen 
gefallen lassen. Die Folge war die, daß sich dort die schwersten 
Elemente, sowohl vom kriminellen als auch vom psychiatrischen 
Standpunkte aus betrachtet, noch mehr zusammendrängten, als es 
schon der gewöhnliche Anstaltsbetrieb mit sich bringt. Unter Be¬ 
rücksichtigung aller dieser Gründe ist es kein Wunder, daß das ethische, 
das intellektuelle, das soziale Niveau im allgemeinen unvergleichlich 
tiefer stand wie bei dem jetzigen Materiale, daß die aktiven Psycho¬ 
pathen in viel imponierenderer Zahl auftraten, daß die Entladungen 
einer defekten Seele viel häufiger und gewaltsamer vor sich gingen, 
und daß die Aufrechterbaltung der Disziplin und die Durchführung 
der Erziehung an alle Beteiligten viel größere Anforderungen stellte 
wie in unseren Anstalten. Das wurde auch durch die Berliner Zög¬ 
linge bestätigt, die der Fürsorgeerziehung anderer Provinzen anvertraut 
worden waren und im allgemeinen nicht gerade das Entzücken der 
Gewalten erregte, denen sie zur Erziehung anvertraut waren. Darf 
man sich wieder einen Allgemeineindruck erlauben, so ist es höchstens 
der, daß der ruhige und bedächtige Charakter des niedersächsischen 
Volksstammes, der ja trotz aller Mischungsversucbe die Oberhand 
behält, auch in seinen Degenerationsprodukten eine größere Stetigkeit 
und leichtere Unterordnung unter die Disziplin verleiht, die in den 
Anstalten eine größere Ruhe ersteben läßt wie in den Ablagerungs¬ 
stätten der intellektuell und ethisch noch mehr entarteten Großstadt¬ 
bevölkerung. 

Der starke Prozentsatz geistiger Minderwertigkeit unter den 
Kandidaten der Fürsorgeerziehung legt weiterhin ganz von selbst die 
Frage nahe, ob solche Minderwertige überhaupt der Für¬ 
sorgeerziehung überantwortet werden dürfen. Vom theo¬ 
retischen Gesichtspunkte aus haben die Fragen nach der Zurech¬ 
nungsfähigkeit und Straffähigkeit nicht das mindeste in diesem 
Gebiete zu suchen. Sollte schon die Zwangserziehung, bei der doch 
immer ein Gesetzeskonflikt vorausgegangen sein mußte, nicht als 
eine Strafe sondern als eine aus der Gewalt des Staates hervorgehende 


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Zur Kriminalität des Kindesalters. 


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Erziehungseinrichtung betrachtet werden, so sagt schon der Name 
der Fürsorgeerziehung, daß der Begriff den Strafe hier unbedingt 
auszuscheiden hat. 

In den Augen der davon Betroffenen tut er das nicht. Sie sehen 
und fürchten die Losreißung aus dem Elternhause und die systematische 
Unterdrückung ihrer asozialen Instinkte, den völligen Verlust der 
Selbständigkeit als eines der schärfsten Strafmittel, die Eltern erblicken 
meist darin einen unverantwortlichen und schmerzhaften Eingriff in 
ihre Erziehungsrechte, und der bei weitem größte Teil der Mitmenschen 
ist auch noch nicht so weit gediehen, daß er in diesem Handeln des 
Staates etwas anderes sieht als einen Ausfluß seiner Strafgewalt 
Hält man sich vor Augen, daß das Individuum flir lange Zeit der 
Familie entzogen wird, jeder Selbstbestimmung entraten muß, einer 
strengen Disziplin unterworfen wird und in Bahnen gelenkt wird, die 
mit dem eigenen Wünschen und Wollen im schwersten Gegensätze 
stehen, so wird man dieses Verkennen der wohlwollenden Absicht 
nicht für so ganz verwunderlich erklären können. Und erinnert man 
sich daran, daß die minderwertigen Elemente, die sich hier in solchem 
Maße zusammendrängen, von den Folgen einer so straffen Disziplin 
gelegentlich unangenehm betroffen werden können, daß zwischen einer 
labilen Psyche und der Strenge der Anstaltsdisziplin Zusammenstöße 
manchmal ganz unvermeidlich sind, die der kranken Psyche durch 
die unvermeidliche Strafe zusetzen, so wird man die anscheinend 
so ungehörige Frage nach Straf- und Zurechnungsfähigkeit für nicht 
so ganz unangebracht halten. 

Bei genauerer Betrachtung aber wird man schon bei den Objekten 
der zweiten Phase der Fürsorgeerziehung (abgesehen von einzelnen 
Fällen, die eine ganz besondere Behandlung direkt in der Irrenanstalt 
erforderlich machen), die geistige Minderwertigkeit nicht als Gegen¬ 
grund gegen die Verhängung der eingreifendsten Maßregeln gelten 
lassen. Bei unseren Schulpflichtigen aber wird man diese 
geistigen Defekte geradezu als einen ausschlaggebenden Grund für 
die Notwendigkeit der Unterbringung in diesem Regime gelten lassen 
müssen, vorausgesetzt daß den Erscheinungen ihres krankhaften Seelen¬ 
lebens gebührend Rechnung getragen wird. So lange sie zu Hause 
immer mehr dem moralischen und körperlichen Ruin ausgesetzt werden, 
so lange keine andere Unterbringungsmethode besteht, die ihrer Minder¬ 
wertigkeit noch mehr Rechnung tragen könnte — Irrenanstalten und 
Idiotenanstalten kommen aus den schon früher erörterten Gründen 
nicht in Betracht — so lange ist dieser Zwang, dessen Wohltätigkeit 
sie selbst nach einiger Zeit oft nicht leugnen, das einzige Mittel, um 


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sie dem Sumpfe, in dem sie immer weiter versinken, zn entreißen. 
Das Rettungshaus bleibt um so eher die einzige Zufluchtsstätte, als 
alle offiziellen Strafmittel für diese Zeit vollkommen versagen. 

Die offizielle Strafmündigkeit beginnt jetzt schon mit 
dem zwölften Lebensjahre. Daß das durchaus nicht den gegebenen 
Verhältnissen entspricht, nnd daß die in dem Vorentwurfe zn 
einem Deutschen Strafgesetzbuche geforderte Herauf - 
rückung der Grenze der absoluten Strafmündigkeit auf das voll¬ 
endete 14. Lebensjahr eine dringende Notwendigkeit bedeutet, ist 
mir noch nie so deutlich zum Bewußtsein gekommen wie bei der 
Untersuchung meiner jetzigen Zöglinge. Auch wenn man gan z. von 
denen absieht, bei denen psychopathologische Eigenschaften die 
Zurechnungsfähigkeit in Frage stellen, war es auch bei denen, die 
mit dem Prädikate der geistigen Gesundheit geschmückt werden 
konnten, meist keine Frage, daß bei ihnen eine volle Zurechnung 
nicht erfolgen durfte. Sie mußte ihnen versagt bleiben, mochten 
sie auch darüber orientiert sein, daß die in Frage kommenden 
Handlungen verboten und strafbar seien. Gerade bei der Erledigung 
der Fragen, die sich auf ihr Verständnis für Ethik bezogen, und 
die sich ausnahmslos mit der Frage nach der Bedeutung eines der 
zehn Gebote beschränken mußten, ließ sich fast ausnahmslos er¬ 
kennen, wie oberflächlich dies Gefühl für die Strafbarkeit noch ent¬ 
wickelt war, wie wenig der innere Mensch bei der Erledigung dieser 
Frage mitspracb. Bedenkt man noch, wie wenig ausgebildet in diesem 
Alter die Willenskraft ist, wie wenig das Kind im Augenblicke der 
Tat die Ethik, die doch noch erst in der Entwicklung begriffen ist, 
zu Hilfe rufen kann, wie leicht es äußeren Anreizen unterliegt, wie 
wenige Hemmungen ihm in den Weg treten, dann wird man es nicht 
verstehen, wie lange sich die Anschauung halten konnte, daß man 
ein Kind in diesem Alter schon strafrechtlich verantwortlich machen 
konnte. 

Aus demselben Grunde ist es auch als ein unleugbarer Fortschritt 
zu begrüßen, daß der jetzt noch im § 56 St.G.B. bestehende, aus dem 
französischen Rechte herübergenommene Begriff des „Unterschei¬ 
dungsvermögens“ — daß der Jugendliche, um bestraft werden 
zu können, bei Begehung der strafbaren Handlung die zur Erkenntnis 
ihrer Strafbarkeit erforderlich Einsicht besessen haben muß — über 
Bord geworfen wird. 

Mit Recht hebt die Begründung des Vorentwurfs hervor, daß der 
Begriff unklar ist und entweder zu Schwierigkeiten oder zu nur 
schematischer Handhabung in der Praxis geführt habe. „Tatsächlich 


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Zur Kriminalität des Kindesalters. 


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wird in ihm einseitig nur die Fähigkeit des Verstandes hervor¬ 
gehoben. Die bloße Kenntnis des Unterschieds zwischen Recht und 
Unrecht bildet aber keinen genügenden Maßstab für die strafrecht¬ 
liche Verantwortlichkeit. Es kommt vielmehr auf die Gesamtentwicke¬ 
lung der Person, nicht bloß des Verstandes, sondern auch der sitt¬ 
lichen Begriffe und des Willens an. Diese Momente aber sind 
bisher vom Gesetze nicht berücksichtigt. Ist mithin der Begriff unzu¬ 
reichend, so ist ihm auch mit Recht der Vorwurf einer gewissen Un¬ 
klarheit gemacht: Der Begriff wird in Wissenschaft und Praxis da¬ 
hin ausgelegt, daß er denjenigen Grad der Verstandesentwickelung 
bedeute, welcher ausreiche, um zur Erkenntnis der Strafbarkeit der 
in Betracht kommenden konkreten Tat zu befähigen. Welches dieser 
Grad ist, ist im einzelnen Falle schwer zu sagen und noch schwerer 
zu ergründen, wobei davon abgesehen werden kann, daß das ver¬ 
wickelte moderne Recht viele Tatbestände hat schaffen müssen, hin¬ 
sichtlich deren die Erkenntnis der Strafbarkeit überhaupt nicht durch 
einen Grad der Verstandesentwickelung, sondern nur durch Kenntnis 
des positiven Rechts vermittelt werden kann.“ 

Daß dieses Kriterium ganz fallen gelassen werden soll, ist schon 
deshalb als ein großer Fortschritt zu begrüßen, weil es häufig auch 
in solchen Fällen eine Prüfung des Individuums auf seinen Geistes¬ 
zustand nnd seine Zurechnungsfähigkeit verhütet hat, in denen 
eine solche dringend am Platze gewesen wäre. Der Richter traut sich 
im allgemeinen eben ohne weiteres die Fähigkeit zu, festzustellen, ob 
der jugendliche Verbrecher dies Unterscheidungsvermögen gehabt hat 
Und so wurden früher eine ganze Menge von Jugendlichen einer 
Strafe unterzogen, die nach ihrem ganzen Charakter nicht für sie 
geeignet war und sie schädigen mußte. 

Die Stellung der jugendlichen Kriminellen berührt ja an¬ 
scheinend unser Material nicht, da die überwiegende Mehrzahl das 
Alter von 14 Jahren noch nicht vollendet hat, und falls nach dem 
Vorentwurfe das Gesetz zur Tat werden sollte, die Strafe für sie gar 
nicht in Betracht kommen würde. 

Aber immerhin ist nicht zu vergessen, daß von unseren 623 
Zöglingen 89: 15 Jahre und 14: t6 Jahre alt sind, denen auch noch 
die Zurechnungsfähigkeit generell zuerkannt wird. Wenn man die 
Altersgrenze nicht noch höher heraufrücken will, müßte dann wenig¬ 
stens der zweite Absatz des § 69 die Regel werden, wozu die Aus¬ 
sichten anscheinend recht gering sind: 

„Erscheint die Tat hauptsächlich als Folge mangelhafter 
Erziehung, oder ist sonst anzunehmen, daß Erziehungsmaßregeln 


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erforderlich sind, um den Täter an ein gesetzmäßiges Leben zu ge¬ 
wöhnen, so kann das Gericht neben oder an Stelle einer Freiheits¬ 
strafe seine Überweisung znr staatlich überwachten Er¬ 
ziehung anordnen. u 

Die Begründung des Vorentwurfes hebt zwar hervor, daß er 
dem jetzt die Allgemeinheit bewegenden Grundsätze, daß jugendliche 
Personen, so lange sie noch erzogen und gebessert werden können, 
möglichst vor krimineller Strafe zu bewahren sind, in weit größerem 
Umfange Rechnung tragen müßte, als das bisherige Gesetz. Dabei 
wird aber betont, daß es ein Fehler sein würde, das bisherige Prinzip, 
wie mehrfach vorgeschlagen wurde, umzukehren und Bestrafung nur 
dann eintreten zu lassen, wenn nach der Art der Tat, dem Charakter 
und der bisherigen Führung des Angeklagten anzunehmen sei, daß 
durch Ergänzungsmaßregeln die Besserung nicht mehr erreicht werden 
könne. „Abgesehen davon, daß es für den Richter schwer, ja in den 
meisten Fällen fast unmöglich sein würde, diese negative Feststellung 
zu treffen, da wirklich durch Erziehung unverbesserliche 
Jugendliche selten Vorkommen dürfen, würde dadurch 
jedenfalls die Erziehung zur Regel, die Strafe zur Aus¬ 
nahme werden .... Der im praktischen Leben Stehende wird 
sich darüber nicht täuschen können, daß gerade unter den Jugend¬ 
lichen zwischen 14 und 18 Jahren sich viel solcher Elemente befinden, 
die wegen ihrer frühen Verdorbenheit, ihrer Verrohung, ihrer Neigung 
zu Gewalttaten und zum Verbrechen überhaupt den ganzen Ernst 
und die ganze Strenge des Gesetzes herausfordern .... Eine 
gesetzliche Ordnung, welche es auch nur theoretisch gestattete, selbst 
solchen Elementen gegenüber von Bestrafung abznsehen und nur 
den Weg der Erziehung, der nicht einmal Anstaltserziehung zu sein 
braucht, zu beschreiten, würde die Rücksicht auf den Schutz der Ge¬ 
sellschaft nicht genügend wahren .... Außerdem würde die not* 
wendige Folge einer umfänglichen und fast grundsätzlichen Ersetzung 
der Strafe durch staatliche Erziehungsmaßregeln die Ausdehnung der 
letzteren aueh auf zahlreiche leichtere Fälle sein. Dies würde, da 
solche Erziehungsmaßregeln nach den Landesgesetzen in der Regel 
nnr in der Unterbringung des Jugendlichen in einer anderen Familie 
oder in einer Anstalt bestehen, diese Unterbringung in einem viel 
größeren Umfange als bisher und auch in zahlreichen Fällen not¬ 
wendig machen, wo bisher zu dieser in das Familienleben des Schul¬ 
digen schwer einschneidenden Maßnahme nicht gegriffen, sondern 
die Sache mit einer leichteren Strafe abgemacht wurde. Dadurch 
aber würden Schwierigkeiten hervorgerufen und Verbitterung erzeugt 


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Zar Kriminalität des Kindesalters. 


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werden, da eine leichte Strafe oft weder für den Jagendlichen selbst 
noch für dessen Angehörige von so weittragenden, schwer empfun¬ 
denen Folgen ist wie die dauernde Wegnahme von den Eltern und 
die Erziehung von fremder Hand.“ 

Indem der Entwurf alle die Erleichterungen anführt, die 
den jugendlichen Delinquenten zur Seite stehen, kommt er dazu^ 
Strafe als die Kegel, Erziehung daneben oder in leichteren 
Fällen statt der Strafe zu fordern. Der Entwurf bedenkt dabei nicht, 
daß bei den schlechteren und ganz verrohten Elementen die Strafe 
den Zweck, den sie erreichen soll, noch viel weniger erreicht wie die 
Erziehung, mögen auch dieser noch so enge Grenzen in dem, was 
sie erreichen kann, gesteckt sein. Das hat wieder nicht in letzter 
Linie seinen Grund darin, daß gerade in ihnen eine große Dosis von 
Psychopathologischen steckt, die sie in die Kriminalität hineintreibt, 
der Wirkung der Strafe entzieht, und für welche zudem Gefängnis¬ 
strafen meist ein sehr zweischneidiges Schwert sind. Auch für die 
Fürsorgeerziehung stellen sie ja gerade das Material dar, an dem sich 
noch das Wenigste erreichen läßt. Aber sie erfüllt doch wenigstens 
den Zweck, sie möglichst lange unschädlich zu machen, für eine 
längere Dauer jedenfalls als die kurzfristigen Strafen, mit denen sich 
die Justiz an diesen defekten Gemütern fruchtlos abmübt. 

Konsequent ist die Begründung insofern auch nicht, als sie selbst 
die Fürsorgeerziehung als das viel eingreifendere Mittel erscheinen 
läßt und dann doch in leichteren Fällen neben oder statt der 
Strafe in Aktion treten läßt. 

Es sei dem wie es sei, in den ersten Jahren nach dem Eintritte 
der Strafmündigkeit, in denen also noch die Schulerziehung zu Ende, 
wenn auch manchmal nur zu einem notdürftigen Abschlüsse geführt 
werden muß, ist es dringend erforderlich, daß der Grundsatz, daß die 
Strafe zurücktreten muß, durchgängig angewandt wird. 
Man mag beiden, der Strafe und Erziehung ihr Hecht zukommen 
lassen, beide zusammen führen nicht immer zu einem fröhlichen Ge¬ 
deihen. 

Bei meinen früheren Untersuchungen an den Lichtenberger Zög¬ 
lingen wurde schon von den Erziehern auf das energischste betont, 
wie außerordentlich störend es sei für die weitere erziehliche Beein¬ 
flussung, wenn die Betreffenden schon eine Gefängnisstrafe 
durchgemacht haben; wie sie psychisch geschädigt worden sind, 
verbittert, erregt, reizbar, gleichgültiger gegen alle Strafandrohungen. 
Daß jetzt dank dem Grundsätze der bedingten Strafaussetzung 
nur drei schon eine Gefängnisstrafe hinter sich haben, ist mir gegen- 


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über meinen damaligen Untersucbnngen als einer der größten Fort¬ 
schritte gegen vergangene Zeiten erschienen. Auch bei diesen dreien 
wurde von den Erziehern spontan der schädliche Einfluß des 
Aufenthalts im Gefängnisse hervorgehoben. Es waren alles drei 
scheue, verbissene, schwer zu behandelnde Elemente. 

Nun sind ja 51 zu Gefängnisstrafen verurteilt, die an ihnen 
noch nicht vollzogen worden sind. 

Der Vorentwurf zu dem neuen Strafgesetzbuch, der noch jetzt 
besonders den Jugendlichen zugute kommen soll, übernimmt ja die 
alten Grundsätze in folgender Form: 

„Wird jemand, der bisher wegen eines Vergehens oder Verbrechens 
zu einer Freiheitsstrafe nicht verurteilt war, zu einer sechs Monate 
nicht übersteigenden Gefängnis- oder Geldstrafe verurteilt, so kann das 
Gericht im Urteil anordnen, daß die Vollstreckung der Strafe während 
einer zu bestimmenden Frist ausgesetzt werde, um dem Verurteilten 
Gelegenheit zu geben, sich durch gute Führung den Erlaß der Strafe 
zu verdienen. 

§ 39. Die Strafaussetzung ist nur zulässig, wenn der Täter nach 
den Umständen der Tat und nach seinem Vorleben einer besonderen 
Berücksichtigung würdig erscheint und zu der Erwartung berechtigt, 
daß er auch ohne den Vollzug der Strafe sich künftig woblverbalten 
werde. Bei der Entscheidung ist auch auf die Beweggründe zur 
Tat, auf die seitdem verflossene Zeit sowie auf das Verhalten des 
Verurteilten nach der Tat zu achten, insbesondere darauf, ob er sich 
nach Kräften bemüht hat, den angerichteten Schaden wieder gut zu 
machen.“ 

Man kann ja sagen, daß diese Strafen, die nicht vollzogen 
werden, auch nicht schaden können, und daß sie insofern mehr nützen, 
als sie für die Zöglinge ein Ansporn sind, sich dauernd gut zu führen. 
Aber ein viel größerer Antrieb für sie ist die Möglichkeit, durch 
eine gute Führung früher aus der Fürsorgeerziehung loszukommen. 
Das ist so überwiegend, daß die Strafen, so lange das andere 
Mittel zur Verfügung steht, als ganz überflüssig erscheinen 
müssen. 

Führen unsere Zöglinge sich nicht gut, vermag es die Anstalts¬ 
erziehung nicht, einen neuen kriminellen Verfall zu verhüten, dann kann 
jetzt zur guten Letzt doch noch die Gefängnisstrafe in Kraft treten. 
Man kann dann für sie mit gutem Gewissen sagen, daß solche Zög¬ 
linge, die den erzieherischen Einflüssen trotzten, die den Voraus¬ 
setzungen des künftigen § 39 durchweg nicht genügen, sich durch 
die Freiheitsstrafen erst recht nicht beeinflussen lassen werden. Man 


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Zur Kriminalität des Kindesalters. 


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kann weiterhin sagen, daß sie auch in psychischer Beziehung in der 
Regel diejenigen sind, bei denen die Zurechnungsfähigkeit stark ver¬ 
mindert ist, bei denen der Strafvollzug in seiner ganzen Schärfe 
noch am ersten Unheil anrichten kann, daß sie die geeignetsten 
Kandidaten für die Zwischenanstalten sein werden, die uns die Zu¬ 
kunft wohl noch bescheren wird. 

Die geringe Wirkung der gerichtlichen Strafen haftet erst recht 
dem Verweise an, der ja allerdings die Psyche unserer Zöglinge 
nicht nachteilig beeinflussen kann, dafür aber bei der geminderten 
Auffassungsfähigkeit, der Kürze ihres Gedächtnisses und der Stumpf¬ 
heit des Gemütslebens meist spurlos an ihnen vorübergeht. Dabei 
werden die Zöglinge, wenn sie schon in der Anstalt sind, aus dem 
begonnenen Erziehungswerke herausgerissen, die kriminelle Saite 
ihres Vorlebens, die so schnell wie möglich verklingen sollte, wird 
in neue Schwingungen versetzt, sie werden wieder in das gericht¬ 
liche Milieu hineingedrängt, um sich als wichtige Persönlichkeit zu 
fühlen. Bei der einsamen Lage der meisten Erziehungsanstalten sind 
zu diesem Zwecke meist längere Reisen zu der Gerichtsstätte erfor¬ 
derlich, deren Unkosten zu dem gewonnenen Resultate in keinem Ver¬ 
hältnisse stehen. Dabei erfolgt die Erteilung des Verweises recht 
häufig in ziemlich geschäftsmäßiger Weise und entbehrt der Feier¬ 
lichkeit und Wucht, ohne die bei diesen entarteten Kinderseelen ein 
Erfolg nicht erzielt werden kann. 

Außerordentlich bezeichnend dafür ist ein Fall, in dem ein kör¬ 
perlich stark entwickelter Zögling von einem jugendlichen Erziehungs¬ 
gehilfen zur Erteilung eines Verweises zur Gerichtsstätte gebracht 
wurde. Als der Gehilfe den sehr fluchtverdächtigen Zögling auch in 
das Amtszimmer hinein begleitete, wurde er als nicht zur Sache ge¬ 
hörig von dem Amtsrichter ziemlich energisch hinausgewiesen. Als 
nachher der Anstaltsleiter den Zögling fragte, was der Verweis in 
ihm für Gedanken erweckt habe, antwortete er prompt: „daß der 
Richter den Gehilfen geduzt und mich gesiezt hat“ 

Die Skepsis, die ich dem Verweise gegenüber für die Mehrzahl 
unserer Zöglinge schon bei meinen früheren Untersuchungen gehegt 
habe, ist durch die übereinstimmenden Aussagen aller Erzieher nur 
bestätigt worden. 

Was der Entwurf zum neuen Strafgesetzbuch entwickelt, daß die 
Erziehung nur in leichteren Fällen neben oder anstatt der Strafe 
eintreten soll, wird durch die jetzt herrschende Praxis in der Für¬ 
sorgeerziehung, wie schon erwähnt, in das Gegenteil verkehrt. Schon 
bald nach Einführung des Gesetzes klagten die Kreise, denen die in- 

Archiv für Krimi n&lanthropologie. 40» Bd. 20 


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timste Berührung mit den Objekten dieser Erziehung zufallt, die Be¬ 
geisterung und Freude über das Zustandekommen des Gesetzes sei 
durch die mehrfachen Erkenntnisse des Kammergerichts zerstört, 
weil das Gesetz anders ausgelegt werde, wie man es sich bei seiner 
Entstehung vorgestellt habe. Es ist im preußischen Abgeordnetenhanse 
unumwunden von allen Parteien erklärt worden, die Erkenntnisse des 
Gerichts ständen der Auffassung des Gesetzes diametral entgegen. 
„Man läßt die Kinder verwahrlosen, bis sie in die Klasse gelangen, 
aus der sich die Verbrecher rekrutieren, während das Gesetz solche 
jugendliche Personen retten soll, bei denen das geistige und leibliche 
Wohl gefährdet ist. Nach der engherzigen Auslegung des Gerichtes 
kommen fast nur noch Fälle zur Ausführung, in denen die Anstalts¬ 
behandlung in Frage kommt, während das Gesetz gerade die Familien¬ 
pflege in den Vordergrund stellte.“ Für die Behörden, denen die 
Ausführung der Füsorgeerziehung zufiel, mußte dabei die Entscheidung 
des höchsten Gerichts für die Beurteilung maßgebend sein, in wie 
weit sie die Berechtigung der gestellten Anträge auf Fürsorgeerziehung 
anerkennen sollten; wodurch eine Reihe von Pallen auf dem Be¬ 
schwerdewege angefochten werden mußten, die nach dem Sinne 
des Gesetzes zweifellos hinein gehörten, mochten diese Behörden 
auch in der Ausnutzung des Beschwerderechts noch so entgegen¬ 
kommend gegen die P’orderungen sein, die der Sinn des Gesetzes er¬ 
forderte, wie möglich. Trotz der enormen Steigerung der Aufnahme¬ 
anträge ist die Vorsicht der antragberechtigten Behörden in der 
Stellung ihrer Anträge und der Gerichte bei der Überweisung zur 
Fürsorgeerziehung ganz unverkennbar geworden. Es ist sogar recht 
häufig die Klage geäußert worden, daß sich die Gerichtsbehörden 
der Ausführung des Gesetzes durchaus passiv gegenüberstellen 

So ist es denn jetzt tatsächlich, wie wohl von allen Beteiligten 
zugestanden wird, so weit gekommen, daß nach der Handhabung des 
Gesetzes die P'ürsorgezöglinge den früheren Zwangszög¬ 
lingen gleichkommen. Schon kurze Zeit nach dem Inkrafttreten 
des Gesetzes wurde eine Reform der Fürsorgegesetzgebung in dem 
Sinne erstrebt, daß den gefährdeten Elementen mehr Rechnung ge¬ 
tragen wird. 

Wenn die Erzieher klagen, daß ihre Erfolge durch diese zn 
späte Überweisung beeinträchtigt werden, so gilt das in erster Linie 
von unseren Minderbegabten. Damit soll natürlich nicht gesagt 
sein, die bestehende geistige Minderwertigkeit werde durch das Her¬ 
ausschieben der Fürsorgeerziehung ins Leben gerufen. Mit verhältnis¬ 
mäßig wenigen Ausnahmen sind die geistigen Abweichungen des 


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Zur Kriminalität des Kindesaltcrs. 


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schulpflichtigen Alters als angeborene Defekte aufzufassen. Aber 
diese abnorm veranlagten Naturen unterliegen den von außen an sie 
herantretenden ätiologischen Faktoren der Verwahrlosung unverhält¬ 
nismäßig leichter. Sie bleiben im Unterrichte ungleich mehr zurück 
wie ihre normalen Altergenossen. Der ethische und moralische Ver¬ 
fall macht, wenn er nicht schon von vornherein als Begleitsymptom 
der Grundkrankheit dem Krankheitsbilde einen sehr unliebenswürdigen 
Anstrich verleiht, reißende Fortschritte. Der Übergang zur Krimina¬ 
lität vollzieht sich schneller wie bei normal veranlagten Kindern. 
Spielt bei dem Zögern, die Kinder der Fürsorgeerziehung zu über¬ 
weisen, das Motiv mit, der Allgemeinheit keine unnützen Kosten zu 
verursachen, so rächt sich das fast ausnahmslos dadurch, daß in spä¬ 
teren Stadien der Verwahrlosung die Überweisung doch nötig wird. 
Nur werden dann die Erfolge viel mehr in Frage gestellt werden, 
und wenigstens für den Beginn der Fürsorgeerziehung kann an eine 
Überweisung an eine Familie gar nicht gedacht werden. 

Ein Vergleich mit den Privatzöglingen, bei denen von 24 nur 8 
als geistig minderwertig bezeichnet werden mußten, beweist, daß die 
öffentliche Fürsorgeerziehung sich an Objekte heranwagt, bei denen 
die Aussichten auf einen Erfolg recht trübe sind; denn da man 
meist einen deutlichen Parallelismus zwischen Minderwertigkeit und 
Kriminalität nachweisen kann, und die schwersten Formen fast immer 
auf der Grundlage eines geistigen Defektes erwachsen sind, so be¬ 
weist die größere Zahl der Minderwertigen unter den öffentlichen 
Fürsorgezöglingen, daß man bei der Auswahl an solchen zur Für¬ 
sorgeerziehung schreitet, bei denen die Aussichten auf Besserung er¬ 
heblich trüber sind. 

Tabelle XIX. 



1901 

! 1902 

1903 

j 1904 

i 1905 ] 

1906 

; 1907 

1908 

Bestand am 31« HX.. 

— 

549 

912 | 

1384 

1753 i 

2068 

2335 | 

2610 

Zahl der überwiesenen Zöglinge 

553 

367 

1 481 

411 

422 

409 

452 j 

— 

Davon waren am 31. in. endgül- 









tig in Anstalten untergebracht. 

240 

550 

| 311 

234 

219 

272 

288 | 

— 

In Familien untergebracht . . 

138 

248 

45 

66 

60 

61 

70 

— 

männliche Schulpflichtige und 



i 




1 


Jüngere . 

245 

159 

222 

185 

193 

186 

198 

— 

weibliche Schulpflichtige und 


i 







Jüngere . 

122 

68 , 

78 

75 

67 

63 

82 | 

— 

männliche Schulentlassene . . 

91 

78 

99 

78 

90 

93 

S 94 

i - 

weibliche „ . . 

95 

62 

82 

73 

72 

67 

1 78 

— 

es itanden im Alter von 0—6 J. 

30 

8 

6 

4 

10 

12 

11 

— 

• - n >9 ti i 15 n 

370 

241 

294 

256 

250 

237 

269 

— 


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XI. Mönkemöller 


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Hält man sieb vor Augen, daß nur den schwersten Formen der 
Verwahrlosung die straffe Erziehung gegönnt wird, dann kommt 
einem das enorme Maß der jugendlichen Verwahrlosung um so nach¬ 
drücklicher zum Bewußtsein, wenn man sich die ungeheure Mühe 
vor Augen hält, die schon jetzt der Allgemeinheit aufgebürdet wird. 
Die vorstehende Tabelle weist nach, was die Provinz Hannover auf 
diesem Gebiete seit der Einführung der Fürsorgeerziehung zu tragen 
gehabt hat. 

Noch plastischer geht die Steigerung aus einer Tabelle hervor, 
in der die Kosten zusammengestellt sind, die der Allgemeinheit er¬ 
wachsen sind. In dieser Zusammenstellung macht sich der enorme 
Sprung besonders bemerkbar, der sich beim Übergange von der Zwangs- 
zur Fürsorgeerziehung ausprägt. Zu bemerken ist dabei, daß ein 
ganz geringfügiger Zuschuß von den Angehörigen eingezogen wird, 
während der Staat für zwei Drittel der Kosten aufzukommen hat. 

Tabelle XX. 


Zuschuß Zuschuß 

der Provinz der Staatskasse 


1S99 

55 251 

1900 

! 56 749 

1901 

54 601 

1902 

1 85 329 

1903 

102 708 

1904 

l 131832 

1905 

181 853 

1906 

151 140 

1907 

158 919 


M. 54 237 M. 

53 329 
103 934 „ 
172 760 . 
200 797 .. 
257 595 „ 
275 291 „ 
309 901 „ 
317 S39 


Die Gesamtunkosten, die aus der Unterbringung der auf 
Grund des Gesetzes vom 13. III. 1878 und 2. VII. 1900 dem Provinzial- 
verbande zur Zwangs- und Fürsorgeerziehung überwiesenen Minder¬ 
jährigen erwachsen sind, betragen bis zum 1. April 1908: 4 610436 M. 

Bei der ungeheuren Höhe der Kosten muß es natürlich das Be¬ 
streben sein, die praktischen Konsequenzen, die aus dem Be¬ 
stehen einer so großen Menge von geistiger Minderwertigkeit sich 
ergeben, für die Durchführung der Fürsorgeerziehung nutzbar zu 
machen. 

Daß auch für die Schulpflichtigen, obgleich sie der Fürsorge¬ 
erziehung nicht entfernt dieselben Ungelegenheiten und Schwierig¬ 
keiten verursachen wie die Schulentlassenen, die Feststellung des 


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Geisteszustandes große praktische Bedeutung hat, ist durch diese 
Untersuchungen erwiesen worden. 

Zunächst geht daraus hervor, daß für die Minderwertigen unter 
den schulpflichtigen Zöglingen die Einrichtungen an den jetzt be¬ 
stehenden Anstalten genügen oder doch ohne Schwierigkeit den 
Anforderungen angepaßt werden können. Die schwersten Äußerungen 
der pathologischen Psyche, die bei manchen der schulentlassenen 
Zöglinge den Aufenthalt in den bisherigen Anstalten fast undurch¬ 
führbar machen, treten bei unseren Schulpflichtigen noch nicht so 
sehr in die Erscheinung. Das liegt fraglos in erster Linie daran, daß 
ihnen noch die körperliche Kraft fehlt, daß bei ihnen die Initiative 
noch schlummert, und daß die Pubertät noch nicht dem Affektleben 
und den asozialen Instinkten eine aktive Färbung verliehen hat. 
Es fehlen auch alle die, bei denen solche asozialen Neigungen und 
ein enormer passiver Widerstand gegen alle erziehlichen Beeinflussungen 
hervortreten, ohne daß das Maß der nachzuweisenden psychischen 
Defekte ausreichte, ihnen ein rein psychiatrisches Regime zu er¬ 
schließen, für die also die allseitig geforderten Zwiscbenanstalten 
in Frage kämen. 

Auch unter unserem Materiale befindet sich eine genügende Zahl 
von Naturen, die sich nur schwer und widerstrebend in das straffe 
Regime zu finden wissen, die sich der Erziehung nicht beugen wollen 
und den Disziplinarapparat, der der Anstalt zur Verfügung steht, 
immer wieder in Bewegung setzen. Immer aber tragen diese Aus¬ 
artungen noch einen kindlichen Charakter, sie können ohne Auf¬ 
bietung zu rigoroser Maßregeln unterdrückt werden. Der Vollzug 
der Fürsorgeerziehung vermag noch mit ihnen fertig zu werden, ohne 
daß die psychische Minderwertigkeit durch die Maßregeln der straffen 
Zucht ungünstig beeinflußt würde, und ohne daß der Anstaltsbetrieb 
und die Kameraden dieser pathologischen Naturen durch diese Ent¬ 
ladungen einer kranken Seele allzusehr zu leiden hätten. Die Ein¬ 
richtung einer besonderen, unter speziell psychiatrischen Gesichts¬ 
punkten geleiteten Anstalt, die nach Scheidung der normalen und 
minderwertigen Zöglinge in Tätigkeit zu treten brauchte, kommt bei 
ihnen nicht in Frage. 

Was hier in erster Linie seine störenden Kreise zieht, das ist das 
Versagen der defekten Gemüter im Schulunterrichte. Die Überweisung 
der besonders schwachveranlagten Zöglinge und die Schaffung einer 
Abteilung für Schwachbefähigte ist schon jetzt für Hannover 
durch die getroffenen Maßregeln erfüllt. Ich verweise in bezug auf 
die mehr pädagogische Seite dieser Frage auf meinen Bericht. 


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In zwei Fällen lagen derartig ausgeprägte Fälle von Idiotie 
vor, daß eine weitere Ausnutzung der Fürsorgeerziehung als ein 
fruchtloser Versuch am untauglichen Objekte erscheinen mußte. Für 
sie erschien als einziger Ausweg die Überführung in eine Idioten¬ 
anstalt. 

In störender Weise ragt ferner die Minderwertigkeit in die 
Frage der Unterbringung hinein. Das Ideal der Fürsorge¬ 
erziehung, wie es dem Gesetzgeber vorschwebte, ist fraglos die 
Familienpflege. Nur in ihr kann dem individuellen Wesen des ein¬ 
zelnen Zöglings völlig Rechnung getragen werden. In dem scha¬ 
blonenhaften Wesen, das die Anstaltsbehandlung auch mit dem besten 
Willen nicht ganz abstreifen kann, wird die Eigenart des Kindes, 
zumal des verwahrlosten nicht ganz ihr Genüge finden. Soll der 
Charakter des Kindes gestählt werden, dann muß ihm auch 
eine gewisser Spielraum zur Entfaltung der Willenskraft gegeben 
werden. Er muß auch zur Betätigung seiner Ethik und moralischen 
Widerstandskraft Gelegenheit haben; er muß auf die Probe gestellt 
werden und beweisen, daß er die an ihn herantretende Versuchung 
überwinden kann. Das ist im Anstaltsbetriebe bei allen seinen Vor¬ 
zügen nicht möglich. Es ist eine alte Erfahrung, daß manche Indi¬ 
viduen, die sehr lange in einem Anstaltsbetriebe leben, der ihre 
Selbständigkeit aufhebt, in gewissem Sinne Kunstprodukte 
werden. 

Wie sich jetzt die Handhabung der Fürsorgeerziehung gestaltet 
hat, ist das Gros dessen, was ihr überantwortet wird, so disziplinlos 
und zum Herumlungern geneigt, so schwer an die Häuslichkeit zu 
fesseln, es ist nicht nur in sittlicher, sondern auch in körperlicher 
Beziehung der Verwahrlosung so verfallen, daß es der Familien¬ 
pflege nicht anvertraut werden kann. Tatsächlich ist jetzt die 
Anstaltserziehung Regel und die Familienpflege Ausnahme 
geworden. 

Nun hat man den Weg eingeschlagen, daß in der Regel erst 
eine Zeit lang in der Anstalt eine sittliche Läuterung vollzogen 
wird, damit dann die Familienpflege in ihre Rechte treten kann. 
Immer wieder weisen die Behörden darauf hin, wie dringend er¬ 
forderlich es ist, von diesem Mittel, das gerade für unsere schul¬ 
pflichtigen Kinder am ersten in Frage kommen muß, Gebrauch zu 
machen. Trotzdem sträuben sich die Anstaltsleiter noch immer 
recht häufig gegen diese Anregungen. Ganz abgesehen davon, daß 
sie erklärlicherweise von dem Bewußtsein der Vortrefflichkeit deT 
Anstaltspflege und der eigenen pädagogischen Leistungsfähigkeit 


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Zur Kriminalität des Kiudesalters. 


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durchdrungen sind, und daß die Bücksichten auf die pekuniäre 
Möglichkeit des Fortbestehens der Anstalt hier bewußt oder unbewußt 
hereinspielen, haben hier die Übeln Erfahrungen ein Wort mitzu¬ 
sprechen, die man mit manchen Kindern macht, die man aus der 
Anstalt in die Familienpflege wandern ließ. Sie kehren nach einiger 
Zeit doch wieder in die Anstalt zurück, weil bei ihnen die Autorität 
der Familie versagt, und nicht verhindert, daß sie wieder in die 
alten asozialen Neigungen und Gewogenheiten verfallen. Und dann 
zeigt sich oft das betrübliche Ergebnis, daß sie wieder auf das ärgste 
verwahrlost und im Schulunterrichte in einer Weise zurückgekommen 
sind, die mit der Dauer des Ausscheidens aus der Anstaltsbehandlung 
in auffallendstem Mißverhältnisse steht. 

Die Ursache dieses Versagens liegt recht häufig wieder in der 
mangelhaften geistigen Veranlagung begründet, die unsere Zöglinge 
schon in den frühesten Stadien ihrer Erziehungslaufbahn so tief in 
der Verwahrlosung versinken läßt, daß die häusliche Erziehung 
dieser Degeneration machtlos gegenüber steht und das rapide Fort¬ 
schreiten des Verfalles nicht aufzuhalten vermag. Eine rechtzeitige 
Feststellung des psychischen Zustandes ermöglicht in vielen Fällen, 
dem Versuche einer derartigen Unterbringung zu entsagen und die 
traurigen Folgen des schädlichen Experimentes von vornherein zu 
ahnen. Dafür gibt eine derartige Feststellung bei den für gesund 
Befundenen eine um so sicherere Gewähr, daß sie mit gutem Gewissen 
dieser anderen Bebandlungsform überwiesen werden können, und 
daß von ihr ein möglichst weitgehender Gebrauch gemacht wird. 

Es ist ja auch daran zu denken, daß man die guten Erfahrungen, 
die man mit der Familienpflege Geisteskranker gemacht hat, auch 
auf diese Form der Familienpflege überträgt Bei gewissen Familien, 
die ein besonderes Verständnis für diese Seelenzustände haben und 
in der Behandlung derartiger labiler Elemente sich leicht eine größere 
Gewandheit erwerben, müßten alle die, bei denen das psychische 
Verhalten zu Bedenken Anlaß gibt, untergebracht werden. Die 
Durchführung dieses Grundsatzes scheitert wohl daran, daß die 
meisten Pflegestellen zu weit von der Anstalt entfernt liegen, sodaß 
der innige Konnex, in dem gerade diese zweifelhaften Naturen mit 
der Mutteranstalt bleiben müssen, kaum aufrecht erhalten werden 
könnte. Zudem ist eine Unterweisung und Instruktion durch psy¬ 
chiatrische Kräfte, ohne die eine solche Maßnahme nicht getroffen 
werden kann, nicht erreichbar und wird es auch für absehbare Zeit 
bei der Natur der Verhältnisse nicht werden. Es ist zu erwarten, 
daß in Zukunft bei den fortschreitenden Kenntnissen der Anstalts- 


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leiter auf psychiatrischem Gebiete dieser Ausnutzung der psychia¬ 
trischen Beobachtungen in gewissem Maße näher getreten werden 
kann. Zurzeit gebietet es noch der Tiefstand der psychischen 
Leistungsfähigkeit der Zöglinge, nach dieser Richtung hin keine zu 
weitgehenden Experimente zn machen. 

Auch die psychisch nicht intakten Zöglinge können ohne Be¬ 
denken im Anstaltsverbande gelassen werden — vorausgesetzt natür¬ 
lich, daß sich die Anstaltsleiter und die übrigen Lehr- und Erzie¬ 
hungskräfte darüber im klaren sind, daß unter ihrem Materiale eine 
große Anzahl derartiger geistigen Schwächlinge sich befinden, die 
nicht mit demselben Maße gemessen werden dürfen wie normale 
Schüler. Gegen meine früheren Erfahrungen ist in dem Verständ¬ 
nisse der meisten an diesem schweren Erziehungswerke Beteiligten 
ein ganz erfreulicher Fortschritt festzustellen. Nicht nur, daß die 
Lehrer, die längere Zeit mit einem derartig tiefstehenden Materiale 
zu arbeiten haben, von der Überzeugung von deren geringer 
Leistungsfähigkeit ganz von selbst durchdrungen werden. Dank den 
verdienstvollen und zielhewußtcn Bestrebungen des Landesdirektoriums, 
das mit allen Mitteln auf diesem Gebiete Klarheit zu schaffen sucht, 
und die Konsequenzen, die sich aus diesen theoretischen Fest¬ 
stellungen ergeben, so weit es bei der Macht der Verhältnisse mög¬ 
lich ist, in praktische Einrichtungen umzusetzen trachtet, sowie der 
unermüdlichen Tätigkeit Cramers ist durch psychiatrische Aus- 
bildungskurse, durch die Fürsorgekonferenzen, durch die Belehrung 
gelegentlich der psychiatrischen Untersuchungen der Anstalt, durch 
die Überweisung verdächtiger Zöglinge an die Beobachtungsstation 
der Göttinger psychiatrischen Klinik schon eine Aufklärung auf 
diesem Gebiete geschaffen, die für die Behandlung dieser jugend¬ 
lichen Kriminellen von der größten Bedeutung ist und für die 
Zukunft eine sehr erfreuliche Perspektive eröffnet. Nicht als ob 
schon das Verständnis für die Krankhaftigkeit aller psychischen 
Entladungen, dafür, daß das Versagen auf ethischem und mora¬ 
lischem Gebiete hei manchen Zöglingen eine pathologische Bedeutung 
hat, für die Deutung mancher sonstigen auffallenden Krankheits¬ 
symptome als solcher bei allen Erziehern zur Vollkommenheit ge¬ 
diehen wäre, die man von einem Laien füglich erwarten kann. Die 
Fähigkeit, sich in ein ungewohntes Gebiet einzuleben, das zudem 
zu den erlernten und volkstümlichen Anschauungen in einem aus¬ 
geprägten Gegensätze steht, ist nicht allen Erziehern in gleichem 
Maße verliehen. Das Widerstreben, das sich gegen das Eindringen 
psychiatrischer Anschauungen in diese pädagogische Domäne auch 


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auf anderen Gebieten richtete und gerade in diesem Bereiche oft zu 
sehr scharfem Ausdrucke kam, ist noch immer nicht ganz über¬ 
wunden. Aber so weit hat diese Anschauungsweise doch schon 
Wurzel gefaßt, daß man sagen kann, daß es jetzt möglich ist, der 
verkümmerten Seele ihr Recht zukommen zu lassen, auch ohne der 
straffen Erziehung in die Zügel zu fallen. 

Der lähmende Einfluß, der von dem Eindringen derartiger An¬ 
schauungen, die den Zögling der Verantwortlichkeit berauben und 
so die Erziehungsversuche zunichte machen sollen, befürchtet wird, 
macht sich am meisten geltend auf dem Gebiete der Züchtigung. 
.Ohne Zucht keine Erziehung und ohne Züchtigung keine Zucht“ 
ist ein Prinzip, das in dieser strengsten aller Erziehungsformen sicher 
zu Rechte besteht Wer sich einmal längere Zeit mit den Produkten 
der objektiven und subjektiven Verwahrlosung beschäftigt hat, der 
wird bei aller Gutmütigkeit, bei aller Rücksichtnahme auf die 
schwache Natur der Zöglinge leicht die falsche Sentimentalität ver¬ 
lieren, mit der an solche Fragen nur zu leicht herangegangen wird. 

Nun muß man ja immer daran denken, daß unter dem Materiale 
sich eine Anzahl von Zöglingen befindet, bei denen eine Zurechnung 
nicht in vollem Maße erfolgen kann; daß manche freche und laster¬ 
hafte Handlungen, die eine Züchtigung zu verdienen und herauszu¬ 
fordern scheinen, als Äußerungen der Krankheit aufzufassen sind. 
Bei manchen Formen psychische/ Krankheit muß eine Züchtigung 
unheilvoll einwirken und den Zögling schädigen. Die Schwierig¬ 
keiten, die sich aus dieser Balance zwischen der Rücksicht auf die 
kranke Psyche und die gebieterische Notwendigkeit, ihnen und noch 
weit mehr den anderen Zöglingen gegenüber die Disziplin aufrecht 
zn erhalten, ergeben, sind bei den erwachsenen Zöglingen recht 
oft nicht restlos zu lösen und begründen nicht in letzter Linie die 
Notwendigkeit der Zwischenanstalten. 

Das Prinzip, daß die körperliche Züchtigung als erzieherische 
Maßnahme möglichst selten angewandt werden soll, ist bei den 
erwachsenen Zöglingen in der Provinz Hannover auch ohne 
Rücksicht auf die psychiatrischen Erwägungen von den Erziehern 
in recht weitgehender Weise durchgeführt worden, zumal es zweifel¬ 
haft ist, ob den Anstaltsleitern das Züchtigungsrecht zusteht 
oder nicht. 

Für die schulpflichtigen Zöglinge spielen nach dem Materiale, 
das ich untersucht habe, diese psychiatrischen Erwägungen keine 
oder doch nur eine ganz geringe Rolle. Die reizbaren Epileptiker, 
die gespannten, empfindlichen Naturen, die paranoisch denkenden 


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Gemüter, die reizbarsten Formen des Schwachsinns, die in späteren 
Jahren unter den ungünstigen Einwirkungen einer solchen Strafe zu 
leiden haben, sind hier nur in ganz vereinzelten Exemplaren und 
viel schattenhafterer Ausprägung vertreten. Auf sie kann bei geeig¬ 
netem Hinweise ohne Störung der Disziplin ruhig Rücksicht ge¬ 
nommen werden. Sonst aber macht es sich auch hier in angenehmer 
Weise immer wieder geltend, daß die Pubertät noch nicht die 
Steigerung des Affektlebens und die Resistenzlosigkeit gegen widrige 
Einflüsse gezeitigt hat Auch das, was hier im Banne der Minder¬ 
wertigkeit steht, kann fast ausnahmslos den körperlichen Züch¬ 
tigungen unterworfen werden, die bei ihren normalen Kameraden 
Platz greifen. Allerdings darf man sich nicht verhehlen, daß der 
Erfolg, der den körperlichen Züchtigungen auch bei normalen Delin¬ 
quenten manchmal versagt bleibt, sich bei diesen Minderwertigen 
häufig erst recht nicht einstellen will. Und ganz selbstverständlich ist 
es, daß sie nur in maßvollster Weise mit Ruhe, Unparteilichkeit und 
Innehaltung aller Kanteten vollzogen werden müssen, deren ein 
solcher Strafvollzug nicht entbehren darf. 

Wichtiger ist die psychische Minderwertigkeit in diesem Stadium 
für die Berufswahl, die ja am Abschlüsse dieses Abschnittes für 
die Fürsorgeerziehung getroffen werden muß und für den späteren 
Werdegang und die weitere Stellung zur Kriminalität manchmal 
von einschneidender Bedeutung ist. Sind die Minderwertigen diesem 
Berufe nicht gewachsen, fühlen sie sich in ihm nicht wohl, werden 
sie dadurch leichter an den Alkohol gebracht, der ja in manchen 
Berufen eine größere Rolle spielt; werden sie einem Berufe über¬ 
wiesen, der von den Schwankungen des Arbeitsmarktes mehr erfaßt 
wird wie andere; kommen sie mit den Verlockungen des Großstadt 
lebens in intensivere Berührung — so haben sie bedeutend größere 
Aussichten, eher wieder auf den Weg der Kriminalität gestoßen 
zu werden. 

Unter Berücksichtigung aller dieser Momente geht man in den 
meisten Fällen bei weitem am sichersten, wenn sie den landwirt¬ 
schaftlichen Betrieben überwiesen werden. Hier kommen die 
schlaffen und energielosen Naturen in Verhältnisse, denen sie ge¬ 
wachsen sind; sie haben bei dem steten Mangel an ländlichen Ar¬ 
beitern kaum mit der Konkurrenz besser begabter Arbeitskollegen zu 
kämpfen, das Milieu ist weniger dazu angetan, um das Emporlodern 
asozialer Instinkte zu befördern. Da manche von diesen Zöglingen 
eine übertrieben hohe Meinung von ihrer Leistungsfähigkeit haben, 
die sieb mit der Wirklichkeit nicht entfernt deckt, und die ebenso 


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wenig verständigen Verwandten oft geneigt sind, diese unvernünftigen 
Berufsneigungen zu unterstützen, Ist die Berücksichtigung der psy¬ 
chischen Minderwertigkeit und die Betonung dieser Unzulänglichkeit 
gerade diesen Verwandten gegenüber von seiten der Anstalt bei der 
Umsetzung in die Tat oft ein sehr geeignetes Mittel, um ein späteres 
Scheitern in diesem Berufe und damit eine Annäherung an die 
Kriminalität zu verhüten. 

Es wäre aber durchaus verkehrt, in der Landwirtschaft ohne 
jede Einschränkung die klassische Zufluchtsstätte unserer Zöglinge 
zu sehen. Für manche von ihnen, auch für solche mit unverkenn¬ 
bar krankhafter geistiger Veranlagung bietet die Landwirtschaft 
nicht genug Anregung für ihre unruhigen Triebe, sie fühlen sich 
nicht zufrieden. Ihre Leistungsfähigkeit reicht zudem manchmal 
auch vollständig aus, einen anderen Posten auszufüllen. Zwingt 
man sie zur Landwirtschaft, so werden sie zum passiven Wider¬ 
stande gereizt; sie fühlen sich unglücklich und wenden sich einem 
anderen Berufe zu, sobald sie über sich selbst verfügen können. 
Dann fehlt ihnen aber die nötige Vorbildung und da sie infolge 
ihrer geistigen Bückständigkeit der Konkurrenz so wie so nicht 
gewachsen sind, stehen sie bald ohne Subsistenzmittel da und 
schwenken zur Vagabundage und zur Kriminalität ab. Besondere 
Aufmerksamkeit muß, wie schon erwähnt, den Nachkommen von 
Alkoholisten insofern geschenkt werden, als sie besonders sorg¬ 
fältig vor einer späteren Berührung mit dem Alkohol geschützt 
werden müssen. 

Auch bei der Auswahl der Zöglinge, die für die seemännische 
Laufbahn auf den Schulschiffen auserlesen werden, ist eine Aus¬ 
sonderung der anormalen Elemente durchaus erforderlich. Der Zu¬ 
sammenhang der seemännischen Laufbahn, der geistigen Minder¬ 
wertigkeit und der Kriminalität spricht sich am deutlichsten in 
dem Überwiegen der Kriminalität in der Kriegsmarine gegenüber 
dem Landbeere aus. Da nur die besten Elemente dieser Karriere 
überwiesen werden, um die anfangs stark angefeindete Einrichtung 
nicht zu diskreditieren, ist das Eindrängen minderwertiger Elemente 
allerdings schon so wie so höchstens in Ausnah raefällen denkbar. 

Daß eine Reihe von Zöglingen vermöge ihrer geistigen Ver¬ 
fassung während ihrer ganzen Fürsorgeerziehungslaufbahn sorgfältig 
im Auge behalten werden muß, ließ sich durch die jetzige 
Untersuchung wieder bestätigen. Bei 27 lag das psychische Krank¬ 
heitsbild in seiner ganzen Bedeutung so offen zutage, daß man 
bei ihnen jetzt schon sagen konnte, daß für sie ein Ausscheiden aus 


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der Anstaltspflege unter keinen Umständen erfolgen durfte. Bei 7 
endlich konnte man die sichere Vermutung aussprechen, daß sie 
auch nach dem Abschlüsse der Fürsorgeerziehung nicht den nötigen 
inneren Halt besitzen würden, um sich eine sichere Existenz zn 
gründen. Bei ihnen konnte man schon jetzt den trüben Werdegang 
so mancher Psychopathen ahnen, die direkt dem sozialen Verfalle 
zutreiben und nach der üblichen Ausnutzung der Unterkunftsstätten, 
die der soziale Parasitismus sich erschließt, der Arbeitshäuser, Zucht¬ 
häuser, schließlich der Irrenanstalt zutreiben. Daß ihnen nicht nach 
Abschluß der Fürsorgeerziehung eine Anstaltsbehandlung in 
irgend einer Form, die ihrer Unselbständigkeit und ihren 
kriminellen Neigungen entspricht, zugänglich gemacht werden kann, 
daß bei ihnen erst ein zweiter, vollständiger Schiffbruch abgewartet 
werden muß, ehe ihrem Status psychicus Genüge geleistet werden 
kann, beweist am ersten, wie weit wir noch von einer zweck¬ 
mäßigen, grundlegenden Berücksichtigung dessen entfernt sind, was 
so vielen unserer Gewohnheitskriminellen not tut. 

Im übrigen habe ich mir versagt, im einzelnen Falle eine 
Prognose für das Gelingen der Fürsorgeerziehung auszusprechen. 
Das ist ein gerade so schweres Unterfangen, wie wenn man sofort 
nach Ablauf der Fürsorgeerziehung sich ein Urteil darüber erlaubt, 
ob sie ihren Zweck erfüllt hat, und ob man eine Dauerbesserung 
erwarten kann. Erst nach einer längeren Reihe von Jahren läßt sich 
hierüber ein abschließendes Urteil fällen. Auch bei der größten 
Sicherheit in der Stellung der Diagnose ist man gelegentlich, was die 
Prognose anbetrifft, vor Überraschungen nicht sicher, am wenigsten 
bei unseren Schulpflichtigen, denen ja noch die Pubertät bevorsteht. 

Daß die geistige Minderwertigkeit gewaltig auf der Prognose 
unserer Zöglinge zu lasten vermag, unterliegt keinem Zweifel. Wenn 
der Vorentwurf zum Strafgesetzbuche meint, wirklich durch Erziehung 
unverbesserliche Jugendliche dürften selten Vorkommen, so erfährt 
diese Annahme gerade durch das machtvolle Bestehen der geistigen 
Minderwertigkeit, die auf diesem Gebiete herrscht, eine recht nach¬ 
drückliche Einschränkung. Aber bei aller Berücksichtigung dieser 
Momente darf man nicht vergessen, daß man sich bei der Fürsorge¬ 
erziehung nicht immer die höchsten Ziele zu stecken braucht und 
oft auch mit einem bescheideneren Gewinne zufrieden sein muß und 
auch mit gutem Gewissen kann. Und da unsere Schulpflichtigen 
erzogen werden müssen, mag daraus werden was will, so hat 
diese Frage im Grunde genommen nur einen recht akademischen 
Wert Durch das Hervorkehren der durch die psychische Minder- 


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Wertigkeit verursachten geringeren Möglichkeit, zu einem befriedigen¬ 
den Abschlüsse zu kommen, den Optimismus der Erzieher zu mindern, 
ohne den sie in diesem schwierigen und entsagungsvollen Werke gar 
nicht weiterkommen können, halte ich nicht für angebracht und 
zweckvoll. 

Daß eine weitgehende Wertung der geistigen Verfassung in die 
Wagschale fallen muß, wenn es gilt, ein vorzeitiges Aus¬ 
scheiden aus der Fürsorgeerziehung zu veranlassen, 
mag nur nebenher erwähnt werden. 

Bei der Bedeutung, die der geistigen Minderwertigkeit für die 
Fürsorgeerziehung zukommt, ist natürlich eine möglichst frühzeitige 
Untersuchung erforderlich, schon deshalb, damit für die am 
schwächsten Befähigten möglichst bald die Überweisung in eine 
Abteilung für Schwachbefähigte ermöglicht werden kann. Der 
ideale Zeitpunkt ist natürlich die Überweisung in die Für¬ 
sorgeerziehung. Das Gesetz bietet dafür keine Handhabe. In 
einem vor einem Jahre ergangenen Erlasse des Ministers des Innern 
bzw. der Justiz wird ja betont, daß die Ermittelung des geistigen 
und körperlichen Gesundheitszustandes der Minderjährigen, bei denen 
die Fürsorgeerziehung in Frage kommt, als sehr wichtig bezeichnet 
werden muß, auch werden entsprechende Erhebungen anempfoblen. 
Von einer ärztlichenU ntersuchung aber ist hier in nicht die Rede, und 
da der Staatskasse keine Kosten zugemutet werden dürfen, die vielmehr 
der Kommunalverband zu tragen habe, und hervorgehoben wird, daß 
hierdurch keine Verzögerung entstehen darf, so dürfte für die erste 
Zeit auf eine Erfüllung des so oft aufgestellten psychiatrischen Postu¬ 
lates kaum zu hoffen sein. 

Auch wenn es einmal mit der Erfüllung dieser Forderung ernst 
werden sollte, dürfte ihre Umsetzung in die Tat auf erhebliche 
Schwierigkeiten stoßen. Da in den meisten Fällen Eile auf das 
dringendste not tut, um die schon so wie so allzuweit vorgeschrittene 
Verwahrlosung nicht noch weitere Dimensionen annehmen zu lassen, 
käme abgesehen von wenigen Ausnahmefällen für derartige Unter¬ 
suchungen nur der Kreisarzt in Frage. Ob er bei den Schwierig¬ 
keiten, die anerkanntermaßen die jugendlichen, leichteren Formen des 
angeborenen Schwachsinns und der jugendlichen Degenerationsformen 
mit Ausnahme der eklatanteren Fällen bereiten, die Anforderungen 
zu erfüllen vermag, die an derartige Untersuchungen gestellt werden, 
müssen, muß zweifelhaft erscheinen, man mag die Fortschritte, die 
unsere Kreisärzte in der Psychiatrie in den letzten Lustren gemacht 
haben, noch so hoch anerkennen. 


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XI. Mönkemöller 


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Es wird vorderhand dabei bleiben müssen, daß derartige Unter¬ 
suchungen von zünftigen Psychiatern in größerem Umfange vor¬ 
genommen werden, nachdem die Aufnahme bereits erfolgt ist Es 
soll hier nicht erörtert werden, in welcher Weise derartige Unter¬ 
suchungen vorgenommen werden sollen, wie oft eine Wiederholung 
nötig ist, wie die Sonderung der minderwertigen Irfdividuen erfolgen 
soll, welche Nebenzwecke mit einer solchen Untersuchung verbunden 
werden sollen. 

Eine andere Aufgabe aber könnte beim Eintritt in die Fürsorge¬ 
erziehung unschwer gelöst werden, die sich später sonst nie mehr 
in derselben Weise nachholen läßt. Es ist die Erhebung einer lücken¬ 
losen Anamnese, deren Bedeutung für die Beurteilung ja auf der 
Hand liegt. Gerade die jetzigen Untersuchungen haben ergeben, daß 
bei den nachträglichen Erhebungen nicht die ganze Fülle des vor¬ 
handenen anamnestischen Materials zutage kommt, obgleich hierbei 
weder Mühe noch Kosten gescheut worden sind. 

Bei den Erhebungen Uber die persönlichen, häuslichen und wirt¬ 
schaftlichen Verhältnisse der Überwiesenen kommt die kriminelle 
Seite des Vorlebens wohl noch am meisten zu ihrer Geltung, wie 
auch das Verhältnis des Überwiesenen zur Schule wohl fast immer 
genügend genau geschildert wird. Was aber jetzt fast immer zu 
kurz kommt, ist die medizinische Seite der Frage. Abgesehen 
davon, daß schon nach relativ kurzer Zeit nicht selten die einzigen, 
die Aufschluß über die körperliche und geistige Entwickelung des 
Kindes geben können, die Eltern, bei ihrer geringen Bodenständig¬ 
keit die Erhebung der Anamnese vereiteln, verfügen die unteren Polizei¬ 
organe, denen schließlich die Erhebungen zufallen, nicht immer 
Uber die Eigenschaften, die unumgänglich nötig sind: ein großes 
Taktgefühl, das Verständnis für die Bedeutung dieser Nachfragen, 
das verständnisvolle Erfassen der wichtigeren Einzelheiten, die in 
Betracht kommen, und das selbständige Erkennen von bedeutungs¬ 
vollen Momenten, die nicht immer in der Schablone eines Fragebogens 
lückenlos untergebracht werden können. Dabei ist die Reserve des 
Publikums, aus dem sich unsere Zöglinge rekrutieren, den Organen 
der Polizei gegenüber nicht immer zu überwinden, und bei den deli¬ 
katen Einzelheiten, die hier oft in Betracht kommen, wird das Schweigen 
erst recht intensiv. Eine wirklich gründliche Anamnese, die am 
besten an der Hand eines ausführlichen Fragebogens veranstaltet 
wird, kann zur Zeit der Überweisung am besten durch einen 
Arzt erstattet werden der eher des Vertrauen der Angehörigen er¬ 
weckt und die Bedeutung des anamnestischen Materials zu schätzen 


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Zar Kriminalität des Kindesalters. 


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weiß, auch wenn ihm die Feststellung aller Finessen der psychia¬ 
trischen Diagnose nicht zugemutet zu werden braucht. 

Ist einmal eine solche Anamn'ese festgelegt, der geistige Be¬ 
fund durch eine Untersuchung festgestellt und durch laufende Zu¬ 
sätze während der Fürsorgeerziehung vervollständigt, dann kommt 
ein Material zustande, das auch bei eventuellem späteren sozialen 
Scheitern des Zöglings im praktischen Leben geeignet ist, ihm manche 
Schwierigkeiten zu ersparen, von der Allgemeinheit unnütze Kosten 
abzuhalten und sein Schicksal in Bahnen zu lenken, die mit seiner 
psychischen Konstitution am besten in Einklang stehen. 

Eine schon früher gestellte Forderung, die für die Stellung der 
Prognose bei unseren Zöglingen, für die Bewertung der Erfolge der 
Fürsorgeerziehung von Bedeutung ist, die Feststellung, wie sich das 
Schicksal unserer Zöglinge im späteren Leben gestaltet hat, 
schreitet zurzeit der Erfüllung entgegen. 


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XII. 


Beitrag zur gerichtsärztlichen Würdigung 
der Daktyloskopie. 

Von 

Prof. Dr. Lochte, Göttingen. 


Die Fingerspitzen der menschlichen Hand sind auf der inneren 
Seite mit einem System feiner Linien, den sogenannten Papillarlinien 
versehen. Diese Linien ’ sind bereits von den älteren Anatomen 
Malpighi, Ruysch, Albinus gesehen worden. Genauer beschrieben hat 
sie zuerst 1823 der Breslauer Physiologe Purkinje: (commentatio de 
examine physiologico organi visus et systematis cutanei. Breslau 1823.) 
1867 lieferte Alix unter Leitung Gratiolets eine Arbeit über die Pa¬ 
pillarlinien. (Disposition des lignes papillaires de la main et du picd. 
Annies des Sciences naturelles 5s6rie Zoologie 1867 torn. VIII. p. 295.) 
Das genauere Studium derselben verdanken wir den Arbeiten von 
Francis Galton (seit 1888, bis durch Method of indexing finger 
marks. Nature 1891 und Finger prints 1892). In praktischer Be¬ 
ziehung sei erwähnt, daß in China die Benutzung der Fingerabdrücke 
bei Personen, die des Schreibens unkundig waren, an Stelle der 
Namensunterschrift, seit langem bei den Behörden üblich war. In 
der Mitte des vorigen Jahrhunderts hat William Herschel in der 
Zivilverwaltung in Bengalen die Benutzung der Fingerabdrücke ein¬ 
geführt, um rückfällige Verbrecher wiederzuerkennen. Diese und 
andere Untersuchungen haben zu dem Ergebnis geführt, daß 1. die 
Papillarlinien während des ganzen Lebens unverändert bestehen bleiben, 
2. daß die Mannigfaltigkeit der durch die Papillarlinien gebildeten 
Zeichnungen eine so ungeheuer große ist, daß jeder einzelne Mensch 
an seinen Fingerspitzen ein höchst persönliches Merkmal besitzt. 

Das ist so allgemein anerkannt, daß neuerdings die Polizeibehörden 
der meisten Kulturländer sich der Daktyloskopie zum Zwecke der 
Rekognoszierung von lebenden Personen und von Leichen mit bestem 
Erfolge bedienen. 

Juli 1901 hat E. R. Henry die Daktyloskopie in England einge¬ 
führt (Classification and uses of Fingerprints, London 1901). Es 


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Beitrag zur gerichtsärztlichen Würdigung der Daktyloskopie. 


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ist in London die Zahl der polizeilichen Erkennungen im Jahre 1902 
von 1722 bis auf 9440 im Jahre 1908 gestiegen (Archives d’ anthro- 
pologie criminelle, 1910, p. 314). 

Andere Länder sind gefolgt. In Wien haben sich in dieser Be¬ 
ziehung Windt und Kodizek Verdienste erworben. 

In Hamburg 1905 der Polizeidirektor G. Roscher. — Die Fragen, 
die uns hier interessieren, sind die folgenden: 1. Wie sehen die 
Fingerabdrücke aus, 2. wie machen wir uns am besten die Finger¬ 
abdrücke sichtbar, falls sie undeutlich sind, 3. nach wie langer Zeit 
lassen sich die Fingerabdrücke auf Glas und Papier noch nachweisen 
und welche Methoden sind hierbei die zweckmäßigsten, 4. auf welche 
Weise werden die Fingerabdrücke identifiziert. 

I. Wird mit den durch Schweiß oder Fett feuchten Fingern ein 
Gegenstand berührt, so bleibt der Abdruck der Papillarlinien der 
Fingerbeeren zurück. Diese Abdrücke werden häufig dem Auge 
wenig deutlich, vielleicht auch völlig unsichtbar erscheinen und 
es bedarf dann besonderer Hilfsmittel, sie sichtbar zu machen, wo¬ 
von später :die Rede sein soll. Gut sichtbar werden die Abdrücke 
im allgemeinen sein auf glatten Gegenständen z. B. auf Gläsern, 
Flaschen, Fensterscheiben, auf Porzellantellern und Tassen, auf po¬ 
liertem Holz, Tischen, Stühlen, Treppengeländern, aber auch auf po¬ 
liertem Metall und auf poliertem Leder. Windt und Kodizek *) bringen 
Beispiele von Fingerabdrücken auf einer grünen ledernen Brieftasche 
und auf einer Messingdose. 

Solche Abdrücke können wir als direkte bezeichnen, weil die 
erhabenen Linien der Fingerbeere sich auf dem Gegenstände abdrücken. 
Mitunter finden sich aber auch indirekte Abdrücke oder sogenannte 
Negative. Das wird dann der Fall sein, wenn der Täter z. B. stau¬ 
biges Glas oder staubiges Porzellan berührte. Dann wird der Staub 
an den Stellen, an denen sich die Papillarlinien befinden, abgewischt 
und die übrig bleibenden Staublinien entsprechen dann den Furchen 
in der Zeichnung der Fingerbeere. 

Interessant ist ein von Reiß 1 2 ) erzählter Fall. In dem Neubau 
einer Villa bei Lausanne waren Einbrecher eingedrungen. Nachdem 
sie sich einiges angeeignet hatten, hinterließen sie ihren Kot auf dem 
Parkettfußboden, wie das viele Spitzbuben zu tun pflegen, die aber¬ 
gläubisch sind und die meinen, daß hierdurch die Polizei irregeführt 

1) Daktyloskopie, Lehrbuch zum Selbstunterricht usw. Wien und Leipzig. 
W. Braumüller 1904, S. 106. 

2) Vgl. Niceforo-Lindenau. Die Kriminalpolizei und ihre Hilfswissenschaften, 
S. 147. 

Archiv fftr KriminaUmthropologie. 40. Bd. 21 


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XIL Lochte 


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and sie selbst vor Entdeckung geschützt würden. In diesem Falle 
machten sich die Verbrecher den Scherz einen Kothaufen ans Glaser¬ 
kitt zu modellieren, den sie dann neben dem echten aufbauten. Dieser 
Hänfen wnrde aber zum Verräter, denn sie hatten nicht bedacht, daß 
an dem Glaserkitt der Abdruck ihrer Finger anf das deutlichste zu 
sehen war. In der Tat gelang es dadnrcb die Täter zn entlarven. 

Ein anderer Fall ist mir bekannt geworden, in dem in dem weichen 
Glaserkitt einer neu eingesetzten Fensterscheibe der Fingerabdruck 
des Täters zurückgeblieben war. In einem anderen, von Niceforo- 
Lindenau (S. 148) berichteten Falle brachen im Jahre 1907 Diebe in 
ein belgisches Schloß ein und benutzten eine auf einer Tasse be¬ 
festigte Kerze, die sie dann znrückließen. Einer der Einbrecher geriet 
mit seinem Finger in einen an der Außenseite der Untertasse herab¬ 
gelaufenen, noch flüssigen Stearintropfen. Dieser am Tatort Vorge¬ 
fundene Abdruck war besonders deutlich und bald saß der Schuldige 
hinter Schloß und Riegel. Bemerkenswert ist ein von Hans Groß 
berichteter Fall, in dem es sich um die Beraubung eines Geldbriefes 
handelte (Handbuch für Untersuchungsrichter, München 1904 II, 
Seite 135). Man fand nämlich auf einem der großen Siegel des betref¬ 
fenden Geldpaketes den Abdruck eines Daumens und verschaffte sich 
nun Wachsabdrücke der Daumen aller Beamten, die mit der Sendung 
zu tun hatten (sieben an der Zahl). Ein Vergleich mit dem Siegel¬ 
abdruck bewies mit Sicherheit die Nichtidentität von fünf der Be¬ 
amten und als die Abdrücke der zwei übrigen und das Corpus delicti 
möglichst vergrößert wurde, zweifelte niemand mehr daran, daß nur 
der Daumen des einen den Abdruck auf dem Paket gemacht haben konnte. 

Stockis erwähnt einen Fall, in dem der Täter eine Fensterscheibe 
mit Mörtel bestrichen und dann eingedrückt hatte. Es fand sich an 
ihr der Abdruck des Kleinfingerballens. Das würden Beispiele sein 
von solchen negativen Abdrücken in plastischem Material, also in 
Staub, Glaserkitt, Stearin, Siegellack, Mörtel. 

Der Abdruck kann aber auch auf die Weise zustande kommen, 
daß dem Finger irgend ein fremder Farbstoff anhaftet, der das Muster 
der Fingerbeere abdrückt In einem von mir untersuchten Fall han¬ 
delte es sich um einen Abdruck des mit weißer Ölfarbe verunreinigten 
Fingers, der beim Übersteigen einer Mauer Spuren zurückgelassen hatte. 

Häufig wird die Sache so liegen, daß an den Fingerbeeren Blut 
haftet und der Fingerabdruck ein blutiger wird. Ein ausgezeichnetes 
Beispiel dieser Art an einem Hammerstiel ist in dem Buche von 
Dennstedt und Voigtländer: Der Nachweis von Schriftfälschungen, 
Blutspuren usw. Braunschweig 1906, S. 155, abgebildet. Es kann 


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Beitrag zur gerichtsärztlichen Würdigung der Daktyloskopie. 


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sieb aber auch um ganz anderes Material handeln. Stockig l ) erwähnt 
den Fingerabdruck eines mit Karamel beschmutzten Fingers anf einem 
Papierheft In einem anderen Falle batte der mit Ferrocyan-Kalium 
beschmutzte Danmen auf dem Briefbogen seine Spuren binterlassen. 
Wir sehen also, daß die Fingerabdrücke ans den verschiedensten 
chemischen Stoffen gelegentlich bestehen können. 

In einzelnen Fällen können aber auch die Linienzeichnnngen 
an anderen Stellen der Hohlhand znm Verräter werden. In einem 
kürzlich mitgeteilten Falle genügte der blntige Abdruck der Hand 
anf einem Laken zur Identifikation. Abgedrückt war der kleine 
Fingerballen und der mittlere Teil der rechten Hoblhand nebst Spuren 
des zweiten und vierten Fingers. Es zeigte sich in den gröberen 
Falten eine beweisende Übereinstimmung. Die Überführung des Mörders 
ermöglichte vollends eine deutlich vorhandene kleine Schwiele 2 ). 

Ich erinnere mich eines anderen Falles, in dem der Täter sich 
über ein poliertes Geländer gelehnt hatte nnd anf diese Weise den 
deutlichen Abdruck des rechten kleinen Fingerballens zurückgelassen 
hatte. Derselbe würde zur Identifikation durchaus ansgereicht haben. 
Leider ist der Täter in diesem Falle nicht ermittelt worden. Erinnert 
mag hier auch werden an den Fall von Roztozil (Archiv für Kriminal¬ 
anthropologie und Kriminalistik 1905, Bd. 18, S. 353), wo Finger- nnd 
Handflächenabdrücke gefunden wurden nnd an zwei anderen Fällen, 
die Stockis mitgeteilt hat. (Arcbives de la sociötö de mödecine lögale 
de Belgique 1908.) Es wäre sehr erwünscht, wenn über weitere 
derartige Fälle gelegentlich Mitteilungen gemacht würden. 

II. Soweit die Fingerabdrücke mit bloßem Auge sichtbar sind, 
bedürfen sie im allgemeinen keiner weiteren Behandlung um ver¬ 
größert, photographiert und mit den Fingerabdrücken der verdächtigten 
Person verglichen zu werden. 

Sind sie aber undeutlich sichtbar, so kann man, wenn es sich 
um glatte Gegenstände bandelt, verschieden gefärbte trockene Pulver 
zur Sichtbarmachung anwenden. Sehr deutliche Bilder erhält man mit 
Marmorstaub, Graphit, Ruß, mit verschieden gefärbten Bronzepulvern 
z. B. Argentorat (Silberbronze) oder sogenanntem Karmoisinfluß, mit 
Mennige, Karmin, Kaolin, Indigoblau. Urban empfiehlt Eisenpulver 
(Ferrum alkoholisatum), Roscher Lykopodium mit Karmin, Stockis 
Lykopodium mit Scharlachrot (90:10). Mit diesen Farben wird man 


1) Quelques cas d’Identification: Archives d‘ Anthropologie criminelle et de 
mC‘d. legale. April 1908, S. 6. 

2) Balthazard: Annales d’hygiOne publique. Mai 1909. (ref. in der Ztschr. 
f. Mcd.-Beamte. 1909, S. 487. 

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XII. Lochte 


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im allgemeinen auskommen. Sie werden mittels eines Pulverbläsers 
oder eines feinen Haarpinsels vorsichtig aufgestaubt, den Überschuß 
kann man mit einem weichen Pinsel entfernen. Es treten dann die 
Papillarlinien, soweit Schweiß und Fettreste vorhanden sind, an denen 
der Farbstoff haften kann, deutlich hervor. 

Diese Methode des Einstäubens gibt besonders gute Resultate 
auf Glas. Sind die Fingerabdrücke älter, so kann man alkalische 
Sudanlösung oder alkoholische Sudanlösung oder auch Ziehlsche 
Lösung anwenden. Auch Fluorwasserstoffsäure ist von Forgeot zur 
Sichtbarmachung empfohlen worden. 

Dagegen wird man auf Papier nur dann gute Resultate erhalten, 
wenn es sicli um ganz frische Fingerabdrücke handelt; sobald die¬ 
selben älter als 24 Stunden sind, gelingt es kaum, sie allein durch 
Einstäuben sichtbar zu machen, weil das Wasser des Schweißes ver¬ 
dunstet ist und auch die fettigen Bestandteile soweit in das Papier 
eingezogen sind, daß die trockenen Pulver nicht mehr haften. 

Für solche Fälle kommen im allgemeinen zwei Methoden in Be¬ 
tracht, mit deren Hilfe man sich Fingerabdrücke auf Papier sichtbar 
machen kann. 1. Man setzt die verdächtigen Fingerspuren Joddämpfen 
aus. Es genügt dazu, einige Jodkristalle in ein Becherglas zu tun. 
über dasselbe das fragliche Schriftstück zu decken und mit einer 
Glasplatte zu beschweren. Eis reicht im allgemeinen Zimmertemperatur 
aus, um nach Ablauf einiger Zeit ein deutliches Bild des Fingerab¬ 
drucks zu erhalten. Durch Erwärmen des Glases über der .Spar¬ 
flamme des Bunsenbrenners kann man die Entwickelung der Jod¬ 
dämpfe beschleunigen. Dabei wird man von Zeit zu Zeit einen Blick 
auf das Papier werfen müssen, um den Zeitpunkt festzustellen, bei 
dem der E'ingerabdruck am deutlichsten auf dem Papier sichtbar 
wird. Durch Bestreichen mit 1 Oprozentiger Tanninlösung kann man das 
gewonnene Bild des Fingerabdrucks fixieren. Unterläßt man dieses, 
so blaßt nach einiger Zeit der durch Jod hervorgerufene Fingerabdruck 
wieder ab und das Bild verschwindet vollständig; oder aber 2. man be¬ 
handelt die verdächtige Stelle des Papieres mit verdünnter Tinte, wobei 
die Eisengallustinte den Vorzug verdient vor der Kaisertinte. Die Papillar¬ 
linien werden nach Abspülen mit Wasser deutlich sichtbar bervortreten. 

III. Nun erhebt sich aber die für den Gericbtsarzt sehr wichtige 
Frage, bis zu welchem Alter man die Emgerabdrücke nachweiscn 
kann und welche Methoden bei solchen alten Abdrücken zur Sicht¬ 
barmachung am geeignetsten sind. 

Soviel ich sehe, ist diese Frage bislang nicht genau untersucht 
worden. Es ist darüber nur das folgende bekannt: 


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Beitrag zur gerichtsärztlichen Würdigung der Daktyloskopie. . 325 


Niceforo-Lindenau geben (S. 176) an, daß die Jodmethode bei 
unsichtbaren Sparen die schon mehrere Tage alt sind, wirkungslos 
und daher von keinem großen Nutzen sei. Dieselbe Meinung vertritt 
Locard (S. 178). Ich kann dieser Auffassung nicht ohne weiteres 
beipflichten. Stockis berichtet (Archives d’anthropologie criminelle, 
April 1908) von zwei Fällen, in denen es gelang, auf Trümmern 
einer Fensterscheibe die Fingerabdrücke nachzuweisen, obwohl sie 
nachts über dem Regen ausgesetzt waren. 

Sehr interessant ist die Mitteilung von Forgeot (nach Locard, 
S. 175). Es gelang ihm an Blättern, die zu dem Zwecke anthropro- 
metrischer Messungen der Hände im russischen Armenien gebraucht 
worden waren, nach Ablauf von zwei Jahren die Papillarlinien der 
Eingeborenen mit Hilfe von Tinte zu entwickeln. Er untersuchte 23 
solcher Blätter und konnte an zwei Dritteln derselben die Papillar¬ 
linien deutlich hervorbringen. 

Danach sind die Grenzen innerhalb derer man Fingerabdrücke 
auf Papier nach weisen kann, offenbar sehr weite’). 

Wir werden unterscheiden müssen, 1. ob sich der Fingerabdruek 
auf Glas befand oder 2. auf Papier. 

Um festzustellen, wie lange sich Fingerabdrücke auf Glas halten, 
habe ich Objektträger mit Fingerabdrücken bedeckt und der freien 
Witterung auf dem flachen Dache des Instituts ausgesetzt. Auf jedem 
Objektträger fanden sich drei Abdrücke nebeneinander. Der Versuch 
begann am 6. März 19 tO. Aus dem Protokoll sei das Folgende mit¬ 
geteilt: Im März regnete es an 8 Tagen mehr oder minder lange. 
Im April vom 7. bis 10. leichter Regen, 

am 16. April nachts 2 bis 5 Uhr starker Gewitterregen, 
am 19. bis 24. April mehrfach leichter Regen, 

am 25. April Gewitter mit heftigem Regen¬ 

schauer, 

am 26. bis 28. April mehrfach leichter Regen, 

I. Mai nachts 3 cm Schnee, 

5. bis 8. Mai mehrfach Regen, 

II. Mai starker Gewitterregen, 

14. bis 15. Mai Gewitter mit heftigem Regen. 

Im Laufe dieser Zeit wurde alle 14 Tage eine Anzahl Gläser geprüft. 
& ergab sich am 21. März, daß die Fingerabdrücke größtenteils noch 
so deutlich waren, daß sie hätten photographiert werden können. 

1) Stock» konnte 10 Tage alte Abdrücke auf Papier nach weisen (Annaies 
de la societ6 de MM. legale de Belgique 1906). Diese Arbeit konnte Verf. erst 
nach Abschluß der vorstehenden Untersuchungen einsehen. 


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Am 31. März waren auf den Objektträgern die ersten Fingerabdrücke 
noch deutlich, die zweiten und dritten batten erheblich nachgelassen. 
Es beruhte dies offenbar darauf, daß die ersten Fingerabdrücke am 
meisten Schweiß- und Fettbestandteile enthielten, die zweiten und 
dritten weniger, denn die Fingerabdrücke hatten zwischen dem ersten 
und zweiten und dritten Abdruck die Haut des Gesichts oder des 
Haares nicht wieder berührt und waren aufs neue mit den Absonde¬ 
rungen der Haut nicht in Berührung gekommen. Am 25. April 
ergab sich dasselbe nur noch viel ausgesprochener; nur diejenigen 
Gläser, die mit einem Finger berührt waren, welcher stark mit Fett 
oder Schweiß benetzt war, zeigten gut erhaltene Bilder. Alle übrigen 
waren verwischt Am 17. Mai waren noch zwei Spuren deutlich er¬ 
kennbar. Aus diesem Versuche ergab sich demnach, daß die Halt¬ 
barkeit eines Fingerabdrucks auf Glas abhängig ist von der Fett- und 
Schweißmenge, die beim Zugreifen auf dem Glase deponiert wird. 
Je mehr Fettbestandteile abgelagert sind, um so länger hält sich 
der Abdruck. Er verschwindet um so leichter, je geringer diese 
Menge ist. 

Man wird gegen diesen Versuch ein wenden können, daß es sich 
nicht um natürliche Verhältnisse handelt Fensterscheiben liegen nicht 
horizontal, sie sind vielmehr in vertikaler Richtung dem Einfluß der 
Witterung ausgesetzt Es wurde daher gleichzeitig ein anderer Ver¬ 
such angestellt, in dem an einem nach Osten gelegenen Fenster des 
Instituts eine Fensterscheibe an der Außenseite mit 50 Fingerabdrücken 
versehen wurde. Am 13. Mai, also nach Ablauf von zwei Monaten, 
waren von diesen 50 Fingerabdrücken noch 17 zu erkennen, die der 
Mehrzahl nach die Identifikation ermöglicht hätten. Bemerkenswert 
war, daß die gut sichtbaren Fingerabdrücke fast sämtlich im oberen 
Teile der Fensterscheibe saßen, die unteren waren durch die zusammen¬ 
fließenden größeren Regentropfen abgewaschen worden. Eis wurden 
ferner eine Anzahl von Fingerabdrücken auf Objektträgern im Zimmer 
aufbewabrt. Diese waren nach Ablauf von mehr als drei Monaten 
zwar etwas verstaubt, sonst aber vollkommen deutlich sichtbar und 
ließen sich besonders mit Karmoisinfluß gut einstäuben. 

Ein weiterer Versuch mit Fingerabdrücken auf 25 Objektträgern 
wurde während des Sommers am 2. Juni begonnen. Die Gläser 
wurden der freien Witterung ausgesetzt. Es herrschte Gewitter und 
Regenschauer am 2., 3. und 4. Juni; am 5. Juni waren auf 6 Gläsern 
keine Spuren mehr zu erkennen, am 6. und 7. Juni herrschte wieder 
Gewitterregen. Die folgenden Tage waren wieder sehr heiß, am 
9. Juni waren nur noch auf zwei Gläsern Spuren vorhanden und am 


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Beitrag zur gerichteärztlichen Würdigung der Daktyloskopie. 


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16. Juni, vielleicht schon einige Tage früher, waren die letzten Spuren 
der Fingerabdrücke verwischt. 

Wir sehen daraus, daß der Witterung eine große Bedeutung für 
die Erhaltung der Fingerabdrücke zukommt Starker Hegen, intensive 
Sonnenbestrahlung, Hitze vernichten sie schneller, als das trübe küble 
Wetter gegen Ansgang des Winters und im Frühjahr. Es ergibt sich 
also aus unseren Versuchen, daß die Haltbarkeit eines Fingerabdrucks 
auf Glas davon abhängig ist, 1. wieviel Schweiß und Fett an der 
betreffenden Stelle deponiert ist, 2. daß die Fingerabdrücke sich im 
Zimmer besser halten, als solche in freier Luft nnd im letzteren Falle 
diejenigen besser, die gegen die Einwirkung von Regen nnd Sonne 
geschützt sind, als diejenigen, die der Witterung frei ansgesetzt sind, 

3. daß an den Fensterscheiben die Aussicht größer ist, im oberen Ab¬ 
schnitt Fingerabdrücke zu finden, als im unteren Teile derselben und 

4. daß selbst mehrfacher Regen das Auffinden von Fingerabdrücken 
nicht anmöglich zu machen braucht und daß selbst noch nach ein 
bis zwei Monaten brauchbare Fingerabdrücke gefunden werden können. 

Die weiteren Versuche beschäftigten sich mit der Frage, auf 
welchem Wege ältere Fingerabdrücke auf Papier sichtbar gemacht 
werden können. Es wurden zu dem Zweck zahlreiche Versuche 
unternommen. Es wurden Bogen weißen Papieres genommen, diese 
durch horizontale und senkrechte Linien in Felder eingeteilt von 
etwa 5 cm Länge und 5 cm Breite. In jedem Felde wurde das 
Papier mit der Fingerbeere berührt und auf diese Weise das Material 
zu Versuchszwecken hergestellt. Es wurde dafür gesorgt, daß der 
Finger zuerst sauber gewaschen, dann mit Äther gereinigt und 
dann über das Kopfhaar oder die Haut des Gesichts gestrichen wurde, 
um ihn mit den natürlichen Absonderungen der Haut zu befeuchten. 

Um nicht nur rein fetthaltige Abdrücke zu erzielen, wurde auf 
einzelnen Bogen das Sekret schwitzender Hautstellen z. B. der Stirn 
zur Anfertigung von Fingerabdrücken benutzt. Schließlich wurde 
auch versucht, mit physiologischer Kochsalzlösung, als einer dem 
Schweiß ähnlichen Flüssigkeit solche Abdrücke herzustellen. Es ge¬ 
lingt dies, wenn man einige Tropfen Kochsalzlösung auf Fließpapier 
träufelt und auf das feuchte Papier den Finger aufdrückt. Einige 
natürliche Fingerabdrücke auf Papier besaß ich bereits aus dem 
Jahre 1908. Sie kamen mir bei Ansführung dieser Untersuchung 
zustatten. Die meisten weiteren Proben habe ich in verschiedenen 
Monaten des Frühjahrs 1910 angefertigt Es war von vornherein 
klar, daß auf den Nachweis der Abdrücke von Einfluß sein muß, 
1. die Menge des auf das Papier abgedrückten Sekrets. Je mehr 


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von dem Sekret vorhanden ist, um so leichter wird sich der Abdruck 
nach weisen lassen. Durch zuviel Fett kann aber der Fingerabdruck 
auslaufen und undeutlich werden, ebenso wie durch ein zu weniges 
der Nachweis erschwert sein kann. 2. Die Methoden znm Nachweis 
werden verschieden sein müssen, je nachdem der Fingerabdruck vor¬ 
wiegend aus Fett oder vorwiegend aus Schweiß besteht, 3. würde 
zu erwägen sein, daß die Beschaffenheit des Papiers vor allem die 
Leimung von Einfluß auf die Haltbarkeit des Fingerabdrucks sein 
kann. Dieser Faktor erschien mir aber von untergeordneter Be¬ 
deutung, da fast alle Schreibpapiere Harzleimung mit mehr oder 
weniger Stärkezusatz aufweisen. 

Auf eine Schilderung der zahlreichen Vorversuche soll hier nicht 
eingegangen werden. 

Es genügt das Ergebnis dahin zusammenzufassen, daß der Finger¬ 
abdruck auf Papier eine Schrift mittelst einer Geheimtinte 
im wahrsten Sinne des Wortes darstellt und daß diejenigen Methoden, 
die zur Entwickelung von Geheimschriften dienen, auch für die Sicht¬ 
barmachung der Fingerabdrücke auf Papier von Erfolg begleitet sind. 
Als Geheimtinten werden bekanntlich Speichel, Milch, Harn, Seifen¬ 
wasser, aber auch allerhand Salzlösungen, Kochsalzlösungen, ja selbst 
reines Wasser verwendet. Der Schweiß oder eine Mischung 
von Schweiß mit Fett bzw. Fettsäuren muß selbstver¬ 
ständlich auch als eine Geheimtinte angesehen werden. 
Zum Zweck der Sichtbarmachung kann man 1. Gase oder Dämpfe 
anwenden, 2. Flüssigkeiten, 3. Hitze mit oder ohne Zusatz eines 
trockenen Farbstoffes. Zu 1. würde die Anwendung von Joddämpfen, 
ferner von Osmiumdämpfen zu rechnen sein, zu 2. die Anwendung 
von 10- oder 20proz. Höllensteinlösung, falls die Fingerabdrücke 
vorwiegend aus Schweiß bestehen, ferner die Anwendung der ver¬ 
schiedensten Farbstoffe, von denen die Tinte am leichtesten zur Hand 
ist Wir müssen uns vorstellen, wie das Dennstedt und Voigtländer 
in dem oben genannten Werke: Der Nachweis von Schriftfälschungen 
usw. S. 122 auseinandersetzen, daß alle auf das Papier gebrachten 
Salzlösungen, und dazu gehört natürlich auch der Schweiß, gewisser¬ 
maßen als Beize für organische Farbstoffe wirken. 

Auch Erythrosinlösungen haben mir gute Dienste geleistet Zu 
3. würde die Anwendung des heißen Plätteisens gehören, wobei das 
Papier bis zur Verkohlung schnell erhitzt werden muß. Es treten 
dann die Abdrücke leichter hervor, weil das Papier an den benetzt 
gewesenen Stellen leichter verkohlt als an den anderen. Man kann 
die Wirkung der Hitze mit derjenigen eines Farbstoffes verbinden, 


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Beitrag zur gerichtsärztiichen Würdigung der Daktyloskopie 329 


z. B. kann man das Papier über einer leicht rußenden Lampe 
schwärzen, dann treten infolge der Hitze und des Niederschlages von 
unverbrannten Kohlebestandteilcben die Papillarlinien deutlich hervor. 
Besonders gute Dienste hat mir auch der Karmoisinfluß geleistet. 

Bestreut man die verdächtigen Stellen des Papiers mit Karmoisin¬ 
fluß und erhitzt das Papier über der Sparflamme des Bunsenbrenners 
bis zur beginnenden Gelbfärbung, so treten, wenn man danach das 
überschüssige Pulver abklopft (ein Pinsel darf dabei nicht benutzt 
werden), die Fingerabdrücke auf das deutlichste hervor 1 ). 

Da die Beschaffenheit der Fingerabdrücke je nach Art und 
Menge der abgelagerten Stoffe (Fett- und Kochsalz) und je nach 
dem Alter verschieden sein wird, werden auch die Methoden, die 
man in Anwendung bringen muß, verschieden gewählt werden müssen. 

Papillarlinien auf Papier vom 26. April 1908 konnten mit Hilfe 
von Joddämpfen zum Teil noch am 11. März 1910 hervorgerufen 
werden. Sie ließen sich aber nicht fixieren. Fingerabdrücke vom 
10. Februar 1910 waren am 30. Juni noch gut sichtbar mit Hilfe 
von Joddämpfen, desgleichen am 28. Jnli, also nach b x .h Monaten. 
Augenscheinlich handelt es sich hier um fetthaltige Abdrücke und 
nicht um solche, die vorwiegend aus Schweiß bestanden; die mit 
Schweiß hergestellten Fingerabdrücke ließen sich nach dieser Frist 
mit Joddämpfen nicht mehr hervorrufen. 

Ein am 9. Februar hergestellter Fingerabdruck konnte am 1. April 
mit Hilfe von Osmiumdämpfen noch so gut entwickelt werden, daß 
er eine brauchbare Photographie ergeben hätte. Zwei Jahre alte 
Fingerabdrücke kamen nicht mehr deutlich zum Vorschein. 

Fingerabdrücke, die am 6. März hergestellt waren, konnten am 
3. Juni mit Hilfe von Erwärmung und Karmoisinfluß vollkommen 
deutlich hervorgerufen werden. Desgleichen solche vom 9. Februar 
am 5. Juni, also nach Ablauf von ca. 4 Monaten. 

Daß Tinten im allgemeinen sehr gute Resultate geben, ist nicht 
zu bestreiten. Für gerichtliche Zwecke scheint mir dies Verfahren 
aber wenig empfehlenswert. Ich würde der Anwendung von Jod 
zunächst den Vorzug geben, um so mehr, als Jod später wieder an der 
Luft verdampft und das Schriftstück in seinem Aussehen nicht ver¬ 
ändert wird. Kommt man mit der Jodmethode nicht zum Ziel, so 
wäre die Anwendung von Osmiumdämpfen zu versuchen; falls auch 
diese keine Resultate ergeben, würde es von der Art des Dokumentes 
abhängig sein, ob man von der Erhitzung mit einem Farbstoff, oder 

1) Besonders deatlich treten Schriftzüge nach diesem Verfahren hervor, 
wenn als Geheimtinte Milch benutzt wurde. 


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330 


XII. Lochte 


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von der Anwendung der Tinten Gebrauch machen will. Man wird 
von solchen Mitteln nur nach Rücksprache mit dem Richter Gebrauch 
machen dürfen. 

IV. Hat man sich den Vorgefundenen Fingerabbdruck sichtbar 
gemacht und photographiert, ev. unter Zuhilfenahme eines Streifens 
Millimeterpapier, um den Grad der Vergrößerung genau feststellen zu 
können, so ist es nun erforderlich, von der verdächtigten Person einen 
vergleichbaren Fingerabdruck zu nehmen. Man wird dabei so Vor¬ 
gehen, daß man, wie es allgemein bei den Polizeibehörden üblich ist, 
den mit Seifenwasser gewaschenen und mit Äther gereinigten Finger 
auf einer mit Druckerschwärze bestrichenen vollkommen ebenen 
Metallplatte ohne starken Druck abrollt und dann den Finger auf 
sauberem weißen starken Papier abdrückt. Bei diesem Verfahren 
wird man ein gut vergleichbares Bild erhalten, das man durch Photo¬ 
graphieren in derselben Weise vergrößern kann, wie das am Tatort 
gefundene. Der einzige wichtige Fehler, der unterlaufen kann, wird 
darin bestehen, daß der Fingerabdruck ein verzerrtes Bild zeigen 
kann, je nachdem der Finger mehr von der rechten oder linken Seite 
stärker gedrückt wurde. Wenn wir nun weiter fragen, wie die Iden¬ 
tifikation zweier Abdrücke zu geschehen hat, so werden wir nach 
Anfertigung der Photographien, die am besten in fünf- bis siebenfacher 
Vergrößerung herzustellen sind, zu vergleichen haben, 1. das Muster, 
2. die Zahl der charakteristisch identischen Punkte, 3. die Zahl der 
zwischen zwei identischen Punkten belegenen Papillarlinien, 4. die 
vorhandenen Anomalien, vor allem etwaige Narben. Man bat aus¬ 
gerechnet, daß die Bilder von 27 bis 55 verschiedene Vergleichs¬ 
punkte bieten können. Je größer die Zahl der identischen Punkte 
ist, um so sicherer darf man annehmen, daß die verglichenen Finger¬ 
abdrücke identische sind. 

Es ergibt sich nun aber die weitere Schwierigkeit, daß nicht 
immer vollständige Fingerabdrücke vorliegen, daß z. B. die Hälfte 
des Abdrucks verwischt und unbrauchbar ist. Wenn wir an den 
vorhandenen Bruchstücken nur fünf oder sechs identische Punkte 
finden, dürfen wir auch dann von Identität sprechen? 

Locard sagt (S. 186): „Gegenwärtig verfertigt man in den Labo¬ 
ratorien von Bertilion in Paris, von Reiß in Lausanne, und von 
Stockis in Lüttich sehr stark vergrößerte Photographien, auf denen 
die geringsten Details in beträchtlicher Vergrößerung erscheinen.“ 

In der Tat ist dies der einzige Weg um in solchen zweifel¬ 
haften Fällen zum Ziele zu gelangen. Man gewinnt nämlich durch 
die Anwendung starker Vergrößerungen eine große Anzahl neuer 


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Beitrag zur gerichteärztlichen Würdigung der Daktyloskopie. 331 


Vergleichspunkte. Es werden die Punkte der Sch weißdrüsenmün- 
dungen deutlich und ihre Entfernungen von einander, es kommen 
bisher nicht sichtbar gewesene Unregelmäßigkeiten in den Konturen der 
Linien zum Vorschein, es lassen sich die Entfernungen zweier Linien an 
verschiedenen Stellen messen, man kann die Linienführung vergleichen. 

Schon Reiß hat in Vorschlag gebracht, die vergrößerten Finger- • 
abdrücke übereinander zu legen und ev. mit Hilfe des Projektions- 
appartes zu betrachten. Verfeinern kann man die Methode dadurch, 
daß man von der einen Platte ein Negativ, von der anderen ein 
Positiv anfertigt Es lassen sich dann, wie die besonders von Herrn 
G. Hausmann (optische Werkstätte von Winkel) vorgenommenen 
Untersuchungen ergeben haben, die geringsten Abweichungen auf den 
ernten Blick erkennen 1 ). 

Stockis hat bezüglich der Deckmethode die Bemerkung gemacht, 
daß sie in der Praxis oft versagen wird, weil das Bild des Finger¬ 
abdrucks etwas verzerrt wird, je nachdem die Fingerbeere mehr von 
rechts oder links aufgesetzt wurde. Ich glaube nicht, daß diesem 
Einwande große Bedeutung zukommt. Denn, wenn man einen der¬ 
artigen Verdacht hat, steht es frei, von der verdächtigten Person sich 
einen entsprechenden Abdruck zu verschaffen. Vor allem ist es 
aber, wie wir oben gesehen haben, nicht notwendig, in jedem Falle 
den ganzen Fingerabdruck zu vergleichen. Es genügen einzelne 
Teile desselben und selbst bei schräg aufgesetztem Finger werden sich 
immer genügend Stellen finden lassen, die einen Vergleich ermöglichen. 

In geeigneten Fällen kann man von der Anwendung des Stereos¬ 
kops Gebrauch machen. 

Neuerdings hat Stockis eine Methode angegeben, um natürliche 
Fingerabdrücke auf Glas, auf polierten Gegenständen und auf 
Spiegeln zu photographieren (mäthode d’ßclairage convergent.) 2 ). 
Es würde an dieser Stelle zu weit führen, näher darauf einzugehen. 

Fassen wir das Ergebnis dieser Untersuchungen zusammen, so 
ergibt sich, daß das Auffinden von Fingerabdrücken am Tatort 
kriminalistisch von großem Wert ist. 

Die Polizeibeamten sollten im Unterricht auf die Bedeutung der 
Fingerabdrücke hingewiesen werden und im Aufsuchen von Finger¬ 
abdrücken besonders geübt werden. 

Vorteilhaft wird man sich dabei der Methode des Einstäubens 
bedienen, besonders in den Fällen, in denen die Fingerabdrücke nur 

1) Lochte; Berichte der Deutschen Gesellschaft für gerichtl. Medizin. Köln 1908. 

2) E. Stockis: Nonveile methode d’examen et de photographie des Em- 
prcintes digitales incolores: Archives internationales de m£d. legale. April 1910. 


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332 


XII. Lochte 


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vermutet werden oder dem bloßen Auge undeutlich sichtbar sind. 
Wo sie aber einigermaßen zu erkennen sind, sollten die betreffenden 
Gegenstände asserviert werden und zur weiteren Untersuchung in 
ein geeignetes Laboratorium gebracht werden, in dem hinreichend 
photographische Hilfsmittel zur Verfügung stehen, und in denen der 
Polizeiarzt oder Gerichtsarzt die notwendigen Vergleiche vornehmen 
kann. Nur so wird es sich erreichen lassen, die geschilderte Methode 
einwandfrei für das Gericht zu verwerten. Für die Gerichtsver¬ 
handlung ist nach dem Vorschlag von Hans Groß durchaus zu 
empfehlen, die vergrößerten Fingerabdrücke mittelst eines Projektions¬ 
apparates nebeneinander und womöglich auch nach erfolgter Deckung 
zu projizieren. 

Anschließend an diese Mitteilung soll noch kurz auf einen 
Punkt eingegangen werden, der neuerdings Interesse beansprucht bat 

Nachdem bereits Reiß für das Portrait parle einen code tölö- 
graphique veröffentlicht hatte, batte Icard in Marseille versucht, das 
daktyloskopische Signalement ebenfalls auf telegraphischem Wege 
durch Zahlen zu vermitteln. So geistvoll ersonnen diese Methoden 
sind, so bedeuten sie, wie ich glaube, keinen Fortschritt Wir würden 
Telegramme von großer Länge versenden müssen, um alle wichtigen 
Maße zum Ausdruck zu bringen. Die Telegramme würden also teuer 
sein. Da ferner Telegramme verstümmelt werden können, vor allem 
solche, die aus vielen Zahlen bestehen, so dürften sie zum Erlaß 
eines Haftbefehls oder zur Entlastung einer verdächtigten Person 
kaum eine genügende Unterlage bieten. Eher dürfte zu erwägen 
sein, ob man nicht von der Fernphotographie der Fingerabdrücke 
Gebrauch machen könnte. Die Übertragung des Musters mit allen 
Einzelheiten würde heutzutage keine Schwierigkeiten bereiten. Aller¬ 
dings müßten dann die Polizeibehörden in größeren Städten mit den 
entsprechenden Einrichtungen versehen werden und in der Lage sein, 
vergrößerte Fingerabdrücke schnell auf eine Metallfolie übertragen 
zu können. 

Ob derartige Einrichtungen wirklich nützlich und somit not¬ 
wendig sind, darüber kann nur die Praxis entscheiden. 

Literatur. 

Vgl. A. Korn: Pie Entwicklung der Bildtelegraphie. Fortschritte der 
naturwissenschaftlichen Forschung, herausgegeben von E. Abderhalden. Urban 
u. Schwarzenberg. 1910, S. 177—194. 

E. Locard: L’Identification der Räcidevistes. Paris. Maloine 1909. 

AI ix: Disposition des lignes papillaires de la main et du pied. Annales des 
Sciences naturelles. 5 Serie. Zoologie 1867. t. VIII, p. 295. 


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Beitrag* zur geriehtsärztlichen Würdigung der Daktyloskopie. 


333 


KamilloWindt u. P. Kodicek: Daktyloskopie: Verwertung von Finger¬ 
abdrücken zu Identifizierungszwecken. Wien. Braumüller 1904. 

G. Roscher: Handbuch der Daktyloskopie. Leipzig. Hirschfeld, 1905. 
Lochte: Zur Identifikation daktylokopischer Bilder. Verhandlungen der 

IV. Tagung der Deutschen Gesellschaft f. gerichtl. Medizin in Köln. 

Severin Icard: La form ule chiffröe du portrait parle u. La Fiche-numero 
et le Registre Digital. Archives d’anthropologie criminelle, de medecine lögale 
et de Psychologie normale et pathologique. 1909. 

Aug. Stockis: Quelques Recherches de polices scientifique Annales de la 
sociötö de Med. legale de Belgique 190S. 

Etudes dactyloscopiques. la dömonstration ä Taudience de Tidentite de deux 
empreintes digitales; daselbst 1908. 

E. R. Henry: Classification and uses of Finger Prints. London 1905. 

R. A. Reiß: La photographie judieiaire. Paris, Mendel 19o3. 
Niceforo-Lindenau: Die Kriminalpolizei und ihre Hilfswissenschaften. 
Gr.-Lichterfelde: Langenscheidt. 

W. Urban: Kompendium der gerichtl. Photographie. Leipzig, Hemnich 

1910. 

Balthazard: Annales d’hygiene publique. Mai 1909. ref. Ztschr. f. Med- 
Beamte 1909. p. 4S7. 

H. Groß: Handbuch für Untersuchungsrichter. München 1904. 

Roztocil: Archiv für Kriminalistik u. Kriminalanthropologie. 1905. 
Dennstedt u. Voigtländer: Der Nachweis von Schriftfälschungen, Blut¬ 
spuren usw., über Geheimtinten. S. 122—127. Braunschweig, Vieweg 1906. 

E. Stockis: Nouvelle möthode d’examen et de Photographie des Em¬ 
preintes digitales incolores. Archives internationales de Mödeeine lögale. April 
1910. 

Koettig: Zur Ehrenrettung Galtons und Sir Henrys. Archiv f. Kriminal¬ 
anthropologie 1909. 33 Bd., S. 1«>5. 

E. Stockis: Quelques proeödös nouveaux pour reveleret fixer les empreintes 
sur le papier. (Annales Soc. Med. leg. de Belgiques 1906). 


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XIII. 


Über die Verwertung daktyloskopischer Gutachten 

vor Gericht. 

Von 

Polizei-Oberkommisöär Dr. Eiohberg in Wien. 

(Mit 6 Abbildungen.) 


Mit Unrecht sehen Laien in der Daktyloskopie etwas Schwieriges, 
Kompliziertes im Hinblick auf die allerdings gründliche Sachkenntnis 
erforderliche Arbeit der Registrierung der Fingerabdruckkarten. Aber 
man muß bedenken, je mehr Unterabteilungen wir in der Registratur 
schaffen, um so weniger Karten haben wir in einer Abteilung und 
desto schneller finden wir eine Karte. Und das ist doch bei einer 
Registratur die Hauptsache. Möge jeder nach seinem eigenen System 
registrieren, wenn er nur in der Lage ist, rasch zu konstatieren, ob 
die Fingerabdrücke eines Individuums schon in seiner Sammlung 
enthalten sind oder nicht Der Kompliziertheit der Registrierung steht 
gegenüber die Leichtigkeit der Identifizierung eines Fingerabdruckes 
oder einer Abdruckspur mit den Fingerabdrücken eines bestimmten 
Individuums. Diese Identifizierung ist für jeden, der sich nur einiger¬ 
maßen mit den Typen der Fingerabdrücke vertraut gemacht, so leicht, 
daß es befremdend erscheint, daß dieses überaus charakteristische und 
sicherste Identifizierungsmittel bisher selbst für kriminalpolizeiliche 
Zwecke noch immer nicht die seiner großen Bedeutung entsprechende 
Anwendung gefunden hat Der sehr übliche Vorgang, lediglich Photo¬ 
graphien zur Identifizierung zu verwenden, entspricht seiner Bestim¬ 
mung nur in unvollkommener Weise, besonders dann, wenn die photo¬ 
graphischen Aufnahmen nicht nach dem System Bertilions erfolgen. 
Und wie wollte man in jeder kleinen Gemeinde Photographien nach 
diesem System erhalten? 

Die Erfahrung zeigt dagegen, daß jeder Gemeindewachmann in 
der Lage ist, brauchbare Fingerabdrücke eines Schüblings, unbekannten 
Häftlings usw. herzustellen. Wenn diese Fingerabdrücke auch manch¬ 
mal zu wenig „gerollt“ sind oder durch zu starkes Bestreichen der 
Finger mit Druckerschwärze oder zu starken Druck verwischt er- 


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Über' «tte Verwertung daktyloskopisehor Gutachten vor Gericht 53o 


scheinen, sc» macht doch Übung’ auch hier nach kurzer Zeii den 
Meister. Die hervorragende Bedeutung, welche die X>»fe^ypie 
.heute, für das Strafverfahren bat, wird allseitig anerkannt und sowohl 
Genabte- als Fol«eihehörden 
haben volles Vmrtiindöis für 
•sie- Wird ja beispielsweise der 
Nachweis der Identität eines 
eben • y«tf}i^l^te9-; \m|t' eilajem W 
reite iti Evidenz stehende» vor- 
bestraften Individuums in eben 
so rascher als bequemer Art 
durch Vergleichung der Finger¬ 
abdrücke bergest eilt, und da¬ 
durch oft langwierige Korre- 
epondfinzeo und Requisitionen 
vflü Vqrttkten erspart. Dem 
Eigeunertvesen kann man erst 
seit Einföhrnng der Daktylos¬ 
kopie erfolgreich an den Leib 
titekec. Denn da ganze Zigeu- 
tterb&udea sieh oft aasVer- 
hreeheru zusanuttensetzen, von 
deeen bet jedesmaliger' Auf- 
«neifnng $i*er den Simen des 
Änderen vqrscbützt, und da die 
hetreffürtdea Heimatsgemeiodeo 
iwstreht smd. die Zügehörigkeit 
*o unangenehmer Gemethdeinit- 
giiieder; Äbzulehneiii war ein« 
hieöiifixiertmg verhafteter Zi- 
izeitnei außerordentlich schwie¬ 
rig. Hit Rücksicht auf digriwäi- 
erlittenen, aber nicht nachweis 
kamt Vorstrafen dop Verhaft*?- 
^n, war oft die Erhebüug einer 
Anklage wegen Oewohnheita- 
dfebstabte eben 


Fic, 1. 

(äfÄKstun: mH- •nUi^örutij.mir Fiö|f&{4 

!Ü!»Jrt»tkSjl)WV,V,-'' ...’ y'.- V; 


so unmöglich, 

sie ihre- Altsclutffnng oder Landesj^rwukmng, da die «sterroitihikchcn 
fowte* ausdrücklich verlangen, daß der Abschaffung die .Feststetag 
der Zuständigket». vorauszugehen habe. Erst seit «‘inigen -Jubren findet 
i Strafverfahren die Verwertung von am Tatorte eines Verbrechens 


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XIII. En nnriu 


:yörpjfaöit^t‘jfy «ml riaiidapdrix’-kspu'ren. «»« 

Nachmi? der Tjittund «war mit immer größerer»' -Krfolfre. 
■ Die .Erkeimmifc d*>r der Sidimutg von Alrtlrackspnren 

iei in «o;■ ;w«ife,. : 'K-reise gedmMre«/ daß der TÄtigfeit de$ Tfcifefyjt*- 
sTcopen wjrii 


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. t&JdHR/ii&H 


LtnV*> HftO<3 


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und imrn ie-muh;. alk-*- /.n vermeiden. was die VenverJun^ yer- 
me.i»«iii‘iii ; i Spur-Ö tfe Tidei* ifreiiudiebtigen konnte. AUerditiga jcitil 
H hi<-r pP lii ii. rc Z .V( •. h< üfiiile. dd‘ die'Sndd. tUn-rad AbdruekspureK 
m wittern. A«pdfP krhieite« \*ir iwifiji.u£&- .^ni/eiöftrA/ißinW^Ö^r 
am Tarm-ie ^iüfUidv-. d-.- ü«- *'iei*«>jj- und Kiiwreste .zwecks t'utep: 
mi*’'I'»iu:.v /);>■ I. APdrind^pm-eo.; und vn«> Uufijs werden nur'ns dem* 







f'lier tito Vot werfuug daktyloskopischer Uivtmihton vor (ii-nciif. 337 

lieh sichtbare Fat flecke s*uf Papier für latente. Fingerabdrücke gehalten. 
Die Technik der Er^itiitiiidiniaebang latenter Fingerabdrücke ist durch 
verschiedene Lehrbücher so bekannt geworden, daß wir der Mühe 
enthoben sind, sic ' rieae'rlkh eitlem za müssen. Wir könne» sie als 
bekannt voraussetzen. .Nicht $o-.allgemein bekannt dagegen ist die 
Form der Abfassung eine* Gutachtens über die Identität Vorgefundener 
Ab^ekbpaj^f mj£d£p Finger- oder '0aö«febdräQfe^^^Mi|pöfefi 
Person. Diese Gutachten stürzen sich auf Tableaus, welche zur Illu- 
siratio» beigegeberj 'werden, Auf dem ersten Tableau-• 'bringen wir 


Fig. ?. ,'N. : ',y. ' 

Auf dem G\ü**iurz(> ^uf^etmUh^ei 
«ibdruckajiiu. 


F ifr, 4 

ig'mälabdruck ttea- linken 
Mittült’iu^org des ,f. F. 


scheint in natürlicher Große Hier Original-Finger* - oder Uandabdruck 
des Tüte re, in -welchem auf diejenige Partie. weiche »i«‘ir dev Abdruck* 
spur verglichen werden soll, durch eine Umrahmung ih-"fart. ; (g*?fi Linien 
aufmerksam gewacht wird. -<Fig, 2.i Ira.aWeifen Tableau .erscheint die 
photographische Reproduktion der Atidraekspuri und daneben die 
photographische Reproduktion des Original-Hand- oder Fingerabdruckes 
in natürlicher GröBe dargestelli. DNg, .'V und 4.) (ni dritten Tableau 
ist die photographische Vergrößerung der Abdruckspur und daneben 
die im gleichen 51 aßstabe vorgenomincne Vergrößerung des Örigi nab 
Baud- oder Fingerabdrucke« micMJieh. 'Fig. 5 und 6.) ln diesem 

ATcJyi« für Kr* hj ui*.i .1 fs t hropote jf Iw t B<J, 2* 




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5111, EichrbbU 


Tableau werden nun. die Vorgefundenen Detail« in den Papillarlinien 
mittelst Hilfslinien und Ziffern bezeichnet und zwar je n&eh ihrem 
Charakter. 


I ütl V- 
EtuLr*- 
En< 16 - 
Emi>- 


pr^ 


m l • 


Fi S ..5. 

PhottigrBpHsdfÄ V^TvTi'BDruiig dfcr auf dem Gi'tt&furae jiafgeiuideßt'*? 

Finr^biiruck^pur. 


1, als Endung, das ist das plötzliche AuOiöreö von Papillarlinien. 

2. als Gabi-lang, da« ist das Abzweigen je eines Papiliarlinienaates 
von einer Pypiilarlmie, 

'St; als Einlaget ungv< 
i. als in&el. 






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)ricträl frc-m 


JNlVEfil 





vw Gericht. 339 


Nun wird ihre tage, und Entfernung untereinander analysiert 
und zum Schlüsse aus der Übereinstimmung der Details sowohl der 
Zahl, der Lage, der Form und Entfern ang nach uni den Details des 


1 % 6 . 

f > he(., ? ia f ,j,-. P cln- VurtrrHßeStiü^ <W M.Ogi.o.i)a«.><inj.‘fc< 0 -j? Unken Mmtlui.eers Jt* J. T. 

der Ahdrneksparfen mit dem hezvichneten Finger- oder Handabdrucke 
erkannt.Fi Zur HjüStratSon Igsseti wir drei derartige Tableaüs folgen. 
Eine Verlesung eines dAktyloskoiwsehec 0 machten* vor Gericht 
durch den Sachverständigen selbst ist wohl nach der St.P.O, ansge- 


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Original früm 

RSITY OF MICHIGAN 




340 


XIII. Eichberg 


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schlossen. Aber sie würde auch sonst nicht anznempfehlen sein; 
denn die monotone Aufzählung aller Details würde den Richter und 
die Geschworenen ermüden, ohne sie zu überzeugen. Es empfiehlt 
sich, da ja vielen Geschworenen das Wesen der Daktyloskopie voll¬ 
ständig unbekannt ist, einem solchen Gutachten einen Rückblick über 
die Entwicklung der Daktyloskopie vorauszuschicken, in welchem 
auch darauf aufmerksam zu machen wäre, daß die Daktyloskopie 
nicht in der stillen Stube eines Gelehrten erfunden wurde, sondern 
lange bevor sie Männer der Wissenschaft in ein System gebracht 
haben, bei vielen Völkern des Orients als Identifizierungsmittel in Ver¬ 
wendung stand (Indien, China usw.). Nun werden die Unveränder¬ 
lichkeit der Papillarlinien eines Menschen von seiner Geburt bis zu 
seinem Tode besprochen (Hinweis auf deutliche Papillarlinien bei 
nicht verwesten Leichen und selbst bei Mumien) und die Typen der 
Papillarlinienmuster unter Vorweisung von Illustrationen (Vergrößerung 
von Fingerabdrücken) kurz angeführt. Es ist von Vorteil, vor der ein¬ 
gehenden Besprechung des Falles eine genügende Anzahl von Dupli¬ 
katen der Tableaus 2 und 3 an Richter, Staatsanwalt, Verteidiger 
und Geschworene zu verteilen, damit sie den Ausführungen des Sach¬ 
verständigen leichter folgen können. Einige besonders charakteristi¬ 
sche, leicht erkennbare Details werden nun hervorgehoben und genau 
besprochen, und es empfiehlt sich, den Gerichtshof und die Geschwore¬ 
nen zu veranlassen, selbst an der Hand der Tableaus die Zahl der 
Papillarlinien, welche die einzelnen Details voneinander trennen, nach¬ 
zuzählen. Hierzu werden stärkere Nadeln mit Griffen verwendet. 
Dadurch läßt sich am ehesten das Verständnis für das Gutachten des 
Sachverständigen wachrufen. Da die Vergrößerung der Abdruckspur 
und der damit übereinstimmenden Partie des Original-Finger- oder 
Handabdruckes manchmal ein etwas verändertes Bild geben wird, muß 
aufklärend bemerkt werden, daß der im Erkennungsamte mit aller 
technischen Sorgfalt hergestellte Fingerabdruck einer Person, welcher 
zur Vergleichung herangezogen wird und der am Tatorte von der¬ 
selben Person unwillkürlich hervorgerufene Fingerabdruck nur dann 
in allen Details ein Bild von gleicher Anschaulichkeit geben werden, 
wenn sie unter denselben Verhältnissen zustande gekommen sind, 
d. h. auf demselben Materiale, mit derselben Kraftanwendung usw. 
Ein Fingerabdruck wird nämlich auf grober Leinwand anders er¬ 
scheinen als auf glattem Papier, glänzend poliertem Holz oder Glas. 
Ebenso macht ein durch die Hautsekretion erfolgter latenter Finger¬ 
abdruck einen anderen Eindruck als der durch Beschmieren der Finger 
mit Druckerschwärze auf der Fingerabdruckkarte bewirkte Abdruck. 


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Uber die Verwertung daktyloskopischer Gutachten vor Gericht. 341 


Bei der Vergrößerung der Abdruckspur wird auch der Untergrund 
(grobe Leinwand, Holzstruktur) mit vergrößert, was den Eindruck 
der Abdruckspur beeinträchtigen muß. Darauf muß vor Gericht hin¬ 
gewiesen werden, um nicht überflüssigen Einwendungen Raum zu 
geben. Um den Gerichtshof und die Geschworenen von der Verlä߬ 
lichkeit des Verfahrens zur Ersichtlichmachung latenter Fingerabdrücke 
zu überzeugen, empfiehlt es sich, dieses Verfahren mit einem mit¬ 
gebrachten Stücke polierten Holzes oder Glases zu demonstrieren. 
Das überraschend deutliche Hervorspringen der bis dahin unsichtbaren 
Fingerabdrücke wird das Vertrauen in das daktyloskopische Verfahren 
festigen und der Gerichtshof und die Geschworenen werden mit Be¬ 
ruhigung an die Abgabe ihres Votums schreiten. 

Noch sachdienlicher als die obenerwähnte Beteiligung des Gerichts¬ 
hofes und der Geschworenen mit daktyloskopischem Pbotogrammen 
wäre meines Erachtens deren Vorführung im Gerichtssaale durch 
einen Projektionsapparat bei verfinstertem Zuscbauerraume. Die Er¬ 
stattung eines Gutachtens würde dadurch außerordentlich gewinnen, 
wenn der Sachverständige die Details allen gleich sichtbar auf der 
Wand demonstrieren könnte. Ist doch die Verwendung des Skiopti- 
kons bei wissenschaftlichen Vorführungen heute schon derart gebräuch¬ 
lich, daß ich dem Bedenken, es könnte die Würde des Gerichtssaales 
durch eine derartige Schaustellung beeinträchtigt werden, nicht bei¬ 
pflichten kann. 


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XIV. 


Über Fußspuren. 

Von 

eand. iur. Wilhelm Polzer, Graz. 

(Mit 3 Abbildungen.) 

Das Aufsuchen und Verwerten von ßlutspuren gehört wohl zu 
den wichtigsten aber auch schwierigsten Aufgaben, die dem Unter¬ 
suchungsrichter gestellt sind. Daher will ich im folgenden ein neues 
theoretisches Verfahren zur Verwertung der einzelnen Fußspuren eines 
Gangbildes’) erklären. 

Schablonenverfahren zur Verwertung der einzelnen 
Fußspuren eines Gangbildes. 

Um meine Methode an einem praktischen Beispiele zu erklären, 
habe ich aus Leimwasser und Kienruß eine der Konsistenz des Blutes 
möglichst ähnliche Flüssigkeit bereitet und damit zwei Gangbilder 
(A und AO auf weißem Papier erzeugt (Ursprünglich nahm ich frisches 
Tierblut zur Herstellung des Gangbildes; da aber schwarze Fußspuren 
besser zu photographieren sind als schwacbrote, wählte ich die fast 
schwarze Mischung). Diese beiden Gangbilder sind einander nahezu 
gleichgemacht, jedoch das linke (Gangbild A) ohne und das rechte 
(Gangbild AO mit Verwertung des Scbablonenverfahrens. Dessen 
praktische Bedeutung wird sofort klar, wenn man die beiden Gang¬ 
bilder nebeneinander betrachtet. Geben nämlich die Schritte 
gleichmäßig weiter (wie von t—10, 22—29 usw. in Figur A 
und AO, so wird man sich auch ohne Zuhilfenahme meiner Methode 
auskennen, anders aber bei den Schrittgruppen m, n und o. 

Betrachten wir zunächst nur das Gangbild A (indem wir das 
andere verdecken) und versuchen wir daran die Aufeinanderfolge der 
einzelnen Tritte zu bestimmen. Dazu muß man wissen, welcher Schritt 
ein linker und welcher ein rechter ist Das ist leicht zu beantworten, 
wenn die Fußtapfen regelmäßig liegen, wie z. B. die Schritte 

1) Darunter versteht man die Gesamtheit der Eindrücke, welche ein in Be¬ 
wegung Begriffener im aufnahmefähigen Boden zurückläßt (Prof. Dr. Hans Groß, 
Handbuch für Untersuchungsrichter „Über Fußspuren, und andere Spuren*). 


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Über Fußspuren 


Gangbilt] A GjtngbÜd 


Gangbild A- Gangbild A‘ 


Aofnng tah %. H 


Portseixuae dea nebenstehenden 


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344 


XIV. W. Polzer 


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1—10 Fig. A'. Die Sohlenabdrücke mit den Ziffern 1, 3, 5, 7, 9, 11 
sind Abdrücke des fortschreitenden linken Fußes, die mit den 
Ziffern 2, 4, 6, 8, 10 versehenen Tritte sind Abdrücke des fortschrei¬ 
tenden rechten Fußes. Das wird jeder Betrachter des Gangbildes 
sofort sagen können. So kommen wir znr Gruppe m, die ebenso ein 
Durcheinander von Tritten darstellt wie die Gruppen n und o. Dem 
Beschauer drängt sich gleich die Frage auf, wieso die Sohlenabdrücke 
hier auf einmal durcheinander liegen und warum auf einem verhältnis¬ 
mäßig so kleinen Fleck mehrere solcher Abdrucke beisammen sind. 
Deren Entstehung ist nur durch zwei Möglichkeiten gegeben: ent¬ 
weder sind dem Täter beim Gehen Hindernisse im Wege ge¬ 
standen, die er wegschaffen mußte, um weiter zu kommen (und 
dies wird man an beiseite gestellten Gegenständen sogleich erkennen 
können) oder aber es stand ihm nichts im Wege und er horchte 
bloß, wendete sich dabei nach links oder rechts, je nachdem woher 
er das Geräusch vernahm und erzeugte so die eng aneinander lie¬ 
genden Fußabdrücke. Auf diese oder ähnliche Art entstehen solche 
Gruppen von Tritten und nur so sind sie zu erklären. 

Nachdem wir nun den Grund für die Entstehung der Trittgrnppen 
gefunden haben, suchen wir die Aufeinanderfolge der einzelnen 
Schritte, namentlich in den Gruppen, zu finden. Das wäre leicht, wenn 
man jeden Schritt sofort als linken bzw. rechten erkennen könnte; aber 
nur sehr wenige lassen sich, einzeln oder durcheinandor liegend betrachtet, 
mit völliger Sicherheit als von diesem oder jenem Fuße herrübrend be¬ 
stimmen. So ist allerdings auf den ersten Blick als Abdruck eines 
einballigen 1 ) rechten Fußes zu erkennen Nr. 2, 4, 6; als der des 
linken Fußes Nr. 3, 5, 7. Die meisten Abdrücke aber bestehen aus 
einem größeren Fleck, entsprechend der Sohle und einem kleineren 
Fleck, entsprechend dem Absätze des Schuhes. 

In das Wirrwarr von Tritten Klarheit zu bringen, soll der Zweck 
der neuen Methode sein. Man geht hierbei vor, wie folgt: man 
nimmt einen dünnen Papierdeckel oder ein starkes Papier, stellt einen 
einballigen Schub darauf und fährt mit dem Bleistift längs der Sohle 
ganz herum und hat so das Bild der Sohle abgezeicbnet Dann 
schneidet man dieses Sohlenbild (Fig. 1) mit Messer oder Schere 
heraus, hat ein Negativ (den schraffierten Teil) erhalten und hält 
dieses nun der Reihe nach über jeden einzelnen Fußlapfen und sucht 

1) „Einballig“ wird ein Schuh genannt, der für einen bestimmten (also 
rechten oder linken) Fuß gearbeitet ist und daher nicht gewechselt werden kann. 
Die Stadtbewohner tragen im Gegensatz zur Landbevölkerung fast durchgehend 
einballige Schuhe. 


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Über Fußspuren. 


345 


diesen nun dem darüber gehaltenen Rahmen möglichst einzupassen. 
(Durch das Umwenden hat man einmal den rechten und einmal den 
linken Fußaasschnitt vor sich und erspart daher ein doppeltes Aus¬ 
schneiden). Hat man dann einen bestimmten Tritt als linken erkannt, 
so schreibt man die fortlaufende Zahl dazu z. B. 51 d. b. 
vom Ausgangspunkte an gerechnet, ist das der fünfte linke 
Tritt, 8 r wäre der achte rechte Tritt usw. — Ist man trotz 
des angegebenen Hilfsmittels hie und da im Zweifel, ob 
das der Abdruck des linken oder echten Fußes ist, so tut 
man stets am besten, wenn man neben dem Gang¬ 
bilde genau so geht, wie die Fußtapfen liegen und man wird meistens 
zn einem befriedigenden Resultate kommen. Zu bemerken ist noch, daß 
mancher Tritt nur aus einem Fleck besteht, was dann vorkommt, wenn 
der Betreffende auf den Fußspitzen oder über eine Stiege gegangen ist. 

Betrachtet man das gesamte Gangbild, so siebt man, daß die 
Abdrücke natürlich anfangs am stärksten sind und gegen das Ende 
nahezu verschwinden: der Farbstoff auf der Sohle geht immer mehr 
verloren. Zuerst ist soviel davon vorhanden, daß er sogar von der 
Sohle tropft, aber das hört beim zweiten Schritt schon auf, der dritte 
oder vierte Schritt ist gewöhnlich der schönste Abdruck, dann werden 
sie schon langsam schwächer und hören schließlich fast ganz auf. 
Aus der Betrachtung der einzelnen Fußspuren läßt sich außerdem 
noch manches andere finden. Zunächst, was die Belastung an¬ 
belangt, sind jene Stellen am meisten belastet, die am lichtesten sind, 
also zwischen dem Ballen der großen und der kleinen Zehe und der 
Absatz. Durch das Auftreten wird nämlich der auf der Sohle haftende 
Farbstoff dorthingedrängt, wo die Belastung geringer ist, also auf den 
Band der Sohle. Ferner sieht man auf keinem Abdruck einen vollen 
Absatz, daraus folgt, daß er bereits „abgetreten“ war. 

Durch Anlegen der Schablone wird man wohl meistens zum 
Ziele kommen, d. h. jeden halbwegs deutlichen Tritt aus einer solchen 
Gruppe als Abdruck des linken oder rechten Fußes erkennen können 
und damit vielleicht auch einen diesem verlangsamten Schritte korre¬ 
spondierenden Hand- oder Fingerabdruck auf in der nächsten Nähe 
befindlichen Gegenständen wie Kasten, Ofen, Türen, Mauer usw., der 
sonst unaufgeklärt bliebe, sich zu erklären in der Lage sein. Hat 
man schließlich alle Fußabdrücke als linke bzw. rechte entziffert und 
fortlaufend numeriert, so wird man das betreffende Gangbild noch 
selbst gehen, aber natürlich daneben (um die Originalspuren nicht 
zu zerstören), um sich von der Möglichkeit des soeben theoretisch 
kombinierten Gangbildes zu überzeugen. 



Fig. 1. 


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XV. 


Einige Bemerkungen zu $ 18 des Vorentwurfs 
zu einem Deutschen Strafgesetzbuch. 

Von 

Dr. W. Heinioke, Anstaltsarzt am Weiberzachthaus zn Waldheim (Sachsen). 


Ich will mich hier vornehmlich mit dem § 18 nnd seiner Be¬ 
gründung beschäftigen; dabei streife ich neben anderen noch § 63 
nnd 89. 

Zur Orientierung derjenigen, denen der Vorentwmf nicht zur 
Hand ist, werde ich diese Paragraphen wörtlich auffübren. 

Hier zunächst § 18. 

„Zeugt die Tat von besonderer Roheit, Bosheit oder Verworfen¬ 
heit, oder ist nach den Vorbestrafungen des Täters anzunehmen, daß 
der gewöhnliche Strafvollzug auf ihn nicht die erforderliche Wirkung 
ausüben werde, so kann das Gericht im Urteile Schärfungen der 
Zuchthaus- und Gefängnisstrafe anordnen. 

Die Schärfungen bestehen darin, daß der Verurteilte geminderte 
Kost oder eine harte Lagerstätte erhält Sie können auch vereinigt 
angeordnet werden und kommen an jedem dritten Tag in Wegfall. 
Die Dauer der Schärfungen darf im Zusammenhang vier Wochen 
nicht übersteigen. Schärfungen dürfen bei Strafen bis zu drei Mo¬ 
naten nur einmal, bei Strafen bis zu sechs Monaten nnr zweimal, und 
bei längeren Strafen in jedem Jahr höchstens dreimal angeordnet 
werden. Der Zwischenraum zwischen zwei Schärfungen muß min¬ 
destens das Doppelte der Dauer der vorangegangenen Schärfung be¬ 
tragen. Hat der Gefangene sich mindestens ein Jahr lang gut geführt, 
so kann das Gericht für die übrige Strafzeit die Schärfungen mildern 
oder aufheben. 

Geschärfte Zuchthaus- oder Gefängnisstrafe darf nur an dem¬ 
jenigen vollstreckt werden, der nach dem Gutachten des Anstalts¬ 
arztes seiner Gesundheit nach dazu fähig ist. An schwangeren oder 
nährenden Frauen darf sie nicht vollzogen werden. Erscheint die 


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Einige Bemerkungen zu § 18 des Vorentw. zu ein. Deutsch. Strafgesetzbuch. 347 

Vollstreckung hiernach nicht zulässig, so hat das Gericht hierüber 
zu entscheiden. Es kann dabei mit Rücksicht auf den Wegfall der 
Schärfung die Strafe in angemessener Weise erhöhen.“ 

Was ich als Strafanstaltsarzt an diesem § 18 auszusetzen habe 
oder verändert wissen will, ist kurz gesagt: Ich wünschte, er existierte 
überhaupt nicht, und hiermit stehe ich nicht vereinzelt da, auch reine 
Strafvollzugsbeamte finden diesen § 18 nicht glücklich gewählt, und 
würden sein Verschwinden mit Freuden begrüßen, wie ich mich 
durch Umfrage wiederholt überzeugen konnte. 

Es ist also in dem § 18 für Verbrecher rohester Kategorie oder 
für Verbrecher gleichgültigster Sorte, die sich nur noch auf der Bahn 
des Verbrechens wohl fühlen, dem jeweilig aburteilenden Gericht in 
die Hand gegeben, gleichzeitig mit der Freiheitsstrafe, Strafschärfungen, 
die in Kostschmälerungen oder hartem Lager oder in beiden bestehen 
können, zu verhängen; wie oft diese Schärfungen sich wiederholen, 
wie lange sie dauern sollen, davon will ich hier nicht sprechen; es 
es ist dies im § 18 genau angegeben; ich rede nur von der Tatsache, 
daß dies geschehen kann. — 

Man ging bei Schaffung des § 18 von dem Gesichtspunkt aus, 
daß diese Strafverschärfungen abschreckend und unter Umständen 
sogar bessernd wirken würden, bei rohen oder verkommenen Sub¬ 
jekten, denen der jetzige Strafvollzug in der Tat ein sorgenfreies 
Leben bedeute, bei dem allerdings gelegentliche Zellenbaft und der 
Arbeitszwang etwas Wermut in das sonst gar nicht so unangenehme 
Anstaltsleben hineinbrächten. 

Man entschloß sich um so leichter zu diesen Schärfungen, als 
man hierdurch keine irgendwie ins Gewicht fallende Gesundheits¬ 
schädigung erwartete; als Beweis dafür führt man die Strafen beim 
Militär an, die laut einer Statistik aus den Jahren 1873—1885 unter 
1385451 vollstreckten Arreststrafen im ganzen nur 50 Erkrankungen, 
die auf die Strafen zurückzuführen waren, aufweisen (Schreiben des 
Reichskanzlers an den Reichstag vom 4. III. 1886, abgedruckt bei 
Medern, Strafzumessung und Strafvollzug, Z. f. St. W. 7 S. 160). 
Zudem ist ja immer der Anstaltsarzt da, der im Notfall den Ge¬ 
fangenen, als nicht tauglich zur Verbüßung der Schärfung bezeichnen 
kann; auch sind ja schwangere oder stillende Frauen, sowie Jugend¬ 
liche (§ 69) von diesen Strafverschärfungen ausgeschlossen. 

Ich möchte zuerst auf die in der Begründung des Vorentwurfs 
enthaltene Ansicht eingehen, daß diese Schärfungen in gesundheit¬ 
licher Beziehung keine nennenswerten Folgen zeitigen werden. 


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348 


XV. W. Heinicke 


Diese Ansicht entspricht weder den Erfahrungen von uns Straf¬ 
anstaltsärzten, noch, soweit es sich um die Kostschmälerungen handelt, 
den Gesetzen der Ernährungsphysiologie. 

Man könnte mir hier einwerfen, mein eben ausgesprochenes Urteil 
sei verfrüht, da ich ja über die Schärfungen noch keine praktische 
Erfahrung besitze; sie seien ja erst beabsichtigt. 

Dem halte ich entgegen: Die geplanten Strafverschärfungen sind 
weiter nichts, als ein Teil unserer, selbst bei fortgeschrittenster Auf¬ 
fassung Uber den Strafvollzug nicht zu vermeidenden Disziplinar¬ 
strafen — ich komme hierauf noch besonders zurück — und jeder 
Strafanstaltsarzt wird mir recht geben, wenn ich sage, daß Fälle von 
Gesundheitsschädigung im Gefolge unserer Disziplinarstrafen Vor¬ 
kommen, besonders im Gefolge von Koststrafen. Auch Professor 
Rubner ist dieser Meinung t). Und nun müssen wir im Vor- 
entwnrf des neuen Deutschen Strafgesetzbuches lesen, daß Kost¬ 
schmälerungen und hartes Lager binübergenommen werden sollen in 
das Strafgesetzbuch als direkt bei der Verurteilung auszuwerfende 
Verschärfung der Zuchthaus- oder Gefängnisstrafe. Davor kann nicht 
genug gewarnt werden und allseitig scheinen sich auch Stimmen 
gegen den § 18 zu erheben. Abgesehen davon, daß er einen Rück¬ 
schritt bedeuten würde, — wir in Sachsen hatten schon einmal der¬ 
artige geschärfte Freiheitsstrafen und sind froh, daß sie überwunden 
sind — müssen wir uns hüten, die Schäden, die mit dem Strafvollzug 
notwendigerweise Zusammenhängen, zu vermehren! 

Wenn ich aber die Kostschmälerungen und das harte Lager ab 
geplante Schärfungen der Zuchthaus- oder Gefängnisstrafe bekämpfe, 
so bedeutet das nicht etwa auch eineu Kampf gegen sie als Dis¬ 
ziplinarmittel. Dies wäre eine Auffassung, der ich von vorn¬ 
herein entgegentreten möchte. Gewiß die Disziplinarstrafen sind 
keinem Strafanstaltsarzt sympathisch, das sind sie aber auch dem 
Strafvollzugsbeamten, selbst, wenn er noch so streng denkt, keinesfalls. 
Jeder würde herzlich froh sein, wenn er sie nicht benötigte; ancb 
wird kein modern denkender Strafvollzugsbeamter eher zu ihnen 
greifen, als es unbedingt nötig ist; er wird dabei individualisieren; 
er wird es vorerst mit Ermahnungen, Verweisen usf. versuchen; mit 
wenig Strafen auszukommen, ohne daß die Disziplin darunter leidet, 
ist keine Schlaffheit, sondern ein Beweis für die Tüchtigkeit des 
Strafvollzugsbeamten, und ich bin Zeuge gewesen, wie moderne Straf¬ 
vollzugsbeamte diese Seite des Vollzugs unter den soeben angezogenen 


1) Rubner, Hygiene. Leipzig und Wien 1907, S. 691 ff. 


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Einige Bemerkungen zu § 18 des Vorentw. zn ein. Deutsch. Strafgesetzbuch. 349 

Gesichtspunkten mit Erfolg handhaben, aber überhaupt ohne Strafen 
kommen wir beim besten Willen nicht aus, ebensowenig wie der 
Psychiater, ohne Isolierungen und Schlafmittel; da würde die Dis¬ 
ziplin doch drunter und drüber gehen; denn durch nichts zu bessernde 
Disziplinübertreter wirken infizierend auf die Massen, wenn ihrer Un¬ 
botmäßigkeit nicht durch eine exemplarische Strafe ein Riegel vor¬ 
geschoben werden könnte und würde. Wer anders denkt, kennt das 
Material nicht, was wir gerade im Zuchthaus im Zaum halten müssen. 

Es ist ferner eine alte Erfahrungstatsache, wo Disziplin gefordert 
wird und nötig ist, gibt es auch Strafen; das ist im Elternhaus so 
wie in der Schule, beim Militär, wie in den Strafanstalten. So wie 
jemand etwas Besseres, aber gleich Wirksames, dafür erfindet, wird 
die Strafe von der Welt verschwinden. So lange wir diesen Ersatz 
aber nicht haben, dürfen wir aber auch nicht auf Grund einseitiger 
Interessenverfolgung die Disziplinarstrafen verdammen; wir sind sogar 
verpflichtet, so viel auch theoretische Bedenken gegen die Disziplinar¬ 
strafen geltend gemacht werden könnten, im Interesse der Sicherheit 
unserer Anstalten und der Menschheit, Disziplinierung gefährlicher 
Elemente, die sich im Strafvollzug nicht fügen, zu fordern. In dem 
Sichnichtfügen liegt es auch, warum wir die Disziplinarstrafen nicht 
bekämpfen, dagegen uns gegen die geplanten Schärfungen wenden. 
Die Disziplinarstrafen zu vermeiden, hat jeder Gefangene mehr 
weniger in der Hand; er kennt die Hausordnung, weiß, was er zu 
tun und zu lassen hat; vergeht er sich dagegen, so hat er die Folgen 
zu tragen; ausgesprochen Minderwertige werden entsprechend ihrer 
psychischen Eigenart milder behandelt Den Schärfungen kann der 
Gefangene aber, wenigstens im ersten Jahr trotz tadellosester Führung, 
nicht entgehen, besonders auch in ihrer regelmäßigen Wiederkehr . 
liegt ihr Schaden. 

Für die Eostminderungen will ich dies noch weiter begründen, 
aus den Gesetzen der Ernährungslehre heraus. Ich will im folgenden 
einiges über den Stickstoffumsatz im Hungerzustand sagen, in den 
Gefangene mit der geplanten Kostschmälerung mehr weniger, je nach 
der Menge der entzogenen Nahrung kommen müssen. Um Weite¬ 
rungen zu vermeiden, werde ich den Stickstoff in Zukunft N, her¬ 
geleitet von Nitrogenium, seiner chemischen Bezeichnung, nennen, 
und damit alle Zusammensetzungen bilden. 

Es ist eine bekannte Tatsache, daß der vollständig Hungernde, 
der außer Wasser und dem Sauerstoff der Luft nichts genießt, trotz¬ 
dem Urin abscheidet, auch Stuhlgang hat; zudem braucht er täglich 
Nährstoffe zum Wachstum des Haares, zum Ersatz der abschilfernden 


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350 


XV. W. Heinickb 


verhornten Hantpartien, znr Bildung des Sekretes seiner Körper- 
drüsen; er sondert Schweiß ab, atmet Kohlensäure und Wasser¬ 
dampf aus. 

Da er nichts außer Sauerstoff und Wasser einführt, liegt es auf 
der Hand, daß er den Fortbestand seiner Lebensvorgänge durch 
Verbrauch von Stoffen seines eigenen Körpers ermöglicht Dadurch 
ist es unausbleiblich, daß die einzelnen Organe des Körpers an Sub¬ 
stanz verlieren; nur das Herz, sowie das Gehirn und die Nerven 
sind auffallenderweise an diesen Verlusten äußerst wenig beteiligt, 
etwa nur mit 2—3% ‘)j nach Rubner 2 ) liegt dies darin, daß im 
hungernden Körper Eiweiß anderer Organe ständig eingeschmolzen 
wird, um die höher organisierten Organe, eben das Herz, die 
Nerven, das Gehirn, damit zu ernähren. 

Es ist ferner eine weitere Erfahrungstatsache, daß Leute mit 
gutem Fettpolster das Hungern eher ertragen, als Magere; es liegt 
dies darin, daß bei genügend Körperfett die Einschmelzung des 
Organeiweißes langsamer und dem zufolge weniger ausgiebig von¬ 
statten geht, als bei Mageren; es wird also bei dürftig genährten 
Menschen die Eiweißzersetzung eine erhöhte sein; dies wird auch 
aus folgendem klar; ein Hungernder hat nicht etwa wesentlich ge¬ 
ringere Blutwärme als ein Mensch, der sein Nabrungsbedürfnis be¬ 
friedigen kann; nur kurz vor Eintritt des Hungertodes wird die 
Temperatur subnormal, bis dahin aber war sie normal; nun werden 
bei normalem Fettzustand im Hunger 9 /io der Körperwärme vom 
Fett gebildet und Vio vom Körpereiweiß 3 ); 100 Teile Fett bilden 
soviel Wärme wie 978 Teile Eiweiß. Man sieht ohne weiteres auB 
diesen Zahlen, daß das Fett das hervorragendste Heizmaterial, wenn 
ich so sagen darf, für den Körper bildet und daß es beim Hunger, 
um den Körper auf seiner Temperatur zu halten, rapid verbraucht 
wird; man sieht ferner daraus, welch enorme Eiweißmengen dazu 
gehören, einen fettarmen Körper zu beheizen. Nun ist aber, wie 
wir wissen, die Wärmeproduktion im menschlichen Körper nicht die 
einzige Ursache zur Fett- und Eiweißzerstörung. Auch geht die von 
der Erwärmung mehr weniger unabhängige Eiweißeinschmelzung 
nicht gleichmäßig vonstatten, sondern sie ist nach der Zeitperiode, 
in der der Hungernde steht, eine quantitativ stark wechselnde. Beim 
Beginn des Hungers wird sehr viel Eiweiß zerstört; es ist dies be¬ 
sonders das sogenannte „zirkulierende Eiweiß“. (Voit). Dieses stammt 

1) Rubner, Hygiene, S. 457. 

2) Rubner, Volksernährungsfragen. Leipzig 1908, S. S. 

3) Rubner, Hygiene. Wien und Leipzig 1907, S. 457. 


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Einige Bemerkungen zu $ 18 des Vorentw. zu ein. Deutsch. Strafgesetzbuch. 351 


ans der Nahrung der der Hungerzeit vorausgegangenen Mahlzeiten 
es hatte noch keine Gelegenheit gefunden, sich als Organeiweiß an- 
zusetzen, und wird als N in Ham und Koth vollständig ausge¬ 
schieden. Nach einigen Tagen des Hungers befindet sich im Körper 
kein zirkulierendes Eiweiß mehr; man nimmt zirka 4—5 Tage an 1 ); 
trotzdem verschwindet aber der N nicht aus den Ausscheidungen des 
Hnngemden; es wird nun Organeiweiß eingeschmolzen; allerdings 
bat sich die N-ansscheidung gegenüber der der ersten Hungertage 
wesentlich verringert und ist auch allmählich stationärer in bezug auf 
die Menge geworden, desto geringer, wie ich nochmals betonen 
möchte, je wohlgenährter das Individuum ist 

So schied der Hungerkttnstler Succi 2 ) in der ersten Woche des 
Hungems im Durchschnitt 13,7, in der zweiten 8,3, in der dritten 
6,9, in der vierten 7 g N ans; da 1 g N — 6,25 Eiweiß ist, betrag 
der Eiweißverlust durchschnittlich täglich 

in der 1. Woche : 85,6, 

n T) 2. v '• 51,8, 

„ „ 3. d ! 43,1, 

v n 4. „ • 43,9 g 

Auch folgende Zahlen sind interessant Nach Voit und Petten- 
kofer 3 ) verliert ein Hungernder täglich 

80 gr. Eiweiß, 

216 gr. Fett. 

Dafür nimmt er auf 780 g Sauerstoff; er gibt etwa 251 g 
Sauerstoff in der Atmnng und 889 gr. Wasser durch Haut und 
Lunge ab. Nach diesen Erfahrungen könnte man nun glauben, es 
sei die Möglichkeit gegeben, einen Menschen im Gleichgewicht seiner 
Einnahmen und Ausgaben zu halten, wenn man ihm eine seinen 
Verlusten während der Hungerzeit entsprechende Menge Nahrung 
zuführte 4 ). Dies ist aber durch genaue Stoffwechseluntersuchungen 
widerlegt Im Gegenteil: es scheidet der betreffende Körper sofort, 
z. B. mit der Zufuhr N-haltiger Nahrung mehr N aus, als vorher, 
sodaß wieder ein Manko an N eintritt, also der Körper von neuem 
von sich zehrt, und dieser Zustand geht erst allmählich in das Nor¬ 
male über; will man sofort N-gleichgewicht schaffen, so muß man 


1) Steiner, Grundriß der Physiologie des Menschen. Leipzig, Veit & Co., 
1894, S. 221. 

2) Rubner, Volksernährungsfragen, S. 8. 

9) Rubner, Hygiene, S. 458. 

4) Steiner, Grundriß, S. 222. 


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XV. W. Heinicke 


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2*/2 mal mehr N in der Nahrung einführen, als das hungernde Ver¬ 
suchsobjekt z. B. ausscbied 1 ). 

Da aber die N-ausscheidung nicht allein von der Eiweißzufuhr, 
sondern auch von der Größe des Individuums abbängt, — das 
größere zersetzt mehr als das kleinere —, so ist die Erzielung des 
N-gleichgewichts auch von dem Körpergewicht abhängig insofern, 
als dann N-gleichgewicbt erzielt wird, wenn V20—V25 vom Körper¬ 
gewicht als tägliche Nahrung gereicht wird 2 ). 

Betrachten wir nun unter diesen Gesichtspunkten die im § 18 
vorgesehenen Kostschmälerungen, die einen bis dahin mit vielleicht 
gerade genügender Nahrung versehenen Menschen plötzlich für Tage 
bis Wochen in einen größeren oder kleineren Hungerzustand ver¬ 
setzen, so tritt stets eine Gesundheitsschädigung des betreffenden 
Gefangenen ein, die verschieden groß ist, in ihrer Abhängigkeit von 
der Menge der entzogenen Nahrung, von der Größe des Individuums 
und seinem Ernährungszustand, wie ich eben nachwies. Diese 
Gesundheitsbeeinträchtigung wird aber dadurch noch größer, daß 
der Entwurf bestimmt, trotz Kostschmälerung müsse gearbeitet 
werden. 

Es ist eine bekannte Tatsache und bei Beköstigungsfragen ar¬ 
beitender Menschen nimmt man auch darauf Rücksicht, daß schwere 
Arbeit mehr Nährstoffe fordert als leichte, weil eben der Kraft 
verbrauch des Körpers und somit sein Nahrungsbedürfnis, mit der 
Schwere der Arbeit wächst; wenn nun ein Körper hungert, und 
trotzdem arbeiten soll, so ist das eine Anforderung an ihn, die er 
nur vorübergehend dadurch erfüllen kann, daß er wieder von sich 
zehrt; es erleidet also der zu Kostminderung verurteilte Gefangene, 
bei Fortbestand der Arbeit doppelten Schaden; ich glaube, nicht 
zuviel zu behaupten, wenn ich annehme, daß ein Gefangener mit 
1 Pfund Brot, als Kostschmälerung — diese Menge dürfte vielleicht der 
schärften Schmälerung entsprechen — durch den mit der Arbeit zu¬ 
sammenhängenden Kraftverbrauch schlechter gestellt ist, als ein voll¬ 
ständig Hungender ohne Arbeit. Zum Beweis führe ich folgende 
Zahlen an. Ein Arbeiter braucht nach Rubner 3 ), nm bestehen zu 
können, täglich 

118 g Eiweiß, 

56 „ Fett, 

500 „ Kohlehydrate; 

1) Steiner, Grundriß, S. 222. 2i Steiner, Grundriß, 8.222. 

3) Rubner, Hygiene, S. 694. 


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Einige Bemerkungen zu § 18 des Vorentw. zu ein. Deutsch. Strafgesetzbuch. 353 

ein Mensch, der nicht arbeitet, braucht 

85 g Eiweiß, 

30 „ Fett, 

300 „ Kohlehydrate; 

es stellt danach die Arbeit ein Mehr von Anforderungen an die 
Nahrung, gegenüber den letzten Zahlen von 

33 g Eiweiß, 

26 „ Fett, 

200 „ Kohlehydrate. 

Ein Pfund Roggenbrot — eventuell die ganze Kost pro Tag eines 
mit Schärfung verurteilten Gefangenen — enthält nun 

30 g Eiweiß, 

3 „ Fett, 

226 „ Kohlehydrate; 

es deckt also nicht den Kraftverbrauch der Arbeit, sondern bleibt um 

3 g- Eiweiß, 

23 „ Fett 

dahinter zurück, um allerdings mit 26 g Kohlehydraten zu über¬ 
wiegen; immerhin gibt das noch ein Kaloriendefizit von 119,6 Kal. 
Ein mit Kostschmälerung (1 Pfund Brot) nach § 18 bestrafter Gefan¬ 
gener, der, wie wir wissen, arbeiten soll, steht sich also tatsächlich 
schlechter, als ein vollständig Hungernder. Dabei ist noch gar nicht 
berücksichtigt, daß mit den Kostschmälerungen noch hartes Lager 
verbunden werden kann; dies bedeutet für den Gefangenen noch 
einen beträchtlichen Wärmeverlust und da er ihn durch vermehrten 
Fett- bzw. Eiweißzerfall immer wieder ansgleicht, veranlaßt auch 
diese Schärfung den hungernden Körper dazu, seine Organsubstanzen 
aufzubrauchen; daneben kann die Verordnung des harten Lagers 
noch allerhand Krankheiten, besonders rheumatische, zeitigen. 

Daß die geplanten Basttage mit voller Kost wenig nützen, 
ergibt sich ohne weiteres daraus, daß das mit dem Basttag aufge¬ 
nommene Eiweiß infolge der ihm folgenden Hungertage wieder als 
N ansgeschieden wird; es ist noch zirkulierendes Eiweiß; auch wird 
wahrscheinlich die Hungerzeit nach ihrem Abschluß noch nach¬ 
wirken, insofern als sich das N-gleichgewicbt nicht sofort, sondern 
bei der nur im allgemeinen gerade zureichenden Gefangenenkost erst 
allmählich herstellen wird. 

Neben diesen in der Physiologie der Ernährung und des Stoff¬ 
wechsels bedingten Schädigungen bringen aber die Hungertage auch 
in anderer Weise noch dem Körper Schaden, weil sie ihn für alle 
möglichen Krankheiten weniger widerstandsfähig machen. 

Archiv für. Krimtimlanihropologie. 40. Bd. 23 


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354 XV. W. Hein icke 

Rubner schreibt dazu iu den wiederholt angezogenen Volks- 
ernäbrungsfragen S. 135: „Die Nahrungsminderung hat eine zweifel¬ 
lose Rückwirkung auf die antibakteriellen Kräfte des Körpers; Ein¬ 
trittspforten, wie z. B. der Darm, werden gangbar, sobald die Er¬ 
nährung eine ungenügende ist und schließen sich bei guter 
Ernährung“. 

Eine weitere Erläuterung im Hinblick auf den § 18 ist wohl 
überflüssig. 

Man wird mir vielleicht einwerfen, alles das, was ich hier ge¬ 
schrieben habe, möge ja theoretisch ganz richtig sein, meinen ange¬ 
zogenen praktischen Erfahrungen ständen aber ganz gegenteilige 
beim Militär entgegen. 

Hierauf erwidere ich, daß der Vergleich mit dem Militär mir 
nicht ganz glücklich erscheint. Beim Militär stehen nachweislich 
die geistig und körperlich Gesündesten, durch verschiedene Stellungs¬ 
termine gesiebt, Menschen im besten, kräftigsten Mannesalter, die 
sich den ganzen Tag fast an der frischen Luft aufhalten; — auf 
der anderen Seite vielfach der Auswurf der menschlichen Gesell¬ 
schaft, durch Alkohol, liederliches Leben, wiederholte Freiheits¬ 
strafen, meist mehr weniger Kränkelnde, oft in der Ernährung redu¬ 
zierte Leute, die vielleicht schon von ihren Eltern den Keim zum 
geistigen, wie körperlichen Siechtum als trauriges Erbe erhalten 
haben. Man mag sich nur die Mühe nehmen, der Familiengeschichte 
solcher Individuen nachzugehen, da findet sich viel, was dem Kind 
den Stempel des späteren Verbrechers mit aller Gewalt aufgedrückt 
hat: Alkobolismus der Eltern, Syphilis und wie die Feinde der 
Volksgesundheit alle heißen. Und wenn es in der Begründung zum 
§ 18 weiter heißt, unter zirka l l l* Million Arreststrafen beim Militär 
seien nur 50 Erkrankungen auf die Strafen zurückzuführen, so 
glaube ich nicht mit Unrecht anzunehmen, daß unter diesen 50 Er¬ 
krankungen akute, sofort ins Auge springende Schädigungen, als 
Rheumatismus, Katarrhe u. s. f. zu verstehen sind, auf Gewichts¬ 
abnahme, als Folge des Fett- und Eiweißverlustes sind diese Zahlen 
wohl nicht zu beziehen. Diese Reduktion des Körpers wird auch 
bei dem Soldaten, dem gesunden Mann, der nach dem Arrest durch 
den Aufenthalt in frischer Luft sich schnell erholen kann, nioht so 
schädlich wirken, wie beim Verbrecher, bei dem sich diese Strafen 
viel häufiger wiederholen, der, wie ich schon mehrfach erwähnte, 
sich oft nicht vollständiger Gesundheit erfreut, und der nur auf 
1 Stunde Bewegung im Freien Anspruch hat, auch während der 
Kostschmälerung nach § 18 arbeiten soll. 


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Einige Bemerkungen zu § 18 des Vorentw. zu ein. Deutsch. Strafgesetzbuch. 355 

Nun soll der Strafvollzug anstreben, die Gesundheit des Gefan¬ 
genen zu erhalten und ihn arbeitsfähig in die Freiheit zu entlassen. 

Mit Einführung des so gutgemeinten § 18 setzen sich diesem 
Ziel Schwierigkeiten entgegen, wie ich des Längeren erörterte. 

Schon nm deswillen müßte man ihn fallen lassen! 

Aber auch das, was sich der Entwurf von dem § 18 verspricht, 
was er damit zu erreichen sucht, nämlich den verrohteten und ver¬ 
kommensten Verbrechern, die Freiheitsstrafe wesentlich fühlbarer zu 
machen, diese eventuell zu bessern, wird nach den doch wohl be* 
beachtenswerten Erfahrungen von uns Strafanstaltsärzten, die wir 
das in Betracht kommende Material mit psychiatrisch-psychologischem 
Auge zu betrachten gewohnt sind, im allgemeinen sicher nicht ein*, 
treten und darin decken sich unsere Ansichten mit denen erfahrener 
Strafvollzugsbeamten. Erstens weiß jeder von uns, Härte — ich 
sage nicht Strenge — verdirbt den Strafvollzug, und der $ 18 ist 
eine Härte. Zweitens aber ist das Material, das durch den § 18 
getroffen werden soll, in der größten Mehrzahl mehr weniger 
degeneriert, haltlos. 

Dabei bin ich weit davon entfernt, etwa als exkulpierender 
Psychiater für sie einzutreten! 

Man sagt uns ja so gern nach, daß wir in Humanitätsduselei 
diese Leute den Armen des Strafgesetzes entreißen, und sie für un¬ 
zurechnungsfähig erklärten. 

Gewiß, es wird sich unter ihnen bei wachsamer Beobachtung 
gar mancher ßückfallsverbrecher als geisteskrank aussondern lassen, 
der in die Irrenanstalt gehört und dort verwahrt werden muß; die 
Meisten sind sicher aber nur minderwertig im weitesten Sinn, das 
heißt, sie haben ethische und moralische Defekte, es fehlen ihnen 
die Hemmungen, bei bösen Antrieben zu widerstehen; dabei wissen 
sie meist genau, daß sie sich strafbar machen, wenngleich sie viel¬ 
leicht für die Schwere ihres Deliktes, für den Schaden, den sie 
stiften, für das Verwerfliche, das in der unrechtmäßigen Eigen¬ 
bereicherung liegt, nicht das volle Verständnis besitzen. 

Diese Leute gehören nicht unter § 63, auch nicht unter Absatz II *); 
ihre Delikte würden danach ja nur als Versuch bestraft, sie selbst 


1) § 63 lautet: „Nicht strafbar ist, wer zur Zeit der Handlung geisteskrank, 
blödsinnig oder bewußtlos war, sodaß dadurch seine freie Willensbestimmung 
ausgeschlossen wurde. War die freie Willensbestimmung durch einen der vor- 
bezcichneten Zustände zwar nicht ausgeschlossen, jedoch in hohem Grade ver¬ 
mindert, so finden hinsichtlich der Bestrafung die Vorschriften über den Versuch 
(§ 75) Anwendung. Zu9tände selbstverschuldeter Trunkenheit sind hiervon aus- 

23 * 


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XV. W. H EINICKE 


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also um so eher auf die Menschen losgelassen; denn zu einer Irren¬ 
anstaltsbehandlung nach der Strafe eignen sie sich meist auch nicht 

Ich schließe mich vielmehr an die an, die verlangen, daß diese Leute, 
die eine Plage und Geißel der menschlichen Gesellschaft sind, in extra zu 
errichtenden Zwischenanstalten zu sichern sind, dauernd oder solange, 
bis man eine sichere Garantie hat, daß sie nicht mehr rückfällig 
werden; es ist auch die Forderung anzunehmen, daß der Aufenthalt in 
einer solchen Anstalt keine Strafe sein soll; diese Anstalt muß auch 
psychiatrisch beraten sein, weil Minderwertige nach psychiatrischen 
Grundsätzen zu behandeln sind; ich glaube auch, daß die Kosten 
derartiger Anstalten nicht allzugroße sein werden, da die Minder¬ 
wertigen unter sachgemäßer Behandlung oft recht brauchbare Ar¬ 
beiter sind, während sie nicht psychiatrisch behandelt, oft zu den 
schwierigsten Gefangenen gehören; außerdem werden die Kosten, 
die Termine, Zeugenvernehmungen u s f. mit sich bringen, ver¬ 
mieden. Diese Unterbringung Minderwertiger würde aber auch all¬ 
mählich einen günstigen Einfluß auf die moralische Sanierung eines 
Volkes ausüben, indem sie durch ihre Internierung weniger Gelegen¬ 
heit zur Erzeugung einer minderwertigen Deszendenz, sei es durch 
ehelichen oder außerehelichen Sexualverkehr haben. Es dürfte hier an 
dieser Stelle nicht uninteressant sein, zu erfahren, wie sich die Nach¬ 
kommenschaft einer 1740 geborenen Vagabundin und Trinkerin ge¬ 
staltete. Wir verdanken diese Nachrichten dem Landrat Klausener 
in Düsseldorf; meine direkte Quelle ist die ärztliche Vierteljahrs- 
Rundschau, VI. Jahrgang Nr. III, Bonn 1. VII. 1910. Dort heißt 

es Seite 45:.»Von einer 1740 geborenen und noch zu 

Beginn des 19. Jahrhunderts als Vagabundin und Trinkerin be¬ 
kannten Frau konnte nach Landrat K. in Düsseldorf im Jahre 1893 
eine Nachkommenschaft von 834 Menschen nachgewiesen werden. 
Von 709 derselben wurden die Verhältnisse genau ermittelt. 100 
waren unehelich geboren, 181 waren liederliche Dirnen, 142 Bettler, 
46 Armenhäusler, 76 schwere Verbrecher, darunter 7 Mörder. In 
der 4. Generation waren nahezu alle Frauen der Unsittlichkeit er¬ 
geben und die Männer Verbrecher. Dem Staate hat diese einzige 
Frau mit ihrer Nachkommenschaft an Gefängniskosten, Unter¬ 
stützungen ca. 5 Millionen Mark gekostet. 

Noch schlimmere Beispiele lassen sich auB The criminal von 

genommen. Freiheitsstrafen sind an den nach Absatz 2 Verurteilten unter Be¬ 
rücksichtigung ihres Geisteszustandes und, soweit dieser es erfordert, in beson¬ 
deren, für sie ausschließlich bestimmten Anstalten oder Abteilungen zu voll¬ 
strecken. 


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Einige Bemerkungen zu § 18 des Vorentw. zu ein. Deutsch. Strafgesetzbuch. 357 

H. Ellis, London 1890 und in Education et Heröditö von J. M. Guyon, 
Paris, naebweisen usf“. Nach dieser Abschweifung zurück zu den 
Zwiscbenanstalten. 

Empfehlenswert wäre es vielleicht, derartige Anstalten kolonien¬ 
artig anzulegen, wobei allerdings Mauerumschließung der Zentrale 
dringend nötig ist; es könnten somit an diese gesicherte Zentral¬ 
anstalt leicht Übergangsrayons angescblossen werden; als Beschäfti¬ 
gung würde neben Fabrikationsbetrieb, vor allem landwirtschaftliche 
Arbeit recht geeignet sein. 

Unter diesen Gesichtspunkten also ist es keine Utopie, solche 
Anstalten zu fordern. Der Vorentwurf sucht nun diese Frage in 
anderer Weise zu lösen, dadurch, daß § 89 geschaffen werde. Er 
lautet: „Begeht jemand, der schon vielfach, mindestens aber fünfmal 
wegen Verbrechen oder vorsätzlicher Vergehen mit erheblichen Frei¬ 
heitsstrafen, darunter mindestens einmal mit Zuchthaus bestraft ist, 
nnd die letzte Strafe vor nicht länger als 3 Jahren verbüßt hat, aufs 
neue ein Verbrechen oder vorsätzliches Vergehen, das ihn in Ver¬ 
bindung mit seinen Vorstrafen als gewerbs- oder gewohnheitsmäßigen 
Verbrecher erscheinen läßt, so ist, wenn die neue Tat ein Verbrechen 
ist auf Zuchthaus nicht unter 5 Jahren, und wenn sie ein Ver¬ 
gehen ist, auf Zuchthaus von 2 bis zu 10 Jahren zu erkennen. 

Ausländische Vorstrafen kommen hierbei mit der Maßgabe in 
Betracht, daß der Zuchthausstrafe diejenige in dem fremden Staate 
gesetzlich bestehende Freiheitsstrafe gleich geachtet wird, die ihrer 
Art nach der Zuchthausstrafe am meisten entspricht; doch muß ihre 
Dauer wenigstens ein Jahr betragen. 

Die auf Grund des Paragraphen Verurteilten werden in beson¬ 
deren, für sie ausschließlich bestimmten Strafanstalten verwahrt 

Die Vorschrift des § 22 •) findet auf sie keine Anwendung“. 

Aus diesem letzten Passus wird es ohne weiteres klar, daß aber 
der § 18 für sie Gültigkeit hat. 

Der eben zitierte § 89 hat also ebenfalls die Absicht, die mensch¬ 
liche Gesellschaft vor den Gewohnheitsverbrechern möglichst zu 
schützen. Nur ist sein Weg grundverschieden von dem von mir 
vorgeschlagenen. Ich kann nicht darauf eingehen, welche Gründe 
alle beim Vorentwurf bestimmend gewirkt haben, die in der Literatur 
wiederholt vorgeschlagenen „Zwischenanstalten“ zu verwerfen, als 
Hauptgrund ist wohl der Gedanke anzusehen, daß durch eine Unter¬ 
bringung in Zwischenanstalten ohne vorherige Bestrafung der Straf- 


t) § 22 bezieht sich auf Einzelhaft. 


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begriff leidet; fordert doch ein begangenes Verbrechen nach dem 
Rechtsbewußtsein Strafe. Ich verkenne diese Bedenken nicht und 
hätte auch nichts einzuwenden, wenn man dem Strafbegriff sein 
Recht ließe, indem man den Rückfallsverbrecher entsprechend seiner 
Tat erst aburteilte und ihn nach der Strafe den Zwischenanstalten 
überweisen würde; auch dagegen ist man im Vorentwurf, weil es 
juristisch unbillig erscheint, ein Verbrechen, das durch die verbüßte 
Strafe gesühnt ist, durch die weitere polizeiliche Freiheitsbeschränkung 
quasi nochmals zu strafen. Letzteren Weg halte ich aber aus bald 
zu erörternden Gründen doch für vorteilhafter, als die im § 89 ge¬ 
plante hohe Zuchthausstrafe; zudem entspricht auch diese nicht 
dem Delikt an sich, sondern bezieht sich vielmehr in ihrer Höhe 
auf die Person des Fehlenden; hiermit iahen diese beiden Probleme 
also eine gewisse innere Verwandtheit, wie den obengenannten Grund 
gegen die Unterbringung in Zwischenanstalten nach verbüßter Strafe 
etwas entkräftet; auf der einen Seite nach der Bestrafung weitere 
Freiheitsbeschränkung ohne den Begriff der Strafe, auf der anderen 
eine mit dem Delikt an sich nicht im Einklang stehende hohe Strafe, 
also gewissermaßen zur eigentlichen Strafe eine Zusatzstrafe. Die 
Gründe, die mich bewegen, eher für die Unterbringung in Zwischen¬ 
anstalten zu sein, sind nun folgende: erstens, vergebt auch die 
Höchststrafe — 15 Jahre — einmal und dann ist das Individuum 
wieder auf die Menschheit losgelassen; erst kürzlich mußte ich 
wieder erleben, wie ein Sittlichkeitsverbrecher zum 14. Mal die 
Anstaltspforte einpassierte; diese Bestie in Menschengestalt würde 
nach 15 Jahren sicher wieder rückfällig werden und bedarf dau¬ 
ernder Unterbringung, also der Zwischenanstalt. Ich halte diese 
langen Zuchthausstrafen auch deshalb, als allgemeines Strafmittel 
hartnäckiger Rückfälliger für bedenklich, weil sie diese Menschen 
psychisch einseitig macht, verstumpfen läßt, dazu sind Schädigungen 
der Gesundheit auf körperlichem Gebiet ebenfalls zu erwarten, be¬ 
sonders, wenn gar die Schärfungen in Anwendung kommen. 

Man wird also durch diesen § 89 eventuell ein Heer erwerbs¬ 
schwacher Verbrecher schaffen, die nach ihrer Entlassung vielleicht 
noch mehr als vorher, zu neuen Verbrechen neigen. Dies wird in 
den Zwischenanstalten eher vermieden; die Bewegungsfreiheit dort 
wird eine größere sein, dabei aber natürlich nicht so groß, daß die 
Allgemeinheit darunter leidet. Dadurch wird körperlicher und geistiger 
Versumpfung vorgebeugt, die Individuen werden dort so lange inter¬ 
niert, bis eine Garantie da ist, daß sie nicht wieder fehlen, und kann 
diese nicht gegeben werden, so bleibt die dauernde Sicherangshaft 


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Einige Bemerkungen zu § 18 dee Vorentw. zu ein. Deutsch. Strafgesetzbuch. 359 

als ultimum refugium. lob erwähnte schon oben, daß die Kosten 
einer solchen Anstalt nicht unerschwingliche sein würden; ich möchte 
hier an dieser Stelle diese Behauptung noch erweitern, indem ich 
sage, sie werden voraussichtlich sogar billiger, jedenfalls nicht teurer, 
als die in $ 89 geplanten Extrazuchtbäuser, besonders auch deshalb, 
weil die geleistete Arbeit in den Zwischenanstalten pekuniär mehr 
einbringen wird, als die von diesen Leuten zu leistende Arbeit in 
Zuchthäusern; es liegt dies einesteils an dem besseren Gesundheits¬ 
zustand, den diese Zwischenanstalten aufweisen werden, dann aber 
auch daran, daß die Insassen der Zwiscbenanstalten unter einer Lei¬ 
tung, die ihrer psychischen Individualität mehr Rechnung tragen kann, 
als dies selbst bei bestem Willen und bester psychologischer Schulung 
ein Strafanstaltsdirektor darf, und aus disziplinellen Gründen tun wird, 
besser und williger arbeiten. Es ist dies keine bloße Vermutung 
meinerseits, sondern eine alte Erfahrungstatsache; wie häufig kommen 
wir Strafanstaltsärzte hier in die Lage, Minderwertige, mit denen es 
absolut im Strafvollzug nicht mehr gehen will, vorübergehend in die 
hiesige Landesanstalt für Geisteskranke zu verlegen, und dort wird 
auffallend schnell aus dem widerspenstigen Gesellen ein fleißiger, 
f&g8amer Mensch, aber nur so lange, als der Aufenthalt in der Irren¬ 
anstalt dauert Mit der Rückverbringung in die Strafhaft beginnt 
der Circulus vitiosus aufs neue. Und was wir hier erleben, wird in 
den im $ 89 geplanten Extrazuchthäusern genau so sein; die prä¬ 
sumtiven Insassen werden bei solch langen Freiheitsstrafen soweit sie 
nicht abgestumpft sind, immer störrischer werden, kein Zuchtmittel 
wird etwas nützen, Strafe wird sich auf Strafe häufen, und der 
schließlicbe Ausgang wird bei manchem die Irrenanstalt sein; alles 
dies läßt sich durch die Zwischenaustalten eher vermeiden. Und 
dann darf man nicht außer acht lassen, daß das Schreckensgespenst 
„dauernder* 1 Internierung, wenn auch in Zwischenanstalten, doch 
manche vielleicht abscbrecken wird, und wo keine Abschreckung 
emtritt, dort ist die Dauerunterbringung um so eher gerechtfertigt. 

Nach dieser Abschweifung möchte ich darauf zurückkommen, 
daß ich sagte, die im § 18 geplanten Schärfungen der Freiheitsstrafe 
würden nicht den Effekt zeitigen, den der Vorentwurf sich verspricht. 
Einen Grund dafür batte ich schon angedeutet, indem ich sagte, daß 
das Gros derer, die die Schärfungen träfen, Minderwertige seien. Die 
sogenannten Minderwertigen sind nicht zu bessern; und wenn auch 
eine Arreststrefe in manchem Falle ihren augenblicklichen Eindruck 
sicher nicht verfehlt, so hält auch hier ihre Wirkung, wie wir täglich 
sehen, nicht lange nach. Es liegt dies einesteils an den den Minder- 


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wertigen fehlenden Hemmungen, andererseits darin, daß ein Teil von 
ihnen auch gegen die Strafen weniger empfindlich ist, sie weniger 
fühlt. Aber auch angenommen, ein Arrestat sei normal fühlend, so 
tritt bei ihm bei Kostschmälerungen wenigstens sehr bald das Un¬ 
angenehme, das Hungergefühl in den Hintergrund und seinen Durst 
kann er doch löschen. Ich habe mir die Mühe genommen, und mich 
wiederholt nach den Wirkungen der Koststrafen erkundigt und dabei 
diese alte Erfahrungstatsache langjähriger Strafvollzugsbeamten be¬ 
stätigt gefunden. 

Auch das barte Lager wird sicher nicht so empfunden, wie es 
wünschenswert wäre; hat es doch eine gewisse Ähnlichkeit mit dem 
Nächtigen im Freien, auf Tennen usf., das den meisten der hier in 
Betracht Kommenden nichts Fremdes ist. 

Das also, was der Vorentwurf wünscht, dem rohen und Gewohn¬ 
heitsverbrecher, die gewöhnliche Strafe wesentlich härter zu machen 
und sie dadurch abschreckend zu gestalten, trifft nicht voll zu. 

Ich habe also im vorhergehenden zu zeigen versucht, daß die 
im § 18 geplanten Schärfungen 

1. gesundheitsschädlich wirken müssen und daß sie 

2. den geplanten Zweck nicht voll erreichen. 

Im folgenden soll es weiter meine Aufgabe sein, zu beweisen, 
daß die geplanten Schärfungen auch für den Strafvollzug selbst 
manche Schädigungen bringen werden. 

Man wird vielleicht einwerfen, daß ich als Arzt wenig dazu be¬ 
fugt sei, hierüber zu urteilen, das sei Sache der Strafvollzugsbeamten. 

Dies möchte ich nicht ganz zugeben; wir Ärzte werden in 
unserem Dienst so oft bei scheinbar reinen Strafvollzugsfragen heran¬ 
gezogen, unser Dienst ist so innig, wenn anders dem Ganzen wirk¬ 
lich gedient sein soll, mit dem Strafvollzug als solchen verquickt, daß 
ich doch über meine vorstehende Behauptung mir ein Urteil Zu¬ 
trauen darf. 

Im Strafvollzug heißt es, als eine mit der wichtigsten Forde¬ 
rungen, „individualisieren“, mit anderen Worten, den Gefangenen, je 
nach seinem Charakter, seinen sittlichen Eigenschaften, seinem Körper¬ 
zustand, seiner Psyche im allgemeinen zu behandeln, den einen mit 
Strenge, den anderen mit Milde, jenen mit Nachgeben, diesen mit 
eiserner Konsequenz. Ehe die Strafvollzugsbeamten oder die Geist¬ 
lichen oder wir Anstaltsärzte imstande sind, einen Gefangenen nach 
diesen Richtungen hin genau zu kennen, vergeht oft geraume Zeit, 
und wie schwer dies oft ist, zeigen die gelegentlich recht in der Be¬ 
urteilung auseinandergehenden Meinungen. 


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Einige Bemerkungen zu § 18 des Vorentw. zu ein. Deutsch. Strafgesetzbuch. 361 

Daher halte ich es nicht für richtig, wenn die charakterologische 
Beurteilung usf. nach § 18 sofort dem Richter übertragen wird, der 
bisweilen den Gefangenen nur zur Verhandlung sehen wird und sich 
sein Urteil zum Teil nur aus dem Aktenstudium bilden kann; der 
Richter übernimmt damit eine schwere Verantwortung und dem Straf¬ 
vollzugsbeamten ist die Individualisierungsmöglichkeit durch Aus¬ 
spruch der Schärfungen recht beschnitten. 

Durch die Schärfungen werden aber dem Strafvollzugsbeamten 
auch zwei Disziplinarstrafen in ihrer unbeschränkten Anwendbarkeit 
beeinflußt Diese Tatsache hat eine weittragende Bedeutung, es ist 
sowieso oft sehr schwer, ans den vorhandenen Disziplinarstrafen eine 
nach Delikt nnd Delinquenten geeignete herauszugreifen und nun 
wird unter gewissen, sofort zu besprecheuden Bedingungen die Aus¬ 
wahl noch verringert. 

Was soll dann z. B. geschehen, wenn bei einem zu bestrafenden 
Gefangenen bereits Kostschmälerung oder Lagerentziehung oder beides 
zusammen als periodische Strafverschärfung verhängt sind? 

Dann wird Strafkost und hartes Lager bei ihm als Disziplinar¬ 
mittel die beabsichtigte Wirkung verfehlen bzw. nicht voll erreichen, 
weil sie nichts anderes sind, als die ihm geläufigen Schärfungen, die 
ja unzertrennlich mit seiner Freiheitsstrafe vor der Hand verbunden 
sind, für ihn also nichts Außergewöhnliches bedeuten, oder es werden 
diese Strafen überhaupt nicht angängig sein, wenn der betreffende 
Gefangene gerade in der Zeit der Schärfungen steht. 

Im Interesse der Disziplin wird man dann sogar zu härteren 
Strafen greifen müssen, die mit der Übertretung eventuell nicht in 
Einklang stehen; nun ist es weiter eine Erfahrungstatsache, daß 
Menschen mit ungenügender Ernährung, zumal, wenn sie arbeiten 
müssen, wie dies im § 18 vorgesehen ist, nicht bloß körperlich an¬ 
gegriffen werden, sondern auch leichter aus dem psychischen Gleich¬ 
gewicht kommen, wenn sie auch Belbst eigentliches Hungergefühl 
kaum mehr spüren; ich erinnere an die bekannten Meutereien auf 
Schiffen, die bar von Nahrungsmitteln sind, an hungernde, meuternde 
Heere usf. 

In seinen Volksernäbrungsfragen weist Rubner ebenfalls auf die 
psychischen Veränderungen des Menschen bei mangelnder Nahrung 
hin. Er schreibt dort Seite 136: 

„Ungenügende Ernährung macht ihren Einfluß nicht nur auf 
die vegetativen Funktionen des Körpers geltend, sondern auch auf 
die Psyche. Es entsteht ein Bewußtsein der körperlichen Gebrech¬ 
lichkeit, die Neigung zu trüber Stimmung, zu taten- und energielosem 


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Jammer. Wie der schlechte Körper empfänglich ist für Kranksein 
aller Art, so das Gehirn der Herabgekommenen für agitatorische Be¬ 
handlung und Beeinflussung, für die Steigerung der Unzufriedenheit, 
für Groll und Haß, für Auflehnung und Revolte. Magenfragen spielen, 
wie der Politiker wissen sollte, eine große Rolle, sie lösen unter Um¬ 
ständen alle Bande der Kultur. Eine gut genährte Bevölkerung ist 
eine leicht zu regierende Masse“. 

Dies auf unsere Verhältnisse angewendet, heißt, wir werden 
durch die Kostscbmälerungen die Gefangenen verbittern; sie werden 
unter dem Einfluß der ungenügenden Ernährung arbeitsunlustig 
werden, ungezogen, unbotmäßig sich benehmen, ihre Hemmungen ver¬ 
lieren und es wird das Gegenteil von dem erreicht, was man bezweckt. 

Zudem wird der Gefangene, der doch die Termine der Schür¬ 
fungen kennt, vorher schon mißmutig, verbittert, vielleicht sogar 
widerspenstig; oder er kommt vorher zum Arzt und klagt über alles 
Mögliche, um der Verschärfung zu entgehen. Ob Simulation vor¬ 
liegt oder nicht, wird oft schwer zu entscheiden sein; blaß sind die 
meisten Gefangenen, besonders wenn sie häufige oder lange Freiheits¬ 
strafen hinter sich haben. Klagt er nun über Herzklopfen, Ohren¬ 
sausen, Schwindel usf., müssen wir ihm beim objektiven Befund der 
Blutarmut glauben, und ihn eventuell zur Verbüßung der Straf¬ 
schärfung für nicht geeignet erklären. Dadurch kommt eine in den 
Körperverhältnissen liegende ungleiche Behandlung der zu Schär¬ 
fungen verurteilten Gefangenen heraus, die dem Gesetzgeber sicher 
nicht wünschenswert ist; auch dürftige Ernährung überhaupt wird 
diese ungleiche Behandlung bedingen können, unter dem Gesichts¬ 
punkt, daß Magere im Hunger mehr Eiweiß zersetzen als Fette 

Eine ungleiche Behandlung der mit Schärfungen Verurteilten 
wird auch dadurch zustande kommen, daß der eine Arzt die Schür¬ 
fung noch für vollziehbar erachtet, wo ein anderer bereits Bedenken 
hat, wie es ja auch Richter gibt, die ein Delikt strenger auffassen, 
als andere. Dabei handeln beide nach bestem Gewissen. 

Es wird ferner dadurch, daß der Arzt die Vollziehung der Straf¬ 
schärfung in nicht seltenen Fällen für unmöglich erachten wird, ein 
unendlicher Verkehr mit den jeweiligen Gerichten sich entwickeln 
und statt, daß der Strafvollzug mit seinem ihm anhängenden vielen 
Schreibwerk vereinfacht wird, wird er erschwert. Das kann aber 
nicht ausschlaggebend sein. 

Angenommen nun, auf Grund des ärztlichen Gutachtens verfügt 
das Gericht, statt der Schärfungen, Verlängerung der Freiheitstrafe. 
Was wird dadurch erreicht? 


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Einige Bemerkungen zn § 18 des Vorentw. za ein. Deutsch. Strafgesetzbuch. 363 


Man muß annehmen: nicht viel; ist man ja mit Recht im Vor¬ 
entwarf auch der Meinung, daß die Freiheitsstrafe bei den hier in 
Betracht kommenden Verbrechern in ihrer gewöhnlichen Vollstreckung 
nichts fhicbte, also wird auch deren Verlängerung nichts fruchten. 

Ich hoffe hier im vorhergehenden nachgewiesen zu haben, daß 
der § 18 am besten in Wegfall kommt; er wird die Hoffnungen 
nicht erfüllen, die man an seine Existenz knüpft, er schadet ferner 
dem Gefangenen, wirkt also einem modernen Strafvollzug entgegen; 
aber auch der Strafvollzug selbst wird darunter leiden. Statt des 
§ 18 würde es empfehlenswerter sein, auf eine Unterbringung der 
unverbesserlichen Roheits- oder Rückfallsverbrecher in Zwischen- 
anstalteD in oben besprochenem Sinne zuzukommen. An Bestrafung 
der chronisch Rückfälligen durch eine Schärfung in Gestalt der 
Prügelstrafe, kann nicht gedacht werden — so gut an und für sich 
gelegentlich bei Versagung aller Disziplinarmittel die Prügelstrafe ist 
— weil sie bei vielen aus körperlichen oder psychischen Gründen 
ebenfalls nicht anwendbar sein würde, bei Frauen aasgeschlossen ist, 
also auch wieder Ungleichheit bedingen würde. 


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XVI 


Unterrichtskurse für Gerichts- und Polizeiphotographie. 

Von 

Dr. Hane Schneickert, Berlin. 


Die kriminalistische Photographie hat sich in der Gerichtspraxis 
und namentlich bei den Schwurgerichten so eingebürgert, daß man heute 
schwerlich auf sie im Gericbtssaal verzichten könnte. Zunächst ist die 
Polizeibehörde dazu berufen, zur Sicherung der Verbrechensspuren und 
Beweismittel vor allem anderen photographische Tatbestandsaufnahmen 
herzustellen. Was früher mühsam mit Handzeichnungen und Amateur¬ 
aufnahmen fixiert wurde, wird heute mit modernen Hilfsmitteln des 
polizeilichen Erkennungsdienstes aufgenommen. In den letzten Jahren 
ließ sich feststellen, daß die Anwendung dieses für großstädtische Polizei¬ 
behörden ganz unentbehrlichen Hilfsmittels auch bei kleineren Polizei¬ 
verwaltungen im Wachsen begriffen ist. Ihr Augenmerk richtet sich 
hierbei insbesondere auf eine fachmännische Ausbildung einzelner 
Beamten in der Kriminalphotographie. 

Die beste Gelegenheit wurde bisher diesen Beamten gelegentlich 
ihrer Ausbildung im anthropometrischen und daktyloskopischen Ver¬ 
fahren bei der deutschen Meßzentrale am Kgl. Polizeipräsidium 
Berlin geboten. Diese Meßzentrale wurde auf Grund einer Beschlu߬ 
fassung der im Juli 1897 nach Berlin entsandten Polizeidelegierten 
aller Bundesstaaten') eingerichtet und hat auch bis beute den Grund¬ 
satz der einheitlichen Ausbildung der Beamten im Meß- und Finger¬ 
abdruckverfahren streng durchgeführt. Aus Zweckmäßigkeitsgründen 
hat man dem — regelmäßig im Frühjahr und Spätherbst abgehaltenen 
zweiwöchigen — Ausbildungskursus noch einen vierwöchigen photo¬ 
graphischen Lehrkursus angeschlossen, sodaß seit Jahren der Aus¬ 
bildung deutscher Polizei beamten auf dem Gebiete der Kriminalphoto¬ 
graphie ein stetiges Interesse zugewendet wird. Diese Ausbildung ist 
unentgeltlich und einheitlich für alle sich anmeldenden Polizeibeamten 
der königlichen wie kommunalen Polizeiverwaltungen, denen sich zu¬ 
weilen auch Gefängnisbeamte sowie ausländische Polizeibeamte an- 

t) Außer Deutschland war vertreten: Österreich-Ungarn mit fünf, Rumänien 
mit zwei, Holland mit einem Delegierten. 


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Unterrichtskurse für Gerichts- und Polizeiphotographie. 


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schlossen. Ihre Zahl überschritt selten 15 Teilnehmer. Da der Lehr- 
knrsns im Photographieren regelmäßig nur für Unterbeamte bestimmt 
ist, scheidet eine wissenschaftlichtbeoretiscbe Unterweisung sowie die 
Sachverständigenphotographie von vornherein ans; allerdings wird der 
Unterricht, der sich demnach auf das allernotwendigste beschränken 
muß, von Beamten erteilt, die jahrelang schon in einer vielseitigen 
Kriminalpraxis stehen, wie sie nicht leicht überboten werden kann. 

Wenn bisher die praktische Kriminalphotographie, die in der 
Hauptsache der Sicherung der Beweismittel gewidmet ist, von 
der reinen Sacbverständigenphotographie, wie sie der Gericbtsarzt 
und -Chemiker oder der Schriftsachverständige für sich beansprucht, 
getrennt gehalten wurde, so geschah dies mit gutem Recht; denn ohne 
direkte Mitwirkung des einschlägigen Sachverständigen wären die 
Arbeiten des Polizeipbotographen doch meistens unzulänglich, und 
außerdem darf man diesem nicht ohne weiteres Sachverständigen¬ 
arbeiten zumuten. Aber gleichwohl möchte ich betonen, daß es auch 
für den praktisch, d.h. handwerksmäßig arbeitenden Polizeiphotographen 
recht gut wäre, wenn er die theoretisch-systematische Ausbildung 
durch Photochemiker, die sich vor allem auf nützliche Demonstra¬ 
tionen erstreckte, nicht ganz vermissen müßte. Eine großstädtische 
Polizeibehörde, die auf die Mitwirkung privater Photochemiker ange¬ 
wiesen ist, fühlt manchmal unangenehm dieses Abbängigkeitsverhältnis 
und ist daher erklärlicherweise mit Recht bestrebt, einen eigenen 
Photocheroiker in ibren Ateliers einzustellen, wie dies in einzelnen 
Fällen auch schon geschehen ist Die Tätigkeit eines Sachverständigen 
im Kriminalfache, der die Photographie in seine Dienste stellt, bringt 
es mit sich, daß „eigene Methoden“ erfunden und angewendet werden, 
die er nicht gerne preisgibt, ebensowenig wie der Fabrikant seine 
„Fabrikgeheimnisse“. 

Die Hauptschwierigkeit in der fachmännischen Ausbildung unserer 
Polizeiphotographen fällt aber weg, wenn die Polizeibehörden ihre* 
eigenen Photochemiker haben oder ihre Beamten in einer besonderen 
Lehr- und Versuchsanstalt für Berufsphotographie ausbilden oder weiter¬ 
bilden läßt Diesem allseitig gehegten Wunsche ist nun endlich die be¬ 
kannte Münchener „Lehr- und Versuchsanstalt für Photographie, 
Chemigraphie, Lichtdruck und Gravüre“ nachgekommen, indem sie 
in der Zeit vom 17. bis 26. März 1910 ihren „Ersten Unterrichts¬ 
kursus für Gerichts- und Polizeiphotographie“ abhielt, 
unter Leitung des Abteilungsvorstandes W. Urban 1 ), gerichtlich ver- 

1) Verfasser des im Verlag von 0. Nemnich, Leipzig, erschienenen „Kom¬ 
pendiums der gerichtlichen Photographie“. 


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XVI. Hans Schneickert 


eidigten Sachverständigen für Photographie, Photochemie und Urkunden¬ 
fälschung, sowie unter Mitwirkung eines Fachlehrers. Berechnet war der 
Kursus in erster Linie für Beamte des polizeilichen Erkennungs- und 
Sicherheitsdienstes. Die beteiligten Kreise brachten dieser für Deutsch¬ 
land noch neuen Einrichtung großes Interesse entgegen. Die könig¬ 
lichen Polizeirerwaltungen München und Berlin, das Kommando des 
Kgl. Gendarmeriekorps in München, das Polizeikommando in Bern, 
die Stadtmagistrate in Augsburg, Landshut, Nürnberg, Straubing, Weil- 
heim, Würzburg, sowie die Polizeibehörden in Stuttgart und Darmstadt 
entsandten zu diesem Kursus, der zu einer stehenden Einrichtung der 
erwähnten Lehranstalt ausgebaut werden soll, insgesamt 21 Teilnehmer. 

Dem Unterricht, der in Form von Demonstrationsvorträgen und 
praktischen Übungen im Atelier und in den Laboratorien gruppen¬ 
weise erteilt wurde, war folgender Lehrplan zugrunde gelegt: 

L Allgemeine Grundlagen der Photographie. 

Prinzip des Aufnahme-Apparats. Die lichtempfindliche Platte 
und ihre Belichtung. Das Negativ, seine Entwicklung und Fertig¬ 
stellung. Die positive Kopie. 

H. Apparate-Kunde. 

Stativ- und Handkamera. Die Vergrößerungsapparate. Spezial- 
Apparaturen. Die Objektivtypen mit besonderer Berücksichtigung 
ihrer Verwendung zu gerichtlichen Aufnahmen. Künstliche Licht¬ 
quellen. Die Arbeitsräume. 

III. Die Praxis der gerichtlichen Photographie. 

A. Registratives Photographieren. 

Tatbestands- und Lokalaugenscheinsaufnabmen. Die Aufnahme 
von Spuren. Metrische Aufnahmen. Signaletiscbe Aufnahmen. 

B. Exploratives Photographieren. 

Der Nachweis von Urkundenfälschungen und fälschlicher An¬ 
fertigung eines Dokumentes. Die Aufdeckung latenter Schriften. 
Der Nachweis strafbarer Handlungen im Post- und Versicherungs¬ 
wesen. Geometrisch-morphologische Identifikationen. Gerichtliche 
Radiographie. 

C. Kopier- und Reproduktionstechnik. 

Kopierapparate, Entwicklungsmascbinen. Photomechanische Ver¬ 
vielfältigungsverfahren. — 


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Unterrichtskurse für Gerichts* und Polizeiphotographie. 


367 


Der reichhaltige Lehrplan konnte in der kurzen Zeit und bei den 
unterschiedlichen Vorkenntnissen der Teilnehmer leider nicht genau 
eingehalten werden; so konnte namentlich das explorative Photo¬ 
graphieren nur in einem einstündigen Lichtbildervortrag kurz berührt 
werden. Bei der Wiederholung dieses Unterrichtskurses im laufenden 
Jahr müßte vor allem an eine Zweiteilung der Teilnehmer in der 
Richtung gedacht werden, daß bei einer vierzehntägigen') Unterrichts¬ 
zeit die vier ersten Tage lediglich der Ausbildung der photographischen 
ABC-Schützen in den allgemeinen Grundlagen der Photographie ge¬ 
widmet werden, die übrigen zehn Tage erst der gemeinsamen Aus¬ 
bildung in der polizeilichen Fachphotographie. Schließlich müßte 
auch an die praktische Ausbildung im explorativen Photographieren 
gedacht werden, die im Anschluß an die gemeinsame Ausbildung 
einzelnen Fortgeschrittenen, vielleicht unter besonderen Zulassungs¬ 
bedingungen, ermöglicht werden müßte. Gerade nach dieser Richtung 
könnte die Münchener Lehr- und Versuchsanstalt eine ebenso not¬ 
wendige wie dankenswerte Studiengelegenheit schaffen. 

Wenn man sich an die polizeiphotographische Abteilung der inter¬ 
nationalen photographischen Ausstellung in Dresden (1909) erinnert, muß 
man sagen, daß die Kriminalpbotograpbie nicht allein unerschöpflich ist, 
sondern auch fast unschätzbare Vorteile in der Erforschung strafbarer 
Handlungen, kurz, in der gesamten Rechtspflege bietet, sodaß neben 
der Ausbreitung dieses unersetzlichen Hilfsmittels auch die Vertiefung 
fachphotograpbischer Kenntnisse fortschreiten muß 2 ). 

1) Die richtige Durchführung des Lehrplanes erfordert mindestens 4 Wochen. 

2) Welchen Umfang heute schon die photographischen Arbeiten einiger 
großstädtischen Polizeiatcliers angenommen haben, beweist die nachstehende 
statistische Tabelle: 


Atelierarbeiten: 

1 Jahr 

1 

Berlin 

Hamburg 

Hannover \ 

_____ 1 

München 

, 

( 

1909 

, 2 330 | 

5 519 

711 

y 

1 307 

PersonennufDahmen: s 

1910 

2211 

5 356 

1 435 

| 

1909 

39 

v 1 

41 

98 

Tatbestandsaufnahmen: j 

1910 

47 

63 

y 

176 

Reproduktionen nach / 

1909 

I 935 

? 

183 

184 

vorhandenen Bildern: ( 

1910 

1 332 

895 

y 

585 

Kopien: J 

i 1909 

J 77 743 

*j 

8182 

9 125 

! 1910 

91 204 

38 628 

? 

12 235 


*) Incl. Finger- und Fußabdrücke. 


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Original from 

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Kleinere Mitteilungen. 


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Von Dr. ßob. Heindl, München. 

Reichskriminalpolizei. Der Reichstagsabgeordnete Müller-Mei¬ 
ningen hat im Heft 21, 1910, der deutschen Juristenzeitung einen längeren 
Artikel über: „Die Reform unserer Kriminalpolizei“ gebracht. Er wirft 
darin der deutschen Polizei vor, sie zersplittere ihre Kraft viel zu sehr 
durch Einmischung in alle möglichen Kleinigkeiten des täglichen Lebens, 
sei aber ihrer Hauptaufgabe, dem Kampf gegen das Verbrechertum, nicht 
immer gewachsen. Dieses Versagen der Polizei in großen Kriminalfällen 
sei nur zum Teil der Unfähigkeit ihrer Beamten zuzuschreiben. Es liege 
vielmehr zum großen Teile an den Mängeln der Organisation unserer Kri¬ 
minalpolizei. Es fehle uns entsprechend dem einheitlichen Reichsstrafgesetz 
und der Reichsstraf Prozeßordnung „ein einheitliches Reichskriminalpolizei- 
gesetz d. h. die reichsgesetzliche Errichtung einer Zentrale der Kriminal¬ 
behörden in Berlin“. 

Der Vorschlag Müll er-Meiningen, der mit Recht überall große 
Beachtung fand, und im Auszug durch zahlreiche deutsche Blätter ging, 
ist schon mehrmals von deutschen Polizeibehörden und von verschiedenen 
Bundesstaatsministerien erwogen worden. 

Es ist klar, daß das Verbrechertum, dessen gefährlichste Vertreter, die 
„Gewerbsmäßigen“, meist reisende Virtuosen ihres Faches sind, und heute 
diesen, morgen jenen Bundesstaat unsicher machen, nur dann wirksam be¬ 
kämpft werden kann, wenn alle deutschen Kriminalpolizeistellen Zusammen¬ 
arbeiten. Ob aber eine „Reichspolizeizentrale mit dem Sitz Berlin“ zweck¬ 
mäßig und durchführbar ist, läßt sich bestreiten. Man braucht kein 
Partikularist und Freund der deutschen Kleinstaaterei su sein, um wichtige 
Gründe gegen eine solche Zentralisierung anzuführen. 

Empfehlenswert dürfte vorläufig nur sein, die Kriminalpolizei aller 
Bundesstaaten einheitlich zu gestalten, da nur gleichorganisierte Behörden 
rasch und einfach zusammen arbeiten können. Der jetzige Zustand 
ist zweifellos unhaltbar. Nicht einmal die wichtigste Sparte der 
Kriminalpolizei, der „Erkennungsdienst“ ist einheitlich geregelt. Von den 
nicht ganz zweihundert deutschen Polizeiinstituten, die sich mit Identifi¬ 
zierungsarbeit befassen, geben etwa zwei Drittel dem Fingerabdruckver¬ 
fahren, ein Drittel der Körpermessung den Vorzug, wodurch ein Verkehr 
dieser Ämter unter einander und eine erfolgreiche Identifizierungstätigkeit 
unmöglich wird. Aber selbst bei jenen Behörden, bei denen die Daktylo¬ 
skopie die Antropomethrie verdrängt hat, herrscht eine im Interesse des 


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Kleinere Mitteilungen. 


369 


Dienstverkehres bedauerliche Verschiedenheit. Man nehme nur die vier 
größten Ämter: Berlin, Dresden, Hamburg und München. Nur Dresden 
und Mönchen arbeiten mit demselben System (dem englischen), Hamburg 
nnd Berlin dagegen haben sich ein apartes Registrierverfahren erdacht. 

Hier sollte zunächst die Reformtätigkeit einsetzen. Vor allem soll 
jeder Bundesstaat das Fingerabdruckverfahren obligatorisch einführen — 
manche Bundesstaaten haben bisher überhaupt kein Erkennungsverfahren 
— und dann soll auf dieser einheitlichen Basis ein Zusammenschluß aller 
deutschen Polizeibehörden organisiert werden, aber nicht, 'wie Müller- 
Meiningen vorschlägt, durch Bildung einer Reichszentrale, sondern durch 
Errichtung von Landeszentralen. 

Das gesamte Identifizierungsmaterial in Berlin oder sonst einer Zen¬ 
trale zu vereinen, ist nach meiner festen Überzeugung technisch undurch¬ 
führbar. Es müßte sich bereits in 5 Jahren weit über eine halbe Million 
Fingerabdruckblätter ansammeln, ein Wust von Papier, der selbst bei sorg¬ 
fältigster Registrierung jeder Übersicht entbehren würde. Es gäbe dann nur 
einen Ausweg: es wäre der Kreis der zu daktyloskopierenden Personen zu be¬ 
schränken. Man müßte (wie es jetzt bei der Anthropometrie gehalten 
wird) nur jene gewerbsmäßigen und internationalen Verbrecher erkennungs¬ 
dienstlich behandeln, die durch die Art ihres Delikts befürchten lassen, daß 
Bie noch öfter und vielleicht auch in anderen Distrikten verbrecherisch 
tätig sein werden. Damit wird aber in das ganze System ein gefährliches 
Loch gerissen. Wer garantiert, daß der harmlose Josef Maier, der heute 
nur wegen Hotelzechprellerei vor dem Richter steht, nicht morgen unter 
die internationalen Hoteldiebe geht? Nach meiner Überzeugung hat die 
ganze erkennungsdienstliche Tätigkeit nur dann Sinn und Erfolg, wenn 
jede von der Kriminalpolizei behandelte und vom Gericht schuldig befundene 
Person ein für allemal festgenagelt wird. Nur so gewinnt man ein mög¬ 
lichst lückenloses Material, das in großen Kriminalfällen durchsucht werden 
kann und das Incognito des Täters lüften muß. (Fast alle großen Ver¬ 
brechen sind ja von Vorbestraften begangen). Um das Material übersicht¬ 
lich zu verteilen, sind etwa ein und ein halbes Dutzend Landeszentralen 
nötig, die die Karten ihres Distriktes sammeln. Das Königreich Sachsen 
hat bereits vor etlichen Jahren eine solche Landeszentrale errichtet und 
arbeitet mit denkbar bestem Erfolg. Die k. Polizeidirektion in München 
plant dasselbe, ebenso dem Vernehmen nach andere Bundesstaaten. Es 
könnte auf diese Weise, wenn Preußen etwa 10, Sachsen, Bayern usw. 
je 1 and kleinere Bundesstaaten zusammen je 1 Zentrale errichten, ein Netz 
über ganz Deutschland gespannt werden, in dessen Maschen mancher Ver¬ 
brecher hängen bliebe. 

Wird an irgend einem Ort ein schweres Delikt begangen, dessen Auf¬ 
deckung der Mühe lohnt, so hat die untersuchende Behörde die sämtlichen 
Landeszentralen anzuscbreiben. Das bedeutet allerdings, selbst wenn man 
rin Vervielfältigungsverfahren zu Hilfe nimmt, ein gutes Stück Arbeit, aber 
man muß bedenken, daß solche interlokale oder gar internationale Recher¬ 
ehen doch nicht allzuhäufig sind und daß dadurch die ungeheure, undurch¬ 
führbare Arbeit wegfällt, die mit einer Reichszentrale verbunden wäre. Mit 
anderen Worten: beim Vorhandensein von Landeszentralen kann ein voll¬ 
ständiges und dabei noch übersichtliches Material gesammelt und parat 

▲rchiT für Kriminalanthropologie. 40. Bd. 24 


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Kleinere Mitteilungen. 


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gehalten werden, der interlokale Apparat braucht sich aber nur in einzelnen 
wenigen Bedarfsfällen, in denen er wirklich nötig ist, in Bewegung zu setzen. 

Anders als mit den daktyloskopischen Registern, diesen weitaus 
wichtigsten Behelfen des Fahndungsdienstes, steht es mit dem Nachrichten¬ 
dienst Die Ausschreibung der gesuchten Verbrecher, der gestohlenen Wert¬ 
gegenstände und die Veröffentlichung der charakteristischen Arbeitsmethoden 
bestimmter gewerbsmäßiger Verbrecher („Kriminalarchiv“) kann zweck¬ 
dienlich an einer Stelle des Reichs zentralisiert werden, denn hier läßt 
sich, da mab es stets nur mit der vollendeten Tatsache zu tun hat, das 
Material sieben. Hier weiß man nach der Schwere des Delikts und der 
Art seiner Begehung, ob der Fall mehr als lokales Interesse hat, und ob 
die Zentrale damit belastet werden darf. Ein derartiger Nachrichtendienst, 
für den m. E. der Londoner Nachrichtendienst vorbildlich wäre, könnte 
passenderweise dort eingerichtet werden, wo bereits das Reichsstrafregister 
gehalten wird, in Berlin. 

Ebenso ausführenswert erscheint mir der Vorschlag Müller-Meiningen, 
nach dem Vorbild der französischen Brigades regionales ganz Deutschland 
in eine Anzahl großer Kriminalpolizeibezirke einzuteilen, deren Dienst von 
besonders tüchtigen routinierten Kriminalbeamten ausgeübt wird, die in 
wichtigen Kriminalfällen die Untersuchung an Stelle der weniger geschulten 
und mit weniger Bewegungsfreiheit ausgestatteten kleinen Lokalbehörden 
führen sollen. Aber wie sollen sich solche brigades mobiles besser organi¬ 
sieren lassen, als im Anschluß an die erwähnten Landeszentralen? Sachsen 
hat das, was Müller-Meiningen vorschlägt, bereits praktisch ausgearbeitet, 
und besitzt eine solche „fliegende Brigade“. 

Hoffentlich folgen die anderen Bundesstaaten diesem Vorbild bald 
nach. Die Einberufung einer Polizeikonferenz würde sicher am raschesten 
zum Ziele führen und dem Deutschen Reich eine Kriminalpolizei verschaffen, 
die der ausländischen mindestens ebenbürtig wäre. 


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Besprechungen. 


1. 

Perrier: Le huste et see rapports avec la taille chez les criminels. 68 S. 
mit vielen Abbildungen. Archives d’anthropologie criminelle osw. 
1910, Sept. — Okt. 

Perrier, Gefängnisarzt an der Maison Centrale de Nimes, die auch 
Araber aofnimmt hat schon ausgezeichnete Untersuchungen anthropologischer 
Art bei den dortigen Gefangenen vorgenommen. Hier untersucht er die 
Büste, d. h. die Entfernung vom Scheitel bis zur Sitzfläche im Verhältnis 
zur Körperlänge. Er untersuchte 859 Männer. Nur in 1 Proz. war die 
Böste gleich oder weniger als die Hälfte der Länge, meist ist sie aber 
5—10 cm größer. In jedem Alter öbertreffen die Büsten von 5—10 cm 
in der Länge, das Maximum trifft zwischen 40—50 Jahren ein. Kleine Leute 
haben kleine Büsten, die kleiner oder gleich der halben Länge sind; hier 
Übertreffen sie jene meist um 5—10 om. Je > Körperlänge, desto kleiner 
relativ die Büsten. Bei den Büsten von 5—10 cm Überlänge kommen am 
häufigsten Verbrecher gegen die Person (78,42 Proz.), dann gegen das Eigen¬ 
tum, ferner Italiener, Fremde, mehr als Franzosen, mehr Ledige, Ungebildete, 
Nomaden, Dorfbewohner und Rezidivisten. Von 30 - 65 Jahren und 
darüber wachsen die Beine mehr als die Büste überhaupt. Außer Alter, 
Rasse und Geschlecht üben sicher aber auch Klima, Höhenlage, Profession, 
Xahrung8weise usw. einen Einfluß darauf aus. Prof. Dr. P Näcke. 

2 . 

Anton: Über krankhafte moralische Abartung im Kindesalter usw. Mar- 
hold, Halle, 1910. 30 S. M. 1. 

Unter Beigabe eines großen Literaturverzeichnisses schildert Verfasser 
die symptomatische und idiopathische Form der „moral insanity“, deren 
Namen er beibehalten wissen will. (? Ref.). Es sind das „Krankheits¬ 
prozesse und abnorme Entwickelungen . . , welche elektiv und vorwiegend 
das Gefühls- und Gemütsleben und die daraus erfließenden Handlungen 
beeinflussen“. Das Bild der Katatonie kann ihr sehr ähneln. 

Prof. Dr. P. Näcke. 

3. 

Rühl: Cesare Lombroso. Halle, Marhold, 1910. 20 S. M. 0,75. 

Kurze Skizze des Lebens und der Verdienste Lorabrosos. 

Wenn Verf. sagt (p. 14), daß „viele“ von seinen Theorien endlich 
triumphiert haben, so ist dies nicht wahr. Nur wenig ist vielmehr davon 
übrig geblieben. Prof. Dr. P. Näcke. 

24* 


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372 


Besprechungen. 


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4. 

Deutsche Heil- und Pflegeanstalten ffir Psychischkranke in 
Wort und Bild. Halle, Marhold 1910. Großquart, 666 S. 
M. 20. 

Dieses von dem verdienstvollen Dr. Bresler herausgegebene Pracht¬ 
werk, welches den Mitgliedern des IV. Internationalen Kongreß zur Fürsorge 
für Geisteskranke in Berlin, Okt. 1910 geschenkt ward, enthält auf 666 
Seiten über 700 Abbildungen, Grundrisse und Pläne und ward mit Unter¬ 
stützung staatlicher, provinzieller und städtischer Behörden zusammen gestellt 
Man bekommt hier einen genauen Einblick in 65 moderne öffentliche und 
private Austalten Deutschlands. Auch der Laie wird erstaunt sein, was 
für Riesenfortschritte die moderne Irrenheilkunde gemacht hat und wie 
ganz unberechtigt jedes Mißtrauen gegen die Irrenanstalten und die Ärzte 
ist. Deutschland schreitet sicher in seinen Einrichtungen an der Spitze der 
zivilisierten Staaten und auf lange Zeit hin wird wohl vorliegendes Werk 
anregend auch für den Bau neuer Anstalten oder Einrichtungen sein. 

Prof. Dr. P. Näcke. 


5. 

Viertel] ahresberiohte des Wissenschaftlich-humanitären Komitees. 
Leipzig. Spohr 1910. 1. Jahrgang. 

Dieselben liegen nun aus 4 Heften bestehend vor uns und enthalten 
so manches Interessante, auch für den ferner Stehenden. Namentlich sind 
hier die ausgezeichneten Referate von Numa Praetorius hervorzuheben, 
auch verschiedene Mitteilungen. Dagegen haben für die Wissenschaft die 
vielen Berichte über Verhaftungen, Selbstmorde und Erpressungen von 
Homosexuellen keinen Wert, zumal es nur Zeitungsausschnitte sind. Anders 
natürlich für das Komitee selbst, das sich dieser Unglücklichen nach wie vor in 
löblicher Weise anniramt. Wenn also auch die Publikation mit den leider ein¬ 
gegangenen Jahrbüchern für sexuelle Zwischenstufen nichts direkt zu schaffen 
haben, so sind sie doch immerhin lesenswert. Prof. Dr. P. Näcke. 

6 . 

Gierlich: Symptomatologie und Differentialdiagnose der Erkrankungen 
in der hinteren Schädelgrube. Halle, Marhold 191<>. 44 S. M. 1. 
Klare Darlegung der schwierigen anatomischen und physiologischen 
Verhältnisse des Kleinhirns und seiner Bahnen. Darauf folgt die Symptomatik 
der hauptsächlichsten Leiden, namentlich der Abszesse, Tumoren und Zysten 
und ihrer möglichen Verwechselungen. Endlich einige therapeutische Winke. 
Die operativen Erfolge der Abszesse sind besser als die der Tumoren. 
Mindestens ist aber öfters Besserung zn erzielen. 

Prof. Dr. P. Näcke. 

7. 

Schäfer: Jesus in psychiatrischer Beleuchtung. Berlin, Hofmann 1910. 
178 S. M. 2,40. 

Verf., ehemaliger Irrenarzt, polemisiert hier gegen Lomer, (de Lootaen) 
der früher Jesus für einen Paranoiker gehalten hatte. Die Abhandlung ist 
sehr interessant, aber sie bringt uns auch keine volle Gewißheit. Er schließt, 
daß Jeans ein völlig geistesgesunder, genialer Reformator war, dar nicht 


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Besprechungen. 


373 


eine Spur von Abnormem anfwiee. Er macht sich die Sache dadurch 

leicht, daß er alle Aassprüche oder Handlangen Christi, die mindestens 

auffallend sind, für absolut natürlich hält. Wenn z. B. fast alle Welt 

ringsum Jesum für abnorm hielt, so ist das einfach Niederträchtigkeit; 
wo Aussprüche rorliegen, die als Größenwahn oder Geringschätzung der 
Familie usw. ausgelegt werden könnten, so ist dies falsche Interpretation 
usw. Kurzum Schäfer und Lomer sehen jeder durch eine besondere 

Brille, haben beide manches für sich, überzeugen aber den Kritiker nicht. 
Die Schwierigkeit einer Pathographie gerade bei Christus liegt, wie Ref. 
schon früher sagte, darin, daß t. viel zu wenig Aussprüche und Handlungen 
voriiegen, um ein umfassendes Urteil zu gewinnen, zumal sie sich hie und 
da zu widersprechen scheinen und 2. vor allem darin, daß sie ja überhaupt 
nicht absolut authentisch, also mit der größten Vorsicht zu behandeln 
sind. Das Werkchen ist populär geschrieben, liest sich gut, enthält aber 
anch sonst manches Anfechtbare wie bei Verfasser dies häufig genug zu 
finden ist. Prof. Dr. P. Näcke. 


8 . 

Friedländer: Die soziale Stellung der Psychiatrie. Psych.-Neurolog. 

Wochenschrift 1910 Nr. 27. Marhold, Halle. 

Angesichts der vielen Angriffe auf die Irrenanstalten und die Irren 
ärzte ■) — leider auch seitens mancher Juristen — ist es vom Verf. ein 
verdienstliches Unternehmen, daß er in obigem Aufsatze den Gründen 
nacfageht, die diese traurige Erscheinung bedingen. Zuvörderst stellt er 
an die Spitze den selbstverständlichen Satz, daß die Irrenfürsorge in den 
Händen Von Irrenärzten liegen soll, unter strenger staatlicher Aufsicht und 
er geißelt die traurigen Verhältnisse in Belgien, wo die Irrenärzte nichts zu 
sagen haben und Ordensleute eigentlich alles regieren. Es werden 3 Vor¬ 
würfe gegen die Psychiater erhoben: 1. daß sie sich berufen fühlen, Ver¬ 
brecher dem Arme der Gerechtigkeit zu entziehen, 1. Geistesgesunde für 
geisteskrank erklären und sie einsperren lassen, um Reichen oder Mächtigen 
gefällig zu sein und 3. gemeingefährliche Geisteskranke ungenügend be¬ 
wachen oder sogar entlassen. Diese 3 Hauptvorwürfe sucht er treffend 
zu entkräften und zeigt, daß bisher auch nicht ein einziger Fall nachge¬ 
wiesen ist, der nur einen jener Gründe als wahr hinstellte. Die hetzenden 
Artikel und Broschüren stammen meist von Paranoikern her und diesen 
glaubt das Publikum nur zu leicht. Wenn ja einmal ein wirklicher Fall 
von Mißhandlungen eines Kranken vorkommt, so wird dies sofort ver¬ 
allgemeinert, und dabei ganz übersehen, wie unendlich oft Pfleger und 
Arzte Attacken seitens Irrer ausgesetzt sind. Vornehmes Schweigen dieser 
Hetze gegenüber verschlimmert nur den Haß. Jeder fragliche Fall sollte 
genau untersucht und veröffentlicht werden. Dazu kommen noch leider 


1) Vor kurzem hat wieder Prof. Lehmann-Hohenberg (früher in Kiel) 
maßlos gegen die Irrenärzte gehetzt, wie er es schon seit langem tut Schon 
früher auf seinen geistigen Zustand untersucht nnd als Querulant befunden, ist er 
jetzt im Oktober vor. Js. wieder zur Untersuchung und Beobachtung einer Irren¬ 
anstalt übergeben. Er hat dem Anseben der Irrenärzte unendlich geschadet, weil 
sehr viele, auch der Gebildetsten, seinen grundlosen Behauptungen glaubten. 


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374 


Besprechungen. 


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die öfters auseinandergehenden Ansichten der Psychiater in foro, die aber 
eben auch nicht zu verallgemeinern sind. Die Entscheidung endlich, ob 
ein gemeingefährlicher Kranker zu behalten sei oder nicht, hängt nur 
von der Behörde ab, nicht vom Irrenarzte, der bloß gehört werden kann. 

Prof. Dr. P. Näcke. 


9. 

Unter der Überschrift: »Wie treibt man richtige Kriminal; 
Statistik? von Überschaer, Leipzig“ — findet sich in dem letzten 
Hefte von Goltdammers Archiv eine Abhandlung Uber die Mängel 
des Urmaterials dieser Statistik, der Zählkarten einerseits und über 
die falsche Ausnutzung der Erhebungen durch das Tabellenwerk 
andererseits. 

Der Verfasser vertritt mit Recht den Standpunkt, daß die Kriminal¬ 
statistik von den Delikten ausgehen und zu erforschen suchen muß, was das 
ffir Menschen sind, die gegen dieses oder jenes Delikt verstoßen und die 
das Delikt von neuem begehen trotz erlittener Strafen. In dieser Richtung 
ist aber die heutige Zählmethode völlig ungenügend und den Angriffen 
gegen die Einrichtung der sog. Rückfallstatistik muß in allen Punkten bei¬ 
getreten werden. Ein einheitlicher Aufbau des Tabellenwerkes und die 
vorgeschlagene Altersklasseneinteilung der Verurteilten würden die Statistik 
zweifellos auf eine wesentlich höhere Stufe stellen. Weiter werden von dem 
Verfasser die Mängel des Systems in der Feststellung über die Häufigkeit 
der Anwendung der Strafen in bezug auf Art und Höhe eingehend dar¬ 
gelegt. Wenn man in der Erkenntnis, daß die Häufigkeit der einzelnen 
Delikte in den Oberlandesgerichtsbezirken eine recht verschiedene* ist, da¬ 
von abkam, die Anwendung der Strafen in den Oberlandesgerichtsbezirken 
ohne Rücksicht auf die Delikte zu untersuchen und unter sich zu ver¬ 
gleichen, so ermittelt man jetzt die Art und Höhe der erkannten Strafen 
hinsichtlich der einzelnen Delikte für das Reich. Eine Bolche Berechnung 
läßt aber nicht die Wirkungen des Strafvollzugs der verschiedenen Straf¬ 
anstalten erkennen. Auch liegt bei einer sich aus verschiedenen Größen 
zusammensetzenden Summe der Durchschnitt durchaus nicht ungefähr in 
der Mitte, da die größeren Anteile das Gesamtergebnis stark beeinflussen. 
Der Verfasser macht in dieser Richtung durch die Abänderung der Zähl¬ 
karte besonders wertvolle Vorschläge, die dahingehen, daß die Art der 
Vorstrafen mit in Rechnung gestellt und somit mehr gleiches mit gleichem 
verglichen wird. Auf diese Weise können die verschiedensten Fragen, die 
das Hauptfeld der Kriminalpolizei betreffen, erörtert werden. Der Tabellen¬ 
kopf erreicht in Rücksicht auf die Fragen die denkbar beste Scheidung 
der Angeklagten. Die Gliederung verhütet unnütze Arbeit und ermöglicht 
eine bessere Beziehung der Zahlen unter einander. Dabei ist als 
überaus wertvoll in Betracht zu ziehen, daß die Abänderungvorschläge des 
Verfassers nicht nur keine Mehrarbeit, sondern eine erhebliche Entlastung 
in der Herstellung der Zählkarten herbeifuhren, indem die Karten nur das 
enthalten sollen, was für die Statistik auch wirklich nutzbringend ist 

Von Interesse würde es sein, wenn der auf dem statistischen Gebiete 
so erfahrene Verfasser Stellung nehmen würde zu einem weiteren Fehler 
in der heutigen Zählmethode. Es ist jetzt nicht ersichtlich, ob der Täter 


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Besprechungen. 


375 


der fluktuierenden Bevölkerung angehört, genauer ausgedrückt, ob er seinen 
Wohnsitz schon zwei Jahre inne hat oder nicht. Das Bild der Städte¬ 
kriminalität würde ein anderes und richtigeres sein, wenn nachweisbar 
wäre, daß viele Täter nicht Ortsangehörige sondern als sogenanntes fremdes 
Volk die Kriminalstatistik des betreffenden Wohnortes füllen. Dem Mangel 
könnte vielleicht dadurch abgeholfen werden, wenn in der Zählkarte bei 
der Frage des Wohnortes die Unterfrage eingeschoben würde „ länger als 
zwei Jahre?“ F. Wehrs-Hamburg. 


10 . 

Dr. Ferdinand Knoblauch: „Bettel und Landstreicherei im 
Königreich Bayern von 1S93—1899“. Aus „Stat. u. nat 

ökonomischen Abhandlungen, insbesondere Arbeiten aus 
dem Statistichen Seminar der Universität München“. 
München, E. Reinhardt. 1910. 

Die fleißige und überlegsame Arbeit liefert eine Menge lehrreicher 
Daten, konnte sich aber nach dem Inhalte ihrer Grundlagen, der Ge¬ 
schäftstabellen der Königl. Amtsgerichte, gerade über wichtige Fragen nicht 
äußern. Verf. weist in richtiger Erkenntnis dessen, was augenblicklich 
wichtig wäre, selbst darauf hin, daß sich seine Angaben nur auf die Orte 
beziehen können, wo die Abstrafungen erfolgten; wir erfahren also genau, 
wieviele Abstrafungen z. B. in Amberg, Lindau usw. alle Jahre geschehen 
sind — das hat aber hauptsächlich nur lokales, nicht aber moralstatistisches 
Interesse. Und wenn ein Erfahrener hört, daß im Bezirke X besonders 
viele Bettler sind, so wird er als Grund viel weniger die sittliche Natur 
der dortigen Bevölkerung annehmen, als — und zwar mit Recht — die 
Tatsache, daß dort wohlhabende, gutmütige Leute wohnen, daß man wenig 
bissige Hunde hat, daß Bettel und Landstreicherei dort verhältnismäßig 
milde bestraft wird, daß die Verkehrsverhältnisse und Unterkünfte für Va¬ 
gabunden dort günstig liegen und ähnliches, was für den Moralstatistiker 
wenig interessant ist. Es sei gestattet, für diese Frage ein bezeichnendes 
Beispiel anzuführen. Als junger Landrichter diente ich in einem wohl¬ 
habenden steierischen Bezirke, nahe der ungarischen Grenze, der von 
Zigeunern überschwemmt wurde, weshalb die Verhandlungen wegen Betteins 
und Landstreicherei ins Unglaubliche stiegen. Als ich mir nicht anders 
zu helfen wußte, ließ ich jeden eingelieferten Zigeuner „aus Reinlichkeits- 
rücksicbten und wegen Gefahr der Verlausung aller Arreste“ rattenkahl 
scheren. Das ist den Zigeunern entsetzlich und sie mieden meinen Bezirk 
auf das angelegentlichste. Die Folge davon war, daß ich nach Vorlage 
der Jahresberichte die Weisung bekam, zu berichten, wie die unverständ¬ 
liche Verminderung der Urteile wegen Vagabundage aufzuklären sei? 

Und der Chef der politischen Behörde, der mein Kunststück nicht 
kannte, hatte der Regierung berichtet, daß sich die wirtschaftliche Lage 
des Bezirkes in höchst erfreulicher Weise gehoben habe, wie aus „dem 
enormen Rückgänge der Vagabundage“ zu entnehmen sei! Solche „Gründe“ 
wird es aber viele geben, und Schlüsse aus der Zahl der Abstrafungen 
allein sind daher stets gewagt 

Mit vollem Recht verlangt Verf. daher, daß in den Rubriken der 
fraglichen Tabellen verschiedene persönliche Daten, z. B. Geburtsort, Fa- 


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376 


Besprechungen. 


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milienstand, 8tand und Beruf usw. aufgeführt werden — dann konnte 
die statistische Verwertung wichtigeres bringen. Diesem Verlangen muß 
gewiß zugestimmt werden, nur wäre statt oder besser neben dem Geburts* 
ort auch die Heimats(zuständigkeits)gemeinde zu verzeichnen. Der Ge- 
burtsort sagt in gewisser Richtung auch nicht viel und gewisse Städte mit 
geburtshilflichen Kliniken, Findelhäusern usw. würden in üblen Ruf ge¬ 
raten, weil so viele Landstreicher von ihnen herstammen — Findelkinder 
liefern doch einen erschreckend hohen Prozentsatz von verkommenden 
Leuten. Daß die Heimat des Landstreichers selten mit dem Orte der Be¬ 
gehung und Bestrafung des Deliktes übereinstimmt, zeigt ja eben der 
Name Landstreicher und die Erfahrung, nach welcher Vagabunden in der 
Regel von auswärts, oft sehr weit herkommen. In der Heimat betteln zu¬ 
meist nur die verhältnismäßig harmlosen sogenannten Hausbettler, arme 
alte Weiber. — 

Im übrigen muß dem vom Verf. am Schlüsse vorgeschlagenen Formu¬ 
lare zugestimmt werden. H. Groß. 


II. 

Dr. jur. M. Yamaoka aus Tokio: „Grundzüge der Strafpolitik“. 

Leipzig. 

Diese Schrift ist schon deshalb merkwürdig, weil sie eine der wenigen 
Emanationen eines Japaners auf, wenigstens zum Teile, philosophischem 
Gebiete ist; wir sehen, daß diese bewunderungswerte Leute auch das ver¬ 
stehen. Die ersten drei Paragraphen sind historischen Inhalts und be¬ 
sprechen den Begriff der Strafe in überraschend klarer und einfache Weise 
nach Zeit und Ort. Besonders belehrend ist das Kapitel über chinee. und 
japan. Recht, worin wir authentische Aufklärung erhalten. Die folgenden 
Abschnitte besprechen, ebenfalls klar und einfach, die „teleologische“ Strafe, 
Umfang, Anwendung, Quantität und Qualität der juristischen Strafe. Die 
teleologische Strafe dient der Aufrechterhaltung der Rechtsordnung und 
deswegen darf der Rechtsbegriff nicht überschritten werden. 

H. Groß. 


12 . 

J. Adolf Stöhr „Lehrbuch der Logik in psychologisierender 
Darstellung“. Leipzig und Wien, Franz Deuticke. 1910. 

Man hat einmal gesagt, daß die Rechtswissenschaft keine Wissenschaft 
sei, denn was an ihr Wissenschaftliches ist, gehört entweder der Logik oder 
der Geschichte an. So unrichtig der Satz an sich ist, so sicher ist es, daß 
die Logik einen wesentlichen Teil der theoretischen und vielleicht noch mehr 
der praktischen Juristerei darstellt, und so wäre einer kein rechtschaffener 
Jurist, wenn er sich nicht genügende logische Kenntnisse zu verschaffen 
suchte. Freilich pflegt man zu sagen, es könne keiner die Logik erlernen, 
wenn er nicht logisch zu denken vermöchte — aber dann gäbe es über¬ 
haupt keine Wissenschaft, denn diese regelt immer nur das Wahrge- 
genommene. In der Tat werden von uns Juristen bedauerlich wenig theo¬ 
retisch-logische Studien getrieben, die Erfolge sind aueh oft genug dem 
entsprechend und beim Studium von Prozessen — alten und neuen — er¬ 
hält man häufig die Überzeugung, daß begangene arge Fehler ausgeblieben 


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Besprechungen. 377 

wären, wenn die Leute ein gründliches Studium eines guten Logiklehrbuches 
hinter sieh gehabt hätten. 

Ein solches, modern und verständlich geschrieben, ist das des Wiener 
Philosophen, ich empfehle sein Studium dringend. H. Groß. 

13. 

Gerhard Anschütz: „Die Polizei“ (Vorträge der Gehestiftung 
zu Dresden. 2. Bd. 1910) B. G. Teubner, Leipzig und 
Dresden. 

Eine vortreffliche kurze Darstellung dieses viel umstrittenen Begriffes, 
seiner Geschichte und der Aufgabe der Polizei mit korrekter Abgrenzung 
ihres Wirkungskreises im modernen Rechtsstaat gegen den früheren Polizei¬ 
staat. _ H. Groß. 

14. 

G. Anton, „Über krankhafte moralische Abartung im Kindes¬ 
alter und über den Geilwert der Affekte". Aus Jurist, 
psychiatr. Grenzfragen“ VII. Bd. Heft 3. Carl Marhold, 
Halle a. S. 1910. 

Die kleine Schrift des genialen Hallenser Psychiaters ist für den 
Kriminalisten deshalb sehr wichtig, weil sie darüber unterrichtet, welche 
von den „unerziehbaren, gefährlichen und schlechten“ Kindern und jungen 
Leuten einfach psychopathisch veranlagt sind und nicht gestraft, sondern 
zu heilen versucht werden sollen. Sind solche Individuen Zeugen, so müssen 
sie als Kranke erkannt werden, da ihre Mitteilungen fast durchgehend 
falsch, entstellt und verwirrend gemacht werden, ohne daß sie für den 
angerichteten Schaden verantwortlich sind, es ist Krankheit, durch welche 
die Lügen entstanden sind. 

Anton kommt zu dem Schlüsse, daß der nun 80 jährige, oft verworfene 
und wieder angeweudete Name moral insanity doch bestehen bleiben 
kann; er gilt für „Krankheitsprozesse und abnorme Entwicklungen, welche 
„elektiv und vorwiegend das Gefühls- und GemütBleben und die daraus er- 
fbeßenden Handlungen beeinflussen“. Kann dies Wort, die moral insanity 
bestehen, so ist dies für unsere gerichtlichen Gutachten von großem Wert 

H. Groß. 


15. 

Ernst Schnitze, „Die jugendlichen Verbrecher im gegen¬ 
wärtigen und zukünftigen Strafrecht“. Wiesbaden, 
1910, F. F. Bergmann. 

Eine vortreffliche Darstellung der so überaus wichtigen Frage der 
strafrechtlichen Behandlung Jugendlicher mit kritischer Besprechung ihrer 
literarischen Entwicklung und der zu erwartenden künftigen Gestaltung. 

H. Groß. 


16. 

Arnold Wadler „Die Verbrechensbewegung im östlichen Europa. 
IL Bd. Die Kriminalität der Balkanländer. Mit 107 Ta¬ 
bellen und 12 Diagrammen“. München. 1908. Hans 
Sachsverlag Otto Schmidt-Bertsch. 


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Besprechungen. 


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Gute statistische Arbeiten sind immer von großem Wert und um so 
mehr anzuerkennen, als ihre Herstellung mit bedeutenden Schwierigkeiten 
verbunden ist. Dies ist bei dem vorliegenden Buche hervorragend der 
Fall, da die Beschaffung des Materiales umständlich, seine Prüfung und 
Verarbeitung kompliziert und schon das Verständnis der zahlreichen, mit¬ 
unter recht abseits liegenden Sprachen, in welchen das Material vorliegt 
nicht vieler Leute Sache ist Wie weit dieses überhaupt jene Verläßlich¬ 
keit besitzt, die wir im Westen von statistischen Daten verlangen, das 
wissen wir nicht, es muß aber zugegeben werden, daß die vortrefflichen 
allgemein - wissenschaftlichen Ableitungen, die Verf. aus seinem Materiale 
zieht, im großen und ganzen jenen Annahmen und Ergebnissen nicht wider¬ 
sprechen, die man hierzulande in der Statistik aufstellt, was auf, wenigstens 
grobe Richtigkeit der Zahlen schließen ließe. Freilich ergeben sich die 
Grundlagen als ohne Zweifel nicht so sicher als im Westen, wir können 
unmöglich annehmen, daß sie dort eine gleich gute Polizei haben, wie wir 
sie besitzen, es kommen daher im Osten sicher weniger begangene Delikte 
zur Entdeckung und daher auch zur Anzeige. Das hat Verf. auch be¬ 
rührt (p. 15) indem er die Größen K (begangen), A (angezeigt), U (ver¬ 
handelt, V (schuldig gesprochen) aufstellt und natürlich zugibt, daß K>A> 
U>V sein muß, daß wir also nach v. Mayr zur kriminalistischen Verwen¬ 
dung bloß die Größe K brauchen können, während die anderen, A, U, V 
bloß tatsächlichen Wert besitzen. Diese letzteren seien aber symptomatische 
Begleiter von K und machen dessen Veränderungen proportional mit. Das 
ist aber nur bis zu einem gewissen Grade richtig und zwar im Vergleiche 
der einzelnen Delikte unter sich. Wir werden sehen — es ist dies nur 
Erfahrungstatsache — daß der Prozentsatz im einzelnen Delikt ungefähr 
gleichbleibt, und wenn z. B. im Vorjahre von je 100 bekannt gewordenen 
Brandlegungen je 45 zu einer Verurteilung geführt haben, so werden diese 
Ziffern heuer und in den nächsten Jahren ungefähr gleich bleiben. Wir 
werden also sogar umgekehrt mit einem gewissen Quantum von Be¬ 
rechtigung schließen dürfen: „wenn in einem Jahre 90 Leute wegen Brand¬ 
legung verurteilt wurden, so dürften in der gleichen Zeit und im gleichen 
Bezirke 200 Brandlegungen begangen worden sein“. Diese letztere, nur 
logisch erschlossene Zahl, ist aber jene, die uns interessiert, wir wollen 
wissen, wie viele Reate der fraglichen Art begangen wurden, nicht welche 
Urteile den Geschworenen beliebt haben. Aber wie gesagt: im einzelnen 
Delikt haben Quetelet und seine Leute recht: zwischen K, A, U und V 
besteht ein gewisses, gleichmäßig steigendes und fallendes Verhältnis. 
Anders ist es dagegen zwischen den einzelnen Verbrechen. Es gibt Ver¬ 
brechen, bei welchen die Tatsache, daß sie überhaupt begangen wurden 
(nicht wer sie begangen hat) selten verschwiegen bleibt z. B. Aufstand, 
Aufruhr, Mord, Totschlag, Brandlegung, Widerstand gegen Amtspersonen 
usw.; in diesen und ähnlichen Fällen wird also K nahezu = A, und A 
nicht wesentlich kleiner als U sein. 

Ganz anders aber bei einer Anzahl anderer Delikte, bei welchen nur 
ein Teil der begangenen zur Kenntnis der Behörden kommt, z. B. wider¬ 
natürliche Unzucht, Abtreibung der Leibesfrucht, Schändung, gewisse Formen 
der Notzucht und auch Betrügereien, Unterschlagungen usw. — alle diese 
Delikte werden in großer Anzahl begangen und verhältnismäßig selten an- 


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gezeigt, es ist daher hier das Verhältnis von K zu A ein völlig anderes 
und es käme zu den gröbsten Fehlern, wollte man in beiden Fällen den 
gleichen Exponenten ansetzen oder anch nur aus beiden Gruppen oder 
aber etwa aus allen Delikten, einen durchschnittlichen Exponenten an- 
nehmen; der letztere wäre dann z. B. für Aufstand, Brandlegung tisw. viel 
zu groß, für widernatürliche Unzucht, Abtreibung usw. viel zu klein und 
wollte man mit ihm rechnen, so kämen bloß unrichtige Ergebnisse zum 
Vorschein. — 

Darum ist Verf. ganz im Rechte, wenn er sich (p. 38) gegen die Zu¬ 
sammenfassung ganz heterogener Verbrechensmassen wehrt, wie sie übrigens 
in jedem Strafgesetze nach Namengebung und Gruppierung anders vor¬ 
genommen werden; aber mit einer sorgfältigen Zusammenstellung der ein¬ 
zelnen Delikte wäre der Sache nicht geholfen, weil diese selbst in sich zu 
verschieden sind. Nehmen wir als Beispiel Mord an, der doch statistisch 
wenigstens in gewissem Sinn als ein Reat betrachtet werden wird. Unter 
den Mördern finden wir aber auch die Kindsmörderin, die in erbarmungs¬ 
würdiger Verzweiflung und knapp am Zustande der Unzurechnungsfähig¬ 
keit ihr kaum lebendes Kind getötet hat — wir finden den Gatten, der 
den anderen, um ihn von den schrecklichsten Schmerzen und absolut un¬ 
heilbaren Leiden zu erlösen, durch ein zu kräftiges Linderungsmittel um 
einige Stunden früher sterben machte, als er sonst gestorben wäre — wir 
finden aber auch den ruchlosen, grausamen Raubmörder darunter, der um 
Gewinns willen ein blühendes Leben in schrecklicher Weise vernichtet hat. 
Ein Zusammen werfen so grundverschiedener Verbrechen muß eben unbe¬ 
dingt zu Unrichtigkeiten führen. Freilich ist es unmöglich, nach Motiv und 
Schadenshöhe zu gruppieren, wie Verf. selbst sagt — aber weil man mit 
dem unerreichbar Richtigen nicht rechnen kann, so darf man statt diesem 
nicht das erreichbare Unrichtige einsetzen. — 

Ebenso bedenklich sind bestimmte „Faktoren“, welche auf die Krimi¬ 
nalität Einfluß nehmen z. B. Wirtschaftskrisen (p. 81) und Jahreszeit (p. 85), 
bei welchen ihre Wirkung entweder selbstverständlich oder sicher nicht zu 
behaupten ist. Daß die Leute überhaupt mehr Eigentumsdelikte begehen, 
wenn es ihnen schlecht geht, oder daß im Winter mehr Forstdelikte begangen 
werden als im Sommer, ist selbstverständlich und Konklusionen sind über¬ 
flüssig — aber ein Zusammenhang zwischen wirtschaftlichen Krisen und 
etwa Sittlichkeitsdelikten oder Jahreszeit und politischen Delikten wird nicht 
behauptet werden können. Wenn z. B. festgestellt wird, daß Beamten¬ 
beleidigung und Widerstand gegen die Staatsgewalt ihren Hochstand im 
März haben (p. 89), so kann dies doch nur bedeutungsloser Zufall sein 
— in irgend einem Monate muß dieses schon einmal Vorkommen. Wirft 
man aber sämtliche auf so unendlich verschiedenen Motiven beruhende 
Delikte in unzulässiger Weise zusammen, so entdeckt man, (p. 86) daß z. B. 
in Berlin im Juli am wenigsten Reate begangen wurden. Welchen Wert 
hat das? Entweder zieht man korrekterweise keinen Schluß daraus, so ist 
es überflüssig, oder man wagt einen solchen, so ist er gewiß höchst be¬ 
denklich. — 

Wertlos sind nach meiner Ansicht alle statistischen Erhebungen über 
das Bekenntnis (p. 86;, da auf die Begehung eines Deliktes allerdings die 
Frage Einfluß haben kann, ob der Täter gläubig ist oder nicht, aber nicht die, 


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welche Religion ihm bei der Geburt beigelegt wurde. Der Gläubige wird 
selten Verbrechen begehen, ob er Protestant oder Katholik oder sonst was 
ist, beim Ungläubigen spielt aber das ohnehin nicht mehr vorhandene Be¬ 
kenntnis keine Rolle. Strafrechtlich könnte uns lediglich die Frage der 
der Glädbigkeit interessieren, die läßt sich weder erheben, noch in Zahlen 
gießen und was im Geburtsschein steht, hat keine strafrechtliche Be¬ 
deutung. — 

Ich komme zu dem Schlüsse, die Arbeit Wadlers ist sehr verdienst¬ 
voll und höchst anregend — aber hier, bei der unsicheren Praxis muß 
noch viel vorsichtiger im Schlußziehen vorgegangen werden, als bei den im 
allgemeinen so gefährlichen statistischen Konklusionen. H. Groß. 


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Zeitschriften schau. 


Von Dr. Robert Heindl, München. 

1. Journal of the American Institute of criminal Law and 

Criminology Chicago 1910 I. 

L. N. Robinson veröffentlicht einen „Plan für die Reorganisation der 
Kriminalstatistiken in den Vereinigten Staaten“ und behandelt eingehend 
die Fehler des bisher geübten Verfahrens. 

W. Healy erörtert in einer „Studie über jugendliche Verbrecher“ die 
somatischen und psychischen Merkmale der kriminellen Jugendlichen. Das 
Material zu seiner Studie gewann Verfasser aus zehn untersuchten Fällen. 
J. B. Lawson schreibt über die „Technik des Kriminalprozesses“: 

Ein Artikel E. Lindseys über „Einrichtung eines Kriminologischen 
Laboratoriums in Washington“ nimmt das kürzlich in W. votierte Gesetz 
betr. „Einrichtung eines K. L. in W.“ zum Ausgangspunkt und verspricht 
sich von der Neueinrichtung große Erfolge im Kampf gegen das Ver¬ 
brechen. 

Die „Kosten des Verbrechens“ ist der Titel einer Arbeit von W. F. 
Spalding, der den Kostenaufwand für Polizei, Gerichte, Strafanstalten und 
alle sonstigen der Repression und Prävention des Verbrechens dienenden 
Behörden und Anstalten zusammenrechnet. 

2. The Law Magazine and Review London 1910 358 bringt 

einen kurzen Artikel über die „Vernehmung von Zeugen vor Ge¬ 
richt“ von J. F. Wrotesley. 

3. Journal of the Gypsy Lore Society. Liverpool 1910 IV 1. 

W. F. Prideaux widmet dem toten Zigeunerforscher Major-General 
John Staples Harriot einen längeren Nekrolog, der vor allem die Sprach¬ 
forschungen des Verstorbenen würdigt. 

R. A. Stewart Macalister bringt in Ursprache und englischer Über¬ 
tragung kurze „Nuri-Erzählungen“, 

John Lampson eine welsche Zigeunergeschichte („Die kleine Henne“), 
Bernhard Gilliat-Smith eine bulgarische („Geschichte vom Mufti“). 

F. W. Brepohl widmet dem jüngst verstorbenen Zigeunerkönig Nikolaus 
Micbajlo einen Nachruf, dem letzten Zigeunerfürsten, dessen Würde von 
der Regiernng eines Kultnrstaates (Österreich) anerkannt worden war. 

W. Crooke gibt in „Bemerkungen über das Verbrechertum im Re¬ 
gierungsbezirk Bombay“ einen Auszug aus den von der Bombay-Polizei 
für den Dienstgebrauch verfaßten „Notes on the criminal classes in the 
Bombay Presidency“. 


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Zeitachriftenschau. 


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H. Malleson plaudert Ober ein Zigeunerlager in der Mitte Londons, 
wo etwa ein Dutzend Banden umgeben von der Zivilisation der Großstadt 
in einem „court“ hausen. 

4. Transactions of the Folk-Lore Society. London 1910 XXI 1. 

H. A. Rose bespricht das Kurpfuschertum im Panjab. 

5. Man (publ. by the royal anthropological Jnst.) London 1910 X 4 bringt 

einige Daten Ober Fälschung von Kuriositäten. 

6. American Journal of Psychologie Worcester. Maas. 1910 XXI 2. 

Es kommen drei deutsche Autoren zu Wort: S. Freud mit einem 
Artikel Ober „Ursprung und Entwicklung der Psychoanalyse“, C. Jung 
mit einer Arbeit über „Die Assoziationsmethode“ und W. Stern mit einer 
über „Psychologie der Aussage“. — 

Das gleiche Journal XXI. 3 bringt eine Arbeit des psychologischen 
Laboratoriums der Cornell Universität Ober „Einbildung“, die vor allem 
die Einwirkung von Bildern, Tönen und Gerüchen auf das Gedächtnis 
untersucht und sich auf 10 Experimente stützt 

Ein für das Aussageproblem nicht minderwichtiges Thema behandelt 
im selben Heft Winch: „Farbebezeichnungen durch englische Schulkinder“. 
Leider erstreckt er seine Experimente, die für die Beurteilung von Signa¬ 
lementsaussagen interessantes Material liefern könnten, nur auf Kinder 
unter 6 Jahren. 

L. Edward schreibt über „Zahlengedächtnis und Wortgedächtnis“. 

7. The Psychological Reviev. Baltimore XXVII. 3. 

J. E. Downay sucht die für die Kriminalistik nicht unwichtige Frage 
zu beantworten, ob aus der Handschrift Schlüsse auf das Geschlecht der 
briefschreibenden Person gezogen werden können. In 3/4 der 200 
untersuchten Fälle erhielt Verf. richtige Schätzungen. Charakteristika der 
weiblichen Schrift sind nach Miß Downey: farblos, konventionell, klein, 
häufig ungewandt, der männlichen dagegen: individuell, unsorgfältig, kühn, 
gewandt. 

XXVII. 4. G. M. Mildred Jones veröffentlicht die Resultate eines 
im Psychologischen Laboratorium der California Universität angestellten 
Experiments über „ Distanzreproduktionen a (mit Tabellen), eine Arbeit, die 
ebenso wie die im Heft 6 des XXVI. Bd. erschienene Publikation über 
„Distanzschätzungen von Geräuschen“ (Experimente des psychologischen 
Laboratoriums des Wellesly Colleges) wichtiges Material für die Frage der 
Zeugenaussage über Entfernungen liefert. 

8. Psychologial Monographs publ. by the Psycholic Review) 34. 

J. E. Downey bringt eine Experimentalstudie Uber „Handschrift unter 
ungewöhnlichen Umständen“ (Linkshandschreiben, Spiegelschreiben, Schreiben 
mit verbundenen Augen usw). 

9. Amer. Journ. of Jnsanity 1910, 67. 

Die „Assoziationsstudie“ von G. H. Kent und A. J Rosanoff erstreckt 
sich auf 1000 Versuchpersonen (Erwachsene, Schüler, Kinder). 


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Zeitschriftenschau. 


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10. The British Medical Journal London bringt in No. 2583 einen 

anonymen Aufsatz über „Gesetzliche Fürsorge für Schwachsinnige“ 
(de lege ferenda). 

In No. 2600 findet sich der wörtliche Verhandlungsbericht des Crippen- 
prozesses, soweit er forensisch-medizinische Fragen berührt. Die wieder¬ 
gegebenen Sachverständigengutachten behandeln folgende Punkte: Stammen 
die im Keller des Beschuldigten gefundenen Reste eines menschlichen 
Körpers von einem Weibe, sind es die Überreste der Frau Crippen, wie 
lange liegen sie bereits im Keller, von welchem Körperteil stammen sie 
her, läßt sich an dem dem Gericht vorliegenden Fleischstück eine Narbe 
nachweisen (die verschwundene Frau Grippen unterzog sich vor 15 Jahren 
einer Eierstockoperation), verursachte ein Gift den Tod, welches Gift fand 
Anwendung? 

11. The Lancet, London 1910. 

4524. Ein anonymer Artikel behandelt die Einflüsse der Witterung 
auf die Kriminalität. 

4542. — Wilson beschreibt zwei Vergiftungen durch Kohlenoxyd. 
4548 bringt Berichte über zwei Vergiftungen durch Chloroform. 

12. Nation, New York 1910. 

2354. Ein Artikel „Verbrechen und Recht“ behandelt die Strafrechts¬ 
theorien. 

2366. Unter demselben Titel werden im Anschluß an den Fall Crippen 
kriminologische und pönologische Fragen erörtert 

13. Tijdschrift voor Strafrecht, Leiden 1910. XXI. 2. 

S. van der Aaa: „Über die Bedeutung der Aussage in Strafsachen“. 
J. J. de Haan behandelt die Kriminalstatistik der Juden. 

Worauf im XXI. 4 de Roos in einem Artikel „Die statistische Methode 
im Dienst der Kriminaliätiologie“ Bezug nimmt. 

Mr. D. O. Engelen bringt in einem Aufsatz über das portrait parlö 
u. a. die interessante Tatsache, daß Chicago die erste Stadt war, deren Polizei 
ein photographisches Atelier hatte (1885), New York folgte und dann erst 
Paris (Bertillon). 

14. Rechtskundig Tijdschrift 1910, I. 

E. de Boungne bespricht ,.Das belgische Gesetz vom 27. 11. 1891 
zur Bekämpfung der Landstreicherei und Bettelei“. 

15. Archivos de psiquiatria y criminologia, Buenos-Aires 1910 

IX. marzo-abril. 

E. Gömez empfiehlt in einem Artikel „Über Gefängniswesen“ einen 
Reglementsentwurf für das Gefängnis von Buenos-Aires. 

16. A'rchivio d’antropologia criminale, psichiatria e Medicina 

legale, Torino 1910 XXXI. gennaio. 

In einem Aufsatz „Sadistischer Mord in einem Anfall von Säufer¬ 
wahnsinn“ bespricht E. di Mattei den Fall eines Bauern, der bei der Feld¬ 
arbeit ein Mädchen mit der Sichel tötete. 


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384 


Zeitschriftenachau. 


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P. Giani beschreibt in einem Artikel „Über Tätowierung“ einen 
Soldaten, der besonders zahlreiche und originelle Tätowierungen aufzu¬ 
weisen hat. 

„Ein Fall von Mikrokephalie mit Merkmalen des aztekischen und 
negroiden Typus“ wird von G. Gatti beschrieben. 

V. Tirelli beschäftigt sich in längerer Abhandlung mit der „forensisch- 
medizinischen Untersuchung von Menschenknochen“ (zu Identifizierungs¬ 
zwecken. 

F. Montanari behandelt die Frage der „Abtreibung“, 

C. Bosetti erzählt unter dem Titel „Verbrechereitelkeit“ von zwei 
Dieben, die sich in der Pose photographieren ließen, wie der eine dem 
andern die Börse entwendet. 

17. Rivista Penale. Roma 1910, IV, 304a. 

L. Ordine untersucht die „Ursache der Kriminalität der Minderjährigen“. 

P. Lanza bespricht im Heft 305 a den österreichischen Gesetzentwurf 
betr. Jugendgerichte und Jugendfürsorge. 

18. Rivista di diritto penale e sociologia criminale, Pisa 

X. settembre. 

Ein Artikel L. Cappellittis über Lombroso. 

A. Andreotti behandelt den der Kammer am 28. November 1905 
eingereichten Strafprozeßentwurf und das Projekt Orlanda (eingereicht beim 
Senat am 24. Mai 1909) in einem Artikel über „Reform der Kriminal¬ 
polizei“, in dem er vor allem eine pekuniäre Aufbesserung der Beamten 
empfiehlt, „um ihre ökonomische Unabhängigkeit“ zu garantieren. 

„Über Gerichtsmedizin“, ihre Geschichte, Doktrin und Praxis schreibt 
G. G. Perrando. 


Druck von J. B. Hirschfeld in Leipzig. 


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