Marie Bonaparte
Aus der Analyse einer
mutterlosen Tochter
Zwei Beiträge
zur psychoanalytischen
Kasuistik
Internationaler
Psychoanalytischer Verlag
Wien
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Aus der Analyse einer
mutterlosen Tochter
Zwei Beiträge
zur psychoanalytischen Kasuistik
Von
Marie Bonaparte
Paris
Separatabdruck aus der „Internationalen Zeitschrift
für Psychoanalyse 1 - 1 (herausgegeben von Sigm, Freud),
Bd. XV (1929) und Bd. XVI (1930)
1931
Internationaler Psychoanalytischer Verlag
Wien
Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung,
vorbehalten
INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
Aus dem französischen Manuskript
übersetzt von Mathilde Hollitscher
■
Druck: Elbemühl, Wien, III., Rüdengasse 1]
«
Die Identifizierung einer Tochter mit ihrer
verstorbenen Mutter
I) Die Storchhalluzination
Als ich vier Jahre alt war, kehrten wir im September von unserem
Sommeraufenthalt an der See nach Paris zurück; am zweitnächsten Morgen
überfiel mich beim Erwachen ganz plötzlich ein heftiger Blutsturz. Der Arzt
konstatierte eine „Lungenentzündung" mit sehr starker Verschleimung der
Lungenflügel und fand meinen Zustand so ernst, daß er am Abend erklärte,
ich würde die Nacht sicherlich nicht überleben. Die Mutter meines Vaters,
die mich aufzog, — meine Mutter war nach meiner Geburt gestorben,
berief daraufhin meinen Vater, der sich damals auf einer Reise durch die
Balkanländer befand, telegraphisch zurück.
Aber ich überstand die Nacht und erwachte am nächsten Morgen wieder;
mein Vater fand bei seiner Rückkehr sein einziges Kind am Leben und
nach einem mehrmonatigen Aufenthalt im Süden war ich vollkommen wieder-
hergestellt.
Ich habe an diesen Blutsturz gar keine Erinnerung bewahrt, obwohl
meine frühesten Erinnerungen über mein viertes Lebensjahr hinausreichen;
ich wußte während meiner ganzen Kindheit überhaupt nichts davon, daß ich
jemals Blut gehustet hätte. Meine Großmutter, die älteren Frauen, die mich
betreuten, und auch unser in veralteten Anschauungen befangener Arzt um-
gaben mich mit übertriebener Sorgfalt: sie behüteten mich vor jedem Luft-
zug, ließen mich im Winter nicht ausgehen und untersagten mir sogar, meine
Hände mit kaltem Wasser zu waschen. „Man muß nur bedenken, was vor-
gefallen ist," flüsterte einer dem anderen zu, „wenn es nur nicht so wird,
wie mit ihrer Mutter!" Aber niemand sprach von dem, was eigentlich vor-
gefallen war, weder zu den Außenstehenden, aus Angst, man könne mich für
Marie Bonaparte
„lungenkrank" halten, noch zu mir, um mich nicht „zu erschrecken . Selbst-
verständlich war das Geheimnis um ein düsteres und unheimliches Vor-
kommnis, das mein Leben verdarb, erst recht danach angetan, mich in
Schrecken zu versetzen.
Ich erinnere mich indessen einer anderen, ganz außerordentlichen und
zauberhaften Begebenheit. Eines Morgens, als ich noch sehr klein war, —
ich dürfte ungefähr vier Jahre alt gewesen sein, — als ich beim Erwachen
in meinem Bett auf dem Rücken lag, erblickte ich unter den weißen
Musselinvorhängen, die mein Bett schmückten, gerade auf meinem Unterleib
einen hohen, großen, glänzenden Vogel, der in allen Farben des Regen-
bogens schillerte. Aufrecht, nur auf einem seiner beiden langen Beine
stehend, blickte er mich mit ein wenig zur Seite geneigtem Kopf an; er hatte
einen ungeheuerlich dicken, langen und zugespitzten Schnabel. Sah er einem
Reiher, einem Ibis, einem Flamingo, einem Marabu, einem Storch oder einem
Kranich ähnlich? Ich hätte es nicht zu sagen gewußt; übrigens kannte ich
damals die Namen der meisten dieser Vögel auch noch gar nicht. Aber ich
hatte noch niemals etwas so Schönes gesehen, wie diesen großen, in tausend
Farben schillernden Vogel, allerdings auch noch nie etwas so Schreckliches.
Nachdem die prächtige und zugleich erschreckende Erscheinung sich wieder
verflüchtigt hatte, blieb ich den ganzen Tag im Dunklen, bei geschlossenen
Vorhängen in meinem kleinen Bett liegen; ich war damals sehr krank und
ich entsinne mich der Stimmen, der gedämpften Schritte der Erwachsenen
aus den anderen Zimmern; sie schienen mir so fern, so unendlich fern zu
sein, als hätte ich mich damals in einer anderen Welt befunden.
Anläßlich der Erscheinung des großen Vogels lernte ich das Wort „Hallu-
zination" kennen. Ich hatte meine Vision erzählt und hatte auch selbst sehr
gut wahrgenommen, daß der Vogel nichts Wirkliches sein könne, nachdem
ich beim vollen Erwachen seine schimmernden Konturen sich in Nichts auf-
lösen sah ; man sagte mir, daß man eine solche, einem Traum ähnliche, aber
im Wachen erlebte Erscheinung mit dem fremdartigen Wort „Halluzination
bezeichne.
Mittlerweile mußte der große Vogel, der mir als Bote einer geheimnis-
vollen, schrecklichen Welt erschien, lange sein Geheimnis bewahren.
Erst kürzlich, 1927, infolge meiner seit zwei Jahren währenden Analyse
bei Professor Freud, ist mir seine Botschaft verständlich geworden. Ich will
in der Reihenfolge ihres Auftauchens die zwei wichtigsten Assoziationsketten
wiedergeben, die mir dazu verholfen haben, das Rätsel des großen Vogels
zu lösen.
Die IdftaKfraerung «^iner Tomter mit ihrer verstorbenen Mutter
l) Der Vogel war ein großer Stelzenläufer und stand auf einem Bein.
Nun war ich am Tage vor meiner Halluzination, also am ersten Tag nach
unserer Rückkehr von der See, im Zoologischen Garten gewesen. Ich befand
mich damals in einer Periode eigensinniger Kampfstimmung; keinem aus
meiner Umgebung war es im Zuge auf der Rückreise von Dieppe gelungen,
mich bis Paris zum Verlassen des offenen Coupefensters zu bewegen, an dem
ich mit wildem Hochgenuß die Abendluft und den Rauchgeruch des Zuges
einatmete. Ebensowenig konnte man mich am nächsten Tag im Zoologischen
Garten von dem Platz losreißen, von dem aus ich, festgebannt vor Bewun-
derung, durch die Gitterstäbe des Käfigs die aschgrauen Kraniche ihre grotesken
Tänze aufführen sah. Man hatte nachher vermutet, daß ich mich entweder
am Fenster des Zuges oder beim Stehen auf dem kalten Boden im Zoologischen
Garten erkältet hätte, und daß die Lungenentzündung und der Blutsturz eine
Folge davon gewesen seien.
Sicherlich befand sich damals im Zoologischen Garten auch ein
Marabu und ganz gewiß waren in ihren Käfigen die rosa Flamingos aus
Ägypten zu sehen, deren Farbe mich so entzückte. Ich hätte stundenlang dort
bleiben und die schönen Vögel betrachten mögen, wie sie auf einem ihrer
zarten Beine im Wasser ihres kleinen Badebeckens standen. Das andere Bein
hatten sie unter ihrem Flügel hochgezogen und ließen manchmal auch ihren
Kopf und Hals darunter verschwinden. Damals meinte ich übrigens, daß ihr
Name Ibis sei. Bei dem Besuch am Tag vor meiner Erkrankung aber hatten
es mir die Kraniche angetan; deren Namen kannte ich damals nicht; ich hielt
sie für eine Storchgattung, und erst später, als ich ihre Tänze wieder sah
konnte ich sie richtig erkennen.
Störche hatte ich damals auch noch nie in Wirklichkeit gesehen, aber ich
hatte von ihnen gehört. Und zwar wahrscheinlich durch eine Lehrerin, die
ungefähr um diese Zeit zu uns kam, eine Irländerin, die an einen Deutschen
verheiratet war. Mit ihr begann ich Englisch und Deutsch zu lernen und sie
zeigte und erklärte mir auch meine Bilderbücher. In einem von ihnen, das
ich vielleicht schon vor ihrem Eintritt bei uns besaß, befand sich auf der
rechten Seite eine farbige Abbildung, die ich heute noch vor mir sehe. Sie
1) Ich habe, seit ich das Vorstehende geschrieben, von einer heute noch lebenden
Dame, die unsere damalige Reisebegleiterin war, erfahren, daß es das Fenster des
von unserem Haus in Dieppe zum Bahnhof führenden Omnibusses gewesen war, von
welchem man mich nicht losbekommen konnte. Dieselbe Dame hat mir auch von
dem Bluthusten am übernächsten Morgen Mitteilung gemacht.
Marie Bonaparte
stellte ein Dorf aus dem Elsaß dar und im Vordergrund auf der Spitze eines
Schornsteins sah man einen auf einem Bein stehenden Storch. Vielleicht hatte
mir diese Erzieherin oder schon eine ihrer Vorgängerinnen von den Störchen
erzählt, daß sie das außerordentliche Amt innehätten, die kleinen Kinder zu
bringen. Ich hätte jedenfalls so sehr gern Störche auf den Schornsteinen ge-
sehen, aber auf den Pariser Häusern waren keine zu entdecken — dazu hätte
ich nach dem Elsaß gehen müssen — und so mußte ich mich eben damit
begnügen, die Kraniche im Zoologischen Garten für Störche anzusehen.
2) Der große Vogel hatte alle Farben des Regenbogens. Das ist das Rätsel-
hafteste. Die Störche haben ja kein farbenschimmerndes Gefieder, ebensowenig
wie einer der anderen stelzbeinigen Vögel, an den ich hätte denken können:
Kranich, Reiher, Marabu oder selbst der rosa Flamingo. Es hilft nichts, den
Flamingo Ibis zu nennen, wegen der Ähnlichkeit des Namens mit Iris; ich
klaube auch im Alter von vier Jahren diese mythologische Bezeichnung des
Regenbogens noch nicht gekannt zu haben.
Nun denke ich zuerst wegen des wunderbaren Farbenspiels des großen
Vogels an den Regenbogen selbst, der, vom Himmel herabgestiegen, sich auf
die Erde zu stützen, in sie einzudringen scheint. Ich liebte als Kind den
Himmel, die Sterne und Meteore sehr. Dann denke ich bei dem Farbenspiel
an einen Rötling, von dem man erzählt, daß die Römer des späten Kaiser-
reiches seinem Verenden zusahen, bevor sie ihn aufaßen, um sich am Anblick
der wechselnden Farben zu ergötzen, die der Fisch im Verlauf seines Todes-
kampfes annahm. Diese Geschichte war mir stets besonders schrecklich und
raffiniert erschienen; aber ich habe sie erst später gelesen — im Alter von
vier Jahren kannte ich sie sicher noch nicht.
Aber plötzlich erinnere ich mich. Es gibt etwas, das ich sicher schon als
vierjähriges Kind erzählen hörte: die Tatsache, daß meine Mutter, von deren
Liebreiz und Sanftmut jeder erzählte, dieses ideale Wesen, das denselben
Namen trug wie ich — Marie — gestorben war, nachdem sie mir das Leben
gegeben hatte. Ich hatte ja meine verstorbene Mutter selbst gesehen! Auf
dem großen Aquarellbild, das meine Großmutter im Salon aufgehängt hatte,
sah ich sie in einem weißen Kleid, wie eine Braut, ganz bleich auf ihrem
Bett auf dem Rücken liegen. Dieses Bild konnte ich alle Tage sehen. Meine
Mutter war einen Monat nach meiner Geburt gestorben, am Abend des
Tages, an dem sie zum erstenmal aufgestanden war. Sie starb an einer
„Embolie" (Thrombose) — es scheint mir, daß ich dieses Wort immer schon
gekannt habe. Es hieß, daß meine Mutter kaum noch Zeit gehabt habe, sich
wieder zu Bett zu legen und meinen Vater zu rufen, um ihm zu sagen, daß
Die Identifizierung einer Toditer mit ihrer verstorbenen Mutter
sie ihr Ende nahen fühle. Dies war die Folge ihrer Mutterschaft gewesen,
aber es gab dafür auch noch eine andere Ursache. Meine Eltern hatten ein-
ander bei einer russischen Dame kennengelernt, zu der man mich auch manch-
mal hinbrachte; sie lag immer zu Bett, weü sie angeblich einen „Schwamm
im Kopf" hatte und rauchte ohne Aufhören parfümierte Zigaretten; mir er-
schien sie in ihrem stets spitzenverzierten Bett sehr schön. Es scheint nun,
daß diese Dame, wie meine Großmutter öfters erzählte, von dem jungen
Paar als Zeichen der Dankbarkeit ein Geschenk erhielt. Da man ihr aber
kein „Geld geben" konnte, „kauften" meine Eltern ihr eines ihrer schönsten
russischen Schmuckstücke „ab" und bezahlten ihr dafür hunderttausend Franc
Meine Großmutter sprach öfters von diesem Kleinod, und zwar hatte es den
Anschein, als hätte sie es dieses hohen Preises nicht für wert befunden, ob-
wohl es, wie sie sagte, ein Opal war, „groß, wie ein Ei," und von schönen
Diamanten eingefaßt. Ich hatte weder dieses Schmuckstück noch die anderen
aus dem Besitze meiner Mutter gesehen; sie waren wohl mein Erbteil, aber
man sagte mir, sie müßten bis zu meiner Großjährigkeit in der Bank auf-
bewahrt bleiben — für mich an einem weit entfernten, geheimnisvollen Ort.
Ich hatte aber bestimmt schon im Alter von vier Jahren von den Juwelen
sprechen gehört, vielleicht anläßlich der Besuche bei der russischen Dame
oder als meine Großmutter mir ihre vielen kleinen Schmuckstücke zeigte
und darunter eines Tages einen Opal in die Hand bekam. Der große Opal
erschien mir besonders deshalh in zauberhaftem Licht, weil die Frauen meiner
Umgebung über ihn noch eine andere Geschichte zu erzählen wußten und
die ähnelte ganz den Märchen, in denen die böse Fee regiert. Sie sagten,
der Opal sei ein Stein, der Unglück bringe. Meiner Mutter hatte der große
Opal, den sie anläßlich ihrer Verheiratung gekauft hatte, Unglück gebracht:
sie war nach der Geburt ihres ersten Kindes gestorben! Und wie sehr
hatte sie sich die Mutterschaft gewünscht! Bei ihrer Hochzeit war sie
zwanzig Jahre alt und es dauerte mehr als ein Jahr, bis sie die Gewiß-
heit hatte, Mutter zu werden. Sie hatte die Hoffnung darauf beinahe
schon aufgegeben. Dann war ich zur Welt gekommen und sie war — zwei-
undzwanzig Jahre alt — gestorben. Und sogar meine Großmutter fand es
seltsam, wenn es wirklich nicht wahr sein sollte, daß Opale Unglück bringen,
daß doch gerade meine Mutter diesen selten großen Opal besessen habe.
Davon nun mußte ich sicher schon in meinem vierten Jahr erzählen gehört
haben, denn diese Dinge wurden oft im Hause besprochen.
Auch noch etwas anderes habe ich sicher sagen gehört: daß meine Mutter
„schwach auf der Lunge" gewesen sei und Blut gehustet habe. Trotzdem
— "—
Marie Bonaparte
meine Großmutter meist hinzufügte, was der Arzt sicher bestätigt hätte, daß
das „nur aus der Kehle gekommen" sei, wo meine Mutter Geschwüre gehabt
hätte, wurde deshalb nicht weniger darüber geredet. Ganz, sicher hatte ich
schon vor meinem vierten Jahr sagen gehört, daß meine Mutter Blut gehustet
habe: besonders so bald nach meiner Mutter Tode war dieses Thema ein täg-
licher Gesprächsstoff in unserem Hause.
Die Halluzination des großen, farbenleuchtenden Vogels beginnt uns ver-
ständlich zu werden. Der große Vogel ist einerseits als allgemeines Symbol
der Storch, der phallische Vogel, der die Kinder bringt; andererseits — als
nur mir zugehöriges Symbol — der glänzende Vogel, dessen Regenbogen-
farben mich an den eigroßen Opal erinnern, der meiner Mutter Unglück
gebracht hat. Ich hatte zwar diesen Opal nie gesehen, aber wie ich schon
sagte, hatte meine Großmutter unter ihren zahlreichen kleinen Schmuck-
stücken mir sicher auch einen kleinen Opal gezeigt; und als ich dann dessen zauber-
haftes Farbenspiel mit Angst und heimlicher Bewunderung betrachtete, hatte
sie mir wohl von dem anderen großen Opal erzählt.
Mein Vater, der mit vierundzwanzig Jahren Witwer geworden war, ver-
heiratete sich kein zweites Mal ; er hatte auch niemals die Absicht, es zu tun ;
er lebte mit seiner Mutter zusammen, die mich aufzog. Es ist wohl überflüssig,
zu sagen, daß meinem Vater zur Zeit, als ich vier Jahre alt war, meine aus-
schließliche, leidenschaftliche Liebe gehörte. Ich sehe ihn — aus einem noch
früheren Erinnerungsbild — in seiner Offiziersuniform groß und schlank vor
mir und daneben mich kleines Mädchen, das damals nicht älter als drei Jahre
gewesen sein konnte — denn später war mein Vater aus der Armee aus-
getreten, — wie ich, mit verliebter Leidenschaft eines seiner Beine in den
roten Beinkleidern mit meinen kleinen Armen umfasse. Ich vergötterte meinen
Vater; wenn er vor einer Reise Abschied nahm, kramp fte sich mein Herz
zusammen und ich lebte dann nur in der Erwartung seiner Rückkehr. Heute
weiß ich, warum ich mit so sehnsüchtigen Blicken im Bois de Boulogne die
Bräute in ihren Wagen betrachtete, die, wie es damals in gewissen Kreisen
der Brauch war, zum Hochzeitsmahl in das Restaurant de la Cascade fuhren :
ich wollte an deren Stelle sein — als Bräutigam meinen Vater an meiner
Seite haben. Dies ist der klassische Traum kleiner Mädchen, der oft sogar
ganz offen ausgesprochen wird.
Ich erinnere mich aus meinem vierten Lebensjahr sogar an meinen Geburts-
tag. Ich sehe mich noch bei glühender Hitze — mein Geburtstag fällt auf
den zweiten Juli — allein in der großen Bibliothek meines Vaters in unserem
Haus am Cours la Reine den Besuch des Barons „Phylloxera" erwarten. Das
Die Identifizierung einer Tochter mit ihrer verstorbenen Mutter 9
war ein alter Kammerdiener meines Großvaters mütterlicherseits, in der
Familie berühmt wegen seiner Einbildung, der unverstandene Erfinder eines
unfehlbaren Mittels gegen die „phylloxera" zu sein, die damals die Weinberge
verwüstete. Er kam jedes Jahr und brachte mir einen weißen Blumenstrauß,
nach damaligem Gebrauch in eine Manschette aus weißem Spitzenpapier
gepreßt, den Sträußen ähnlich, die ich durch die Wagenfenster bei den be-
neideten Bräuten im Bois gesehen hatte. Dieser weiße Strauß hatte einen
wunderbaren Duft, den Orangenblüten ähnlich; der Monat Juli ist ja die
Zeit der Lilien und Tuberosen. Ich erwartete also in der großen, heißen,
mit hohen Fenstern versehenen Bibliothek meines Vaters Besuch und den Blumen-
strauß des Barons Phylloxera. Dieser kam stets in Begleitung seiner Tochter,
die ich darum beneidete, daß sie immer allein mit ihrem Vater gehen durfte,
was bei mir niemals vorkam. Und in der heißen Bibliothek, die mir das
Symbol für meinen Vater und seine Studien war, jene Studien, die vielleicht
meine Eifersucht erregten, weil sie den Vater von mir fernhielten, sagte ich
mir: „Heute bin ich vier Jahre alt geworden — wie alt bin ich doch! Und
das Bewußtsein meiner Jahre erdrückte mich. Ohne Zweifel war dieses Gefühl
der verhüllte Ausdruck für den Wunsch: alt genug, erwachsen genug zu sein,
um endlich meinen Vater heiraten zu können; hinter diesem Wunsch verbirgt
sich der ganze Neid, den Kinder in der Ohnmacht ihrer leidenschaftlichen
Wünsche gegen die Erwachsenen fühlen.
Ich war nun mit meinen vier Jahren, wie es in diesem Alter meist der
Fall ist, im Begriff, den Höhepunkt des Ödipuskomplexes zu erreichen. Aber
ich war ja ein Kind, dem das Schicksal seine unbewußten Wünsche zum Teil
schon erfüllt hatte. Meine Mutter lebte ja nicht mehr und der ersehnte Platz
an der Seite des geliebten Vaters, den andere Töchter besetzt finden, war für
mich leer. Zwar lebte meine Großmutter, die ich trotz ihrer guten Eigen-
schaften nicht liebte, weil sie eine harte Natur war, und — heute weiß ich
es — hauptsächlich deshalb, weil mein Vater, ein ergebener und verehrender
Sohn, sie zu sehr liebte. Aber schließlich war der Platz meiner Mutter unbesetzt
und daher durfte ich vielleicht eher als ein anderes kleines Mädchen davon
träumen, ihn einzunehmen.
Die Identifizierung mit der Mutter traf aber auf einen Umstand, der für
die anderen kleinen Mädchen, denen die Mutter die lebende Rivalin ist, nicht
existiert: den Tod. Wie wir wissen, existiert für das Unbewußte der Begriff
des Todes nicht; das Ich allein macht sich im Verlauf seiner Entwicklung
irgendeine Vorstellung davon. Für das Unbewußte ist der Tod der Schlummer,
die Ruhe oder eine andere Welt, nicht der Tod selbst, dessen absolutes Nichts
■
10
Marie Bonaparte
Vgl. die „Brillen« des Vaters, die das Pferd in der Phobie des kleine» Hans
„trägt". - Freud, Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben. Ges. Sehr.,
Bd. VIII, S. 136.
für einen Lebenden unvorstellbar ist. Dadurch wird das Unbewußte in die
Lage versetzt, sich des Todesmotivs, wenn die äußere Realität es bringt, -/.u
bedienen und es zu erotisieren. Dem Kind liegt die sadistische Auffassung des
Koitus, mag es ihn bei den Erwachsenen beobachtet oder einfach durch eine
Art von phylogenetischem Erinnern vorausgeahnt haben, sehr nahe, und dies
hilft ihm, die Vorstellungen von Liebe und Tod miteinander zu verknüpfen.
Diese Verknüpfung — den Dichtern übrigens so wertvoll — entspricht einer
biologischen Realität: viele Tiergattungen bezahlen die Liebe mit dem Tod.
Und bei allem Lebendigen gäbe es keine Liebe, wenn der Tod nicht wäre.
Derartige philosophische Betrachtungen beschwerten mein vierjähriges Gehirn
sicherlich nicht. Dagegen unterstützten ganz bestimmte Tatsachen meinen
Wunsch, tot zu sein. Tot sein bedeutete für mich die Identifizierung
mit der Mutter, bedeutete, die Frau meines Vaters zu sein und wie
meine Mutter durch ihn — eine Vorstellung voll seltsamer Wonne
zu sterben.
Nun brachte mir das Schicksal die Realisierung dieses aus meinem tiefsten
Innern kommenden Wunsches. Eines Morgens beim Erwachen „huste ich
Blut", wie meine Mutter. Dann rufen die mächtigen, unbewußten Regungen
das halluzinatorische Phantasiebild hervor: der Storch bringt mir wie seinerzeit
meiner Mutter ein Kind von meinem Vater; ich bin jetzt seine Frau, seine,
Geliebte und durch ihn Mutter geworden. Und der Storch ist „opalisiert",
wie es für meine Mutter Heirat und Mutterschaft gewesen sind; das heißt,
der Storch bringt mit der Frucht der Liebe, dem Kind, auch das Unglück,
den Tod.
Zwei weitere Merkmale des großen Vogels sind unter anderen noch be-
sonders aufschlußreich: Der Vogel betrachtet mich mit ein wenig zur Seite
geneigtem Kopf und er hat einen ungeheuren Schnabel, dick, lang und spitzig,
wie bei einem Marabu. Nun pflegte mich mein Vater, der sehr kurzsichtig
war, oft über sein Lorgnon hinweg von der Seite anzusehen. Der große,
farbenleuchtende Vogel zeigte seine charakteristische Kopfhaltung.' Weiters ist
der große, lange, dicke und spitzige Schnabel dem eines Marabu ähnlich,
eines Vogels, dessen Namen ich damals sicherlich noch nicht kannte, den ich
aber im Zoologischen Garten gesehen haben mußte. Nun haben die Marabus
das ernsthafte Aussehen studierender Gelehrter. Sehr viel später konnte mein
Die Identifizierung einer Tochter mit ihrer verstorbenen Mutter 1 1
Mann im Scherz zu unseren Kindern sagen, als er mit ihnen im Zoologischen
Galten am Marabukäfig vorbeiging: „Da habt ihr den Großpapa." Denn mein
Vater war ein „Gelehrter . Ich habe dieses Wort in Beziehung zu ihm und
seinem arbeitsreichen Leben kennengelernt. Es schien mir ein geheiligtes Wort
zu sein und ich sprach es nur mit Verehrung aus. Andererseits aber ist der
große Schnabel des Vogels ein klassisches phallisches Symbol. Kinder haben
im Alter von vier Jahren gewöhnlich schon die Verschiedenheit der Ge-
schlechter wahrgenommen, und es ist besonders auffallig, daß in dieser Hallu-
zination sowohl bei dem Subjekt, also bei mir selbst, als auch bei dem pro-
jizierten Objekt, der Erscheinung des Vogels, der Akzent gerade auf der
oralen Zone liegt. Die übliche Verschiebung der Libido von unten nach oben
ist klar ersichtlich: obwohl der große Vogel nur auf einem Bein und auf
meinem Unterleib steht, ist das Auffällige an ihm doch dieser große, drohende
Schnabel, ganz so wie bei mir das Bluthusten durch den Mund, die orale
Verletzung, auffällig ist. Nur in der Deckerinnerung, in dem halluzinatorisch
aus mir hinausprojizierten großen Vogel, war es meiner Erinnerung sozusagen
gestattet, das Bild des imposanten Schnabels festzuhalten; während bei der
Verletzung meines Körpers das allzu erschreckende Bild meines eigenen Blutes
in der Waschschüssel verdrängt wurde, und zwar in gründlichster Weise.
Man hatte mir während meiner Kindheit niemals von meinem Bluthusten
erzählt, und als man mir viel später in meiner Mädchenzeit endlich wie ein
schreckliches Mysterium von dem großen Geheimnis meines Blutsturzes im
Alter von vier Jahren Mitteilung machte, war nicht einmal diese Mitteilung
imstande, auch nur die leiseste Erinnerung daran in mir wachzurufen. Erst
in der Folgezeit erstand in mir der Gedanke eines möglicherweise bestehenden
Zusammenhanges zwischen meinem Bluthusten und der ältesten, ernstesten
Krankheitserinnerung meines Lebens und der Storchhalluzination, die daran
teilhatte.
Die Erscheinung des großen Vogels wurde also unter der Einwirkung des
tiefsten meiner Wünsche heraufbeschworen, durch den Wunsch nach Identi-
fizierung mit meiner Mutter, die gestorben war, nachdem sie mir das Leben
gegeben hatte.
Daher stammen auch die beiden miteinander vermischten Affekte, die die
Halluzination begleiteten: die Angst einerseits und andererseits das intensive,
ästhetische Vergnügen. Die Angst gehörte dem Ich an, das durch die Heftig-
keit seiner Wünsche erschreckt war und zweifellos auch durch ein Schuld-
gefühl, daherkommend, daß ich meine Mutter „getötet 1 " hätte und die Wieder-
vergeltung nicht ausbleiben würde; aber viel stärker als die Angst war der
12
Marie Bonaparte
ästhetische Genuß an der Schönheit des großen, leuchtenden Vogels, der
erste große, ästhetische Eindruck meines Lebens überhaupt. Es yn* SO
wunderbar, den tiefsten meiner Wünsche verwirklicht zu sehen, endlich die
Frau des geliebten Vaters zu sein, durch ihn Mutter zu werden und den
Storch mir ein Kind bringen zu sehen, wie er es meiner Mutter gebracht
hatte, daß ich dafür mit überquellendem Herzen den Tod auf mich nahm.
Und doch fehlte etwas Wesentliches zu meinem Glück. Ich habe im Vor-
hergehenden berichtet, daß ich damals, als ich im dunklen Zimmer krank
lag, wie aus weiter Ferne Schritte aus den anderen Zimmern und den
Korridoren sich nähern und wieder entfernen hörte. Erst in diesem Jahr (,929)
habe ich verstanden, warum die Erinnerung daran die einzige ist, die mein
Gedächtnis im direkten Zusammenhang mit meiner Krankheit bewahrt hat
Die Erinnerung an diese entfernten Schritte in den anderen Zimmern und
Korridoren ist für mich von tiefer Melancholie erfüllt. Schwer krank sein
und in einem verdunkelten Zimmer zu Bett liegen, während andere daneben
kommen und gehen, schien mir bis jetzt die Ausdrucksform für Melancholie,
für Heimweh im wahrsten Sinne des Wortes zu sein.
Mein kindliches Ohr lauschte damals den eiligen Schritten auf den Korridoren
nur deshalb mit solcher Aufmerksamkeit, weil es einen bestimmten, einen
einzigen Schritt herauszuhören hoffte. Aber die langen Tagesstunden - vielleicht
nieine letzten Lebensstunden - vergingen, das Tageslicht hinter den zuge-
zogenen Vorhängen erlosch, ohne daß die schweren Schritte meines Vaters
- mein Vater trug immer hohe Stiefel — sich vernehmen ließen.
Als meine Mutter ihr Ende herankommen fühlte, hatte sie gerufen:
Roland, ich sterbe!" und mein Vater war sofort zu ihr geeilt. Er hatte ihre
Hand gehalten, als sie starb. Jetzt lag ich im Sterben und mein Vater kam
nicht zu mir! „„;„«,,.
Als er durch das Telegramm meiner Großmutter gerufen, von seiner
Balkanreise zurückkam, war ich gerettet, und ich habe die unbestimmte
Erinnerung, daß seine Rückkehr mich deshalb enttäuschte. Er war zu spat
gekommen. Das Unbewußte ignoriert die Zeit und rechnet nicht mit der
Dauer weiter Eisenbahnfahrten; etwas in mir hat meinem Vater seine
Abwesenheit an meinem „Sterbebett" nie verziehen.
Die Identifizierung einer Toditer mit ihrer verstorbenen Mutter 13
II) Die Anubisphobie
Die Erscheinung des großen Vogels ist die leuchtendste Erinnerung aus
meiner Kinderzeit geblieben. Wer die Gesetze des Unbewußten, wie die
Psychoanalyse sie uns erschlossen hat, nicht kennt, mag sich darüber wundern,
daß die schönste Erinnerung meiner ersten Jahre gerade die sein soll, die als
Deckerinnerung für die Tatsache fungiert, daß ich an jenem Tag in Todes-
gefahr schwebte. Wir haben aber gesehen, daß für mein kindliches Vorstellungs-
vermögen der Tod etwas anderes bedeutete als in der Denkart der Erwachsenen,
daß er sich vielmehr einfach in den Dienst meiner glühenden Liebeswünsche
gestellt hatte, um diese schließlich zu verwirklichen. So ist auch das
erschreckendste Element meiner Halluzination, die „Opalisierung" des Storches,
durch eine Art Verneinung, eine Umkehr des Affekts, zum bezauberndsten
und ästhetischsten Teil derselben geworden.
Später, in der weniger bewegten Zeit der Latenzperiode, verloren die
gleichgebliebene Liebe zum Vater und der gleiche Wunsch nach der Identifi-
zierung mit meiner verstorbenen Mutter ihre leuchtenden Farben und nahmen
eine dunklere Tönung an
Bereits in San Rerao, wohin man mich zur Rekonvaleszenz gebracht hatte,
vom Beginn des nächsten Jahres an hatte ich eine andere Vision, oder
vielmehr Phantasie, die nicht mehr dieselbe Schönheit aufwies wie die erste.
In diesem Jahr suchte ein Erdbeben die ganze dortige Küstengegend heim.
Ich wurde um fünf Uhr morgens in meinem kleinen Bett durch den ersten
Erdstoß aufgeschreckt und sah, im Begriff, mich zu ermuntern, aber noch ganz
verschlafen, im Geist einen Wolf, der auf einer an mein Fenster gelehnten
Leiter aufwärts Metterte und dabei an dem Haus rüttelte. 1 Ich rief um
Hilfe, es kam schon jemand herbeigeeilt, um mich, da man den Einsturz des
Hauses befürchtete, in den Garten hinunterzutragen. Und dort sehe ich mich
noch unter den Orangenbäumen, deren schöne goldene Früchte ich so sehr
liebte unserem Hauswirt zuhören, der meiner Großmutter schilderte, wie
sich manchmal infolge der Erdbeben der Boden öffne und Menschen in der
1) Zum Vergleich mit dieser Erinnerung folgende Beobachtung: Ich hatte
Gelegenheit, auf der psychiatrischen Klinik eine ältere Frau zu sehen, die anläßlich
des kürzlich in Wien stattgehabten Erdbebens (November 1927) einen Psychoseanfall
folgenden Inhaltes bekommen hatte: Ihr längst verstorbener Vater kam zur Türe
herein und versetzte dabei durch Rütteln das ganze Haus in Erschütterung.
•
I
Marie Bonaparte
<
so entstandenen Spalte verschwänden, worauf diese S1 ch wieder schließe Auf
Le Weise sei eine Frau lebendig begraben worden. Darauf betrachtete
ich die Erde zwischen den kleinen Kieselsteinen der Allee voll Angst und
doch zauberhaft angezogen von der Vorstellung einer Katastrophe, die mach
möglicherweise hier ereilen konnte.
Aber erst viel später, als ich ungefähr acht Jahre alt war, wurden meine
Phantasien wirklich düster. Der Wolf war mir weiter als Spuk erschienen,
veranlaßt durch die Geschichte vom Rotkäppchen, in der er erst die Groß-
mutter verschlingt - es hätte mich wohl nicht sehr betrübt, meine strenge
Großmutter in seinem Rachen verschwinden zu sehen - und dann das kleine
Mädchen. Aber der Wolf war ein reizendes, vertraut gewordenes Tier im
Vergleich zu der finsteren Gestalt, die dann, als ich acht Jahre alt war,
meine Nächte zu beunruhigen begann.
Sowohl mein Vater als auch meine Großmutter waren Freidenker und
untersagten meiner alten Kinderfrau, mich zum Beten anzuhalten. Diese tat
es trotz des Verbotes, und so betete ich abends stets zitternd vor Angst, daH
meine Großmutter unversehens die Tür öffnen könnte, - so wie anderen
Kindern zumute ist, wenn sie Zuckerwerk stehlen. Die alte Kinderfrau
ließ mich immer zu meiner Mutter beten, zu meiner „kleinen Mama , wie
sie sagte.
Mein religiöser Sinn fand aber noch andernorts Nahrung. Ich liebte die
Mythologie, in der ich viel Übereinstimmung mit mir selbst ahnte, über alles.
Und so entdeckte ich einmal, in meinem achten Jahr, beim Blättern in einem
Buch über ägyptische Mythologie auf einer Gravüre A n u b i s, den düsteren
Gott mit dem Kopf eines Schakals, den „Totenwächter", und vor ihm auf
einer Steinplatte ausgestreckt, die Mumie. Von diesem Augenblick an bemäch-
tigte sich Anubis meiner Phantasie, und jeden Abend, sobald ich mich m
meinem kleinen Bett auf dem Rücken ausstreckte (in der Lage der Mumie),
ergriff mich die tolle Angst, daß Anubis, der Schakal-Totenwächter, im
Dunklen zu heulen beginnen und in seiner ganzen schrecklichen Ma,estat vor
meinem Bett erscheinen würde. Die Anubisphobie war dem Anschein nach
noch irrationeller als die Tierphobien anderer Kinder: den kleinen Hans zum
Beispiel, dessen Geschichte Freud erzählt, hätte das Pferd, vor dem er s>ch
fürchtete, tatsächlich beißen können, während doch wirklich nicht die geringste
Aussicht dafür bestand, daß Anubis vor meinem Bett erscheinen konnte.
Trotzdem beherrschte die Anubisphobie mehrere Jahre meiner Kindheit, ohne
daß ich es gewagt hätte, zu irgend) emandem davon zu sprechen. Mit vier
Jahren hatte ich mich getraut, von der Halluzination des großen Vogels zu
Die Identifizierung einer Tochter mit ihrer verstorbenen Mutter 15
erzählen, mit acht Jahren fand ich nicht mehr den Mut, die Anubisphobie
mitzuteilen. Sowohl meine Verdrängungen als auch der Kampf gegen dieselben
waren stärker geworden; um aber diese neue Einstellung verständlich zu
machen müßte ich hier meine ganze alte Anubisphobie analysieren — und
das würde zu weit führen.
Sicher ist nur, daß ich der Anubisphobie absolut verständnislos gegenüber-
stand. Ich hatte damals weder die Gedankenverbindung von der Mumie auf
der Gravüre zu meiner Mutter auf dem Aquarell im Salon erkannt, noch zu
der Geschichte, die ich hunderte Male erzählen gehört hatte: daß meine
Mutter „einbalsamiert" worden sei — wie die Mumien. Ich erfuhr viel
später, daß diese Geschichte nicht auf Wahrheit beruhte, aber während meiner
ganzen Kindheit glaubte ich daran.
Noch viel weniger war es mir klar, daß ich selbst die Mumie war. Nie-
mals berührte mich auch nur im entferntesten der Gedanke, daß ich, wenn
Anubis mich jeden Abend erschrecken kam, sobald ich mich wie die Mumie
in meinem Bett auf dem Rücken ausgestreckt hatte, mir wohl selbst vor-
stellte, dann die Mumie zu sein. Aus dem Paar der Phobie, Anubis und der
Mumie, erfaßte mein Bewußtsein nur den einen Teil, selbstverständlich ohne
zu erkennen, daß es in Wirklichkeit mein Vater war, der aufrecht neben der
Toten stand. Die verstorbene Mutter, mit der ich mich identifizierte, blieb
sowohl als Begriff wie auch als Bild unbewußt, sie war eine unantastbare,
unbewußte Vorstellung. Dieser Tatsache wäre das Vergessen an die Seite zu
stellen, das anläßlich meines Blutsturzes im vierten Jahr die Vorstellung des
Blutes, die Vorstellung von mir selbst, bluthustend wie meine Mutter,
betraf. Als Deckerinnerung blieb nur das Bild des farbenschillernden Storches,
des großen, väterlichen, phallischen, auf einem Bein stehenden Vogels.
Die Anubisphobie manifestierte sich auch oral, wie dies bei der Storch-
halluzination in noch vollkommenerer Weise der Fall gewesen war. Der
Schakal nährt sich ja in Wirklichkeit von Aas und in meinem Unbewußten
war Anubis, der meinen Vater verkörperte, zugleich Wächter und Ver-
schlinger der Toten — oder vielmehr der toten Frauen.
Tief in meinem Innern trug ich während meiner ganzen Kindheit auch
noch eine andere geheimnisvolle Erinnerung. Ich bildete mir ein, meine ver-
storbene Mutter in Wirklichkeit gesehen zu haben; aber das verschwieg ich
eifersüchtig — niemand sollte davon wissen. Es war an der Meeresküste ge-
wesen, in Dieppe, nach dem ich immer Heimweh hatte. Nach meinem Blut-
husten waren wir nur noch ein einziges Mal dort gewesen und unter dem
Vorwand, daß mir das Meer nicht gut bekomme, weil ich letztes Jahr auf
f
j5 Marie Bonaparte
i
dem Geröll des Strandes beinahe ohnmächtig geworden war, war das Haus,
das wir als Erbe nach meiner Mutter dort besassen, bald verkauft worden.
Ich hatte aber die Sehnsucht, nach Dieppe behalten und auch das Verlangen
nach den verzuckerten Apfelstücken, die ich bei der Durchfahrt im Bahnhof
von Rouen immer bekam ; an den Apfelstücken sog ich mit Wonne und doch
auch mit Angst, eingedenk der Geschichte von dem kleinen Jungen, der sich
mit einer spitz-gesaugten Zuckerstange die Zunge durchstochen haben sollte.
Vor allem sah ich aber im Geiste ein Bild vor mir, das mich entzückte,
und nach dem mir jetzt, da wir nicht mehr ans Meer fuhren, vor
Sehnsucht fast das Herz zerbrach: von der Höhe eines schmalen Gäß-
chens, die der Bahnhofsomnibus langsam erklomm, erblickte man plötzlich
zwischen den nahe aneinander stehenden Häusermauern das Meer, ein
Stück blaugrünes, mit weißen Segeln besticktes Meer. Und das sollte ich
vielleicht nie wiedersehen ! Dieppe war aber für mich noch um einer anderen,
viel wunderbareren Erinnerung willen ein geheiligter Ort. War ich dort
nicht einmal, als ich noch ganz klein war, allein mit meiner Mutter in der
düsteren, von Fischern besuchten Kirche gewesen ? Kniete meine Mutter nicht
schwarzgekleidet, Gottes Beistand erflehend, in einem Betstuhl, unbeweglich,
stumm und blaß, blaß wie eine Wachsstatue oder vielmehr wie eine Tote?
Diese Phantasie, an deren Realität ich während meiner ganzen Kindheit glaubte,
bewahrte ich tief in meinem Innern wie einen kostbaren Schatz, den niemand
entdecken oder gar vernichten durfte.
Auch ein oft wiederkehrender Traum aus meiner Kindheit bezog sich auf
das Meer. Der Traum begann immer folgendermaßen : „Ich war in einem
Zimmer und horte Leute, Männer die Treppe heraufkommen. Da mir der
Weg zur Flucht über die Treppe verlegt war, stürzte ich mich zum offen-
stehenden Fenster hinaus. Und nun flog ich ; ich flog über einen Garten hin- j
weg und erhob mich mit einem Ruck über die großen ihn einfassenden Bäume,
deren Spitzen im Flug von meinen nachschleppenden Füssen ganz leicht ge-
streift wurden. Mein Flug setzte sich über ausgedehnte Ebenen fort, an deren
Horizont, weit entfernt, der Spiegel des Meeres glänzte. Je näher wh dem
Meer kam, desto rascher wurde mein Flug ; es war, als würde ich von einem
Wind im Rücken vorwärts gestoßen ; und nun, seltsam und gräßlich anzusehen,
wurde der ganze Himmel weiß und meine vom Licht geblendeten Augen ver-
loren die Fähigkeit, sich zu schließen. So kam ich in schwindelndem Flug
zur ersten Lagune und überflog sie; ein schmaler Streifen Land, eine zweite
Lagune und noch eine; der Himmel wurde immer heller, meine mehr und
mehr schmerzenden Augen standen weit offen und nun wurde ich über das
Die Identifizierung einer Toditer mit ihrer verstorbenen Mutter 17
offene Meer hinausgetragen. Jetzt aber verlor mein Flug nach und nach an
Schnelligkeit, die Kraft, die mich fortgetragen hatte, ließ nach, ich fiel, fiel
trotz meiner verzweifelten Anstrengung auf die Wellenkämme herab, die meine
Füße schon benetzten. Nun aber, im Moment, wo ich das Wasser berührte,
war mir, als ob es mich einsaugen wollte, ich fdhlte das kalte Wasser erst
an meinen Knien, meinen Hüften, an den Lenden, dann verschwanden meine
Schultern darin, und im Augenblick, wo das salzige Wasser mir, den Atem be-
nehmend, in den Mund einzudringen begann, erwachte ich in einem entsetz-
lichen Angstzustand.. In wie vielen Nächten habe ich unter diesem Angst-
traum gezittert, in dem das Meer, dieses ewige Muttersymbol, mich so an-
lockte, um mich zu verschlingen, mich ganz in sich aufzunehmen, in dem
der salzige Geschmack des Wassers, das meinen Mund füllte, vielleicht die
unbewußte, unverwischbare Erinnerung an den faden, salzigen Geschmack des
Blutes war, das mir bei meinem Blutsturz beinahe das Leben gekostet hätte.
Auf das Meer bezüglich muß ich hier auch noch eine Erinnerung aus
meiner Latenzzeit erwähnen, die mit meinen geographischen Studien zu-
sammenhängt. Ich begeisterte mich für die Geographie, deren Studium mein
Vater sich gewidmet hatte. Nun, von allen Meeren, deren Namen ich kennen-
lernte, bezauberte und lockte mich keines so sehr, erweckte keines so stark
den Wunsch in mir, es zu sehen und darin zu baden, wie das „Tote Meer .
Dieses seltsame Meer mit dem salzhaltigen Wasser, in dem, wie man mir
sagte, kein Fisch leben kann, in dem man schwimmt, ohne untersinken zu
können, weil der Salzgehalt zu groß ist, dieses Meer, das „einbalsamiert" ist
wie die Mumien in ihrem Natronbad, faszinierte mich, ohne daß ich damals
gewußt hätte, warum. Heute weiß ich, daß das Unbewußte sich gern solcher
sonderbarer Wortspiele bedient, die, so absurd sie auch erscheinen mögen,
doch voll eines tiefen Sinnes sind. 1
Nun waren von den Wellen des Toten Meeres zwei sündhafte Städte ver-
schlungen worden, deren Namen allein in ihrem absonderlichen und schreck-
haften Klang eine mit Angst vermengte Anziehungskraft auf mich ausübten.
Ich wußte sehr genau, ohne sagen zu können, um was es sich handelte, daß
Sodom und Gomorrha wegen geheimnisvoller, furchtbarer Sünden, die man
vor Kindern geheimhält, bestraft worden waren. Man erzählte doch, daß Lots
Frau, nur weil sie sich nach den dem Fluch verfallenen Städten umgeschaut
1) Anmerkung der Übersetzerin: im Französischen heißt:
la inire morte = die tote Mutter.
la nur morte = das Tote Meer.
■
*8 Marie Bonapartc
hatte, in eine Salzsäule verwandelt worden war. Eine Salzsäule war mir im
Geiste immer ganz blaß erschienen, wie eine Tote. Es mußte da irgend etwas
sein, das man nicht sehen, von dem man nichts wissen durfte ! Vielleicht
hatte meine Mutter auch - das blieb unbewußt - aus geheimnisvollen Ur-
sachen, die man vor Kindern verbirgt, sterben müssen. Und das Salz! Das
Salz schien mir eine geheiligte, gefürchtete Substanz zu sein. 1
Die Vorleserin meiner Großmutter pflegte Salz, das bei Tisch verschüttet
worden war, mit einer beschwörenden Geste über ihre Schulter zu werfen.
Mein Vater ergriff einmal meine Hand, um mich zu hindern, es ihr gleich-
zutun ; er wollte mich lehren, abergläubische Gebräuche zu verachten, was
ich sonst nach außenhin auch tat. Aber tief in meinem Innern sah es anders
aus. Die Kristallbildungen, mit denen ich mir die Ufer des Toten Meeres
bedeckt dachte, schillerten zauberhaft. Und die wunderbaren Farbenspiegelungen
die ich mir vorstellte, riefen sicherlich meinem Unbewußten den Opal ins
Gedacht««,, den wahrhaft verhängnisvollen Opal, der in tiefem Schlaf auf dem
Boden seiner Schatulle in der Bank ruhte.
III) Die Tuberkulosephantasie
Obwohl mein Tuberkuloseanfall aus der Kindheit sich niemals wiederholt
hatte, übte doch der Opal vom Grunde der Schatulle aus, in der er in der
Bank verborgen lag, weiter seine unheimliche Macht. Im Alter von siebzehn
Jahren, nach einer quälenden Periode von Konflikten, die meinen Entwick-
lungsjahren gefolgt war, in der ich Monate hindurch meinem gleichwohl so
sehr geliebten Vater das Leben schwer gemacht hatte, - so zeigt sich die
Geluhlsambivalenz, - machte sich eine Reaktion meiner zärtlichen Gefühle
gegen ihn bemerkbar. Gleichzeitig entstand und setzte sich immer mehr in
mir der Gedanke fest, daß ich, wie meine Mutter, tuberkulös sei und daß
man es vor mir geheimhalte. Ich konstatierte bald alle Arten von bestätigen-
den Symptomen. Es war also klar, daß alle mich täuschten, meine Verwandten
die Arzte, die alle beteuerten, daß mir nichts fehle. Einzig und allein meine'
alte Kinderfrau, die seit meinem fünften Jahr bei uns war, eine alte, ergebene
und beschränkte Korsin, die mich in meiner Kindheit im Kultus meiner
verstorbenen Mutter stets bestärkt hatte, nur die alte Kinderfrau schüttelte
den Kopf, wenn sie mein schlechtes Aussehen betrachtete, und murmelte mit
1) Vgl. Ernest Jones: „Die Bedeutung des Salzes in Sitte und Brauch der
Völker«, „Imago", Bd. I. (1912).
Die Identifizierung einer Tochter mit ihrer verstorbenen Mutter
»9
Tränen in den Augen: „Ich habe es immer gefürchtet." Oh, ich wußte es,
ich gab mich gar keiner Täuschung über mein Schicksal hin, ich war tuber-
kulös geworden und würde, so wie meine Mutter, nach meinem kaum
erreichten einundzwanzigsten Jahr sterben. Hatte ich doch von meinem Anfall
im Alter von vier Jahren sprechen gehört? Hatte man mir damals von dem
Blutsturz erzählt, der meine ganze Kindheit verdüsterte, weil man mich
deshalb ins Haus einschloß? Ich glaube, sagen zu können, daß man mir diese
Mitteilung machte, als ich sechzehn Jahre alt war, also kurze Zeit vorher.
Nun zeigten die Ärzte, die sich, wie wir wissen, dem Verständnis
psychischer Konflikte verschließen, in meinem Fall ihr ganzes Können. Unser
Hausarzt begann, obwohl er mich sehr lieb hatte, meine Todesgedanken mit
ständig zunehmender Verachtung zu behandeln, was mich zur Verzweiflung
brachte und im Festhalten an meinen Ideen nur bestärkte. So oft ich mit
ihm davon zu sprechen versuchte, schickte er mich, wie man gewöhnlich
sagt, „spazieren".
In dieser Weise vergingen drei Jahre, während ich den Gedanken an
meine eingebildete Tuberkulose stets mit mir herumtrug. Ich fühlte in meiner
ganzen rechten Seite einen Druck, ich hatte manchmal Beklemmungen, wurde
anämisch; auch magerte ich ab, hatte wenig Appetit und litt während der
kalten Jahreszeit ständig an Kehlkopf- und Luftröhrenkatarrh, was mir meine
Vermutungen nur zu bestätigen schien. Ich sagte mir, daß die Ärzte entweder
zu dumm oder zu nachlässig seien, um klar zu sehen, oder daß sie mich
eben täuschten. Indessen hatte man fortlaufend verschiedene Spezialisten zu
Konsilien gerufen, die immer das gleiche Resultat ergaben: es war nichts
zu finden. Trotzdem glaubte ich weiter daran, daß die Ärzte mich
hintergingen.
Damals entstand in mir der Wunsch, Medizin zu studieren; aber mein
Vater war dagegen, mit der Begründung, daß das Studium meinen Heirats-
chancen schaden könne. Ich unterwarf mich sogleich seinem Witten. Wozu
auch kämpfen? Sicherlich war ich viel zu krank, um auf die Universität
gehen zu können, und dann kam mir damals der Gedanke gar nicht, daß ich
meinem Vater ungehorsam sein könnte. Mein Leben war indessen weder
trübselig noch mutlos. Niemals habe ich, allerdings nur zu Hause, so viel
gearbeitet wie in dieser Zeit; es war für mich eine intellektuell bedeutsame
Periode. Ich stand im Winter vor Tagesanbruch auf und lernte, manchmal
schon von fünf Uhr an bis abends, in meinem Studierzimmer eingeschlossen,
Geometrie, Geographie, Geschichte, Naturwissenschaften, Philosophie, französi-
sche und deutsche Literatur. Ich ging nicht ins Lyzeum, sondern arbeitete
20
Marie Bonaparte
l
in meinem Zimmer wie mein Vater in dem seinigen, und mit einem zügel-
osen Elfer, der mir größer schien als seiner und mit dem ich mich brüstete
Ich war stolz darauf, bei den täglichen Mahlzeiten mit meinem Vater von
memen wissenschaftlichen Studie» sprechen zu können; wenn er auch leider
Literatur und Kunst, die ich ebenfalls liebte, verachtete, so sagten ihm
wenigstens meine wissenschaftlichen Neigungen zu. Damals hegte ich die
jugendliche Illusion, daß ich mit der Kraft meines Geistes die Welt erobern
könne. Ich entsinne mich mancher Wintermorgen in meinem einsamen, hoch-
gelegenen Studierzimmer in unserem, die Stadt überragenden Hause: während
meine Lampe erlosch, ging am Horizont von Paris unter meinem Fenster die
rote Sonne auf; in ihrem Rot schien sie mir der Erregtheit meines Herzens
vergleichbar. VieUeicht würde ich jung sterben müssen, aber was lag daran-
ISiemals war ich noch so glücklich gewesen.
Und doch entstand in mir zur selben Zeit eine neue Phobie. Ich konnte
zwar nicht Medizin studieren, aber alles, was damit im Zusammenhang steht
erregte mein leidenschaftliches Interesse. Besonders interessierte mich die'
Anatoniie, ich wollte mich gründlich damit befassen, mein Studium also am^
Skelet beginnen. Nun befand sich in der großen Bibliothek meines Vaters
ein kleines Skelett das er geschenkt bekommen hatte; es war das Skelett
emer jungen Hindufrau, die im ^^ ^ _ *
Tuberkulose gestorben war. Unter einem Glas daneben lag die Totenmaske,
die ihre abgemagerten Gesichtszüge zeigte.
zimte ^fr "^i ^^ mlch d3S Wdoe Skelett in *-*— Studier-
z^mmer aufhangen zu lassen, damit ich mit Muße daran lernen könne. Aber
mic^selT ent ? raD f, nOCh 6iner anderen UrSaCh6: ™ Grunde achtete ich
A K,T ehien Skele " Und W ° ]lte mich fingen, mich an
seinen Anblick zu gewöhnen. Außer meinen An«t „„H K ' *"
miturmi !•.*»« • u -, ., n An gst- und Konversionserschei-
2 l 7 1Ch . Z , 3hlreiChe Zw ^y-Ptome entwickelt, die mich immerfort
dazu drängten, mich zu überwinden, zu besiegen und gerade die Dinge zu
tun, die ich am meisten fürchtete. Ich will hier nicht näher auf diese
Symptome eingehen, weil ich in der vorliegenden Arbeit nur heraushebe, was
Beziehung zur Identifizierung mit meiner verstorbenen Mutter hat, um davon
ein geschlossenes Bild zu geben.
Nachdem ich nun das kleine Skelett in meinem Studierzimmer aufgehängt
hatte, ging ich daran, es zu studieren. Ich war öfters versucht, es von seinem
Haken herabzunehmen, es neben mich zu stellen und unsere Größenmaße
mitemander zu vergleichen. Meine Mutter war auch um vieles kleiner ge-
wesen als ich und war auch ungefähr im gleichen Alter wie die kleine
Die Identifizierung einer Toditer mit ihrer ve,- itorbenen Mutter 21
Hindufrau gestorben. Aber diese familiären Beziehungen zu dem kleinen
Skelett, weit davon entfernt, es mir vertrau*-.,- zu machen, hatten folgendes
Resultat: das kleine Skelett begann mir jetzt, bisweilen Nacht für Nacht, zu
erscheinen. Ich ging im Traum an ihm vorbei . . . da streckte es die Hand
aus und ergriff mich, als wollte es mich mitziehen. Oder es tanzte vor mir
und kam dann auf mich zu und ich erwachte in einem schrecklichen
Angstzustand. So war die alte Kinderfurcht vor der posthumen Rache meiner
Mutter wieder auferstanden. Das kleine Skelett der zwanzigjährig verstorbenen
Lungenkranken war sie selbst; sie war von ihrem Aufenthaltsort in die
Bibliothek meines Vaters heraufgekommen, um mich dafür zu bestrafen, daß
ich ihn ihr weggenommen hatte. Und jetzt, nachdem ich selbst tuberkulös
war, wie sie es gewesen, kam sie jede Nacht, um mich zu mahnen, daß es
bald an der Zeit sei, ihr ins Grab zu folgen, was ich gleichzeitig fürchtete
und ersehnte.
Als ich einsah, daß ich mich, trotzdem Monate vergangen waren, nicht
an das kleine Skelett gewöhnen konnte, und obwohl ich damals nicht
wußte, daß der Inhalt des Unbewußten der Usur der Zeit nicht unterliegt,
gab ich nach und brachte das kleine Skelett schließlich wieder hinunter in
die Bibliothek.
Und trotzdem beunruhigte es weiterhin meine Nächte. Ich sah mich im
Traum die Treppen hinabgehen, um zu meinem Vater in die Bibliothek zu
gelangen; aber unterwegs erfaßte mich das kleine Skelett von rückwärts mit
seiner ausgestreckten Hand. So lebte ich mit meinen Angstträumen fort und
wagte nicht, bei hereinbrechendem Abend und schließlich sogar bei Tage
nicht mehr, allein in die Bibliothek zu gehen.
Diese Phobie war eben ein ganz wunderbares Kompromiß zwischen zwei
mächtigen Tendenzen meines Unbewußten: meine Mutter sein, sterben wie
sie befriedigte den positiven Teil meines Ödipuskomplexes, die Liebe zu
meinem Vater; und von meiner Mutter mit dem Tode bestraft werden
als Wiedervergeltung für den Tod, den ich ihr verursacht, entsprach dem
anderen Teil meines Ödipuskomplexes, dem damit verbundenen, unbewußten
Schuldgefühl.
Mein Vater hatte mir, als ich neunzehn Jahre alt wurde, die Erzählungen
von Edgar Poe, in der Übersetzung von Baudelaire, gegeben und ich
begann sie an den Abenden des folgenden Sommers auf dem Lande zu lesen-
Zuerst las ich den „Doppelmord in der rue Morgue", den „Gestohlenen
Brief", den „Goldenen Skarabäus", die drei Erzählungen, die mein Vater
bewunderte, die mir aber keinen übermäßigen Eindruck machten. Als ich
22
Marie Bonaparte
aber „Ligeia , eine Geschichte, die mein Vater geringschätzte, begonnen
hatte, wurde ich bei Beschreibung des als Rächerin wiederkehrenden Leich-
nams der Frau von solcher Angst ergriffen, daß ich damals, wie mir scheint
nicht imstande war, die Geschichte zu Ende zu lesen. Und bald gab ich
diese schreckenerregende Lektüre ganz auf. Es war darin etwas, dessen Art
ich mcht ertragen konnte, ich, die ich mich - und das seit meinem drei-
zehnten Jahr - an der Aufführung von Tragödien wie Hamlet oder Köni<r
Odipus begeistert hatte. Ich konnte mit den Geschichten von Poe so wenig
vertraut werden wie mit dem kleinen Skelett; es war mir * klar, daß, je
mehr ich davon lesen würde, meine Angst sich nur steigern würde: es gab
da sicherlich noch andere, ebenso schreckliche Erzählungen, wie „Ligeia"
und es war besser, diese gar nicht kennen zu lernen. Und im Verlaufe von
fünfundzwanzig Jahren meines Lebens öffnete ich kein Buch, in dem
möglicherweise eine Geschichte von aus der anderen Welt wiederkehrenden
Geistern, besonders weiblichen Geschlechtes, vorkommen konnte. Ich hatte
namhch bald bemerkt, daß die toten Frauen mir hundertmal mehr Angst
einflößten als die toten Männer: wegen der in Poes Erzählungen so häufig
vorkommenden weiblichen Geister habe ich mich von der Lektüre seiner
Werke ferngehalten. Ich durfte nicht wagen, „Ligeia" früher, als jetzt
wahrend meiner Analyse, wieder zu lesen - und wie überfiel mich da die
Angst von neuem! - um nun endlich die Gründe meiner Furcht kennen
zu lernen. Nachdem „Ligeia" sich als das gezeigt hatte, was sie für mich
war: als die rächende Mutter, die wiederkehrt, um den durch Rowena
(mich) usurpierten Platz an des Vaters Seite wieder einzunehmen, verlor
sie mit ememmal zugleich mit ihrem Geheimnis auch ihre angsteinflößende
Kraft. Das war sogar ein therapeutisch sehr hübsches Resultat meiner
Analyse.
Indessen, als ich das Alter von zwanzig Jahren erreicht hatte. - das
AI er, in dem meine Mutter geheiratet hatte, - begann meine „Krankheit"
«eh plötzlich zu verschlimmern. Ich magerte ab, ich verfiel zusehends.
Meine immerwährenden Halsübel wurden in diesem Winter zu einer chroni-
schen Krankheit; ich hatte sogar manchmal blutgefärbte Schleimabsonderungen.
Meme Angehörigen erklärten das mit erblicher Belastung; sie sagten, es
wäre genau wie bei meiner Mutter, die Geschwüre im Halse hatte und
deshalb auch Blut hustete. Ich aber magerte weiter ab, wurde immer
blasser, immer schmächtiger, ich nahm immer mehr und mehr das Aussehen
einer Kranken an und machte das alles so gut, daß mein Vater und meine
Großmutter sich endlich auf den Rat der Ärzte entschlossen, mich fort-
Die Identifizierung einer Tochter mit ihrer verstorbenen Mutter 23
zuschicken. Wenigstens sollte mein Aussehen, das jeden, besonders zukünftige
Bewerber, abgeschreckt hätte, sich bessern; ich sollte mich kräftigen und
meine „Anämie", so wurde ärztlicherseits mein Leiden genannt, aus-
heilen. Ich wurde in den Süden geschickt.
Gerade das hatte ich mir gewünscht. Ich hatte den Süden — das Land,
in dem meine Mutter aufgewachsen war — seit meinem fünften Jahr, seit ich
nach meinem Blutsturz dort gesund geworden war, nicht wiedergesehen. Aber
ich erkannte alles, als hätte ich es erst gestern verlassen. Und ich finde nicht
genug Worte zur Schilderung meines Entzückens, als ich Palmen, Eukalyptus-
bäume, Zitronen- und Orangenbäume wiedersah und die duftenden, gelben,
blühender Sonne gleichenden Mimosen.
Dort lebte ich meist im Freien und zwang mich nach eigenem Gutdünken
mehrere Monate hindurch zu schrecklicher Überernährung, die mich bald
fast an die Grenze der Fettleibigkeit brachte. Daraufhin schränkte ich meine
Nahrungsaufnahme wieder ein und nahm glücklicherweise an Gewicht ab,
aber das gute Aussehen behielt ich bei. Trotzdem mußte ich an vier aufein-
ander folgenden Wintern wiederkommen, ohne mich indessen schon ganz
gesund zu fühlen. Denn dazu fehlte mir eine Bedingung, von der weder ich
selbst noch meine Ärzte etwas wußten : ich mußte einen bestimmten Zeitpunkt in
meinem Leben überschritten haben. Ich konnte tatsächlich von meiner Tuber-
kulosephantasie nicht genesen, bevor ich mein zweiundzwanzigstes Jahr nicht
überschritten, also das Alter erreicht hatte, in dem meine Mutter gestorben
war. Ich hätte mich auch früher nicht verheiraten können. Meine Angst vor
Schwangerschaft und Gebären war zu dieser Zeit ohnehin intensiv genug
es mußte mindestens durch Überschreiten des unheilvollen Zeitpunktes das
drohende Verhängnis beschworen werden. Die Tuberkulosephantasie war ein
Kompromiß, das mich einerseits vor der Heirat, der Schwangerschaft, also
dem tatsächlichen Schicksal meiner Mutter bewahrte, andrerseits aber auch vor
der Untreue gegen meinen Vater; denn sie ließ, mich der primitiven Liebe zu
meinem Vater treu bleiben und verwirklichte, wie seinerzeit die Storchhallu-
zination, meinen tiefsten Wunsch : die Identifizierung mit der während meiner
Kindheit bis über den Tod hinaus beneideten Mutter.
Indessen — ich glaube, es war als ich zwanzig oder einundzwanzig Jahre
alt war — kamen die Schmucksachen meiner Mutter aus der Bank zurück,
wo sie seit ihrem Tode aufbewahrt gewesen waren, und wurden mir in aller
Form übergeben; und nichts aus dem Inhalt der Schatulle erregte mein Interesse
so sehr wie der große Opal.
Aber sein Anblick enttäuschte mich. Vor allem hatte er nicht die Form
2 4 Marie Bonaparte
eines Eies, von der ich während all der Jahre geträumt hatte und die meinen
unbewußten Wünschen besser entsprach, sondern er war herzförmig. Übrigens,
wenn man sich die Brillanten der Umfassung wegdenken wollte, ergab sich
auch nicht — wovon ich solange geträumt hatte — die Größe eines Hühnereies;
der Opal war gerade nur etwas größer als ein Taubenei. Und sein Farben-
spiel war zu milchig, zu matt, jedenfalls viel weniger lebhaft, als das des
großen Vogels — den ich übrigens damals noch nicht mit ihm in Verbindung
brachte. Kurz gesagt, im hellen Licht meiner zwanzig Jahre besehen, ent-
täuschte mich der große Opal.
Ich legte ihn beiseite und trug ihn nicht, weil ich fand, daß dieses alte,
russische Schmuckstück für den modernen Geschmack zu plump sei. Auf diese
Weise rationalisierte ich meine Gefühle.
Als ich indessen endlich mein zweiundzwanzigstes Jahr erreicht hatte
sagte mein Vater zu mir: „Die Zeit vergeht, Du bist jetzt zweiundzwanzig'
und wegen der dummen Ideen über deine eingebildete Krankheit gibt es noch
keine Heiratsaussicht für Dich. Es wäre wirklich an der Zeit, zur Vernunft
zu kommen und von Deinen verrückten Ideen zu lassen." Mein Vater sprach
ganz so, als ob er in seinem Unbewußten davon Kenntnis gehabt hätte, daß
tatsächlich der Zeitpunkt gekommen war, an dem die Realität es mir ermög-
lichte, mich von ihm loszulösen und die liebevolle und schreckliche Phantasie
zu beenden, die mich gegen meinen Willen an sein Haus gebunden hatte.
Meines Vaters Ausspruch über meine „eingebildete" Krankheit kränkte
mich zuerst. Er gtaubt also nicht daran, dachte ich, er denkt eben an nichts
anderes, als mich vorteilhaft zu verheiraten; er liebt mich eben nicht! Und
ich zürnte meinem Vater mit der ganzen Kraft meines Herzens.
Diese Phrase „er glaubt nicht daran" hatte eben noch eine andere tiefe
Bedeutung außer der, die ich selbst ihr verlieh. Der manifeste Gedanke lautete
für mich: „Er glaubt nicht an meine schwere Krankheit." Aber der latente
Gedanke hieß: „Er glaubt nicht an meine übermächtige Liebe." Denn meine
„eingebildete'" Krankheit drückte aus, was am „realsten" in mir war: die
tiefe und treue Liebe bis zum Tode, die Liebe, von der nur ein, und zwar
der kleinere Teü die Oberfläche des Bewußtseins streifte, die Liebe, die ich
seit meiner Kindheit meinem Vater — und nur ihm aliein — bewahrte.
Jetzt aber, da ich zweiundzwanzig Jahre alt war, sagte mir mein Vater
selbst, daß es Zeit sei, auf die aus Liebe zu ihm entstandene Identifizierung
mit der verstorbenen Mutter zu verzichten. Die Realität verkündete es: ich
hatte das Alter von zweiundzwanzig Jahren erreicht und war nicht gestorben ;
und da ich gar keine Veranlagung für die Psychose besaß, die Stimme der
^
Die Identifizierung einer Tochter mit ihrer verstorhenen Mutter 25
Wirklichkeit zu überhören, wenn diese laut genug sprach, reagierte ich auf
das, was sowohl mein Vater als auch das Schicksal sagten.
Tatsächlich begann von diesem Zeitpunkte an meine Tuberkulosephantasie
zu verblassen. Im darauffolgenden Winter im Süden fühlte ich mich immer
besser, immer gesünder ; ich hatte das deutliche Gefühl, daß meine Tuberkulose
— an die ich immer noch glaubte — endlich wirklich in der Heilung
begriffen war.
Im folgenden Winter, im Winter meines dreiundzwanzigsten Lebensjahres,
erreichte ein Arzt in Nizza endlich, was allen anderen mißlungen war: er
nahm sich die Mühe, öfters mit mir zu sprechen, und überzeugte mich nach
und nach nicht nur davon, daß ich vollkommen von meiner Tuberkulose
geheilt war, sondern, daß ich auch in den vergangenen sechs Jahren nicht im
mindesten tuberkulös gewesen war. Und das ging mit allergrößter Leichtigkeit
vor sich, ich vergaß wie durch Zauberei die fixe Idee dieser sechs Jahre und
dachte überhaupt nicht mehr daran.
Nun fühlte ich mich wie vom Tode auferstanden und dachte, zur großen
Freude meines Vaters, endlich sogar mit einer Art plötzlichen Verlangens
an eine Heirat.
Mit fünfundzwanzig Jahren verlobte ich mich; Alter und Stellung meines
Verlobten machten es mir leicht, die Liebe zu meinem Vater auf ihn zu über-
tragen. Als ich ihm eines Tages meinen Schmuck zeigte, machte er mir den
Vorschlag, alle die alten Schmuckstücke meiner Mutter, die zu unmodern
waren, um getragen zu werden, zu verkaufen und dafür Perlen zu kaufen, die
die von meiner Mutter geerbten ergänzen würden. Ich willigte ein, obwohl
der Gedanke, mich von all diesen alten Andenken zu trennen, mir ein wenig
leid tat. Aber ich brachte es nicht über mich, mich zum Verkauf des einen
Steines, des Opales, bestimmen zu lassen, obwohl mein Verlobter mich gerade
dazu besonders drängen wollte. Trotzdem er mir, um mich zu überreden,
sagte, daß ihm dieser Stein nicht gefalle, daß er angeblich ein Unglücks-
bringer sei und wir uns deshalb seiner entledigen sollten, blieb ich hartnäckig
bei der Ablehnung seines Vorschlags. Hatte mich mein Vater nicht von Kindheit
an gelehrt, jeden Aberglauben zu verachten! Es wurden also nur die Brillanten
der Einfassung verkauft, den Opal selbst behielt ich unter dem Vorwand, daß
sein Wert nicht genügend groß sei, es also nicht lohne, ihn zu verkaufen.
Eines Tages, ich glaube, es war während meiner ersten Schwangerschaft,
wollte ich ihn wieder sehen; ich öffnete meine Schmuckkassette, suchte den
Stein — er war nicht zu finden. Der Opal, der Unglücksbringer für schwangere
Frauen, den zu verkaufen ich mich geweigert hatte, war indessen vor meiner
26 Marie Bonaparte
eigenen Niederkunft verschwunden. Man könnte sagen, daß das Schicksal mich
wider meinen Willen vor ihm schützen wollte.
Ich hatte zwei Kinder und starb trotz der beidemaligen schrecklichen
Befürchtungen meines Vaters nicht im Wochenbett. Und nachdem mehrere
Jahre vergangen waren und ich nach und nach die Hoffnung, ein drittes
Mal Mutter zu werden, aufgeben mußte, fand ich eines Tages, ohne
zu wissen wie und ich glaube auch ohne ihn gesucht zu haben, am Boden
einer alten Schachtel den verbannten Opal, in ein armseliges Stückchen
Seidenpapier gewickelt. Er verschwand aber bald von neuem aus meinem Besitz
und aus meinen Gedanken — bis zum gestrigen Tag, an dem er durch den Ver-
lauf meiner Analyse in seiner ganzen leuchtenden Wichtigkeit wieder auftauchte.
Ich glaubte übrigens bis gestern noch, ihn verloren zu haben, und erst
heute abends, als ich meine Kammerfrau nach dem Stein fragte, rief sie mir
seine Existenz am Boden der alten Schachtel ins Gedächtnis. Und jetzt darf
der große, seit so vielen Jahren im Dunklen vergraben gewesene Opal das
Tageslicht wieder sehen. Er hat endlich seine furchtbare, geheimnisvolle Macht
eingebüßt, denn — und das könnte eine Devise der Psychoanalyse sein —
die Gespenster verflüchtigen sich, wenn das Licht des Tages auf sie fällt. Aber
man muß vorerst den Mut aufbringen, sie ins helle Licht heraufzubeschwören.
IV) Schlußfolgerung
Ich habe meine Storchhalluzination aus dem vierten Lebensjahr und die
darauffolgende Anubisphobie erzählt, weil sich schwerlich aus der Blütezeit
des Ödipuskomplexes und aus den folgenden Jahren ein schöneres Beispiel für
die aus übermächtiger Liebe zum Vater entstandene, bis zum Tod gehende
Identifizierung mit der Mutter finden läßt.
Ich habe die Erzählung meiner Tuberkulosephantasie im Alter von siebzehn
Jahren hier folgen lassen, weil sie denselben Ursprung hat, aus dem durch
die Pubertät wiedererweckten Ödipuskomplex stammt und wohl mein „Fall"
zwischen siebzehn und dreiundzwanzig Jahren von neuem den Einfluß psy-
chischer Komplexe sowohl auf das körperliche Befinden, als auch auf das
persönliche Schicksal zeigt. Wäre damals eine Analyse, die das verdrängte
pathologische Material ans Tageslicht gebracht hätte, möglich gewesen, sie
hätte mir mehr Nutzen gebracht als alle Konsultationen der Arzte und alle
Aufenthalte im Süden.
Die Identifizierung einer Toditer mit ihrer verstorbenen Mutter
V
Und man kann an diesem Beispiel den so häufigen Gegensatz zwischen der
bewußten und der unbewußten Einstellung zum Aherglauben, wie übrigens
zur Religion im allgemeinen beobachten. Es nützte nichts, daß mein Vater
meine Hand zurückhielt, als ich das verschüttete Salz über meine Schulter
werfen wollte, und daß ich selbst mich in Identifizierung mit diesem be-
wunderten Vater über jeden Aberglauben erhaben fühlte und abergläubische
Leute tief verachtete, mein ganzes Unbewußtes „glaubte" an die schreckliche
Macht des Opals. Meine Halluzination des irisierenden Storches hatte diese
Tatsache im Alter von vier Jahren nicht deutlicher gezeigt, als mehr als
zwanzig Jahre später das Verschwinden und Wiedererscheinen des verhäng-
nisvollen Steines in Übereinstimmung mit Daten und Ereignissen meines
Lebens als Frau und Mutter.
Aus einer analogen Opposition heraus ist es auch zu erklären, daß ich,
obwohl ich, erwachsen geworden, mich zum Freidenkertum bekannte wie mein
Vater und an ein Weiterleben der Toten nicht glaubte, doch die Angst vor
Geistern in solchem Maße beibehalten hatte, daß ich eine Geschichte von
Edgar Poe erst lesen konnte, nachdem die Analyse mich endlich von dieser
Angst befreit hatte.
In den archaischen Tiefen unseres Unbewußten leben eben die alten
Menschheitsreligionen auch dann noch fort, wenn sich unser Verstand weit
über deren primitive Begriffe hinaus entwickelt hat.
Eine kleptomane Anwandlung
Eine Dame von durchaus normalem Benehmen reist mit ihrem erwachsenen
Sohn in dessen Auto nach England. Auf dem Schiff, das den Verkehr zwischen
Frankreich und England vermittelt, hat der Sohn irrtümlich ein Billet zu viel
genommen, hat sich aber aus Eitelkeit, wie sie bei jungen Menschen häufig ist, bei
der Ankunft in England nicht getraut, die zuviel gezahlte Summe zurückzuver-
langen. Die Mutter, obwohl sie im allgemeinen eher verschwenderisch ist, be-
dauert diese überflüssige Ausgabe, sagt aber nichts, um ihren Sohn nicht zu ärgern.
Im Hotel des ersten Ortes, in dem die beiden Reisenden Nachtstation machen,
findet sich auf dem Waschtisch der Mutter ein schönes Stück ganz neuer, grüner
Seife. Während sie sich damit die Hände wäscht, denkt sie: „Dieses Stück Seife
werde ich morgen mitnehmen. Das wird ein wenig den Verlust durch das zuviel
gezahlte Billet ausgleichen. " Und am nächsten Morgen läßt sie wirklich die ganz
feuchte, grüne Seife, nachdem sie sie zu ihrem Bad benützt hat, mit einem
köstlichen Gefühl des Besitzergreifens in ihre Schwammtasche gleiten.
In der zweiten Nachtstation, in einer anderen Stadt und einem anderen
Hotel, befindet sich auf dem Waschtisch wieder ein neues Stück Seife —
wie es in den englischen Hotels üblich ist. „Wieviel Seifenstücke werde ich
am Ende der Reise haben?" denkt die Dame, „um mich für das zuviel
gezahlte Billet schadlos zu halten?" Aber diese Seife ist klein, viereckig und
weiß, weniger verlockend als die große grüne Seife vom Abend vorher.
Trotzdem steckt die Dame sie am nächsten Morgen in ihren Schwammsack,
fühlt sich aber, ehe sie ihr Gepäck schließt, veranlaßt, zu ihrem Sohn zu
sagen: „Wirst du nicht die kleine violette Seife mitnehmen, die in deinem
Zimmer ist? Ich nehme die Seifen aus den englischen Hotels, wo man sie
einem hinlegt, mit; ich sammle sie." „Nein," antwortet der Sohn, halbernst,
halblachend, „denn das wäre Diebstahl." Darüber entspinnt sich eine Debatte,
ob es Diebstahl ist oder nicht. Die Mutter sagt: „Es wird ja doch niemand
eine Seife in Gebrauch nehmen, die ein anderer Reisender schon benutzt
hat." Der Sohn antwortet, daß die Seife nur zur Benützung im Hotel be-
stimmt ist und daß ein Mitnehmen der Seife nicht viel anders wäre, als
wenn man z. B. ein Leintuch aus dem Bette mitnehmen würde; die Mutter
Eine kleptomane Anwandlung 29
betont den Unterschied zwischen einem Leintuch und eine^ Stück Seife und
meint daß die benützte Seife höchstens von den Hotelmädchen gebraucht
werden könne. Sie nimmt aber, wenn auch mit Bedauern, das kleine weiße
Seifenstück aus ihran Gepäck wieder heraus, indem sie sich sagt, daß diese
Seife sich mit der vom Abend vorher nicht vergleichen läßt und einfach
nicht wert ist, „gestohlen" zu werden.
Der Vater dieser Dame hatte in ihrer Kindheit — als Einziger im Hause
— englische Seife benützt. Wenn sie als kleines Mädchen den Waschraum
des Vaters betrat, war sie von dem besonderen Geruch der Seife so stark
berührt, daß er ihr schließlich als Symbol des Vaters erschien. Sie selbst
hatte niemals von dieser Seife. Ihre Kinderfrau gab ihr immer nur uninter-
essante französische Seifen. Selbstverständlich hätte sie gerne dieselbe Seife
gebraucht, wie ihr Vater. Aber der zu kühne Gedanke, daß sie davon hätte
haben können, kam ihr nicht einmal in den Sinn. Nun hatte das kleine
Mädchen bei der Geburt die Mutter verloren. Die Mutter war reich gewesen
und sie ihre Erbin. Aber diese Mutter hatte sterbend alles, worüber sie dem
Gesetze nach verfügen konnte, dem Vater des Kindes hinterlassen; und das
Kind hatte die Dienerschaft, die den Herrn des Hauses beneidete, darüber
sprechen hören, daß sein Vater es in gewissem Sinne beraubt, „bestohlen
habe; und solcher Art ist das Wesen des Unbewußten der Kinder, und der
Menschen überhaupt, daß dieses Kind, obwohl es seinen Vater vergötterte,
ihn doch ein wenig als Dieb an seinem Eigentum betrachtete. Und nun, um
so vieles später, da das Mädchen selbst Mutter geworden ist, Mutter eines
erwachsenen Sohnes, gewinnt sie auf dem Schiffe zwischen Frankreich und
England den Eindruck, daß der Sohn seinerseits in unrichtiger Weise über
ihr Geld verfügt, indem er ein Billet zuviel bezahlt. Bewußt und in ihrem
■ranzen Betragen ist die Dame eher verschwenderisch. Aber das Unbewußte
<reht andere Wege und die Dame, die ihren Vater vor einigen Jahren beerbt
hat und für die Kosten des ganzen Haushaltes aufkommt, hat die Tatsache,
daß ihr Sohn Geld für den Ankauf eines überflüssigen Billets verwendet, wie
einen kleinen, an ihr selbst begangenen „Diebstahl" empfunden. Und zur
Kompensation dieses „Diebstahls" verfällt sie auf den Gedanken, ihrerseits
die Seifen zu nehmen.
Doch was repräsentieren diese Seifen? Es sind englische Seifen, so wie
die die der Vater seinerzeit benützte. Die Dame hat auf der Beise Gelegen-
heit, im Badezimmer des Hotels die Seife zu sehen, die ihr Sohn im Gebrauch
hat, eine dunkle englische Seife derselben Marke, die ihr Vater gebraucht
hatte. Der Sohn sagt außerdem, daß er sich dieser Seife ständig bedient,
30 Marie Bonaparte: Eine kleptomane Anwandlung
weil er sie immer bei seinem Großvater gesellen hatte. Die Seife heißt
„Pears Soap ,-' in dem doppelsprachigen Wortspiel deutet sich der ursprüng-
liche Besitzer an. Außerdem klingt „savon" (Seife) im Französischen ähnlich
wie „savant u (Gelehrter), und die Dame hatte in ihrer Kindheit die scherz-
hafte Gewohnheit, „les savants" (die Gelehrten), deren ihr Vater einer war,
„les savons" (die Seifen) zu nennen. Und diese Seife, die den männlichen
Mitgliedern der Familie eigentümlich war, die die Dame selbst nie zu be-
nützen wagte, weil sie sie als eine Seife für Männer betrachtete, diese Seife
ist gleichzeitig ein Symbol der (männlichen) Potenz und des Reichtums. Als
Kompensation für das Geld des Billets kam der Dame der Gedanke, die englischen
Seifen zu nehmen, als Ersatz für die „Pears Soap'' des Vaters und des Sohnes.
Wir sehen aus dem Vorhergehenden, daß diese leichte kleptomane An-
wandlung, wenn man sie so nennen darf, die eine Frau von durchaus normalem
Benehmen befallen hat, die bekannten klassischen Züge der Kleptomanie trägt. Das
gestohlene Objekt repräsentiert tatsächlich die Potenz, den Phallus ; die kastrierte
Tochter beschuldigte unbewußt den Vater, ihn ihr geraubt zu haben, und stiehlt
ihn sich zurück. Das kleine Mädchen hatte sich wohl seinerzeit vorgestellt, daß
die englische Seife mit den Geschlechtsteilen des Vaters in Berührung ge-
kommen war. Und dadurch bildete sich in ihr eine Assoziation, die im
Unbewußten erhalten geblieben war; als sie viele Jahre später mit ihrem
Sohne nach England reist, und sieht, daß auch er Pears Soap benützt, wird
die Assoziation wieder belebt. Die Gleichung Phallus = Geld kommt auch zur
Geltung: die Seife erscheint tatsächlich als Symbol des Reichtums, als Ersatz
für einen pekuniären Verlust.
Die Dame, auf die sich diese Beobachtung bezieht, hatte nie vorher die
geringsten Anzeichen von Kleptomanie gezeigt. Unter begünstigenden äußeren
Umständen tritt plötzlich eine leichte Manifestation dieser Perversion zu Tage.
Diese kleine Studie zeigt uns von neuem, daß jeder von uns latente
Möglichkeiten zu Perversion und Neurose in sich trägt und daß die analy-
tische Forschung uns in die Lage versetzt, in jedem von uns etwas wie den
Mikrokosmos aller, die Menschheit bewegenden Kräfte aufzuzeigen.
1) Pere, im Französischen „Vater", wird wie das englische Fear ausgesprochen.
(A. d. Üb.)
Inhaltsverzeichnis
Seite
Die Identifizierung einer Tochter mit der verstorbenen Mutter 5
Eine kleptomane Anwandlung 28
I
/-■■■
w
Marie Bonaparte
Zur Symbolik der Kopftrophäen
Geh. M 2' — , Ganzleinen M }'}0
Inhalt: I) Die Redensart vom „gehörnten Ehemann' — II) Die
heroischen Hörner — III) Die magischen Hörner — IV) Die Kriegs-
Irophäen — V) Die Jagdtrophäen — VI) Die ironischen Hörner
Marie Bonaparte
Der Fall Lefebvre
Zur Psychoanalyse einer Mörderin
Geh. M 2'40 r Ganzleinen M }'8o
•
1
Der Fall der 6ojährigen Madame Lefebvre, einer reichen, überaus religiösen Guts-
besitzersfrau, die aus einem rational nicht begründbaren Haß ihre schwangere
Schwiegertochter während einer Autofahrt erschossen hatte und während des Pro-
zesses nicht die geringste Reue bekundete, hat mit Recht großes Aufsehen verursacht.
Die Mörderin wurde zum Tode verurteilt und dann vom Präsidenten der Republik
(treu jenem in Frankreich seit Jahrzehnten bestehenden Brauch, daß es niemals zur
Hinrichtung einer Frau kommt) zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt. Die
Pariser Psychoanalytikerin, Prinzessin Marie von Griechenland und Dänemark (die
ihre wissenschaftlichen Arbeiten unter ihrem Mädchennamen Bonaparte veröffent-
licht), hatte dann die Erlaubnis erhalten, die sonderbare Mörderin in ihrer Zelle zu
besuchen. Das Ergebnis ist die jetzt erscheinende Studie. Sie ist nicht nur für Ärzte
(Psychiater, Frauenärzte) und für Kriminalisten von Interesse, sondern ist als auf-
schlußreicher Beitrag zur allgemeinen Tiefenpsychologie zu werten.
Internationaler Psychoanalytischer Verlag
Wien I, In der Börse
Marie Bonaparte
Zur Symbolik der Kopftrophäen
Marie Bonaparte
Geh. M 2' — , Ganzleinen M J'}0
Inhalt: I) Die Redensart vom „gehörnten Ehemann" — II) Die
heroischen Härner — III) Die magischen Hörner — IV) Die Kriegs-
trophäen — V) Die Jagdtrophäen — VI) Die ironischen Hörner
Aus der Analyse einer
mutterlosen Tochter
1
Marie Bonaparte
Der Fall Lefebvre
Zur Psychoanalyse einer Mörderin
Zwei Beiträge
zur psychoanalytischen
Kasuistik
■
Geh. M 2' 40, Ganzleinen M )'8o
Der Fall der 60jährigen Madame Lefebvre, einer reichen, überaus religiösen Guts-
besitzersfrau, die aus einem rational nicht begründbaren Hau ihre schwangere
Schwiegertochter während einer Autofahrt erschossen hatte und während des Pro-
zesses nicht die geringste Reue bekundete, hat mit Recht großes Aufsehen verursacht.
Die Mörderin wurde zum Tode verurteilt und dann vom Präsidenten der Republik
(treu jenem In Frankreich seit Jahrzehnten bestehenden Brauch, daß es niemals zur
Hinrichtung einer Frau kommt) zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt. Die
Pariser Psychoanalytikerin, Prinzessin Marie von Griechenland und Dänemark (die
ihre wissenschaftlichen Arbeiten unter ihrem Mädchennamen Bonaparte veröffent-
licht), hatte dann die Erlaubnis erhalten, die sonderbare Mörderin in ihrer Zelle zu
besuchen. Das Ergebnis ist die jetzt erscheinende Studie. Sie ist nicht nur für Ärzte
(Psychiater, Frauenärzte) und für Kriminalisten von Interesse, sondern ist als auf-
schlußreicher Beitrag zur allgemeinen Tiefenpsychologie zu werten.
Internationaler
Internationaler Psychoanalytischer Verlag
Wien I, In der Börse
1
Psychoanalytischer Verlag
Wien
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