*
X^nergie und l_rieb
Psychoanalytische Otuoien
zur x sycriopnysiologie
Vc
on
Oieglried Jjernield
und
Oergei reitelberg
<Dr. ID. SKrolik
Berlin 510 61
Yorckstrape 68
Internationaler Psychoanalytischer "Verlag
"Vv i e n
.fcviiergie und lrieb
-Fsyaioanalytisdie Otudien zur -Psydiophysiologie
V.
on
Oieglried Jiernield
und
Oergei Xeitelterg
Sonderabdruix aus „Imago, Zeiisdirift für Anwendung der
Psydioanalyse auf die Natur- und Geisteswissensdiaflen"
(herausgegeben von Sigm. Freu d), Bd. XV (iga^)
und Bd. XVI (i 93 o)
i<)3o
Internationaler Jcsyaioanalytiscner Verlag
.Leipzig / Wien / Zürich
Alle Rechte,
insbesondere die der Übersetzung,
vorbehalten
INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
Druck: Christoph Reisser's Söhne, Wien V
■
*
_L)as xrrnzip von J_,e V_>hatelier und
der SelDsternaltungs trieb
Freud hat sich von Beginn seiner Forschung an durch die Überzeugung
leiten lassen, daß alle seelischen Vorgänge nichts anderes als ein Teil des
Naturgeschehens seien. Dementsprechend gelangte er zu Hypothesen, die
denen ähnlich sind, welche jede Naturwissenschaft auf einem gewissen
Stadium ihrer Entwicklung erreicht. Ei ne Hypothese dieser Art ist die An-
nah me psy c hischer En ergi en, die die Arbeitsl eis tungen des psychisch en
Apparats ermöglichen . Freud trifft sich in dieser Hypothese mit Psycho-
logen, die von ganz anderem Material ausgegangen sind. Vorläufig ist aber
der konkrete Dienst, den solche Annahmen der Psychologie leisten, recht
gering, da eine konsequente Diskussion noch nicht unternommen wurde.
Ein wichtiges und dringliches Stück dieser Diskussion wird durch Freuds
Bemerkung in „Das Ich und das Es" hervorgehoben : „ Ohne Annahm e eine r
verschiebbaren Energie kommen wir überhaupt nicht aus. Es fragt sich nur,
woher sie stammt, w em sie zu gehört un d was sie bedeu tet. [20, S. 388.]
Die Diskussion der Befunde und Annahmen der psychologi-
schen Forschung unter dem Axiom, daß alles Psychische nur
ein Teil des Naturgeschehens sei, verdient vielleicht als theoretische
Psychologie abgegrenzt und gepflegt zu werden. [12, S. 102.]
Als Ausgangspunkt dieser Diskussion könnte folgende Erwägung dienen :
Ist das Psychische ein Teil des Naturgeschehens, so müssen die Gesetze, die
für alles Naturgeschehen als gültig erkannt wurden, auch für das Psychische
1*
-
Siegfried BernfelJ und Sergei Feitelte
IT*T^ jV-Kf gelten - Der Nachweis dieser Annahme ermöglicht erst die Formulierung der
Vp+U*« Om^ tft, Spezifität des Psychischen.
Eine Schwierigkeit für diesen Vergleich psychologischer und physikalisch-
chemischer Forschungsergebnisse liegt in der Inkommensurabilität ihrer For-
schungsobjekte. Während die P^ nl^ e das Ver b oten von P.r^.P,
studiert, be i_denen jeder Einzelvo rgang stre ng eingebettet ist in die Gesam t-
zusammenhänge zeichnet sich die Arbeitsweise der Physik und Chemie
dadurch aus, daß sie einzelne Erscheinungen in ihren Abläufen aus
dem Naturgeschehen heraussondert und sie in ihrem eigentümlichen Kausal-
zusammenhang betrachten kann. Der Physiker kann zum Beispiel den freien
Fall der Körper beschreiben und beobachten, indem er von solchen Einflüssen,
wie Luftwiderstand, Vergrößerung der Beschleunigung mit Annäherung an
das Erdzentrum, zunächst absieht, während wir in der Psycholo gie das
•Schicksal einer Triebregungunter Vernachlässigung der Struktur der Ge-
ÄSET
!
> i
i
samtp e rson übe rhaupt nicht versteh en könne n .
Die Verwendung des System be'griiies in der Physik, um den sich
besonders Heinrich Hertz bemüht hat, gibt aber eine erste Basis für
theoretisch-psychologische Bemühungen.
In der Physik, beziehungsweise in der physikalischen Chemie wird unter
einem System ein materielles Gebilde verstanden, dessen Zustand durch eine
Anzahl von Zustandsgrößen — Parameter genannt — eindeutig beschrieben
ist. Eine bestimmte Menge gasförmigen Stoffes, die in einem Zylinder
eingeschlossen ist, wäre zum Beispiel ein System, dessen Zustand durch die
Parameter: Gewicht, Dichte, Molekülzahl, Druck, Volumen, Temperatur
Entropie usw. bestimmt ist; oder ein elastisches Prisma wäre ein System
dessen Zustand durch die Parameter: Grundfläche, Höhe, Neigungswinkel
der Begrenzungsebenen zueinander, Elastizitätsmodul des Materials usw
beschrieben ist. Diese Parameter stehen in einer bestimmten Abhängigkeit
voneinander, so daß eine Zustandsänderung des ganzen Systems eintritt, wenn
auch nur einer dieser Parameter geändert wird; der Änderung des' einen
Parameters entspricht eine bestimmte Änderung der anderen Parameter, da
eine gegenseitige Abhängigkeit der Parameter zum Systembegriff gehört.
Das Verhalten eines solchen Systems ist eindeutig bestimmt, wenn die Art
der gegenseitigen Abhängigkeit der Parameter bekannt ist, weil das endo-
systeme Verhalten durch diese Abhängigkeit beschrieben ist und die exo-
systemen Einflüsse nur in Parameteränderungen bestehen.
I Auf die Person ist der Systembegriff der Physik selbstverständlich an-
wendbar; der Ausdruck Person sagt ja nichts anderes, als daß ihr gesamtes
Das Prinzip von I <>- Cnatelier und der oelbsternaltungstneb 5
Verhalten systembestimmt ist. Man kann also ohne jede Begriffsschwierig- / ji-A^L -
keit das System Person mit allen anderen Systemen in der Natur l &***** ZJ&ßtf***'
vergleichen und seine spezifischen Eigentümlichkeiten vergleichend fest-
stellen.
Diese Anwendung ist für die Biologie unter anderen von Cohen-Kysp_e_r_
[// bis 18] versucht worden, und seine Ergebnisse zeigen, daß diese Über-
tragung aus der Physik auf die Betrachtung der biologischen Person lohnend
und fruchtbar ist. 1
Die Frage wäre demnach zunächst: gibt es ein Verhalten. dq s allpn
physika lischen und chem i schen Systemen gem ei nsam zukommt und ist es
auch im System Person aufzufinden?
Die Physiker kennen unter dem Namen Le Chateliersches Prinzip
folgendes Verhalten jedes Systems:
„Jeder Vorgang, d er durch eine äußere Einwirkung (oder einen
a nderen primä ren Vorgang) in einem System hervorgerufen wird,
i st so gerich tet, da ß er di e Änderung des Systems durch die
äußere Einwirkung (oder den Primärvorga ng) zu verhind ern suc ht. 1 *
T2ß, S. 542.J
Es ist auch den Physikern nicht entgangen, was dem Psychologen sogleich
höchst auffällig ist, daß hier eine phy sikalische Formulierung de s I
„Selbsterhaltungstriebe,? vorliegt ; so meint Chwolson [14, S. 476J, .
daß hier eine Erklärung für das Akkommodationsvermögen der Tiere und s
Pflanzen gegeben sei, und Grimsehl [2J, S. 544] glaubt, daß damit die 1
wunderbare Zweckmäßigkeit im Bau der Organismen verständlich gemacht |
werde. Wir werden daher gern Näheres über das Prinzip erfahren wollen.
Die Frage nach dem Sinn eines endosystemen Vorganges, der durch
eine exosysteme Einwirkung hervorgerufen wird, ist zum ersten Male von
W. Ritchie [/ und 2] bei der Untersuchung der Induktionsströme, die
durch die Bewegung eines Leiters im magnetischen Feld entstehen, gestellt
worden. Sein Beantwortungsversuch wurde von Lenz widerlegt und richtig-
gestellt :
„Wenn sich ein metallischer Leiter in der Nähe eines galvanischen Stromes
oder eines Magneten bewegt, so wird in ihm ein galvanischer Strom erregt,
der eine solche Richtung hat, daß er in dem ruhenden Draht eine Bewegung
1) Anderseits zeigen seine Arbeiten, die ohne den energetischen Gesichtspunkt
durchgeführt sind, die engen Grenzen einer mechanischen Betrachtung. — Auf die 1 flv « • . •
sehr bedeutsame Verwendung des Systembegriffs in der Psychologie durch Köhler I lo UM Viflf\ZCV^W
wird an anderem Ort zurückzukommen sein. I i 10 *_ »
Oiegfried Bernfeld unj Sergej FeitelLerg
'
hervorgebracht hätte, die der hier dem Draht gegebenen gerade entgegen-
gesetzt wäre, vorausgesetzt, daß der ruhende Draht nur in Richtung der
^Bewegung und entgegengesetzt beweglich wäre." [j, S. 485.]
Dieses sogenann te Lenzsche Prinzip beansprucht Gültigkeit nur für diese n
Spezialfall. Fünfzig Jahre später fand Le Chatelier seine G ültigkeit auch
für chemische Systeme: ~
(„Tout systenuTenSquilibre chimique stable soumis a l'inßuence d'une cause
exterieure qui tend ä faire varier soit la temper ature, soit sa condensation
(pression, concentration, nombre de molecules dans l'unite de volume) dans sa
totalite ou seulement dans quelques unes de ses parties, ne peut eprouver que
des modißcations interieures, qui, si elles se produisaient seules, ameneraient
un changement de tempe'rature ou de condensation de signe contraire ä celui
Kesultant de la cause exterieure." 1 [4, S. 787.]
Drei Jahre später wurde es von Braun [6] ganz verallgemeinert und
hatte nunmehr den Anspruch, für jedes System in der Natur zu gelten,
soweit dessen Veränderungen stetig vor sich gehen. Brauns Formulierung
und der Beweis, den er seinem Satz zu geben versuchte [7, *f\ % wurde von
Ehrenfest [12] verbessert; gleichzeitig wies Ehrenfest die Gültigkeits-
grenzen des Prinzips nach (siehe unten). 2
Soll die allgemeine Formulierung des Prinzips in die exakte Ausdrucks-
weise der Physik übertragen werden, so braucht man bestimmte Angaben über
das Verhalten der verschiedenen Parameter und ihre gegenseitige Beein-
flussung in einem konkreten System. Als solches nehmen wir beispielshalber
I eine Gasmenge, die in einem Zylinder durch einen Kolben eingeschlossen
L ist. Durch einen äußeren Einfluß — zum Beispiel durch Belastung des
Kolbens — werde der Druck erhöht. Dadurch wird das Volumen nach
dem Boyle-Mariotte-Gesetz — vermindert, aber gleichzeitig erhöht sich
die Temperatur, weil zur Senkung des Kolbens Arbeit aufgewendet werden
mußte, die dem System übertragen wurde; diese mechanische Energie ver-
wandelt sich im Prozeß der Kompression des Gases in Wärme. Die Tem-
peraturerhöhung bewirkt ihrerseits eine Ausdehnung, — nach dem Gay-
Lussac sehen Gesetz, — wodurch die ursprüngliche Volumenverminderung
/ 1) „Jedes System im stabilen, chemischen Gleichgewicht, das der Einwirkung einer
äußeren Ursache ausgesetzt wird, die seine Kondensation (Druck, Konzentration
Molekulzahl in Volumeneinheit; in ihrer Gesamtheit oder nur in einem ihrer Teile zu
verändern sucht, erfährt nur solche innere Änderungen, die, wenn sie allein vor sich
gehen wurden, Veränderungen der Temperatur oder der Kondensation herbeiführen
wurden die den Änderungen durch die äußere Einwirkung entgegengesetzt sind.«
2) Vor kritikloser Anwendung des Prinzips hatte unter anderem Raveau [8] gewarnt.
Das Prinzip von Le Cliatelier und der Selbsternaltungstrieb
teilweise rückgängig gemacht wird. Wählen wir für die Betrachtung als
die zwei Parameter Temperatur (T) und Volumen (v). Wir werden erfahren
wollen, welche Änderung in der Wirkung des äußeren Einflusses durch
die endosystem bedingte Parameteränderung (Temperaturerhöhung) hervor-
gebracht wird. Dazu veranstalten wir den Versuch in zwei Parallelen.
D Die Druckerhöhung werde isotherm vollzogen. Das heißt, indem die
Temperatur durch irgendeine Vorrichtung konstant gehalten wird, ist der
Parameter T an jeder Änderung gehindert. Dann wird bei einer Druck-
erhöhung um dp eine Volumenverminderung von djv erfolgen.
II) In dem zweiten Parallelversuch überlassen wir den Parameter T
sich selbst. Die Temperatur steigt dann — falls wir diesmal das System
so isoliert haben, daß es keinen Temperaturaustausch mit der Umgebung
vollziehen kann — und durch diese Temperatursteigerung wird das Gas
ausgedehnt. Diese Ausdehnung wirkt aber der Volumen&eig^wiag^durch
die Druckvermehrung entgegen, macht also die Änderung durch den äußeren
Einfluß zum Teil rückgängig : erhöht den Widerstand des Systems gegen
ihn. Die Volumen an derung ist ihrem absoluten Betrage nach im zweiten
Falle kleiner als im ersten, was durch die Ungleichung
ausgedrückt wird. <V> \djv\>\drrv\
Die von Ehrenfest nachgewiesene, oben erwähnte Gültigkeitsgrenze be-\
steht darin, daß das Prinzip in dieser_Formulierung nicht bei beliebiger 1
Parameterwahl gilt, sondern b ei gew issen Parameterverbindungen das Er-/
gebnis dem Prinzip geradezu widersp richt.
Um dies Versagen des Prinzips an einem Beispiel zu zeigen, führen wir die
beiden Versuche an dem System Elastisches Prisma durch. Es sei ein, der Ein-
fachheit halber, rechtwinkliges Prisma durch Höhe x t , Breite x 2 und Länge x,
gegeben. Durch eine Zugkraft werde die Höhe um einen Betrag dix t ver-
größert, während die Grundfläche, also die Parameter x 2 und x, unverändert
gehalten werden. Wird den Parametern x 2 und x } die Veränderung freigegeben,
so verringern sie sich — sie „geben der Zugkraft nach — die Ausdehnung
des Parameters x t wird größer, so daß die Ungleichung
<2> |^,|<M^'I
besteht. Der Sinn dieser Änderung läßt sich deutlich erkennen: es handelt
sich offenbar um eine Anpassung des Systems an den äußeren Einfluß,
die dem Chatelier sehen P rinzip gegensi nnig~isf, wä^e^j^sjich^bei . Vor-
g^en^chjemTypus der Ungleichung <I>"um Wider stände des Syste ms
gegen äußere Einflüße handelt.
)
Siegfried Bernfeld und Serge! Feitelbc
•a
Es wird interessieren, einen gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen dem
verschiedenen Verhalten — nach dem Typus <1> oder <2> — kennen zu
lernen. Ehrenfest k onnte durch eine tabellarische Zusammenstellung ver-
schiedener Parameterwahlen und ihrer Ergebnisse solch ein allgemeines
Gesetz aufstellen [10].
I Die Parameter können in zwei verschiedene Arten von Größen eingeteilt
werden: in Intensitäts- und Extensitätsgrößen. Diese Unterscheidung, die
^von Ostwald, Mach und Helm in die Physik eingeführt wurde,' ent-
behrt einer exakten axiomatischen Definition, kann aber leicht an Beispielen
erklärt' werden. So sind z. B. Druck, Temperatur, elastische Kräfte, elektro-
motorische Kraft eines Elements, Potential eines Konduktors Intensitäts-
größen, während Volumen, Deformation, Oberfläche, Elektrizitätsmenge,
Entropie Extensitätsgrößen sind. [Ehrenfest, 10, S. 257 und Helm 24
S. »gl.] '
/ Es zeigte sich, daß die Parameteränderungen nach der Ungleichung <1>
dann vor sich gehen, wenn man bei der Parameterwahl je einen Intensi-
täts- und einen Extensitätsparameter ausgesucht hatte, während die Änderung
der Ungleichung <2> immer dann folgt, wenn die Parameter demselben
\Typus angehören.
Bezeichnen wir also die Extensitätsparameter eines Systems mit x t> x 2
x } , . . . xh, . . . x m , ■ . . und die Intensitätsparameter mit y u y a> y \
Xk, • ■ ■ yn, . . ., so gilt:
Ungleichung <1> |rf/|>|^ 7/ | bei Heteroparameterpaaren (x m , y„) und
Ungleichung <2> \d x \<\dn\ bei Homoparameterpaaren (x h , x m oder
yk, y n ).
Bei jeder physikalischen Betrachtung konnten ebensoviel Homoparameter-
paare gebildet werden wie Heteroparameterpaare, warum wurde dies schein-
bare Versagen des Prinzips erst dreißig Jahre nach seiner Aufstellung be-
merkt? Überlassen wir die Beantwortung dieser Frage dem Physiker:
„In den Fällen der praktischen Anwendung kennt niemand das Prinzip
in seiner abstrakten Form, sondern läßt sich von ihm nur zu einer bestimmten
Art von Vergleich leiten. Neue Fälle löst man nach Analogie mit alten und
gut bekannten. Dabei stellt man instinktiv 2 dem Typus (0,0) in den zu
1) Ehrenfest [10, S^f.]. Während die Untersuchungen von Caratheodory [13]
die axiomatischen Begriffsgrundlagen, die von Planck [27] erweitert wurden, für die
Thermodynamik geliefert haben, fehlt unseres Wissens immer noch eine ähnliche, von
J Ehrenfes t geforderte Untersuchung in Bezug auf die Intensitäts- und Extensitätsgrößen.
2) Sperrung von Ehrenfest.
i
Das Prinzip von I ,r Cliateuer und Jcr Dclbstcrnnltnngstrico
untersuchenden Fällen den analogen Typus (p, ö) eines bereits bekannten
Falles gegenüber . . ." [Ehrenfest, 10, S. 242.]
Diese Erklärung ist bemerkenswerterweise eine psychologische, ebenso
wie die Deutung des Verhaltens nach Ungleichung <1> als Widerstand und
nach (Z) als Anpassung auch eine rein psychologische ist, die wohl in An-
lehnung an das Verhalten der Organismen gemäß dem „Selbsterhaltungs-
triebe" gefunden wurde. Noch klarer wird dies, wenn man bei den Physikern
die Bezeichnung des Prinzips als des „Gesetzes vom Widerstand gegen Zwang"
[26, S. 259] oder der „Flucht vor dem Zwang" [/<?, S. 280] liest.
Vermutlich rührt diese Neigung zu biologisch-psychologischer Ausdrucks-
weise daher, daß nur bei den lebenden Systemen die Wahl eines Hetero-
parameterpaares notwendig ist, will man ihre wesentlichen Reaktionsweisen
verstehen. Vielleicht wird es nach der — noch ausstehenden — Klärung
der Begriffe Extensität und Intensität näher präzisierbar sein, welche Rolle
in organischen Systemen das Heteroparameterpaar als Systemdeterminante
spielt. Es scheint, als wäre die enge Verbindung von Extensitäts- und In- |j
tensitätsparameter für das Lebende bezeichnend. 1 Für die nicht lebenden
Systeme oder für ihre physikalische Betrachtung ist das Heteroparameterpaar
nicht so entscheidend. Daher führt das Chateliersche Prinzip in den
Naturwissenschaften eine Art Schattendasein, in der Thermodynamik ist es
überdies durch die Reziprozitätssätze ersetzbar. Für die theoretische
Psychologie gewinnt es aber beträchtliche Bedeutung, da es wohl
die allgemeinste Aussage über das Verhalten von Systemen in
der Natur überhaupt macht und damit den Beweis stützen hilft,
daß das System Person in grundlegenden Verhaltensweisen mit
allen Systemen in der Natur übereinstimmt.
Hat man den „Selbsterhaltungstrieb" gern als spezifische, gelegentlich
sogar rätselhafte Eigenschaft der Lebewesen aufgefaßt, so lehrt uns das
Chateliersche Prinzip eindringlich, Kritik an diesem Dogma der meisten
Biologen und Psychologen zu üben; weit entfernt davon, eine Spezifi-
tät des Organischen zu sein, ist Widerstand (und Anpassung) gegen-
über Zwang ein allgemeines Verhalten aller Systeme. Das System
Person hat die Tendenz zur Selbsterhaltung mit allen andern gemeinsam.
Die Selbsterhaltung ist das Resultat verschiedenartigster Kräfte, Arbeits-
leistungen und Arbeitsweisen des Systems, nicht aber das Ziel eines be-
1) Ähnliches scheint auch Robert Mayer vorgeschwebt zu haben : „Zahlreiche Appa-
rate sind im lebenden Tier unausgesetzt beschäftigt . . . die Intensität dieser Prozesse
zu erhöhen, ihre Extensität zu vermindern" (2j\ S. 63).
Oiegincd Bernfeld und Sergei Fcitelberg
Wi
W^K. dlUL VÖ > $L|/W<J stimmten Triebes. Die Frage, ob man nicht dennoch dieses Prinzip im Be-
InftM^lA r ( reicl1 der Biologie und Psychologie „Trieb" nennen könnte, würde leicht
(VMmJÜIaA OU? nUl • ZU leerem w ortstreit führen; aber im Interesse der Klarheit wird man
JLaV ö J w °hl nicht darauf verzichten wollen, den Terminus „Trieb" für spezifisch -
V*v» * organisches Verhalten aufzusparen. Nur so vermeidet man eine Verwirrung,
die, extrem, ein Verdauungstrieb oder ein Gravitationstrieb stiften würde.
Die übliche Nebeneinanderstellung von „Selbsterhaltungstrieben", „Selbst-
entfaltungstrieben", „Geschlechtstrieben" usw. ist jedenfalls nach Kenntnis-
nahme des Chateli er sehen Prinzips nicht aufrechtzuerhalten. Die Dignität
dieser „Triebe" ist höchst verschiedenwertig ; während der „Selbstentfaltungs-
trieb kein Trieb, sondern ein zusammengesetztes Gebilde ist, das nur in ge-
wissen Bezirken des Psychischen gilt, wohl im Über-Ich [21, S. 233], ist der
Geschlechtstrieb gewiß von allgemeinster und spezifischer Bedeutung für
alles Organische, also ganz eigentlich „der Trieb"; der „Selbsterhaltungs-
trieb hingegen hat mindestens in seinem Kern ein allgemeinstes
Nfaturverhalten zur Grundlage.
Die psychoanalytische Trieblehre gewinnt von hier aus Rechtfertigung
für eine Aufstellung, die vielfach Befremden hervorgerufen hat. Bekannt-
lich hat Freud die Einteilung in Fortpflanzungs- und Selbsterhaltungs-
triebe, die in der Biologie geläufig war, bei der Übernahme des Trieb-
begriffes in die Psychologie nicht festgehalten, sondern der populären
(Einteilung in Liebe und Hunger folgend, den Sexualtrieben die Ichtriebe
entgegengestellt. Die Ichtriebe, übrigens in der Psychoanalyse lange Zeit
nur beiläufig beachtet, enthalten den „Freßtrieb", den Bemächtigungsdrang
und andere Einzelfunktionen dessen, was man mit dem „Selbsterhaltungs-
triebe" zu meinen pflegt. Aber gerade dessen eigentliches Stück, nämlich
die Selbstbehauptung — Widerstand und Anpassung — hat Freud weder
dem Sexualtrieb noch dem Ichtrieb eindeutig zugerechnet. In neuerer Zeit
hat Freud den Selbsterhaltungstrieb, oder doch eine unbestimmte Anzahl
^von seinen Komponenten dem Eros zugeordnet. 1
Man sieht, daß in diesem Punkt die Freudsche Trieblehre Unklarheiten
läßt. Unklarheiten, die, könnte man sagen, mit Recht geblieben sind, da
ein gewisser Anteil der Tatsachen, welche der Psychoanalyse als „Selbst-
erhaltungstriebe" aufgedrängt werden, sich dem Triebbegriff Freuds wider-
setzen. Es kann an dieser Stelle noch nicht entschieden werden, welche
Momente an dem Komplex „Fressen", „ Bemächtigungi , „Selbstbehauptung",
1 Die wesentlichen Bemerkungen Freuds über den Selbsterhaltungstrieb finden
llsich in: 20, S. 384; 21, S. 194, 22g, 242, 244, 245.
Das Prinsip von Le Chatelier und der Selbsterhaltungstrieb
„Lebenswille", „Todesangst", „Selbstliebe" usw., die populär im „Selbst-
erhaltungstrieb" mitgedacht werden, als allgemeines Systemverhalten, welche
als Ichleistung und welche schließlich alsTrieb voneinander abzugrenzen wären.
Sicher jedoch scheint uns nunmehr, daß jener Anteil des „Selbsterhaltungs- \
triebs", der im Entwickeln von Widerständen gegen einen exosystemen Ein- l
fluß besteht, allgemeine Eigenschaft des Systems Person ist. Soweit dies vom f
Ich als „Selbsterhaltungstrieb" erlebt wird, könnte man von dem Seiner-selbst-
bewußt- Werden eines Systemprinzips sprechen. Solches Bewußtwerden von |
Furcht, Selbstliebe, Sorge, Selbsterhaltungswünschen bei einer äußeren Ge- f
fahr entspricht einer Parameteränderung des Systems Person im Sinne der
Ungleichung <1>, des Chatelierschen Prinzips, die den Widerstand des
Systems gegen einen Einfluß erhöht, beziehungsweise die Gefahr bewältigt.
Und hierin ist wohl die Funktion je ner bewußten Vorgänge zu sehen, die
als Selbsterhaltungstrieb imponiert haben: sie signalisieren die im System
als Widerstand gegen einen äußeren Einfluß eingetretenen energetischen
Änderungen und ihre Richtung auf Widerstand, also Selbsterhaltung. Das j
System Person kommt dadurch in die Lage zu handeln, d. h. durch
Umweltsänderungen die Richtung der endosystemen Vorgänge festzuhalten
und deren Kräfte zu ergänzen durch Indienstnahme der Naturkräfte. So
verteidigen wir unser Leben gegen Angriffe der Natur und der Feinde
durch Werkzeuge und Maschinen, in welchen die Naturkräfte, die uns
bedrohen, in unsere Waffen verwandelt sind, ein Unternehmen, das mit
minimalster Energiemenge („Psychische Energie") sich vollziehen kann,
da nicht quantitative Vermehrungen in der „Natur" vorgenommen werden,
sondern die vorhandenen Naturkräfte reguliert und geleitet werden.
Dynamisch sind diese Vorgänge im System Person zum Teil zweifellos libidi-
nöser Natur, ein anderer Teil ist als reine Ichleistung desexualisierter Libido
zuzuschreiben.
Literaturverzeichnis
Zum Le Chatelierschen Prinzip:
i) Rev. William Ritchie: On the Law which connects the various Magneto-
electric Phenomena lately discovered by Dr. Faraday. [Sitzung der Royal Society vom
15. Dezember 1832.] Abstracts of the papers printed in the philosophical transactions
of the Royal Society in London. London 1857, Volume III, 1830—1837, S. 159.
2) Rev. William Ritchie: On the reduetion of Mr. Faraday's Discoveries in
Magneto-electric Induction to a general Law. Philosophical Magazine. 1834, Serie III,
Bd. IV, S. 37.
3) Lenz: Über die Bestimmung der durch elektrodynamische Verteilung erregten
galvanischen Ströme. Poggendorfs Annalen der Physik und Chemie. 1834, Bd. 31, S. 483.
Siegfried BernfelJ und Sergei Feiteltcrg
4) H. Le Chatelier: Sur un enonce general des lois des equilibres chimiques.
Comptes rendus des seances de l'Academie de science. 1884, Bd. 99, S. 786.
^ S) H. Le Chatelier: Sur les lois de la dissolution. Comptes rendus. 1887,' Bd. 104,
6) F. Braun (Tübingen): Einige Bemerkungen zu dem vorstehenden Aufsatze
(Untersuchungen über die Löslichkeit fester Körper und die den Vorgang der Lösung
^gleitenden Volumen- und Energieänderungen). Zeitschrift für physikalische Chemie
1887, Bd - >• Heft 5, S. 269.
7) P- Braun (Tübingen): Über einen allgemeinen qualitativen Satz für Zustands-
anderungen nebst einigen sich anschließenden Bemerkungen, insbesondere über nicht
eindeutige Systeme. Wiedemanns Annalen der Physik und Chemie. ,888, Bd.« S **7
T OW« ^^7= LC f l0iS du «s**— * de l'equilibre et le principe de
Le Chatelier. Journal de physique theorique et appliquee. 19 o 9 S 572
"• Ä * Ts d :; r naMnte Le »■*-*?-*■ *** a^« der
^der J Ti P ' E , hrenf ? St ; DaS J r i nzi P vonLeChatelier-Braun und die Reziprozitätssätze
der Thermodynamik. Zeitschrift für physikalische Chemie. 10», Bd 77 S 227
"\^ Y^T *»***» du P^cipe de Lenz au* phenomenes' qui accom-
pagnent la charge des condensateurs. Comptes rendus. lgll . Bd. ,52, Januar-Juni
5- 5 J 3- '
Sonstige zitierte Literatur:
\/i2) S. Bernfeld: Psychologie des Säuglings. Wien 1925, Springer.
13) Caratheodory: Untersuchungen über die Grundlagen der ThermodvnatniV
Mathematische Annalen. Bd. 67, S. 355.
14) Chwolson: Lehrbuch der Physik. 2. Auflage. 1905, Bd. 3.
ij) Cohen-Kysper: Versuch einer mechanischen Analyse der Veränderungen vitaler
Systeme. Leipzig 1910.
16) Cohen-Kysper: Die mechanistischen Grundgesetze des Lebens. Leipzig lql .
i 7 ) Cohen-Kysper: Rückläufige Differenzierung und Entwicklung. Leipzig lqi8
18) Cohen-Kysper: Kontinuität des Keimplasmas oder Wiederherstellung der Keim
zelle. Leipzig 1923.
l/ 19) John Eggert: Lehrbuch der physikalischen Chemie. Leipzig ]q2q
20) Preud: Das Ich und das Es. Ges. Schriften, Bd. VI.
21) Preud: Jenseits des Lustprinzips. Ges. Schriften Bd VI
Bd. 2 Vn Fre " d: V ° rleSUngen ZUr Ei-führung » die Psychoanalyse. Ges. Schrift,
9$) Grimsehh Lehrbuch der Physik. 6. Auflage. Berlin 1923.
24) Georg Helm: Die Energetik. Leipzig 1898.
aj) Robert Mayer: Die organische Bewegung in ihrem Zusammenhang mit dem
Stoffwechsel. Heilbronn 1845.
V26) Lothar Meyer: Grundzüge der theoretischen Chemie. 5. Auflage. Bonn l9 2i
2 7 ) Max Planck: Über die Begründung des zweiten Hauptsatzes der Thermo-
dynamik. Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften. lq2 6
math.-phys. Klasse. 3 '
• ■
■i
über psychische Energie, .Libido und
deren JVle^Darkeit
I) „Psymisaie Energie"
Die Diskussion der Anwendbarkeit des Energiebegriffs auf das Psychische
pflegt von der Frage auszugehen, ob es eine „eigene psychische Energie
gebe. 1 Es ist kaum sinnvoll im psychologischen Zusammenhang von Energie
zu reden, wenn das Wort nicht im physikalischen Sinn gemeint wird, wenn
mit ihm nicht — und wäre es auch bloß ernstlich heuristisch — das
Postulat aufgestellt wird, die psychisch en Leistungen a ls Energieverschie -
bungen zu verstehen, wie jede andere Leistun g in der Natur auch._ Dabei
ist die lienennung eines gewissen Energiequantums als „psychisch die neben-
sächlichste Frage. Die wesentliche Bedeutung des Energiebegriffes liegt darin,
daß all die Mannigfaltigkeit mechanischer, elektrischer usw. Vorgänge ein-
heitlich begriffen werden kann als miteinander vergleichbare, in bestimmten,
errechenbaren Quantitäten einander äquivalente Größen. Die „eigene
psychische Energie ist sinnvoll nur, wenn gesagt sein will: es gibt auf-
findbare Gesetze, nach denen sich bestimmte physikalische Energien in
psychische „verwandeln" ; es gibt quantitative Äquivalente zwischen physi-
kalischen und psychischen Arbeitsleistungen. Aber wenn es so etwas gibt,
1
1) Auf die Literatur zur Anwendung des Energiebegriffs auf das Psychische gehen
wir in dieser Arbeit nicht ein, da eine spätere Arbeit der Darstellung und der Kritik
der bisher vorliegenden Versuche gewidmet sein soll. Eine wohlüberlegte Besprechung
eines Teiles dieser Literatur findet sich bei Hartmann [14].
'^ Siegfried Bernfeld und Serge! Feiteltcrg
wie eine öffentliche Meinung in der Psychologie, und wenn sie über etwas
einstimmig urteilt, dann darüber, daß es unmöglich sei, quantitative Fest-
stellungen über das Seelische zu machen, die präzise, umfänglich und zentral
genug wären, um einem physikalischen Begriff psychischer Energie zu
genügen. Trotzdem wir nun im folgenden diesem so häufig mit Nachdruck
vertretenen Urteil zu widersprechen unternehmen, so muß doch zugegeben
werden, daß derzeit die Energien der psychischen Vorgänge nicht meßbar
sind. Dagegen hilft am wenigsten die Einführung des bloßen Wortes von
der eigenen psychischen Energie. Andererseits ist der modernen Psychologie
nichts gewisser, als daß in irgendeiner Weise „Seele und Leib" miteinander
«* verbunden sind, daß die „Seele" abhängig ist von den Arbeitsleistungen
des Körpers und daß diese physikalischen Energieleistungen entsprechen.
Chemische, thermische, elektrische, mechanische, vielleicht radioaktive
Energien sind in den Zellen des Körpers tätig, begleiten und bedingen,
mindestens im Zentralnervensystem, die seelischen Prozesse; — irgendwie
wirkt das Seelische zweifellos auf sie ein, es muß also irgendeine Stelle
im Energiehaushalt des Körpers haben. Das System Person 1 — wie wir
„Körper" und „Seele" zusammenfassend sagen — wird von den Energien
des Kosmos getroffen und leistet reagierend und spontan Arbeit an und
mit ihnen.
Bei dieser Fülle von Energien wohlbekannter Form, die dem System
Person zur Verfügung stehen, wenn es sich in Widerstand und Anpassung
mit den gleichfalls wohlbekannten Umweltsenergien ausgleicht, bei der
bestehenden Unmöglichkeit eine „eigene psychische Energie" naturwissen-
schaftlich zulänglich aufzufinden, drängt sich der Ausweg gebieterisch auf
statt der psychischen Energie, die Energien des Systems Person zu studieren'
und nicht am Anfang, sondern am Ende der Diskussion zu entscheiden'
I ob es zur Erklärung der seelischen Vorgänge einer eigenen Energieform
. überhaupt bedarf und wie sie zu definieren wäre. 2
' Die Verschiebung des Akzentes, die wir gegenüber der gebräuchlichen
Fragestellung in der Psychologie vorschlagen, ist in der Physik längst vor-
genommen. So ist die Wärmetheorie von ihrem ursprünglichen „eigenen
I WärmestofT vorgeschritten bis zu dem Satz von Caratheodory: „M an
1) Vgl. [3 und 25].
2) Kurt Laßwitz, der wohl als erster der Frage der psychischen Energie eine
e.gene Untersuchung gewidmet hat, ist gleichfalls von diesem Gesichtspunkt aus-
gegangen, seine Nachfolger aber haben ihn unberücksichtigt gelassen, so daß wir
mit diesen Erörterungen gewissermaßen an den Ausgangspunkt der Diskussion zu-
rückkehren.
L
übe
sycLiscne Energie, Libido und deren Meßbarkeit
• -
•
kann die ganze Theorie ableiten, ohne die Existenz einer, von den gewöhn-
lichen mechanischen Größen abweichenden physikalischen Größe, der Wärme,
vorauszusetzen." [;, S. 356.] Die strenge Abgrenzung der verschiedenen
Energieformen ist durch die Empirie, durch die Eigenart unserer Wahr-
nehmungsorgane gegeben, sie ist eine Frage der phänomenalen Qualitäten,
für die Energietheorie ist sie Epiphänomen. Sie überschreitet deren Forschungs-
bereich. Sie in der Psychologie festzuhalten ist aber allein schon darum
nicht möglich, weil ein Teil der Wirkungen der sogenannten psychischen
Energie, die unbewußten Vorgänge, gar nicht wahrnehmbar sind, der andere
Teil in eigentümlicher Weise, mit der Wahrnehmung der Qualitäten der
anderen Energieformen inkommensurabel, als bewußte innere Wahrnehmung,
gegeben ist.
Eine Hilfs vor Stellung über die Energieverhältnisse des Systems Person
und seiner Beziehungen zu der Umwelt werden wir freilich nicht entbehren
können. Aber wir werden ihr Vorbild kaum zu aller Anfang in der un-
belebten Natur suchen, denn offenkundig liegt die Schwierigkeit unserer
Aufgabe eben darin, daß es die Energielehre außerhalb der Psychologie
mit so sehr viel einfacheren Systemen zu tun hat. Das System Person ist
hoch zusammengesetzt. Nicht allein daß „Körper" und „Psyche" Systeme'
sind, die im System Person integriert sind; die Körperorgane und in ihnen
jede einzelne Zelle stellen bereits sehr viel höhere Systeme dar als die
Atome, Ionen und Moleküle, mit deren Energien die Physiker arbeiten.
Hingegen kennen wir aus Erfahrung genügend gut ein noch komplizierteres
Gebilde als das System Person, nämlich die sozialen Gruppen von Personen,
das Kollektiv, das einem System entspricht, in dem zahlreiche Personen inte-
griert sind: es übt einheitlich Widerstand und Anpassung gegen exosysteme
Einflüsse aus und kann diese Arbeit natürlich nicht leisten ohne Energien
in seinen Dienst zu stellen, und zwar deren bekannte physikalische Formen
und die Energien der Personen, ihre körperlichen und psychischen Kräfte.
Über die Verhältnisse der Energien im System Kollektiv wissen wir trotz
seiner Kompliziertheit aus unmittelbarer Anschauung Bescheid; es empfiehlt
sich daher, diese Verhältnisse zur Orientierung auf dem so sehr viel undurch-
sichtigeren Gebiet des Systems Person heranzuziehen.
Da wäre als Beispiel etwa eine Fußballmannschaft. Dies Kollektiv leistet \ , . -,
seine Arbeit gewiß mit Energien, die höherer Ordnung sind, als die gleiche '^M*/AU/p*!***
Menge von Spring-, Lauf-, Stoßkräften aller beteiligten Einzelnen wäre. Und /
doch gibt es keine „eigene Kollektivenergie". Zwar spricht man von Kollektiv-
geist, aber so hoch jemand auch die Bedeutung des Kollektivgeistes einschätzen
. I
Wttjm
■
Siegfried Benileld und Serge« FeitelLerg
!**, "ÜMi \ mag ' niemand ist in Gefahr, ihn als physikalische Energieform aufzu-
I» fitt, faSSeD ' S0Udern man weiß ' daß er eine der Kräfte ist > die dem niedrigeren
•Jt/Ui WMi I System Person angehören, aber in die Leistungen des Kollektivs eingehen.
idtaWLii, DiCSe Leistun S en g eschehen mit mechanischen Energien (Stoß, Schlag,
^K^p 1 * Körperbewegungen), mit den psychischen Energien der Personen (der Spieler,
Schiedsrichter, gelegentlich auch der Zuschauer) nach Regeln (Systembedin-
gungen), die historisch entstanden sind, und unter Verwertung eines
gleichfalls historisch gewordenen, nämlich eigens produzierten Apparates
(Spielplatz, Ball usw.). Die Leistungen des Kollektivs sind bestimmt vo a
den Naturgesetzen, die den Apparat und die integrierten Systeme (Personera)
beherrschen, und von den Spielregeln: den historisch entstandenen Kollektiv-
bedingungen. Grundsätzlich lassen sich die Energien, die hier tätig sind
berechnen und als „Energie des Kollektivs" ausdrücken, trotzdem es keine
eigene „kollektive Energie" gibt. Wesentlich wäre aber für dieses Gedanken-
experiment einer Berechnung der Energie des Kollektivs, — und vor allem
für die Anwendung, die wir von diesem Beispiel machen wollen, — daß
man keineswegs die Energien der integrierten Systeme, der Personen, über-
haupt ansetzen dürfte, sondern bloß jenen Anteil von ihnen, der dem Kollekti
tatsächlich zur Verfügung gestellt ist. Denn nicht alle Gedanken, Gefühle.
Sexual- und Körperkräfte der Person gehören dem Kollektiv, sondern dere *
ein bestimmter, und zwar variabler Teil. Der Spieler kann mehr oder weni ff
^bei der Sache sein; er gehört nach dem Spiel wieder sich selbst.
Der Sachverhalt, der auf der Systemhöhe Person uns so verwirrend
schien, wird auf dem nächst höheren Niveau „Kollektiv" recht übersicht-
lich. Die Arbeit des Systems Kollektiv wird mit einem Anteil der Energien d
integrierten Systeme Person geleistet, mit deren kollektivierter Energie l
Diese kollektivierte Energie hält einen historischen^tan^en^^pplr^**^ n
, *.f
historisch gewordenen Regeln geleitet, in Gang. Die Systemeigenschaften
der Personen, die Eigenschaften des Apparates und die Regeln werden zu
den Systembedingungen des Kollektivs.
Betont ^sei, daß mit dieser Betrachtung keineswegs die „organizistische
Soziologie" neu belebt werden soll. Diese suchte in der Gesellschaft bio-
logische Analogien zu finden, während wir uns umgekehrt aus den unmittelbar
bekannten Mechanismen der kollektiven Prozesse vorläufige Anschauungen
V für die unbekannten biopsychischen zu bilden versuchen. Ein Verfahren,
MlÜ W I V n ern f lläSSi8en UW der Ve «^chung halber das an sich bedeutsame
Jiman, daü nicht nur die Energien von Personen, sondern auch Energien der be-
kannten physikalischen Formen kollektiviert werden.
üter psyAisd.e Energie, Libido und deren Meßbarkeit
*■?
das von Freud immer wieder mit Erfolg versucht wurde (z. B. im Begriff
„Zensur") und das auch Planck im Schluß vom Makroskopischen aufs
Mikroskopische gebraucht. [2), S. 33.] u
Die Bildung einer vorläufigen Anschauung über „psychische Energie
am Vorbild des Kollektivs ist gewiß zulässig, weil die Person eine komplizierte
Einheit von Systemen niedrigerer Höhe, von Zellen ist und trotz aller be-
deutenden Unterschiede in diesem Moment mit dem Kollektiv vergleichbar
wird Gewiß hat die einzelne Gewebezelle nicht so viel Freiheiten gegen-
über der Person, 1 wie der Spieler in seinem Kollektiv; aber ebenso gewiß
ist die Zelle nicht ein „Teil" des Körpers, sondern ein System mit seinen
Bedingungen und Kräften, das in die Person integriert ist. Die Arbeits-
leistungen des Systems Person geschehen mit den Energien der Zellen,
vermittels eines historisch entstandenen Apparats, von historisch entstandenen
Begeln" geleitet. Die Systemeigenschaften der Zellen, die (physikalischA
chemischen usw.) Eigenschaften des Apparates und die Begeln sind System-
bedingungen der Person. Wir gewinnen so eine erste Vorstellung von per-'
sonierten Energien. Das wäre jener Anteil der Zellenenergien,
mittels dessen der Apparat des Systems Person Widerstand und
Anpassung leistet, also eine Energiemenge, die von den Zellen
an die Person abgegeben wird. Es ist nicht schwierig, prinzipiell zu
entscheiden, was zum Apparat der Person gehört. Jedes einheitliche, ge-
ordnete, historisch bedingte Verhalten der Person ist per deßnitionem ihre
Systemleistung und geschieht unter Mitwirkung ihres Apparates. Schwieriger
ist die Scheidung in Zellenleistung oder Apparatleistung bei bestimmten
Einzelphänomenen; diese Frage dürfen wir hier noch offen lassen. Jeden-
falls ist all das, was psychisch genannt wird, an die Leistungen des Apparats
gebunden, gehört dem System Person an und nicht den einzelnen Zellen.
Der Tod bringt das sofortige Erlöschen der Funktionen des Apparates, des
Psychischen somit, während die Zellen ihr Leben - wenn auch nur kurz -
weiterleben. Ähnlich ist der Apparat des Kollektivs das die einzelnen Per-
sonen Zusammenfassende, zum Kollektiv Integrierende, das sie Überdauernde
und ihnen Übergeordnete. Gewiß kann das Kollektiv nicht ohne die notige
Zahl integrierter Personen (geeigneter Spieler) leben, aber die Personen ohne
den Apparat und ohne die Regeln des Kollektivs sind kein Kollektiv, sondern
zweiundzwanzig Personen. Es herrscht hier dieselbe Beziehung wie zwischen
y^uwvv
x) Wo von Person, Kollektiv, Zelle die Rede ist, sei „System Person«, „System
Kollektiv«, „System Zelle" gemeint.
2
Siegfried Bernfeld und Sergei Feitelberg
iaL W
V*
(• i . . Dampf und Maschine. Die Personen sind die Energiequelle des Kollektivs.
W, Wftouvj^-vw. ^ Joie Systeme Zelle sind die Energiequelle des Systems Person,
ta ; '(|<tUi'M ( i^. • - ( Ueines Apparates, seiner Regeln, seiner Psyche. Was also psychische
/4>H, "^y[ i^rV'^*" Energie genannt wird, fällt jedenfalls unter den neuen Begriff der perso-
U& vW ^A^w-Kl^ Wi nierte n Energie. 1 Aber der Begriff der personierten Energie umfaßt noch
«Y&A*. einiges mehr.
U Dies zu demonstrieren, reicht der Vergleich mit dem Fußballkollektiv
nicht aus. Wenn etwa das System Fußballkollektiv aufgelöst wird, wenn
lA ^V*j4.VK <vM<*\ es » st "* )t "' werden seine Personen frei, sie sterben keineswegs mit, während
1 der Tod des Systems Person unausweichlich den Tod aller seiner Zellen
nach kurzer Zeit zur Folge hat. Die Abhängigkeit der integrierten Systeme
vom Funktionieren des Apparates des übergeordneten Systems ist auf dem
Niveau Person außerordentlich viel größer als auf dem Niveau Kollektiv:
die Integrierung im System Person ist vollendet.
Immerhin lassen sich auf Systemhöhe Kollektiv Gebilde finden, die der
Person in dieser Beziehung recht ähnlich sind. Man denke etwa an eine
Truppe im Schützengraben. Jede einzelne Person, der Soldat, ist beinahe
restlos vom Kollektiv abhängig. Die einzelne Person kann ihr Verhalten
nicht nach ihren eigenen Wahrnehmungen regulieren, sie ist „blind", wenn
nicht beim Stab die Meldungen über den Feind, den ganzen Frontabschnitt
entlang zusammenlaufen, wenn nicht dort die Wahrnehmungen dieser
einzelnen Facetten zu einem Gesamtbild zusammengesetzt werden, wenn
nicht vom Stab an die Person Nachrichten für ihr Verhalten gelangen,
die auf der „Kollektivwahrnehmung" beruhen. Die einzelne Person ist
wehrlos, wenn ihr nicht vom Stab Munition zugeführt wird; sie ist lebens-
unfähig, wenn ihr nicht, wiederum vom Stab, Nahrungsmittel zugeführt
werden. Der Soldat ist vom Funktionieren des Apparates des Kollektivs,
dem er angehört (Stab, dessen Transportmittel, usw.), völlig abhängig, beinahe
wie die Zelle vom Funktionieren des Apparates der Person. Aber die Mög-
lichkeit der Rebellion, des Überlaufens usw. zeigt die Grenze auch dieses
Vergleichs.
Die Person unterscheidet sich vom Kollektiv durch die vollendete Inte-
gration. Die Zellen sind von der Person absolut abhängig in allen vege-
tativen Funktionen: Nahrungsbeschaffung, -Verteilung, Sauerstoffzufuhr, Ab-
fuhr der Abfallstoffe. Die Regulierung des Atmungs-, Zirkulations- und
l) Wenn wir den Ausdruck personierte Energie dem synonymen personierte
Energien vorziehen, so will betont sein, daß dabei nicht etwa an eine bestimmte,
„eigene" Energieform gedacht werden darf.
Über psydilsdie Energie, Libido und deren Mcljbnrkcit
Verdauungssystems gehört ebenso wie das Psychische zu den Leistungen
des Apparates der Person. Die Energien, die diese Arbeit ermöglichen,
gehören zur personierten Energie. Es ist ungebräuchlich, — und wäre auch
nach dieser Auffassung nicht korrekt, — die Regulierung der Atmung usw.
dem Psychischen zuzurechnen. Aber gerade die Erfahrungen der Psycho-
analyse von der psychischen Ansprechbarkeit der Zirkulations- und Verdauungs-\ I
organe weisen auf eine enge Verwandtschaft hin und es scheint uns kein 1 ,
geringer Vorteil dieses Umfangs des Begriffes der personierten Energie, daß I
wir durch ihn zu vereinfachten Vorstellungen über die energetischen Fragen '
der Hysterie und der Organneurosen gelangen können.
Personierte Energie wäre jener Anteil der Zellenenergie, der dem Zentral-
nervensystem abgegeben wird, denn die Arbeitsleistungen des Apparates des
Systems Person sind die Leistungen des Zentralnervensystems, des Zentral-
apparates, wie wir sagen wollen. Die Person wäre „zusammengesetzt aus
den zwei voneinander räumlich getrennten, funktional gekoppelten Systemen
Zellen und Zentralapparat, oder genauer, sie ist die synthetische Einheit
dieser beiden Gegensätze. Daß Energien des Zentralnervensystems vorhanden
sind, ist oft genug angenommen worden, man spricht von Nerven-, Neuronen-,
von Ganglienenergie, von psycho-physischer Energie usw. Physikalische
Energien sind ebenfalls im Zentralapparat festgestellt. Welche Beziehungen
die personierte Energie zu diesen allen hat, kann noch nicht entschieden
werden; als Vorteil unserer Begriffsbildung ergibt sich, daß diese Frage
unentschieden bleiben darf. Die Energien der Ganglienzellen brauchen
durchaus nicht mit personierter Energie identisch zu sein. Der Meldeoffizier
einer Truppe ist gewiß ein Teil des Apparates des Kollektivs, aber beiweitem
nicht alle seine Energien werden kollektiviert, sondern davon ein erst fest-
zustellender Anteil; ja sie können fast völlig ersetzt werden durch Elek-
trizität; so mag auch für die Ganglienzelle gelten, daß ihre Neuro-Energie
bloß einen Teil personiert. Weder die Energieform noch auch die Energie-
stätte findet beim Begriff der personierten Energie Berücksichtigung, sondern
sie wird lediglich von den Zellenenergien und den Umweltsenergien abge-
grenzt durch das Kriterium, welches System durch sie Arbeit leisten kann.
Es ist hier nicht unsere Aufgabe, die Ähnlichkeiten und Unterschiede
zwischen Person und Kollektiv zu behandeln ; aber um über die Beziehung des
Systems Zelle zum System Person und seinem Apparat (dem Zentralapparat)
eine deutlichere vorläufige Anschauung zu gewinnen und um nachdrücklicher
zu betonen, daß unsere Betrachtungsweise mit der organizistischen Soziologie
nichts zu tun hat, sei auf zwei wichtige Differenzen hingewiesen, die sich
10VA/fc*#.
2'
öicglrjed Bernfcld und Sergei FcilclLerg
aus der vollendeten Integrierung im System Person ergeben. Da die Personen
gegenüber dem Kollektiv so viel freier sind als die Zellen gegenüber der
Person, bedarf das Kollektiv eigener Mittel, um seine Personen dazu zu
veranlassen, etwas von ihren Energien zu „opfern", zu kollektivieren; bedarf
es ferner besonderer Mittel, um trotz der räumlichen und seelischen Distanzen
1 zwischen den Personen eine Koordinierung ihrer Bedürfnisse und Handlungen
zu erzielen. Jenem Zweck dient der Herrschaftsapparat, diesem die Sprache.
Beide besitzt das System Person nicht gegenüber den Zellen, oder genauer
gesagt, eben dieselben Funktionen, die auf Systemhöhe Person der Zentral-
apparat erfüllt, vollzieht auf Systemhöhe Kollektiv Sprache und Herrschafts-
apparat: Die Regulation der Zellenleistungen und ihre Integrierung zu
: Personleistungen. Hoch rationalisierte Wirtschaftsbetriebe, etwa die Fabrikation
am laufenden Band, erreichen dies ähnlich auf der Systemhöhe Kollektiv.
:Die Arbeiter am laufenden Band bedürfen keiner Sprache, weil der Arbeits-
strom ihre Tätigkeit reguliert, so wie der Chylus die Darmzellen ohne
[Signale in Funktion setzt. Die Person muß nur Nahrung in den Mund
tun, ein historisch gewordener, automatisierter Apparat leitet den Strom
und erzwingt die dem übergeordneten System genehmen Funktionen der
Zelle.
Die Zellen befinden sich demnach gegenüber dem Apparat der Person
wie gegenüber einem exosystemen Einfluß, an den sie angepaßt sind. Si
sind gewissermaßen wie eine parasitäre Vegetation am Zentralapparat, vor,
dessen Leistungen sie abhängig sind, an dessen Bedingungen sie angepaßt
sind, wie an andere Naturbedingungen auch ; er setzt ihre Lebensbedingungen
er produziert und verteilt ihre Nahrung. Aber dieser Apparat selbst i
umgekehrt wieder von den Zellen abhängig, denn nur lebend geben sie
ein Quantum Energie an ihn ab, das allein ihn funktionieren läßt. Für
ihn sind sie die Energiequelle, er ist wie ein Parasit auf ihnen. Dies scheint
die kompliziertere, aber präzisere Formulierung der Anschauungen von
psychophysischer Wechselwirkung, oder von psychophysischem Parallelismus
zu sein, die durch unsere Betrachtungsweise nahegelegt wird.'
Die personierte Energie steht in funktionaler Abhängigkeit von den
Zellenenergien. Je mehr die Zellen Energie besitzen, die sie abgeben können,
um so „gefüllter", mächtiger ist der Apparat; je ärmer sie sind, um so
leerer, schwächer die Person. Aber diese naheliegende Annahme einer ein-
i) Von den metaphysischen Tendenzen dieser beiden Lehren, Wechselwirkung und
Parallelismus, wird hier völlig abgesehen.
Über psydiisilic Energie, Libido und deren .Meßbarkeit
fachen proportionalen Funktion bedarf offenbar entscheidender Korrekturen.
Im Schlafzustand ist das der Person abgegebene Energiequantum sehr gering,
während die Zellen für ihr Wachstum beträchtliche Energiemengen ver-
brauchen. Umgekehrt scheint im Zustand angestrengter Tätigkeit der Person
den Zellen mehr Energie entzogen zu werden als gewöhnlich. Es ist, als
wenn die Ermüdung das psychische Anzeichen hierfür wäre. Es spricht alles /
dafür, als würde nicht ein konstantes Quantum Energie personiert, sondern
als wäre seine Menge abhängig von den „Aufgaben", die der Bewältigung
harren, den exosystemen und endosystemen Reizen, soweit sie nicht von den
Zellen sondern vom Apparat der Person bewältigt werden müssen. Diese
Abhängigkeit der personierten Menge von den zu bewältigenden System-
aufgaben bedarf besonderer Berücksichtigung, denn sie mahnt uns, die
Umweltenergien in Rechnung zu stellen. Indem wir nach den Energie-
quellen des Systems Person suchten, war unsere Aufmerksamkeit auf die
endosystemen Kräfte gerichtet; nun werden wir erinnert, die exosystemen
einzusetzen. Während wir bisher summarisch von Zellenenergien sprachen,
haben wir es in der Umwelt mit genau benennbaren Energieformen zu tun.
Denn die Umwelt des Systems Person besteht aus den Energiemengen der
bekannten physikalischen Formen, die als Reize die Systemgrenze erreichen.
Die Bewältigungsaufgabe, die dem System diese Umwelt bietet, ist: durch
Systemleistungen (Widerstand und Anpassung) sich mit diesen Energiemengen
auszugleichen. Für die Art der Systemleistung nun ist die Quantität dieser
Reize entscheidend. Bekanntlich reagiert es überhaupt erst, wenn die zu-
geführte Reizmenge eine gewisse Höhe erreicht hat, und ändert Intensität
und Richtung seines Verhaltens je nach dem Wachstum der Reize. Natürlich
sind auch minimalste Reizmengen nicht wirkungslos, sondern sie haben
Reaktionen zur Folge, aber nicht Reaktionen des Systems Person ; für dessen
Verhalten bleiben sie neutral und werden vielmehr von den Zellen selbst
bewältigt. Die Person tritt erst in Funktion, wenn die Reizmenge die
Bewältigungsfähigkeit der Zellen übersteigt, wäre man versucht zu sagen.
(Den Ausdruck Reizschwelle müssen wir hier ausdrücklich vermeiden, denn
er meint die Reizgröße, die zum Bewußtwerden führt; eine Frage, die
hier unerörtert bleibe.)
Die jeweils personierte Energiemenge ist also sowohl von der vorhandenen
Zellenenergiemenge, vom Energievorrat, als auch von der zu bewältigenden
Reizmenge, der Nachfrage, abhängig. Wir möchten diese doppelte funk-
tionale Abhängigkeit der personierten Energie als unsere Grundhypothese
zum Gegenstand weiterer Untersuchungen machen. Um schon hier die
n
Siegfried Bernfcld und Sergei Ifeitelberg
Absicht, zu mathematischer Auswertung zu gelangen, festzulegen, wollen
wir diese Hypothese als Problem formel schreiben:
<1> E P =f(E R> Ec)
wobei wir die personierte Energie als Ep, die Zellenenergien als Ec, die
Umweltenergien, soweit sie auf das System Person übertragen werden, als
Er schreiben.
II) JUVit energetischen lJeutung des Weber- Fechnersohen Gesetzes
Da wir die Fragen der theoretischen Psychologie unter der Grundvoraus-
setzung diskutieren [vgl. oben S. 3], daß die psychischen Erscheinungen den
bekannten Naturgesetzen folgen, kann diese unsere Problemformel, soweit
es sich um die quantitativen Beziehungen zwischen der personierten Energie
und den Zellenenergien einerseits, den Reizenergien anderseits handelt
deduktiv bestimmt werden. Denn diese Energien müssen dem ersten Haupt-
satz der Energielehre, dem sogenannten Gesetz von der Erhaltung der Energie
entsprechen. Jede Vergrößerung der Energie des Organismus muß einer
gleich großen Zufuhr an Energie von außen entspringen, und jede Ver-
minderung der Energie des Organismus muß in einer Abgabe von Energie
an die Außenwelt bestehen. 1 Zunächst bleibe dabei eine offene Frage, wi P
sich die Energiemengen des Organismus jeweils auf das Zellensystem und
auf den Apparat des Systems Person verteilen; es ergibt sich dann der Satz-
jede Änderung in der Reizenergiemenge hat die entsprechende Änderun»
in der Energiemenge der beiden Systeme Zentralapparat und Zellen zur
Folge. Was zu schreiben wäre
<2> dE R =dE P + dEc
Fassen wir die deduktive Erwägung, die uns zu dieser, wie sich zeigen
wird, fruchtbaren Grund formel führt, präziser, so ergibt sich die folgende
Ableitung :
Soll U die Energie der Umwelt sein, E P und Ec die Energien der Person,
Er die Energie, welche von der Umwelt in das System Person übergeführt
wird, so muß die Beziehung bestehen, falls man die Gesamtenergie der
„Welt" 2 mit W bezeichnet,
1) Die Präzisierungen, die sich aus dem Entropiesatz ergeben, werden in Kapitel IV
diskutiert.
2) Mit „Welt" ist hier natürlich nicht das Universum gemeint, sondern jene „Welt",
in der die Gültigkeit des Erhaltungsgesetzes empirisch gesichert erscheint.
über psydiisdie Energie, Libido und deren Meßbarkeit
oder
W—U=E P + Ec
Die Differenz W—U ist in der Gleichung tautologisch als der Energie-
gehalt des Systems Person ausgedrückt. Differenzieren wir die Gleichung, so
ergibt sich unter Berücksichtigung der Konstanz der „Weltenergie" (dW=0)
— dU=dE P + dEc
dU ist das Differential des Weltenergiebetrages, das der Umwelt entzogen,
dem System Person übertragen wird. Da wir die Energiezufuhr der Umwelt
an die Person Er nennen wollten, können wir ersetzen
— dU=dE R
und erhalten dann:
<2> dEn = dE P + dEc
Aus dieser Formel allein, die zwei unbekannte Größen enthält, dEp und
dEc (da sich deduktiv über die Verteilung der Energien des Organismus
auf die beiden Systeme nichts aussagen läßt),' ergibt sich zunächst keine
Möglichkeit zur eindeutigen Bestimmung — es sei denn, wir könnten
Prozesse untersuchen, an denen eine der beiden Größen nicht beteiligt,
also in der Formel gleich O zu setzen wäre. Prozesse, an denen Ep sicher
unbeteiligt ist, gibt es gewiß reichlich, aber sie sind eben darum solche,
für die die Psychologie nicht zuständig ist. Hingegen sind die Sinnesorgane
Apparate, die gewiß nicht ohne Arbeitsleistungen des Zentralapparates
funktionieren, in denen aber entweder keine lebenden Zellen vorhanden
sind, oder diese doch an der Funktion des Sinnesorgans mit vernachlässig-
baren Werten eigener Energie beteiligt sind. Die Energielieferung der Zellen
kommt bei der Funktion der Sinnesorgane nicht in Rechnung. Für sie
ergibt sich daher eindeutig aus der Grundformel:
<3> dE P = dE R
Da dEn als Änderung von Licht, Schall, Druck usw. sehr wohl meßbar
ist, ergibt sich danach die Möglichkeit, die personierte Energiemenge zu
bestimmen, die durch den Reiz dem System Person zugeführt wird.
Dieser Deduktion widerspricht aber, freilich wie noch zu zeigen sein wird
nur anscheinend, alles was bisher empirisch über die Beziehung zwischen
Reiz und Wahrnehmung festgestellt wurde. Dieser Widerspruch fällt um
1) Auch die empirische psychologische Forschung allein kann hier nicht zu defini-
tiven Ergebnissen führen, sondern es bedarf dazu biologisch -physiologischer Fakten.
n
M
ibiegfned Bernfeld und öergei Feitelberg
so schwerer ins Gewicht, als die Lehre von den Beziehungen zwischen Reiz
und Wahrnehmung zu den sichersten Ergebnissen der Psychologie gehört,
ja man darf sagen, ihr einziges, wirkliches Gesetz darstellt: das Weber-
Fechnersche Gesetz. Dieses Gesetz enthält eine Aussage über die Reiz-
größe und ihre Beziehung zur Wahrnehmung, die unsere Aufmerksam-
keit nicht allein darum verdient, weil sie unserer deduktiven Grundformel
widerspricht, sondern weil mit ihrer Gültigkeit jede energetische Betrachtung
des Psychischen in Frage gestellt zu sein scheint. Gleiche Reize haben nach
dem Weber-Fechnerschen Gesetz bekanntlich nicht gleiche psychische Er-
lebnisse (Empfindungen) zur Folge,\ Änderungen der Reizgröße sind nicht
von proportionalen Änderungen im System Person gefolgt, wie sie Formel <3>
verlangen würde, sondern die Abhängigkeit ist wesentlich komplizierter.
Zunächst besteht das Gesetz der Schwelle, das besagt, daß Reizzuwächse
bis zu einer gewissen unteren Grenze überhaupt nicht, und von einer
gewissen oberen Grenze an gleichfalls nicht von bestimmten Unterschieden
der Wahrnehmung gefolgt sind. Innerhalb dieser Grenzen aber ist die Wahr-
nehmung des Reizzuwachses nicht nur von diesem selbst, sondern auch von
seinem Verhältnis zu dem voraufgegangenen Reiz abhängig. Es genüge zum
(Beispiel ein Gewicht von 3 g- an einer bestimmten Körperstelle, um das
'Erlebnis einer „eben merklichen Empfindung", wie Fechner sagt, hervor-
zurufen. Belasten wir dieselbe Körperstelle mit 2.0 g und fügen dann 5 g
hinzu, so wird keine Empfindung eines Unterschiedes eintreten, sondern
diese ergibt sich erst bei, zum Beispiel, 7 g; zu 40 g aber müßten 1 1 g hinzu-
gefügt werden, ehe das gleiche Erlebnis des eben merklichen Unterschiedes
eintritt. Die Wahrnehmung ist also weder proportional der Reizgröße, noch
ist sie etwa völlig unabhängig, sondern sie ist regelmäßig gebunden an ein
bestimmtes Verhältnis von Reiz und Reizzuwachs.
Bezeichnet man mit Fechner die Empfindung eines eben merklichen
Unterschiedes mit AE, den zu ihrer Hervorrufung notwendigen Reizzuwachs
mit AR, so erscheint das Weber-Fechnersche Gesetz in der bekannten
mathematischen Form der Fechnerschen Fundamentalformel
wo k einen Koeffizienten bedeutet, der für verschiedene Sinnesorgane be-
stimmbar und konstant ist. Schreibt man diese Gleichung in der Form:
<a>
AE 1
AR~ R
üfcc-r psyAJsAc Energie, Libido ur,J Jercn Meßbarkeit
SO
bedeutet — das Verhältnis zwischen der Empfindungsänderung und dem
AR t -%.-,•
Reizzuwachs, das für kleine Größen von äR und AR Gültigst hat. Nimmt
man für das Psychische Stetigkeit' an, so läßt sich <a> auch m Form einer
Differentialgleichung schreiten :
dE 1_
dR R
oder
dE = k
dR
R
deren Integration die Abhängigkeit der Empfindung von dem Reiz ergibt,
die Fechnersche Maßformel
E== J k d A + C=khg?uitR + C
R
wo C die Integrationskonstante bedeutet, deren Elimination durch die Be-
stimmung des Integrationsintervalls möglich ist.
Zwei Einwände, die gegen diese Fechnerschen Aufstellungen anfangs
gemacht wurden, haben sich in der Folge als falsch erwiesen. Fechner
behielt recht: das Webersche Gesetz kommt sonst „in der Natur nicht vor ;\
und es gilt zweifellos in der Sinnespsychologie, wenn auch nur in Grenzen
und nicht einwandfrei für alle Sinnesorgane. Hingegen fand seine psycho- / ^ .
physische Deutung des Gesetzes kaum Anhänger: Da in der „Natur bei
Kraftübertragungen Proportionalität herrscht, war für Fechner sicher daß
die eigenartige logarithmische Beziehung, die er auffand, für die Beziehung
von Körper und Seele spezifisch sei. Von unserer Grundformel aus müssen
auch wir Fechner in diesem metaphysischen Punkt die Nachfolge versagen.
Die sehr umfangreiche Literatur um das Weber-Fechnersche Gesetz -
gehört doch ein guter Teil der gesamten experimentellen Psychologie hierher
hat eine befriedigende Deutung bisher kaum erbracht. Die sogenannten psycho-
logischen Deutungsversuche, die im wesentlichen von Wundt ihren Aus-
gang nehmen, versuchen das Webersche Gesetz als Spezialfall eines Relations-
gesetzes aufzufassen; aber unseres Erachtens werden sie allein dadurch arg
eingeschränkt, daß das Gesetz nicht allein für das Psychische, sondern für
alle Organisme n - auch für Amoeben, Bakterien, Pflanzen - gilt, also
Psychoanalyse über das Unbewußte erhält .» eine empirische Grundlage.
^(v^WtoW
a " Siegfried Bernfeld und Sergei Feitelfcerg
biologischer Natur ist. Die sogenannten physiologischen Deutungsversuche,
von G. E. Müller eingeleitet, nehmen Verluste der Reizenergie bei der
Heizleitung oder im Apparat der Sinnesorgane an; aber sie vermögen nicht
zu erklären, weshalb nicht beliebige Verluste eintreten, sondern daß diese
dem höchst eigenartigen Gesetze gehorchen.
Die Deutungsversuche der modernen Physiologie, die vom Massenwirkungs-
gesetz ausgehen (siehe Pauli), vermögen immer nur eine Seite des Problems
zu erfassen, und dies nur unter Heranziehung einer unbefriedigend großen
Anzahl von Hilfslvypothesen.
f Merkwürdigerweise ist eine energetische Deutung, wie wir sie hier ver-
buchen, bisher nicht unternommen worden. Die Psychologen, die das Problem
der psychischen Energie erörterten, haben das Weber-Fechner-Gesetz un-
beachtet gelassen, obzwar es in seiner gegenwärtigen Fassung ein ent-
scheidendes Argument gegen die Annahme psychischer Energie ist. Die
Experimentalpsychologen haben keinen Anlaß gehabt, sich um die physi-
kalische Bedeutung der Grundlage ihrer Maßmethoden zu kümmern, und
doch vermag eine recht einfache Anwendung der Energielehre das Weber-
Fechnersche Gesetz seiner Paradoxie zu berauben.
Fechner selbst hat den Ansatz zur energetischen Klärung des Sachverhaltes
versucht, indem er das Gesetz von der Erhaltung der Kraft heranzieht und
I seine Psychophysik auf dessen Gültigkeit aufbaut. Er argumentiert, daß die
lebendige Kraft des Reizes, die nicht verloren gehen könne, sich in di«*
Intensität der Empfindung umsetzt.
Fechner kannte die präzise Fassung des Begriffs „lebendige Kraft" nicht
die seither die Physik gebraaht hat und die allein man einer Untersuchun '
zugrunde legen darf, die das Problem der Anwendbarkeit des Erhaltun^s-
gesetzes auf das Psychische diskutiert. An einem konkreten Beispiel läßt
sich diese präzisere Fassung des Energiebegriffes und die Tragweite der
Begriffsunklarheit, die Fechner hatte (und mit der die heutigen Deutungs-
versuche im allgemeinen noch arbeiten) am eindringlichsten zeigen.
Von jedem Reiz wird dem System Person eine bestimmte Energiemenge
zugeführt, sowie etwa von einem Gewicht dem System Waage. Unser Interesse
richtet sich auf die Bestimmung dieser zugeführten Energiemenge. Sie ist
anscheinend allein vom Energiegehalt des Gewichtes (oder Reizes) abhängig.
Das Fehlerhafte dieser Ansicht wird aber offenbar, wenn man sich die
Definition der Energie, die das Gewicht besitzt, vergegenwärtigt : der Energie-
gehalt eines Gewichtes ist die Größe der Arbeit, die es leisten kann. Diese
Arbeit ist gleich der Kraft, mit der das Gewicht von der Erde angezogen
■-
über psyAlsAe Energie, LftiJo -°J Jcrcn Meßbarkeit
3 7
wird mal dem Weg, den es in der Richtung nach dem Erdzentrum zurück-
legt ' Die Größe der Energie wird also durch das Produkt zweier Kom-
ponenten, in unserem Falle einer Kraft- und einer Wegkomponente, be-
stimmt; jede Energieart läßt sich ähnlich in zwei verschiedene Komponenten
zerlegen, wobei die eine Größe allgemein als Intensität („Kraft ), die andere V
als Extensität („Weg") bezeichnet wird. Da der Weg, den das Gewicht \
an sich" zurücklegen könnte (also die Extensitätskomponente seiner Energie)
bei der Energieübertragung vom Gewicht auf die Waage - die wir Wägung
nennen - keine Rolle spielt, ist offensichtlich nicht der Energiegehalt des
Gewichtes entscheidend, sondern allein die Kraft, die es auf die Waagschale
ausübt also die Größe seiner Intensitätskomponente. Die Energieüber-
tragung geschieht in Abhängigkeit von der Kraft und nicht von der Gesamt-
energie ihrer Quelle. Die übergeführte Energiemenge wird gemessen durch
den Weg, den das Gewicht mit der Waagschale zurücklegt. Die augenschein-
liche Änderung, die am Gewicht und an der Waage vor sich geht, ist
allein dieser Weg. Er wird von seiten des Gewichtes durch seine Kraft,
von seiten der Waage durch die Spannung der Feder bestimmt. Da der i
Weg von den Kräften allein, die auf die Schale wirken, abhängig ist, erfahrt ].
man mittels der Waage nichts über die Energieinhalte der Gewichte, sondern j
stets nur von deren Kräften. Allgemein gesagt, sind alle Änderungen im j ^^ ,**,-{*
System Waage nur von den Kräften, die auf sie wirken, abhängig. Hätte ^ GwKto**«.*
die Waage ein Bewußtsein, so würde sie die Kraftwirkungen ihrer Umwelt, | ( .hu*JMvlt «^
die sie uns anzeigt, (nicht den Energiegehalt), als Empfindungen selbst wahr- I
nehmen. 1
Das System Person nimmt tatsächlich die Umweltsintensitäten, die seine
Grenze erreichen, in Erlebnissen wahr (in den Empfindungen, die die Sinnes-
organe vermitteln). Jeder dieser Empfindungen entspricht eine Energieüber-
tragung aus der Außenwelt, deren Größe als Intensität der Empfindung erlebt
wird und von der Intensitätskomponente des Reizes abhängt. Die Bestimmung
dieser funktionalen Abhängigkeit der Empfindung von der Intensitäts-
komponente des Reizes mag die Fechnersche logarithmische oder eine be-
liebige andere Beziehung aufweisen, sie widerspricht nicht dem Energie-
erhaltungsgesetz, das sich auf die übertragene Energiemenge (Intensität X Ex-
tensität) bezieht; also auch nicht unserer Formel <3>.
U
rt Die beachtenswerte Betonung des Satzes, daß wir nur innere Kräfte wahrnehmen,
die Schilder [24, S. 54 f.] verdankt wird, erhält hiedurch eine Stutze aus der physi-
kischen Diskisstn -wahrend Schilder gegen die Auffassungen der modernen Physik
von seiner psychologischen Theorie aus polemisieren zu müssen glaubt.
a8
■Siegfried BernfclJ und Sergej Fci'tellcrg
Wollen wir die Beziehung unserer Grundformel zum Fechnerschen Gesetz
präzisieren, so müssen wir ihr die Gestalt geben
dE P = dE R =df(J R ,C R )
wobei J R die Intensitätskomponente und C R die Extensitätskomponente (auch
I Kapazitätskomponente genannt) von E R bedeutet. Das Fechnersche dB. ent-
spricht dJ R . Alle Unklarheiten, die sich in bezug auf Energiefragen aus der
fechnerschen Psychophysik ergeben haben und zum Teil auch die heutige Dis-
kussion darüber noch beeinflussen, entstammen der Gleichsetzung des Fechner-
schen dR mit dE R , der stillschweigenden Identifizierung der „Reizgröße" mit
der Reizenergie beziehungsweise ihrem, dem System Person übertragenen Anteil
Dadurch verwandelt sich das Fechnersche Gesetz aus der falschen Form
I in der es häufig - unausgesprochen - verstanden wird, und die man
schreiben mußte
dE P =k
dE R
E R
und die dem Erhaltungsgesetz tatsächlich widersprechen würde, in die
richtige Form
dJ R
<4>
dE P =k
Jr
Diese einfache physikalische Überlegung ist unseres Wissens bisher in
der Diskussion um Fechners Psychophysik nicht ausdrücklich durchgeführt
worden.' Daß sie ohne entscheidenden Schaden vernachlässigt werden konnte
rührt daher, daß energetische und Energiemessungsaufgaben der psycho'
logischen Forschung fernliegen. Sie hat allerdings daher auch nicht Fechners
ursprungliches Ziel, zu einer echten Psychometrie zu gelangen, erfüllen können
Haben wir somit den auffallenden anscheinenden Widerspruch Fechners
zum Erhaltungssatz der Energielehre beseitigt, so ist damit doch eine energeti
sehe Deutung des Gesetzes noch nicht gegeben. Es bleibt die Sonderbarkeit der
logarithmischen Abhängigkeit der übergeführten Energie von der Intensitäts-
ycomponente des Reizes bestehen. Um sie zu verstehen wird sich empfehlen
ein Modell dieser eigenartigen psychophysischen Beziehung aufzufinden. '
Das Weber-Fechnersche Gesetz, dessen Gültigkeit nur innerhalb bestimmter
/Grenzen der Reizgröße besteht, ist heute als allgemeine Eigenschaft des
1 lasmas anerkannt. Es ist aber nötig fest zustellen, ob es eine einzigartige
( l) Andeutungen im philosophischen Zusammenhang enthält Sterns Personalismus,
der übrigens den Fechnerschen Gedanken der Systemhöhen, den wir im Kapitel I
J verwenden, umfassend ausbaut.
über psydüsd.e Energie, Libido und deren Meßbarkeit
29
Fähigkeit des organischen Plasmas ist, oder ob diese Beziehung sich nicht auch
sonst unter gegebenen Bedingungen einstellt. Solches Suchen mag im Erfolgs-
falle manche Förderung und Klärung unserer Vorstellungen über die Wirkungs-
weise organischer Systeme und die Rolle des psychischen Apparates bringen.
In der „Natur" findet es sich nun freilich nicht außerhalb der Plasmawelt.
Aber es läßt sich eine einfache Maschine konstruieren, in welcher die Um-
setzungen zwischen einwirkender Kraft und den daraus folgenden Energie-
verschiebungen im Sinne des Weber-Fechnerschen Gesetzes erfolgen.
Die nächstliegende Maschine, die
Waage, die man gern zum Vergleich
herangezogen hätte, kann uns keine \
Dienste leisten, weil in ihr, nach
dem Hookschen Gesetz die zugeführte
Energie der Kraft einfach proportional
ist. Hingegen entspricht dem Weber-
Fechnerschen Gesetz die folgende An-
ordnung.
Der Zylinder a (Fig. 1), von einem
beweglichen Kolben abgeschlossen, ist
mit idealem Gas gefüllt. Die Metall-
kugel b, durch eine Wärmeleitung mit
dem Zylinder verbunden, hat eine nied-
rigere Temperatur als der Zylinder,
dessen Temperatur konstant gehalten
wird, indem bei jeder Temperatur-
erhöhung des Zylinders eine ent-
sprechende Wärmemenge Q in die Kugel geleitet wird, wobei eine spezielle
Anordnung, auf die wir hier nicht eingehen müssen, einen spontanen
Temperaturausgleich (dem eine Temperaturerniedrigung des Zylinders folgen
würde) verhindert. Wirkt nun der Druck p auf den Zylinder, der großer
als der Gegendruck des Gases ist, so senkt sich der Kolben; diese Arbeits-
leistung hätte eine bestimmte Temperaturerhöhung des Gases zur Folge, zu
deren Ausgleichung das entsprechende Wärmequantum dQ an die Kugel
abgegeben wird und dementsprechend deren Temperatur erhöht. Höchst
bemerkenswerterweise ist nun die Beziehung zwischen der Größe des Druckes
und der Größe der überschüssigen Wärmemenge
.KUtwJu
Fig. 1
<5>
.dp
dQ=k-£-
p
äo
Siegfried Bcrnfeld und Sergei Feitelkerg
also die gleiche, die nach Fechner zwischen der „Reizgröße" und der
Empfindung besteht. dQ ist aber gleich der Arbeitsleistung der Energie-
quelle des Druckes, also gleich der Energiemenge des „Reizes", die auf
das System übertragen worden ist. p ist die Intensitätskomponente dieser
Energie, so daß die Gleichung <5>
dJ R
der Gleichung <4>
dE R =k
J*
entspricht.
In dieser Koppelung von Kugel und Zylinder zu einem Systemdual ist
demnach ein energetisches Modell des Weber-Fechnerschen Gesetzes, also
v des Psychischen — zunächst soweit es nach diesem Gesetz verläuft — gegeben.
Ehe wir die Konsequenzen aus dieser neuen Modellanschauung ziehen,
sei sie im einzelnen physikalisch gesichert. Die Gasmenge sei durch die
Anzahl Mole v (die Anzahl der Mole ist durch die Gleichung
Gewicht
v =
Molekulargewicht
bestimmt) angegeben. Auf den Kolben wirke ein Druck p, das Volumen
sei v. Dann gilt die Clapeyronsche Zustandsgieichung der idealen Gase-
pv = R v Ti
wo 7\ die absolute Temperatur bedeutet und R für ideale Gase eine Konstante
ist. Vergrößern wir nun den Druck, der auf dem Kolben lastet, u m einen
unendlich kleinen Wert dp, unter der Voraussetzung, daß die Temperatur
des Systems, in dem das Gas sich befindet, unverändert bleibe, dann muß
jede Temperaturvergrößerung, wie sie durch Druckzunahme entsteht, auf
die Weise kompensiert werden, daß genau die gleiche Wärmemenge' die
sie verursacht hat, vom System fortgeführt werde. Wir nehmen dazu' eine
Metallkugel, die eine Temperatur T habe, und zwar so daß
T X >T
ist. Diese abzuführende Wärmemenge, die durch die Druckzunahme d
entsteht, wollen wir berechnen. Es ist
<6> dQ = %dA
wo clA die mechanische Arbeit bedeutet, die durch die Druckzunahme auf
das System übertragen worden ist, um das Gleichgewicht wieder herzu-
stellen. 1 Diese Arbeit ist gleich
<7> dA = pdv
i) % ist das mechanische Wärmeäquivalent = 0-23865 • io~' cal/Erg.
11
Ulier psydiisdie Energie, Libido und deren Meßbarkeit
5i
wenn d v die Volumenverminderung durch die Wirkung des Druckzuwachses
dp ist, die wir aus der Zustandsgieichung v = RvT— berechnen können.
Es ist v = RvT-
P
Diesen Wert setzen wir in <7> mit positivem Vorzeichen ein, da bereits
dort dv auf Zusammendrückung bezogen wurde, und erhalten
dA = RvT^-
oder endlich durch Einsetzen nach <6>
<5a> dQ
:u; v t^
Der Sachverhalt, den Gleichung <5a> ausdrückt, ist also in seiner quanti-
tativen Bedeutung mit der Aussage des Weber-Fechnerschen Gesetzes identisch.
Dieses Modell zeigt uns ein System mit Maschinenbedingungen, die das-
selbe Verhalten erzwingen, das der Organismus in der identischen Situation
aufweist. Denn die Leistungen jener Sinnesorgane, für die das Webersche
Gesetz am genauesten und sichersten gilt, sind Reaktionen auf Druckkräfte :
Tastsinn und Ohr; für das Auge und den Geschmacksinn gilt energetisch
prinzipiell das Gleiche. 1 Dies legt die Vermutung sehr nahe, daß das
Webersche Gesetz von den Maschinenbedingungen des Organismus, die denen \
des Modells ähnlich sein dürften, erzwungen wird. Die Vermutung erhält )
eine sehr bedeutende Stütze durch die Tatsache, daß ein osmotisches Modell
ganz dasselbe Verhalten zeigt, wie unser Gasmodell. Wenn wir nämlich statt
des Gases eine verdünnte Lösung nehmen, die Wände unseres Zylinders
semipermeabel gestalten und ihn ganz in Wasser tauchen, so ändert sich
unsere Rechnung in keinem Punkte, da sich verdünnte Lösungen in diesen
Verhältnissen genau wie Gase verhalten, indem nämlich der wirkende Gegen-
druck in diesem Falle nicht mehr der Gasdruck, sondern der osmotische
Druck wird (Van 't Hoffsches Gesetz).
Jede osmotische Maschine, für die die Bedingungen der Temperatur-
konstanz in dem einen Systemteil (in dem die osmotischen Vorgänge statt-
finden) und die Abführung des Energiezuwachses an den anderen System-
1) Gegen die Zurückführung der Lichtwirkung auf Druckkräfte könnten Bedenken |
geltend gemacht werden; die aber, soweit sie unser Thema berühren, durch die Be- ,
rechnungen Köhlers behoben sind.
3a
öiegfried Beriifeld und Sergej Feitelberg
teil, wie in unserem Modell, zutreffen, zeigt das Weber-Fechnersche Ver-
halten. Den Organismus als eine osmotische Maschine anzusprechen, ist
gewiß mehr als eine bloße Metapher. Vielmehr ist die Osmose für den
Organismus spezifisch. Die Erscheinungen der Osmose sind an ihm entdeckt
worden und semipermeable Membranen finden sich außerhalb des Organischen
überhaupt nicht und können synthetisch nur unvollkommen hergestellt
werden. Tatsächlich gilt die Weber-Fechnersche Beziehung für die Lebens-
prozesse so allgemein, daß sie Abderhalden „als der Ausdruck einer ganz
allgemeinen Eigenschaft sämtlicher protoplasmatischen Gebilde" erscheint.
So ist es wohl kein Zufall, daß sich das gekoppelte System, das wir an
unserem Modell beschrieben haben, im morphologischen Bau der Zelle
c,
Ak
:■&)
Fig. 2 a
Fig. zb
deutlich wiederfindet. (Fig. aa.) Zwar ist die Zelle ein einheitliches System,
mit einheitlichem Verhalten, aber Kern und Plasma in ihrer gegenseitigen
eigenartigen Bedingtheit und relativen Unabhängigkeit, die ihren Ausdruck
zum Beispiel in der bekannten Kern-Plasma-Relation findet, haben die Biologen
längst als zwei kompliziert miteinander verbundene Systeme erkannt. Die
Funktion des Kerns ist noch nicht restlos aufgeklärt, aber weitgehend herrscht
darin Übereinstimmung, daß er als Regulator der wichtigsten Systemfunktionen
anzusprechen ist. Es ist mehr als ein Bild, wenn wir die Kugel in unserem
Modell als Regulator des gekoppelten Systems, des Systemduals Zylinder-Kugel
bezeichnen. Die wesentliche Bedingung unseres Modells, die Konstanz der
Temperatur im Zylinder, ist eine Bedingung, die für die Organismen zu-
trifft, welche, soweit sie sich nicht isotherm erhalten können, wie etwa die
Protisten, bestimmte Temperaturverhältnisse in der Umwelt aufsuchen. 1
l) DaG bei den Organismen nicht eigentlich die Temperatur konstant erhalten
[wird, sondern die Lebensprozesse an eine gewisse optimale Breite der Temperatur
über psydiisdie .Energie, Libido und deren Aaefjbai-Keit 33
Es mag jedoch eingewendet werden, daß die Reize, bei denen die Reaktionen
der Amoebe dem Weberschen Gesetz entsprechen, keine Druckreize sondern
chemische Reize sind. Es läßt sich aber dem gegenüber darauf hinweisen,
daß die chemischen Lösungen, in denen die Amoeben reagieren, osmotischen
Druck auf die Amoebe ausüben. Und zwar nach der Gleichung:
RvT
V
wobei v und v auf das Reizmittel bezogen sind. Der Quotient — ist aber
nichts anderes als die Konzentration des Reizmittels, so daß sich der Druck zu
p = RTc
ergibt, wenn c die Konzentration ist. Da ebenfalls
dp = RTdc
ist, folgt aus der Gleichung <5a>
<5b> dQ = %RvT—
c
In seiner Gültigkeit für die Einzelzelle scheint demnach eine energetische
Deutung des Weber-Fechnerschen Gesetzes leicht durchführbar. Daß die
Arbeitsleistungen, die an oder durch osmotische Zellen vorgenommen werden
(bei isothermer Prozeßführung), der logarithmischen Beziehung, die wir hier
abgeleitet haben, gehorchen, ist der Physik längst bekannt und ist auch vielfach
bei früheren Versuchen der Deutung des Gesetzes implicite mitenthalten. Man
hat aber nicht versucht, diese Tatsache zur Grundlage der Deutung der
Gültigkeit des Gesetzes auch bei den Wahrnehmungsprozessen der höheren
Organismen heranzuziehen. Unsere Modellvorstellung legt aber diesen Ver-
such dringend nahe. Das System Person ist nicht minder wie die Zelle ein
Systemdual, der (siehe Fig. 2 b) den Maschinenbedingungen unseres Modells | *)
entspricht. Der Zentralapparat des Systems, der morphologisch und funktionell
ungefähr dem Zentralnervensystem entspricht, steht als Regulator den inte-
grierten Zellensystemen gegenüber, wie der Kern dem Plasma, wie die Kugel b
dem Zylinder a unseres Modells. Der energetisch relevante Vorgang bei der
Wahrnehmung vollzieht sich nach unserer Hypothese als Druck auf den
Systemteil a, der die ihm durch diese Einwirkung übertragene Energie-
gebunden sind, trifft das Gerüst unseres Gedankenganges nicht; könnte aber nur an
Hand des — übrigens derzeit noch kaum ausreichenden — empirischen Materials
zulänglich diskutiert werden. *
M
Siegfried Bernfeld und Sergei Feitelberg
menge an den Systemteil b abführt, wobei die Beziehung zwischen der
Intensität des „Reizes" und der von diesem dem Systemteil b übertragenen
Energiemenge die bekannte logarithmische des Weber-Fechnerschen Ge-
setzes ist.
Das Weber-Fechnersche Gesetz wäre demnach restlos das Er-
gebnis der Maschinenbedingungen des Systems Person. Wie jedes
andere System auch, erfährt es durch die Wirkung der Umweltskräfte eine
Erhöhung seiner Energie. Da das System Person als Plasmamaschine den
Gesetzen der Osmose folgt, so besteht zwischen diesen beiden Größen (Um-
weltskräfte und Systemenergien) die bekannte logarithmische Beziehung. Der
komplizierte Aufbau des Systems Person als Systemdual bewirkt die Speiche-
rung des, durch die Reizwirkungen entstandenen, Energiezuwachses in dem
einen Systemteil, dem Zentralapparat. Die Energien des Zentral apparates
erfahren so durch jeden Reiz eine Vergrößerung; das Anwachsen der Energie
im Zentralapparat erlebt das System Person als bewußte Empfindung, die
daher proportional ist dem Logarithmus der Reizintensität.
So klar und eindeutig das Weber-Fechnersche Gesetz für Druck- und
verwandte Reize aus den Maschinenbedingungen des Organismus und dem
Gesetz der Energieerhaltung deduktiv abgeleitet werden kann, so genau ist
es auch empirisch für die betreffenden Sinnesorgane erwiesen. Die Ungenauig-
keiten und Abweichungen, die sich ergeben, lassen sich durch einige Prä-
zisierungen der Fechnerschen Maßformel, die aus unserer Theorie folgen und
die wir im IV. Kapitel vornehmen werden, korrigieren.
Hingegen ist die Gültigkeit des Weberschen Gesetzes für die Wärme strittig
geblieben; sie wird meistens geradezu abgelehnt. Für unseren Deutungs-
versuch ist diese Gültigkeitsgrenze keineswegs einschränkend, sie bestätigt
ihn vielmehr in sehr bedeutsamer Weise. Denn die Beziehung zwischen der
Energiemenge, die vom Reiz dem System Person übertragen wird und der
Intensitätskomponente des Reizes, die bei Druck- und verwandten Ein-
wirkungen durch das Boyle-Mariottsche Gesetz bestimmt wird und im Weber-
Fechnerschen Gesetz ihren Ausdruck findet, gilt nicht für Übertragungen
von Energieformen wie Wärme. In der Ungültigkeit des Weber-Fechnerschen
Gesetzes für Wärme bestätigt sich empirisch das Resultat, das sich aus unserem
energetischen Deutungsversuch auch deduktiv gewinnen läßt.
Gegenüber den anderen physikalisch-physiologischen Versuchen, dieses
Gesetz deduktiv abzuleiten, also zu erklären, hat der hier vorgelegte den
Vorteil, einer hypothetischen Annahme weniger zu bedürfen. Denn war
auch die Ableitung anderer Autoren mehrfach in verschiedenen Formen
Über psydiisdie Energie, Libido und deren Meßbarkeit 35
gelungen, so ging sie doch stets von einer bestimmten Energieform aus,
meist von der elektrischen, und war bemüht, von ihr aus die logarithmische
Beziehung zu gewinnen. Dies macht unnötige Annahmen über die Art der
Energieübertragung bei der Wahrnehmung und über die Art des Energie-
transports innerhalb des Systems Person erforderlich. Diese Annahmen
werden vermieden, indem die Energie als quantitative Größe eingeführt
wird, die von jeder Annahme über die Energieform abzusehen gestattet.
Mag die „Nervenenergie" Elektrizität, Wärme, eine besondere Neuronen-
energie oder eine eigene psychische Energie sein, unsere Deutung wird
dadurch nicht tangiert, während die anderen sich gerade von diesem Ent-
scheid abhängig machen.
Nach dieser ausführlichen, aber notwendigen Diskussion des Weber-
Fechnerschen Gesetzes, als des einzigen strengen, empirischen Gesetzes der
Psychologie, das anscheinend mit unserer Grundformel im Widerspruch steht,
dürfen wir sie nunmehr, da empirische Einwände gegen sie nicht mehr
vorliegen, als gesicherte Grundlage für die weitere Diskussion betrachten.
III) Strukturierung
Es sind demnach die Intensitäten der Außenwelt, die unter gegebenen
Bedingungen das entsprechende Wachstum der personierten Energie be-
wirken. Schon Fechner hat den Gedanken in die Psychologie eingeführt,
daß wir — unter bestimmten quantitativen und Apparatbedingungen, wie
wir heute sagen würden — das Anwachsen dieser Energie als Empfindung
bewußt erleben. Dieser Gedanke hat zwar eine Beihe von Einwänden
philosophischer Natur und gewisse Einschränkungen aber keine zwingende
Widerlegung erfahren. Wir dürfen uns jede Diskussion dieses Punktes um
so eher ersparen, als wir auf dem Boden der Freudschen Auffassung stehen.
Für Freud ist das Bewußtsein ein „Sinnesorgan", das uns Signale über die
Vorgänge in der Außenwelt und in unserem eigenen Körper gibt. Energetisch
formuliert: Bewußtsein ist Wahrnehmung von Intensitätsänderungen der
Energien von Umwelt und Körper. Aber diese Energien werden nicht als
solche, sondern an den Wirkungen, die sie auf die personierte Energie haben,
als Veränderung der Intensitätskomponente der personierten Energie wahr-
genommen. 1 Denn selbstverständlich muß die Sonderung in die beiden
1) Doch muß hier auf eine Unklarheit hingewiesen werden, die durch die Unter-
scheidung von intensiven und extensiven Empfindungen, die auch heute noch unter
verschiedenen Namen in der Psychologie gebräuchlich ist, hervorgerufen wird. Als
5'
\
36
öieglried BernlelJ und Sergei Feitelberg
V
Komponenten, die wir für die Reizenergien durchgeführt haben, auch auf
die personierte Energie angewendet werden. Was wir personierte Energie
nennen, muß, wie jede Energie als Produkt aus einer Intensitäts- und
Extensitätskomponente darstellbar sein. Wenn die personierte Energie durch
zugeführte Reizintensität wächst, so geschieht dies Wachstum durch die
entsprechende Vergrößerung ihrer Intensitätskomponente. Bewußtsein ist die
Wahrnehmung von Intensitätsänderungen der personierten Energie. Nur an
Intensitätsänderungen der personierten Energie, bedingt vom Zentral ap parat
und von bestimmten quantitativen Verhältnissen, ist uns das Phänomen
Qualität gegeben. Änderungen der Extensität der personierten Energie werden
'so wenig wie Änderungen der Extensitäten der übrigen Energien wahr-
genommen, sondern müssen aus Intensitätsänderungen erschlossen, beziehungs-
jweise errechnet werden.
Unsere Aufgabe ist, die Extensitätskomponente der personierten Energie
in unsere Rechnung einzubeziehen. Und zwar werden wir versuchen, uns
zunächst per exclusionem eine Vorstellung von dem psychischen Wirkungs-
bereich ihrer Extensität zu verschaffen. Alle bewußtseinsfähigen Vorgänge
im Zentralapparat gehören der Intensität an. Und es bleiben die Gebiete
die man so unklar als Gedächtnisspuren, als Dispositionen, als Gestalten
oder als Strukturierungs Vorgänge im Zentralapparat bezeichnet für die Ex-
tensitätsänderungen der personierten Energie übrig. Diese Strukturierungen
sind tatsächlich Wirkungen psychischer Vorgänge und bedingen nachfolgende
psychische Vorgänge, sie sind aber offenbar eigenartiger Natur und von den
Intensitätsvorgängen wesentlich unterschieden. Daher hat auch die Bewußt-
seins-Psychologie immer wieder mit der Schwierigkeit zu kämpfen gehabt,
diese „nicht eigentlich psychischen" Vorgänge von den eigentlich psychischen,
den bewußten abzugrenzen, und das breite Zwischengebiet entsprechend
aufzuteilen. Wir wollen diese Erscheinungen unter dem gemeinsamen Namen
der Strukturierung zusammenfassen und versuchen, die Strukturierungs-
vorgänge als Änderungen der Extensitätskomponente der personierten Energie
zu verstehen, so wie wir die bewußten und vorbewußten Vorgänge als
Änderungen der Intensität erfassen. Die Vorstellung, die wir uns bilden
und deren Brauchbarkeit sich an den folgenden Diskussionen bewähren
soll, ist also, daß am Zentral apparat als Wirkungen der bewußten Abläufe
extensive Empfindung bezeichnet man etwa Wahrnehmung von räumlicher Aus-
dehnung. Das hat aber nichts mit den energie-theoretischen Begriffen von Extensität
und Intensität zu tun; auch die „extensiven" Empfindungen sind Wirkungen der
Intensitätskomponente der Außenwelt auf die personierte Energie.
Uter psycnisdie Energie, Libido und deren Meßbarkeit
3 7
gewisse reale Veränderungen vor sich gehen, welche seine fortschreitende
Strukturierung bewirken. Diese bestimmt die Kapazität des Zentralapparats,
also die Extensitätskomponente der personierten Energie. Diese Extensitäts-
komponente der personierten Energie wollen wir der Einfachheit halber
mit dem in diesem Zusammenhang wohl nicht mißverständlichen Terminus
Struktur bezeichnen. Der Ausdruck Struktur bezeichnet sowohl die Struk-
turierung des Zentralapparates als auch die Extensität der personierten
Energie, zwei Begriffe, die energietheoretisch identisch sind. Mit der Kapazität,
zum Beispiel der Wärme, bezeichnet man sowohl die Wärmekapazität des
Wärmespeichers, die von seiner Struktur bestimmt ist (Größe, Stoff, Molekül-
lagerung usw.) als auch die Extensitätskomponente der Wärmeenergie. 1 Ist
etwa die Wärmekapazität eines Körpers zu M bestimmt, so ist damit die
Beschreibung seiner physischen Eigenschaften ergänzt, und gleichzeitig
berechnet sich sein Gehalt an Wärmeenergie, falls er die Temperatur T
hat, zu der Größe MT.
Köhler hat die sehr interessante Tatsache ausführlich erörtert, daß in
der Physik elektrischen und magnetischen Feldern Gestalts- (Struktur-)
Eigenschaften zukommen. Er hat mit Werth eimer gezeigt, welche Bedeutung
den psychischen Gestalten zukommt. Eine Verbindung dieser beiden Phänomene
wird nicht versucht oder abgelehnt. Auf dem Boden der energetischen Auf-
fassung, die wir hier vertreten, ergibt sich eine solche Verbindung als not-
wendige Konsequenz des Begriffes personierte Energie. Alle Phänomene des
bewußten Erlebens, an denen Eigenschaften haften, die mit den Ausdrücken:
Strukturiert, Form, Gestalt erfaßt werden, können in diesem ihren Gestalts-
moment nicht bloß die Wahrnehmung von Intensitätsänderungen der per-
sonierten Energie sein, sondern sind Ergebnis der Struktur der personierten
Energie (der Strukturierung des Zentralapparates). Soweit sie nicht bewußt
erlebt werden, bestimmen sie als Vbw und Ubw die Abläufe des Systems
Person, insofern diese durch den Zentralapparat bedingt sind. Da die Struktur
der personierten Energie jeden Prozeß mitbestimmt, so ist an jedem bewußten
Erleben ein Gestaltmoment auffindbar. Jedes Erlebnis hat ein Moment der
Intensität und eins der Struktur.
An physikalischen Beispielen läßt sich die Beziehung zwischen der Struktur
als Formmoment des Energiespeichers und der Extensität der Energiegröße
verdeutlichen. Aus der Wärmelehre ist uns bekannt, daß eine Änderung
der Moleküllagerung innerhalb einer bestimmten Stoffmasse, eine Änderung
1) Genauer: Entropie.
38
öieglried Bernleid und Sergei Feitelbcrg
ihrer Wärmekapazität im Gefolge haben kann. In der Elektrostatik bestimmt
schon die äußere Gestalt die elektrische Kapazität des Konduktors.
„Im allgemeinen nimmt die Kapazität eines Körpers mit seiner Ober-
fläche zu. Das läßt sich durch folgenden einfachen Versuch vorführen : Auf
der Stange eines Elektroskops wird eine zusammengefaltete Papierlaterne,
wie sie zu Illuminationen verwendet wird, befestigt; dann wird das Elektro-
skop (damit also auch die Laterne) geladen. Hierauf zieht man mit einem
isolierten Stabe die Papierlaterne auseinander. Der Ausschlag des Elektroskops
wird dann geringer. Drückt man die Laterne wieder zusammen, so wird der
Ausschlag des Elektroskops wieder so groß, wie er zuerst war." [/?, S. 50.]
Wir betonen diese physikalischen Beispiele, um zu zeigen, daß es sich
bei unserem Begriff Struktur nicht um „Philosophie" handelt, sondern um den
Versuch einer konsequenten Anwendung naturwissenschaftlicher Gedanken-
gänge auf ein Gebiet, das bisher nur „philosophisch" behandelt wurde. So mag
zunächst dieser unser Ansatz als „Philosophie erscheinen; er unterscheidet
sich aber von ihr durch die, wenn auch im Augenblick noch nicht reali-
sierbare, Möglichkeit experimenteller Bestätigung oder strikter Widerlegung l
Der Begriff Struktur hilft uns eine Schwierigkeit zu überwinden, die bei
jedem Versuch aufzutauchen pflegt, die psychische Energie zu diskutieren
Die naheliegende Vorstellung, die sich zur Einführung des Energiebegriffs
in die Psychologie anbietet, ist schematisch folgende : die Reizenergie erhöht
die Intensitäten des psychischen Apparates; dieser Intensitätszuwachs wird
unter gegebenen Bedingungen durch motorische Abfuhr wieder ausgeglichen
In diesem Schema mag dann das Erhaltungsgesetz in der Weise als gültig
gedacht werden, daß die durch den Reiz zugeführte und in psychische Energie
verwandelte physikalische Energie durch die Abfuhr wieder in physikalische
Energie rückverwandelt wird. Diese Vorstellung über die Gültigkeit des
Erhaltungsgesetzes haben wir, was die Umwandlung der „Reiz- Energie" in
„psychische Energie" angeht, oben korrigiert. Es liegt freilich keine Denk-
notwendigkeit vor, die „psychische Energie" ganz in physikalische rück-
verwandelbar zu denken, schon gar nicht den Rück Verwandlungsprozeß in
der motorischen Abfuhrarbeit zu sehen. Es bestehen sogar sehr beträcht-
liche Schwierigkeiten, die Rückverwandlung so einfach, so grobschlächtig
1) Laßwitz, unseres Wissens der einzige Autor, der die Extensitätskomponente
der »psychophysischen Energie" berücksichtigte, nennt sie Potential; diesen Ausdruck
möchten wir für einen anderen Begriff reservieren. Laßwitz ordnet die Empfindungen
der Intensität zu und nimmt für die Extensität die Gefühle Lust-Unlust in Anspruch.
Eine Auffassung, die wir nicht teilen können. Zu deutlich sind an Gefühlen und Lust-
Unlust- Vorgängen die beiden Momente Intensität und Struktur vorhanden.
Uter psycnisAe Energie, Libido und deren Meßbarkeit ^9
zu denken. Aber, und hier setzt die Schwierigkeit ein, was geschieht mit
der Intensität? An sich wäre möglich, daß sie unvermindert anwachse; jedoch
keinesfalls ganz ohne Grenze. Sie dürfte die entsprechenden Intensitäten
der Umwelt nicht überschreiten, da sonst keine Energieverschiebungen mehr
möglich wären, also etwa keine Wahrnehmungen mehr stattfinden könnten.
Immerhin wäre möglich, daß die Erreichung dieses Maximums in der
empirischen Lebensdauer nicht möglich wäre. Aber es gibt sehr gewichtige
Tatsachen, die dieser Konstruktion völlig widersprechen. Die Intensität der
Lebens- und Seelenprozesse, nimmt offenkundig im Verlaufe des Lebens
ab. Zwar wäre hier Intensität nicht im physikalischen Sinn gemeint, aber
dieser ist nur eine Präzisierung der landläufigen Auffassung von Intensität.
Die Abfuhr ermöglichte diese Intensitätsverminderung zu erklären, aber sie
setzt eine ganze Reihe von theoretischen und empirischen Schwierigkeiten.'
Der Begriff der Struktur eröffnet die Möglichkeit, Intensitätsminderungen
der personierten Energie vorzustellen ohne Zuhilfenahme der „Abfuhr".
Durch Anwachsen der Struktur - deren Ursachen und Art wir an dieser
Stelle noch nicht untersuchen wollen - wird bei gleichbleibender Menge
der Energie ihre Intensität verringert. Tatsächlich besteht ein gewisses
Alternativverhältnis zwischen Intensität und Struktur; so sind Wahrnehmung
und Erinnerung auf zwei einander folgende Akte verteilt (von Freud
mit vollem Recht zwei verschiedenen psychischen Systemen zugeschrieben).
Für die große Periode Wachen-Schlafen gut ein ähnliches Alternieren von
Intensität und Struktur; genauer gesagt, im Schlaf wird die Energiemenge,
wenigstens durch Außenweltreize, kaum erhöht, die Intensitäten sinken auf
ein Minimum; es liegt sehr nahe, ein entsprechendes Wachstum der Struktur
anzunehmen. Ohne in dieser Frage endgültig entscheiden zu wollen, darf
doch behauptet werden, die Strukturierung hat eine Funktion bei der
Intensitätsverminderung. Ob nicht Abfuhrprozesse doch eine Rolle spielen,
bleibe zunächst unerörtert.
Wenn wir diese Gedankengänge in präziser Fassung formulieren, so nimmt
unsere Grundformel, in der die Sonderung der beiden Komponenten der
Energien nicht berücksichtigt ist, folgende Form an:
<2a > I p Cp = IrCr — IcCc
wobei I die Intensitäts-, C die Extensitätskomponente von Ep, Er und Ec
bedeutet.
i) Hierüber siehe auch Bernfeld [2] und Hartmann [14]-
4° Siegfried Bernfeld und Sergei Feitelberg
Der einfachen Schreibweise wegen wollen wir statt Ip, Intensität der per-
sonierten Energie: /, statt Cp, Struktur der personierten Energie: iV schreiben.
Die Formel gewinnt dann die Gestalt
<2b> JN=JrCr-JcCc
oder differenziert:
<8> IdN+ Ndl= lRdC R + C R dI R - IcdCc- Ccdlc
IV) Uter M.e^tarkeit der personierten Energie
Das Problem der Meßbarkeit des Psychischen, von Fechner zuerst mit
Nachdruck gestellt, und Ursache jahrzehntelanger Diskussionen, gilt heute
vielen Psychologen als positiv, einigen andern aber als negativ gelöst. Dieser,
für die Psychologie so bedeutsame Widerspruch hat durch die Verschiebung
des Interesses der führenden Schulen von der Bewußtseins- zur Instinkt-
psychologie (Bekaviorism), von der Sinnes- zur Denkpsychologie, von der
Elementen- zur Gestaltpsychologie augenblicklich an Schärfe verloren. Er
gewinnt seine Bedeutsamkeit aber aufs neue durch die Psychoanalyse, die
immer dringender fordert, die ökonomischen, d. h. quantitativen Fragen des
Psychischen anzugehen.
Zunächst beruht dieser Widerspruch auf einer Begriffsunklarheit, indem
unter Meßbarkeit des Psychischen zwei sehr verschiedene Dinge gemeint
sein können. Daß psychische Vorgänge untereinander bis zu einem gewissen
Grade vergleichbar, also, wenn auch nicht mathematisch genau, meßbar
sind, wird kaum bestritten. Soweit eine Abhängigkeit psychischer Vorgänge
von Umweltsvorgängen, zum Beispiel von Reizen, empirisch festgestellt ist,
kann, das sollte gleichfalls nicht mehr strittig sein, diese Abhängigkeit durch
Indikatoren weitgehend präzis verglichen, gemessen werden. In diesem Sinn
ist Meßbarkeit des Psychischen unbestreitbar möglich und wird mit großem
Erfolg nicht nur in der Experimentalpsychologie geübt. Die Experimental-
psychologie zeigt sogar, eben durch ihr Weber-Fechnersches Gesetz, daß die
Messung auf bestimmten Gebieten der Psychologie in mathematischer Aus-
drucksweise und mit mathematischem Gehalt möglich ist.
Die Messung des Psychischen in diesem ersten Sinn ist aber nicht das-
jenige Messen, das die Psychoanalyse braucht, die nicht mit Hilfe von Reiz-
indikatoren die Bewußtseinsphänomene präzis untereinander vergleichen will,
sondern die Bewußtseinsphänomene als Indikatoren für diejenigen Vorgänge
im Zentralapparat und im Körper erfassen muß, die jenseits der Qualität
des Wahrnehmbaren liegen. Die Bewußtseinsphänomene müssen als Indikatoren
über psychisdie Energie, Libido und deren Meßbarkeit 4 1
für die unbewußten Prozesse verwertbar werden. Sie müssen nicht nur unter-
einander relativ meßbar sein, sondern sie müssen als universelles Maß für
Unbewußtes verwertbar werden. Wenn wir das Ziel erreichen wollen, Libido
zu messen, die an sich nicht wahrnehmbar ist, so müssen wir sie durch ihre
wahrnehmbaren Wirkungen, also in erster Linie durch die Bewußtseins-
vorgänge messen lernen.' Dieses Bedürfnis der Psychoanalyse trifft sich mit
dem in der Physik üblichen Begriff der Energiemessung. Mit jener relativen
Meßbarkeit des Psychischen ist nichts über die Meßbarkeit der Energien der
Person entschieden. Für diese ist nicht entscheidend, welchen Grad von mathe-
matischer Präzision die Messung des Psychischen erreicht haben mag. Fechner
hat hier durch seine Maßformel wesentliche Fortschritte ermöglicht. Es
schwebte ihm auch eine Art Energiemessung des Psychischen vor, etwa in
seiner sogenannten inneren Psychophysik. Aber infolge der Unentwickeltheit
der physikalischen Energietheorie mußte er selbst sich darüber unklar bleiben,
daß er ein relatives Maß gefunden hatte, während es nötig ist, das Psychische
mit den Maßen und in der Art zu messen, die für alle übrigen Energie-
vorgänge möglich ist, also mit einem universellen Maß. Die seelischen Vor-
gänge müssen in Kalorien (beziehungsweise einem beliebigen physikalischen
Maßsystem) ausdrückbar werden. Dies vermag die Fechnersche Psychophysik
prinzipiell nicht, wenngleich Fechner solches angestrebt haben mag. Be-
mühungen in dieser Richtung sind uns von Psychologen nach Fechner nicht
bekannt geworden. Doch fehlt es nicht an der gelegentlich geäußerten
Problemstellung.
Wie wir in Kapitel II zu zeigen versuchten, ist Fechners Fundamental-
formel einer energetischen Deutung zugänglich, und es wird demnach zu-
nächst zu untersuchen sein, ob nicht seine Maßformel durch die entsprechenden
Korrekturen theoretisch für die neue Aufgabe, Veränderungen personierter
Energie zu messen, verwertbar gemacht werden kann. Selbstverständlich
wird erst die Empirie endgültigen Entscheid bringen. Aber ihr muß eine
Vorarbeit geleistet werden, die in dem Versuch besteht, die vorliegende
Empirie, in der Fechnerschen Maßformel verdichtet, dahin zu prüfen, ob
sich auch energietheoretisch einwandfreiere Grundlagen für neue experi-
mentelle Untersuchungen ableiten lassen.
Es sei versucht, diese Diskussion an die vollständige Grundformel <8>
anzuknüpfen. Da unsere quantitativen B etrachtungen zunächst auf Wahr-
i) Ein anderer Weg wäre die Messung der „Ausdrucksbewegungen«; dies ist wohl
der praktisch aussichtsreichste, beruht aber auf Voraussetzungen, die erst durch die
in dieser Arbeit gegebene Grundlage diskutierbar werden.
4 2 Oicglried BernfeU und Sergci Feitelbere
nehmungen der Sinnesorgane beschränkt bleiben, genügt uns die Zerlegung
in Extensitäts- und Intensitätsfaktoren der Gleichung <3>, also
<3a) IdN+NdI=dE P = dE R
äEr wurde bereits im II. Kapitel als Funktion ihrer Intensität dargestellt, so
daß wir jetzt die Gleichung <3a> mit der Gleichung <4> kombinieren können
und erhalten : j r D
IdN+NdI = k^^-
Ir
Für die Wahrnehmung werden wir eine weitere Vereinfachung dieser
Formel vornehmen können. Die Änderungen der Struktur sind Funktionen
des Zentralapparates und folgen den Änderungen der psychischen Energie,
wenn nicht — wofür einige Überlegungen zu sprechen scheinen — die
Struktur auch noch von ganz anderen Einflüssen (Ernährung des Zentral-
apparates zum Beispiel) mit abhängig ist. Jedenfalls ist die Strukturierung
ein Prozeß, der im Verhältnis zu den Bewußtseinsprozessen langsam vor
sich geht, so daß man für kurze Zeiten — für die das Weber-Fechnersche
Gesetz gilt — IdN gegenüber Ndl vorläufig vernachlässigen kann. 1
Daher erhält man schließlich die Gleichung:
NdI=dE?
aus der sich die erwartete Korrektur der Fechnerschen psychophysischen
Grundformel in der Weise ergibt, daß
l • Ix
und weiter
N In
i) Die Herzensche Behauptung, daß Reize erst dann wahrgenommen werden, wenn
die Geschwindigkeit der Reizzufuhr g eine Grenze, ein Minimum übersteigt, gewinnt
von hier aus eine Stütze. Nimmt man nämlich an, daß die Struktur! erung ein Prozeß
gleicher Geschwindigkeit (~ = v^ sei, so muß dl, damit ein Bewußtseinsphänomen
der Energiezufuhr entspräche, eine bestimmte Größe haben, dl berechnet sich
._ dEp — IdN
dl =
N
Ist nun dN und dEp eine Funktion der Zeit, so wandelt sich diese Formel um in
6E P 6N
dl dt
da nun -j- = v sein soll, so ist dl> nur wenn ^?>I» ist.
Über psycaisdie Energie, Libido und deren Mef3karkcit 4->
oder indem wir abkürzend I R = p setzten
N p
ist Hier ist der konstante Faktor der Fechnerschen Formel in zwei Faktoren
aufgelöst von denen der eine vom Wahrnehmungsorgan selbst (in Anlehnung
an den Faktor RvT für Lösungen) und der andere N vom Zentralapparat
bedingt ist. Bevor wir diese Diskussion weiterführen, muß die genaue
Integration und die Bestimmung des Integrationsintervalls der Fechnerschen
Maßformel gegeben werden, die Fechner selbst, seinen anderen Voraus-
setzungen entsprechend, in einer energietheoretisch ungenügenden Weise
vorgenommen hat.
Fechners Maßformel lautet:
E = kf^ + C=klognatR + C
wobei E die Größe der Empfindung und R die Reizgröße bedeuten. Unsere
energetische Diskussion des Weber-Fechnerschen Gesetzes ermögheht uns
eine präzisere Bezeichnung der einzelnen Größen, so daß wir zum Aus-
gangspunkt für das Bemühen um eine universelle Maßformel die energetische
Gleichung für die personierte Energie nehmen können.
<9> E P =fdE P +C = kfJ + C = klognatp + C
Zur Eliminierung der Integrationskonstante schreiben wir als bestimmtes
Integral: ^
<io> E *T k f~£
p<
Die Notwendigkeit, die Integrationsgrenzen in Übereinstimmung mit der
Empirie einzusetzen, nötigen, eine in der Diskussion um das Weber-Fechnersche
Gesetz nicht immer beachtete Tatsache zu unterstreichen. Bewußtseins-
änderungen (dl) treten ein, wenn die Wirkungen der Außenwelt von einem
bestimmten „Normalzustand" abweichen (z. B. Luftdruck, Zimmertemperatur
werden in normalen Grenzen nicht wahrgenommen). Daher müssen wir der
unteren Grenze Pl einen bestimmten, ausgezeichneten Wert beilegen, nämlich
den Wert jeder „normalen" Außenweltsintensität. An diese „normalen Außen-
weltsintensitäten ist der Organismus (System Person) angepaßt, d. h. er wird
ihr die gleiche Intensität entgegensetzen. An diesem Punkt, der Pl ent-
spricht, finden keine Energieübertragungen statt. Soll eine Energieuber-
A4
SiegfrieJ BernfelJ unA Sergej Feüelterg
2T5f 3 T US ^^ iD d3S SySt6m PerS0D Überluu * t «-«finden, so
muH die Intensitatskomponente ihrer Energie p a>pi sei „. Es ergeben sich
ßZttn/ 1 T d W a \ In ; egrati ° DSgrenZen ' d6nen *■*■»» empirische
Bedeutung zukommt; schreiben wir daher die Außenweltsenergie, die dem
System Person zugeführt wird, als Funktion ihrer Intensität
E R =f(p)
dE R =f(p)dp
wobei diese Funktion sich eindeutig aus den Maschinenbedingungen des
Systems Person ergibt, dann ist gungen des
Pt
E p=Sf(?)dp
Die Regel zur Berechnung bestimmter Integrale ergibt zunächst:
Pt Pl
E *=$f(p)dp-$f(p)dp
woraus
folgt. E *=ßPsJ~f(pJ
Man wäre versucht, in diesem Ausdruck ff n ) fl« P i „
gleichzusetzen (die konstant ist da ia au ch / l "** ** ^
ur.f1 A* j- 7 „ . ' ]a auch /* einen konstanten Wert hat
und es ergäbe sich eine Bestimmung der Gleichun.
zu E P =f(E R ,Ec)
Ep = Er—E c
somit also auch der Konstante C der Gleichung <9>
C = ~E C
was eine neuerliche Bestätigung unserer Grundformel ist.
über psyAisAe Energie, Libido und deren Meßbarkeit
45
<1D
und
dl-
I
k dp
Np + P
p+v
dp
nJ ,
p + p
Diese Gleichung unterscheide, sich beträchtlich von der GWchm«, dte
Fechner abgeleite, und benutz« hat. Ihrer Form nach ,st s.e mch, neu.
Scnon DM ha, bei seinem Versuch, Fechners Gedankengange der
Empirie anzugleichen und die wichtigsten Widersprüche mtt der Erfahrung
zu beheben - nämlich das Problem der Reizschwelle das aus Fechners
Tuftteuungen Kaum zu beantworten war, und das Problem der negat.ven
Bedungen für unterschwellige Reize, das sich aus der Fechnerschen
ForLl ergab _ rein empirisch eine Formel aufgestellt, d.e gletche Gestalt
h , ^ e 1 unserigo, die aus <4> abgeleitet ist.- Es is, allgeme.n bekatxn«,
„„deren Wege gelangte in neuerer Zeit auch Lehmann
&**Slt3ÄÄ SL« -O— — Physiologisch.» «-»
Siegfried BernfelJ und Sergej Feitelterg
daß diese Gleichung die Tatbestände, die das Experiment liefert, am besten
wiedergibt, indem sie unter anderem besonders für kleine Reize Gültigkeit
hat, bei denen die Fechnersche Formel versagt.
Dies sei an einem Beispiel gezeigt. In dem Diagramm (Fig. 3) sind die
Werte der Gesamtreize als Abszissen und die der Reizzuwächse, die zum
Hervorrufen einer „eben merklichen Empfindung" notwendig sind als
Ordinalen abgetragen. 1 Die Kreuze (+) bezeichnen die empirisch gefundenen
Werte. Die punktierte Linie entspricht der Weber-Fechnerschen Formel
AI
T =a
wobei a als Mittelwert aus den einzelnen Wertepaaren gewonnen wurde
Diese punktierte Gerade entspricht also der Gleichung
Al=al
und muß durch den 0-Punkt des Koordinatensystems gehen, was bedeutet,
daß bei der Annäherung des Reizes an kleine Größen auch der Reizunter-
schied kleiner wird, und zwar so, daß mit dem Wert 1=0 auch Al=0
wird. Es mußte also rein mathematisch aus der Weber-Fechnerschen Formel
die Reizschwelle A x I=0 sein, was in Wirklichkeit aber nicht der Fall ist
Eine graphische Interpolation der Werte aus dem Diagramm ergibt wie
es aus der Figur deutlich wird, eine ganz andere (ausgezogene) Gerade', die
nicht durch den Ö-Punkt des Koordinatensystems geht, und die unserer
(jleichung
= a
P + V
entspricht, oder wenn wir statt p / einführen
AI
. = a
p + I
denn diese läßt sich umformen zu
AI=aI + ap
also zu einer Gleichung, in der AI für kleine Werte von / nicht mehr
nach 0, sondern nach dem Werte ap konvergiert. Aus der (ausgezogenen)
Geraden, die unserer Formel entspricht, läßt sich auch die Reizschwelle
bestimmen, und sie ergibt sich zu o 7 g, was mit der Erfahrung mit hin-
länglicher Genauigkeit übereinstimmt.
u^TrrmYrhieh 6 " 111 ^ aUfSteUte ' * *"* V «*"**«*« und Annäherungen
w Ü Di ? Werte Sind Höber entnommen, der sie anführt, um die Gültigkeit des
Weberschen Gesetzes in Frage zu stellen.
Uoer psyAisAe Energie, Libido und deren Meßbarkeit 47
Aus der Fechnerschen Maßformel ergibt sich für die Größe der Empfindung
die Gleichung E = klognatR
Es würden also aus der Gleichung, auch wenn sie so eingerichtet wäre,
daß sie bei il = der Reizschwelle einen positiven Wert hätte, negative
Empfindungen folgen müssen, die man sich in keiner Weise — psycho-
logisch oder physiologisch — vorstellen kann. Aus unserer Gleichung <12>
I=-z- T lognat{l + *-)
folgt jedoch nur, daß für p = keine Empfindungen eintreten. Allerdings
ist auch bei uns die Schwierigkeit — mathematisch — nicht aus dem Wege
geräumt, daß nicht jeder Reiz, also nicht jede Intensitätsänderung, nach der
Gleichung k dp
dI := ~TZ
Np + v
merklich ist. Für die Psychoanalyse bietet die Tatsache unbewußter Emp-
findungen aber keine Schwierigkeiten. Die Reizschwelle, als eine Größe der
Intensitätskomponente der Reizenergie, wird wohl in der Weise zu begreifen
sein, daß es diejenige Reizintensität ist, die notwendig ist, um im Zentral-
apparat diejenige Intensitätsänderung der personierten Energie (AI) zu er-
wirken, die groß genug ist, um „bewußtseinsfähig", also „merklich" —
bewußt — zu werden. 1
Es ist nun deutlich, weshalb das Weber-Fechnersche Gesetz für größere
Werte von R gut zu stimmen schien, während es bei den kleinen versagte.
Die Gleichung ^p
— i — = a
P + V
kann für große Werte von p die gegenüber p vernachlässigt werden dürfen,
auch zip
= a
P
geschrieben werden, für kleine Werte von p, die gegenüber von p nicht
vernachlässigbar sind, mußte diese Vereinfachung beträchtliche Fehler ergeben.
Die untere Gültigkeitsgrenze des Weber-Fechn ersehen Gesetzes scheint
uns durch dessen energetische Erweiterung aufgehoben. Es bliebe noch die
obere Grenze zu erwähnen.
1) Da bei p = unsere Gleichung in die Webersche übergeht, und so keine Er-
klärung für die Reizschwelle gibt, scheint p (das dem Energievorrat der Zelle ent-
stammt) diese Reizschwelle neben den Eigenschaften des Zentralapparates zu bedingen.
48 Siegfried BcrnfclJ und Sergci Feitelberg
Es ergibt sich als direkte Folgerung aus der osmotischen Vorstellung
über die Arbeitsweise der Sinnesorgane, daß bei hoher Konzentration der
intrazellularen Flüssigkeiten, wie sie durch großen Druck erzwungen werden,
die Clapeyronsche Zustandsgieichung nicht mehr gilt. Daher ist auch aus
unserer Ableitung eine obere Gültigkeitsgrenze für das Weber-Fechnersche
Gesetz deduzierbar.
Die gute Übereinstimmung, in der sich unsere theoretisch abgeleitete
Korrektur an der Fechnerschen Maßformel mit der Empirie befindet, be-
antwortet die oben gestellte Frage positiv: prinzipiell läßt sich aus der
Fechnerschen Maßformel eine physikalisch zulängliche Maßformel gewinnen,
so daß der Weg zur Auffindung einer universellen Maßeinheit der perso-
nierten Energie frei wäre. Die Fechnerschen Messungen konnten dieses Ziel
nicht erreichen, nicht nur weil sie energietheoretisch unklar waren, sondern
weil der Faktor k für jede Person, für jedes Sinnesorgan, ja für jede einzelne
Körperstelle verschieden ist. Ein Mangel, der "bei Fechner nicht korrigierbar
ist, weil dieses k bei Fechner für jede Maßeinheit bestimmend sein mußte.
Durch die hier versuchte Aufteilung des Faktors k in — einerseits und die
Möglichkeit statt der logarithmischen Intensitätsfunktion der dem System
Person zugeführten Außenweltsenergie diese selbst zu setzen andererseits, wird
diese Schwierigkeit überwindbar. Die personierte Energie wird durch die
Intensität (Empfindung) meßbar nach der Gleichung
, Br
N
Da nun nach Gleichung <3> dEp = dEn
ist auch 1=
N
Er, also entsprechend Ej>, kann in beliebigen Maßen der physikalischen
Energie ausgedrückt werden. Es bliebe eine Maßfestsetzung für / und N
zu entscheiden. Wollen wir von der Energieeinheit der Kalorie ausgehen,
die für uns den Vorteil hat, daß dabei die Rechnungen unverändert bleiben,
so können wir eine der beiden Einheiten für / oder AT beliebig wählen.
Es erscheint zweckmäßig, die Fechnersche Einheit der Empfindung, die dem
Werte der Intensität entspricht, der für das Bewußtwerden einer Empfindung
notwendig ist, beizubehalten. Dann wäre die Einheitsgröße von N zu
definieren: N hat in einem bestimmten Falle soviel Einheiten der Ex-
tensitätsgröße der personierten Energie (der Struktur) als Kalorien notwendig
über psychische Energie, Libido und deren Meßbarkeit
49
sind, um eine Empfindung J hervorzurufen. Ein bestimmter Zentralapparat
hat also dann die Struktur von der Größe /, wenn eine Kalorie in ihm
eine Intensitätserhöhung von der Größe / hervorruft.
Wenngleich über die praktische Brauchbarkeit dieses Maßsystems erst
die Empirie entscheiden wird, können wir das Verfahren selbst und seine
Fig. 4.
Identität mit physikalischen Energiemessungen an unserem Modell veran-
schaulichen. Die parallele Aufgabe am Modell wäre die Messung der Energie-
änderungen in der Kugel. Bekanntlich mißt man Wärme durch die Be-
stimmung der Temperatur. Die Wärmeenergieänderungen an der Kugel können
zunächst nur durch ein Thermometer sichtbar = meßbar gemacht werden.
Durch das Thermometer wird die Intensitätskomponente der Wärmeenergie
gemessen. Die zugeführte Energie selbst berechnet sich aus dem Produkt
aus dieser Intensitätskomponente — der Temperatur — und der zugehörigen
5° Siegfried Bernfcld und Scrgei Feiteltcrg
Extensitätskomponente, also der Wärmekapazität der Kugel. Da diese an dem
Modell einen konstanten Wert hat, der aus einem beliebigen Experiment
zu M bestimmt worden sei, so wird an unserem Modell eine Energiezufuhr
Er — in das System Zylinder-Kugel eine Intensitätsänderung — Temperatur-
steigerung T zur Folge haben, die sich zu
berechnen läßt.
Wir hätten an unserem Modell (Fig. 4), um den Vorgang der Messung
personierter Energie zu demonstrieren, an der Kugel ein Thermometer an-
zubringen. Das Thermometer entspräche als Indikator für Änderungen der
Intensität dem Bewußtsein. Die Kapazität der Kugel ist gleich der Struktur
und wird bestimmt, indem man eine bestimmte Energiemenge dem Zylinder
zuführt und die Temperaturänderung abliest. Wir sagen dann, die Kapazität
der Kugel sei M Einheiten, wenn M durch die Gleichung
*-#
T
definiert ist. Die Zahl, durch die M ausgedrückt wird (der Quotient aus
der Anzahl Einheiten von Er und der Anzahl Einheiten von T, die ihrer-
seits eine beliebige Bestimmung haben können: Erg, Kalorien, Watt usw.
beziehungsweise Fahrenheit, Celsius, R&mmur), ist von der Einheitssetzung
der beiden Größen Er und T bestimmt. Bei der physikalischen Bestim-
mung der Größen und der Einheit der Wärmeenergie wird der gleiche
Gedankengang befolgt, wie wir ihn bei der Maßeinheitendiskussion für die
personierte Energie durchgeführt haben. So wie Temperaturänderungen an
der Thermometerskala abgelesen werden, so werden die Intensitätsänderungen
der personierten Energie als bewußte Erlebnisse wahrgenommen (als Emp-
findungsänderungen); ihrer Größe nach entsprechen diese Änderungen —
nach den Maschinenbedingungen des Systemduals — den Energieänderungen
in den Zellen (Zylinder). Die Verschiebung der Quecksilbersäule des Thermo-
meters um einen Teilstrich entspricht einer bestimmten zugeführten Energie-
menge, die durch die Größe M bestimmt ist; ebenso ist jeder Bewußtseins-
sprung (AI) durch die Zufuhr einer bestimmten Energiemenge Er, die vom
Faktor N abhängig ist, bedingt; also durch diese beiden Größen universell
ausdrückbar. Bei der praktischen Messung wäre eine vorherige Bestimmung
des Faktors N nötig, indem die Energiemenge gemessen wird, die notwendig
ist, um eine kleinst merkliche Bewußtseinsänderung herbeizuführen. Diese
Energiemenge ist gleichzeitig per definitionem die Maßzahl für die Struktur.
XJter psydisdie Knergic, Limdo und deren Ale^linrkeit 5i
Es ist kaum anzunehmen, daß der Zentralapparat in seiner Gänze in
bezug auf die Kapazität homogen sei, vielmehr spricht alles dafür, die Zentren,
Schichten, Sphären, die die Neurologie abgegrenzt hat, als Gebiete von ver-
hältnismäßig selbständiger Kapazität anzunehmen. Wollten wir diese Vor-
stellung in unser Modell eintragen, so würde der Zentralapparat durch eine
Anzahl wärmeisolierter Kammern kompliziert werden, die am Thermometer-
bulbus kommunizieren (Fig. 4).
V) Personierte Energie und -Libido
Auch wenn unsere Aufstellungen über die personierte Energie sich be-
währen sollten, wäre damit doch zunächst für unser eigentliches Problem,
die Libidomessung, nichts entschieden. Was wir personierte Energie nennen,
entspricht dem Begriff Libido nicht, und es ist vorerst noch unklar, ob sich
die beiden, wenigstens teilweise, decken. Der Entscheid darüber ist aber
darum nicht ganz einfach, weil der Begriff Libido in der Psychoanalyse
selbst nicht eindeutig festgelegt ist. Mit Libido wird einmal das Verhalten
des Systems Person, ein andermal die Energie oder auch die Triebkraft
bezeichnet, die dieses Verhalten leistet. In der ersten Bedeutung meinen
wir zum Beispiel unter oraler Libido historisch, phylo- und ontogenetisch
entstandene Bedürfnisse der oralen Körperzone, die durch historisch ent-
wickelte Mittel direkt oder entstellt befriedigt werden. In der zweiten
Bedeutung wäre orale Libido der „Spannungszustand" in der Mundzone
oder im psychischen Apparat, der als Bedürfnis erlebt wird, und zugleich
die Triebkraft, die zu Arbeitsleistungen drängt, um diesen Spannungs-
zustand aufzuheben; oder auch die Summe der Kräfte, die bei diesem
Befriedigungsbemühen aufgewendet werden. In der ersten Bedeutung ist
Libido mit der personierten Energie nicht vergleichbar; denn alles historisch
entstandene Verhalten entzieht sich vorläufig noch völlig der energetischen
Betrachtung. In der zweiten Bedeutung fehlt den Begriffen Triebkraft,
Arbeit, Spannung die Präzision, die eine energetische Diskussion nicht
entbehren kann.
Doch hat Freud in dem Begriff der „freien Energie" und ihrer Beziehung
zu Trieb und Lust eine Vorstellung ausgebildet, die eine Einreihung der
Libido in die Energien des Systems Person ermöglicht. Die Freudsche Vor-
stellung erklärt Libidoregungen als Spannungszustände im Körper, die durch
Ansammlung eines Quantums von Energie entstehen, das er die „freie
Energie" nennt. Der Spannungszustand wird als Unlust erlebt und drängt
^2 Siegfried Bernfcld und Serge! FcitelLerg
dahin, in irgendeiner geeigneten Weise das übergroße Quantum freier Energie
zu vermindern. Die freie Energie will in gebundene übergeführt werden.
Die Weise, in der unter gegebenen Bedingungen die Verringerung des
freien Energiequantums möglich ist, wird durch eine ganze Reihe historisch
gewordener Triebziele, Ich- und Über-Ich-Anforderungen bestimmt. Ebenso
sind die Körperzonen, an denen sich freie Energie bildet, zum Teil durch
die individuelle Lebensgeschichte bestimmt, zum anderen Teil biologisch,
d. h. phylogenetisch geworden. Die allgemeinste Arbeitsweise des psychischen
Apparates ist durch eine deutliche Richtung der Abläufe charakterisiert:
die immer wieder entstehenden Mengen freier Energie in historisch ge-
wordenen Bahnen zu verringern (Freuds Lust- Unlust-Prinzip, im Sinne des
Fechnerschen Stabilitätsprinzips). Die psychischen Abläufe haben ein Gefälle
von Zuständen hoher „Spannung" zu solchen niedriger. Sie folgen dem
„Todestrieb". Ihre Ablaufsbahn ist historisch bestimmt; die „Todesbahn"
wird durch den Lebenstrieb gesichert. Diese Vorstellung bewährt sich aber
nicht allein für die psychischen Abläufe, sondern, wie Ehrenberg zeigt,
für die Lebensvorgänge überhaupt, die nach ihm unter dem Gesetz des
Todes stehen, d. h. eine Richtung auf Ausgleich ihrer Intensitätsdifferenzen
haben.
Der Begriff der freien Energie erfaßt innerhalb des Bereiches der Libido die
allgemeinen Gesetzlichkeiten und Richtungen, abgesehen von dem historisch
Entstandenen. Er bietet daher diejenige Fassung des Begriffes Libido, die
allein für unsere Betrachtungsweise verwendbar ist. Es handelt sich bei
ihm um Energiemengen, die im System Person entstehen und von ihm
bewältigt werden müssen. Als Entstehungsstätte sind, ungenau und vor-
läufig gesprochen, die Zellen anzusehen. Die „freie Energie" wirkt als
innerer Reiz (Trieb), der zur Bewältigung — d. h. zur Verringerung —
drängt. Sie ist das Gegenstück zur Wahrnehmung, bei der Umweltsenergien
in das System Person eindringen und als Reize von ihm bewältigt werden,
indem die Intensitätsdifferenz ausgeglichen wird, wie auf S. 74 dargestellt
wurde. Wir haben uns bisher mit Erscheinungen beschäftigt, bei denen die
Änderungen der Zellenenergien vernachlässigbar waren ; beim Problem der
Libido haben wir es offenbar mit Energieänderungen in den Zellen und
mit deren Schicksal zu tun, wobei wir die Umweltsenergien, die Reize,
vorerst vernachlässigen können, obzwar auch sie de facto bei den libidi-
nösen Umsetzungen eine Rolle spielen.
Die Freudsche Vorstellung von freier Energie kommt sowohl begrifflich,
als auch in der Funktion, die ihr Freud zuschreibt, der physikalischen Be-
über psyAisdie Energie, Libido und deren Meßbarkeit 53
griffsbildung außerordentlich nahe. Ein Zitat aus Helmholtz [//, S. 401 ff.]
möge dies belegen:
„1) Jedem (chemischen) Körper oder System von Körpern kommt ein be-
stimmtes Quantum von freier ,Energie zu, welches nur von der Temperatur
und seinem augenblicklichen Zustand (z. B. Aggregatzustand) abhängt, nicht aber
von dem Wege, auf welchem dieser Zustand erreicht wurde.
Davon zu unterscheiden ist die , Gesamtenergie , welche außer der ,freien'
Energie noch das Äquivalent der im Körper enthaltenen umwandelbaren Wärme
umfaßt.
2) Die Arbeit, welche durch irgendeine isotherme Zustandsänderung (z. B.
chemischen Prozeß, Lösung, Aggregatsänderung, Änderung der Kapillarfläche)
in maximo geleistet werden kann, ist zu messen durch die eintretende Abnahme
der freien Energie; während die Differenz der Gesamtenergie das Maximum
der möglichen Wärmeabgabe angibt.
Die freie Energie spielt daher für chemische Systeme dieselbe
Rolle, wie die potentielle Energie für mechanische.
5) Demgemäß ist ein chemisches System nur dann in stabilem Gleich-
gewicht, wenn seine freie Energie den kleinsten bei der herrschenden Tem-
peratur möglichen Wert angenommen hat. '
In psychologische Begriffe übersetzt: Die freie Energie, die im Körper
produziert wird, gibt den inneren Antrieb auch bei unveränderter Umwelt,
spontane Handlungen, Triebhandlungen zu vollführen; sie ist zugleich der
Energie vorrat, mit dem diese „Arbeit geleistet wird und das innere Ziel
der Arbeit ist der Aufbrauch der freien Energie. Das Wesen des Triebes
oder einer libidinösen Strebung ist damit, vom historischen Charakter der
Befriedigungsmittel abgesehen, vollständig bezeichnet.
Es wird sich also wohl lohnen, den Freudschen Begriff der freien Energie
zu diskutieren, da offenbar Freud in ihm eine jener Eigenschaften des
Systems Person erkannt hat, die auch allen anderen Systemen in der Natur
zukommt.
Wir haben bisher die Zufuhr von Energie aus der Außenwelt in das
System Person studiert und haben gesehen, daß die zugeführte Energie,
den Maschinenbedingungen entsprechend, die Energie des Zentralapparates
erhöht. Bei der freien Energie handelt es sich um Energieänderungen
innerhalb des Systems Person, wobei nicht aus der Außenwelt, sondern aus
dem System Zelle dem Zentralapparat Energie zugeführt wird. Eine Zufuhr
ist aber nur möglich, — wie wir bei der Zufuhr von Energien aus der
1) Die freie Energie nach Helmholtz, die bei isothermen Prozessen das isotherme
Potential des Systems genannt wird, bezeichnet übrigens Le Chatelier [fa, S. 290 f.]
geradezu als „Triebenergie" (puissancr matrice).
54 Siegfried Bernfeld und Oergei Feitelberg
Außenwelt betont haben, — wenn eine Intensitätsdifferenz zwischen den
beteiligten Systemen besteht, in unserem Fall zwischen den Systemen Zelle
und Zentralapparat. An diese Intensitätsdifferenz ist die Möglichkeit eines
Energieaustausches zwischen den Zellen und dem Zentralapparat gebunden.
Es bewährt sich hier neuerlich die Vorstellung vom System Person als einem
Systemdual, ja die Möglichkeit, Libido energetisch zu erfassen, scheint ganz
an diese Vorstellung gebunden, indem nur eine Intensitätsdifferenz zwischen
zwei realen Systemen, die relativ voneinander abgeschlossen, aber dennoch
völlig voneinander abhängig sind, Energiebewegungen von der Art vorstellbar
macht, die der psychoanalytische Begriff Libido voraussetzt. Der Versuch,
biopsychische Abläufe energetisch zu verstehen, hat schon mehrfach die
Analogie mit der Potential differenz hervorgerufen. Dieser Ausdruck bleibt
aber so lange eine vage Analogie, als man nicht die Energieträger angeben kann,
[zwischen denen diese Potentialdifferenz besteht. Die „psychische Energie" kann
keine Potentialdifferenz haben, sondern diese besteht zwischen dem System
Zelle und dem System Zentralapparat innerhalb des Systems Person.
In unserem Modell wurde die nötige Potentialdifferenz zwischen Zylinder
und Kugel durch die beiden Bedingungen gesetzt, daß der Zylinder isotherm
erhalten werden müsse und die Kugel eine geringere Temperatur als der
Zylinder habe. Bei Festhaltung dieser Bedingungen (wobei für die Modell-
vorstellung gleichgültig ist, durch welche Maschineneinrichtungen der auto-
nome Temperaturausgleich verhindert wird) wird das Modell auch zur Ver-
anschaulichung des energetischen Libidoproblems tauglich. Das Modell besitzt
eine freie Energie, die durch die Temperaturdifferenz bestimmt wird. Diese
freie Energie bestimmt ihrerseits seine Fähigkeit, Arbeit nach der Außen-
welt zu leisten.
Durch eine beliebig gedachte Entstehung einer Menge freier Energie
im Zylinder unseres Modells — die wir etwa mit der Produktion von Sexual-
stoffen in den Zellen vergleichen können — sind zwei prinzipiell verschiedene
Verhalten des Systemduals — Zylinder und Kugel — möglich. Diese freie
Energie (z. B. Erhöhung der Gasspannung und der Lösungstension) kann
erstens durch eine Arbeitsleistung in der Außenwelt aus dem System Modell
entfernt werden; ist dies durch irgendwelche Bedingungen unmöglich ge-
macht, so würde sich zweitens die Temperatur des Zylinders, infolgedessen
auch die Temperaturdifferenz zwischen Kugel und Zylinder, erhöhen, also
die freie Energie des Systems sich vergrößern. Das ist aber durch die
Maschinenbedingungen, nach denen die Temperatur des Zylinders konstant
bleiben muß, verhindert, die Energiemenge (Wärme), die im Zylinder als
Über psyAIscLe Energie, Libido und deren Meßbarkeit
55
freie Energie des Systemduals entstanden ist, wird daher an die Kugel ab-
geführt und deren Temperatur entsprechend erhöht, die Temperaturdifferenz
zwischen Kugel und Zylinder, somit anch die freie Energie des Systems
verringert.
Diese Vorgänge passen sehr gut zu der Freudschen Vorstellung von der
freien Energie und ihrer Funktion; so gut, daß man zu sagen versucht ist:
hätte unser Modell ein Bewußtsein, so müßte es jede Erhöhung seiner freien
Energie als unlustvollen inneren Drang erleben, der es zu verschiedenen
Tätigkeiten treibt und die Verringerung der Potentialdifferenz, die es zur
Ruhe bringt, müßte es als lustvolle Befriedigung erleben.
Danach ist wohl die Beziehung zwischen der personierten Energie und
der Libido — als der freien Energie des Systems — so darstellbar: die |
personierte Energie umfaßt die Energie des Zentralapparats (von der allein
bei den Wahrnehmungsvorgängen die Rede war) und die Energie, die durch
die Potentialdifferenz zwischen Zellensystem und Zentralapparat bestimmt
ist. Diese Potentialdifferenz wollen wir das Potential des Systems Person
nennen. Für die Energietheorie, die von allen historisch gewordenen Maschinen-
bedingungen, Befriedigungsmitteln usw. absieht, die also vorerst den dynami-
schen Begriff der Libido und ihre strukturelle Bedeutung vernachlässigt, ist
Libido als Energiegröße gleich dem Potential der Person.
Es verdient nachdrücklich betont zu werden, daß die Libido Ausdruck
der Beziehung zwischen den zwei Systemen innerhalb der Person ist. Die
gleiche Libidospannung kann daher grundsätzlich das Resultat von entgegen-
gerichteten Vorgängen in jedem der beiden Systeme sein, indem einerseits
die Intensität in den Zellen sich steigert, oder anderseits im Zentralapparat
Intensitätsverringerungen geschehen. Wie dieses Letztere — ohne daß dem
Zentralapparat Energie entzogen wird — durch Strukturierung geschehen
kann, ist im Kapitel III besprochen worden. Daß das Potential, also die
Libido, von zwei Größen abhängig ist, wird für die theoretische Psycho-
logie auch darum belangvoll, weil es unsere Erörterungen und die Libido-
theorie unabhängig macht von der bisher geläufigen Anschauung über die
Entstehung der freien Energie in den Zellen. Die Psychoanalyse hat diese
Auffassung zwar nicht dogmatisch entwickelt, doch liegt sie sehr nahe,
und insbesondere bei dem Bemühen, den Anschluß an die Biologie zu ge-
winnen, drängen sich Vorstellungen, wie die von den Sexualstoffen auf, denen
die Produktion der freien Energie im Körper zugeschrieben wird. Diese Auf-
fassung hat aber nicht unbeträchtliche Schwierigkeiten und es ist ein Vorteil,
die Libidolehre von ihr unabhängig zu wissen. Trotzdem bleibt natürlich
5b Siegfried Bernfeld und Serge! Feitelberg
die Libido ein Innenreiz, nur daß als seine Entstehungsstätte nicht mehr
das Zellensystem allein angenommen werden muß. Libido wird bei allen
^Vorgängen gebildet, die die Potentialdifferenz vergrößern.
vi) Entropie
So oft wir unser Modell zur Veranschaulichung der Energievorgänge in
der Person heranzogen, wurde die personierte Energie mit der Wärme ver-
glichen. Dieser Vergleich führt tatsächlich eine Strecke lang zum Verständnis.
Mehrfach schon hat den Psychologen (z. B. Heymanns) die Ähnlichkeit zwischen
dem Verhalten der Wärme und der „psychischen Energie" imponiert. Ehe
wir die auffallenden tatsächlichen Übereinstimmungen weiter verfolgen, sei
ausdrücklich bemerkt, daß wir uns, so interessante naturphilosophische Er-
wägungen auch aus dieser Ähnlichkeit folgen mögen, die Vermutung einer
Identität so lange streng versagen müssen, als nicht zwingende empirische
Befunde solche Annahme notwendig machen. Obgleich auch in unserem
Modell der Energietransport zum Zentralapparat, die Personierung, vermittels
der Wärmeenergie gedacht wurde, sei betont, daß die Isothermität des
Körperplasmas in keiner Weise der Vorstellung bedarf, der Energietransport
zum Zentralapparat geschehe als Wärme. Diese Energieverschiebung kann
vermittels zahlreicher Einrichtungen durch ganz andere Energieformen ge-
schehen, ebenso wie die Potentialdifferenz die Intensitätsdifferenz eben dieser
verschiedenen Energien sein kann, und nicht von einer Energieform ver-
anlaßt sein muß, schon gar nicht Temperatur di ff erenz sein müßte. Bei den
elektrolytischen Eigenschaften des Plasmas ist es nicht unwahrscheinlich,
daß diese Energie Elektrizität ist, wofür die elektrischen Erscheinungen,
die der Physiologie bekannt sind (Ruhestrom zum Beispiel), zu sprechen
scheinen. Für die Meßbarkeit der personierten Energie und des Potentials
spielt diese Frage keine entscheidende Rolle; ebenso für den Begriff der
personierten Energie, der den Energieformen gegenüber neutral ist. 1
Die auffallendste Ähnlichkeit des Psychischen mit der Wärme hat man
im Entropiegesetz sehen wollen. Nach der Freudschen Vorstellung, die
bekanntlich Fechner vorbereitet hat und die übrigens Psychologen und
Philosophen, die der Psychoanalyse fernstehen, gleichfalls vertreten, ist das
Grundgesetz, oder doch die wesentliche Tendenz des Psychischen, die
Richtung auf H erabminderung des Intensitätsgefälles, die Tendenz zur
1) Unsere EinheitsfestseUung- in Kalorien für E P präjudiziell gleichfalls nichts
in dieser Frage.
Ulier psycnisdie Energie, Libido und deren Mcljburlccit öy
Stabilität (Ruhe, Tod, Nirwana) oder in der präziseren Freudschen Fassung
zur Bindung aller freien Energie. Das wäre in unserer Betrachtung die
Richtung zur Verminderung des Gefälles zwischen den beiden Systemen
des Systemduals, d. h. zur Verringerung des Potentials (Libido).
Das einzige Gesetz in der Lehre von der unbelebten Natur, das über
die Richtung der Naturabläufe ganz Allgemeingültiges aussagt, ist das
sogenannte Entropiegesetz. Es ist in den zitierten Worten von Helmholtz
implicite enthalten; von Boltzmann wurde es so formuliert, daß die Natur
aus einem unwahrscheinlicheren Zustand zu einem wahrscheinlicheren strebt.
Dieser wird folgend beschrieben: „Der wahrscheinlichere Zustand in einem
sich selbst überlassenen abgeschlossenen System ist der der völligen Un-
ordnung, in welcher alle irgendwie gerichteten Zustände, Temperatur-, Druck-,
Konzentrationsgefälle, fehlen. Es ist jener Zustand, in welchem jede Energie-
verdichtung an einer Raumstelle fehlt, in welchem eine vollkommen gleich-
mäßige Verteilung stattfindet." Als Maß dieses Zustandes wird in der Physik
eine Größe gebraucht, die als Entropie bezeichnet wird und für die Boltz-
mann die quantitative Beziehung zur Wahrscheinlichkeit des Systemzustandes
als S=lognatW x ableitet.
Diese Fassung hat für unsere Zwecke — da wir die personierte Energie
nicht mit Wärme identifizieren — einen Vorteil gegenüber der gebräuch-
lichen thermodynamischen Definition der Entropie. Sie sagt allgemein aus,
daß in einem abgeschlossenen System alle Abläufe so gerichtet sind, daß
durch sie die Summe aller Intensitätsdifferenzen im System verringert, die
Entropie vergrößert wird. Ist ein System nicht geschlossen, so gelingt
der Ausgleich der Intensitätsdifferenzen — die Vergrößerung der Entropie —
nicht, weil von außen immer neue Intensitäten zugeführt werden. Aber
die vom System inaugurierten Prozesse — Widerstand und Anpassung —
haben die Tendenz zur Entropievermehrung, zur Stabilität.
Die Freudsche Konzeption einer freien Energie, beziehungsweise des Stabili-
tätsprinzips gewinnt von hier aus in hohem Grade Wahrscheinlichkeit. Sie ist
die Anwendung des allgemeinen Richtungsgesetzes (Entropie) auf den Spezial-
fall des Biopsychischen. Dementsprechend ist auch die Freud-Fechnersche
Zuordnung des Lusterlebnisses zur Abnahme der freien Energie und des
Unlusterlebnisses zu ihrer Zunahme, so sehr auch diese Annahme dem
bewußten Erleben selbst zu widersprechen scheint, naturwissenschaftlich voll
gerechtfertigt. Vor der experimentellen Bestätigung dieser Zuordnung — die uns
1) Wo S die Entropie und W die Wahrscheinlichkeit bedeuten.
~° Siegfried Bernfeld und Sergei Feitelterg
prinzipiell möglich scheint — ist die Freudsche Lusttheorie freilich nicht end-
gültig beweisbar. Aber der Organismus steht ja offenkundig nicht im Kampf
gegen die Naturgesetze, die sein eigenes Plasma und seine eigene Organisation
beherrschen, sondern er ist gewissermaßen der Exekutor dieser Gesetze und seine
sämtlichen Einrichtungen, die ja der Selbsterhaltung dienen, können nichts
anderes sein, als Sicherungen dafür, daß die Naturgesetze im Sinne dieser
seiner Selbsterhaltung ablaufen. Es wäre demnach höchst unwahrscheinlich,
daß das bewußte Erlebnis Lust, welches das Verhalten des Organismus in
die Richtung: Gewährenlassen, Zuwendung, Bejahung eines Reizes oder Vor-
ganges lenkt, der Richtung entgegengesetzt sein sollte, die alle physikalisch-
chemischen Vorgänge im Organismus nach dem Entropiegesetz nehmen müssen.
Die Vorstellung, daß der Organismus sich in dem aussichtslosen Titanenkampf
gegen die Naturkräfte in seinem eigenen Körper aufzehrt, mag philosophisch
reizvoll sein; nicht eine einzige Tatsache spricht für sie. Das Lust-Unlust-
prinzip, als das einzige Richtungsprinzip von allgemeiner organischer Gültig-
keit, wird wohl am ehesten die Repräsentanz des einzigen physikalischen
Richtungsgesetzes, des Entropiegesetzes, auf der Systemhöhe Person sein. Wenn
das Bewußtsein Intensitätsänderungen der personierten Energie als Qualitäten
erlebt, so wäre die Qualität Lust- Unlust speziell das Erlebnis von Potential-
änderungen. Diese Qualität reguliert das bewußte Handeln der Person im
Sinne der Entropiegesetzlichkeit, welche die unbewußten Abläufe richtet.
Der Entropiesatz, in Boltzmanns Formulierung, dessen Anwendbarkeit
auf das Psychische wir uns hier wahrscheinlich zu machen bemühen, gibt
an, daß die freien Energien eines Systems bei allen Abläufen verringert,
d. h. in gebundene übergeführt werden. Als gebundene Energie eines Systems
wird der Energiebetrag bezeichnet, dessen Intensität kleiner ist als die Intensi-
täten derselben Energieart in anderen Teilen des Systems, d. h. gebundene
Energie ist diejenige Energie, welche nicht mehr verschoben werden, die
keine Arbeit leisten kann.
Es ergibt sich daraus im Rahmen unserer Auffassungen, daß das Potential —
die freie Energie des Systems Person — in der Weise gebunden werden
kann, daß es in personierte Energie im Zentralapparat verwandelt wird.
Diese Energiebindung im Zentralapparat ist zu einem Anteil identisch mit
der Strukturierung, die S. 92 beschrieben wurde. Die Strukturierung ist
im strengen physikalischen Sinn ein irreversibler Prozeß, so wie sie unpräziser
schon immer als dauernde Veränderung (Gedächtnisspur usw.) gedacht wurde.
Selbstverständlich können die Gedächtnisspuren sowohl zerstört als auch neu
belebt werden, zu Beidem bedarf es aber eines neuerlichen Energieaufwandes.
Uter psyAtsdic Energie, Lil>iJo und deren Meßbarkeit 5q
Zu der oft gestellten Frage, ob die „psychische Energie" irreversibel sei,
möchten wir die Vermutung wagen, daß nicht nur die Strukturierung ein —
bei Bestehen der Lebensbedingungen, bei der Intaktheit der Maschinenein-
richtungen des Systems Person — irreversibler Prozeß ist, sondern daß die
gesamte, dem Zentralapparat zugeführte Energie irreversibel gebunden wird.
In dieser Vermutung bestärkt uns die Stimme des Biologen Ehrenberg,
der die Lebensabläufe in der Zelle auffaßt als gerichtet auf vermehrte
Strukturierung, insbesondere am Kern, und diese Strukturierung als irre-
versiblen Prozeß im physikalischen Sinn meint, ja als „Ziel" des Lebens,
mit Freud übereinstimmend, aufstellt.
Ob die freie Energie nur durch Personierung gebunden werden kann, oder
ob eine Bindung in den Zellen, etwa durch entsprechende Struktur ierungs-
vorgänge möglich ist, braucht für unsere Aufgabe so wenig entschieden zu
werden, wie die Frage, ob alle Personierungsvorgänge zu irreversibler Bindung
führen. Jedenfalls muß der bedeutsamste Anteil der libidinösen Prozesse durch
Personierung und Strukturierung charakterisiert sein, da ja von den libidi-
nösen Erregungen Niederschläge verschiedener Art, also Strukturierungen
im Zentralapparat, bestehen bleiben. Wie die Psychoanalyse lehrt, gilt dies
nicht nur für die bewußten, sondern auch für die Ubw -Vorgänge libidinöser
Natur. Diese Erwägung läßt die freilich fremdartige Behauptung als höchst
wahrscheinlich erscheinen: innerhalb des Systemduals verläuft die Energie-
bewegung, mindestens zu ihrem wesentlichen Anteil, in der einen Richtung
nach dem Zentralapparat. Diese Auffassung, die für die Frage der Meßbarkeit
der Libido größte Wichtigkeit hat, scheint durch zwei einfache Einwände
widerlegbar. Erstens ist unser bewußtes Erleben erfüllt von Impulsen, die
nach der Außenwelt drängen; zweitens kennt die Neurologie sicher genug
die Funktion zentrifugaler Bahnen, die zweifelsfrei Impulse aus dem Zentral-
apparat nach dem Zellensystem (Muskel) leiten. Die erlebten Impulse nach
der Außenwelt zu, haben nun mit der Richtung der Energieverschiebung
nichts zu tun, denn hier handelt es sich um Ziele, Wünsche, Intentionen
der Person nach der Außenwelt zu. Sie sind zwar von Intensitätsänderungen
der personierten Energie bedingt, aber nichts spricht dafür, daß wir in einer
der Bewußtseinsqualitäten die Richtung der Energiebewegung bewußt erleben,
denn als Bewußtseinsqualität (Lust- Unlust) werden zwar Potentialänderungen
erlebt, d. h. die Richtung auf Entropievergrößerung oder -Verringerung, nicht
aber die Wegrichtung zwischen den Systemen Zelle und Zentralapparat.
Der neurologische Einwand ist ähnlich entkräftbar. Denn die Nerven-
erregung, oder in welcher Weise sonst man sich den Transport des bewußten
6o
Siegfried BernfeU und Sergej Feitelberg
Impulses vorstellen mag, wird gewöhnlich nicht als Energie im physikali-
schen Sinn gedacht. Aber auch auf der Ebene des physikalischen Energie-
begriffes liegt hier kein Widerspruch gegen uns vor, denn die Richtung
der Energieübertragung muß keineswegs die gleiche sein, wie die durch
ihre Wirkung ausgelösten Erscheinungen. Ein einfaches Beispiel in An-
lehnung an unser Modell mag dies demonstrieren: Fig. 5 zeigt als schwarze
Encrgte
o
F'g-5
Kugel einen kalten Körper, dem ein weißglühender Draht, an dessen Ende
als Wärmespeicher eine weißglühende Kugel dient, angenähert wird. Bei
Berührung findet eine Energieübertragung von der weißglühenden zur kalten
Kugel statt, während die Abkühlung, als Erlöschen des Drahtes, in entgegen-
gesetzter Richtung sichtbar wird. Bei den komplizierten Maschinenbedingun-
gen des Zentralapparates macht es keine Schwierigkeit sich vorzustellen daß
mit dem zentripetalen Transport der personierten Energie sich zentrifugale
sekundäre Effekte, z. B. Muskelkontraktionen, einstellen.
Energie
=K>=
Imfiu / s
Fig. 6
Dementsprechend ist der bekannte Reflexbogen kein Einwand gegen die
von uns angenommene einheitliche Richtung der Energieverschiebung bei
der Personierung nach dem Zentralapparat. Fig. 6 veranschaulicht diese
Auffassung. 1
1) Herrn Prof. Schilf, Berlin, verdanken wir die freundliche mündliche Mitteilung
daß die heutige Nervenphysiologie Fakten, die diese Auffassung widerlegen, nicht
beizubringen hat.
Über psyAisdie Energie, Libido und deren Meßbarkeit Di
VII) Über die Meßbarkeit der Libido
Falls die in den voranstehenden Kapiteln gegebenen Erörterungen im
wesentlichen richtig sind, dann scheint uns die Frage nach der Meßbarkeit
der Libido grundsätzlich, d. h. theoretisch positiv beantwortbar. In diesem
Fall nämlich gibt es quantitative Zusammenhänge zwischen den Bewußtseins-
vorgängen, den Intensitäten im Zentralapparat, und den libidinösen Prozessen,
dem Potential der Person; quantitative Abhängigkeiten, die durch die Inten-
sitätsänderungen als Indikatoren ausdrückbar sind. Über die Wege und die
Schwierigkeiten, ja selbst über die Bedeutsamkeit einer praktischen Libido-
metrie ist damit nichts ausgesagt. Freilich wäre es sonderbar, daß der Weg von
theoretischer Einsicht zu praktischer Ausnützung im Psychischen allein durch
praktische Schwierigkeiten dauernd verlegt sein sollte. Es wird also für die
Beurteilung der theoretischen Möglichkeit der Libidomessung alles davon
abhängen, inwieweit unsere Erörterungen haltlose Spekulation sind oder auf
gesicherten Annahmen und Kenntnissen beruhen. Ein Entscheid darüber
ist natürlich endgültig überhaupt noch nicht und von uns am wenigsten
fällbar. Doch sei, ehe wir hypothetisch die Meßbarkeit der Libido annehmen,
um aus dieser angenommenen Möglichkeit den Ansatz zu Maßformeln zu
entwickeln, eine Prüfung der Voraussetzungen unserer Diskussion versucht.
Die Grundvoraussetzung, daß das Psychische universellen Naturgesetzen
ohne Einschränkung unterworfen ist, bedarf einer Diskussion nicht. Zwar
ist diese Grundvoraussetzung mannigfaltigen, schwersten erkenntnistheoreti-
schen Bedenken ausgesetzt, aber sie ist für die naturwissenschaftlich gerichtete
Forschung Axiom. Nur die Forschung selbst kann entscheiden, ob sie mit
diesem Axiom auf einem bestimmten Gebiet zu Besultaten gelangt und
wird sich nicht von erkenntnistheoretischen Bedenken hemmen lassen dürfen,
den Versuch immer aufs neue zu wagen; gelang der Versuch nach dem Urteil
der Forschung, so hat die Erkenntnistheorie sich danach zu richten und
ein Problem mehr zu bewältigen. „Ihre eigene wissenschaftsgeschichtliche
Position wird die Psychoanalyse daher nicht durch Anlehnung an gangbare
Denkformen und Voraussetzungen erringen können, sondern nur dadurch,
daß auch in ihrem Schulbegriff ein Impuls zum radikalen Umdenken der
Erkenntnisidee deutlich betont wird." (Grünberg.)
Aus dieser Grundvoraussetzung folgt die Forschungseinstellung, gewiß nicht
die einzig notwendige, aber eine mögliche und vielfach bewährte, alle
Vorgänge, auch psychische, als Arbeitsleistungen (von Energien) zu verstehen,
und soweit von ihren Qualitäten abzusehen. In dieser Zeitschrift darf
Siegfried Bernfeld und Sergei Feitelberg
auch diese Voraussetzung undiskutiert bleiben. Wir gehen allerdings einen
Schritt weiter, indem wir die Qualitäten als nichts anderes erklären, denn
als erlebte Energiequantität — dialektisch gesprochen als Umschlag der
Quantität in die Qualität — dies sei aber zunächst als kontroverse philosophische
Ansicht gemeint und hat keinerlei Belang für die Beurteilung der Besultate
unserer Arbeit.
Grundlegend wichtig scheint uns die Hypothese vom Systemdual. Sie
scheint uns nichts zu enthalten, was durch biologische Tatsachen wider-
legt würde. Da sie eine einfache umfassende Deutung des Weber-Fechnerschen
Gesetzes ermöglicht; da von ihr aus jene Korrekturen der Fechnerschen
Formel durch theoretische Ableitung sich ergeben, die bisher als bloß
empirisch gefundene Formulierung des Sachverhalts bekannt waren; da sie
eine Reihe von Tatbeständen, die durch die psychoanalytische Empirie
gesichert sind, die in der psychoanalytischen Theorie eine wesentliche Rolle
spielen, präziser zu erfassen erlaubt, und da sie schließlich physikalisch
einwandfrei konstruierbar ist, so scheinen Konsequenzen, die aus ihr gezogen
sind, solange nicht die Biologie ihre Unmöglichkeit erwiesen hat, einen
genügenden Grad von Wahrscheinlichkeit zu haben, um die Befassung mit
ihnen zu lohnen. Die von uns vorausgesetzte Identität der Sinnesorgane mit
dem osmotischen Modell, was die für unsere Zusammenhänge wesentlichen
Fakten angeht, wird von einem beachtlichen Teil der Biologen und Physio-
logen als gesichert angesehen. Die für unsere Ableitung wichtige Beziehung
Er=/(Ir) läßt sich empirisch prüfen, so daß eine theoretische Diskussion
erübrigt. Ein negatives Ergebnis bezöge sich auf die Deutung des Weber-
Fechnerschen Gesetzes, berührte aber kaum die für die Libidomessung
entscheidenden Gesichtspunkte.
Die Irreversibilität der bedeutsamen (wahrscheinlich aller) Anteile der
personierten Energie, auf der tatsächlich unsere Vermutung der Meßbarkeit
der Libido als heute bereits spruchreifes Problem beruht, ist bloß Annahme.
Freilich eine, die im Rahmen der Grundvoraussetzungen nahe genug liegt,
die aber in keiner Weise als gesichert gelten kann. Dennoch erscheint sie
uns als unerläßliche Arbeitshypothese, da es einen anderen Weg, die Irre-
versibilität zu erweisen, kaum gibt, als den der Libidomessung.
Weitere Annahmen sind in unserer Arbeit nicht enthalten oder beziehen
sich auf Nebenwege.
Die neuen Termini : Struktur, Potential, Intensität und personierte Energie
ergeben sich ganz und gar aus der energietheoretischen Grundlage. Eine
Übersicht über sie ist wohl erwünscht. Der Systemdual enthält drei syste-
Ulicr psycnischc Energie, Libido und deren Meßbarkeit 63
inatisch scheidbare Gebiete, denen Anteile der zu beschreibenden Energie
zukommen. 1) System Zelle (populär: Körper). 2) System Zentralapparat
(vermutlich ungefähr entsprechend dem anatomischen Begriff Zentralnerven-
system). 5) System Person (populär: beseeltes Individuum). (Für den popu-
lären Begriff „Seele" ist kein Raum. Der Schulgegensatz Körper-Seele ist
energietheoretisch unbrauchbar, da die Seele kein Gegensatz zum Körper ist,
sondern die qualitätsbegabte an den [Körperteil] Zentralapparat gebundene
Funktion des Gesamtindividuums, der Person.) Die Energien des Systems
Zelle fassen wir als Zellenergien zusammen; ihnen konnte in dieser Arbeit
kein gesondertes Studium gewidmet werden. Die Energien des Systems Person,
abgesehen von den Zellenenergien, die man terminologisch korrekt auch
zu den Energien der Person zählen könnte, fassen wir zusammen als per-
sonierte Energie. (Korrekter aber schwerfälliger wäre vielleicht „personierte
Energien" zu sagen.) Die Energien des Zentral apparats haben wir termino-
logisch von den anderen personierten Energien nicht unterschieden. Sie
entsprechen etwa der „psychischen Energie" im Sinne der Bewußtseins-
ps)*chologie plus den Energien des vegetativen Nervensystems. Zur perso-
nierten Energie gehört neben dieser Energie des Zentralapparats die Energie
der Potentialdifferenz zwischen dem System Zelle und dem System Zentral-
apparat. Diese freie Energie des Systems Person haben wir in dieser Arbeit
mit dem Terminus Potential belegt. Es soll angemerkt sein, daß damit nicht
der Gesamtvorrat von freier Energie in der Person umfaßt wird, da die
freie Energie, soweit sie in den Zellen vorhanden ist und nicht an der
Potentialdifferenz beteiligt ist, hier nicht einbezogen wurde. Die Energie,
die durch die Potentialdifferenz bestimmt wird, das Potential des Systems
Person, entspricht der freien Energie Freuds, demnach der Libido als
Energie. —
Aus den gegebenen Erörterungen läßt sich der Ansatzpunkt gewinnen,
von dem aus versucht werden könnte, die Grundlage für eine experimentelle
Libidometrie zu schaffen.
Soll die Libido (Potential) durch die Größe H bezeichnet werden, so folgt,
daß die Verminderung dieser Größe
— dH=dE P
ist.
Da die Veränderungen von Ep meßbar sind, ist — dH bestimmbar. Der
unmittelbaren Messung ist allerdings nur die Intensität im Zentralapparat
zugänglich, doch berechnet sich aus dieser die gesuchte Änderung der Libido
aus -dH=NdI
l>4 Siegfried BernfelJ tiud Sergei Feitelberg
oder die Libido
JdH= — Nfdl
Es sei an dieser Stelle auf den Gedankengang hingewiesen, der die Ein-
teilung des Zentralapparats in verschiedene Zonen mit verschiedenen Größen
2V vorgenommen hat. Es folgt daraus, daß die freie Energie im System
Person verschiedene Änderungen bei gleichem bewußten Erlebnis erfahren
kann, da für diese verschiedenen Zonen die Werte von ZV verschiedene Größe
haben. Das heißt, daß die Intensitätsänderung — das bewußte Erlebnis —
von der Struktur abhängig ist.
Mit der Libidomessung eng verknüpft ist die Frage der Lustmessung,
für die sich die Überlegung ergibt, daß Lust ein Intensitätsindikator für
Potentialabnahme ist. Das Problem der Lustmessung sei einer eigenen Arbeit
aufgespart. Doch möchten wir nicht unterlassen, anmerkungsweise zwei Punkte
noch in diesem Zusammenhang zu erwähnen.
Es ist schon von Freud bemerkt worden, daß die Größe der Libido-
änderungen, mit deren Verringerung Lust und mit deren Vergrößerung
Unlust verbunden äst, nicht das Maß für Lust abgeben kann. Er schlug
vor, die Lust als die Geschwindigkeit der Libidoabnahme anzunehmen, so
daß als ihre Maßzahl die Größe der Libidoabnahme in der Zeiteinheit zu
gelten hätte. Dies würde heißen, daß die Größe der Lust L durch die
Gleichung bestimmt wäre » u
J-i
öt
Daraus ergäbe sich für die Messung der Lust
L = N 6 -i-
öt
denn auch hier ist der unmittelbaren Messung nur / zugänglich.
Aus dieser Gleichung würde das offenbare Paradoxon folgen, daß alle
Bewußtseinsvorgänge lustvoll sind. Die Aufklärung der Tatsache unlust-
voller Bewußtseinsvorgänge kann nur im Rahmen der Diskussion der so-
genannten narzißtischen und Objektlibido gegeben werden.
L/iteraturverzeicnnis
1) E. Abderhalden: Lehrbuch der Physiologie in Vorlesungen. Teil III: Sinnes-
funktionen. Berlin 1926.
2) S. Bernfeld: Psychologie des Säuglings. Wien 1925.
3) S. Bernfeld und S. Feitelberg: Das Prinzip von Le Chatelier und der Selbst-
erhaltungstrieb [in diesem Bande S. 5 ff.].
A
Uter psydiisdie Energie, Libido und deren Meßbarkeit 65
4) L. Boltzmann: Vorlesungen über Gastheorie. Leipzig 1898.
5) Caratheodory: Untersuchungen über die Grundlagen der Thermodynamik.
Mathemalische Annalen. Bd. LXVII, S. 555.
5a) H. Le Chatelier: Les prineipes fondamentaux de l'energetique et leurs
applications aux phenomenes chimiques. Journal de Physique. 1894, Bd. III, S. 289.
6) J. R. L. Delhoeuf: Elements de psychophysique generale et speciale. 1882.
7) H. Dingler und R. Pauli: Untersuchungen zum Weber-Fechnerschen Gesetz
und zum Relativsatz. Archiv für die gesamte Psychologie. 1925, Bd. VIL, S. 525.
8) R. Ehrenberg: Theoretische Biologie vom Standpunkte der Irreversibilität des
elementaren Lebensvorganges. Berlin 1925.
9) G. Th. Fechner: Elemente der Psychophysik. Bd. I, 1859. Bd. II, 1860.
10) Freud: Jenseits des Lustprinzips. Ges. Schriften, Bd. VI.
11) Freud: Das Ich und das Es. Ges. Schriften, Bd. VI.
12) Grünberg: Erkenntnistheorie und Psychoanalyse. In: Prinzhorn, Krisis der
Psychoanalyse. 1928.
15) Grimsehl: Lehrbuch der Physik. Bd. II: Magnetismus und Elektrizität.
Berlin 1920.
14) Heinz Hartmann: Die Grundlagen der Psychoanalyse. Leipzig 1927.
15) Robert Helmholz: Die Änderung des Gefrierpunktes, berechnet aus der Dampf-
spannung des Eises. Wiedemanns Annalen der Physik und Chemie. 1887, Bd. XXX, S. 401.
16) A. Herzen: Grundlinien einer allgemeinen Psychophysiologie. Leipzig 1889.
17) G. Heymans: Über die Anwendbarkeit des Energiebegriffs in der Psychologie.
Leipzig 1921.
18) Höber: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Berlin 1922.
19) W. Köhler: Physische Gestalten. Erlangen 1924.
20) K. Laßwitz: Über psychophysische Energie und ihre Faktoren. Archiv für
systematische Philosophie. 1895, Bd. I, S. 46.
21) A. Lehmann: Grundzüge der Psychophysiologie. Leipzig 1912.
22) R. Pauli und A. Wenzel: Experimentelle und theoretische Untersuchungen
zum Weber-Fechnerschen Gesetz. Archiv für die gesamte Psychologie. 1925, Bd. LI,
S- 599-
25) M.Planck: Kausalgesetz und Willensfreiheit. Berlin 1923.
24) P. Schilder: Gedanken zur Naturphilosophie. Wien 1928.
25) L. W. Stern: Person und Sache. Leipzig 1906.
26) H. Zwaardemaker: Die Energetik der finitiven Prozesse. Ergebnisse der
Physiologie. 1912, Bd. XII, S. 586.
über die Temperaturdillerenz zwischen
Lrenirn und Körper
iwine Iibiaomerrische Untersuchung
In der theoretischen Arbeit über die Meßbarkeit der Libido [2] hatten
wir versucht, die Libido als die freie Energie des Systems Person zu ver-
stehen. Wir machten uns dabei von der Beschreibung der freien Energie
als des th er modynami sehen Potentials eines Systems frei, indem wir
an Boltzmanns Formulierung des Entropiegesetzes anknüpfend, die Libido
als durch die Intensitätsdifferenz der beliebigen Energien im Systemdual
(„Zentralapparat" und „Zellen" = „Körper") bestimmt ansahen. Es sollte
damit ein Präjudiz über die energetische Natur der Libido, vor allem ihre
Gleichsetzung mit Wärme einerseits, mit „psychischer" Energie anderseits
vermieden werden. Wir schlugen daher auch den unvorgreiflichen allge-
meinen Ausdruck „Potential" für die freie Energie des Systems Person
vor. Theoretisch wäre, wie wir ausführten, die Libido grundsätzlich meß-
bar, falls sie das Gefälle irgendwelcher Energien zwischen zwei kon-
kreten Systemen wäre. Unser Ansatz zu einer Libidomaßformel beruht auf
einer Einheitsfestsetzung vermittels der Bewußtseinsvorgänge, die durch
Libidoänderungen hervorgerufen werden.
Da eine praktische Auswertung dieses Ansatzes derzeit noch unabsehbare
Schwierigkeiten hindern, entsteht das Bedürfnis, auf dem physiologischen
Wege zu einer Sicherung der Arbeitshypothese vom Potential zu gelangen
und womöglich das Verhalten eines Faktors dieses Potentials zu bestimmen.
Es käme darauf an, festzustellen, welche Arten von Intensitätsdifferenzen
Über die Temperaturdifferen: iwisdien Gehirn und Körper 67
zwischen Zentralapparat und Körper bestehen und welche Beziehung sie
zur freien Energie haben.
An sich wäre es gleichgültig, mit welcher Energieform die Untersuchung
der Potential faktoren begonnen wird. Es liegt aber unserem Gedanken-
gange, der von einem thermodynamischen Modell des Systems Person aus-
gegangen ist, die Bevorzugung der Wärme nahe. Wir werden darin durch
eine physiologische Überlegung bestärkt: „Bei dem großen Umfange, den
gerade die Oxydationsprozesse in dem Nervensystem einnehmen, muß, zu-
mal die Erzeugung anderer Energieformen fast gänzlich fehlt, die Bildung
beträchtlicher Wärmemengen geradezu als Postulat erscheinen." [Winter-
stein 70, S. 604.]
Unsere Fragestellung hat die Physiologen bisher nicht beschäftigt. Doch
findet sich in den vorliegenden Untersuchungen über die Gehirntemperatur,
die mit genügend ausführlichen Tabellen und Kurven versehen sind, für
unsere Zwecke vorläufig ausreichendes Material.
Die vorhandenen Untersuchungen 1 gehen darauf aus, die Gehirn-
temperatur mit der Temperatur der anderen Körperorgane zu vergleichen
und die Änderungen der Gehirntemperatur in bestimmten Zuständen
(Wachen, Schlaf, Narkose) und unter der Wirkung verschiedenartiger Reize
zu beobachten.
Im allgemeinen ist nach den vorliegenden Experimenten die Temperatur
des Gehirns niedriger als die der verglichenen Organe. Die Differenz
zwischen der Temperatur des Gehirns und des Rektums wird z. B. von
Mosso [8, S. 11] bei Hunden mit 0418 für den Winter und 0055 im
Frühling (auf den Mastdarm bezogen) angegeben. Diese Tatsache ist bereits
Davy [/] aufgefallen, der als erster den Versuch gemacht hat, Messungen
der Gehirntemperatur (an Schafen) vorzunehmen. Doch gibt es eine be-
achtliche Zahl von Fällen, wo die Temperatur des Gehirns die des Rektums
und seltener auch die des arteriellen Blutes übertrifft. Eine Aufklärung
dieser Verhältnisse steht noch aus. Herlitzka [6] fand, daß die Temperatur
des Rückenmarks stets (mit einer einzigen Ausnahme) kleiner als die
Temperatur der Peritonealhöhle ist. Aus Criles [_?] Arbeit ergibt sich gleich-
falls im allgemeinen höhere Temperatur, und zwar der Leber; auch hier
mit einigen Ausnahmen. Für unsere Frage ist das Vorzeichen der Differenz
ohne Belang, denn für unsere Fragestellung ist nicht das Vorzeichen,
sondern das Verhalten der Differenz entscheidend. Wir betonen dies, da in
1) Eine Übersicht der Literatur über die Temperatur des Nervensystems findet
sich bei Soury [8, S. 1261], Mannino [7] und Winterstein [10].
68
Siegfried Bernfcld und Sergei Feitelberc
unserem Modell [2, Fig. 1, S. 29] die Kugel, die dem Zentralapparat ent-
spricht, tatsächlich eine geringere Temperatur haben muß als der Zylinder
der den übrigen Körper repräsentiert. Das Potential aber des Systems Person,
das in unserem Modell durch die Temperatur bestimmt ist, braucht mit
der Temperaturdifferenz von Gehirn und Körper keineswegs identisch zu
sein. Im Modell mußte die Kugel kälter als der Zylinder angenommen
werden, weil der Energietransport als Wärmeleitung gedacht war. Für
den lebenden Organismus aber gilt diese Einschränkung nicht, denn hier
kann durch verschiedenartigste Einrichtungen ein Energietransport auch
vom kälteren Systemteil in den wärmeren bewerkstelligt werden. Übrigens
ist die Rektaltemperatur, die in den für uns verwertbaren Untersuchungen
allein gemessen wurde, nicht der Körpertemperatur überhaupt gleichzusetzen;
der Körper bildet bekanntlich kein homogenes Wärmeganzes, wobei das
Rektum jedenfalls nicht die Stelle höchster Temperatur ist. Uns dient die
Rektaltemperatur bloß als Anzeichen der Änderungen der durchschnittlichen
Körpertemperatur; hiefür ist ihre Brauchbarkeit durch die medizinische
Klinik bewiesen.
Irgendeine Abhängigkeitsbeziehung zwischen Gehirn- und Körper-
temperatur ist bisher nicht erkannt worden. Im Gegenteil formuliert
Berger [7], daß die Gehirntemperatur unabhängig von der Rektaltemperatur
sich ändere, und zwar erhöht sich die Gehirntemperatur im allgemeinen
bei Arbeitsleistungen und Wahrnehmungen. Eine Beziehung zwischen den
Änderungen der Rektal- und Gehirntemperatur ist gelegentlich von Mosso
bei Schlafuntersuchungen beobachtet worden. „Wenn man die Kurven des
Gehirns und des Mastdarmes vergleicht, dann sieht man, daß sie unter-
einander divergieren" [8, S. 132]. In neuerer Zeit stellte Herlitzka [6] fest,
daß bei tetanischen und epileptischen Anfällen, die experimentell erzeugt
werden, die Temperatur des Rückenmarks schneller als die der Peritoneal-
höhle steigt. So stieg die Temperatur des Rückenmarks bei Stxychnin-
krämpfen im Verlaufe von zehn Minuten von 3742° auf 38'g2°, während
die der Peritonealhöhle sich von 3846° nur auf 39-29° erhöhte.
Da Mosso und Berger in ihren Publikationen die nötigen Angaben so-
wohl für die Rektal- als auch für die Gehirntemperatur bringen, so ist
es möglich, aus ihren Experimenten die Temperaturdifferenz zu berechnen
und zu studieren.
Für unsere Aufgabe der Feststellung des thermodynamischen Potentials
des Systems Person ist das Temperaturgefälle vom Körper zum Gehirn
maßgebend. Wir hätten also die Temperaturdifferenz
Über die Teraperaturdifferens swisdien Gehirn und Körper 69
AT=T 1 —T 2
wobei Tz die Körpertemperatur, T 2 die Gehirntemperatur bedeute, fest-
zustellen, d. h. die Differenz zwischen den beobachteten Temperaturen des
Rektums und des Gehirns in den einzelnen Zeitpunkten zu berechnen.
Wo das Temperaturgefälle umgekehrt verläuft, ergeben sich in unserer
Berechnung negative Werte. Wie wir oben bemerkten, ist für die vor-
liegende Arbeit das Vorzeichen der Differenz ohne Belang, da es ausschließ-
lich auf das Verhalten der Temperaturdifferenz in Abhängigkeit vom Ver-
halten der Person ankommt.
Diese Berechnungen haben wir an sämtlichen Tabellen von Berger
durchgeführt und haben aus der älteren Arbeit von Mosso die fünf Kurven
der Delphina Parodi als Stichprobe herangezogen. Diese Bevorzugung der
Untersuchungen von Berger schien deshalb angezeigt, weil er die Thermo-
meter stets in die Gehirnsubstanz selbst einführte, dabei aber keine schweren
Läsionen setzte, während Mosso bei der Parodi das Thermometer nur an
die Hirnrinde (nach Einführung in den Subduralraum) anlehnte, wobei
unentscheidbar ist, ob das Thermometer auch in den Subarachnoidalraum
eindrang, oder ob die Arachnoidea neben der Pia mater noch den Bulbus
von der Hirnrinde trennte.
Das Ergebnis unserer Berechnungen läßt sich in folgender Weise zu-
sammenfassen:
DieTemperaturdifferenz zwischen Zentralapparat und übrigem
Körper steigt im Ruhezustand des Systems Person und sinkt bei dessen
Arbeitsleistung en.
Während sich bemerkenswertervveise weder die Körper- noch die Gehirn-
temperatur in einer deutlichen Abhängigkeit zum Verhalten der Person
entwickelt und sich die Erwartungsvorstellungen, mit denen die Gehirn-
temperaturmessungen unternommen wurden, gar nicht oder nur sehr ein-
geschränkt erfüllten, ist, soweit aus unserer Untersuchung geschlossen werden
kann, die Abhängigkeit der Temperaturdifferenz vom Verhalten der Person
einfach und eindeutig:
Die Temperaturdifferenz benimmt sich genau so, wie sich die freie
Energie des Systems Person benehmen müßte. Die freie Energie als Maß
der Arbeitsfähigkeit des Systems Person muß bei Arbeitsleistungen sich
verringern und im Ruhezustand anwachsen. 1
1) Das Anwachsen der freien Energie im Ruhezustand tritt natürlich in keinem
physikalischen angeschlossenen System ein. Es ist aber eine wichtige Eigenschaft
Siegfried Berafeld und Sergci Feitelberg
Dieses Verhalten stützt unsere Auffassungen vom Systemdual, von der
Libido als der freien Energie dieses Systemduals so sehr, gibt der auf diese
Annahmen gebauten Möglichkeit einer Libidometrie einen so konkreten
Inhalt, daß sich wohl eine spezielle Diskussion des empirischen Materials
trotz seines physiologischen Charakters in einer psychoanalytischen Zeit-
schrift rechtfertigt.
Das Material, auf dem die Untersuchung beruht, wird am einfachsten
in folgende fünf Gruppen zusammengefaßt: I) Experimente an Tieren
(Schimpansen und Hunden) im Normalzustand; II) An Menschen im Normal-
zustand; III) Im Schlaf; IV) In Narkose; V) Unter Wirkung von Drogen
(Morphium, Hyascin, Curare). Die Versuche wurden sowohl von Mosso wie
von ßerger in der Weise durchgeführt, daß die Temperatur mit Queck-
silberthermometern in trepanierten, beziehungsweise durch Wunden ge-
öffneten Schädeln gemessen wurde. Bei Bergers Versuchen an Schimpansen
wurden mehrere Trepanationen vorgenommen, um das Verhalten der Tem-
peratur in den verschiedenen Hirnzentren zu vergleichen. Aus jeder der
fünf Gruppen (I— V) bringen wir im folgenden eine Kurve als Beispiel
mit spezieller Diskussion. 1
/; Fig. i. Das Thermometer befindet sich im Gyrus frontalis medialis
des Schimpansen [Berger, I, S. 16]. An den Punkten der Kurve, die durch
die Pfeile r, 2 und 4 gekennzeichnet sind, notiert der Beobachter Arbeits-
leistungen. Die Kurve zeigt Verringerung der Temperaturdifferenz. Bei
/ und 2 handelt es sich um heftige Bewegungen des Tieres, bei 4 um
Schreien des ruhig liegenden Tieres. Bei 4 zeigt sich die Abnahme der
Temperaturdifferenz als Verringerung des Anstieges, der bei 4 Uhr 59 Mi-
des Systems Person, denn ihm ist die stete Wiederproduktion der freien Energie —
der Libido — eine Lebensbedingung. Vgl. [2, Abschnitt III und V.]
Um einer anderen mißverständlichen Auffassung zu begegnen, sei im Anschluß
an jene Untersuchung angemerkt, daß hier mit den energetischen Änderungen im
System Person nicht die Abnahme jener freien Energien gemeint ist, die in den
Muskeln (System Zelle) gespeichert wurde und deren Abnahme bei Arbeitsleistungen
(nach Helmholtz' klassischen Untersuchungen) eine Selbstverständlichkeit ist, sondern
die Abnahme jener freien Energie, die als Potential des Systems Person (eines
Systemduals) seine Tätigkeiten koordinierend lenkt.
1) Die Kurven sind ursprünglich auf Millimeterpapier gezeichnet, doch ist die
Ausziehung der Millimeterlinien bei der Herstellung der Klischiervorlage unterlassen
worden, um die Deutlichkeit der Kurven nicht zu beeinträchtigen. Die Kurven nach
Berger wurden aus seinen Tabellen berechnet. Jeder so bestimmte Punkt ist als •
gekennzeichnet. Die Kurven nach Mosso wurden nach dessen Kurven graphisch er-
mittelt, da er keine Tabellen angegeben hat.
Über die leniperaturailiereii« zwischen (jcliini und Körper ^l
nuten eingesetzt hatte. Die quantitativen Unterschiede, die zwischen I, 2
und 4 so auffällig sind, seien nicht diskutiert, so sehr sich der Gedanke
aufdrängt, daß das bloße Schreien einen geringeren Energieaufwand dar-
stellt als die Körperbewegungen. Da aber die Stelle, an der die Messungen
03
/
/
OJ
o'.
1
t
r
\
3
'/
■0,1
/
\
2|
-<w
4
f
i
\
I
1
i
i
i —
i
i
M
t"!
1 3
3 3
5 3
7 3
9 *
/ v
J *»
S 97
Fig. i
vorgenommen wurden, natürlich nicht immer zusammentraf mit den für
die zufällig beobachteten Aktionen belangvollen Zentren, so läßt sich eine
quantitative Beziehung zwischen der Temperaturdifferenz und der Größe
der Arbeitsleistung nicht erwarten. Wir werden daher im folgenden den
quantitativen Verhältnissen keine Aufmerksamkeit schenken, sondern bloß
die Richtung der Änderungen berücksichtigen. Bei ) notiert Berger Ruhe,
dementsprechend steigt die Temperaturdifferenz.
In diese Gruppe / gehören zwei Kurven von Berger 1 und die Anfänge
von drei Kurven von Berger. 2 Im ganzen hat Berger in diesen Kurven
neun Aktions- und drei Ruhebeobachtungen notiert; von denen nur eine,
und zwar eine Aktionsbeobachtung unserer Verhaltensregel nicht entspricht.
Bei dieser Abweichung handelt es sich um einen Befreiungsversuch des
i) Die Kurven l und 3 auf S. 16 und 20 in [1].
2) Die Kurven 2, 4 und 5 auf S. 18, 23, 25 in [1].
Siegfried Bernfeld und Sergei Feitelberg
Tieres. Möglicherweise ist hier die Auswirkung der Aktion auf die Tem-
peraturdifferenz durch begleitende Angst oder andere Affekte getrübt. In
einem Fall, den wir mit den richtigen verrechnet haben, beginnt der Ruhe-
anstieg der Kurve erst eine Minute nach der Ruhenotierung.
t>rc
\
L-» ■
\ ,
V
3
K "-*
^
\
'1
T
\ S
•t
2
»'
J
£_
'« l
l
S J
) J
s »
3 tS SO SS J ■ S tO tS iO Zi 30 35 rO
Fig. 2
II) Fig. 2 stellt die Änderungen der Temperaturdifferenz bei dem
Mädchen Delphina Parodi nach den Beobachtungen von Mosso dar [8,
S. 128]. Nach dessen Ansicht war das Thermometer im Sulcus Sylvii ge-
legen. Bei den Punkten / bis J? vermerkt Mosso Leistungen des Mädchens:
Sprechen, Händedrücken, Zählen usw. Bei jeder Beobachtung ist Abnahme
der Temperatur festzustellen, mit Ausnahme von 2, wobei Mosso Hand-
pressen vermerkt. Es handelt sich offenbar um schwache Bewegung, denn
gewöhnlich, so bei /, spricht Mosso ausdrücklich von „starkem Hand-
pressen". Bei ; ist die Abnahme deutlich 1 .
In die Gruppe II gehören eine Kurve von Berger 2 und Mossos Versuche
an der Delphina Parodi vom 25. Juni und 26. Juni 1893 [8, S. 125 und
128]. Es handelt sich um siebzehn Notierungen von Aktionen, von denen
fünfzehn Abnahme zeigen und um zwei Ruhenotierungen, die beide Zu-
nahmen zeigen. Die zwei Fehlpunkte sind Händedrücken und Kiefern-
zusammenpressen.
III) Fig. 5. Delphina Parodi, nach der Beobachtung Mossos vom 4. Juli
1893 [8, S. 175], zeigt die Änderungen der Temperaturdifferenz im Schlaf.
Das Rind ist bei I „anscheinend" eingeschlafen und wird bei •) geweckt.
Deutlich im Gegensatz zu dem Kurvenstück vor dem Einschlafen und
1) In Fig. 2, Punkt 4, j, 7 und o ergeben sich kleine Zeitdifferenzen, diese haben
wir bei Verschiebungen bis zu 1 Minute zu den richtigen, bei größeren zu den falschen
Fällen gerechnet. Es handelt sich hiebei um Ungenauigkeiten, die vom Fehlen der
Tabellen zu den Kurven von Mosso herrühren. Siehe S. 70, Anmerkung 1.
2) r, die Kurve 15 auf S. 66.
über die Tcmperaturdifferens swisdien Geliiru und Körper
nach dem Erwachen zeigt die Kurve bis 4 allgemeinen Anstieg, der nach
11 Uhr 15 Minuten wieder beginnt. Die Zeit von 4 bis 11 Uhr 10 Mi-
nuten ist offenbar ein Schlaftal: bei 4 notiert Mosso spontane Arm-
bewegungen, bei j: „spricht im Schlaf einige Worte, bewegt die Arme,
kratzt sich." Noch deutlicher kommt die Tendenz zum Anstieg der Tem-
O.'C
D.oi
fWis — w »f x ss I0 h s *
IJ 10 ZS 30 SS *C »J 30
03f
fl?5
■ 5
RZö"
\
r \
*s\
t
Üf
— A
6
I
— v
Nf
0,10"
*N
-
~~++m
n
C.05
■S i
9 t
3 1
1" -
t *
/
5 c
.0 l
i i
J
J *
tj so ss ig* s
Fig- 3
peraturdifferenz bei ungestörtem Schlaf zum Ausdruck, wenn die Abfall-
stellen 2, ß, 7 und 8 zusammenfallen mit den Beobachtungen: „Schnar-
chen" (2), „Berührung der Hand zur Pulskontrolle reaktives Zurückziehen
der Hand" (?), „Sprechen im Schlaf" (7 und 8). Bei allen diesen Aktionen
findet Verringerung des Anstieges, beziehungsweise Abfall statt. Bemerkens-
wert ist, daß bei 8 Mosso an den Gehirn- und Rektaltemperaturen keine
Veränderung bemerkt, die erst in der Temperaturendifferenz deutlich zum
Ausdruck kommt.
In diese Gruppe III gehören zwei Kurven (nach Mosso an Delphina
Parodi vom 27. Juni und 4. Juli 1893 [8, S. 131 und 145]) mit zehn
Aktionsangaben, bei denen ausnahmslos deutlicher Abfall, ganz wie bei
den entsprechenden Punkten der Fig. 3 stattfindet.
74
ibiegfriej Bernfcld und Sergei Feitelherg
W> Fig. 4 (nach Kurve 2 bei Berger [r, S. 18]). l Um 4 Uhr 58 Minuten
beginnt bei 7 die Chloroformierung des Schimpansen. Sie setzt ein mit
dem üblichen Exzitationsstadium mit ent- Q
sprechendem Abfall, der nach einer Mi-
nute in Anstieg übergeht.
In Kurve 5 (nach Berger 11 [/, S. 50]) 2
wird bei / die Maske abgenommen, bei
2 besteht noch tiefer Schlaf, bei J treten
Brechbewegungen ein und der Corneal-
reflex wird nachweisbar; es findet also
das Erwachen statt. Bei 6 wird die Maske
wieder aufgesetzt, bei 7 erlischt der Cor-
nealreflex, bei 8 ist wieder tiefe Narkose eingetreten. Alle Narkosekurven
zeigen übereinstimmend, wie die Schlafkurven, deutlichen Anstieg während
-Ofif
- OJD'
?
J
/
- 1
* So Ja <
Piff- 4
h
2
der Bewußtlosigkeit (von 4 Uhr 59 Minuten an). Es entspricht dies völlig der
Verhaltensrege], die bei Ruhe des Systems das Anwachse n der Temperatur-
1) Thermometer im Sulcus Rolandi, in der Höhe des Gyrus frontalis medius
2) Inermometer in der Mitte des Gyrus frontalis medius.
Über die Teraperaturtlillerens zwischen Gehirn und Körper
differenz, die Ansammlung eines Vorrates freier Energie, ergibt. Beim Er-
wachen verhalten sich alle Narkosekurven wie bei Arbeitsleistungen. Sie
zeigen die Tendenz zur Abnahme (Fig. 5, Punkt 2 — 6). Dies Verhalten
läßt sich im Zusammenhang mit einer Diskussion des energetischen Schlaf-
mechanismus aufklären, für die hier nicht der Ort ist. 1 Unsere Verhaltens-
regel wird aber dadurch nicht tangiert, da sie nicht sagen will, daß jede
Abnahme der Temperaturdifferenz nur von Arbeitsleistungen bedingt ist.
Es sei angemerkt, daß auch nicht jede Zunahme nur auf Ruhe zurück-
zuführen ist, vielmehr läßt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit vermuten,
daß hiebei auch Affekte (Angst) eine Rolle spielen. So würden sich ge-
legentlich in den Kurven vorkommende Anstiege auf Angst deuten lassen,
wofür Fig. 6 ein Beispiel sei. 2
Bei / bringt Berger eine Natter in
das Operaiionszimmer, ohne sie dem
Affen zu zeigen; nach einer Minute
beginnt ein steiler Anstieg der Kurve;
den wir geneigt wären, als Angst vor
der gewitterten Schlange zu deuten. Bei
2 wird die Natter dem Affen gezeigt;
er beißt nach ihr; durch diese Aktion
und Angstbewältigung mag das Auf-
hören des Anstieges verursacht sein.
Bei den fünf Beobachtungen über
den Beginn der Narkose ist ausnahms-
los ein Anstieg zu erkennen (in den
Kurven 2, 7, 8 und 11 von Berger
und nach der Mosso-Kurve an der
Parodi vom 19. Juli 1863 [/, S. 18,
30, 34 und JO, beziehungsweise 8,
S. 154]). Unter zwanzig Aktionsbeobachtungen zeigen zwei Anstieg, unter
neun Ruhebeobachtungen drei Abstieg. Die größere Quote der Fehler in
diesen Fällen ist wohl den noch unbekannten Einzelheiten des Narkose-
zustandes, der das normale Verhalten der Person stark beeinträchtigt, zu-
zuschreiben.
Fig. 6
1) Es mag jedoch an unsere Auffassung der Wahrnehmungsprozesse erinnert
werden (2, Abschnitt II), wonach bei der Wahrnehmung eine Herabsetzung der per-
sonierten Energie (= freie Energie oder Libido) eintritt.
2) Nach Berger 3 [1, S. 20]. Thermometer im Labus parietalis superior.
7 G
Siegfried Berufeid unj Sergei Feitelberg
V) In den drei Kurven von Berger [/, die Kurven 4, 5 und 6 auf
S. 23, 25 und 27], die unter der Wirkung von Hyascin und Morphium
aufgenommen sind, ergeben sich unter vierzehn Aktionsbeobachtungen vier
Fehler, unter 8 Ruhebeobachtungen zwei Fehler. Diese nicht mehr un-
beträchtliche Fehlerzahl hat uns nicht gehindert, unsere Verhaltensregel
oben allgemein zu formulieren, da unter der Wirkung dieser Drogen ein
normales Verhalten des Systems noch weniger als unter der Nachwirkung
der Narkose zu erwarten ist. Die immerhin nicht geringe Zahl der be-
stätigenden Fälle fallt dabei um so entscheidender ins Gewicht, als an der
Morphiumkurve die beiden Ruheabweichungen sich als nur scheinbar er-
weisen, wenn die wahrscheinliche Wirkung des Morphiums in Rechnun e
gestellt wird. 5
Q3V
Fig. 7 zeigt einen Ausschnitt aus der Morphiumkurve (nach Bergers
Kurve 6, Schimpanse).* Bei / wird eine Injektion von «"04 g morphinen
muruztwum verabreicht (subkutan unter die Haut der Bauchdecken) Bei 2
scheint die Injektionsmasse resorbiert zu sein, denn Berger notiert auf-
fallende Ruhe. Bei ß und 4 ist Ruhe angemerkt. Bei S „schläft das Tier
nicht . 2 und 3 widersprechen offensichtlich der Regel, und sind vermut-
hch spezifische Morphiumwirkungen. Bekanntlich ist die psychophysische
Wirkung des Morphiums die (lustvolle) Herstellung einer Ruhesituation.
Aus früheren Erörterungen gewinnen wir einen Anhaltspunkt für das
1) [1, S. 27]. Thermometer im unteren Ende des Gyrus centralis posterior.
Utcr die Temperaturdiffcrens zwistten Gehirn und Körper 77
libidometrische Verständnis eines solchen Vorganges. Wir haben zu zeigen
versucht, daß bei Libidoabnahme Ruhezustände auftreten, die oft in den
Schlaf übergehen. Es liegt also die Annahme nahe, die beruhigende Wirkung
des Morphiums darauf zurückzuführen, daß es die Libido verringert, was
der psychoanalytischen Erfahrung entspricht und durch die Kurve anschau-
lich bestätigt wird. In der Zeit vom Beginn der Morphiumwirkung (laut
Beobachtung des Verhaltens des Versuchstieres) um 5 Uhr 30 Minuten bis
5 Uhr 56 Minuten, zeigt die Kurve einen geradlinigen Abfall an vier Be-
obachtun gspunkten .
Das Zutrauen zur Temperaturdifferenz als Indikator für Libidoänderungen
wird stark vermehrt, wenn bei äußerlich gleichartigen Ruhezuständen, wie
bei Schlaf und Morphiumruhe, die psychologisch so sehr verschiedene
Struktur haben, auch die Kurven sich verschiedenartig verhalten.
Versuchen wir nun einen Überblick über die Zahl der richtigen und
falschen Fälle zu gewinnen. In allen fünf Gruppen zusammen haben wir
zweiundneunzig Beobachtungen, von denen achtundsiebzig der Regel ent-
sprechen, vierzehn ihr widersprechen, von diesen Fehlern sind zwei in
Gruppe II, einer in Gruppe / aus den Versuchsbedingungen deutbar. Was
eine noch sehr vorsichtige Berechnung von einundachtzig richtigen und
elf falschen Fällen unter zweiundneunzig ergibt. Von diesen elf falschen
Fällen kommen auf Gruppe IV (Narkose) und V (Drogen) neun. Für die
Normalgruppen (I — III) allein ergibt sich also das durchaus befriedigende
Ergebnis von drei Fehlern auf einundvierzig Beobachtungen.
Das Ergebnis der Untersuchung, das noch durch die Experimente
Herlitzkas [6] und Criles [j] bestätigt wird, scheint uns nachdrücklich darauf
hinzuweisen, daß die Wärme im Libidohaushalt eine bedeutsame Rolle
spielt; daß die Temperaturdifferenz zwischen dem Zentralapparat und dem
übrigen Körper einen wichtigen Faktor des Potentials des Systems Person dar-
stellt, die freie Energie durch sie daher vorläufig meßbar wird. Die Rolle der
Wärme im Libidohaushalt entspricht der Bedeutung, die der Wärme für
die Entstehung und die Funktionen des Organischen zukommt. Merk-
würdigerweise zeigt die Wärme, wie es scheint, unter den Maschinen-
bedingungen des Organismus dasjenige Verhalten, das von der freien Energie
des Systems (der Libido) zu erwarten war. Das gibt den schon oft bemerkten
Ähnlichkeiten zwischen Wärme und Psychischem (Entropie, Irreversibilität)
einen experimentell faßbaren Inhalt.
Diese Befunde gewinnen beträchtlich an theoretischer Bedeutung durch
die Tatsache, daß nach vorliegenden Experimenten auch die elektrische
7° SiegfrieJ Bernfeld unj Sergei Feitelliurg
Potentialdifferenz im System Person das gleiche Verhalten zeigt, wie die
Temperaturdifferenz. Crile [4] hat durch umfangreiche Experimente das
Verhalten der elektrischen Potentialdifferenz zwischen Gehirn, Fascien und
Leber untersucht (Kaninchen). Er gelangt auf Grund seiner Experimente
zu folgendem Ergebnis :
„Erregung und Reizung, die durch physische Verletzungen, Medikamente
oder andere Einflüsse erzeugt werden, verursachen einen sofortigen Abfall
der Potentialdifferenz.
Anästhetica, Narcotica, Blutungen, Erstickung verringern fortschreitend
die Potentialdifferenz; falls sie den Nullpunkt erreicht, tritt der Tod ein.
Bewußtsein und Tätigkeit werden anscheinend auf Kosten der Potential-
differenz aufrechterhalten.
Schlaf ist anscheinend notwendig, um eine ständige Potentialdifferenz
im Gehirn zu unterhalten, da verlängerte Schlaflosigkeit die Potential-
differenz zwischen Gehirn und der Fascie fortschreitend verringert.
Das Leben eines Organismus besteht nur so lange, als Potentialdifferenzen
innerhalb des Organismus unterhalten werden." 1
Die von Crile gemessene elektrische Potentialdifferenz besteht demnach
zwischen dem Zentralapparat und dem System Zelle des Systems Person
(unserer Nomenklatur), sie steigt im Ruhezustande und sinkt bei Arbeits-
leistungen, bei Wahrnehmungen und unter Wirkung von Narkotika Die
Postulierung eines Potentials der Person (Libido), die Unterscheidung
von dessen Faktoren, deren einer die Wärme, ein anderer offenbar die
Elektrizität ist, scheint demnach experimentell begründbar.
Li
teratur
X J f* n \ B "| er: Untersuchungen über die Temperatur des Gehirns. Jena 1010
2) Siegfried Bernfeld und Sergei Feitelberg: Üher psychische Energie, Libido
und deren Meßbarkeit. [In diesem Bande, S. 13 ff.]
5) Georg W. Crile, Amy F. Rowland and S. W. Wallace: Bio-physical studies
of the Effects of various drogs upon the temperature of the brain and the liver.
Journal ot pharmacology and experimental therapeutics. 1923. Bd. XXI, S. 4*0
4) Georg W. Crile, Amy F. Rowland and Maria Telkes: An interpretation of
exctation, exhaustion and death in terms of physical constants. Proceedines of the
national Academy of sciences of U. S. A. 1928. Bd. XIV, S. 532.
5) J. Davy: An account of some experiments on animal heat. Philosophical
transactions. 1814. S. 590.
4< S. 538. Von uns aus dem Englischen übersetzt.
Über die Tcmperaturdiflerenz zwischen Gehirn und Körper 79
6) Amedo Herlitzka: Sulla temperatura del midolo spinale durante la (IM
attivita. Nota prelim. Arch. di Sei. biol. 1928. Bd. XII, S. 595.
7) Lorenzo Mannino: Sulla temperatura del cervello. Annali di clinica medica
e di medicina sperimentale. 1926. Neue Serie, Bd. XVI, S. 561.
8) Angelo Mosso: Die Temperatur des Gehirns. Leipzig 1894.
9) Jules Soury: Systeme nerveux central. Structure et fonetion. Paris 1899.
10) Hans Winterstein: Stoffwechsel des Zentralnervensystems. In Band IX des
Handbuches der normalen und pathologischen Physiologie: Allgemeine Physiologie
der Nerven und des Zentralnervensystems. Berlin 1929, S. 604.
Der Entropiesatz und der Todestriek
In der psychoanalytischen Trieblehre nimmt der Todestrieb eine eigen-
artige Stellung ein. Während ein Teil der Psychoanalytiker meint, ihn völlig
entbehren zu können, operieren andere mit ihm, wie mit einem Stück Theorie,
das auf gesicherter klinischer Erfahrung aufgebaut ist. Freud betont immer
wieder den spekulativen Charakter des Todestriebes 1 und will die Einführung
von Todestrieb und Erostrieb durchaus anders bewertet wissen, als seine
übrigen Aufstellungen zur Libidotheorie. Die Libidotheorie erhält nach Freuds
Meinung durch den Todestrieb ein spekulatives Moment, weil Freud hier
über die Grenzen der psychologisch-psychoanalytischen Methode hinausgeht,
indem Todestrieb und Eros biologische Tatbestände, ja allgemeines Natur-
verhalten (Stabilitätsprinzip) erfassen wollen. Manche Unsicherheiten, Ver-
wirrungen und Irrtümer rühren daher, daß die verschiedenen Bedeutungen,
die so das gleiche Wort Trieb erhält, nicht immer genügend auseinander-
gehalten werden [/].
Psychologisch, das heißt als konkrete Kräfte innerhalb der Person (Es,
Ich und Über-Ich) unterscheidet Freud bekanntlich „Sexualtrieb" und
„Destruktionstrieb". Diesen stehen „spekulativ"-biologisch „Eros und Todes-
trieb" gegenüber, die nicht Kräfte in der Person meinen, sondern das all-
gemeinste Verhalten der lebenden Substanz charakterisieren wollen. Sie sind
Prinzipe, oder, wenn man will, Naturgewalten, aber nicht Triebe im engeren
Sinn des Wortes. „Todestrieb" bezeichnet die Tatsache, daß alles Lebende
1) Nicht nur in „Jenseits des Lustprinzips" [ri], sondern auch z. B. 12, S. 585
•ind S. 387; r 3 , S. 170; 14, S. 222; ir, S. 91.
Der Eutropiesat; imJ der Todestrieb
von begrenzter Dauer ist, Anfang und Ende hat, und stellt den Lebenslauf
als Wiederherstellung des leblosen Zustandes, aus dem das Leben hervor-
gegangen ist, dar. „Eros" bezeichnet die stete Verlängerung des Lebens durch
die Tatsache der Fortpflanzung und die Zusammenballung immer größerer
organischer Massen zu immer komplizierteren Einheiten.
Diese klare, von Freud oft hervorgehobene Unterscheidung des „spekula-
tiven" (biologischen) und des psychologischen Gesichtspunktes, konnte den-
noch zu Mißverständnissen führen, weil Freud bemüht ist, diese Scheidung
durch einen grundlegenden Gedanken wieder aufzuheben. Freud sucht die
Verbindung zwischen den beiden Trieben (Sexualtrieb und Destruktionstrieb)
und den außerpsychischen Naturgewalten Eros und Todestrieb. Er sucht die
Entsprechungen für diese beiden im Ich, und findet den Sexualtrieb als den
im Ich wirkenden Eros und den Destruktionstrieb als den im Ich wirken-
den Todestrieb. Tatsächlich ist dieser Gedanke der eigentlich theoretische und
er ist es auch, der einerseits Verwerfung als leere Spekulation erfährt, der
anderesreits unkritisch wie ein bewiesenes Faktum verwendet wird.
Der Entscheid, ob Freud eine nichts besagende Analogie spekulativ miß-
braucht, oder ob er eine neue naturwissenschaftliche Theorie in Biologie
und Psychologie eingeführt hat, ist um so dringender, als Freud die psycho-
analytischen Grenzen nicht nur in die Biologie hin, sondern auch in die
Physik überschritten hat, 1 indem er nachdrücklich betont, daß er den Todes-
trieb mit dem allgemeinen Stabilitätsprinzip in der Natur identifiziere [//].
Für unsere theoretisch-psychologischen Bemühungen um Energie und Trieb
wird dieser Entscheid insbesondere wichtig. Wir möchten ein Kriterium hier-
für aus der naturwissenschaftlichen Methodologie übernehmen und meinen:
Ähnlichkeiten zwischen physikalischen, biologischen, psychischen Prozessen
dürfen als mehr denn bloße Analogie gewertet werden, wenn sie sich als
spezielle Fälle eines umfassenderen Naturgesetzes erweisen lassen.
Freud versteht den Todestrieb ausdrücklich als speziellen, biologischen
Fall des Stabilitätsprinzipes [//]. Das Lustprinzip, das im Dienste des Todes-
triebes steht, wäre der psychologische spezielle Fall des Stabilitätsprinzips.
Die Gegner von Freuds Todestrieblehre, die Mystik und Religion in der
Schrift „Jenseits des Lustprinzips" wittern, haben dies völlig übersehen.
Die Verbindung physikalischer, biologischer, physiologischer und psycho-
logischer Fakten und Gesetzmäßigkeiten ist weder unzulässig noch „unwissen-
schaftlich", noch gar sinnlos. Es kommt ganz und gar darauf an, ob der
1) Neuestens auch nach der Kulturwissenschaft hin [ij].
öa Oicglried JBernlcld und Oercei Fcitcloerg
Nachweis eines bisher unbekannten speziellen Falls für ein allgemeineres
Gesetz konkret glückt. Aber Bemühungen, die diese Richtung einhalten,
verdienen keineswegs Entwertung als spekulativ oder als a priori metho-
dologisch unzulässig.
Wie sehr die Freudsche Konzeption von bloßer physikalisch-psycho-
logischer Analogisierung entfernt ist, zeigt eben das bedeutsame Stück
der Freudschen Todestrieblehre, das das Lustprinzip als Spezialfall des
Todestriebes hinstellt, als den Todestrieb auf der Systemhöhe Person er-
kennt, würden wir sagen. Das Außerordentliche dieser Aufstellung ist ja
gerade, daß sie augenscheinliche Gegensätze, nicht Analoga, unifiziert.
Selbstbeobachtung, naive Auffassung und Wertung vermögen Tod und
Lust nur als unversöhnliche Gegensätze zu sehen. Freud behauptet einen
verborgenen Funktionszusammenhang der beiden anscheinend völlig hetero-
nomen Sphären.
Daß Freud den Nachweis dafür erbracht hätte, kann freilich nicht be-
hauptet werden. Aber es ist auch keineswegs Freuds Absicht, die para-
doxe und befremdliche Theorie bloß dogmatisch zu verkünden, sondern
er entwickelt sie als echte Arbeitshypothese mit den Sätzen: „Das Lust-
prinzip scheint geradezu im Dienste der Todestriebe zu stehen . . . hieran
knüpfen sich ungezählte andere Fragen, deren Beantwortung jetzt nicht
möglich ist. Man muß geduldig sein und auf weitere Mittel und Anlässe
zur Forschung warten" [//, S. 257].
Es sei versucht zu prüfen, ob die Vorstellungen vom Systemdual und
seinen Energien, die wir entwickelten [3, 4, j], ein geeignetes Mittel
sind, die Freudschen Gedanken in einigen Punkten zu belegen.
Das Stabilitätsprinzip, von dem Freud ausgeht, scheint uns aber keine
genügend präzise und konkrete Formulierung der Tatbestände zu sein, die
es meint. In der modernsten Fassung, der Petzoldschen, lautet dieses
Prinzip: „Jedes sich selbst überlassene, in Entwicklung begriffene System,
mündet schließlich in einen mehr oder weniger vollkommenen Dauer-
zustand aus, oder doch in einen Zustand, der in sich selbst entweder
überhaupt keine Bedingungen für eine weitere Änderung mehr trägt
oder solche wenigstens eine geraume Zeil hindurch nur noch in gering-
fügigem Maße enthält" [16, S. 24t]. Ob man nun diese oder die sehr
ähnliche Fechnersche oder Spencer sehe Formulierung zugrunde legt [6\
das Stabilitätsprinzip sagt eigentlich nicht mehr, als daß alle Bewe-
gung oder auch alle Änderung von begrenzter Dauer ist; womit, unbe-
schadet eines vielleicht vorhandenen philosophischen Gehalts, kaum ein
i.
Der Lntropiesatz und der Todestrieb 85
belangvoller Fortschritt über das naive Wissen hinaus gegeben ist. Es
wird auch nichts gewonnen, wenn der Ruhezustand als Tod analogisiert
wird und das Prinzip dann lautet, alles Bewegte führe zum Tod. Noch
mehr verringert den Wert des Prinzips die Überlegung, daß Bewegung
und Ruhe, Leben und Tod Begriffe von relativer Bedeutung sind, die
immer nur mit Bezug auf ein bestimmtes System im Vergleich zu anderen
Systemen oder für eine bestimmte Systemhöhe faßbar sind. So bedeutet
die „makrokosmische" Ruhe eines eben zur Erde gefallenen Steines inten-
sivierte Bewegungen „mikrokosmischer" Natur (Wärmebewegung der Mole-
küle), so bedeutet der Ruhezustand des schlafenden Menschen Ruhe im
System Person, aber intensivierte Tätigkeit (Wachstum) der integrierten
Systeme Zelle. Ruhe und Bewegung, Leben und Tod können überhaupt
nur durcheinander definiert werden, d. h. sie sind dialektische Gegensätze.
Solange wir allgemeinste Verhaltensweisen aus ihnen deduzieren, ver-
bleiben wir auf dem Boden der Philosophie.
Prägnant und konkret sind die vom Stabilitätsprinzip gemeinten Tat-
sachen in der Energielehre formuliert. Ob die Energietheorie den Inhalt
des Stabilitätsprinzips physikalisch erschöpft, bleibe unerörtert. Wir be-
schränken uns auf die Energielehre, weil sie theoretisch weit genug
gediehen ist und weil sie für unsere psychoanalytische Fragestellung zu
allererst in Betracht kommt. Die Energielehre erfaßt Quantität und Rich-
tung jener Veränderungen, von denen das Stabilitätsprinzip spricht, und
formuliert eindeutig jenen Zustand, der in der Sprache des Stabilitäts-
prinzips unbestimmt Ruhe oder Tod heißt. Der zweite Hauptsatz der
Energielehre besagt, daß die Gesamtheit physikalischer Vorgänge in einem
abgeschlossenen System eine bestimmte Richtung innehält, nämlich auf
Ausgleich der Intensitätsdifferenzen der Energien des Systems ; es wird ein
Zustand angestrebt, in dem keine Intensitätsdifferenzen mehr bestehen, in
dem also auch keine Bewegung mehr durch endosysteme Faktoren allein
bewirkt werden kann. Da nur bei dem Ausgleich von Temperaturdiffe-
renzen solche endgültige Entwertung eintritt (bei dem Ausgleich mechani-
scher Intensitätsdifferenzen treten Schwingungen auf, die im Prozeß des
Ausgleiches neue Intensitätsdifferenzen schaffen), bedeutet die Aussage des
zweiten Hauptsatzes, daß dieser maximale Ruhezustand nur eintreten kann,
wenn alle Energien sich in Wärme verwandelt haben.
Dieser Zustand, zu dem jedes geschlossene System (also vielleicht das
ganze Universum) tendiert, enthält maximale Dauerhaftigkeit, denn er
muß so lange währen, als die Abgeschlossenheit des Systems (des Univer-
4 Siegfried BernfeU und Sercei Feitell.er
sums) währt. Von einem absoluten Ruhezustand wäre aber auch dabei
kerne Rede, denn die „mikrokosmischen" Wärmeschwingungen der Mole-
küle bleiben bestehen. Wegen der makrokosmischen dauernden Starre des
Systems m seinem „Endzustand" hat man ihn mit dem Tod analogisiert
und „Warmetod" genannt. Ein präziserer Ausdruck ist „der wahrschein-
lichere Zustand" (Boltzmann), dessen Maß Entropie heißt. Wir wollen in
der Folge diesen zweiten Hauptsatz der Energielehre nicht völlig genau
aber kurz Entropiesatz nennen und von der Entropiegesetzlichkeit oder'
dem Jintropiestreben sprechen.
An den „Wärmetod" haben interessante philosophische Diskussionen
angeknüpft mit dem Bemühen, seine Vermeidbarkeit zu erweisen, oder
wenigstens die Möglichkeit offen zu lassen, daß der Wärmetod nicht auch
den lod des Lebenden zur Folge habe. In geistreicher Weise hat Stern
[19, »0] hiefur das Fechnersche Gesetz herangezogen, das die denkbar
guns.gste Emnchtung für Organismen sei, die sich trotz stetig abnehmender
Intensitatsdifferenzen m lh rer Umwelt erhalten wollen. Durch die Fechner-
sche Gesetzhchkext werden die Organismen nicht von der absoluten, sondern
von der relativen Große der Intensitätsdifferenzen abhängig; ihre Existenz
U £°P T dEn NUU T kt mÖgHCh " Den Wich ^-n Versuch ^
Z t d Problem anzugreifen, hat Nernst [ l8 ] unternommen, indem er
mit Hilfe neuer physikalischer Erkenntnisse die Anwendung des Entropie-
ü e b S r Sa h d n ni r Um ^ UDStatthaft ZU ~*- ^ Für uns'er-
hab n die 7 ^ * "* " 3USSChließlich «* Systemen zu tun
S^'t* ^ *"** endHch Sind - ■* diese aber gilt der dritte
Hauptsatz der Ihermodynamik, das Nernstsche Theorem, nach dem es nicht
möglich ist m endlichen Systemen den Nullpunkt zu erreichen; zwar kann
in einem konkreten System alle Energieintensitätsdifferenz ausgeglichen
-erden so daß in ihm nur mehr Wärmeenergie vorhanden ist, aber es ist
durch keinen exosystemen Einfluß möglich, diese Energie dem System
gänzlich zu entziehen, also seine Temperatur auf den absoluten Nullpunkt
zu bringen: „makrokosmisch" ist demnach „absolute" Ruhe erreichbar, aber
mit ihr ist eine entsprechende Erhöhung „mikrokosmischer" (molekularer)
Bewegung verbunden, und diese kann nie völlig vernichtet werden. Ab-
solute Ruhe ist unerreichbar.
Die Diskussion des Todestriebes geht statt vom Stabilitätsprinzip frucht-
barer vom Entropiesatz aus. Es wäre zunächst zu fragen, ob der Todes-
trieb als spezieller Fall des Entropiesatzes im Bereiche des or-
ganischen Geschehens aufgefaßt werden kann.
Der Entropiesat: und" der Todestrieb
85
Daß Freuds Gedankengänge in diese Richtung gehen, braucht an dieser
Stelle nicht belegt zu werden; es will aber betont sein, daß selbst ein
Nachweis der Identität von Entropiesatz und Todestrieb, von Tod und
„Wahrscheinlichem Zustand" die Freudschen Gedankengänge nicht er-
schöpfte. Denn eine bedeutsame Rolle spielt der historische Charakter
aller Triebe auch für den Todestrieb, den Freud geradezu als Streben des
Organischen zum früheren Zustand des Leblosen zurückzukehren, deutet.
Von diesem historischen Moment muß bei der energetischen Betrachtung
abgesehen werden. Die neuerliche ausdrückliche Betonung dieser Selbst-
verständlichkeit möchte uns vor der Verwechslung mit Ostwaldscher oder
ähnlicher Naturphilosophie und vor dem Vorwurf schützen, wir ersetzten
Psychologie durch Physik.
Den geforderten Nachweis können wir freilich auch in diesen Grenzen
nicht erbringen, weil die heutige Biologie und Physiologie über die ersten
Ansätze einer Energetik des Lebensprozesses noch nicht hinaus sind. Immer-
hin steht fest, daß die Lebensvorgänge stationäre Prozesse sind. Für solche
ist bezeichnend, daß bestimmte Bedingungen innerhalb des Systems einen
Kreislauf der Energieverwandlung erzwingen, so daß die Ausgangsphase
immer wieder erreicht wird. Solange die exosysteme Energiezufuhr gesichert
ist, und solange die Bedingungen im System, die den Kreislauf verursachen
unverändert bleiben, dauert das stationäre System. Der „Tod ereignet S1 ch
nur als Betriebsunfall. Tatsächlich geht die Auffassung vieler Biologen in diese
Richtung. Durch die Lebensprozesse selbst (abgesehen von traumatischen
Schäden) wird eine fortschreitende Verschlechterung der „Maschine be-
wirkt, die beim Anwachsen der sogenannten nekrobiotischen Prozesse zu
einer gewissen Höhe, die endgültige Schädigung der Kreislauf bedingungen, den
Tod, zur Folge hat. „Der Tod entwickelt sich aus dem Leben [Verworn,
20 S. 160]. Der Tod wäre gewissermaßen ein Betriebsunfall, der von Geburt
an' langer Hand durch die Unzulänglichkeiten des Betriebes vorbereitet
wird. Er ist unvermeidlich, weil die Kreislaufbedingungen sehr kompliziert
sind, die Rationalität der Maschine recht schlecht ist-, er wäre aber prin-
zipiell bloß Unfall, Unzulänglichkeit.
Der „Tod als Ereignis", wie Ehrenberg [8, S. 29] «gt, der einmalige Vor-
gang des Sterbens des Individuums geschähe demnach nicht im Dienste der
Entropie. „Der Tod ist so wenig wie die Unterbrechung eines elektrischen
Stromes ein energieliefernder Vorgang." [8, S. 29 f.] Man muß dagegen
darauf hinweisen, daß die Folge des Todes der Zerfall des Systems ist, d. h.
daß beträchtliche Intensitätsdifferenzen zwischen System und Umwelt ent-
86
kiegfriej BcrnfcIJ und Scrgci Feitelberg
stehen, die während des Lebens, eben durch das Leben, kompensiert wurden.
Allerdings hat der Zerfall nach einer gewissen Zeit den endlichen Ausgleich
dieser während des Lebens kompensierten Differenzen zur Folge, den das
Leben verhinderte. Diese Widersprüche klären sich bei der Verwendung
unseres Begriffs von der Person als Systemdual. Wir unterscheiden die Vor-
gänge in den Zellen von den Vorgängen im System Person. Der Tod ist
ein Ereignis, das das System Person betrifft. Der Tod zerstört die regulierende
Funktion des Systems Person, an die die Existenz der Zellen unzertrennlich
gebunden ist, die nun zerfallen. Dadurch wird freilich die Erreichung des
Gleichgewichts in dem System Zellen selbst beschleunigt, die aus den Lebens-
Gesetzmäßigkeiten in die physikalischen übergehen. Für das System Zelle
bedeutet der Tod seines übergeordneten Systems beschleunigten Ausgleich-
der Tod des Systems Person steht, könnte man vorläufig sagen, „im Dienste
der Entropie« der Zellen. Für die Entropie des Systems Person (für die Größe
seines Potentials = Intensitätsdifferenz zwischen Zentralapparat und Körper)
kann dem Tod aus dem Grunde keine konkrete Bedeutung beigemessen
werden, weil durch den Tod gerade die Beziehung zwischen den Teilen
des Systemduals aufgehoben worden ist. 1 Das System Person führt die ge-
meinsame Energierechnung für die Zellen, und ist bemüht, seine „Energie-
bilanz' im Gleichgewicht zu halten. Im Augenblick des Todes des Systems
wird die Frage gegenstandslos, ob seine Buchführung stimmt, denn es gibt
keine mehr. Die Zellen reißen die Barbestände an sich und jede führt
ihr eigenes Buch, das der Physiker nun auf seine Energiebilanz prüfen
kann. Die Frage kann also nicht sein, ob der Tod des Systems Person eine
Entropievergrößerung des Systems Person bedeutet, 2 sondern ob das Leben
des Systems Person diese die Entropie vergrößernde Funktion hat.
Soll der Todestrieb als Trieb nach dem Ereignis „Tod eines Individuums"
aufgefaßt werden, so wäre er nicht als spezieller organischer Fall des Entropie-
Satzes zu verstehen, sondern ist. was übrigens auch Freuds Meinung ist,
historisch, wie jeder echte Trieb, determiniert.
Dennoch läßt sich für das lebende Organische der Satz „Ziel alles Lebens
ist der Tod" bei entsprechender Definition der Begriffe, energetisch sehr
wohl rechtfertigen. Erfreuli cherweise kann hier ein Biologe referiert werden :
1) DasselLe scheint übrigens auch für das lebende System Zelle zu gelten, das ja
gleichfalls ein Systemdual (von Plasma und Kern) niedrigerer Ordnung ist,' dessen
Tod durch die Kariolyse einsetzt.
2) Eine Beobachtung Criles [4, S. 556] scheint sogar auf das Gegenteil hinzudeuten,
indem nach dem Tode die elektrische Potentialdifferenz zwischen Gehirn und Körper'
die bei dem Ereignis den Wert O hatte, postmortal wieder ansteigt.
Der Entropicsats und der Todestrieb «7
Auf dem Gedanken der Irreversibilität der elementaren Lebensvorgänge
baut Ehrenberg eine theoretische Biologie auf. Das Leben besteht in
dem kontinuierlichen Prozeß der Strukturierung, des Wachstums von Sub-
stanz auf Kosten der Flüssigkeit, besteht im Verbrauch von Energieinten-
sitäten zum Aufbau von Substanz, aus der keine Arbeit mehr gewonnen
werden kann, die teils auf dem Körper ausgeschieden, teils in ihm, als
Zellkernstruktur, als Apparatstruktur, niedergeschlagen wird. Die Struktur-
substanz (der Kern der Zelle z. B.) bestimmt Geschwindigkeit, Intensität usw.
der weiteren Lebensabläufe. Leben ist dieser Umsatz, dieses Substanz-
Schaffen, dies Tod-Werden. Was wir das Leben eines Individuums nennen,
ist die Integration zahlloser elementarer Lebensvorgänge (Biorrheusen) zu
einer durch die Strukturen, die die Lebens Vorgänge schaffen, bestimmten
Einheit. Jeder einzelne elementare Lebensvorgang führt zur irreversiblen
Bindung der Energien in Struktur, zum „Tod". Das Leben des Individuums
tendiert auf die Erfüllung seines „Vitalraumes" mit Struktur; es ist in seiner
Intensität und Dauer vom Gefälle zwischen dem „Vitalraum" und dessen
Strukturerfülltheit bestimmt. An beliebiger Stelle vor dem — wohl nie
erreichbaren — Ende kann das „Ereignis Tod" den Prozeß Leben-Tod
zum Stillstand bringen [6].
Wenn Freud dem Organischen die Tendenz zuschreibt, nach stabilen
Zuständen zu streben, dauernde Ruhezustände zu erreichen, und den Exekutor
dieser Tendenz Todestrieb nennt, so scheint die Erwartung nicht unberechtigt,
daß die fortschreitende Biologie und Physiologie den strengen Beweis erbringen
wird, daß diese Tendenz der spezielle Fall des Entropiesatzes für organische
Systeme ist. Der Todestrieb (in dieser seiner biologisch-theoretischen Bedeu-
tung) ist, vom historischen Moment abgesehen, energietheoretisch als wissen-
schaftliche und nicht bloß spekulative Aufstellung rechtfertigbar. Das Wort
Tod freilich ebenso wie das Wort Trieb drängen gerade die historischen
Momente am Systemverhalten in den Vordergrund und eröffnen leicht
Möglichkeiten zu Mißverständnissen. Es würde sich darum empfehlen, dieser
Deutung des Todestriebes, durchaus im Sinne Freuds, den Namen Nirwana-
prinzip zu reservieren [io, S. 375].
Auch der Versuch, nun das Lustprinzip als den psychologischen
Spezialfall des Entropiesatzes zu verstehen, muß vorläufig bei einem
ersten theoretischen Ansatz stehen bleiben. Allerdings ist diese Frage grund-
sätzlich innerhalb der psychoanalytischen Psychologie zum exakten Beweis
zu bringen, falls es gelänge, Methoden zur Messung der Libido bis zur
genügenden Brauchbarkeit zu entwickeln. Freud hat immer wieder gezeigt,
88 Siegfried BcriifclJ niicl Sergej Feitclterg
daß die Fragen des Lustprinzips quantitative sind und hat sie als eigenen
ökonomischen Gesichtspunkt gewürdigt. Freud stellt die ökonomische Hypo-
these auf, Lust sei das Erlebnis der Abnahme von Erregungsgrößen inner-
halb des Psychischen, Unlust das Erlebnis ihrer Zunahme. Freud läßt nicht
unberücksichtigt, daß hierbei nicht die absoluten Quantitäten entscheiden und
möglicherweise auch Qualitäten der Spannung wirksam sind [l2, S. 575].
Wenn sich diese Erregungs- und Spannungsgrößen experimentell als Energie-
größen erwiesen, wäre der Beweis möglich, daß die Regulierung des ent-
scheidenden Anteils alles Verhaltens der Person im Sinne des Entropiesatzes
geschieht.
Unser erster Versuch zur experimentell fundierten libidometrischen Be-
rechnung [/] spricht entschieden für die Freudsche Lusttheorie, falls man
sich bei der Diskussion vor vagen Analogien hütet. Unser Befund besagt,
daß im Ruhezustand (Schlaf) das Potential der Person wächst. Die Ruhe ist
demnach keine Entropievermehrung, sondern im Gegenteil steigen die
Intensitätsdifferenzen nicht unbeträchtlich. Wollte man Ruhe mit „Entropie"
analogisieren, so ergäbe sich ein für die psychoanalytische Trieblehre ungünstiges
Resultat. Aber der Ruhezustand des Systems Person darf nicht wegen des
Phänomens Ruhe als ein physikalischer Ausgleichszustand aufgefaßt werden.
Im Schlaf ist offenbar das System Person zu beträchtlichem Teil ausgeschaltet.
Mit dem Erwachen und bei motorischen Aktionen, die vom System Person
reguliert werden, verringert sich das Potential augenblicklich. Unter Fest-
haltung des Gedankens, daß die Person ein übergeordnetes System ist, darf
man formulieren, daß die Funktion des Systems Person die Verringe-
rung und Niedrigerhaltung des Potentials ist, das ansteigt, sowie die
Person ausgeschaltet ist. Die Ausschaltung des Systems Person (Ruhezustand)
schafft eine Energiesituation, die dem Entropiesatz entgegen ist, die Funktion
des Systems steht also im „Dienste der Entropie".
In einer der Schlafkurven nach Mosso [j, S. 75] zeigt sich bei unruhigem
Schlaf, beim Sprechen im Schlaf usw. je Abnahme der Temperaturdifferenz
(nach unserer Auffassung eines Faktors des Potentials). Die Vermutung ist
nicht ganz von der Hand zu weisen, daß der Potentialabnahme während des
Ruhezustandes das Träumen entspricht. Der Traum ist eine teilweise Wieder-
einschaltung des Systems Person mit der Funktion, den Schlaf zu hüten.
Ohne künftigen Experimenten vorzugreifen, könnte hierin eine weitere
Bestätigung für die entropievergrößernde Wirksamkeit des Systems Person
liegen. Wir gelangen so zu der Vorstellung, die mit den Ergebnissen der
Schlafbiologie und -physiologie, wenn auch nicht mit deren Theorien, gut
Der Entropiesats und der Todestrieh °9
übereinstimmt, daß aus dem lebhaften Stoffwechsel der Zellen während des
Schlafes sich ein ansehnliches Maß von Potentialdifferenz ansammelt, das
nach Herabsetzung drängt. Die Person erwacht, die Energien werden personiert
L] und durch die psychischen Arbeitsleistungen während des Wachseins
verringert. Das spontane Erwachen geschähe geradezu, weil das Potential
zu groß geworden ist.
In der Tat zeigen die Schlafkurven und Narkosekurven \J % b löij, dalJ
mit dem Erwachen das Potential abzunehmen beginnt. Das teilweise Er-
wachen, das Träumen mit seiner Erniedrigung des Potentials wäre auch
von hier aus als „Hüter des Schlafes" zu verstehen.
Das wache, ausgeruhte System besitzt einen großen Vorrat an Potential,
das erschöpfte System ein Minimum. Die offenbare Aufzehrung des Poten-
tials durch die Leistungen des Systems Person scheint auf den ersten Blick
eine energetisch fast selbstverständliche Sache zu sein. Denn Arbeitsleistungen
verbrauchen Energie. Wenn wir uns aber vergegenwärtigen, daß wahrend des
Wachseins eine ständige Energiezufuhr in das System Person statt hat z B.
durch die Wahrnehmung, wenn wir daran erinnern, daß eine Anzahl Überle-
gungen uns genötigt haben, die Muskelleistungen nicht einfach als Verbrauch
der Energien des Systems Person aufzufassen (vielmehr steigt gleichzeitig em
Anteil der Energien im System Person durch die Muskelarbeit) [* ; S. 11*],
dann erhebt sich die Frage, in welcher Weise die potentialvernngernde
Funktion des Systems Person sich durchsetzt. Das wache, ausgeruhte Indi-
viduum zeigt lebhafte Zuwendung zu den Reizen und Objekten der Um-
welt, wird von Reizhunger getrieben, dessen Befriedigung Lust birgt. Ein
Verhalten, das insbesondere für die Sexualtriebe als Objektzugewandtheit,
als Bindung an Objekte charakteristisch ist, das aber auch im Bereich des
Destruktionstriebs nachweisbar ist. Die Zuwendung zu den Objekten hat
zur Folge, daß Energiezufuhren in das System stattfinden, die um so wider-
sinniger zu sein scheinen, als eben das ausgeruhte System ein sehr hohes
Potential besitzt, während das schläfrige mit niedrigem Potential sich den
Reizen verschließt. Zunächst scheint dies Faktum des Reizhungers einer
Tendenz des Systems Person, die „Erregungssumme möglichst niedrig
zu erhalten, strikt zu widersprechen. Wir stoßen hier in psychologischer
Fassung auf dasselbe Problem, das die Lebenstriebe dem Nirwanaprinzip
bieten. 1 .
,1 Der Versuch, das Problem des Reizhungers und der Reizlust in Übereinstimmung
mit dem Nirwanaprinzip zu lösen, den Bernfeld [l] unternommen hat, erfahrt durch
die folgenden Ausführungen eine präzisierende Mod.fikation.
!*!! SiegfrieJ BernfelJ u n J Sc*g« Fcitelterg
Liegt hier wirklich ein Widerspruch zum Entropiesatz vor, so muß er
aus den Maschinenbedingungen des Systems Person verständlich und als
letz theh bloß scheinbarer auflösbar sein. Im thermodynamisch-osmotischen
Modell des Systemduals Person [,, S. ag ] entsteht die Potentialdifferenz
zwischen Kugel (Zentralapparat) und Zylinder (System Zelle gleich „Körper")
dadurch, daß die Kugel eine niedrigere Ausgangstemperatur hat als" d er
Zylinder Der autonome Temperaturausgleich ist durch die Bedingung ver-
hindert, daß die Temperatur des Zylinders stets konstant erhalten werde
Die anscheinend einfachste Möglichkeit ein Minimum des Potentials -'
d« Temperaturdifferenz - am Modell zu sichern, wäre die Verhinderung
neue Ener gl ezufuhr m den Zylinder von außen he. Dies entspricht der
naheliegenden psychologischen Vorstellung, daß durch die Vermeidung von
,eh t , ™ Z f -* e Abschließung, das „Erregungsniveau" nfedrig
nchl IT, ° UrCh n dieAbschI ^- g ^nn aber nur L Modell, jedoch
lebenV O <****«* das Potential erhalten werden, denn im
lebenden Organismus wird das Potential endosystem erhöht. Potemialverrin
gemn ; kan n an dem Modell nur durch Zufuhr neuer Energie in den ZjnTer
werte! ' f "f ^ M ^^^^ ge n an die" Kugel abg" üh
.erden muß, so deren Temperatur erhöht und damit die Temperatur
differenz zwischen Zylinder und Kugel - das Potential - verr^ger
pa; S d e o X erv°r;; eiSe d deS , MOde,,S **** ^ *" anscheinend""
Et ^System k" S p yStemS Per$0n - N " ^^ *** - E - g ie
in das System kann sein Potential verringert werden. Die Zufuhr geschieht
dur b , wache psychisch ,e Leistungen und ist durch das psychische P nom en
Z^^TZT 6 DiB ^ ÄUßenWeIt »«"«dete ^bido, alle
tlnstriebe ^^^ ™* *> ««« Teil der Handlungen des Destruk-
onstnebes, erfüllen energetisch die Funktion des Abbaus der Intensitäts-
F f kr" 7 r' S,em PerS0H ' d6r Herabselz -g -ines Potentials; also die
Funktion des Entropiewachstums des Systems Person. Für die energetische
Betrachtung trifft Freuds Auffassung, daß die Lebens.riebe die Todesbahn
sichern, genauestens zu. Das Lustprinzip ist der allgemeinste, bewußte
Regulator des Verhaltens der Person. In seiner Funktion, Unlust zu ver-
meiden, Lust aufzusuchen, in seiner modifizierten Entwicklungsform als
Reahtatspnnzip, vollzieht es die Herabminderung des Potentials im Sinne
des Entropiesatzes. Das Lustprinzip erhöht zu Werten, zu Lustwerten zu
Lebenswerten jene Objekte, Handlungen und Affekte, die energetisch Ab-
laufe ln der Richtung der Entropiesteigerung des ^^ ^^
f« die opümale Entropiegröße erreicht, nach Erfüllung seiner Aufgabe'
Der Entropiesat: und Jer Todestricli
„geht das System beruhigt schlafen", seine Funktion setzt aus. Ohne seine
energieentwertende Arbeit steigt aber das Potential bald wieder zu einer
Größe an, die das System Person zu neuer Arbeit weckt.
Wenn so die Lusterlebnisse an Herabminderung des Potentials gebunden
sind und wenn diese sich, man möchte sagen, als physikalische Gewalt
durchsetzt, so erhebt sich eigentlich die Frage, wie es überhaupt zu Un-
lusterlebnissen kommt oder zu anderen als ganz kurzen initialen Unlust-
spannungen, die alsbald lustvoll abgeglichen werden?
Es liegt, nach Fechner-Freud, nahe, den Unlusterlebnissen Vorgänge im
System Person zuzuordnen, die den Lustbedingungen entgegengesetzt sind,
also anzunehmen, Unlust trete dann auf, wenn das Potential des Systems
Person zunimmt. Welches sind die Bedingungen im Systemdual, unter
denen solche andauernde Zunahme des Potentials, entgegen der „natur-
lichen Richtung" der Naturvorgänge, eintreten kann?
Bei der Besprechung der Wahrnehmung haben wir zu zeigen versucht
U S 80 und S 88 f.], wie durch die Wirkung der Intensitäten der Umwelt.
Energien dem System Person zugeführt werden, und wie durch Persomerung
dieser Energie das Potential verringert wird. Die zugeführte Energie ge-
langt durch die Sinnesorgane in den Zentralapparat. Durch diese Abgabe
der Energie an den Zentralapparat, durch ihre Personierung, d. h. durch
die Erhöhung des Energieniveaus an dem einen Teil des Systemduals, wird
die Abnahme des Potentials erreicht. Andererseits ist diese Abgabe an das
Bestehen einer Intensitätsdifferenz zwischen den Zellen und dem Zentral-
apparat, also an das Vorhandensein des Potentials gebunden. Bei einer
weitgehenden Verminderung muß die Bewältigung der Energien, die dem
System von der Außenwelt durch die Reize zugeführt werden, auf Schwierig-
keiten stoßen. Die zugeführte Energie wird in den Sinnesorganen, im
Systemteil Zelle — am Modell: im Zylinder — verbleiben müssen, dessen
Intensität erhöhen, also ein Steigen des Potentials herbeiführen. So zeigt
sich daß die Vorstellung vom Systemdual auch eine energetische Deutung
der Unlust ermöglicht. Diese ist an Zustände mit geringem Potential ge-
bunden, wie sie bei der Ermüdung, vor dem Einschlafen, angenommen
seien- was auch mit der Empirie übereinstimmt, denn diese Zustände sind
dadurch ausgezeichnet, daß Reize als unlustvoll erlebt werden, ihre Ursachen
— die Objekte — gemieden und ausgeschaltet werden.
Ist das Verhalten der Person bei hohem Potential durch eine Zuwendung
zu den Objekten, durch ein libidinöses Begehren nach ihnen ausgezeichnet,
so könnte man den Zustand mit minimalem Potential (im Modell Gleichheit
2! Siegfried BeriifelJ und Serge, FeitelLcr«
der Temperatur des Zylinders und der Kugel), in dem Reize und Objekte
gemieden werden, als Objektflucht, als narzißtisch beschreiben. Reizhunger
und Objektflucht wären als zwei wohlunterscheidbare Verhaltensweisen
des Systems Person energetisch wohl zu begreifen. Beide streben durch
personale Regulation Entropie an, aber unter je verschiedenen Maschinen-
bedmgungen. Die Diskussion des Energiehaushaltes im Systemdual bei Ge-
ringem Potential gibt Auskunft auf die Frage, die am Schluß unseL
zweiten Arbeit ,] offen gelassen werden mußte: Unlustvolle Bewußtseins-
vorgange treten dann auf wenn die Intensitätsvermehrung im Zentralappara,
D? ß a s r :\ r gien der Zeiien zum z ^^v^ ««w *
Daß also trotz des Lustprinzips und dem physikalischen Entropiestreben
mTZte ^ r ^ menSChHche Leben unter Sü viel wS 2
lauft, findet seinen Grund m den Bedingungen des Systemduals, die bei
gewissem Zustand der Energieverteilung zu vorübergehender Dy funktion
fuhren Daß diese Möglichkeit in der Tat so überaus reichlich realisl"
-d hat semen Grund in all den sozialen und psychologischen Beding
und Kompilierungen des natürlichen Geschehensablaufs, über die die
Psychoanalyse zureichende Auskunft zu geben vermag Fe i au- V
RinwWtn»«.». i . • . . S eDe n vermag. Es sind historische
Unwtrtetngen (on.ogenettsche, phylogenetische und durch die historisch
gewogen Bedingungen de« sozial Ortes, an dem da, Individuum eb
verbieten „eiche zu emer lu S ,vo]len Abweichung der Spannungen führen
Z dl s'ri ^ ? ™*-™***»A *e Laiita^nd Ob"
Ma!chine W nt r „L h ' !inliCh "Y" ^*» tto » U « "**■» >• 1« ungewöhnliche
To «Wd ff 'T "• Physi0l< * is<:he Erschwernisse für deu Ausgleich der
s«ften o T J t Chm " " °»~-™*" Unlustentwicklung,
namBnsch abgeschlossen machen. Es „are vor allem zu erwarten, daß Wer-
bet patholog.sche Struktur de« Zentralappara,« bedeutsam beteilig, i«, (wö-
bet unter Straten, die Energiekapazität in beiden Bedeutungen des Worte«
verstanden sei [ 4 , S. 3S ff.]). oe« Wortes
E« scheint uns, «owei, hierüber vor experimentell psychoanalytischer
Artet eme Aussage möglich ist, sehr wohl denkbar, das Lustprinzip al«
wln " Emr0 P ieSMZ<!s ■* to *—»«i der Person zu er-
r
Der Entropiesat: und der Todestrieb 9-3
Die Aufgabe, die dieser Arbeit gesetzt ist, kann aber damit noch nicht
erledigt sein, denn der Gedankengang Freuds, den wir bisher ausschließ-
lich verfolgten, hat in der psychoanalytischen Diskussion wenig Beachtung
gefunden. Wenn vom Todestrieb geredet wird, stehen eine ganze Reihe
anderer Elemente der Freudschen Konstruktion im Vordergrund. Vor allem
das Sterben als Ereignis. Man kann gelegentlich bei psychoanalytischen
Autoren die Auffassung finden, als wäre das frühe Hinsterben von Kindern
oder auch von Erwachsenen eine Äußerung ihres Todestriebes (z. B.
Ferenczi, 9). Wobei der Natur der Sache nach diese Meinung klinisch
nicht belegbar ist, da es ja zum Wesen des Todestriebes gehört, unauf-
fällig oder völlig unauffindbar zu sein. Vom energetisch -ökonomischen
Gesichtspunkt aus kann die Berechtigung dieser Hypothese nicht ent-
schieden werden. Hingegen sei darauf hingewiesen, daß jedenfalls das
Sterben, wie wir oben ausführten, kein energetisch faßbarer Begriff ist,
und biologisch wohl als Triebziel im eigentlichen Sinn des Wortes nicht
aufgestellt werden kann. Daß Sterben und Tod auch kein Triebziel des
Es sein können, hat Freud wiederholt betont. Es könnte sich also nur um
ein Ich-Ziel oder um eine Über-Ich-Forderung handeln. Jedoch sei gerne
zugegeben, daß anhaltend fehlendes Geliebtwerden, dauernde Unbefriedigung
und Unlust für die Funktionskraft des Systems Person schädlich sein können.
Beim Selbstmord scheint man allerdings geradezu vor einer Äußerung des
„Todestriebes" zu stehen. Die Analyse zeigt freilich immer wieder nichts
anderes, als komplizierte libidinöse Situationen, unerbittliche Über- Ich-
Ansprüche, Identifizierungen und schließlich Haß gegen das eigene Ich
oder den eigenen Körper, dessen Ursprung an Objekten nachweisbar zu
sein pflegt. Was am Selbstmord rätselhaft bleibt, die Intensität des Hasses
oder andere schwerfaßbare qualitative Eigentümlichkeiten, haben vielleicht
mit dem Resultat, der Selbstzerstörung, wenig zu tun. Sie werden, wie
der entsprechende Anteil des Sadismus, eher dem Destruktionstrieb als dem
Todestrieb (Nirwanaprinzip) zuzuschreiben sein.
Die eigentliche Schwierigkeit bildet in der psychoanalytischen Diskussion
aber dieser Destruktionstrieb selbst. Wenn Freud in „Jenseits des Lustprinzips"
den biologisch-spekulativen Todestrieb im Ich als Lustprinzip wiederfindet
(worüber wir bisher ausschließlich gesprochen haben), so hat Freud seit-
dem immer deutlicher eine Identifizierung des Todestriebes mit dem
Destruktionstrieb vorgenommen; er verwendet beide Termini füreinander:
„Todes- oder Destruktionstrieb." Und die Frage wäre, ob diese Identifi-
zierung auch vom energetisch-ökonomischen Gesichtspunkt aus zu recht-
94 Siegfried BernfeU und Seraei FeitelL
erg
fertigen ist. Die folgende Erörterung zeigt, daß dies nicht möglich ist
wenn der Todestrieb, den Freud mit dem Destruktionstrieb identifiziert
nicht selbst bereits einen anderen Sinn bekommen hat als jener Todes-
trieb, der in „Jenseits des Lustprinzips" als Spezialfall des Stabilitätsprinzips
aufgefaßt wurde. Aus Freuds Schriften der letzten Jahre ist darüber bündiger
Entscheid nicht zu gewinnen. Aber es fällt doch auf, daß Freud den Todes-
oder Destruktionstrieb ohne biologisch-theoretische Charakterisierung schon
gar nicht in Verbindung mit dem Stabilitätsprinzip, sondern immer nur
als psychologische (als dynamische, nicht mehr als ökonomische) Gegeben-
heit, als Gegenstück zum Sexualtrieb, nicht aber in Beziehung zum Lust-
prinzip betrachtet. So heißt es z. B, „Es ist zuzugestehen, daß wir letzteren
(den lodestneb) um so viel schwerer erfassen, gewissermaßen nur als Rück-
stand hinter dem Eros erraten, und daß er uns sich entzieht, wo er nicht
durch die Legierung mit dem Eros verraten wird." [// S 06 1
Destruktionstrieb und Sexualtrieb sind zwei wohlunterscheidbare Ver-
haltensweisen der Person gegenüber ihrer Umwelt; sie sind zweifellos als
zwei verschiedene Triebe verstehbar. Trieb ist der Drang nach Wieder-
herstellung einer verlorengegangenen Befriedigungssituation [xj]. Wenn
auch nicht deutlich eine bestimmte Befriedigungssituation angebbar ist, die
,e einem dxeser beiden Triebe ausschließlich zukäme, so ist doch im ganzen
die Richtung des Destruktionstriebes die Wiederherstellung der Befriedi-
gungssnuauon durch Vernichtung der Umwelt und wohl auch durch Ab-
schluß von den Objekten; die Richtung des Sexualtriebes: durch Zuwendung
zur Umwelt, durch Festhaltung der Objekte, also durch deren Erhaltung
die Befriedigung zu erreichen. Liebe bezeichnet den einen, Haß bezeichnet
den anderen Trieb. Diese beiden Triebe sind gewiß biologischer Natur
aber mcht wie der Todestrieb bloß biologisch-theoretisch, sondern diese
be,den wohlunterscheidbaren Verhalten sind auch in der Tierwelt bis zu
den Protozoen als konkrete Fakta nachweisbar. Wenn Freud die Bemer-
kung macht, daß es der Psychoanalyse so merkwürdig schwer wurde, den
Destruktionstrieb anzuerkennen [r S , S. 94 ], s0 i st dem Biologen gerade
das Destruktionsverhalten, das unbestreitbar gegebene, während Handlungen
der Liebe, die nicht mit einem destruktiv gefärbten Sexualtrieb verbunden
waren, schwieriger aufzufinden sind. Auch beim Studium der frühesten
Kindheit zeigt sich deutlich, daß ursprünglich, in den ersten Lebenswochen
jenes Verhalten, das die Reize der Umwelt ablehnt, sich vor ihnen ver^
schließt, sie „haßt", vorherrschend ist [Bernfeld, /]. Wenn allmählich die
Umwelt interessant und reizvoll zu werden beginnt, so richtet sich zu-
Der Entropiesat: und der Todestrieb
90
nächst der Trieb des Säuglings darauf, sich ihrer zu bemächtigen, um sie
oral zu vernichten oder wegzuwerfen 5 schließlich mündet dieser Bemächti-
gungsdrang in eine aktive, aggressive, destruktive Phase, die der prägeni-
talen Entwicklung des Kindes einen deutlich sadistischen Charakter gibt.
In der „Psychologie des Säuglings" [1] werden alle diese Fakten nach
ihrem ursprünglichsten Ziel: die durch die Störungswerte der Umwelt und
durch die Hungerreize unterbrochene Schlafruhe wiederherzustellen, als
Ruhetrieb" unifiziert. „Destruktionstrieb" bezeichnet aber die spätere Ent-
wicklung sehr viel klarer. Er ist der exquisit konservative Trieb, der die
Erhaltung des Schlafzustandes, der narzißtischen Ruhe, intendiert, die Welt
als Störung erlebt und behandelt, sich ihr entzieht oder sie vernichtet.
Ontogenetisch ist der Destruktionstrieb als Schlafhüter, als Hunger, als
Bemächtigungsdrang der ursprünglichere. In Anlehnung an seine Befriedi-
gung erfährt der Säugling die Lust der erogenen Zonen und entwickelt
durch Milderung, Einschränkung und Verwandlung der Destruktionstrieb-
handlungen Zärtlichkeitsäußerungen, libidinöse Objektzugewandtheit.'
Beim Studium des Sexualtriebes und des Destruktionstriebes (auch bei
der Ausdehnung dieses Studiums auf die Lebewesen überhaupt), bei der
Aufzeigung ihrer Unterschiede, ihrer Entstehung, ihrer gegenseitigen Be-
dingtheiten, der Geschichte ihrer Triebziele, der individuellen und säku-
laren Entwicklung der Befriedigungsmittel bleiben wir im Reiche des
Qualitativen. Es sind Fragestellungen, die Freuds dynamischem Gesichts-
punkt zugehören. Wenn auch die Triebe allgemein charakterisierbar sind
als auf Befriedigung gerichtet und wenn die Befriedigung auch tatsächlich
die Herstellung eines Ru he- oder Gleichgewichtszustandes ist, und selbst
1) Die sehr enge Beziehung zwischen Narzißmus und Destruktionstrieb, die hier
vertreten wird, und die von Bernfeld [r] ausführlich dargestellt wird, kann hier nicht
näher begründet werden. In der Arbeit über Fascination [2] ist gezeigt worden, wie
die Vorstufen libidinöser Identifizierung an die Bedingung der Unterdrückung der
motorischen Aktion (Bemächtigung) gebunden sind. - Vielleicht liegt in dieser Rich-
tung die Möglichkeit, zu konkreteren Vorstellungen über die Energie des Todes- oder
Destruktionstriebes im Gegensatz zur Libido [ij, S. 95] zu gelangen- — In der fol-
genden Bemerkung scheint Freud auf die Verwandtschaft zwischen Narzißmus und
Destruktionstrieb und den Prozeß der Verbindung mit der Libido hinzuweisen: „Aber
auch wo er ohne sexuelle Absicht auftritt, noch in der blindesten Zerstörungswut
läßt sich nicht verkennen, daß seine Befriedigung mit einem außerordentlichen hohen
narzißtischen Genuß verknüpft ist, indem sie dem Ich die Erfüllung einer alten All-
macht zeigt. Gemäßigt und gebändigt, gleichsam zielgehemmt muß der Destruktions-
trieb, auf die Objekte gerichtet, dem Ich die Befriedigung seiner Lebensbedürfnisse
und die Herrschaft über die Natur verschaffen" [rf, S. 96]. Hierher ist vielleicht auch
die Wendung zu rechnen, die Todestriebe wollten Ruhe haben und den Störenfried
Eros . . . zur Ruhe bringen [6, S. 405].
9" Siegfried Bernfcld und Sergei Fcitclbcr^
wenn dieser Gleichgewichtszustand der „Entspannung" identifizier bar wäre
mit einem physikalischen Gleichgewichtszustand, so handelt es sich dabei
doch nur um eine ganz allgemeine Aufstellung, die zur Charakterisierung
eines Triebes, zur Unterscheidung von anderen Trieben nicht ausreicht.
Die erstrebte Befriedigung (und wäre sie auch physikalisch Entropievermeh-
rung des Systems) ist allemal eine historisch gewordene außerenergetisch
mitbedingte, qualitativ bestimmte Situation. Energietheoretisch ist nur ihr
quantitativer Aspekt sinnvoll betrachtbar. Das Qualitative und Historische
gehört anderen Gesichtspunkten zu. Es wird freilich auch für den ener-
getisch-ökonomischen Standpunkt erfaßbar, soweit es in die Maschinen-
bedingungen des Systems oder der integrierten Untersysteme eingeht. Dies
für den Fall Destruktionstrieb und Sexualtrieb zu prüfen, muß künftigen
Forschungen überlassen bleiben.
Doch sei eine Andeutung gewagt. Haben wir doch bei der Ableitung
der Unlust aus den Maschinenbedingungen des Systemduals einen Zustand
kennengelernt, bei dem durch die energetische Intensitätsverteilung, um
das Minimum von Potential zu sichern, die Ausschaltung, Vernichtung der
Reizquellen, also der Objekte, notwendig wird. Dies entspräche vielleicht
der psychischen Situation, in der Außenweltreize als Störungswerte erlebt
werden, die vernichtet werden müssen, wenn sie nicht ignoriert werden
können, also dem Destruktionstrieb.
Faßte man alle Aussagen, die Freud über den Todestrieb im Laufe der
Zeit, von verschiedenen Gesichtspunkten ausgehend, bei verschiedenen An-
lässen machte, als eine Einheit zusammen, weil sie mit demselben Wort
Todestrieb bezeichnet sind, so gelangte man zu einem energetisch wider-
spruchsvollen Gebilde, indes Freud mit Betrachtungen vom dynamischen
und ökonomischen Gesichtspunkt aus wechselt. Für den Destruktionstrieb
ist „Todestrieb " ein Synonym, hat als Partner den Sexualtrieb und ist ein
dynamischer Begriff der Trieblehre, somit auch zugleich ein historischer,
der qualitative Elemente entscheidend mitenthält. Er ist im Ich auffindbar,
wie der Sexualtrieb, er erscheint natürlich meistens mit ihm gemischt und
bietet vielleicht mehr, aber keine andersartigen, Forschungsprobleme als
der Sexualtrieb. Bei seiner Ubiquität hat er biologische Geltung. Als psycho-
physischer Grenzbegriff, wie der Sexualtrieb, ist er auch physiologischer
Betrachtung zugänglich, nicht aber der energetischen.
Etwas „anderes" als Destruktionstrieb ist der Todestrieb nur dann, wenn
er als der biopsychische Spezialfall des Stabilitätsprinzips gemeint wird.
Physikalisch prägnanter: wenn mit dem Wort Todestrieb das allgemeine
Der Entropiesati und der Todestrieb 07
Entropiestreben aller Systeme in der Natur bezeichnet werden soll. Es würde
sich empfehlen, solch allgemeines Systemverhalten nicht als Trieb zu be-
zeichnen; denn diese Terminologie verdunkelt das Problem: welche Funktion
die Triebe (Destruktionstrieb und Sexualtrieb) für das allgemeine System-
verhalten, den Ausgleich der Intensitätsdifferenzen haben.
Sollten diese Betrachtungen einen richtigen Kern enthalten, so würde
allerdings die Freudsche Konstruktion des Todestriebes die philosophische
Schönheit verlieren, die sie so anziehend, aber auch so umstritten macht.
Den Gegensätzen Destruktionstrieb und Sexualtrieb stellt nämlich Freud
den Gegensatz von Todestrieb und Eros entgegen. In der biologisch-physi-
kalischen Fassung des Todestriebes ist nun für den Eros kein Raum. Die
Energielehre kennt keinen Partner, Gegenspieler und Gegenkämpfer gegen
die Entropiegesetzlichkeit, wenigstens keinen anderen als die „Maschinen-
bedingungen , welche gegebenenfalls den Weg zur Entropie verlängern
und Umwege erzwingen. Auch die Zusammenfassung immer größerer Sub-
stanzmengen zu Einheiten ist nicht die Richtung des physikalischen Geschehens,
das vielmehr nicht nur die Zerstreuung der Energie, sondern auch die Zer-
streuung der Substanz intendiert. Die philosophisch befriedigende Idee von
„Antitodeskräften" ist physikalisch kaum, energietheoretisch gewiß nicht
sinnvoll. Der Todestrieb als Systemverhalten hat keinen Eros zur Seite.
Eros ist kein allgemeines Systemverhalten, sondern für die organischen
Systeme spezifisch. Ebenso wie die Tendenz zur Destruktion kein physi-
kalisches Verhalten der Systeme ist, sondern gleichfalls für die organischen
Systeme spezifisch ist. Diese beiden Verhaltensweisen haben im engsten
Sinn des Wortes die Dignität des Triebes, der das Verhalten organischer
Systeme von den anderen unterscheidet.
Vielleicht hat man den Eindruck, daß diese Gedanken zu einem Monismus
tendieren, der dem von Freud streng festgehaltenen Triebdualismus wider-
spricht. Insbesondere mag sich bei unserer Gleichsetzung von Libido mit
freier Energie (Potential der Person) [4, S. 51] eine Ähnlichkeit zu dem
psychoenergetischen Monismus Jungs, seiner Gleichsetzung von Libido und
Energie (Urlibido) aufdrängen. Eine Auseinandersetzung mit Jung sei an
dieser Stelle vermieden. Was er Energetik nennt [17], hat mit dem physi-
kalischen Begriff der Energie kaum das Wort gemeinsam. Gerade im Inter-
esse der Durchführung des Triebdualismus muß die Einheitlichkeit der
Energie und ihre Abgrenzung gegen die Mannigfaltigkeit (Dualismus) der
Triebe scharf betont werden. Energie ist eine Maßgröße für die Fähig-
keit, Arbeit zu leisten. Es ist also „dieselbe" Energie, die als Libido und
9" Siegfried Bernfeld und Sergej Feitelterg
die als Triebkraft des Destruktionstriebs wirkt. Die freie Energie des Systems
Person, sein Potential, kann nur, „monistisch" berechnet, gemessen werden.
Das Potential hat auch nur eine Richtung, wie alle Energiebewegung in
der Natur, die auf Verringerung. Es liegt an den spezifisch organischen System-
bedingungen, daß die Organismen diese eine Richtung auf zwei qualitativ
so verschiedenen, phänomenal so entgegengesetzten und bewußt als so in-
kommensurabel erlebten Wegen verfolgen müssen; psychoanalytisch: als
Äußerungen des Destruktions- und Sexualtriebes.
Wir haben versucht, über diese spezifischen Systembedingungen etwas
zu erraten: Wenn energetische Prozesse in einem Systemdual unter den
Maschinenbedingungen der Osmose so ablaufen, daß eine einheitliche Poten-
tialdifferenz zwischen seinen beiden Systemteilen (Zentralapparat [Gehirn
plus Nervensystem] und Zellen [Körper]) entsteht, so drängt die Entropie-
gesetzlichkeit auf Herabminderung des Potentials. Dies kann, solange das
Potential einen gewissen Minimumwert nicht überschreitet, durch Abschluß
des Systems von Energiezufuhren aus der Außenwelt erreicht werden. Andern-
falls aber nur, indem neue Energiemengen in das System zugeführt werden.
Unser physikalisches Modell kann also auf zwei einander entgegengesetzten
Wegen zur Erreichung seiner Entropie gelangen. Diese beiden Wege ent-
sprechen dem narzißtisch-destruktiven und dem objektlibidinösen Verhalten.
Genauer gesagt, diese beiden Triebverhalten sind in ihrem energetischen
Anteil mit den beiden Modellverhalten identisch. So daß bei voller Auf-
rechterhaltung des Triebdualismus, die Einheitlichkeit der Richtung des
physikalischen Geschehens im System besteht. Ja, diese „Zurückführung"
der beiden Triebe auf das sie beide umfassende einheitliche energetische
Geschehen, sichert die Freudsche These, daß die beiden Triebsgruppen dyna-
misch wesensverschieden sind.
Das allgemeine System verhalten, das unter dem Namen des Le Chate-
lierschen Prinzips bekannt ist \j] und das besagt, jedes System setze den
Einflüssen der Außenwelt Widerstand entgegen, tendiere also auf „Selbst-
erhaltung", ist eine spezielle Formulierung des umfassenderen Entropie-
satzes. Es gilt für Systeme im stabilen Gleichgewicht. Das System Person
kann sich nicht einfach im Sinne des Prinzips von Le Chatelier verhalten,
weil es nur in besonderen Grenzzuständen ein stabiles Gleichgewicht (wenig-
stens über kurze Zeiträume hin, z. B. im Schlaf) besitzt. In diesen Zu-
ständen besteht das Systemverhalten auch tatsächlich nur in den einfachsten
Handlungen des Widerstandes oder der Folgsamkeit, des „Ruhetriebes" (des
Destruktionstriebes). Im allgemeinen aber hat es nicht nur die Aufgabe der
Der Entropiesati und der Todestrieb 99
Außenwelt gegenüber zum Energieausgleich zu kommen, der bald zu einem
stabilen Zustand führen würde, sondern hat die in seinem Innern ent-
stehenden Energiedifferenzen zu bewältigen und hat daher den komplizier-
teren Mechanismus des Reizhungers, des libidinösen Verhaltens, der Sexual-
triebe, nötig.
Es ergibt sich aus der Hypothese des Systemduals, daß die Dignität des
Triebes, als des spezifischen Verhaltens lebender Systeme (osmotischer System-
duale), bloß dem Sexual- und dem Destruktionstrieb zukommt, während der
Todestrieb, im Sinne des Nirwanaprinzips, allgemeines Systemverhalten in
der Natur ist, (somit auch der sogenannte „Selbsterhaltungstrieb" [)]), das
auf der Systemhöhe Person unter ihren historisch gewordenen Maschinen-
bedingungen nur durch das Wirken von Destruktions- und Sexualtrieben
gesichert wird.
.Literaturverzeichnis
1) Siegfried Bernfeld: Psychologie des Säuglings. Wien 1925.
2) Siegfried Bernfeld: Faszination. Imago, 1928, Bd. XIV, S. 76.
5) Siegfried Bernfeld und Sergei Feitelberg: Das Prinzip von Le Chatelier
und der Selbsterhaltungstrieb. [In diesem Bande, S. 5 ff.]
4) Siegfried Bernfeld und Sergei Feitelberg: Über psychische Energie, Libido
und deren Meßbarkeit. [In diesem Bande, S. 15 ff.]
5) Siegfried Bernfeld und Sergei Feitelberg: Über die Temperatur differenz
zwischen Gehirn und Körper. [In diesem Bande, S. 66 ff.]
6) Cohen-Kysper: Die mechanistischen Grundgesetze des Lebens. Leipzig 1914-
7) Crile, Rowland und Telkes: An interpretation of Excitation, Exhaustion
and Death in Terms of Physical Constants. Proceedings of the National Academy
of Sciences of U. S. A. 1928, Bd. XIV, S. 532.
8) Rudolf Ehrenberg: Theoretische Biologie vom Standpunkte der Irreversibilität
des elementaren Lebensablaufs. Berlin 1923.
9) S. Ferenczi: Das unwillkommene Kind und sein Todestrieb. Internationale
Zeitschrift für Psychoanalyse. 1929, Bd. XV, S. 149.
10) Freud: Das ökonomische Problem des Masochismus. Ges. Schriften, Bd. V,
S. 374.
11) Freud: Jenseits des Lustprinzips. Ges. Schriften, Bd. VI, S. 18g.
12) Freud: Das Ich und das Es. Ges. Schriften, Bd. VI, S. 355.
13} Freud: Selbstdarstellung. Ges. Schriften, Bd. XI, S. 118.
14) Freud: Psychoanalyse und Libidotheorie. Ges. Schriften, Bd. XI, S. 201.
15) Freud: Das Unbehagen in der Kultur. Wien 1930.
16) A. Herzberg: Das Stabilitätsprinzip in der modernen Psychologie. Annalen
der Philosophie und philosophischen Kritik. 1929, Bd. VIII, S. 238.
17) G. G. Jung: Über die Energetik der Seele. Zürich 1928.
18) N ernst: Das Weltgebäude im Lichte der neueren Forschung. Berlin 19a l,
19) L. W. Stern: Der zweite Hauptsatz der Energetik und das Lebensproblem.
Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik. 1903, Bd. CXXI, S. 175.
20) Max Verworn: Allgemeine Physiologie. 6. Auflage. Jena 1915.
In halts Verzeichnis
Seite
Das Prinzip von Le Cbatelier und der Selbsterhaltungstrieb 5
Über psychische Energie, Libido und deren Meßbarkeit . . 15
I) „Psychische Energie" ]i
II) Zur energetischen Deutung des Weber-Fechnerschen
Gesetzes 22
III) Strukturierung 25
IV) Über Meßbarkeit der personierten Energie 40
V) Personierte Energie und Libido 51
VI) Entropie 56
Über die Temperaturdifferenz zwischen Gehirn und Körper 66
Der Entropiesatz und der Todestrieb 80
3
«5
nerefie un
d J_neb
x svcnoanalvtisdie otudn
syctioanalytische Dtudien
zur ± syaiopnysiologie
Vc
on
Oieelried _L>ernIeld
unO
oergei X eitelberg
<Dr. 10. fKrolik
«Berlin 510 61
Yorckstraße 68
Internationaler Psychoanalytischer Verlag
vVi e n
j