Begrundet von
Conrad Bursian,
herausgegeben von
A. Korte,
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Dreiundvierzlgster Jabi-gang.
1923.
LEIPZIG 1924.
Inhaltsverzeichnis.
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Paul Cauer. Vou Frtedrich Cauer in Berlin . . . .
Richard Foerster. Von Eberhard Richtsteig in Breslau
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Paul Caaer.
Geb. 17. Dezember 1854, gest. 26. November 1921.
Von
Friedrieh Caaer in Berlin.
Paul Cauer wurde am 17. Dezember 1854 in Breslau geboren.
Sein Vater Eduard Cauer war damals gleichzeitig Gymnasiallehrer
und Privatdozent der Geschichte, besonders der alten Geschichte.
Von ihm erbte Paul Cauer den Trieb zur Erziebuog wie zur Alter-
tumswissenschaft. Die Kinder, von denen Paul das zweitalteste
war, wuchsen in einer lebendigen geistigen AtmosphHre auf. Der
Vater wirkte im Hause wie im Berufe weniger durch Vorschriften
ale durch aein Wesen; in seiner Nahe wagte niemand, etwas Un-
edles zu tun oder zu sagen, kaum zu denken. Neben ihm stand
ebenbtlrtig die Mutter, die zugleich auf das kindlicbe Ftthlen ein-
zugeben und das keimeode Denken zu pflegen wufite. Daft diese
Mutter, der sich auch der trotzige Knabe mit unbedingter Hingebung
unterordnete, Bchon 1868 starb, war fur Paul der erste tiefe Schmerz.
Paul war ein ungewobnlich zartes Kind, das sicb wtthrend der
ersten Lebensjahre korperlich unci geistig nur langsam entwickelte.
Dann aber durchlief er die Schule obne Milne, fast spielend. Sein
Verhaltuis zu den Mitschtilern wurde etwas dadurch erschwert, daB
er junger war als die anderen, sie dabei in Leistungen ttbertraf.
Trotzdem bat er wtthrend seiner Schulzeit Freundschaften geschlossen,
die sicb durch alle Wechselfttlle des Lebeas bindurcb bewtthrt baben.
Auch in jedem spttteren Lebensabschnitt war es ihm gegoben,
Freunde zu gewinnen, und die neuen und alten Freundschaften,
die er bei raumlicbor Trennung durch Briefwechsel pflegte , be-
standen nebeneinander fort. Schon mit 16 Jabren , Ostern 1871,
war er reif fllr das Abiturientenexamen . Sein Vater aber, .damals
Qymnasialdirektor in Hamm , mochte ihn nicht so jung zur Uni-
versity gehen lassen ; darum war er erfreut, als Paul noch fttr ein
Jabr in die Landesschule Pforta aufgenommen wurde. Nachdem
er schon in Hamm vortreffliche Lebrer gehabt hatte , so neben
seinem Vater den Lateiner Herftus und den Mathematiker Reidt,
stand er jetzt vor all em im Bann des ehrwilrdigen Bektors Peter.
Als er Ostern 1872 die ReifeprUfung gut bestanden hatte, sprach
2
Paul Cauev.
er in seiner Valediktionsrede den Wunsch aus, einmal als Lehrer
nach Pforte zurtickzukehren. Bei seiner Berufswahl bestimmte ihn
der Lehrtrieb noch mehr als der Forschungstrieb. Um Lehrer zu
werden, studierte er klassische Philologie.
Eiu Triennium brachte er in Leipzig zu, wo er sich eug an
Georg Curtius anschloli und bald zu dessen Lieblingsschlilern gehtJrte.
Abweichend von den meisten Philologen verwies Curtius die Stu-
denten auf die vergleichende Spracbwissenschaft. Auch Cauer
lernte Sanskrit; seine ersten eigenen Arbeiten aber waren auf
Gegenstande der griechischen Sprachgeschichte geriebtet. Scbon
vor seiner Promotion nahm Curtius zwei Abhandlungen von ihm
in seine 'Studien' auf; in der zweiten verfocht der jugendlicbe
Forscher im Gegensatz zu seinem Lehrer die These, dali die Futura
der Deltastamme auf i;a> durch falsche Analogie entstanden sind.
Seine Beweisftthrung wurde von berufenen Beurteilern als zwingend
anerkannt. Im Hause Curtius verkehrte er bald wie ein Sohn, und
mit wie dankbarer Verehrung er zu der gUtigen Hausfrau empor-
blickte, sprach er versteckt in der seiner Doktordissertatiou bei-
gegebenen Vita aus: die Anfangsbuchstaben der Satze ergeben zu-
sammen den Namen Amalie Curtius. Dieser enge Anschluli an
Curtius machte ein naheres Verhtiltnis zu Ritschl leider uumoglich ;
doch hat Cauer seine samtlichen Vorlesungen gehtirt, im Seminar und
im Privatissimum unter ihm gearbeitet und war stolz, sich Schliler von
Ritschl nennen zu dlirfen. Auch die mehr gediegene als geistreiche
Gelehrsamkeit von Ludwig Lange wuBte er zu wttrdigen ; vor allem
schulte dieser sein Urteil in Fragen der vergleichenden Syntax.
Ftir dasBierstudententum hatte Cauer wenig Sinn ; dagegeu nahm
er an der feinen, angeregten Leipziger Geselligkeit eifrigen Anteil.
Seine dortige Studienzeit fand Ostern 1875 ihren AbschluB in der
Promotion. Die Dissertation behandelte den alteren attischen Dialekt.
Fur den Sommer 1875 ging der zwanzigjahrige Doktor nach
Strafiburg; die dortige Universitat war kurz vorher neu begrllndet
worden. Der Wert des Strafiburger Semesters bestand vor allem
im Genuli der oberrheinischen Natur und in der Bertthrung mit
dem elsassischen Volksleben. Die Strafiburger Eindrilcke, auch
die machtige Wirkung des Mtinsters und anderer Bauten , sowie
Goethes Schatten bildeten ein Gegengewicht gegen die strenge in-
tellektuelle Schulung der Leipziger Jahre. Doch widerstand Cauer
der Versuchung, unter Scherers EinfluB sich von der muhsamen Klein-
arbeit der klassischen Philologie abzuwendeu und seine darstellerische
Gabe in Arbeiten aus der ueueren Literaturgeschichte zu betatigen.
Paul Cauer.
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Vielmehr suclite er fur deu AbschlutJ seiner Studien den Lehrer
auf, der seine Schiller wie kaum ein zweiter zu peinlichster Klein-
arbeit und schmuckloser Sachlichkeit anhielt, Theodor Mommsen.
Vom Herbst 1875 an studierte er in Berlin. Einer Anregung
Mommsens folgend , die er freilicb erst allm&klich ganz im Sinne
des Meisters auffalSte , raacbte er eine eingebende epigraphiscbe
Untersucbung liber die rtimischen Unteroffiziere, die Bich Mommseu
filr seine Epbemeris ausbat. Aber gerade diese Arbeit, die er nicht
aus eigenem Fragen beraus, sondern im Gefolge eines Herrsebers der
FoTscbungunternommen batte, machte ihm die Gefahr flihlbar, zu einem
Handlanger im wissenscbaftlichen Grofibetriebe zu werden. Dabei
fesselten ihn docb am starksten die letzten und hochsten Fragen;
als der Weg aber zur Philosophic erschien ihm die Mathematik.
Bei seinem Oheim Kummer, zu dessen Haus ibn scbon damals die
Liebe zu seiner Tochter Helene hinzog, horte er mathematische
Vorlesungen. Daneben stand er nocb immer in Verbiudung mit
Georg Curtius; ja dieser regte ihn zu seiner ersten umfassenden
Arbeit an , einer Auswabl griecbischer Dialektinscbrtften , die im
Verlage von Hirzel erscheinen sollte. Aber dieser Aufgabe war
der vielseitige und rastlose, nocb nicht gesammelte Pbilologe damals
nocb nicht gewachsen; weder seine Kenntnis des Materials, nocb
seine textkritische Scbulung reichte dazu aus. Als das Buch 1877
erschien , konnten auch woblwollende Beurteiler zahlreiche Aus-
stellungen nicht unterdrttcken ; geradezu vernichtend aber wirkte
eine Rezension von Wilamowitz. Bis dabin schienen die Aussichten
ftb? eine wissenschaftliche Laufbahn so glinstig, dafi der junge Ge-
lehrte gelegentlicb gefragt wurde, warum er tiberhaupt sein Staats-
examen machen wollte. Jetzt stand er schlechter da, als weun
nocb nie eine Zeile von ihm gedruckt worden ware ; er muSte er-
leben, dali Leute, die selbst zu einem solchen Schiffbruch niemals
Gelegenheit hatten, ihn nun ihre Geringsch&tzung ftlblen lielien.
An akademische Karriere war nicht mehr zu denken ; aber die
Pbilologie hielt ihn fester als vorher; denn der MiSerfolg schreckte
ibn nicht ab, sondern spornte ihn an, etwas zu lejsten , wodurcb
die Scharte ausgewetzt wurde. Alle spateren Erfolge habeu ihn
diese Niederlage nicht verwinden lassen; je alter er wurde, desto
entscbiedener, am sch&rfsten auf seinem letzten Krankenlager, klagte
er sick selbst deswegen an. Und dock ist er gerade durcb dies
harte Erlebnis auf den Weg geflihrt worden , auf dem die in
seiner Eigenart liegenden Werte am wirksamsten wurden. —
Sein Ungllick war es gewesen, dali er in seinen Lehrjahren zu
1* .
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Paul Cauer.
schnelle und leiclite Anerkcnnung gefundcn hatte ; durch die Ver-
urteilung, die er jetzt erfuhr, wurde er getrieben, au sicli selbst
die strengsten Anforderungen zu stellen; und die Vereinigung vou
Wissenscliaft und Schule , die zunachst aus UuBeren GrUnden ge-
boten war, gewann ftir ihn wie vielleicht fiir keiuen zweiten eiuen
iuneren Wert. Als Lehrer lernte er die erzieberischen Kr&fto
schatzeu , die noch itnmer im klassiscben Altertum liegen. Sein
Uuterricbt wurde durch eigene Forscbung vertieft und regte ilm
andererseits zu wissensehaftlichen Fragen an. Um aber die Doppel-
arbeit leisten zu konnen , mulite er seine gauze Kraft anspannen,
seine ganze Zeit ausnutzen. So lange er dem Heeresverbande an-
gebdrte , dienten ibm die militliriscben Ubungen als Ferienreisen.
Jede ftir seine Arbeit wichtige Aaregung bielt er in umfangreicben
und sorgfaltig geordneten Sammlungen von Exzerpten und Notizen
fest. Man bat ibm wobl vorgeworfen, dafl er zu emsig darauf be-
dacbt war, jeden Gedankeu zu verworten und unbedingt durch-
zudriugen; aber nieinals bat er gewlinscbt, durcb etwas anderes
zur Geltuug zu kominen alH durcb Leistungen.
So uberwand er manche Hmdernisse und kain scbnell vorwftrts.
Sein Staatsexanien bestand er im Dezember 1877 ; er erwarb ein
Zeugnis ersten Grades init Fakultas fiir alle Klassen in den alten
Sprachen und Deutsch mit Einschlufi der philosopbischen Pro-
padeutik, fiir die mittleren Klassen in Matbematik. Zur Prlifung
war er von Eisenach gekommen, wo er sein Dienstjahr ableistete.
Wabrend des Sommers erbielt er fiir mehrere Wochen Urlaub, um emeu
milit&risch eingezogenen Lehrer am Eisenacher Gymnasium zu vertreten.
So kam er aucb im Amt dem Direktor Weniger nabe, mit dem er
wissenschaftlieb und menscblich dauernd in Verbindung blieb. Sein
Probejabr trat er Michaelia 1878 am Wilhelmsgyninasium in Berlin
an, von Anfaug an als vollbeschSftigter Hilfslebrer. Fest angestellt
wurde er Ostern 1880 am Friedrichsgymnasium, wurde aber scbon
nacb einem halbeu Jabre mit Beforderung an das Wilhelmsgym-
nasium zuriickgerufen. Der im kleinen wie im grofien gewissen-
bafte Direktor Ktibler, der ibn sch&tzte, obgleich er die Verschieden-
heit der religiosen, politiscben und aucb pSdagogischen Anschau-
ungen nicht verkennen konnte, und der als Autokrat verschrieene
Schulrat Klix , dessen Acbtung er gewonnen hatte, als er ibm
Widerstaud zu leisten wagte, waren einig in dem Wunscbe, ihn
an diese besonders angesehene Schule zurtickzubolen. Der Uuter-
ricbt am WilhelniBgymnasium war fur einen Anfiinger nicht leicht.
Die Schiiler, meist Sobne von heheren und btichsteu Beamten,
Paul Cauer.
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Offizieren oder reiciien Kaufleuten , fUblten sicb den Schulmeistern
in ihrer gesellscbaftlicben Stellung scbon uberlegen und traten ihnen
mit frtlbreifer, uicht imnier unberechtigter Km ik gegeniiber. In den
mittleren Klassen, in denen Cauer anfangs fast ausscblieftlich unter-
ricbtete, verband sich das mit dem dem Alter angemessenen Knabentrotz.
Diese Scbwierigkeiten Uberwand er nicbt obne anfangliche Miibe.
Docb muIJten ancb die vorlautesten Jungen tiberall merken, dafi er
ibnen geistig Uberlegen war, gelegentlich aucb durcb beiliende Ironie.
Ihreu Widerstand bracb er durcb starkeren Willen , und bei den
zuweilen kitzlicben Auseinandersetzungen mit vornebmen Vatern kam
ibm seine Herrscbaft ilber die gesellscbaftlicben Formen zugute.
Die Scbliler der oberen Klassen wuBten aucb zu schiitzen, was
der in der Wissenscbaft lebende junge Lebrer ibnen an Anregung
bot. Der Direktor Ubertrug ibm bald Vergilunterricbt in Ober-
eekunda; nacb einigen Jabren wurde er Ordinarius dieser Klasse
mit Unterricbt *n beiden alten Spracben.
Neben der reicbeu eigenen Arbeit nabmen ibu seine Angebti-
rigen stark in Ansprucb. Im Herbst 1881 starb seiu Vater, Beit
einigen Jabren Stadtscbulrat in Berlin, Dessen letztes Lebensjabr
war durcb gebassige politiscbe AngriflFe verbittert worden; an der
warmen Anteilnabme und dem besonneuen Urteil seines iiltesteu
Sohues fand er einen Halt. WKbrend der letzten scbweren
Krankbeit macbte ibm dieser durcb seine gescbickte Hilfe die Er-
ledigung von Amtsgescbaften moglich. Nach dem Tode des Vaters,
der die Hulieren und inneren Erlebnisse der Seinen geteilt und
gelenkt batte, war Panl Cauer der Ftibrende im Kreise der zu-
nHcbst zusammenbleibenden Gescbwister. Der zweiten Mutter, die
ibn selbst tlberleben sollte, trat er mit ritterlicber Treue zur Seite ;
an dieser Ebrenpflicbt gegen den verstorbeuen Vater wurde er
nicbt irre, aucb wo ihm ibre Erfullung durcb Gegensiltze im Denken
und Tun erscbwert wurde. Der jtingste Bruder Friedricb, der Ver-
fasser dieses Lebensabrisses, der mit ibm auch durcb die Verwaudt-
schaft der Studien verbunden war, fand in ibm einen zweiten Vater.
Neben dem alien forderte er emsig die eigene wissenscliaftlicbe
Produktion. 1883 erschien die zweite Auflage seiner Inscbriften-
sammlung; seit dem MiBerfolg der ersten Auflage batte er emsig dafiir
gearbeitet, zur Vollendung ein Vierteljabr Urlaub genommen, wahrend
dessen er seinen Vertreter bezablte. Wilamowitz begann die ausftibrlicbe
Besprecbung mit der Feststellung, daB sie mit der ersten uicbts als den
Titel und die saubere Ausstattung gemeinsam babe, und scbloB mit dem
als Anerkennung gemeinten Urteil, dafi sie zwar verbesserungs-
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Paul Cauer.
bediirftig, aber auch verbesserungswiirdig sei. Die in dieser Kritik
ausgesprochene Erwartung, die erste Auflage und ihre Verurteilung
werde damit vergessen sein, ist nicht in ErfUlIung gegangen. Uud
wahrend der MiBerfolg der ersten Auflage fortwirkte, zerschnitt die
zweite das personliche Band zwischen Cauer und seinem Lehrer
Curtius. Dieser flihlte nicht ohne Grund, daB sein Schiller ibm in
gewisser Hinsicht entwachsen war. Bei aller dankbaren Verehrung
fUr den geliebten Lehrer meinte Cauer, Curtius h&tte damals die
GroBe und die Schwierigkeit der Aufgabe richtiger beurteilen
miissen als er selbst. Dieser Vorwurf wurde niemals ausgesprochen,
muBte aber doch empfunden werden, als Cauer die zweite Auflage
seines Buches nicht wie die erste seinem Lehrer, sondern dem An-
denken seines Vaters widmete. Das verletzte Curtius so tief, daB
er und seine Gattin alle Beziehungen abbracheu.
Eine dritte Auflage der InschriftenBammlung ist nicht erschienen ;
einen Bearbeiter dafur zu gewinnen, gelang nicht; und Cauer selbst
fehlte neben anderen Aufgaben die Zeit. Im Zentrum seines
Forschens stand fortan Homer, ftlr desseu Verst&ndnis ibm die
Kenntnis der Dialekte sehr zugute kam. Zunacbst ilbernahm er
ftlr einige Jahre in den Verttfientlichuugen des philologischen Ver-
eins den Bericht iiber Homer mit AusschluB der hoheren Kritik.
Dadurch bekam er Gelegenheit, in die Arbeit anderer einzudringen,
und hatte Zeit, mit der Darlegung sich bildender eigener Anschau-
ungen zu warten, bis sie ausgereift waren.
Ostern 1884 wurde der kaum dreifiigjHhrige Gymnasiallehrer
unter Beforderung zum Oberlehrer im damaligen Sinn nach Kiel
versetzt. Der dortige Direktor Niemeyer war wissenschaftlich reich
gebildet und verstand es, die Schiller in frischer, groBzligiger Weise
zu regieren; aber er war nichta weniger als ein Verwaltungsmann,
und es widerstrebte ibm , seine Kollegen in irgendeiner Richtung
zu beaufsichtigen oder anzuleiten. So sehr Cauer auch diesen Vor-
gesetzten als Menschen sch&tzte, so viel muBte er, an die strenge
Ordnung des Wilhelmsgymnasiums gewohnt, in dem zwanglosen
Kieler Betriebe vermissen. Umgekehrt muBte die auch im kleinen
peinliche Art des n schneidigen Bengels aus Berlin'* den Schlllern
zunUchst widerstreben. Aber bald flihlten sie etch gerade unter der
festen Leitung wohl.
Im altsprachlichen Unterricht brachte die Versetzung nach Kiel
keine wesentliche Ver&nderung. Neu dagegen war der deutsche
Unterricht in Prima. Auch bei GegenstSuden, die ibn aufs tiefste
bewegteu, widerstrebte es Cauer, sich in AuBerungen des Geftlhls
Paul Cauer.
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zu ergehen oder sie aus den Schitlern hervorzttlocken. Reinheit in
der Auft'assung, Schiirfe im Denken, Klarheit und Orduung in der
Darstellung suchte er zu erreichen und verwertete dabei die Scbulung
durch die alten Sprachen. Mehr Gewicht als damals Ublich legte
er auf die philosophische Propiideutik, hielt aber nichts von den
dllrftigen Abrissen-der Logik und Psychologie, die zuweilen gegeben
warden , sondern las mit der Klasse pbilosophische Abbandlungen
von Hterarischem Wert. Da die damaligen Lesebiicber nacb dieser
Seite uicbts boten, stellte er selbst ein deutsches Lesebucb fiir
Prima zusammen. In den Aufsatzen suchte er die Priraaner vor
allem zu geistiger Selbat&ndigkeit zu erziehen. Unter einen Auf-
satz, in clem eine Auffassung bekampft wurde, die der Lehrer im
Unterricht vertreten batte, scbrieb er das Urteil: „Verf. hat recht
getan, eine Ansicbt abzulehnen, von deren Ricbtigkeit er sich nicht
Uberzeugen konnte. Gut."
Im Kollegium fand er seinen alten Studienfreund Anton Funck
wieder, der ibm balf, auch mit den Kollegen, die sicb durch seine
Berufung beeintracbtigt fiihleu konnten, in.gutes Einveruebmen zu
kommen. Gerade einer von diesen , der lautere und treue Kruse,
gewann ibn von Herzen lieb und bewabrte ibm seine Freundschaft
bis tiber den Tod. Neben Funck trat ibm der Mathematiker
von Fischer-Benzon besonders nabe, eiu geborener Schleswig-Hol-
steiner von foiner Bildung und vornebmer Gesinnung.
Zum Gedankeuaustausch mit Mannern anderer Berufe bot sicb
erwUnscbte Gelegenheit bei allwocheutlicben Wanderungen in die
berrlicbe Umgebung. Der fleifiige Gelehrte war stets ein rtistiger
FuISgHnger gewesen. Weite Reisen vermied er ja, urn Zeit und Geld
zu sparen ; aber die norddeutscbe Ebene durcbstreifte er in verschiedenen
Ricbtungen. So wanderte er von Berlin einmal zu Fuft nacb Leipzig
und legte den ganzen Weg von Berlin bis Kiel abscbnittweise zu Fufi
zurlick. Da war es ihm denn sebr erwUnscht, in Kiel eine Vereinigung
eifriger FuBganger zu finden, unter denen er bald einer der tttch-
tigsten war.
Aucb im eigenen Hause pflegte er den Umgang mit Kollegen
und Freunden. Seine Scbwester Marie war von Berlin mit ihm
gegangen, und gab seinem Dasein Reicbtura und Warme. An allem,
was sein auBeres und inneres Leben erfullte, nahm sie teil. So
lange beide zusammenblieben, war Bie seine tagliche Vertraute, mit
der er auch amttiche und wissenschaftliche Erlebnisse bespracb.
„So wie auf meine Schwester verlasse ich mich auf micb selbst
nicht." Aucb als die auBere Gemeinschaft sicb durch seine Ver-
s
Paul Cauer,
heiratung loste, blieb die innere bestehen , bis an das Lebens-
ende. Im Herbst 1886 heiratete er Helene Kuinmer , die Tochter
seines Lehrers und Oheims, die er scbon als Student geliebt liatte.
Sie wurde eine treifliche Hausfrau und Mutter und besafi dabei
das geistige Rustzeug, ihreni Mann bei seinen Berufsarbeiten zur
Seite zu steben. Die Enttauschungen und Verluste, die das Leben
bis zuletzt brachte , trug sie ala tapfere Kameradin, n laborum et
periculorum socia" ira vollem Sinne. Das bauslicbe Gliick wurde
vollendet durch die Geburt eines Sohnes und einer Tochter, an
deren korperlichem und seelischem Gedeihen sich die Eltern er-
freuen konnten.
Stets vvillkommene Gaste im Hause Cauer wareu Bruhn
und Scbeppig. Cauer und Bruhn, beide herbe Naturen, batten es
nicht gauz leicht, sich zu fiuden 5 nachdem sie sich aber einander
aufgescblossen batten, wufiten sie, was sie aneinauder batten, und
blieben Freunde furs Leben. Bruhns freimiitige und treffeude
Kritik war Cauer bei alien wissenschaftlichen Arbeiten unent-
bebrlicb.
Wahrend diese Freundschaft auf die nahe Verwaudtschaft der
Studien gegrundet war, schatzte Cauer in Richard Scbeppig den
Vertreter einer anderen Wissenschaft und einer anderen Schul-
gattung. Historiker und Geograph, Kenner des englischen
Wesens und Geisteslebeus, war Scbeppig ein lebendiger Beweis,
welcbe Werte moderne Kulturen und realistiscbes Wissen der
Jugend zu bieten haben. So lernte der Humanist, der bis dahin
den Glauben an das allein seligmacbeiide Gymnasium geteilt hatte,
die Oberrealschule als eine gleichwertige Bildungsanstalt acbteu
und erscbrak nicht vor der damals unerhorten Konsequenz, der
gleichwertigeu Schule auch die Gleichberechtigung zuzugestehen.
Durch Scbeppig wurde er mit den Schriften von Paul de Largarde
bekannt, die sofort bestimmenden Einflufi anf sein Denken gewannen.
Lagarde zerstOrte fUr ibn das Ideal der allgemeinen Bildung.
Nicht in einer Anpassung des Gymnasiums an Zeitstromungeu und
ZeitansprUche , sondern in einer Hebung der in seiner Eigenart
liegenden Werte sab er fortan das Heil. Als bald nach dem Re-
gierungsantritt Wilhelms II. allerlei Vorscblitge fUr die Reform der
hoheren Schuleu, z. T. recbt grundstdrzender Art, gemacht wurden,
und als es hieli, der neue flerrscher stUude solclien Planen nahe,
da glaubte Cauer nicht schweigen zu dUrfen. GegenUber dem ver-
worrenen Reformgeschrci entwickelte er seine durchdacbten Anschau-
ungen. Nicht durch staatliche Vorrechte, sondern durch Bewftbruug
Paul Cauer.
9
im freien Wettkampfe sollten sich die iiberlieferteu Werte bebaupteu *
und uicht durch Einftihrung neuer Unterrichtsfacher sollte das Gym-
nasium den Bediirfnissen der Gegenwart gerecht werden , sonde™
durch Betonung der Seiten der antiken Kultur, von denen aus sich
ein Verstandnis der Gegenwart gewinneu lafit. Den Gedanken des
freien Wettbewerbe zwischen Gymnasium, Realgymnasium und Ober-
realschule vertrater in einerReihe von Artikeln, die er dann als Flugschrift
unter dem von seiner Gattin vorgeschlagenen Titel „Suum cuique" zu-
samraenfaflte. Worin er das Wesen der Bildung liberhaupt sah, und
worin insbesondere den bildenden Wert der alten Sprachen und
Literatur, das legte er in einem ausflihrliclien Aufsatz dar, der dann als
erweiterte Broschtire erschien, unter dem Titel: Unsere Erziehuug
durch Griecheu und Ronier. Er ging von der Auffassung aus : Bildung
ist dieFahigkeit, sich in dieLage eines anderen zu versetzen, und suchte
dann zu zeigen, wie diese Fahigkeit durch Verseukung in fremdartige
Zustiiude und Gedankenwelten geftirdert wird, wahrend die ausschliett-
liche Beschaftigung mit der Welt, wie sie der eigeneu Zeit und
dem eigeneu Volke erscheint, gerade zu geistiger Enge und Be-
fangenheit verleitet. Wahrend Cauer so bemliht war, seine wissen-
schaftlichen Anschauungen erzieherisch zu verwerten, stand er der
theoretischen Padagogik skeptisch gegenfiber. Schon zu Aufang
seiner Kieler Zeit hatte er pseudonym eine Spottschrift veroffeut-
licht : A. B. C. Drescber, n Die Arreststunde im Lichte der Herbart-
Ziller-Stoyschen Ideen". 8ein geistiger Schwerpunkt lag mehr
denn je in der eigeneu philologiscken Forschung. Den Homer-
jahresbericht liatte er allerdings aufgegeben, weil die Kieler Biblio-
thek dazu nicht reicbhaltig genug war. Aber durch zahlreiche
Rezensionen arbeitete er sich immer tiefer in die homerisehe Frage
ein. In einem Vortrage auf der Gieftener Philologenversammlung
zeigte er, in welchem Umfange wissenschaftliche Ergebnisse fUr die
Herstellung und Erklarung eines guten Schultextes zu verwerten
sind. FUr den Tempskyschen Verlag bearbeitete er zunachst die
-Odyssee, dann auch die Ilias. Aus seinem eigenen Unterricht
gingen Anmerkungen zur Odyssee hervor. Seine kritischen Aus-
einandersetzungen liber eine Reihe homerischer Probleme faftte er
in einem Buche zusammen: Grundfragen der Homerkritik.
Als dieses Werk 18S5 zum ersten Male erschien, hoffte der Ver-
fasser, es wilrde ihm den Weg zu einem akademischen Amt er-
schlielieu. Seit Ostern 1890 las er als Privatdozent an der Kieler
Universitat. Mit Sorge sah er, wie die philologische Wissenschaft
sich von den Aufgaben der Schule immer mehr entfernte ; wenn er
10
Paul Caucr.
als akademiscber Lehrer GegenstSnde behandelte, die im Mittelpunkte
des Schulunterrichts stehen, meinte er den kiinftigen Lehrern fur
ihre Berufsausbildung etwas Besonderes bieten zu kbnnen. Seine
Vorlesungen, in denen er neben Sclmlschriftstellern (vor allem
natiirlich Homer) den philologischen Unterricht im ganzen behan-
delte, fanden audi bei den Studenten Anklang. Er hatte so viel
Zuhorer, wie bei der damals sehr geringen Gesamtzahl der Philo-
logen uberhaupt moglich war. Wie sein spaterer Kollege und
Freund Cornelius Hoik erz&hlt, schatzten sie vor allem die kiinst-
lerisclie Vollendung, die er jeder einzelnen Vorlesung zu geben
wufite, und schauten vergebens nach Zeichen mangelhafter wissen-
schaftlicher Gediegenheit aus.
Audi mit den Professoren der Universitat kniipften sich freund-
liche Bezieliungen an. Unter den Pbilologen war ihm Ivo Bruns
schon von Schulpforte her bekanut, und vielleicht gerade durch
ihre so grundverschiedene Art, der Wissenschaft und dem Leben
gegenuberzutreten , zogen sich die beiden Manner gegenseitig an.
Den starksten geistigen Einflufi Ubte Schirren auf Cauer aus.
Dieser knorrige Balte , der mit seiner geistigen und moralischen
Kraft eine Macht fur sich bildete, aber alien in Wissenschaft und
Staat herrschenden Kreisen fern stand, gewann mit seinem nach
auften oft schroffen und abstolienden, im Kern aber zarten, menschen-
hungrigen Wesen den AuBenseiter unbedingt fiir sich.
Aber trotz des guteu Lehrerfolges und des guten Vernal tnisses
zur Fakultat erhielt Cauer nicht das ersehnte Amt. Mehrere frei
werdende Professuren, darunter eine in Kiel selbst, wurden ander-
weitig besetzt, und die Bitte, ibm neben dem Schulamt eine auIJer-
ordentliche Professur als Nebenamt zu ttbertragen, lehnte Althoff
als staatsrechtlich unzulassig ab. . Inzwischeu war im Schulwesen
gerade die Reform gekommen, die dem Jliuger Lagardes als ver-
derblich erschien. Das Gymnasialmonopol war erhalten, aber um
den Preis von Zugestiindnissen , durch die das Wesen des Gym-
nasiums stark beeintraehtigt wurde. Trotzdem fiihlte Cauer in der
eigenen Sohularbeit, daft er noch immer etwas Gesundes schaffen
konnte. Als er nach Kiel kam, hatte man allgemein erwartet, er
wiirde bald Direktor werden. Doch auch auf diesem Wege fand
er Hindernisse. Ohne sich irgendwie am parteipolitischen Leben
zu betciligen , hatte er doch stets sein Wahh-echt ausgetlbt. Und
wahrend er bei den Reichstagswahlen 1887 fttr den Anhanger des
von der Regierung geforderten Septennats stimmte, gab er 1888 bei
der Landtagswahl seine Stimme offentlich fllr den freisinnigen
Paul Cauer. 11
Kandidaten ab, nicht ale Anhiinger der oppositionellen Partei,
sondern nur als Gegner mancher von ihm beklagten Zustande.
Der Provinzialschulrat Kopke sah danach davon ab , iiin zum
Direktov vorzuschlagen. Seine AusBicliten verschlechterten sicb
weiter , als sicb ein MiBverbaltnis zwischeu ibm und der Mehrbeit
seiner Kollegen am Gymnasium herausstellte. In einem Konflikt,
in den er zu einem der Kollegen geriet, nabmen die meisten in
verletzender , jede Verstandigung ausschlieftender Form gegen ihn
Partei.
Diese Hindernisse zu uberwinden, gelang der Gewandtheit des
Proviuzialscbulrats Kammer, der zwar als Homerforscber von Cauer
mit scbarfem Spott angegriffen war, aber vornebm genug dachte,
sic-h mit unerschopflichem Eifer fur seine Befb'rderung einzusetzen.
Ostein 1896 wurde Cauer zum Direktor des Gymnasiums und
Realgymnasiums in Flensburg ernannt. Der Direktor steht un-
nbhangiger da als der Lebrer und reicbt mit seinem EinflufJ weiter,
hat dabei vor den Beamten der Scbulverwaltung den Vorzug, daB
er selbst unterrichtet , in unmittelbarer Fiihlung mit Schiilern und
Eltern stebt. Eine besonders dankbare Aufgabe 1st die Leitung
einer Scbule , wie es die Doppelanstalt in Flensburg war. Ihr
Umfang bielt sicb in den Grenzen, dalJ der Direktor alle Klassen
und alle Uuterrichtszweige im Auge behalten kann, und ist anderer-
seits doch so grolJ , dali sicb innerbalb des Kollegiums reicblicb
Gelegenheit zu gegenseitiger Anregung bietet. Auch die Stadt
Flensburg ist flir einen Gymnasialdirektor besonders angenehm. Wie
in kleinen Stadten verkebrt er mit alien nambaften Persbnlicb-
keiten ; als Mittelpunkt von Nordschleswig aber vereinigte die
Stadt wenigstens vor dem Kriege mebr Manner von fiihrender
SteUung als sonst Stadte von gleicher Einwohnerzabl. Dazu bot
die herrliche Natur reiche Gelegenheit zu Wanderungen, auf denen
sicb Kollegen und andere Bekannte zwanglos nahe kamen.
Es gelang Cauer, das Verhaltnis vor allem zu den stftdtischen
Behorden freundlicher zu gestalten, als es unter seinem starr pbilo-
logischen Vorgftnger Albert Mttller gewesen war. Dieser hatte sein
Unbebagen nicht verborgen, als neben dem koniglichen Gymnasium
eine stildtiscbe Oberrealschule aufblilbte uud dem Gymnasium
ScbUler entzog. Der Vorkampfer der Gleichberechtigung begrUBte
es mit aufrichtiger Befriedigung, wenn junge Leute, die nach ihrer
eigenen Begabuug und nach der Denkweise ihrer Eltern besser auf
die Oberrealschule pafiten, dem Gymnasium fernblieben. Sein
freundliches Verbalten gegentlber der Oberrealschule wurde von
12
Paul Cauer.
den Leitern der stiidtischen Venvaltung rait Dank erwidert, dev dem
Gymnasium zugute kam. Die Stadt Flensburg war namlich ver-
pflichtet, flir die Bnulichkeiten und einige andere Bedtlrfnisse
des koniglichen Gymnasiums zu sorgen, und da gelang es Cauer,
durch seinen persiinliehen Einflufi eine Reihe wertvoller Bewilligungen
durckzusetzen.
Im Kollegium faud er tiichtige Mitarbeiter, die im ganzen aui
seine Anregungen bereitwillig eingingin, aucb wenn es sicb um
Aulierlicbkeiten handelte , die uun einmal fiir eine georduete und
glatte Arbeit unentbebrlich sind und sich gerade , wenn sie ver-
nachlassigt werden, storend fiihlbar macben. Freilich begegnete es
ibm auch, daii tuchtige Kollegen, die er als Mitarbeiter hochschatzte,
seiner Amtsfiihrung nicht mit vollem Vertrauen und Verstandnis
gegeniiberstanden. Er lieli dem eifrigen , geistig selbstandigen
Lebrer so viel Freibeit, wie ibm mit der Einbeitlicbkeit der gemein-
samen Arbeit irgend vertraglich schien; er sucbte dem eifrigen,
aber in der einen oder anderen Richtung noeh unvollkommeueu
Kollegen itber die Mangel seiner Begabung und Scbulung hiuweg-
zuhelfen; unter Umstanden aber hielt er es doch flir seine Pflicht,
gegenitber allgemeiner Gewobnbeit oder personlichen Anschauungen
das Keebt des Vorgesetzteu entscbieden geltend zu macben. Diese
Gewissenhaftigkeit wurde von einigen als kleinlicb und drUckend
empfunden.
Trotzdem stand er mit dem Kollegium im ganzen auf gutem
Fulie und maebte mit Erfolg die Anschauung geltend, dafi der ein-
zelne um der gemeinsamen Arbeit willen aucb seiner berecbtigten
Eigenart Scbrauken zieben muft. Die Schiller, besonders die der.
Klassen, in denen er selbst unterricbtete, gewann er scbnell durcb
die reichen Anregungen, die sie empfingen. Alle SchUler schatzen
ja nicht den Lehrer am bbchsteu, der am wenigsten von ihnen ver-
langt, sondern den, der ihneu das meiste bietet. Und vielleicht
wird es der schlesvvig-holsteiuischen Jugend leichter als mancheu
andern, zu verstehen, da!3 ein Lehrer nicht viel bieteu kann, ohne
aucb viel zu verlangen. So blieb der strenge Direktor von der
kurzeu Zeit seiner Fleusburger AmtsfUhrung her bei der Jugend
des dortigen Gymnasiums als frischer, lebendiger Lehrer in guter
Erinnerung. FUr ibn selbst war es besonders wertvoll, dalS er das
Uealgymnasium , fiir dessen Gleicbberccbtigung er seit lange ein-
getreten war, uunmehr durcb eigene Arbeit kennen lernte. Er
nahm sich den deutscben Unterricbt in der Kealprima und fand
seine Erwartung bestiitigt, dafi sicb die dem Realgymnasium eigen-
Paul Cauer.
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tiimlichen Stoffe fur das VerBtiindnis deutschen Geisteslebens ahnlich
nutzbar raacben lassen wie die des Gymnasiums. In der Gym-
nasialprima nahm er sich philologischeu Untericht , soweit es die
RUcksiclit auf die darin heimischen Kollegen erlaubte.
Entbehren mulite der bisherige Universitatslehrer die reicbe
Gelegenheit zu wissenschaftlichem Gcdankenaustausch, deren er sich
in Kiel erfrent hatte. Darum loekte ihn das bunte Geistesleben
der Kimststadt Dtisseldorf, als die Leitung des stadtischen Gym-
nasiums und Realgyninasiums durch die Ernenuung von Matthias
zum Provinzialschulrat frei geworden war. Die Stadtverordneten
zogen ihn den zahlreichen, zum Teil namhaften Mitbewerbern vor;
fan Lauf des Sommers 1898 trat er das neue Amt an.
Einen ftir seine Art so giinstigen Boden wie in Schleswig-Hol-
stein fand Cauer in Dtisseldorf nicbt. Unter den Btirgern der
schnell anwachsenden Stadt waren viele, die einen anderswo er-
vrorbenen Woblstand hier geuiefien wollten, andere, die noch mit
alien Gedanken auf den Erwerb gericbtet waren. Weder die Ge-
nielier noch die Erwerber batten viel Sinn fur die angestrengte, auf
immaterielle Werte gerichtete Arbeit, die Cauer leistete und, weniger
eutgegenkommend als sein VorgHnger , auch von anderen forderte.
AllmJlhlicb abor bildete er sich aucb bier seinen Kreis. Im Mal-
kasten lernte er Ktlnstler kennen; besonders wertvoll wurde ihni
der Verkebr mit Eduard von Gebhardt. Auf Wanderungen, ftir
die er auch hier AnschluB fand, knttpften sicb Beziehungeu auch
zu Mannern an, die ihm nach Beruf und Lebenserfahrung fern
standen. Und bei geeigneten Gelegenheiten , so in der Zechrunde
des ,.Kessels" merkte man, dali der ernste, arbeitsame Mann zur
recbten Zeit auch der rheiniscben Frohlichkeit zug&nglich war.
Als zustandig in Kulturfragen erkanute ihn die Stadt an, indent
sie ihn in die Tbeaterkommission berief.
Der rege Verkebr innerhalb der Provinz braehte ihn oft zu-
sammeu mit nambaften Schulmannern aus anderen Stadten wie mit
Professoren der Bonner UniversitSt. Besonders herzlich wurde seine
Freundscbaft mit Oskar Jager, mit dem er, trotz mancher Meinungs-
verschiedenbeit im einzelnen, seit Jabren als Verteidiger des buma-
nistischen Gymnasiums Schulter an Schulter kampfte. Filr die
Wissenscbaft empfing er viel von Georg Lbscbke, der in seinen
zablreichen Vortrttgen wie im personlichem Gesprache ihm ein
tieferes und lebendigeres VerstSndnia der griecbischen Kunst
erschloJJ.
Im eigenen Kollegium faud er von Anfang an freudige Mit-
14
Paul Caiier.
i
arbeit, und je lftnger er in Diisseldorf blieb, desto mehr wuchs das
Kollegium in sich und mit seinem Direktor zusainmen. Bei Be-
setzung offener Stellen, wozu oft Gelegenheit war, nutzte er den
Vorteil stjidtischer Schulen, sich oline Riicksicbt auf Dienstalter die
Tiichtigsten auszusucben, nachdrlicklich aus. So vereinigte er uuter
seiner Leitung eine Reihe vortrefflicher , zum Teil hervorragender
Lehrer, die sich ihm willig unterordneten, auch personlich an ihm
hingen. Einige Diisseldorfer Kollegen, vor allem Niepmami, Hoik
und Kroymann , blieben ihm dauernd in Freudschaft verbunden.
Gegenliber Schwierigkeiten von auften standen alle treu
zu ihm. Wuiiten sie doch, dafS er seinerseits es ernst nahm mit
dem Grundsatz, dali der Vorgesetze seine Kollegen nicht niir zu
beaufsichtigen , sondern auch zu schiitzen hat. Und wein etwa
seine uuermtidliche, das Grolie wie das Kleine umfassende Aufsicht
einmal unbequem wurde, der vergafJ nicht, dad er sich selbst das
Leben weit unbequemer maehte als anderen.
Keinerlei Schwierigkeiten maehte das Zusammenarbeiten mit
Lehrern anderer Koufession. Der unabhangige Denker achtete
jede ernste, aufrichtige Weltanschauung und war nie in Versuchung,
Andersdenkende durch taktlose Aufterungeu zu verletzen. Die katho-
lischen Schiller der paritutischeu Anstalt hielt er zum piinktlichen
Besuch der Messe an. Die konfessionelle Zusammensetzung war
allerdings insofern als Nachteil zu empfinden, als sie es uumbglieh
maehte, in wochentlichen Andachten zur Gesamtheit der Schiller
zu sprecben. In Flensburg hatte Cauer auf diese Andachten viel
Eifer verwandt; jetzt konnte er nur von Zeit zu Zeit zu der etwa
zwei Drittel betragenden evangelist-hen Mehrheit sprecben und hatte
die ganze Schule nur bei besonderen Gelegenheiten, vor allem bei
SchluBfeiern und Entlassungen, vor sich.
Durch haufige Besuche lernte der Direktor den Unterricht iu
den mehr als 20 Klassen seiner Schule von oben bis uuten kennen
und gab, ohne die Selbstandigkeit der Unterricktsstunden zu beein-
trachtigen, Schulern wie Lehrern manche wertvolle Anregung. Bei
ihm selbst batten ja nur einige obere Klassen der Riesenschule
Unterricht. Auch in Diisseldorf Ubernahm er stets weuigstens ein
Fach in einer Realklasse. Am Gymnasium kam er jetzt endlieh
dahin, den griechischen Unterricht auf Prima zu erteilen und sich
in vollem Umfange so an der Krone des Gymnasialuuterrichts zu
erfreuen. Und erfreuen konnte ihn auch, je langer er in Diissel-
dorf war, desto mehr, die freudige Arbeit und das eindringende
Verstiindnis der Sclmler.
Paul Cauer. 15
Die Stille erfolgreicher Arbeit in der Schule wurde aufs neue
bedroht, als um die Jahrhundertweude urastUrzlerische Forderungen
erhoben und, wie es hielS , vora Kaiser begiinstigt wurden. Der
lateinische Unterricht sollte Uberall auf sechs Jalire, der griechische
auf vier oder gar nur drei beschriinkt werden. Als einige Jalire
vorher Iteinhardt iu Frankfurt den Reforinplau am Gymnasium eiu-
geftihrt hatte , war seine Hoffnung geweseu , gerade durch die Zu-
sammendrangung des altsprachlichen Unterrichtes wenigstens iu den
oberen Klassen den starken Einfiufi des klassischen Altertums wieder-
berzustellen, den er mit Cauer als eiuen Vorzug der friiheren Gym-
nasien ansali. DalS der Reformlehrplan diese Wirkung haben
konute, wenn er an einzelnen Stelleu unter gUnstigen Bedingungeu
von einem entschieden humanistiBch gericliteten Direktor und einem
auserleseuen Kollegium durchgeflihrt wurde, hat Cauer niemals be-
stritten. Aber von Anfang an flirchtete er, das Reformgymnasium
kounte verallgemeinert werden, uud sah als notwendige Folge vor-
aus, dali dann die realistischen Stoffe verstarkt, die humanistisclien
zuriickgedrangt werden mulJteu. Darum hatte er das Reformgym-
nasium von Anfang an bekampft und trat jetzt bei dem neueu
Sturm gegen das alte Gymnasium als vorderster in die Bresche.
Allerdings war ihm ja seit langem klar, was die meisten Freunde
des humanistisclien Gymnasiums bis dahin bestritten hatteu , dali
das Gymnasium seinen Charakter nur bewahren konnte , wenn es
auf sein Vorrecht verzichtete. Und im Augenblick der hbchsten
Gefahr gelang es ihm, auch Oskar Jager, bis dahin einen der
zahesten Verteidiger des Gymnasialmonopoles , flu* das unvermeid-
liche Zugestaudnis zu gewinnen. Erst die rheinischen Sehulmanuer
auf der Osterdienstags-Versammlung, dann der deutsche Gymnasial-
verein auf seiner Pfingsttagung in Braunschweig sprachen sich in
Cauers Sinne aus. In der Debatte wie in zahlreichen personlicheu
Besprecbungen hatte er diesen Sieg seiner anfangs verfehmteu Idee
erkampft.
Inzwischen war er auch im Ministerium zu Worte gekommeu.
Althoff, der als Ministerialdirektor neben den Universitaten auch
die hfiheren Schulen unter sich hatte , schiltzte ihn vor allem als
Autoritat in Schulfragen. So rief er ihn zur Teilnahme an ent-
scheideuden Besprecbungen nach Berlin. Als Cauer dort eintraf,
schien die Absicht, die Vorrechte des Gymnasiums durch eine weitere
Verktimmrueng seines Lehrplanes zu erkaufen, eudgltltig festzustehen,
und er fiihlte sich als Verteidiger einer verlorenen Sache. Vor seiner
Abreise eroffnete ihm Althoff, dali er in seinen Absichten erschilttert
16
Paul Cauer.
war und nun rnit dem Gedankeu umging, den Schulfrieden durch
Gleichberechtigung der verscbiedenen, in ihrer Eigenart verstiirkten
hoheren Schulen herzustellen. In diesem Sinne hat sicb dann die
groBe ins Ministerium berafene Konferenz auagesprochen, und dieses
Ziel war nialSgebend fur die bald darauf erlassenen neuen Lebr-
plane. Die Regierung batte sicb also ebenso wie die Melu'zahl der
Pliilologen in Cauers Sinne entschieden; ob dabei sein personlicher
EinfluB bier ebenso stark eingevrirkt bat, wie dort, laflt sicb nicbt
sicher beurteilen ; wirkungslos 1st er jedenfalls nicht gewesen.
Schon wahrend seines damaligen Berliner Aufeutbaltes war er
von Althoff gefragt worden, ob er nicht Lnst babe, in die Schul-
verwaltung iiberzutreten. Er batte zunachst abgelehnt, und dann
wurde die personliche Beziehung zu Althoff gelockert: Cauer hatte
sich in Braunschweig durch seine Freude an schlagenden, scharf
zugespitzten Kampfesworten zu einer AuBerung kinreiBcn lassen,
die ibm der Ministerialdirektor nicht ohne Grund verdacbte. Aber
Althoff empfand zu vornehin und sachlich, um sicb audi durch eine
berechtigte persOnlicbe Verstimmuug dauernd heeiuflussen zu lassen.
Als er im Sommer 1903 zusammen mit dem Kultusminister Studt
nacb Diisseldorf kam , lud er Cauer zu einer Unterredung ein, in
der er ibm zunachst mitteilte, daB ihm in Anerkennung „fUr seine
Opposition" ein Orden verliehen sei, und dann die Frage erneuerto,
ob er nicht sein Konigreioh Mazedonien-Diisseldorf mit eineni
groBeren Wirkungskreise vertauschen wolle. Cauer hatte noch
imraer wenig Neigung, auf den unmittelbaren Verkehr mit der
Jugend und ein ihm so liebes Gemeinwesen zu verzichten , lehnte
aber nicht uubedingt ab. Als ihm dann bestimmte Stellen in
Provinzial-Schulkollcgien angeboten wurden, stellte er eine Be-
ilingung, die nicht tiberall und nirgends ohne Schwierigkeit zu
erfullen war; nur wenn er wieder Gelegenheit zu akademischer
Lebrtatigkeit bekam, war er bereit, sich vom Schulamt zu trennen.
Endlich 1905 gelang es, Cauer in Miinster eine Stellung zu schaffen,
die ihm eine vielseitige Amtstatigkeit eroffnete; er wurde Provinzial-
Scbulrat mit dem Dezernat der meisten evangelischen Gymnasien,
zugleicli Vorsitzender der Prufuugskommission und Honorarprofessor
an der Universitat mit einem besonderen Lehrauf'trage flir griecbische
Sprache und Literatur.
Ein Provinzialschulrat hatte , vor dem Kriege noch mehr als
jetzt, viele Dienstreisen zu machen. An der Mebrzahl der ihm
unterstellten Schulen nahm er ein- oder zweimal im Jahre die
ReifeprUfung ab. In einem vor langerer Zeit gehaltenen Vortrage
Paul Cauer. 17
liatte Cauer die damalige Ordnung der Reifepriifungen bekampft,
weil sie zuviel gedachtnismaftiges Wissen und zu wenig verstandes-
maftige Schulung forderte. Inzwischen war das Reglement zweimal
ge&ndert worden , und die Neuerungen nahmen auf die von Cauer
betonten Momente Riicksicht. Jedenfalls war es im Rahmen der
nunmehr bestehenden Ordnung moglicb, zugleich streng im wesent-
lichen und weitherzig im unwesentlichen zu sein. Allerding3 be-
stand aucb die Gefahr, daft die ganze Prtifung zu leicbt wurde und
aufhorte, die Unfahigen auszuschlieften und die Fabigen zu der
Anspornung ilirer Krafte zu zwingen, die die alte Ordnung bei
aller Kleinlicbkeit immerhin verursacht batte. Dafi der neue
Schulrat nicht zu schwltchlicher Milde neigte, konntc man von
vornherein wissen, und wer es nicht wulite, mufite es bald merken.
Aus Kreisen der Abiturienten wurde gerubmt, daft er durch sein
Eingreifen .vom Gedacbtnismaftigen ablenkte und die Denkfabigkeit
erprobte. Wo an der geistigen Reife kein Zweifel sein konnte,
sab er ilber einzelne Schwachen binweg, notigeufalls selbst unter
Verletzung des Reglements. Und wo irgend moglicb, war er be-
mtiht, durch befreienden Witz die Stimmung der Examinatoren und
Examinanden zu beleben.
Soviel an ibm lag, sollte der Unterricht des letzten Schul-
jahres nicbt in einer Abricbtung auf das Exameu bestehen. Aber
ibm scbten docb die Priifung als eine Probe auch ftir die Lehrer und
den Ertrag ihrer Arbeit wertvoll und er verwarf den Gedanken,
sie ganz durch haufigere Revisionen zu ersetzen. Auch in Re-
visionen war er so eifrig, wie die knapp bemessenen Mittel fur
Dienstreisen es erlaubten, und zwar zog er zahlreicbe, zuweilen
Uberraschende kiirze Besuche wenigen langeren vor. Wenn irgend
mbglich war er auch bei dieser Gelegenheit weniger der Aufsicht-
fUbrende , der nach MilSstanden spahte , als der altere Fachmann,
der aus seiner reichen Erfahrung Anregung gab. In derselben
Weise erledigte er auch Berichte und andere Eingange, und ins-
besondere seine Entscheidungen liber die vorgelegten Leseplane
enthielten oft wertvolle Winke flir die Lektiire.
Beim Vergleicb der verschiedenen Schulen fand er leider seine
alte BefUrchtung bestatigt, daft die strenge Ber ticks ichtigung des
Dienstalters bei Anstellung und Gehaltsberecbnung nachteilig auf
die Leistungen wirken wlirde. Bei der Anstellung von Lehrern an
den koniglicben Schulen muflte er erleben , wie die TttcUtigsten
von den Stadten weggenommen wurden nnd fur den Staat vor
allem die Ubrig blieben, die keine Stadt begehrte. Was irgend
Nekrologo 1922 (Jahresbericht f. Altertumswissenschaft. Bd. 198 B.) 2
18
Paul Cauer.
moglich war, tat er trotzdem, uin tuchtige Manner fur die konig-
lichen Schulen der Provinz zu gewinnen, uud es gelang ihm mehr-
facli mit solchen, die durch ihre Versetzung einen iliren Fahigkeiten
und Neigungen mehr entsprechenden Unterricht bekamen.
Fiir die Zukunft ware es von Wert gewesen, wenn man durch
strenge Prlifung der Kandidaten unfahige junge Leute vom Lelir-
beruf batte ausschliefien konnen. Erst als Vorsitzender , dann,
nachdem er den Vorsitz wegeu Uberblirdung abgegeben batte , als
riihriges Mitglied der Prttfungskommission machte Cauer nach-
drticklich die Anschauung geltend, dafi es verkebrte Humanitat sei,
jedem, der das Examen beharrlich immer wieder versucbte, sehliefi-
licb in Anerkennung seines Eifers die Anstellungsfaliigkeit zu be-
scbeinigen. Aber sowohl die bestehende Prufungsorduung wie die
im Ministerium herrschenden Grundsatze wie die Nachsicht einiger
Kollegen sorgten filr eine ibm verderblicb erscheinende Milde.
Wo er selbst prllfte (vor allem fiel ihm oft die damals nocb be-
stehende allgemeine Prlifung zu), war er von denen gefiircbtet, die
sicb irgendein Wissen fUr das Examen angeeignct batten, denen
erwiinscht , die unbekiimmert um das Examen ihren Geist gebildet
batten. Lieb war es ibm, wenn er dieser Prlifung die Form eines
Gespracbes geben konnte.
Uberhaupt liebte er es, mit Maiinern, die ibm amtlicb untev-
stellt waren, einen zwanglosen Gedankenaustausch zu pflegen. Unter
den Waudergenossen , die er aucb in Mlinster fand, waren einige
Professoren der Universitat und zahlreiche Lehrer der dortigen
hoberen Schulen. Gem besuchte er Zusammenkliufte der west-
falischen Philologen und beteiligte sicb an der Diskussion nicht als
Vorgesetzter , sondern als Mitglied der Versammlung. RegelmaiJig
ging er zu den Taguugeu der evangelischen Religionslebrer in
Hamm. Hier ermutigte er durch seine AuBerungen die freier ge-
richteten, die es nicht als ihre Aufgabe ansahen, den Sehulern den
Glauben an eine fertige Lehre einzufloBen, sondern sie zum Nach-
denken liber religiose Fragen anzuregen und in das Verstandnis
religitisen Lebens einzufiihren. Ganz leicht war diese Stellung-
nahme bei der streng positiven Richtung des westfalischen Kon-
sistoriums nicht; doch gelang es, ein freundliches persOnliches Ein-
vernehmen auch mit den Mitgliedern dieser Behiirde zu erhalten.
Mit Vertretern der katholischen Kirche batte Cauer in Mlinster
ebensowenig Schwierigkeiten wie in Dttsseldorf. Als Mitglied der
PrUfungskommission filr Oberlehrerinnen alten Stils batte er manche
Ordensschwestern zu priifen , die von ihren Oberen fdr das hohere
Paul Cauer.
19
Lehrfach auserlesen waren, und er fand unter ilmen solche, die
wissenscbaftlicb einen ebenso glinstigen Eindruck machten wie
menscblich. Seine Geringscbatzung gegen Berechtigungen uud vor-
gescbriebene Bildungswege wurde bestarkt, wenn er erfubr, wie
reif mancbe Oberlehrerinneu obne Abiturientenexamen waren und
wie unreif manche Studenten mit Reifezeugnissen.
An der Universitat batte er als Honorarprofessor unbegrenzte
Lehrfreibeit, daneben einen Lebrauftrag zunacbst nur ftir klassiscbe
Philologie. So sebr er sicb freute, rein wissenscbaftlicbe Vorlesungen
zu balten, besonders tiber seinen Homer, so wiinschte er docb, audi
liber Gymnasialpadagogik zu kUnftigen Lebrern zu sprecben, und
da seine Zeit nicbt ausreichte, urn neben den pflicbtmaftigen pbilo-
logiscben Vorlesuugen nocli freiwillige padagogiscbe zu balten,
erbat und erreichte er eine Ausdebnung seines Lehrauftrages auf
Padagogik und Schulgescbicbte. Er wecbselte nun in seinen Vor-
lesungen zwiseben reiner und angewandter Wissenscbaft ab.
Inmitten dieses reicben Wirkens entbebrte Cauer doch die
Freude der eigenen Scbularbeit, und andrerseits war die Stellung
eines Provinzialschulrates , der dem Ministerium untergeordnet ist
und in seiner Behorde selbst den Prasidenteu und den Direktor
Uber sicb bat, nicbt einfluUreicb genug, um fur den dauernden
Verkebr mit der Scbuljugend Ersatz zu bieten. Als er nacb
Miinster Ubersiedelte , batten ibm viele propbezeit, er werde dort
nicbt lange bleiben, sondern bald in das Ministerium berufen
werden. Ware Altboff langer an seinem Platze geblieben, so batte
sicli diese Erwartung wobl aucb erfiillt; nacb dessen Ausscbeiden
aber hatte Cauer in Berlin nicbt mebr den Rlickbalt wie vorber.
Das mulite er vor allem spttren, als 1910 Mattbias seinen Abscbied
nabm; nicht dessen Stelle wurde ibm angeboten, sondern eine
durch ihre Besetzung freigewordene Stelle im Berliner Provinzial-
scbulkollegium, alBO etwas, was er scbon zweimal abgelebnt batte.
Zugleicb wurde die Ereude am gegenwartigen Amt durcb mancbe
ibn krankende Entscheidungen des Ministers getrubt; da bot sicb
ibm fur den Abscbluli seiner amtlicben Laufbabn eine Aussicbt,
durcb die , wie es scbien , sicb der Traum seines Lebeus verwirk-
licben sollte. Als Muff 1911 starb, wurde zunacbst Cauer als
Rektor der Laudesscbule Pforte in Aussicbt genommen; eine be-
sondere Genugtuung war es fur ibn, daft kein Geringerer als Wila-
mowitz seine Kandidatur warm untersttitzte. Trotzdem scbeiterte
die Berufung nach Pforte und zwar an Cauers Wunscbe, die pbilo-
logiscben Vorlesungen, die ihm in Miinster ein Bedilrfnis geworden
2*
20 Paul Cauer.
waren, an der Pforte benaclibarten Universitat Halle fortzusetzen.
Em Lehrauftrag in Halle wurde ihm allerdings angeboten, aber
nur einer fur Padagogik und auch der unter Bedingungen, die er
als entwurdigend einpfand. So lebnte er schliefilich ab, zumal der
Rektor in Pforte , der frliber aucb durcb sein bobes Gebalt unter
den preufiischen Scbulmiinnern hervorgeragt batte, damals ohne ein
solcbes Nebenamt weniger Einkoramen batte als Caner in seiner
Miinsterer Stellung.
Mit deni frischen Scbraerz ilber einen zerstbrten Lebenswunsch
nabm er an einer Konfereuz der Provinzialscbulrate teil , die im
Sommer 1911 in Berlin tagte. Der Verlauf dieser Konferenz, in
der er zu alien Gegenstanden spracb, und insbesondere die Haltung
des Ministers von Trott zu Solz bestarkten ihn in dem Gefllhl,
innerbalb der Schulverwaltung auf einem verlorenen Posten zu
stehen. Das Gefttbl wurde verscbarft durcb neue, nicbt gerade er-
heblicbe, aber doch empfindliche Ki-ankungen, die er in seiner
Amtsfilbrung erfubr, vor allem aber durcb den Extemporaleerlafi,
der trotz aller berubigenden Versicherungen dahin flihren mufite,
den Uuterricbt ftir die Unbegabten und Lassigen noch leicbter, ftir
die Begabten und Eifrigen noch dtirftiger zu macben.
Der Gegensatz zu den im Ministerium berrscbenden Anscbau-
ungen kam in einem Vortrage liber Wilhelm von Humboldt, den
Cauer auf der Posener Philologenversammlung im Herbste 1911
hielt, deutlich zum Ausdruck. Wer so dacbte und spracb, mulite
in einem bestandigeu Zwiespalt sein zwiscben den Geboten des
eigenen erzieberischen GewissenB und den Vorscbrifteu , die durch-
zuftihren er amtlicb verpflicbtet war. Diese ftir die Beteiligten
unbaltbare Lage wurde beseitigt, als Cauer seinem Antrage ent-
sprecbend im Herbst 1.912 als Provinzialscbulrat in den Kubestand
versetzt wurde. Er blieb Honorarprofessor an der Universitat und
Mitglied der Prtifungskommission ; kurz vorher batte er es liber-
nommen, an der Stelle des verstorbenen Ricbter den padagogiscben
Teil der Leipziger neuen Jabrbticber herauszugeben. Die Be-
freiung vom Verwaltungsamt macbte es ihm mbglicb, uocb eifriger
und ofFenberziger als bisher in Vortragen und Scliriften flir die
Erhaltung einer von der Wissenschaft beherrscbten Scbule zu kampfen.
Als Wobltat empfand er es doch vor allem, dai! er jetzt mehr
als je zuvor fUr eigene wissenschaftliche Produktiou Zeit bebielt.
Im Mittelpunkte seines Forscbens stand nach wie vor Homer. Mit
Homer und in Homer lebte er so , dan es ihm bei ernsten und
heiteren Anlassen BedUrfnis war, seine Gedanken und Gefilhle in
Paul Cauer.
21
homerischen Versen oder frei verbundenen und umgestalteten ho-
merischen Wendungen auszusprechen. Eine Sprache , die sich so
dazu eignete, wechselnde Stimmungen und Situationen einer reifen
Kultur auszudriicken , konnte nicht so eintonig alterttlmlich sein,
wie sie dem Unkundigen zunachst scheint, Cauer hatte frllh ge-
lernt, sie als das Ergebnis einer Iangdauernden und wandlungs-
reichen Entwicklung zu verstehen.
Als er 1879 seinen ersten Homerbericht verfasste, muftte er
vor allem zu der Ausgabe von Nauck Stellung nehmen, Den Ver-
such, durcb zahlreiche und eingreifende Textanderungen die an-
gebliclien Vergewaltigungen Aristarchs zu beseitigen und die ur-
sprttngliehe Spracbe Homers wiederberzustellen , lehnte er ent-
schieden ab, anfangs nocb fast in der Stimmung eines orthodoxen
Aristarcheers. Es war uiclit schwer zu erkennen, wie Nauck an
manchen Stellen den Sinn durcb Streichung bezeicknender Partikeln
verdarb, an anderen, um eine altertlimliclie Form wiederberzustellen,
eine andere zerstb'rte. Das Nebeneinander verscbiedenartiger Formen
aueb innerbalb desselben Abschnittes war nicht von einem Kritiker
geschaffen, soudern durch eine Entwicklung entstanden. Aber eben
daraus ergab sich: Aristarch hatte einen Zustand der homerischen
Sprache festgehalten , dem andere vorangegangen waren ; mufiten
wir darin uns heute noch nach ibm richten? Wer diese Frage
uberhaupt stellte , mufite sie verneinen ; immer klarer erkannte
Cauer, daft Nauck in seinem grundsatzlich verfehlten Streben vieles
einzelne trefflich verbessert, sinnstbrende Partikeln gestricben,
sprachliche oder metrische Anstblie beseitigt hatte. Ebenso stellte
sich Cauer zu Ficks Versuch, aolische und ionische Partien zu
sondern ; er wies nach , daft feste Ionismen sich auch in den nach
Fick aolisch abgefassten und nur mecbanisch in das Ionische ttber-
trageuen Teileu fanden, und daft auch in den nach Fick von vorn-
herein ionisch geschriebenen Abschuitten die iiolischen ErBcheinungen
sich nicht beseitigen lieften. Das binderte ihn aber nicht, manche
von Ficks Textanderungen anzunebmen und mindestens als mbglich
zuzugeben, dali Aolismen in den altereu Teilen der Epen haufiger
sind als in den jilugeren.
Der Text, den man durch solche Einzelbesseruugen gewann,
liefi sich allerdings keiner bestimmten Zeit zuweisen, wie der
aristarchische der alexandrinischen ; aber er war unbedingt lesbarer
und darum vor allem fUr die Schule besser geeignet als der iiber-
lieferte. Darum sagte Cauer freudig zu , als ihn der Verlag von
Tempsky aufforderte, die Odyssee flir den Schulgebrauch heraus-
22
Paul Gauer.
zugeben. In seinem GielSener Vortrage entwiekelte er 1885 die
Grundsatze , die er in der wahrend der folgenden Jahre ihn be-
schiiftigendeii Ausgabe betatigte. Der Odyssee folgte 1890/91 eine
ebenso bearbeitete Tlias. Beide Epen erschienen in zweiter Bear-
beitnng, mit wenigen Textanderungen, aber ohne die lateinisch ge-
schriebenen textkritischen Vorreden und mit deutscb geschviebenen,
auf das Bedilrfnis der Schiiler berechneten Beigaben 1894 und 1902.
Beideu Ausgaben kam es zagute , dali der Herausgeber im
Unterricht gezwungen war, aufgeweckten jungen Lenten Stellen zu
erklaren, ilber deren Dunkelheit der Gelebrte Bich zuweilen mit
einem Kunstausdruck beruhigt. Immer deutlicher wnrde ibm in
diesem Verkebr, wie man die homerischen VerBe nur versteben
kann, wenn man sie sicb gesprocben und von Gebavden begleitet
denkt und zwar im Munde von Dichtern, die nicbt etwa von dem
strengeu attiscben Satzbau abwichen , sondern ihn nock nicbt von
feme ahnten. Die Anschauung einer Sprache, in der sich die
grammatische Unterordnung erst allmaklich aus der NebeDordnung
entwickelt, kam vor allem in zwei Eigentlimlicbkeiten der Ausgabe
zum Ausdruck: in der Betouung der Prilpositionen . die an vielen
Stellen durch den angemessenen Akzent ihre adverbiale Kraft zu-
ruckerbielten , und in der Interpunktion. Audi die 1894/97 bei
Grote erscbienenen Anmerkungen zur Odyssee sollten helfeu, eine
an Bildern iiberreicbe, im Satzbau primitive Dicbtersprache zu
verstelien.
In demselben Sinne bearbeitete Cauer seit 1909 die altbewahrte
Ausgabe von Ameis und Hentze. In Textanderungen bielt er sich
hier zurtick und nabm aus seiner eigenen Ausgabe nur auf, was
ein untiberwindliches Hindeniis des Verstandnisses beseitigte ; den
Kommentar dagegen gestaltete er neu. Aucb wo er inbaltlich
Hentzes Erklarung beibehielt, vermied er grammatische Termini
wie Litotes oder Anakoluth und schilderte lieber den seelischen
Vorgang, den man damit zu bezeicbnen pflegt. An vielen Stellen
aber ging er entscbiedener als Hentze darauf aus, zur Vorstellung
der Wirklicbkeit anzuregen, die sicb im Worte des Dicbters wieder-
spiegelte.
Auf Fragen der hbheren Kritik ging Cauer in seinen Kommen-
taren wie in seinem Unterricht nur da ein , wo sie sich dem auf-
merksamen Leser aufdriingen muBten , und aucb hier vermied er
es, eine Losung anzubieten. In seinen Bericbten und Rezensionen
aber hatte sich die Kritik , aucb die ho'here , von Anfang an aus
der Exegese ergeben. Und als er 1895 zum erstenmal seine
Paul Caner.
23
Homerforschungeu in einem Buche iiber Gruudfragen der Homerkritik
zusatumenfalite, erschien eine eigeneHypothesettberdie Entstehung der
Epen gewissermaften als das Ziel aller vorangehenden Untersucliungen.
Dies Buch wollte weniger neue Wege weisen als zwischen den Forschern,
die jcder seinen Weg gingen und, Scbeuklappen vor den Augen, ihn
tor den allein ricbtigen hielten, eine Annaherung herbeiftthren. Scbon
in seiner Antrittsvorlesung hatte Cauer gezeigt, wie die Text-
kritiker und Dialektforscher, die Kulturbistoriker und Kompositions-
betrachter, jeder fiir sicli, wertvolle Beobachtungen macbten, indem
sie aber die Arbeit der benacbbarten Forscber nicht beacbteten,
aus den ricbtigen Beobachtungen Scbltisse zogen, die iiber das Ziel
hinausschossen. So kam er, indem er von alien zu lernen bemtlht
war, zu einer umfassenderen und besonneneren Gesamtanscbauung
als jeder einzelne von ihnen. Im ersten Teile bebandelte er Text-
kritik und Spracbgeschicbte , im zweiten den historiscben Hinter-
grund, die Unterscheidung von Kulturstufen und die Komposition.
Scbon durch diese Ankniipfung an andere Untersucliungen bemtihte
er sicb , die Kompositionskritik von der subjektiven Willkttr zu
befreien , an der sie audi bei ibren gl&nzendsten Vertretern litt.
Aus jcdem nachgewiesenen Widersprucb zwiscben zwei Stellen
schlossen Laclimann und seine Nacbfolger auf Versebiedenbeit deg
Verfassers , wabrend selbst bei modernen Dicbtern solcbe Wider-
sprilehe sicb auch anders erkliiren k(5nnen. Das ergab sicb erst
recbt bei Homer als moglich, der oft selbst im Rabmen eines Satzes
von einem Standpunkt der Betracbtung zu einem andern springt,
Vollends also in einem langen Epos. Durcb diesen Einwand gegen
die Metbode von Lachmann und Kircbboff lieft sich Cauer aber
uicbt verleiten, mit Rothe und anderen Gegnern der Homerkritik
ibre gauze Fragestellung abzulebuen, sondern suclite in Beobacbtungen
liber Homers poetiscbe Tecbnik einen objektiven MalJstab fiir das
bei Homer MOglicbe und Unm5glicbe zu gewinuen. So bereitete
er die Analyse der beiden Epen vor, die den Abscbluli bildete.
Das Buch beanspruchte niebt, alle Zweige der Homerforscbung
zu umfassen. Darum blieb der Verfasser bemliht, seine Kenntnis
der bomeriscben Welt zu erweitern und zu vertiefen. Gleicbzeitig
schritt die Forschung auf den verscbiedenen Gebieten fort. All das
verarbeitete die 1909 erscbienene zweite Auflage der Grundfragen.
Scbon eiu Blick auf die Inbaltsiibersicht zeigte, dafi der Verfasser
seine Anscbauung bereichert hatte und eben dadurch in seinem
Urteil vorsicbtiger geworden war. An der Spitze des ersten Teiles
stauden jetzt zwei Abschnitte tiber Handscbriften und Vulgata. Die
24 Paul Cauer.
geschichtlichen und kulturgeschichtlichen Untersuchungen im zweiten
Teil waren stark vermehrt und schiirfer gegliedert; dabei war die
t)berschrift bescheidener geworden, nicht mehr : Analyse des Inbaltes,
sondern : Zur Analyse des Inbaltes. Die Kompositionskritik war
zu einem dritten Teil ausgestaltet. Dieser verzichtete darauf, eine
eigene Hypothese Uber den Ursprung der Epen im Zusammenbange
zu begrilnden , und bescbrankte sicb auf eine eingebeude Cha-
rakteristik der homerischen Diebtweise , aus d$r sich die Grenzen
der Kritik wie das Kecbt zur Kritik ergaben. Wie Cauer hier
auf einein ihm vertrauten, aber schliipfrigen Boden vorsicbtige Zu-
rUckhaltuug iibte, so wagte er es andrerseits, sicb das Ergebnis
eines anderen im Widerspruch zu den angesehensten Pbilologen
und der ihnen folgenden Mebrheit anzueignen. Die GrUnde, aus
deneu Dbrpfeld das beutige Leukas fiir das bomeriscbe Itbaka er-
klarte, erkannte er als durcbschlagend an. Die weitgebenden
Schliisse freilicb, die Dorpfeld daraus zog, lehnte er ab. Die An-
nahme, die Odyssee sei' vor der ionischen Wanderung im Mutter-
lande entstanden , war fdr ibn scbon desbalb ausgescblosseu , weil
die homerische Spracbe mit ihrer Mischung ioniscber und iloliscber
Bestandteile nur in Kleinasien , wo Ionier und Aolier Nacbbarn
waren, entstanden sein konnte.
Nebentriebe der Homerarbeit waren Untersucbungen tiber ver-
wandte deutscbe und verscbiedenartige romiscbe Epik. In einer
Abbandluug Uber einige Gesange des Nibelungenliedes ergab sicb,
daft die vom 14. bis zuni 20. Lacbmannschen Liede reicbeude
Reihe eine zusammenhangende Dicbtung daretellt , in der frUher
selbstandige Lieder wobl verarbeitet sind, aus der sie sicb aber
nicht mehr glatt ablosen lassen, wUbrend zwei Lieder (1G und 18), die
sicb von ihrer Umgebung deutlich abbeben, erst sptiter entstanden sind
und den Zusammenhang , in den sie eingescboben wurden , ebenso
voraussetzen wie die Doloneia und die Gesaudtscbaft an Acbill.
In einer Programmnbbandlung Uber Vergils nacbahmende Kunst
zeigte Cauer, wie der gelebrte rb'mische Dichter von dem an-
schauenden griechiscben aucb Ziige und Wendungen Ubernominen
bat, obne ibre sinnlicbe Kraft zu ver.stehen und zu bewahren. Mehr
und mehr freilicb erkannte Cauer dann , daB aucb die spiiteren
homeriscben Sanger von ihren naiveren Vorgangern schon Uhnlich
abbangig waren.
Das Streben, im Streit der Pbilologen von jedem das auzu-
nehmen, worin er die L5sung eines Problemes gefdrdert hat, be-
tatigte er auch in einer Schrift Uber Wort- und Gedankenspiele
Paul Cauer.
25
bei Horaz. Er stellte fest, daft die voreiligen Kritiker, die horazisehe
Oden oder Strophen ftir unecht erklarten, durchweg auf wirklicke
Anstftfie hingewiesen kaben, Anstiifte, die dann dahin ftibrten, daft
man die Vorstellung vom Wesen horazischer Dichtung andern
muftte, daft man den Dichter nickt iiberall so ernst nekmen kann
wie frtiher, und an manchen Stellen, wo friihere Auslegung feier-
lickes Patkos vernabra, jetzt eben ein leicktes Spiel in Wortcn
oder Gedanken erkennt.
Andere Fragen, auf die ikn die Lekrtatigkeit an Sckule oder
Universitiit ftihrte, hat Cauer in kleineren Aufsatzen oder Rezen-
sionen bebandelt. Einiges davon , was auch weitere Kreise inter-
essiereu konnte, nahm er in eine Sammlung auf, die 1912 unter
dem Titel „Aus Beruf und Leben" erschien und der Alma mater
Portensis gewidmet Avurde. Vor allem waren darin Schulreden
und Vortr&ge vereinigt , die dafiir zeugen sollten , daft die Sckule
zugleick von wissenscbaftlichem Geist durchdrungen seiu und vom
Leben der Gegenwart befrucbtet werden kann und soil. Eineu
einkeitlichen Versuch, seine Anscbauungen vom klassischen Altertrim
dem Jugeudunterricht und tiberhaupt dem Leben dienstbar zu
macben, stellen die drei Biicher dar: Grammatica militans (zuerst
erschienen 1898, in dritter Auflage 1912); Palaestra vitae (zuerst
erschienen 1903, in dritter Auflage 1913); Kunst des tjbersetzens
(zuerst erschienen 1894, in fUnfter Auflage 1914). Mit diesem
Buche bertihrten sich im Stoff Vortrage iiber das Altertum im Leben
der Gegenwart, die als Baudchen 356 der Teubnerschen Sammlung
aus Natur und Geisteswelt 1911 und 1915 in zwei Auflagen er-
schienen. Allen diesen Btichern gemeinsam ist der leitende Gedanke :
Die dogmatische, normative Philologie gekort der Vergangenheit an.
Aber gerade wenn die Wissenschaft lehrt, Fttblen und Denken,
Reden und Schaffen der Alten in seiner historischen Bedingtlieit
zu verstehen, kann sie uns dazu verhelfen, den Erscheinungen der
Gegenwart mit klarerem und ruhigerem Urteil gegenUberzutreteu.
Hauptaufgabe der Grammatik ist es nicbt, Regeln Uber scblechtbin
Richtiges und Falsches aufzustellen, sondern psychologisch und
bistorisch zu erklaren, was ftir Anscbauungen und Gedanken die ver-
scbiedenen Viilker und Zeiten auszudrlicken strebten, was fllr Aus-
drucksmittel sie dafiir besaften oder neu schufeu, welche Vertin-
deruugen in diesem Prozeft allmablicb mit den grammatiscben
Gebilden vorgingen. Da jedes Volk ein besonderes Seelenleben
in einer besonderen Spracbe auspriigt, ist es unmbglich, was in der
einen Spracbe gcsagt ist, in einer anderen mit photographiscber
20 Paul Cauer.
Treue wiederzugeben ; aber Erkenntniswert hat diese Eiusicht nur
fiir den, der sie in redlichem Suchen nach der besten Ubersetzung
selbst gewonnen hat. Dazu gibt das erste der genannten Biicher
mancherlei Anregung, lehrt insbesondere, in jeder abstrakten Wen-
dung den ursprlinglichen konkreten Sinn zu erfassen und dann in der
Mutterspracbe ein Bild von ahnlich anschaulicher Kraft zu nnden. Die
Meisterwerke der antiken Literatur und Kunst konnen als vorbildlich
heute ebenso wenig gelten wie die staatlichen und gesellschaftlieheu
Zustande des Altertums; aber gerade wer die Schopfungen der
Alten nicht als raustergtiltige Anwendungen eiuer fUr alle Zeiten
maBgebenden Kunstlebre ansieht, kann in ihnen das Erlebnis nach-
fiihlen, freilicb nur, wenn er mit der eigenen Zeit lebt und erlebt.
-Man hat diesen Biichern den doppelten Vorwurf gemacht, sie
seien nicht erechbpfend und boten nichts Neues. Aber sie sollten
ja nur aus der eigenen , natllrlich begrenzten Erfakrung heraus
zeigen, wie Ergebnisse der Wissenschaft ftir den Unterricht fruchtbar
gemacht werden konnen. DaB diese Beitrage, in denen sich manches
selbst gewonnene Ergebnis versteckt, einem BedUrfnis entsprachen,
bewies der buchhandlerische Erfolg. Dabei lag es Cauer vollig
fern , verwandte Leistungen anderer herabsetzen oder ausschlielien
zu wollen. Das zeigte sich gegcnilber Carl Bardt, dessen auf Cicero
beschrankte, aber in den Grundanschauungen verwandte Technik
des Dbersetzens er ebenso freudig anerkannte wie Bardt sein ura-
fassenderes Buck.
Die Kunst, verschiedeneu, dabei gleichwertigen und gesinnungs-
verwandten Fachgenossen nebeneinander Geltung zu lassen oder zu
verschaffen , libte er als Mitherausgeber der Leipziger neuen Jahr-
biicher. Er begntlgte sich nicht, angebotene Beitrftge anzunehmen
oder abzulehnen, sondern bemtihte sich, wertvolle Mitarbeiter heraii-
zuziehen und mtiglichst in jeder Frage dein berufensten Beurteiler
das Wort zu geben. Dabei verstand es sich entsprechend seiner
eigenen Gesinnung wie nach dem Uberlieferten Charaktcr dieser
Zeitschrift von selbst, daB alle Mitarbeiter, mochten ihre Gegen-
stiinde und zura Teil auch ihre Ansichten uoch soweit auseinander
geben, doch iibereiustimmten in dem Streben, der strengen Wissen-
schaft ihren Platz in der Jugendbildung zu erhalten.
Die Anschauungen, die Cauer seit 1889 unermudlich verfochten
hatte, hatteu ja formell gesiegt , als 1900 in einer Kabinottsordre
die Gleichberechtigung der hbheren Schulen proklamiert wurde unci
zwar mit der ausdrticklichen Bestimmung , dadurch jeder Schule
Freiheit in der Auspragung ihrer Eigenart zu verschaffen. Aber
Paul Cauer.
die letzten unter den Aufsatzen, die Cauer 1906 unter dem
„Siebzehn Jahre im Kampfe urn die Schulreform" in einem
zxisammenfaBte, mulSten auf neue Gefahren fur die Eigenart
des Gymnasiums hinweisen. Die formelle Gleichberechtigung kam
auch dem Frankfurter Beformgymnasium zugute; nach Absicht
seines Begriinders hatte dies dazu dienen sollen , das Gymnasium
zu retteu ; jedot b begiinstigt und ausgebreitet wurde es jetzt vor
allem von Gegnern des Gymnasiums , die darauf rechneten , die
lmmanistische Bildung damit zu zerstoren. Und wahrend auf dem
Reformgymnasium weuigstens in den oberen Klassen die alten
Sprachen breiteren Rauni bekamen, wurde auf anderen Gymnasien
eine Bewegungsfreiheit eingeflilirt , durch die fur einen Teil der
Schiller die Eigenart der Schule hochstens zur Not gewahrt, keinen-
falls aber kraftigor betont wurde.
Cauer aber lag daran , sie auch in den Fachern zur Geltung
zu bringeu, die dem Gymnasium mit den anderen Schulen gemeinsam
waren , vor allem im Deutschen, in dem er selbst jabrelang mit
anerkanntem Erfolg unterricbtet hatte. Aus dieser Arbeit war ein
Bucfa „vou deutscber Spracherziehung" erwachsen , das er 1906,
unmittelbar nach der Trennung vom Schulamt, seinen alten Schiilern
gewidmet hatte. Wohl kein Buch hat Cauer so heftige, man muB
fast-sagen: gehassige Angriffe zugezogen wie dieses. Weil flir ibn
der deutsche Unterricht sich wie jeder wissenschaftliche Unterricht
an den Verstand wendete und auch philosophische Propadeutik
umfalJte, erschien er manchen Germanisten wie ein kalter Ver-
staudesmenscb , der flir nationale Gefllhlswerte keinen Sinn babe.
Weil er deutsches Geistesleben in seiner Wechselwirkung mit
frcmdem, vor allem in seiner Abhlingigkeit vom antiken, sah, und
weil er eine grolie Zahl deutscher Stunden fttr zweckwidrig hielt,
wurde ihm VerstiSndnis deutschen Wesens abgesprocheu. Besondere
Entrilstung erregte er dureh seinen Kampf gegen die verstandnis-
lose und terroristische Verfolgung der Fremdworter; deren Gebraucb
schien ihm unter Umstanden zur Deutlichkeit unentbehrlich.
Wie er bei dem alien seine Pflicht gegen das deutsche Vater-
land verstand, bewies er beim Ausbruch des Krieges 1914. Er
betrachtete den Krieg als ein von Zeit zu Zeit unvermeidliches
akutes Stadium in dem Kampfe, den menscbliche Gemeinscbaften
dauernd miteinander fllliren. Diesen darwinistischen Gedanken
hatte er 1880 in einem Vortrage in der Berliner philosopliischen
Gesellschaft ausgesprochen, in dem er den Ursprung der Moral aus
dem Kampf urns Dasein ableitete. So war der Krieg fur ihn die
28
Paul Cauer.
Probe auf die Lebenskraft des deutschen Reiches. Dieser Probe
sah er von Anfang an mit Sorge entgegen , weniger wegen der
feiudlichen tjbermacht als wegen der inneren Krankheitserscheinungen,
die er seit lange bemerkt hatte. Er hoffte aber, eben die Not
wiirde zur Gesundung ftlhren, und wie sein Meister Lagarde be-
trachtete er das Heer als eins der wenigen gesunden Gebilde in
Deutschland. Seiner Dienstpflicht hatte er als Einjahrig-Freiwilliger
eifrig genligt. Leicht war es ihm nicht in jeder Hinsicht geworden,
aber gerade die Schwierigkeit war ftir ihn ein Sporn, sie zu Uber-
winden. So hatte er es bis zum Hauptmann der Landwehr gebracht
und trug neben den anderen Ehrenzeichen, die ihm nach und uach
verliehen wurden, gern die Landwehrdienstauszeichnung erster Klasse.
Bei Kriegsausbruch meldete er sich sofort auf dem Bezirkskommando
und wurde bald als Fiihrer einer Landsturmkomnagnie nach Belgien
geschickt. Bis Sommer 1918 ist Cauer in Belgien geblieben, stets
an der Spitze einer Landsturmkompagnie, meist im Besatzungsdienst
verwandt, daneben zeitweilig aueh mit Verwaltungsgeschiiften be-
traut, 1917 vorllbergehend in einer Riegelstellung nahe der Front.
Seine vUterliche Fiirsorge ftir die Mannschaften haben ihm diese
Uber den Tod hinaus gedankt; daB er bemllht war, die Harten ftir
die feindliclie Bevolkerung auf das unvermeidliche Mali zu be-
schranken, wurde wiederholt anerkannt. Mit Schmerz aber mulite
er bemerken , dali es nicht durchweg im deutschen Heere ebenso
stand. Seine Sorge uber deu Kriegsausgang wurde durch solche
Beobachtungen verstSrkt. Vielleicht nur wenige Deutsche siml
wahrend des Krieges so frei von Illusionen gewesen. Er hoffte
weder auf einen glanzenden Sieg noch auf Versohnung ohne Sieg.
Schon als im Frtlhjahr 1918 sein einziger Sohu, ein hochbegabter
Mathematiker, sein bester Freund, wie er selbst schrieb, am Kemmel-
berge fiel , fand er einen gewissen Trost in dem Gedanken , dali
dieser in der verwlisteten Welt nicht weiter zu leben brauchte.
So furchtbar und schmahlich freilich, wie es im Herbste 1918
hereinbrach, hatte auch er sich das Ende nicht gedacht. Aber zur
Verzweiflung liefl er sich weder dadurch treiben noch durch den
Schmerz am den Verlust der Seinen*, zu Ostern 1920 starb seine
treue Lebenskameradin ; das alles spornte ilui nur zu gesteigerter
Arbeit, mit der er zu helfen suchte, so viel er an seinem beschei-
denen Platze konnte. Noch niemals war er politisch hervorgetreten,
so aufmerksam er auch die politischen Ereignisse beobachtete, und
so gewissenhaft er regelmafSig seine Wahlpnicht erflillte. An
unserem Beamtenstaat hatte er viel auszusetzen; schon 1892 hatte
Paul Cauer.
29
er in . einer Schrift iiber Staat und Erziehung die Uberspannung der
Staatstiitigkeit, die mechanische Gleichmacherei, die Labmung der
Selbst&ndigkeit bekiimpft, jetzt trieb ibn sein Sinn fur Gerecbtigkeit
uud Ehre, in Wort und Schrift gegen die Schuldluge zu kampfen.
Dafl die feblerbafte Politik unserer Regierung und insbesondere
des Kaisers zu einer Katastropbe fiihren kiinnte , batte er seit
Jahrzebnteu geftirchtet; daft wir durch scbwere Fehler in die ver-
zweifelte Lage geraten waren, in der wir in den Krieg eintraten,
batte er bitter empfunden. Aber als den schwersten Febler sab er
die Ubermaliige Scbeu vor einem Kriege an, also beinabe das
Gegeuteil dessen, was die Feinde uns vorwarfen, und was als wahr
anzuerkennen sie die neue Regierung im Friedensvertrage zwangen.
Mit Befremden beraerkte Cauer, wie wenig Bedeutung in Deutscbland
selbst nationale Kreise dieser Frage beilegten. Nur mtthsam gelang
es ibm, fur eine kleine Flugschrift (Recbt und Gewalt) im Verlag
der deutschnationalen Volkspartei eine Gelegenheit zum Druck zu
finden. Zwar reicbte das ibm bekannte Material nocb nicbt aus,
den Kriegswillen der Feinde so zwingend zu beweisen , wie das
jetzt inoglicb ist; dalS aber jedenfalls die deutscbe Regierung den
Krieg nicbt gewollt bat, bewies er fur jeden, der es verstand, Tat-
sachen zu seben und Schlttsse daraus zu zieben. Und er benutzte
Beziehungen zu neutralen und selbst feindliehen Gelebrten, um
seine Beweisftibrung auch ins Ausland zu tragen.
Eine mannbafte Zurtickweisung der feindlicben Verleumdungen
batte er scbon bei der Regierung des Prinzen Max und der da-
maligen Reicbstagsmebrbeit vermifit und vermiftte sie erst recht bei
den nacb der Revolution herrsehenden Parteien. In dieser Gegner-
schaft fand sicb Cauer, der sicb einst durch Wahl eilies frei-
sinnigen Kandidaten beinabe seine Laufbahn verdorben batte, mit
den bisberigen Konservativen zusammen. So trat er der deutsch-
nationalen Volkspartei bei ; eine fiihrende Stellung hat er auch im
engereu Kreise nie erstrebt und merkte mit zunehmender Deut-
licbkeit, dafi er zum Parteimann nicht geschaffen war.
Dagegen stand er in erster Reibe, als es nach der Revolution
gait, der Jugend wenigstens die Moglichkeit einer ernstbaften Er-
ziehung und Bildung zu erhalten. Unter dem Schlagwort „Ein-
heitssebule" wurde ein Aufbau des Schulwesens erstrebt, innerhalb
dessen es ausgeschlossen sein muftte, zu wissenschaftlichem Denken
zu erziehen, zur Pflichterfullung auzubalten. Wenn diese Be-
strebungen auf der Reichsschulkonferenz nicbt durchdrangen , so
haben das die eifrigen nnd scblagfertigen Verteidiger des wissen-
30
Paul Cauer.
schaftliclien Unterriehtes erreicht , unter denen Cauer nicht felilte.
Ganz allein stand er in der Frage der Lebrerbildung. Gerade weil
er wulSte , dafJ niemand sonst der Forderimg der Abiturientenreife
fur alle kiinftigen Lehrer widersprechen wtirde, trat er ihr entgegen
mid suchte zu zeigen, dali fiir gleicliwertige, aber verschiedenartige
Aufgaben audi eine verschiedenartige Vorbildung notig sei. Er
wuuderte sich nicht, als Kollegen und Parteigenossen sich beeilten,
von ihm abzurlicken uud zu versichern, daB er nur fiir seine Person
gesprochen hatte. Das konnte ihn nur bestimmen, seine Gedanken
in einer Flugschrift (Ketzereien zur Lebrerbildung) weiter aus-
zufiihren. Er vies darauf hin, wie diejenigen, die fur alle Lehrer
eine akademische oder annahernd akademische Bildung fordern, in
der Uberscblitzung des "Wissens und des Verstaudes, die sie zu
bekampfen w&knen, selbst befangen sind. Von soldier Uberschatzung
ftihlte sich Cauer frei, audi wenu er fur diejenigen, die intellektuell
begabt sind oder einen geistigen Besitz aus der Kiuderstube mit-
bringen, das Recht in Auspruch nahm, diese Werte zu pflegen und
fiir die Allgeineinheit nutzbar zu machen, und wenn er, trotz aller
eutmutigenden Erfahrungen, den sokratischen Glauben an die Macht
verniiuftiger Eiusicht bewahrte. In einem Vortrage, den er wahrend
der Reichsschulkonferenz im deutsch-nationalen Lehrerbunde hielt,
bezeichnete er es als Aufgabe der Schule , die Jugend durch Ein-
sicht zu dem Eutschlufi zu bringen: mehr arbeiteu und weniger
genielien. Und in einem Kapitel Uber ethische Fragen, das er der
11*19 abgeschlossenen , auch sonst vermehrten und teilweise urn-
gearbeiteten zweiten Auflage seiner deutschen Spracherzieliung ein-
fiigte, suchte er im einzelnen zu zeigen, bei welchen Gelegenheiten
inbesondere der deutsche Unterricht zu ethischem Nachdenken und
zu sittlichem Wolleu anregen kann. Audi in didnktischen Vor-
lesungen , die er spSLter als Buch herauszugeben dachte , legte er
dar, wie Erziehung und Unterricht nicht nebeneinander hergelien,
sondern wie der Unterricht , der zunachst den Verstaud in An-
spruch nimmt, mittelbar auch den Willen beeinflulit.
Je schlimmer es um das Deutsche Reich und die deutsche
Bildung stand, und je weniger sich Cauer bei dem selbstgefalligen
BewuIStsein beruhigen konnte, daft er in Staat und Schule manches
Unheil vorausgesagt hatte , desto lieber vertiefte er sich in eine
Arbeit, Uber der er die allgemeine Not und das eigene Leid ver-
gessen konnte. 1920 gab er die ersten sechs BUcher der Odyssee
als Nachfolger von Ameis und Hentze heraus (das vierte Heft der
Odyssee war 1911, das erste der Ilias 1913 erschienen). Da diese
Paul Cauer.
31
Ausgabe ftir Schiller und vor alleni fiir Philologen bestimmt war,
freute es ihn, fiir den Insel-Verlag einen Horaertext herzustellen,
der gebildeten Lesern ohne Fachwissen dienen sollte. Beide Epen
waren in einem liandlichen Baude vereinigt. Das Register und
dag kurze Nachwort waren mit Rilcksicht auf auslandische Benutzer
lateinisch geschrieben. Das Namensverzeichnis, das er auf Anregung
von Ernst Walbe zufilgte, erstrebte keine VollstJindigkeit, sondern
verzeichnete Stellen, an denen sich erquicken konute, wer bei
Homer Befreiung von der Last des Tages suckte. Freilich war
wie immer ,,die Halfte mebr als das Ganze" ; bei der Ausarbeitung
des Index bewies Walbe die hingebende, verstehende Freundsehaft,
die er dann wahrend der letzten schweren Monate bewahrte.
Diese Ausgabe , in der die sprachwissenschaftlicbe Reinigung
des Textes und eine dem homerischen Satzbau angemessene Iuter-
punktion strenger durcbgefiihrt wurden als in der Schulausgabe,
ist die letzte Arbeit, die Cauer vollendet hat. An der dritten Auf-
lage der Grundfragen hat er bis zu seinem Tode gearbeitet. Die
erste, die beiden ersten Biicher umfassende Halfte erschien zu
Pfingsten 1921. Sie enthielt neu einen Abschnitt ilber den Hexa-
meter und einen ilber Umbildungen und Neubildungeii der Sage.
Aucb andere Abschnitte waren erwettert. Tiotzdem ilbertraf der
Umfang die entsprecbenden Teile der voiigen Auflage nur wenig,
da dafilr anderes gestrichen oder gekiirzt war. Bei sorgfaltiger
Verwertung der inzwischen von anderen geleisteten Arbeit verfocht
Cauer vor allem in zwei Hauptfragen seine friihere Ansicht: nach
wie vor sab er mit Db'rpfeld in Leukas die Heimat des Odysseus;
und mit zum Teil neuen und schwerwiegenden Griinden verteidigte
er die Ansicht, daft die homerischen Epen zuerst in Atheu nieder-
geschrieben sind.
Der zweite Teil sollte aufter dem Buch iiber den Dichter und
seine Kunst eine umfassende Untersucbuug ilber die Kompositiou
beider Epen bringen , also mit ausfuhrlicherer Begriindung und
reiferem Urteil ersetzen, was in der ersten Auflage versucht worden
und dann in der zweiten weggeblieben war. In der Vorrede spraeh
er die Hoffnung aus, wenn kein unerwartetes Hindernis dazwischen
trate, den zweiten Teil vor Ostem 1922 abzuschlieBen. Wohl
schon damals filrchtete er, dafi der Tod dies Hindernis werden
kihinte. Seit Monaten merkte er, daii sein Herz uicht mebr so
leistungsfilhig war wie frtiher. Mit gewohnter Willenskraft zwang
er sich zu Anstrenguugen, denen sein Kbrper nicht mebr gewachsen
war, und beschleunigte dadurcb das Eude. Bald nach Pfingsten
-i'2
Paul Cauer.
wurde er von einer akuten Herzsehwache befallen , die ihn fur
mehrere Wochen an das Bett fesselte. Sobald er notdtirftig her-
gestellt war, nahm er seine Vorlesungen auf; doch mufite er sich
bald entschlielien, sie fur den Somraer ganz abzubrechen. In Bad
Meinberg suchte er Heilung ; wahrend der Kur machte er sich
Aufzeiclmungen flir ein Kolloquium iiber politische Bildung, das
«r im Winter zu halteu dacbte. Aber nacb anfanglicher Besserung
trat ein schwerer Riickfall ein. Seit der Heimkebr nacb Mttnster
hat Cauer seine Wobnung kaum nocb verlassen. Moglichst in
liegender Haltung arbeitete er flir sein Homerbuch. Eine Beruhigung
war es ihm, als ihn im Herbst Brubn besuchte und ihm versprach, sein
Lebenswerk, wenn er selbst vorzeitig abberufen wttrde, zu Ende zu
fdbren. Seitdetn arbeitete er nicht mebr die einzelnen Abschnitte aus,
^ondern stellte das Material flir den Freund zusammen. Erhellt und
erwarmt wurden die Leideustage durch die Flirsorge und Mitarbeit
seiner Tochter Annemarie, die ihm allein von den Seineu geblieben
war, seiner Kordelia, wie sie eine besuchende Freundin nannte.
Vortibergehend traten wohl leichte Erbolungen ein; auf die
Dauer aber verschlimmerte sich der Zustand unverkennbar, Eine
wehmiltige Freude war es, dafi ihm noch der Charakter als Major
verliehen wurde (das eiserne Kreuz erster Klasse hatte er schon
friiher erhalten). „Rechtzeitig flir die Todesanzeige" sagte er selbst.
Am 21. November erlitt Paul Cauer einen Scblaganfall , dem am
26. ein friedliches Lebensende folgte.
„ Gegensatzlieb.es zugleich leisten, das scheinbar und verstandes-
maliig Unvereinbare doch durch die Tat zur Verschmelzung bringen :
das ist ttberall das Hocbste, was Menscben gelingen kann." So
schrieb Cauer wenige Jahre vor seinem Tode. Da darf man wohl
fragen, ob in seinem eigenen Wesen und Tun eine solche Ver-
schmelzung von Gegensatzen hervortritt. Unrichtig ware es, darauf
hinzuweisen, dafi er nach aufien zunachst hart und schroff erscheinen
konnte, innerlich weich und zartfllhlend war ; denn damit ist nur
gesagt, daft er ein Mann war. Ihm eigentlimlich dagegen und ent-
scheidend flir seine wissenscbaftlichen und padagogischen Leistungen
wie auch flir sein Verhalten im alltaglichen Leben ist die Vor-
bindung von Pietat und Kritik. Dafi derselbe Mensch in der einen
Kichtung pietatvoll ist ohne Kritik, in anderer kritisch ohne Pietat,
ist ja nicht selten; er aber stand wie Lessing, der frith zu seinen
Lieblingsschriftstellern geho'rte, dem Grofien gegenllber: voll Bewun.
derung zweifelnd, im Zweifel bewundernd. Das Leben hatte ilin
frlih veranlaBt, sich in Urteilen und EntschlUssen von Menscben un-
Paul Cauer. 33
abhiingig zu machcn, denen er rait inniger Verehrung gegenliberstand,
und gegen audere, gegen die er zur Kritik gestimmt war, eine Pflicht
der Pietat anzuerkennen. Aber er ware dieser Ftihrung nicht so willig
gefolgt, und sie hatte sein Wesen nicbt so nacbbaltig bestimmt,
wenn er nicbt von vornherein dazu angelegt gewesen ware.
Mit dieser Doppelanlage bing eine andere zusammen : cr verband
Verstiindnis fttr die Werte der Vergangenbeit mit Sinn flir die Auf-
gaben der Gegenwart und Zukunft. Auf der Reicbsscbulkonferenz
sagte einer seiner jugendlicbeu Gegner von ibm : „Wie fortscbrittltcb
war Cauer docb fruher ! Wenn icb einmal tiber sechzig Jabre alt bin,
werde icb audi reaktionlir." Wer so spracb, batte ihn weder damals
uocli friiber verstauden ; in dem Sinne, in dem Cauer damals reaktioniir
war. war er es immer gewesen, und in dem, in dem er friiber fort-
scbrittlicb gewesen war, war er es nocb damals. Er wuIJte genau, daft
man Cberlebtes nicbt kiinstlicb erbalten oder wiederberstellen kauu ;
aber er fragte sicb, wodurch grofte Zeiten der Vergangenbeit ibren
Aufgaben gerecbt geworden waren , um danacb zu beurteileu , was
man beute und morgen erstreben mlisse, um die ITorderungen des
Tages zu erftillen; als Forderuug des Tages erscbien ibm freilicb
nicbt, was man Uberall horte und gern hiirte, sondern oft gerade,
was man selten bbrte und nocb seltoner zu horen wiinscbte.
Wer so auf alte Werte scbaute und nacb neuen Werten strebte,
mulite die Uuvollkommeubeiten der Gegenwart stark und bitter
empiindeu. Gegenliber anderen, die mit der Welt, wie sie nun
einmal ist, leicht zufrieden sind und sicb bei bedrobliehen Auzeichen
dam it berubigen, es werde ja nicbt so scblimm kommen, erscbien er
als Pessimist; aber dieser Pessimismus gegenttber dem Wirklicben
wuizclte in eiuom starkeu Optimismus gegeniiber dem Moglichen.
Weil er an eigeuem und fremdom Scbicksal scbmerzlicb fublte, wie
ungerecbt, oft grausam das Leben ist, hatte er sicb frlib von dem
Glauben an einen personlicben Gott losgesagt. Aber unerschntter-
lich war sein Glaube an die gbttlicbe Kraft in ernsten und starkeu
Menscheu. „Es muft gelingen," so sagte er zu sicb selbst, wenn
er vor einer besonders schweren Aufgabe stand; damit riclitete er
Freunde auf, wenn sie verzagen wollten; das rief er seinen Berufs-
genossen und MitbUrgern zu, wenn er ihnen Ziele zeigte, die
uuerreicbbar scbienen ; und wenn wir uns fragen, was wir uns aus
9 einem Wesen aneignen ko'nnen, um in dieser erdrlickend schweren
Zeit aufrecbt zu bleiben, so bietet sicb uns vor allem der mutige
EntschlulS: Es mufi gelingen.
Nckrologo 192-2. (Jahrosbericht f. AUertumswiasBnsehaft. Bd. 198 B.) 3
-
Richard Foewter.
Geb, 2. Mftrz 1843, gest. 7. August 1922.
Von
Eberhard Richtsteig in Breslan.
Die Nachkriegsjahre haben der klassischen Altertumswissen-
scbaft eine Keihe schwerer Verluste gebracht durch den Tod aus-
gezeichneter Forscher, z.B. C. Robert, H. Bltlmner, 0. Seeck, H. Diels,
A. Gercke. Zu ihnen geh5rt auch Richard Foerster, dessen Name
weit fiber die Grenzen Deutschlatids binaus grfifite Achtung genieBt.
Paul Richard Foerster wurde am 2. M&rz 1848 zu Gorlitz,
der gerade damals mUchtig emporbluhenden Hauptstadt der Lausitz,
geboren. Im frohen Kreis mehrerer Geschwister verlebte er die
Jugendjabre in dem viiterlicben GrundstUck am Obermarkt (Nr. 18),
wo sicb zngleich des Vaters Wagenbauanstalt befand, und sp&ter
am naben Klosterplatz. Die altertilmlicheu Bauwerke der Stadt
mogen schon des Knaben Scbonheitssinn angeregt haben. Nach
dreijahrigem Besucb der BUrgerschule bracbto ihn eein Vater 1852
auf das am selben Flatz gelegene, nach dem Umbau gerade neu
eingeweihte Gymnasium Augustum, das, dem 16. Jahrhuodert ent-
stammend, von Karl Gottlieb Anton in funfzigj&hrigem Rektorat
zu hoher Blttte gebracht worden war. Als Anton 1853 als Funf-
undsiebzigj&hriger von der Leitung zurlicktrat , folgte ihm J. K.
G. 8 c butt. In ihm, Strove, Hong, Adrian lernte Foerster begeisterte
Vertreter des Humanism us kennen, von denen er manche Anekdote
bis ins Alter im Gedttchtnis bewahrt hat. Adrian wird anderwHrts
geschildert als „begeisterter Philologe, bei dem die Lektttre der
alten Dichter ein HocbgenuB war und der uns auch sonst oft durch
sein impulsives Wesen fortzureifien vermocbte" (G. Meyer, Meine
Erinnerungen an das Glogauer Ev. Gymnasium, 1908). Ciceros
Laelius wurde fast ganz auswendig gelernt. n Es war eine schOne Zeit
fur alle, die damals das GOrlitzer Gymnasium besuchten u bekennt F.
zurttckblickend (Schles. Ztg. 1921, 9. Dez.). Foersters redneriscbe
Begabung trat schon auf der Scbule hervor, und nacbdem er unter
Befireiung von der mtlndlicben Prtlfung im Februar 1861 das Reife-
■ — 1 — — ■ " ■
Anmerkung. Von Wurdigungen Foersters sind mir bekanttt gc-
worden diejenigeu von A. Gercke (Schles. Ztg. 1916, 28. Juni) und
W. Kroll (ebd. 1922, 12. November) aowie (handschriftlich) der Nekrolog
von R. Jecht vor der Oberlaus. Gesellsch. d. Wissenschaften in GSrlitz.
Richard Foerster. 85
zeugnis erworben hatte , behandelte seine Absehiedsrede das bei
solchen Gelegenheiten beliebte Them a: „Hat der Deutsche Ursache,
anf seinen Namen stolz zu sein?" Noch schwankte er zwischen
Theologie und Philologie. Das Sommersemester 1861 verbrachte
er in Jena, wo er bei Hilgenfeld ein theologisches Kolleg horte,
Geschiehte bei Erdmannsdtirfer, Philosophie bei Kuno' Fischer, Ar-
chaologie bei Klopffleisch, Sprachwissenschaft bei Schleicher. In
die Philologie ftlhrten ihn ein Giittling, Nipperdey und der aus
Breslau stammende Moritz Schmidt, der dem jungen Landsmann
anch sein Haus dffnete. Foerster „wuIJte , daB, wer etwas Be-
deutendes leisten will, schon auf der Universit&t einen breiten
Grund seiner Studien legen muB" — diese seine Worte ilber
K. 0. Mttller gelten auch von ihm selbst. Mit dem Wintersemester
1861/2 kehrte er nach Schlesien zurttck und blieb der Universitat
Breslau, die soeben am 8. August 1861 ihr funfzigjahriges Bestehen
gefeiert hatte, mit 15j&hriger Unterbrechung bis an sein Lebens-
ende treu. „Sie ist mir in Wahrheit eine alma mater geworden",
bekennt er dankbar als ihr Rektor 1897. Auch in Breslau hOrte
er neben den philologischen mannigfache andere Kollegs, ar-
beitete sich unter Stenzler ins Sanskrit ein ; allmahlich traten die
theologischen und hebraischen Studien zurUck. Die Zahl der
Studierenden der klassischen Philologie in Breslau iiberstieg damals
und bis in die 70 er Jahre hinein die aller anderen Universitaten.
„Namen wie die von K. Dziatzko, G. Dzialas, K. Dilthey, H. Gle-
ditsch und J. Oberdick, die spater sich selbst in der Philologie als
hervorragende Mitarbeiter betatigen sollteu , finden sich in den
Zuhtfrerlisten" (0. Rossbach, Aug. Rossbach, eine Erinnerung an
sein Leben und Wirken, 1901, 47). tJber den Stand der Philologie
berichtet Foerster im Abschnitt n Klassische Altertumswissensckaft"
der „ Festschrift zur Feier des hundertjahrigen Bestehens der Uni-
versitat Breslau" 1911, 391 ff. Eine lebenswarme Schilderung ent-
wirft nach Blttmners Tagebuchnotizen O. Waser im Nekrolog auf
ihn (Biogr. Jahrb. 1921, S. 3 ff.). Neben Friedrich Haase, der
der Philologie in Breslau den Stempel seines Geistes aufdrtickte,
standen die Dioskuren Aug. Rossbach, Arcbaologie und Philologie
verbindend, und Rud. Westphal, der, „ein zilndender Redner",
in seinen Yorlesungen nach Foersters eigner Angabe eine geradezu
bezaubernde Wirkung ttbte. An des letzteren Stelle trat schon
Ostern 1862 Martin Hertz. Seine „mit greater Sorgfalt ausgear-
beiteten Vorlesungen waren durch Fttlle des Stoffs, Dnrchsichtigkeit
der Anordnung und Klarheit der Gedanken ausgezeichnet, nicht
selten auch durch geistspruhende Bemerkungeu gewurzt". Als Mensch
„war er ein Herz". Nebeu den drei Ordinarien stand als Extra-
ordinarius Jakob Be mays. Als dieser im Januar 1866 zum
Oberbibliothekar and Extraordinarius in Bonn ernannt ward, war
es Foerster, der, damals Senior des Seminars, in einer Iateinischen
Adresse ibm GlUckwtinsche and Dank der Studierenden aussprach,
Als Privatdozent wirkte Ed. Ltlbbert, dessen „herzgewinnender
Freundlicbkeit ,t er in dem ibm gewidmeten Nekrolog gedenkt.
Foerster war in gleicher Weise Haases wie Kossbachs Schiller.
Ersterem bracbte er 1863 und 1865 zwei kleinere grammatische
Untersuchungen als Festgaben zum 25jahrigen Doktor- und Professor-
juhitUum in den Miscellaneorum philologorum H belli dar. Auf vier-
jahrige Ueobachtungen grttndete sich seine Dissertation De attractionis
in Graeca lingua uau quaest. part. I. : De attractionis usu Aescbyleo,
mit der er am 28. Juui 1866 promovierte. A. Winter, ein
alterer Gorlitzer Mitscbttler, und C. M ay b off , der vor einigen
Jabren verstorbeue, mit ibm innig befreundete Pltniusforscher, waren
Opponenten. Scbon Ostern 1866 war ibm auf Yerwendung Karl
Schonborns, des Direktors des Magdalenengymnasiums in Breslau,
vom Magistrat die Verwaltung einer vakauten Steile Ubertragen
worden; damit war Foerster in ein Kollegium padagogisch wie
wissenscbaftlich reger Manner eingetreten: neben Schb'nbom selbst
z. B. Ferd. Meister, Palm, Peiper, Dzialas, Winter, seit Micbaelis
1867 auch Bill inner.
Im November 1866 bestand er, unter aeinen Kommilitonen
anerkannt als „ein riesig gelehrtes Haus", die Staatsprufung und
erhielt als Auszeichnung die „unbediugte" Fakultas, d. b. die Lehr-
bef&higuug fttr alle Facher und Klassen. Schou Micbaelis des
folgenden Jahres wurde der Vierundzwanzigjahrige ordentlicber Lehrer
am Magdalene urn ; in dieser Stelluug blieb er bis Ostern 1873.
Sein Uuterricht war frisch und anregend, wie einer seiner einstigen
Sekundaner mir versicbert hat; in der Hanptsache freilich war
seine Lehrttttigkeit auf die Unterklassen beschrankt. Doch gewann
er dadurch Zeit zu wissenschaftlicher Arbeit Noch am 8. Dezetnber
1866 wurde er in der archaologiBchen Sektion der Schlesischen Ge-
sellschaft fttr vaterlandische Kultur zum Stellvertreter des Sekretars,
Rossbach*, gewHhlt, und als diese sich mit dem 1862 von Kossbach
begrilndeten Verein fttr GeBcbichto der bildenden Kttnste zum
1. Winckelmannsfest zusammenschloli , lieB der junge Forscher als
Program m dazu seine erste archKologische Untersuehuug „Die
Hochzeit des Zeus und der Hera" erscheinen, angeregt durch ein
Richard Foerster. 37
Belief der 1860 ins Breslauer Altertutnsmuseum gekommenen Schau-
bertschen Sammlung. Erganzungen zu dieser Abhandlung „0ber
die altesten Herabilder" brachte er im Gy mnas i alprogram m 1868.
Am 23. Oktober desselben Jahres habilitierte er sich anf Grand
seiner Quaestiones de attractione enuntiationam relativaram qualis
cum in aliis turn in Graeca lingua potissimumque apud Graecos
poetas fuerit, einer Schrift, die von der Kritik. reeht gUnstig auf-
genommen wurde (vgl. z. B. Holzman , Ztscbr. f. Viilkerpsych, u.
Sprachwissensch. 7, 88 ff.) ftlr ArchHologie nod Pbilologiej die An-
trittsvorlesung handelte „De studiis Batavoram philologicis". Drei
Kollegen vom Magdaleneum, Winter, Blttmner und W. Wegehaupt,
der ale Direktor des Johanneums in Hamburg vor einigen Jabren
era tragisches Endc fand, waren diesmal seine Opponenten. Un-
mittelbar danach reiste er ale Stipendiat des Archaol. Instituts nach
dem Sllden. Schtinborn erwirkte ibm zweijH.hr igen Urlaub bis Ostern
1871, wahrend ein halbj&hriger im Winter 1872/3 ibm Mnfie zur
Fixierung der Ergebnisse seiner Reise gab. Die langste Zeit dieser
ersten Forscbungsreise brachte er in Rom zu, pbilologiscben wie
arcbftologiscben Studien hingegeben. Er kollationierte besonders
die griechischen and lateinischen Texte der Physiognomiker , anf
deren Edition ibn Rossback htngewiesen hatte, in der Vaticana, und
als er 1869 mit R. Her ch er zusammentraf , wies ihn dieser anf
die noeb viel umfassendere Aufgabe bin, eine vollstilndige krittsche
Ausgabe des Libanios zu scbaffen. In einigen, im Stadtarchiv
Breslau aufbewabrten Briefen an Ferd. Meister, mit dem er wegen
einer Daresbandschrift korrespondiert, klagt er, wie sebr seine Zeit
durch die Arbeiton in der Vaticana in Anspruch genommen sei.
Von Rom aus suchte er zu gleich intetisiven Studien Florenz,
Venedig, Modena und Mailand, dann aber aucb Fompeji und
Neapel auf. Daneben pflegte er geselligen Verkebr: Gregorovius
war mit ibm befreundet, Helbig, Henzen u. a. Arcbttologen standen
ibm nabe, ebenso eine Anzabl deutscker Ktlnstler: aus dem ersten
romischen Aufentkalt datievt seine Bekanntschaft mit A. Blaschnik,
dessen Zeichnnngen er spater fUr das Sclilesiscbe Museum der bil-
denden Kttnste gewinnen konnte. Den Winter 1869/70 verbrachte
aueh RoBsbach in Rom. Nur etwa zwei Monate brachte Foerster
damals anf griechischem Boden zu. Nach seiner Ruckkehr Aihrte
er seine Verlobte, Angelika Ltlbbert, als Gattin heim und griindete
sicb ein emsiger wissenscbaftlicher Arbeit und froher Geselligkeit
gewidmetes trautes Heim ; den Dienst am Gymnasium nabm er auf;
noch im Winter 1870/1 las er sein erstes Kolleg B Ober die Alter-
88 Richard Foerster.
tamer von Pompeji" ; es folgten solche fiber Apulejus' Amor und
Psyche, Pindar, griecbische and italische Dialekte, romische Privat-
altertumer, Theokrit, Geschichte der philologisch-historischen Studien
▼on Petrarca bis auf die Gegenwart, das Gerichtswesen der Athener,
Lucrez , Catull, etruskische, ro'mische and pompejanische Wand-
gemttlde, Topographie von A then, Rom, die Kunst bei den Rtimern,
Museographie. Dazu traten SeminarUbungen fiber die philostratischen
Bilder , PUnius' nat. hist, a. ft. Zeigen diese Themen z. T. den
EinfluB der Italienreise, so noeh dentlicher die zahlreichen Aufsatze
im Arch, Anzeiger, den Annali und dem Bulletino jener Jahre.
Um sich ungehinderter der Wissenschaft widmen zu kttnnen,
schied er mit Ablauf des kalbjahrigen Urlaubs Ostern 1873 aus
dem Collegium des Magdalenengymnasiums aus. „Die Anstalt
verliert in ihm B , schreibt Schonborns Nachfolger Otto Heine
im Programm 1872/3 „einen ebenso padagogisch und wissen*
schaftlich tttchtigen als pflichttreuen Lehrer. MtSge er die An-
erkennung and Liebe, die ihm in seiner Stellung als Gymnasial-
lehrer von Vorgesetzten und Schtilern in bo reichem MaBe zuteil
geworden ist, in gleichcr Weise in seiner neuen Tatigkeit linden."
Am 21. Oktober 1878 wurde er Extraordinarius in Breslau. Nur
noch zwei Jahre konnte er neben Kossbach, Reifferscheidt,
der an Haases Stelle (f 16. August 1867) getreten war, Hertz,
Bltimner, der sich 1870 gleichfalls fur Archaologie and Philologie
babilitiert hatte , wirken. Am 1. Oktober 1875 fnlgte er einem
Ruf als ordentlicher Professor nach Rostock, wahrend Bltimner
im selben Jahre nach KtSnigsberg berufen wurde. Hier hat er bis
1881 neben dem betagten Fr. Volkm. Fritzsche, dem Lukian-
forscher und Professor der Eloquenz, gewirkt. 1880 reiste er mit
Unterstutzung der KOnigl. Preuli. Akademie der Wissenscbaften
nach Spanien, Frankreich und England. In Madrid kollationierte
bzw. schrieb er ab die fur Chorikios maBgebeude Handsehrift; in
Paris, London und Oxford arbeitete er in Museen and Bibliotheken.
Der Ertrag der Reise kam hauptsAchlich den Libaniosforschungen
zngute, wie er 1885 in seinen „Mitteilungen Uber Handschriften
des Lib." nunmelir alle Handschriften dieses Autors zu kennen glaubt,
Inzwiscben hatte er Ostern 1881, einem ehrenden Rufe zum Professor
der klassischen Philologie nnd der Eloquenz folgend, seinen Wir-
kungskreis an die grtsBere Nachbaruniversitllt K i e 1 verlegt. Neben
dem damals trotz seiner 80 Jahre die Lehrtatigkeit noch aus-
ubenden Archaologen P. W. Forchhammer and Fr. Blass als
Grazisten hat hier Foerster — ein Beweis seines umfassenden
Richard Focrster. 89
Wissens — hauptsachlich die lateinische Philologie (Literaturge-
schichte, Grammatik, Rechts- und Privataltertumer) vertreten;
Pried. Lee, dem Extraordinarius , der 1883/4 nach Rostock ging,
folgte Ivo Bruns. 1886/7 bekleidete Foerster dasRektorat, grade
in dem Jahre, als die Zahl der Studierenden in Kiel 1000 ttber-
schritt. Am 19. Dezember 1889 wurde er mit Wirknng vom
1. April 1890 in die philosophische Fakultat der Universitat Breslan
verse tzt an die durch W. Studemunds friihen Tod frei gewordene
Stelle. So war es ihm zwar nicht vergonnt, neben diesem wirken
zu dUrfen, was er bo gern getan hatte, aber sein Hauptwunsch auf
RUckkebr an seine Heimatsuniversitat war erfullt. Als Archftologe,
Philologo und Professor der Eloquenz hat er von der MittaghShe
seines Lebena ab 30 Jahre in Friscbe des Geistes und Gesundheit
des Ktirpers ihr dienen ktfnnen. Als Rossbach vom Lebramt zurlick-
trat, rUckte er 1899 in dessen Stelle als Direktor des archaologischen
Museums ein ; freilich sein Bemtthen, der Antikensammlung in einem
zeitgem&Ben Neubau ein Heim zu schaffen , ist nicht in Erflillung
gegaugen. Im Verein mit Fr, Marx, Franz Skutsch, dessen
allzufruher Tod ihn tief ergriffen hat, Ed. Norden,P. Wendland,
die bald an andere Universitaten berufen warden, K. Zacher,
C. F. W. Mtlller, W. Volkmann, L. Cohn, R. WUnsch,
F. Jacoby, im letzten Jahrzehnt mit A. Gercke, der ihm ein
halbes Jahr im Tode voranging, W. Kroll, der Nachfolger von
Skutsch ward, K. Ziegler, Ed. S cheer, hat er den RUckgang
der philologiscben Studien in den 90 er Jahren, aber auch die
folgende Periode der tlberfiillung mit erlebt. Eine kleinere
Forschungsreise fUhrte ihn 1393 nochmals nach England, und
1896 ging sein Wunsch, die Heimat des Libanios, Antiochia
am Orontes, kennen zu lernen, in Erftlllung. Durch die Liberalitat
der Kimigl. Preufi. Akademie der Wisseuschaften und des Kultus-
ministerinms wurde ihm die Orientreise ermoglicht. Nach l&ngerem
Aufenthalt in Italien war er vom 18. — 29. Marz in Antakieh. Die
Reise fllhrte ihn weiter bis Jerusalem, wo er einen Libanios-
kodex, auf den ihu sein Freund Papadopulos Eerameus aufmerksam
gemacht hatte, der Untersuchung unterzog. In den Verhandlungen
der 44. Vers, dtsch. Philologen und Schulmanner vom 30. September
1897 trug er die Ergebnisse seiner Untersucbungen in Antiochia
vor, und am 15. Oktober desselben Jabres benutzte er die festliche
Gelegenheit seines Rektoratsantritts zu einem Preis dessen, dessen
PersGnlichkeit und Verdienste ihm diese Reise in neues Licbt ge-
stellt hatten, Karl Otfried Mllllers. Das Jahr 1897/8 bot ihm reiche
za entfalten" (A. Gercke, Schles. Ztg. 1913, 2. 3.). 1903 sah er
zum zweiten Male Griechenland wieder. An eine Wandermig darch
den Peloponnes, wo die driickende Armut der fiaXavrtfdyoi Ztyytaieg
auf ihn tiefen Eindruck machte , schlofi sich eine Inselfahrt unter
Dbrpfelds sachkundiger Ftthrung. Inzwischen hatte er den Plan
einer Restauration des selten schbnen Universitatsgebaudes, den er
in seinem Rektoratejahr ins Auge gefaBt, mit der ibm eigeiien
ei Bern en Geduld durchzusetzen gewufit, nnd als am 9. September 1906
Kaiser Wilhelm II, in Breslau weilte, war Foerster der gegebene
Mann, dem hohen Gaste die reichen Schonheiten des Jesuitenbaus und
seiner beiden Festraume, die in Dentschland kanm ihresgleichen haben,
vorzufiihren. Wahrend der Jahre des Weltkriegs hat er, als Gercke
and Ziegler im Felde standen, allein von Kroll unterstutzt, auBer den
laufenden 7—8 Kolleg- und 4 Seminarstunden, noch 3 — 4 Stunden
EinfUhnmgskurse fur Juristen wbchentlich gehalten. Daneben war
er unermttdlich im Dienste der Fakultat: „seine genaue Kenntnis
der Praxis und der Behandlung analoger Falle bis in die formal en
Einzelheiten hinein macben ihn zum geborenen Katgeber innerhalb
der Selbstverwaltung der Universitgt" (A. Gercke). Das Vertrauen
auf seine Frische ftihrte dazu, daR die Kollegen seiner Fakultat
dem Vierundsiebzigjahrigen 1917 das Dekanat tibertrugen, eine
Ebrung,* die ihn innig erfreut hat. Im Jahr zuvor hatte die Feier
des 50jahrigen Doktorjubilaums gezeigt, welcher Beliebtheit sich
der Nestor der Universitat Breslau nicht nnr in den Kreisen der
Kollegen und Studenten, sondern in den weitesten Kreisen der
BevOlkernng erfreute. Am 1. April 1920 lieB er sich aus Elicksicht
auf seine durch ein Leiden, das inzwischen sich eingestellt und cine
Operation niitig gemacht hatte, angegriffene Gesundheit void akade-
mischen Lehramt entbinden. Von dem Rechte, audi als Emeritus noch
Vorlesungen zu halten, hat er wiederholt Gebrauch gemacht, und noch
im letzten Sommer seines Lebens hatte er die Freude, sein Kolleg ilber
Amor und Psyche, wenn auch vor einem kleineu Htirerkreise, zu lesen.
Was Foerster als Forscher und Schriftsteller, Lehrer und
fiedner geleistet hat, IftBt sich von einem Einzigen erschttpfend nicht
wurdigen ; ein vollsttndigos Verzeichnis seiner Anfsatze zu gebeu,
stefit auf erhebliche Scbwierigkeiten , da sie in den verchiedensten
Zeitscbriften und Zeitungen verstreut sind.
Seine Forschertatigkeit erstreckte sich nicht allein auf den
an sich schon weiten Kreis der Altertumswissenscbaft : auch auf den
Gebieten der Kunst- und der Heimatgeschichte ist er mit zahl-
Richard Foerater. 4t
reichen VerBffentlichungen hervorgetreten. Nachdem die beiden
ergten Aufrtttze (De coniunetionis nqiv usu Homerico et Hesiodeo;
D© usu particulae ngtv qualts apud Ioaicos scriptores fuerit) dem
Studenten Gelegenbeit gegeben batten, Samm el fie IB, peinlichfr
Genauigkeit nnd Vertiefung bis ins Kleinste als ibn>
charakteristische Eigenscbaften zu zeigen, bemtthte er sieh in Disser-
tation nnd Habilitationsschrift, der grammatischen Erseheinung der
Attraktion vom sprachpsychologischen Standpunkt aus gerecbt zu
werden. Doch das Gebiet der G r a m m a t i k bat ihn nicht dauernd
gefesselt; der aufblllhenden modernen Sprachwissenschaft stand er
— ahnlich wie der vergleicbenden Keligionswissenschaft — sogar
ktthl gegentiber. Die Attraktion bat er allerdings aucb im Latei-
niscben verfolgt in der Festschrift fur C. F. W. Mttller (1900) und*
hat gelegentlich Vorlesungen tiber griechische und lateinische Gram-
raatik pflichtgeinaB gebalten, dagegen von Anfang an bewufit sick
der literarhistorischen Forschnng zugewendet. Problem e der
lateinischen Literatur, tiber die er langere Zeit Kollegs lesen muBte,
behandelte er nur in seinem Aufsatz: „Gab es wirklich noch einen
Naevius und Enoius im Mittelalter ?" Er hat ferner Ovid wegen
seiner Beziehungen znr Kunst, Lucrez, besonders aber Catull,
Apnleius, letzteren wegen des Marcbens von Amor nnd Psyche r
gesehatzt. Sein Hauptinteresse gait jedoch der griechischen
Literatur; er bevorzogte Gebiete, die abseits der grofien-
Stralie lagen, und liebte Themen, die in en gem Zu-
gammenhang mit Mythologie und Kunstgesch icbte
standen — ebenso wie sein Lehrer Rossbach. Gegentiber der alteren
rein sprachlicb-kritisch orientierten Philologie, aus der er den
Blick fllr treffende Emeudationen mitbrachte, vertrat er von
Anfang an im Sinn der damals sieh durchsetzenden Reformbewegang
klassische Philologie als Altertumswissenschaft
(Kroll a. a. 0.). Als er aus Italien zurUckkam, brachte er bereits
wesentliches Material fllr die Herausgabe der Phy siognomiker mit,
eine Aufgabe, die ihn, wie kleinere Arbeiten, besonders zu Polemon
und Adamantios, zeigen, in Rostock und Kiel beschftftigt hat, bis
der nach Breslau Heimgekehrte 1893 Rossbach zum 70. Geburts-
tage die zwei Bande der Scriptores physiognomonici Graeci et Latini
dedizieren konute. Gait es hier, ein weitverstreutes Material nicht
bloB griechischer , sondern aucb lateinischer nnd arabischer Texte
zu sammeln und zu sichten, so war doch unvergleichlich umfang-
reicher das zweite Werk, das man als Foersters Lebenswerk
bezeichnen darf, die Herausgabe des Liban ios. Der enorme
42
Foerster.
literarische Nachlaft dieses Rhetors hatte seit den Tagen Joh.
Christoph Wolfs rind J. J. Keiskes fast unbeachtet gelegen nnd war
nur unvollstandig trod in einer modern en Ansprttchen nicht genllgenden
Weise ediert. AufapUrung, Pritfung aller and Stemmatisierung der
mafigebenden unter den rand 660 Handschriften ftihrte Foerster
mit eiserner Geduld and unermttdlichem Fleiti , dazu vom
Findergltick begtlnstigt, in entsagungsvoller dreiftigj&hriger
Arbeit durch, ©he er an die Drucklegung denken durfte. Ihren
Aasgang nahmen seine Forschungen von der Briefsammlung des
Antiocheners. In seinem finch ^Francesco Zambeccari and
die Briefe des Libanios" (1878) erwies er die nur lateinisch
erhaltenen Briefe teils als Obersetzung echter , telle als Falschung.
XJnd mit den Briefen schlofi die mehr als flinfzigjahrige Beschaftigung
Foersters mit Libanios : bei seinem Tode war der letzte Korrektur-
bogen des zweiten Briefbandes fur druckfertig erklilrt.
Die Aafsuchung der Handschriften brachte ihn mit alien Btblio-
theken Euro pas, Kleinasiens, Palastinas, Agyptens, wo immer sich
Material vermaten lieB, in Verbindaog. Jeder Spur unermttdlich nach-
gehend and gewohnt, alles auf eine breite Basis zu stellen, erwarb
er, gleiehsam als Parergon, ein selten reiches Wissen liber die
Geschichte der groften Bibliotheken, Entstehung, Besitzer,
Schickgale, ein Wissen, das er, gestlitzt auf ein glanzendes
Ged&cktnis, das ihn bis zuletzt nie im Stiche lieli , auch in
Vorlesungen und Seminarfibnngen verwertete, Indem er der Ge-
schichte der Libaniosstudien seit dem A Iter turn folgte, erwuchs ihm
eine „Geschiehte der klassisch-philologische Stud i en
seit Petrarca", die er, wenn auch selteu, als Kolleg vortrug, Be-
sonders fesselte ihn die Gestalt des letzten Editors der Red en,
Deklamationen und Progymnasmata des Libanios, Keiskes, der, wie
er bei Lebzeiten trotz aller Verdienste verkannt hatte beiseite
stehen mttssen, so bis in die Gegcnwart nicht die gebtthrende
Wlirdigung ge fund en hatte. Ihm diese geschaffen zn haben, ist
Foersters Werk, Eine Reihe von Aufaatzen hat er ihm und seiner
Gattin gewidmet (z. B. die Artikel der Allg. deutschen Biographie),
hat seinem Lebensgange nacbgeforscht, in seiner Gebnrtsstadt Zorbig,
von dem derzeitigen Bttrgermeister tatkraftig anterstlltzt, das Hans
wieder entdeekt, wo Reiske das Licht der Welt erblickt hatte; er
wirkte daftir, daft eine Gedenktafel dort angebracht wilrde , and
wenn das Notgeld jeues Stadtchens vom J. 1917 Keiskes Kopf und
als Beischrift die ihm von Foerster gewidmeto Charakteristik zeigt,
so hat er Reiske damit zu eioer fur einen Philologen gewifc einzig
Richard Foe rater.
dastehenden Ehrung verholfen. Bei seinen Reiskeforschungen hatte
er das GIttck, in einer Handsckrift der Breslauer UniversitiKs-
bibliothek die als verschollen betracliteten „Anmerkungen Les-
singa zu den Asopischen Fabeln" (1894) zu finden, dnrch die
die Lessingphilologie eine wertvolle Bereickerung erfuhr. Das
wichtigste Material fur Reiskes Leben, seine Brie re, machte er in
einer in den Abhandhmgen der Sacks. Akad. d. Wiasenscfa. 1897'
erschienenen musterhaften Ausgabe der Forschung zuganglich ; 1917
erschien ein Supplement, und Uber dieses hinaus wurden Foerster
weitere Briefe des Reiskeschen Ebepaares bekannt, die, durcb neuere
Funde erweitert , in einiger Zeit herausgegeben werden sollen. — ■
Seine Libaniosstudien fubrteu Foerster auch zu dem ersten Gr&zisten
seiner engeren Heimat, zum Bautzener, Glogauer und Breslauer
Kanonikus und Pfarrer zu Jauernick bei GSrlitz, Wigand von
Salza (1460 — 1520), dessen Bedeutung tod ihm gewurdigt wird
als „von einem Sckicksalsgenossen, der, gleich wie er ein ZOgling
der Gfirlitzer Schule und heimischer Universitftten, in Rom die
bohe Schule durchgemacht bat, ein Lusato-Silesus geworden, seinen
Wirkungskreis iu der Hauptstadt der Provinz gefunden hat und
dort auch seine letzte Ruhestfttte zu finden bofft" (Neues Laus.
Magazin 87, 1911, 1).
An die Herausgabe des Libanios konnte sich nur ein Mann
wagen, der neben vtflliger BeberrschuDg der klassiscben Literatur
Meister war auf dem groBen Gebiet nachchr istlicher
Kultur- und Literaturgesch ichte bis in die byzantinische
Ara hinein. Ziehen sich dock tausend Fttdeu yon Libanios zu
seinen Yorbildern, besonders den Attikern uud Aristeides, hinliber zu
seinen Zeitgenossen, herab zu den Gazaern usw. Aus diesen vor-
bereitenden und die Edition begleitenden Studien erwuchsen neben
einzelnen Aufsatzen tiber Thorn istios und Julian eine Kaisergeburts-
tagsrede „ Kaiser und Galilaer" (1903), eine Auslese aus seinem
eineu umfassenden Stoff meisternden Buch ; „Juliau in der
Dichtung alter und neuer Zeit" (1905). Schon die Fassung
des Bucbtitels verrttt das fUr Foersters Forschungsweise charak-
teristische Bestreben, das Nack wirken derAutike, ihrer
Literatur und Kunst, bis zur Gegenwart aufzuzeigen. —
Unter den Nachahtnern des Libanios ragt Chorikios hervor, ein
Rhetor aus dem Gaza des 6. Jahrh. n. Ghr. Die unvollstandige
Ausgabe, die Boissonade 1842 besorgt hatte, ergftnzte Foerster durch
eine lie i he kleinerer Arbeiten seit 1882, in ihrer Gesamtheit eine
Grundlage fur die von ihm geplante und bereits am 9. November
44 Bichard Foerster.
1893 in den Teubnerschen Verlagsanktindigungen angezeigte Aus-
gabe jenes Gaztters. Sie wird beruhen auf der allein vollstUndigeit
Handschrift in Madrid (N 101), die Foerster fUr die wenigen Reden,
die BoisBonade nach einer Absckrift von Miller, sowio der von Foerster
hochgeschfttzte Graux in der Revue de philol. "S. S. 1877 aus ihr
herausgegeben batten, neu verglicken, in alien ubrigen Teilen an
Ort nnd Stelle abgescbrieben hat. Das Manuskript der Ausgabe liegt
druckfertig vor. Zwei Abhandlungen aus dem Gebiet der
byzantiuischen Literatur bat er nocb knrz vor seinem Tode ab-
gescklossen. Eine Zusammenfassnng seiner Libaniosstudien auf
knappstem Raum bringt sein Artikel „Libanios M in Pauly-
Wi 880 was Realenzyklop&die, ein Ersatz fur die Epilegomena,
die er im ersten Band der Ausgabe anktlndigte. Als dieser 1903
ersckienen war, wurde er von alien Seiten als mustergultig aner-
kannt. In regelm&Biger Folge kamen, rait ebensolcher Konsequenz
in Konstituieruog des Textes nnd Anlage des kritischen Apparata,
mit reichen Beigaben sprachlicher nnd sachlicher Parallelen , die
weiteren Bitnde. Der Weltkrieg erheisebte nach dem Erscbeinen
des 8. Bandea Einstellung der Drucklegung. Erst Weihnachten
1918 konnte der Druck von Bd. 10 beginnen, der, seiner Gattin
zur Erinnerung an das Fest der goldenen Hochzeit gewidmet, 1921
erschien. Kascher ging der Druck des folgenden Bandes von statten.
Aber es ist Foerster nicbt bescbieden gewesen, den Libanios, in
dem er so ganz lebte, vollstftndig gedruckt zu seheu. In httchstem
Grade wtiuschenswert ist es, dali Bd. 9 mit der von enormem
Wissen nnd Konnen zeugenden, umfassenden Geschichte der
Libaniosbandscbriften, -ausgaben und -studien, den
Prolegomena, crscbeinen kann.
Neben dieser reieben philologischen Produktion geht eine nocb
vielseitigere und frucbtbarere Tittigkcit auf dem Felde der Arch Bo-
log ie nnd Kunstgeschicbte einher : Foerster besall die seltene
Gabe, Probleme verscbiedener Art nebenei nand er be-
handeln zu kflnnen (W. Kroll). Charakteristisch fUr die Stoffe, die
er w&hlte, war Vere in igung arch Hologischer Darstellung
mit Wlirdigung autiker Tradition. Zu Rch&rfster Inter-
pretation des Ausd rucks eines Kunstwerks dnrch seine pbysiogno-
mischen Studien gescbult, weifl er dem Schopfer eines Kunstwerks
nachzuempfinden und was jener bat ausdrneken wollen, Ho rem
oder Lesern geistig nah eznbringen. Nachdem 1867 ein Original
der Schaubertschen Sammlung Anstofi zu seiner arch&ologischen
Erstlingsarbeit gegeben hatte, hot seinem der Erkenntnis des
Schonen zugewandten Geiste. fruchtbarste Anregungen die erste
Keise nach dem Sttden. Nicht nur die Schatze der grofien Museen
liefl er auf sich wirkeu, sondern alles, was die klassischen
Statten selbst zu bieten batten. Auf italischem Boden erkannte
er auf Scbritt und Tritt auck das gewaltige Nach wirken an-
tiker Kunst in den Werken der Renaissance. In Rom
erwuchs ihm der Plan seiner ^Farnesina-Studien" (1880), der
reifsten Frucht seiner Eeise, die als „treffliche Untersuchungen
ttber die Baugeschichte der herrlichen Villa nnd fiber die Ent-
htehung und deu Gedaakengang der einzelnenFresken" von Rossbachs
Freunde, dem Dresdener Hettner (DLZ 1880, 807), begrttBt warden.
Auch fur die Darstellungen von „Raub und Rttckkehr der
Persephone" hatte er in Italien Material gesammelt. So konnte er
in seinem, nach einer Vorstudie in den Annali dell' Institute 1878,
im folgendeo Jahre erschienenen Buch , dem in der Untersuchung
„tJber den Sarkophag von Wiltonhouse" (1875) und dem zngleich
durch Darstellung von Foersters prinzipiellera Standpunkt zum Problem
beachtenswerten Aufsatz „tJber Mythenforschung" (1876) Ei ganzungen
und — nach der zweiten Reise — 1884 ein Nachtrag folgten, auf
reichem Wissen fuBend, an die mythengeschichtliche, literarische
und kuustgeschichtliche Wertung des Stoffes herangehen. 1888 er-
wchienen Studien ttber „Alkamenes und die Giebelkompo-
eitionen des Zeustempeis in Olympia", „Die kunstgeschicht-
lichen Angaben des Job. Tzetzes und des Suidas" und „Kunst-
geBchichtliche Kleinigkeiten", von denen die erste schon im Titel
die literarische Tradition betont. Noch einmal hat Foerster an
Ort und S telle archaologische Untersuchungen vorgenommen, als er
1896 auf seiner Orientreise in Antakieh, der Statte der helle-
niBtischen Weltstadt Antiochia, weilte. Im folgenden Jahr
schrieb er auf Grund des Augeuscheins — Reste der antiken
Orontesregulierang, Vorlftufer moderner Talsperren, machten nach-
baltigen Eindruck auf ihu — und der Inscliriften wertvolle Beobach-
tungen ttber Antiochia uieder , die ohne Autopsie gemachten , auf
scharfsinniger Kombination antiker Nachrichten mit Beschreibungen
und Terrainskizzen neuerer Reisender beruhenden Angaben seines
K. 0. Mttller (Antiquitates Antiochenae) berichtigend und erganzend,
und ferner als „einen Bericht ttber das, was ich auf m einer letzten
Reise gesehen babe", Untersuchungen ttber die Kunstwerke An-
tiochias, die — damala bereits in Konstantinopel befindlicbe und
dort von ihm besichtigte — Ringergruppe , eine Rednerstatne der
spttten Kaiserzeit, drei SarkopUage und Skulpturen aus Privatbesitz.
46 Bichard Foerster.
Die im Anschluft daran entstandene Kontroverse: „Lotosblatt oder
Feder ein Kopfschmuck des Hermes ?" ftihrte ihn ttber die devteQat
(pqOYiideg im Arch, Jahrb. 1901 zur Untersuchung einer aus Cypern
stamraenden Doppelherme (1904) and einer Bronzestatuette des
Hermes Diskobolos aus der Sieglinschen Sammlung in Stuttgart
(1914).
Als zn Anfang des Weltkriegs die griechiache Gtf ttin
far das Berliner Museum gerettet wurde, trug Foerster die Ergeb-
nisse seiner Untersuchung am Original zur Feier des 200. Geburts-
tags Winckelmanns vor : Er erkennt in ihr „ Archaismus im Stadium
der hocbsten Keife", setzt sie am 480 v. Chr. an uud miichte in
der so geheimnisvoll Lttcbelnden eine Demeter sehen, etwa die von
Phlius, von der Pausanias berichtet. In den stlirmischen Jahren
des Kriegs zog ihn die Gestalt Eirenes besonders an. Die Dar-
stellungen der Fricdensgotttin durch die ganze Kunstgeschichte ver-
folgt ein im Druck befindlicher Aufsatz. Die Winkelmannsfestrede
von 1919 gab den HtSrern Einblick in dieses sein Arbeitsfeld.
Schon lange zuvor hatte ihn das Laokoonproblem zu ein-
gebenden archHologischen und philologischen Studien angeregt,
Drei Vortrage auf der 40. Gorlitzer Philologenversammlung 1890:
„Die Entstehungszeit des L.", „Denkmaler, welche sich auf L. be-
ziehen oder bezogen worden sind u , „Philologi8che Parerga zum L. 4, t
seine Aufsatze liber „L.-Denkmaler und Insckriften" (1891), „Noch
zwei L.-Denkmaler" (1894) — zugleich ein Ertrag der England-
re ise — , „L. im Mittelalter und in der Renaissance" (1906), welch
letzterer die tiefgehende Wirkung der 1506 aufgefundenen Gruppe
bis El Greco dartut, sind Zeugen dafttr. In den zusammenfassenden
Behandlungen des Problems in „Laokoon u (1906) und „Die Laokoon-
gruppe (H. Blttmner zum 14. August 1914 dargebracht)* 1 fuhrten,
auch hinsichtlich der Entstehungszeit, zu Ergebnissen, die heut all-
gemein angenommen sind.
Noch seit der Zeit, da Foerster neben Bltlmner in Breslau
wirkte , hatte er dem alteren Philostrat und Lukian sein ln-
teresse zugewandt. In der viel erorterteu Frage, ob den elxoveg
Philostrats wirkliche Gemftlde zugrunde liegen, war er zn der
Losung gekommen, daft die von Ph. wirklich gescbauten Gemttlde
in rhetorisch ausgeschmUckter Weise geschildert seien, und zwar
dadurch, das er jeder Spur eines Kunstwerks, das von jenen
Ekphraseis angeregt oder becinfluBt sein konnte, nachging. So be-
echaftigte er sich mit „Goethes Abh auditing uber die Philostratischen
Gemalde" (1903), die Moritz v. Schwind auf Phil, hingewiesen hatte,
▼or allem aber mit dessen eigenen Darstellungen in der KarlsruherKunst-
halle. Davon legt ein Prachtwerk „Moritz v. Schwind und die
philostratischen Gemaide a (1903) beredt Zeugnis ab. Von dort
rttckwartsschreitend hat er auch die von Phil. beeinflufiten Werke der
Renaissance aufgesucht. Sein Aufsatz „ Phils GemMlde in der Re-
naissance" (1904)zeigt, welche Eikones des Sophisten besonders starke
Wirkung gettbt haben, „Goya und Philostrat" (1909) endlich, wie der
Kttnstler, der sich zuerst gegen den Klassizismus auflehnte, doch
selbst, allerdings mittelbar, unter dem EinfluB des Phil, steht.
Vollends Lnkian erkannte er als den erklttrten Liebling der
Renaissance, „weil er mit einem wahrhaft klassischen Kunstsinn r
welcher, allem Mittelmftfligen abhold, nur in den Werken erhabener
Grofie oder anmutiger Schonheit Befriedigung findet, die Gabe einer
aufierst plastischen Darstellung verbindet\ Drei Abhandlungen
liber „Die Verleumdung des Apelles in der Renaissance"
(1887. 1894) bieten die reichen Ergebnisse seiner Forschungen
ttber die Nachwirkung dieses Lukianeischen Stoffes. „Die
Hochzeit des Alexander und der Roxane in der Re-
naissance" (1894) zeigt, wie auch diesem Stoff eine Schilderung
Lukians zugrunde liegt. Eine Kieler Kaisergeburtstagsrede (1886),
die das Fortleben des Syrers in Literatur und Kunst herab bis
auf Hans Holbein behandelte, bildet den Anftakt seiner Lukian-
studien, sein Buch „Lukian in der Renaissance" (1907) die
Zusammenfassung. — Die Beschttftigung mit der Renaissancekunst
ftthrte Foerster zu dem im Stoff von Lukian ausgehenden, ihn zu
Eignem gestaltenden Mantegna, „M. und die Bilder im Studier-
zimmer der Isabella Gonzaga 1 * (1901) und „Die Meerglitter des
. M." (1902) erweisen M. als unter dem EinfluB der Antike steheud.
Den Abschlufi seiner Philostrat- und Lukianforschungen bildet seine
Studie Uber „Die Wiederherstellung antiker Gem&lde
durch Kttnstler der Renaissance" (1922), die erst nach seinem Tode
im Drucke erschien, Des Apulejus Mttrchen von Amor und Psyche,
das er so liebte, hatte FoerBter schon vorher zu den frUhen Re-
naissancedarstellungen dieses Stoffs gefilhrt in dem Aufsatz „Amor
und Psyche von Raffael" (1895). Endlich in seinem Aufsatz
„Tizians himmlische Liebe und Michelangelos Bogen-
schtttzen" (1915) weist er geistvoll nach, wie beide Werke aus
der Antike, Valerius Flaccus und Lukian, zu deuten sind: n Die
Antike hat sowohl durch Literatur wie durch bildende Kunst in
ungeahnter Weise Einwirkung gettbt auf Hauptwerke der Renaissance,
welche einer solchen entrttckt zu sein seheinen. 8
80 ward Foerster , von dem jemand gesagt hat, da8 er auch
eine Professur fur Kunstgeschickte voll hatte ausfttllen ktmnen,
ganz von Belbst zur neueren Zeit und ihrer Kunst gefltthrt,
der er, getragen von regem Inter esse far die Kulturge -
schichte seiner weiteren and engeren Heimat, and gctreu
seinem Grnndsatz, jeder Sacke auf den Grund zugehen,
mit liebevoller Vertiefung bis ins Einzelne nachging. In dem von
den gr often Kunstzentren scheinbar entfernten Sckleswig-Holstein
bat er SchloB fur Sehlofi bereist and Sinn fur Kunst geweckt and
gefordert. Mit welchem Erfolg, das zeigt seine letzte Kieler Kaiser-
geburtstagsrede (1890) „Die Kunst in Schleswig-Holstein".
Ebenso hat er sich nnermUdHch der Losung all der
lichen Frobleme gewldmet, die Breslau, Schlesien, die
bieten. Sein Lessingfund veranlaBte ihn, den Spureu Lessings
in Schlesien nachzagehen. So weist sein Aufsatz „L. und der
Z winger in Breslau" (1894) inbezug auf die 1770 am alten Zwinger,
dem Sckiefthaus der Kaufmannschaft, angebrachte Inscbrift: ,Mer-
curio telis certanti' nach, daB fiir Urkebersehaft L.s an ihr doch
nnr eine scbwache Moglichkeit besteht. Als „ Symbol der Viel-
faltigkeit der Fftden, durch welcbe der Name Leasing mit Schlesien
verknttpft ist", behandelt er (1909) „Eine Lessingbttstc", darstellend
einen Neffen Gotthold Ephraims , Earl Friedrich L. , Kanzler des
Standeskerrlichen Gerichts in Polnisch-Wartenberg, Inhaltsreicher
sind folgende Studien: „Van Dyck in Schlesien" (1906), Unter-
snchungen Uber Gemalde aus Privatbesitz in Militsch und Ditters-
bacb. In n Miniaturen ,Dtirers' in Fttrstenstein und das Wappen
Lathers" (1902) geht er aus von drei zwar A.D. siguierten, aber
erst aus dem Anfang des 17. Jahrh.s stammenden Miniaturen der
Majoratsbibliothek Fttrstenstein; „Dttrer in Wittichenau" (1907) be-
richtet Uber Uutersucbungen an einem falscklieh auf D. zurttck-
geftthrten Altarwerk. Brachte sein Aufsatz „Neue Cranachs in
Schlesien" (1899) Erganzungen zu einem Aufsatz P. KnStels in
„Schlesiens Vorzeit" 1896, so ftthrt ihn zu diesem Maler zurttck
die Untersuchung ttber r Die Bildnisse von Job an n Hess and
Cranachs ,Gesetz und Gnade 1 " (1909), in dem nachgewiesen wird,
wie Cranachs Werk in dem Epitaph von Hess in der Breslauer
Magdalenenkirche verwertet ist. In diesem Aufsatz liegen zugleich
Ergebnisse seiner eingehenden Studien ttber das Breslau der
Reform ationszeit, aus denen als letzte Frucht seine Rede zur
Einweihung des Hessdenkmals am 21.0ktober 1917 hervorgtog. Schon
frtther waren aus dieser Beschaftigung erwachsen die Biographieu des
Hessfreundes „H e i n r i c h und (seines Sohnes) S e y f r i e d R i b i s c h ",
(1907), deren Bedeutung fur die schlesische Kunst er in einer
Weiterfithrung dieses AufBatzes im selben Jahre darlegte. Selbst ein
scheinbar so wenig fesselnder Gegenstand wie der preuBische
Adler gab seinem Forschergeiste, der an nichts achtlos vorbeigiug,
frucbtbaren Stoff. „Der Bronze-Adler der Regierung zu Breslau"
(1919) heiBt eine seiner letzten groBen Untersucbungen — Ergebnis:
„ein Adler in antiker Auffassung durch einen KUnstler des frtthen
Barock* — , die ibm in der Form seiner letzten Breslaner Kaiser-
geburtstagsrede (1917): „Der antike nnd der preuBiscbe Adler"
die Anerkennang Kaiser Wilhelms II., ausgesprochen in einem
Handscbreiben des damaligen Kultusministers von Trott zn Solz,
eintrug. Gelegenheit zu zusammenfassender Wttrdigung schlesiscken
Kunstlebens boten die 1912 gehaltene „Festrede zum 50 jahrigon
Besteben des Vereins fur Geschichte der bildenden Kunste in
Breslau" und sein ' Aufsatz : „Pflege von Kunst nnd Wissenschaft
seitens der Stadt Breslau unter Georg Bender 1891 — 1912",
den er dem von ihm hochgeschatzten Oberburgermeister a, D. in
einer Festschrift 1919 darbracbte.
Vollends das Meisterwerk des Barockstils in Scblesien, das
Br eslaue r UniversitatsgebHude, bat Foerster nnablassig
auch literariech beschaftigt, wie es ihm zn danken war, dafi Aula
nnd Musiksaal nach ihrer Restaurierung durch den Maler Josef
Langer zum lOOjahrigen Jubilttum der Universitat im alten,
vollen Glanz erstrahlen konnten. 1899 fullt der fruheste seiner die
Universitat als Ban- und Kunstwerk betrachtenden Anfsatze: „Die
Aula Leopoldin a", seine erste Interpretation der wundervollen
Darstellungen der uberreich geschmtickten Aula, 1900 „Der Ban
der Universitat Breslau und die Bolder der Aula Leopoldina",
in ihrem ersten Teil eine eingehende, nach Jahre n gesonderte
Beschreibung des Fortschritts der Bauarbeiten am Universitats-
gebaude. Ihnen folgten: „Die Kunst des Barock im Musiksaal
der Universitat Breslau" (1909), meisterhaft in der Ausdeutung
der Malereien auch dieses Festraumes, „Dic Aula Leopoldina und
die Universitat Breslau" (1909), „Die Aula Leopoldina* (1911),
„Aula und Musiksaal der Universitat Breslau" (1911, im Jubilaums-
jahrl), endlich: „Die Aula Leopoldina der Breslaner Universitat"
(1912), wo Foerster an Hand prachtiger Abbildungen auch dem
Fernewohnenden zeigt , wie der Aula „Sch8nheit beruht auf dem
wunderbaren Zusammenspiel von LinienBchwung und Farbentfinen, in
dem das Einzelne nur der Gesamtwirkung dient, daher nur als
N*krologe 1922, (Jahresb#richt f, AltwrtumswisBeiuchaft. Bd. 1W B.) 4
in dem Architektur , Plastik und Malerei sich die Hand reichen".
Das Finderglttck war ihm auch auf diesem Arbeitsgebiete hold:
im Landesarchiv in Brtinn fand er 1910 die Tagebuchblatter des
bedeutenden milhrischen Meisters, der die Aula gemalt hatte und
dessen Urheberschaft an den Malereien des Musiksaales doch bis dahin
unbekannt geblieben war, des J oh an n Christoph Handke.
Diese Blatter liefi Foerster als „ Festschrift der Schlesischen Gesell-
schaft fur vaterlandische Kultur zum lOOjHbrigen J ubilaum der
Universitftt Breslau" 1911 unter dem Titel: „J. Ch. Handkes Selbst-
biographie" erscheinen. Ein hoher Lohn war seinen Million be-
schieden: Durch seine Handkeforschungen angeregt , schenkte ein
fruherer Schuler der Universitat Breslau dieser ein kunstlerisch
sehr wertvolles Altargem&lde Handkes, die Vision des Fran-
cesco Borgia darstellend. Einem erlesenen Kreise konnte der
greise Forscher im WMmannsaale des Schlesischen MuseumB am
28. Mai 1918 jenes Werk vorstellen und deuten. — Zum letztenmal
bearbeitete er die Probleme, die der Universitatsbau aufgibt, in seinem
Aufsatz: „Der Urheber des Bauplanes ffir die Universitttt
Breslau" (1919), wo er in kritischer Stellungnahme zu B. Patzak
(Die Jesuitenbauten in Breslau und ihre Architekten, 1918) zu
dem Ergebnis kommt: „Der kunstverstttndige Rektor des Jesuiten-
kollegs Franz Wentzl war der Erbauer der Universitttt. Der Name
des Urhebers des Planes entzieht sich unserer Kenntuis."
Seiner treuen Anhttnglichkeit an die Lausitzer Hei-
mat, die er alljtthrlich aufsuchte, verdanken wir neben der Wur-
digung Wigands von Salza zwei Aufstttze ttber den groBen Pttda-
gogen der Lausitz, den Freund von J. Hess und H. Ribisch,
Valentin Tr otzendorf.: „Die Bildnisse Val. Tr.s" (1899) und
Das Tr.-Denkmal in der Stadtkirche zu Goldberg" (1913), beide
auf eingehenden Forschungen ruhend. Einen Klinstler der Lausitz
hat er geradezu aus dem Dunkel der Vergesgenheit gerettet
und ins helle Licht gestellt, den reichbegabten, leider jung ver-
storbenen Franz Gar e is. Nicht nur in einer Reihe von Auf-
stttzen und Broschuren: „Franz Gareis" (1913), n Neues von F, G."
(1916), „Abermals Neues von F. G." (1921) „F, G., ein ober-
lausitzer Kttnstler" (1922), hat er ihn bekaunt gemacht. Auch bei
ihm veranlaBte er die Anbringung einer Gedenktafel am Hans
Nr. 24 in Klosterfreiheit bei Marienthal am 28. Juni 1921, bei
deren im Beisein hoher kirchlicher Wiirdentrllger erfolgten Ein-
weihung er die Festrede Melt. Was er an Werkeu von Gams'
Hand gesammelt hatte, ttbergab er nach einem am 81. Mai 1922
in Gorlitz gehaltenen Vortrag dem Kaiser Friedrich-Museum seiner
Vaterstadt. Dieser Vortrag erschien unter dem Titel „F. G. und
das Kaiser-Friedrich-Museum in GQrlitz" (1922). Und aucb die
letzte Aufgabe seines rastloseu Forschergeistes besch&ftigte sich nut
einem Werke heimischer Kunst: das Kreuz vor der Kirche
zu Erdmannsdorf tragt anf dem Socket ein angeblich von Ranch
stammendes Relief, an dessen einer Seite Job. Bagg, „der letzte
Zillertaler" — einst Foersters alterer Mitscbiiler auf dem Gym-
nasium, von dem er znm neunzigsten Geburtstag ein Lebensbild
zeichnete (Schlesische Zeitung 1921, 9. Dezember) — als Knabe
dargestellt ist, Noeh seine letzte Ausfahrt gait diesem Denk-
mal. Was er gefunden , darttber bericbtet sein vier Tage vor
seinem Tode abgescbloasener Aufsatz in den „Gfirlitzer Nach-
richten" vom 12. Angust 1922: der Plan des Werks stammt nicbt
von Kaucb , sondern dUrfte anf eigne Anregnngen Friedricb Wil-
helms IV. zurtlckgehen. „Der ist in ttefster Seele treu, der die
Heimat liebt wie du".
Pietat gegen die Dabingegangeneu, docb nnter maB-
voller Kritik nnd Anerkennung des Gewollten und Erreicbten, war
ein edler Zug seines Charakters. Wie er in der Kunstgeschiehta
Handke, Gareig, Schanbert („Ein schlesiscber Architekt im Lande
der Hellenen" [1909]) ebrte, so unter den Philologen neben Reiske
vor allem Karl Otfried Mllller, den man als sein Ideal
bezeichnen darf. Audi ihm erwirkte er die Anbringung einer
Gedenktafel an dem Hause am Breslauer Neumarkt, in dem Mttllers
n Orchomenos << entstanden war. Vieles, was Foerster in seiner
Kektoraterede Uber ibn vortragt, laBt sich von ibm selbst sagen.
Er versetzt sich in die Seele des zu Feiernden, nnd so kommen i n
ibm selbst verwandte Saiten zum Klingen. Noch lebens-
wftrmer sind die Nekrologe derer, die ibm im Leben bekannt ge-
wesen — Fr. Haase, C. SchOnborn, J, Sommerbrodt — oder mit denen
er ein Bttick Lebenswegs gegangen war: Ed. Ltibbert, M. Hertz,
Th. Thalheim, Ed. Scbeer.
Reichen Samen hat er als Lehrer in mehr als 50jahriger
Dozentent&tigkeit ausgestreut. Was vom akademischen Lebrer zu
fordern sei, spricht seine Kieler Rektoratsrede „Die klassische
Philologie der Gegenwart" (1886) aus. nolvfia&ii} voov ov diddoxti :
Nicbt Summation toten Einzelwissens , sondern Einfuhrung des
Studenten in den Geist des Alter turns ist ibm die Hauptsacbe.
„Immer auf Zusammenfassung des Vereinzelten gericbtet, wufite er,
A*
/■ . : i- ■ - ■ ■ ■ ■ ■ - •■■ ''DUB •
52 Richard Foerster.
daB ein einheitliches Bild des antiken Lebena nur zu gewinuen sei,
wenn die von dera Boden, den Denkin&lern , den Inschriften, der
Literatur , der Sprache, dem Versmafl ausgehenden Elnzelstrahlen
geaammelt wtirden." Diese dem Gedachtnis K. 0. Mailers geltenden
Worte lassen Anwendung auf Foerster selbst zu. Dank reicher
padagogischer Gaben konnte er dies Ziel in der Praxis erreichen. ,
Schoa die Vorlesungen, fUr die er seine letzte Kraft einsetzte
nnd die er stets auf der Hbhe der jeweiligen Forschung hielt,
waren von diesem Streben getragen. Ihr Kreis war anerkannt
groB, weil er Philologie nnd Archaologie neben einander behandelte.
In den letzten Jahrzehnten der Breslauer Wirksamkeit kehrten in
regelmaBigem Turnus wieder die Kollegs ttber die griechische
Literaturgeschichte , die sich tiber zwei, und griechische Kunstge-
scbichte, die sich ttber drei Semester erstreckten, ferner: attisches
Staats- und Gerichtswesen, griechische Staatsverfassungen, Pindar,
Eeligion der Griechen und Romer, Catull, Apulejus 1 Amor und
Psyche, Geschichte, Topographic und Denkmalerkunde von Athen,
von Rom, endlich Archaologie, letzteres Kolleg eiue ausgezeichnete
Periegese der klassischen Lander nnd ihrer Sammlungen und der
Nacbbarlander, soweit in ihnen die ant ike Kultur Boden gewonnen
hatte. Seliener las er tiber Enzykiopadie und Methodologie der
klassischen Altertumswissenschaft , griechische und rdmische Kultur
in vergleichender Darstellnng sowie tiber Ikonographie. Nach den
Tagen seiner schwersten Erkrankung konnte ihn nur striktes
arztliches Verbofc an vorzeitiger Aufnahme der Kollegs hindern.
Selbst ein trefflicher Methodiker, weckte er in den Seminar-
tt bung en deu Blick fur zielbewuSte, sichere Arbeit an Schrift-
stellern und Kunstwerken, Wttrdigung des historischen Zusammen-
hangs, gesunde Kritik an denen, die frtiher das Problem behaudelt
batten, Er verstand, alle Krafte nutzbar zu machen, Zagende zu
stahlen , FleiBige zu lohnen und anzuspornen. Wie er an sich
selbst die hiichsten Anforderungen stellte, verlangte er viel auch von
anderen. Mit seinem Rat stand er den selbst fleifiig und gewissenhaft
Forschenden gern zur Seite. Seine enorme Vielseitigkeit befahigte
ihn, jedem ein Platzlein im Reich der Altertumswissenschaft zu
weisen, wo er mit Erfolg arbeiten ktfnne. Seine Themeu waren
eher zu urn fas a end als unergiebig. So ist im Lauf der Jahr-
zehnte eine lange Reihe von Dissertationen erschienen, die von ihm
angeregt, mindestens gefordert sind. Trotz aller anderen Arbeiten
lieB er es sich nicht nehmen, die Korrekturbogen der Dissertationen
mit zu lesen, und seine Gewissenhaftigkeit fand in dem Streben
Richard Fcerster.
53
nach mtJglichster Genauigkeit in Behandlung der gestellten Themata
auch dann noch mancherlei zu bessern nOtig. Geeigneten Arbeiten
gewaarte er Aufnahme in die „Bresiauer philologischen Abhaud-
lungen", deren Redaktion er nach 1890 iibernommen hatte. Als
Examinator war er strong, doch gerecht. Als Prttfender wie als
stellvertretender Vorsitzender der wissenschaft-
lichen Prufungskommission fUr Schlesien und Posen hat er,
unterstiltzt von einem ausgezeichneten Personengedachtnis, ma&-
gebenden EinfluB auf die Entwicklung des hoheren
Schulwesens Schlesiens ausgeubt. Wie sehr seine Studenten
ihn schatzten, bezeugen Festlieder namentlich aus der Rostocker
und Kieler Zeit. Gar viele ehemalige SeUliler haben ihm als
Manner Treue gewahrt und die Verbiudung mit ihm nie unter-
brochen. Zu seinen Jubilaen strSmten ihm ihre Gliickwtinsche zu
van fern uud nah, Zengen der Dankbarkeit dafur, daB er in ihren
Herzen die Sehnsucht nach der Erkenntnis des Wahren und Sehfinen
zu pflegen wisse, wie Mikolaj czak es 1913 auf dem ihm zu Ehren
veranstalteten Festkommers so treffeud ausspraeh.
Gelegenheit zum Wirken auf einen weiteren Kreis gaben
ihm seine Re den. Seine reiebe rednerische Begabung war an den
Alten geschuit. So konnte Foerster die Professur der Elo-
quenz in Kiel und Breslau durch fast vier Dezennien be-
kleiden, und wer die lange Reihe seiner Festreden mustert, muB
in erster Linie deren Vielseitigkeit bewundern. Gingen sie
auch zumeist von der Fachwissensehaft und seinen jeweiltgen
Forschungen aus, so wuBte er sie doch in einer mit den Jahren
noch steigenden Geschicklichkeit so zu fassen, dali sie auch den
Nichtfachmann fesselten. Nur einige Beispiele: ^Das Portrftt in
der griechischen Plastik" (1882), „Die Physiognomik der Griechen"
(1884), „Die Kunst in Schleswig-Holstein" (1890), ^Eros* (1893),
„Iphigenie a (1895), „Das preuBische Konigtum und die klassische
Kunst 8 (1901), „Psyche" (1905), „Das Jahr 1807 und die Universitat
Breslau" (1907), „Die Universitftt Breslau und die Erhebung yon
1813" (1913), „Himmlische Liebe" (1915), „Antiker und preufiischer
Adler" (1917). Sein Kieler Rektorat leitete er mit einer Betrach-
tung fiber „Die klassische Philologie der Gegenwart* ein, sein
Breslauer mit einer Wtirdigung K. O. M tillers. Die akademische
Gedttchtnisrede zum Tode Kaiser Wilhelms I. zu halten, war gleichfalis
seine Aufgabe. Seine Buchlein: ff Das Erbe der Antike" (1911)
und „Die University Breslau einst und jetzt" (1919), Proben seiner
Reden, tun auch auBerhalb der Festraume ihre Wirkung und zeigen
aufs beste die reiche schOpferische Kraft und das hohe Gestaltungs-
vermtigen ihres Verfassers.
Ein weiterer Kreis yon Reden hangt mit seiner Tatigkeit in
der Schlosischen Gesellschaft ftlr vaterlandische Kultur zusammen.
Hier behandelte Foerster nicbt nor in den Sitzungen der philologisch-
archaologischen Sektion fast alljahrlich eins der Probleme, die ihn
gerade beschaftigten , sondern vor allem in den grolien Festver-
sammlungen war sein das Amt des Reduers. Gleickos gilt ftlr sein
Wirken im Verein fur Geschichte der bildenden Ktlnste: in den
von beiden Gesellschaften vereint begangenen j&hrlichen Winckel-
mannsfeiern hat wohl fast stets er die Festrede gehalten. So wttr-
digte er 1873 Winckelmanns Wirken, behandelte 1874 „Die bil-
dende Knnst zur Zeit Hadrians", 1917 „Die neue Gottin des Ber-
liner Museums", 1919 „Die Friedcnagottiu in der Knnst". Ancb
and ere Vereinigungen , z. B. der Verein fur Geschichte Schtesiens,
der Wissenschaftliche Verein in Breslau and besonders die Ober-
lausitzische Gesellschaft der Wissenschaften in Gorlitz, deren Ehren-
mitglied er seit 1904 war, durften ihn oft als Vortragendeu hiiren.
Und als man sich zur Einweihung des Eichendorffdenkmals , zur
Hessfeier , znr Einweihung der Gedenktafeln far K. 0. Muller,
Reiske , Gareis anschickte, immer stellte der UnermUdliche seine
Kraft gern in den Dienst der Allgemeinheit.
Der Wert seiner stets frei gehaltenen Reden liegt in Reichtum
und Tiefe der Gedanken, die in fein abgetiinter Sprache stimnrongs-
voll zum Auadruck gebracht sind. Foerster war Meister des Vortrags :
a er sprach schlicht, bescheiden, ttberzeugend und
legte in seine Worte seine ganze Seele" (Jecht). Wer
mit angesehen hat, wie eine solcbe Rede erwuchs , welche Fttlle
von bis ins Einzelne gehenden Untersuchungen sie erforderte,
welche Menge von Literatur er fur sie durchzuarbeiten pflegte, nur
der weifi sie als opus doctissimumzu wUrdigen. Volkstttmlich
im engen Sinn des WorteB sind seine Reden nicht — wie Foerster
ttberhaupt eine Abneigung gegen popularisierende Bestrebungen
innerhalb der Altertumswissenschaft hatte — ; nur auf ein feingebil-
detee Publikum sind sie eingestellt.
Neben den mannigfachen Verpflichtungen, die ihm sein Lehr-
amt anferlegte, hatte sich, namentlich nach seiner Rtlckkehr in die
sehlesische Heimat, eine Fttlle von Anfgaben zusammengefunden,
deren jede einzelne schier eine voile Kraft erforderte. Nock 1890
hatte er die arckaologiscke Sektion der Schleeischen Gesell-
schaft fttr vaterlandische Kultur zu neuem Leben erweckt
und zur archaologisch-philologischen umgestaltet. Er pflegte sie
seine Sektioa zu nennen, ein Zeichen , wie eehr sie ihm ans
Herz gewachsen war. Bald war er dor filbrende Geist des Ganzen.
Darutn wurde er 1900 als Nachfolger von Heidenbain nach der kurzen
Prasidentschaft yon Fltigge und v. Mikulicz einstimmig zum Prases
dieser Gesellschaft gewahlt and hat sie 22 Jahre lang in einer fUr die
Sozietat selbst, Stadt, Universitat und Schlesien segensvollen Weiae
geleitet. Seine erate Aufgabe war, ihr, die bisher in Rftumeu der
Alten B6r«e am Blttcherpiatz eine Unterkunft hatte, ein wurdiges
Heim zu schaffen. Drei Jahre, nachdem er (1904) die Hundert-
jahrfeier des Bestehens der Gesellschaft hatte leiten dtlrfen, hatte
er die Freude, das seinen emsigeu Bemtihungen zu dankende Gesell-
schaftshaus auf der Matthiaskunst einzuweihen. Mit eiuem vor-
neliraen, geschlossenen Stil palSt es sich harmonisch in das Stadt -
bild ein, und in der Bezeichuung , die der Volksmund dem im
Grtinen liegenden Gebaude gegeben hat, hat auch er die Er-
innerung an seinen Erbauer gewahrt. In der Bildung immer
neuer Sektionen und der regen Tatigkeit innerbalb derselben er-
kannte Foerster die LebenskrHftigkeit der fur die Kultur Ostdeutsch-
lands so wichtigen Gesellschaft. Als langjahriger Vorsitzender
im Yerein filr Geschi chte der bildenden Kttnste ,
Vorsitzender des Kuratoriums des Schlesischen Mu-
seums der bildenden Kttnste, Vertreter der Kegierung
in der Verwaltungsdepu tation des Museums fttrKunstgewerbe
und Alter ttlmer, Mitglied des Kuratoriums der Stadtbibliothek
hatte er engste Fllhlung mit dem modernen geistigen and Kunst-
leben Schlesiens. Auch im kirchlichen Leben Breslaus t der
Magdalenen-, spater der Johanneskirchengemeiude, nahm er Ftthrer-
stelle ein; er war ferner Mitglied der Kreissynode Breslau -Stadt, des
Parochialverbandes der evangel ischen Kirchengemeinden zu Breslau.
Seine glanzenden Verdi enste um das kulturelle Leben Schlesiens
orkannten auch die an, die ihm nicht immer freundlich gegenUber-
standen. Seine wissenschaftlicbe Tatigkeit fand, abgesehen von der
Verleihung einer Reihe von Orden, auch dadurch Anerkennung, daft
er ernannt wurde zum Ordentlichen Mitglied des Deutschen Archao-
logischen Instituts, zum Wirklichen Mitglied der Archaologischen
Gesellschaft in Odessa, zum Ehrenmitglied der Gesellschaf fur
Anthropologie und Urgescliichte in der Oberlausitz, zum Ehren-
mitglied der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften.
Indes, nach auBerer Anerkennung strebte er nicht; er sagte mit
Recht: „Den Wert eines Men neb on bestimmt allein sein Inneres,
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Richard Foerster.
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alles librige ist eitel\ Ermtfglicht wurde ihm seine vielseitige Tatig-
keit, ait der noch erne weitreichende Korrespondenz verbunden war,
die er pUnktlich und gewissenhaft zn erledigen pflegte, durch aus-
gezeichnete Menschenkenntnis, mebr noch durch nie nachlassende Ar-
beitskraft — laboremns! pflegte er mit Septimins Severus zn sagen — \
Gewissenhaftigkeit und Pflichttreue, mit der er alle Ubernommenen
Aufgaben durchfllhrte. Nicht nur feste Gesundheit nnd eiserne
Nerven waren da notig, anch peinlichste Ausntitzung nnd Einteilung-
der Zeit. Vom friihen Morgen an rastlos tatig — bis in sein hohes
Alter hinein arbeitete er nur ste hend — , hastete er doch nie.
Fiir Eatsuchende hatte er stets Zeit; in seinem Studierzimmer
konnte man ein Geftihl des Zeitlosen empfinden. Etwas Rnhe-
wirkendes ging von ihm aus. Feat auf dem Boden des Christen-
tnms stehend, war er gewohnt, alles sub specie aeternitatis zn be-
trachten. Von dieser hoheren Warte aus ward ihm, der des Deutschen
Kaiserreiches Werdea, Bltihen und Vergehen mit erlebt hatte, leicht,
in hoffnungsvollem Gottvertrauen anch das fur Deutscbland so
bitter schwere letzte Jahrzehnt zu ertragen : „In silentio et spe erit
fortitudo vestra" (Jes. 30) war sein Wahlspmcb. Allmutter N a t u r ,
die er vou Jugend auf geliebt hatte, gab anch dem Greise immer
neue Kraft. Noch in den letzten Jahren nnterliefi er selten den
tSglichen Spaziergang ins Freie. Mit alien Fasern seines Herzens
hing er an seiner L a u s i tz , die er jahrlich, wenn mdglich, zweimal, auf-
suchte, und an der schlesischen Bergwelt, an deren schonsten
Punkten er seine Sommerferieu zu verbringen pflegte, Landeck,
Krumrahubel, Fliosberg. Sein warmes Herz und reiches Gemttt
nnd seinen feinen Humor offeubarte er naturgemaB am meisten
im Kreise der Seinen, und innig herzerfreuend war es, ihn um-
geben von seinen Enkelkindern zu sehen, mit denen jung zu sein
er nicht fur unter seiner Wurde hielt: „DuIce est desipere in loco",
sagte er einmal dabei. Gesellig und lebhaft, besafi er aber auch
die Gabe, zuhoren zu konnen; leutselig und lauter, heiter und ab-
geklart zeigt ihn, einen rechten Lebenskfinstler, das von Professor
Kampfer gemalte Bildnis. „Sein einnehmendes, entgegenkommendes
Wesen, seine gleicbmaBige Liebenswurdigkeit, der aber auch ein
sicheres, festes Auftreten gepaart war" (Jecht), tfffnete ihm alle Tore
nnd verhalf ihm zu Erfolgen, die ein anderer an seiner Stelle nicht
erreieht hiitte.
In seltener Gesundheit und jugendlicher Frische des Geistes
konnte er sein 50jahriges Doktorjubilaum 1916 und das Fest der
enen Hochzeit feiern, hochverehrt von seinen Kollegen, Freunden
ft
und Schtilern. Doch dann muBte ©r seben, wie einer nach deip
andern seiner Freunde abgerufen wurde : nach Scheers Tode Leon-
hard, Thalheim, Mayhoff, Blttmner, Robert, Diels, Gercke. Nacb
der glttcklich ttberstandenen Operation war seine voile Frische
nieht mehr ganz wiedergekehrt ; doch arbeitete er weiter, mit Willens-
starke die nachlassenden Erafte zusammenhaltend. So hielt er am
Vorabend seines letzten Geburtstages, wahrend eine schwere Grippe
im Ausbruch war, trotzdem den angekUndigten Vortrag, der sein
letzter sein sollte, in „seiner tt Sektion. Noch acht Tage vor seinem
Tode bestellte der Nimmermttde einen Moskauer Libanioskodex znr
Kollation, und vier Tage vorher schlofi er seine Studien tiber das
Erdmannsdorfer Kreuz ab. Nach kurzer Krankheit ist er in der
Frtihe des 7. August 1922 sanft aus seinem selten reichen Leben
und am Mittag des 14. auf dem Friedhof der Johannes-
in Breslau beigesetzt word en , ein GroBer tmter seinen
Zeitgenossen, an dem das Wort sich erftlllt hat: „Ich will dich
segnen, und du sollst ein Segen sein."