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Full text of "Biologische Parallelen zu Freuds Trieblehre. Experimentelle Beiträge zur Dynamik und Ökonomie des Triebkonfliktes"

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INTERNATIONAL 

PSYCHOANALYTIC 

UNIVERSITY 



DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN 



Biologische Parallelen 
zu Freuds Trieblehre 

Experimentelle Beiträge zur Dynamik 
und Ökonomie des Triebkonflikts 



von 



R, Brun 

Privatdozent an der Universität Zürich 



Internationaler 
Psychoanalytiscker Verlag 

Leipzig / Wien y Zürich 
1926 



Separatahdruck aui der „Imago, Zeitschrift für Jmvendiatg 
der Psychoanalyse auf dk Natur- und Geiste swüsenichaßen" 
(herausgegeben von Sigm. Freud), Bd. XU (1926), Heft 2/3 

Alle Rechte, 
msbesondere die der Übersetzung, vorbehalten 

Copyright 1926 
hy „Internationaler Psychoanalytischer Verlag 

Ges.m. b.H.", Wien -V 



Druck: Christoph Rciiser's Söhne, Wien V 



Wenn wir versuchen wollten, das imposante Lebenswerk Sigm, Freuds 
vom Standpunkte des Biologen mit zwei Worten zu charakterisieren, so 
könnten wir wohl kaum eine zutreffendere Aussage darüber machen, als 
die, daß es von Anfang an von einer eminent bi alogischen Einstel- 
lung des Forschers getragen und befruchtet war. Zu einer Zeit, da die 
alte „Schulpsychologie" die Psyche fast gänzlich in eine seelenlose Mechanik 
von Sinnes- „Erlebnissen" aufgelöst hatte (indem sie fortgesetzt das Instru- 
ment der Seele — den cerebrospinalen Wahrnehmungs- und Reaktions- 
apparat — mit dieser selbst verwechselte), entdeckte Freud die primäre 
Triebbedingtheit alles seelischen Geschehens und schuf so die erste auch 
praktisch — am Krankenbett — brauchbare, weil von biologischen Gesichts- 
punkten getragene Psychologie, Trotzdem — oder besser, gerade weil diese 
neue Psychologie zunächst rein praktischen Zwecken — der Heilung seelen- 
kranker Menschen diente und daher fern von voreiliger Spekulation auf 
iahrzehntelanger mühevoller und streng induktiver Detail forschung auf- 
gebaut war, konnte Freud auf diesem sicheren Fundament schließlich 
jenes stolze, in sich geschlossene und, fast möchte man sagen, weltum- 
fassende wissenschaftliche Lehrgebäude errichten, das die Psychoanalyse in 
ihrer heutigen Gestalt darstellt. 

Ein wesentliches Merkmal der psychoanalytischen Lehre wurde von 
jeher darin erblickt, daß sie, im Gegensatz zur alten Be wußtsei nspsycho - 

i* 



4 R. Brun 

logie, in erster Linie eine Triebpsychologie sei. In der Tat Icennzeichnet 
nichts so sehr die biologische Grundeinstellung Freuds, als die Tatsache, 
daß dieser tiefe Denker von seiner allgemeinen Neurosen lehre, die 
)a zunächst auf einer Unsumme rein klinischer Einzelergebnisse auf- 
gebaut war, schließlich mit einer Folgerichtigkeit ohnegleichen zu einer 
allgemeinen Trieblehre gelangte. Damit war zum erstenmal der An- 
schluß der Psychologie an die allgemeine Biologie gewonnen und die 
Grundlage einer biologischen Psychologie geschaffen. 

Ihren Ausgangspunkt nahmen diese metapsychologischen (sive psycho- 
biologischen) Studien Freuds bekanntlich von der Einsicht, daß die Neurose 
letzten Endes auf einem Triebkonflikt beruhe, nämlich auf einer 
Kollision zwischen phylo- und ontogenetisch alten Urtrieben — wir wollen 
sie im folgenden biologisch unpräjudizierlich als „Primordialtriebe" 
bezeichnen, — und phylo- beziehungsweise ontogenetisch jüngeren, ent- 
fernten Abkömmlingen jener — die wir daher füglich als „Sekundär- 
triebe" bezeichnen können. Die Symptome der Neurose erkannte 
Freud als die Äußerungen, Manifestationen dieses Triebkonflikts, und 
zwar letzten Endes als das Ergebnis eines mißlungenen Kojj^promisses 
zwischen den beiden miteinander in Konflikt geratenen, unvereinbaren 
(„inkompatiblen") Triebansprüchen, 

Zu den Primordialtrieben rechne ich die primitiven Stufen des Selbst- 
erhaltungstriebes („Ich-Triebes" von Freud) und die Sexualtriebe. Sie ver- 
treten die Augenblicksinteressen des Individuums, d. h sie sind im Prinzip 
stets auf sofortige Befriedigung in der Gegenwart gerichtet. (Bezuglich der 
Sexualtriebe mag diese Aussage auf den ersten Blick befremden, da doch der 
Sexualtrieb in engsten Zusammenhang mit der Fortpflanzung, also mit 
einer üb er individuellen Funktion, nämlich nüt der Erhaltung der Art bis in 
die fernste Zukunft, gebracht wird. Allein die wissenschaftliche Biologie kennt 
keine „Zwecke , — der Zweckbegriff ist vielmehr eine reine Fiktion des 
menschhchen Denkens, und in der Tat lehrt schon eine flüchtige Untersuchung 
der verschiedenen sexuellen Partialtriebe, daß die Mehrzahl derselben keines- 
wegs die Fortpflanzung zum Ziel hat: Ihr unmittelbares Ziel ist vielmehr, 
wie Freud zuerst nachdrücklich hervorgehoben hat, kein anderes als die 
Lustbefriedigung an einer erogenen Zone). — Im Gegensatz zu den Primordial- 
trieben vertreten die Sekundärtriebe die Zukunftsinteressen des Ich 
und der sozialen Gemeinschaft: Es handelt sich da um hochkomplexe 



Biologisches zu Freuds Trieblehre 



Synthesen (Trieb verschränkungen) zwischen Abkömmlingen der Ich- und der 
Sexualtriebe (unter mannigfachen sekundären Affekt- und Ob] ektv er Schiebungen), 
die, phylo- \md ontogenetisch jungen Datums, nur bei sozial organisierten 
Lebewesen -vorkommen und daher auch als „Sozialtriebe" bezeichnet worden 
sind. Ihre Objektrepräsentanzen sind (beim Menschen) vorwiegend mnemische, 
d. h. nicht — oder nicht mehr — notwendig als sinnUche Erregungskomplexe 
gegeben: die kulturellen, sozialen, ethischen und reli^ösen Anforderungen des 
„Ich- Ideals" von Freud. Ihre Gefühlsrepräsentanz im Kollisionsfalle mit den 
Primordialtrieben ist das Gewissen, daher v. Monakow (17)^ das Gewissen 
meines Erachtens biologisch zutreffend, wenn auch wohl noch nicht erschöpfend 
definiert als eben die Instanz, die im Kollisionsfalle „die Interessen der Zu- 
kunft des Individuums und der Rasse", also die Interessen der Sekundärtriebe 
vertrete, (Erschöpfend ist diese Definition meines Erachtens deshalb nicht, weil 
sie die Pathologie des Gewissens, wie wir sie beispielsweise bei der Zwangs- 
neurose beobachten, nicht berücksichtigt.) 

Für den der Neurose zugrunde liegenden Triebkonflikt konunen seitens der 
Primordialtriebe fast ausschheßlich sexuelle Strebungen, vor allem solche, die 
der sogenannten prägenitalen Sexualorganisation von Freud angehören, in 
Betracht. Der Grund dieses Verhaltens, an dem bekanntlich die Gegner der 
Psychoanalyse immer wieder Anstoß nehmen, ist unschwer zu verstehen; Zu 
neurotischen Symptombildungen kann es bekanntlich nur dann kommen, wenn 
die Repräsentanz der einen der beiden in Kollision geratenen Triebregungen 
verdrängt wurde. Der dem verdrängten Trieb zugehörige Energiebetrag muß 
dann entweder in anderer, inadäquater Form, z. B. Ln Form von Angst, seine 
Aifuhr erzwingen, oder sich an eine ihm ursprüngUch fremde Objektreprä- 
sentanz heften (Verschiebungsersatz, respektive Konversion; — letzterer Fall 
tritt dann ein, wenn ein Kompromiß mit der verdrängenden Triebinstanz 
zustande kam). Die Ansprüche der primitiven Selbsterhaltungstriebe verhalten 
sich nun aber gegen die Verdrängung schon wegen ihrer Dringlichkeit 
meist refraktär: sie sind lebensnotwendig und müssen daher stets in ab- 
sehbarer Zeit befriedigt werden. Aus dem gleichen Grunde sind sie aber auch 
einer Affektverschiebung oder einer Konversion auf die Dauer nicht zugänglich : 
man kann z. B. den Hunger mit dem besten Willen nicht symbolisch befrie- 
digen oder, wenn man in Lebensgefahr schwebt, sich hinsetzen und etwa als 
Ersatz für die unniögliche Rettung zu Mittag speisen 1 

Es ist vielleicht nicht überflüssig, hier auch die biologischen Grund- 
lagen oder besser: Voraussetzungen des neurotischen Triebkonflikts 



1) Die eingeklammerten Zahlen hinter den Autortiamen beliehen sich auf die 
Nummern des Literaturverzeichnisses am Schlüsse dieser Arbeit. 



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noch ganz kurz zu erörtern. Ich bediene mich dahei der neutralen biolo^- 
schen Terminologie von Semon (18) und verweise im übrigen auf eine meiner 
früheren Arbeiten (6), in welcher ich die betreffenden Verhältnisse ausführ- 
licher dargelegt habe. 

Der Laie denkt sich gewöhnlich, der Neugeborene sei gewissermaßen ein 
unbeschriebenes Blatt und stellt sich vor, daß dieses leere Blatt erst durch 
die nach und nach herbeiströmenden individuellen Erlebnisse allmählich be- 
schrieben vtrerde. In Wirklichkeit sind jedoch im Zentralnervensystem jedes 
Geschöpfes auch die Erfahrungen seiner Ahnen in Gestalt primärer Instinkt- 
oder Trieb dispositionen als fester, angeborener Erbbesitz niedergelegt. Diese 
hereditären Engrammkomplexe der Urinstinkte, wie Hunger, Durst, Schutz, 
Verteidigung, Sexualerregung usw. kommen vorgängig jeder spezifischen 
Sinnes erfahrung durch aUgemeine Veränderungen der inneren energetischen 
Situation, in erster Linie durch innersekretorische (Hormon-) Reize zur Aus- 
lösung (Ekphorie), Die dergestalt aktivierte hereditär- mnemische (Instinkt-) 
Erregung bezeichnen vrir als Trieb, sein subjektives Korrelat nach v. Monakow 
als Urgefühl. Der Trieb ist also zunächst objektlos; doch setzt die 
betreffende hereditär-mnemische Erregung nun ihrerseits sofort den cerebro- 
spinalen Orientierungsapparat in Betrieb, d. h, der im Zustande der Trieb- 
erregung befindliche Organismus sucht nun erst in der Außenwelt Reiz- 
komplexe (Objektrepräsentanzen Freud) auf, die geeignet sind, den Trieb zu befrie- 
digen — ein Vorgang, den ich als „primäre Reizsuche" bezeichnet habe. Bei 
niederen Tieren, wie beispielsweise noch bei den meisten Insekten, ist in der 
Regel auch die Objektrepräsentanz des Triebes, das sogenannte TViebobjekt, 
noch im Erbgedächtnis als hereditärer Engrammkomplex vertreten — daher die 
Starrheit der meisten Instinkte dieser Organismen, ihre festgefügte Reaktions- 
struktur. Indessen hat die neuere Forschung gezeigt, daß selbst schon bei den 
Insekten die Verknüpfung zwischen Trieb und Objekt keineswegs eine so feste 
ist, -wie man sich dies früher vorstellte, und vollends trifft dies, wie Freud 
richtig betonte, für die höheren Tiere und gar für den Menschen zu, indem 
hier je nach Umständen die mannigfachsten Affektverschiebungen be- 
ziehungsweise Übertragungen auf biologisch inadäquate Objekte experi- 
mentell erzielbar sind (cf. auch Hattingberg (16), 

War nun die Reizsuche erfolgreich, entspricht die in der Außenwelt 
angetroffene (äußere) energetische Situation der in der Erbmneme niedergelegten 
hereditär-mnemischen Situation (oder anders gesagt: entspricht der durch das 
Realobjekt erzeugte aktuelle Erregungskomplex dem hereditären Engramm- 
komplex der Urrepräsentanz des Triebes), so werden die betreffenden Sinnes- 
objekte sofort mit einer positiven, lustbetonten Gefühls qualität ausgestattet; 
es entsteht ein heftiges, hinneigendes Begehren nach diesen für den Instinkt 



wertvollen Objekten. („Klisis", v, Monakow); — im anderen Falle -wird das 
Objekt von Anbeginn mit einem negativen Gefühlston qualifiziert, die 
Situation vrird nnlustbetont („Ekklisis", v, Monakow). Mit anderen Worten, die 
positive oder negative Gefühlszensur, die wir allen Objekten unserer Erfahrungs- 
welt beilegen, stammt ursprünglich nicht von außen, sondern liegt in unseren 
primären, hereditären Trieb dispositionen begründet; sie hängt davon ab, ob die 
jeweüige äuIBere energetische Situation mit der jeweiligen hereditär- mnemischen 
Instinkterregung „ homophon zusammenklingt oder nicht, also vomErregungs- 
differential zwischen der hereditär-mnemischen und der aktuellen 
(Sinnes-) Erregung. 

Alle dergestalt bereits in statu nciscendi, d. h. schon bei der Engraphie 
(Reizaufnahme) mit bestimmten Gefühlswerten beladenen Erlebniskomplexe 
treten nun bei jeder Wiederkehr einer der früheren ähnlichen Situation ihrer- 
seits wieder in Homophonie, beziehungsweise Dysphonie mit der aktuellen 
energetischen Situation einerseits, der diesmal gerade vorherrschenden „Trieb- 
lage (also der aktuellen inneren energetischen Situation) anderseits, und 
erzeugen so sekundäre, psychische, d. h. bereits mit einer Erfahrungs- 
komponente ausgestattete Gefühle, die ich — im Gegensatz zu den Urgefühlen — 
als Affekte bezeichne. Affekte sind somit Gefühle, die schon an eine 
Objektrepräsentanz gebunden sind. Wird ein Aifekt nicht durch eine 
originäre Sinnes erregung, sondern als rein mnemische Erregung ausgelöst, so 
bezeichne ich ihn als Emotion. 

Auf diese Weise wird allmählich der gesamte Erfahrungsschatz in Form 
von immer höheren Gefühlsintegrationen affektiv gegliedert und nach den 
Interessen der angeborenen Trieb dispositionen gesichtet. Und zwar ergibt sich 
aus dem oben Gesagten, daß diese affektive Gliederung unseres Erlebens keines- 
wegs eine zufällige ist, sondern in einer durch das Erbgedächtnis weit- 
gehend vorherbestimmten Richtung erfolgt, indeni, -wie wir sahen, die 
Art, wie wir primär von den Dingen affi ziert werden, letzten Endes von den 
Trieb dispositionen, die wir als Erbgut mit auf die Welt bringen, also von 
unserer angeborenen Triebkonstitution abhängt. So bleibt beispielsweise 
der Frosch von einem Flintenschuß vollkommen unbewegt, da dieses Ereignis 
nicht in „seinen biologischen Bereich" fällt, in seiner Triebkonstitution nicht 
vorgesehen ist, während er auf das leise Quaken des Weibchens sofort sehr 
lebhaft reagiert, sofern er dasselbe während der Brunstzeit wahrnimmt. Dieses 
Geräusch bedeutet eben für seine Instinkte einen biologisch sehr wichtigen Reiz! 

Wir sehen also, daß die Instinkte fortgesetzt eine weitgehende elektive 
Wirkung auf die Welt der Erfahrung — und letzten Endes sogar auf 
die Erkenntnis — ausüben: diejenigen Erlebnisse, die in der Richtung unserer 
angeborenen Trieb dispositionen liegen, deren VerwirkUchung ermöglichen, werden 



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von der Reizsuche gegenüber den negativen oder indifferenten nach dem 
Lustprinzip (Freud) bevorzugt und, indem sich die Orientierung mehr oder 
vireniger einseitig ihnen zuvv^endet, immer wieder von neuem aufgesucht und 
■weiter ausgebaut. 

Nach dem Gesagten läßt sich nun leicht ermessen, daß und warum wesentliche 
Anomalien der angeborenen Triebkonstitution (die den Kern dessen 
bilden, was wir als „erbliche Dispositionen" zur Neurose bezeichnen), für das 
spätere Schicksal der damit Behafteten unter Umständen von -weittragender 
Bedeutung werden können. Solche Anomalien können beispielsweise darin 
bestehen, daß einzelne Komponenten der Trieb konstitution, einzehie Parti al- 
triebe, wie wir mit Freud sagen, primär in abnormer Stärke angelegt sind. 
Und zwar wird diese konstitutionelle Verstärkung, nach einem für die Ver- 
erbung derartiger Konstitutionsanomalien allgemein gültigen Gesetz, in erster Linie 
die onto- imd phylogenetisch alten, atavistischen, d. h. einer früheren Periode 
der Menschheitsentwicklung angehörigen Urtriebe betreffen — also vor allem 
die frühinfantilen Partialtriebe. Physiologisch wird sich die konstitutionelle 
Verstärkung eines solchen Partialtriebes als gesteigerte Erregbarkeit der 
betreffenden erogenen Zone äußern. Die nächste Fo^e einer solchen 
primär gesteigerten Erregbarkeit einer bestimmten erogenen Zone wird dann 
die sein, daß das Kind die von dieser Zone ausgehenden Lustreize bei der 
Reizsuche vor allen anderen bevorzugen, sie von vornherein mit einer beson- 
ders starken Gefühlsvalenz ausstatten vrird. Infolge dieser prij)|pren Über- 
wertung werden sich dann entsprechend intensive, abnorm fesf in urtüm- 
lichen Gefühlen des Kindes verankerte psychische Fixierungen an den betreffenden 
Partialtrieb ausbilden — Affektfixierungen, von denen dann das Kind 
später nur sehr schwer wieder loskommen kann, an denen es, auf Kosten des 
späteren kulturellen Neuerwerbes der Sekundärtriebe, mit zäher Energie fest- 
halten wird, weit über die Entwicklungsphase hinaus, in der die betreffenden 
Partialtriebe ihre „berechtigte" und natürliche (physiologische) Rolle zu spielen 
berufen sind. Infolge dieser Fixierungen wird es dann auch bei jeder späteren 
Versagung, sei sie äußerer oder innerer Natur (d. h. durch Objektverlust 
oder durch Gegenstrebungen der Sekundärtriebe bedingt) die Neigung haben, 
wieder zu den betreffenden Fixierungspunkten zurückzukehren (Regression). 

Damit es aber zu solchen dauernden Fixierungen der Libido an früh- 
infantile TMebregungen kommen kann, sind in der Regel noch entsprechende 
individuelle Erlebnisse notwendig, welche die schlummernde Disposition 
wecken, dieselbe gleichsam mit einem positiven Inhalt, d. h, mit entsprechenden 
Objektrepräsentanzen erfüllen, und so die Libido des Kindes immer mehr in 
die betreffende Richtung hineindrängen. Je intensiver aber die angeborene Ver- 
stärkung der Triebkonstitution ist, um so geringfü^ger und seltener brauchen 



die betreffenden Erlebnisse zu sein, um entsprechende Fixierungen zu erzeugen, 
und umgekehrt. Denn die traumatische Wirkung eines Erlebnisses ist ja, wie 
wir gesehen haben, nur ein Spezialfall der affektiven Eleklion, -welche die 
angeborene Triebkonstitution fortgesetzt auf die Welt der Erfahrungen ausübt. 
Mit anderen Worten: Die angeborene und die erworbene Disposition zur 
Neurose bilden, wie Freud treffend sagt, eine sogenannte „Ergänzungs- 
reihe": Denjenigen Individuen, welche die betreffenden „Traumen", die ja 
iedes Kind irgend einmal erlebt, schadlos ertrugen, fehlte eben das primäre 
Entgegenkommen der angeborenen Trieb konstitution. So erleben wir im Grunde 
nur das wirklich, was unsere Triebkonstitution erleben wUI, 

Im Verlaufe seiner Untersuchungen über das Wesen, die Entstehungs- 
hedingungen, den Ahlauf und die entfernten Folgen des neurotischen Trieh- 
konfliktes führte nun Freud (ii — 14) zwei weitere biologische Gesichts- 
punkte in die Betrachtung psychischer Vorgänge ein, die sich in der Folge 
als äußerst fruchtbar und für den weiteren Ausbau einer biologisch begründeten 
Trieblehre von der größten prinzipiellen Bedeutung erwiesen: den dyna- 
mischen und ökonomischen Gesichtspunkt. (Ein dritter Gesichtspunkt, 
der topische, fällt für die Biologie außer Betracht, weil er speziell die 
Frage der menschlichen introspektiven Psychologie betrifft, innerhalb 
welcher psychischen Systeme: Ubw, Fbw, Bw ein Vorgang sich abspielt.) 
Der dynamische Gesichtspunkt läuft im Grunde auf nichts geringeres 
als auf ein psychisches Energiegesetz hinaus: er besagt nämlich im 
wesentlichen, daß, wenn eine bestimmte Triebregung infolge ihrer Unver- 
einbarkeit mit den Anforderungen der Sekundärtriebe eine Verdrängung 
ihrer Repräsentanz erleidet, der ihr zukommende Energie- (Libido-) 
betrag in unvermindertem Umfang erhalten bleibt, daß, mit anderen 
Worten, die einer Triebregung zugehörige Erregungsgröße durch die 
äußeren Schicksale ihrer Repräsentanz nicht berührt wird, sondern unter 
allen Umständen konstant bleibt: Sie wird, da ihr der Weg zur ursprüng- 
lichen Repräsentanz gesperrt ist, sich entweder momentan in ein qualitativ 
anders beschaffenes Urgefühl — am häufigsten in Angst — umsetzen müssen 
und dann in dieser Form zur direkten Abfuhr gelangen (in diesem Falle 
ist die Angst objcktlos oder „frei flottierend"), oder sie wird sich, falls ihr 
Anspruch weniger dringlich ist, an ein anderes Objekt binden können, 
das nunmehr zu ihrer sekundären Repräsentanz wird (Verschiebungsersatz) : 



immer aber wird ihre absolute Erregungsgröße quantitativ voll erhalten 
bleiben. (Eine quantitative Änderung der Libido kann nur auf physio- 
logischem, hormonalem Weg erfolgen). — Demgegenüber verfolgt der öko- 
nomische Gesichtspunkt „die speziellen Schicksale der Erregungs- 
größen der verdrängten Triebregungen", oder, kurz gesagt: die „Trieb- 
schicksale" in der Verdrängung. 



II 

Falls nun die soeben in gedrängter Kürze skizzierten Anschauungen Freuds 
über Wesen, Dynamik und Ökonomie des neurotischen Triebkonfliktes 
richtig sind, d. h. wenn sie mehr als geistreiche „metapsychologische 
Spekulationen bedeuten, so müßten sie sich, theoretisch gesprochen, auch 
in allen sonstigen Fällen, wo immer wir in der Biologie einen Triebkonflikt 
beobachten, bestätigen — gleichgültig, ob es sich nun um menschliche Wesen 
oder um Tiere handle, selbst um solche Tiere, deren physische und psy- 
chische Organisation von der unsrigen in so hohem Maße abweicht, wie 
dies beispielsweise bei den Insekten der Fall ist. Denn diese Gesichtspunkte, 
wenn auch Freud sie zunächst nur auf die Verhältnisse bei der Neurose 
angewandt hat, betreffen so allgemeine und grundlegende Probleme des 
Trieblebens überhaupt, daß sie nicht wohl nur für die menschliche Trieb- 
psychologie Geltung haben könnten, sondern im Falle ihrer Richtigkeit 
Anspruch auf biologische Allgemeingültigkeit erheben dürften. 
Es %väre daher ungemein reizvoll, wenn wir in der Lage wären, diese 
Gesichtspunkte an einem biologischen Material im engeren Sinne, d. h. 
in der Tierpsychologie — und womöglich experimentell! — nachzu- 
prüfen. Einer solchen Möglichkeit scheint aber zunächst der Umstand im 
Wege zu stehen, daß Neurosen, an welchen ja die Gesetze des Triebkon- 
fliktes bisher fast ausschließlich studiert wurden, bei Tieren nicht vor- 
kommen, oder, wo etwas Ähnliches vorzuliegen scheint, die betreffenden 



R. Brun 



Manifestationen derart undurchsichtig sind, daß die bloße objektive Beob- 
achtung des Verhaltens hier zu nichts führen kann. Der Grund liegt 
offenbar darin, daß die Verdrängung, die ja die notwendige Voraussetzung 
der neurotischen Symptombildung ist, beim Tier nicht nachweisbar ist. Allein 
bei näherer Überlegung fällt diese Schwierigkeit einer biologischen Nach- 
prüfung der psychoanalytischen Trieblehre so ziemlich, wenn auch nicht 
restlos, dahin, indem wir uns nämlich sagen dürfen, daß ja die Neurose 
nur ein (pathologischer) Spezialfall der verschiedenen möglichen Ausgänge 
eines Triebkonfliktes ist; die trieb biologischen Gesichtspunkte Freuds sind 
aber so allgemeiner Natur, daß sie, wie eben betont wurde, nicht nur den 
neurotischen Triebkonflikt umfassen, sondern jeden möglichen Trieb- 
konflikt überhaupt. Wenn schon wir somit bei Tieren allerdings keine 
Neurosen sehen, so können wir doch auch bei ihnen gelegentlich schon 
spontane Triebfconflikte beobachten; ja, gerade bei verhältnismäßig niederen 
Tieren, wie Insekten, haben wir es sogar jederzeit in der Hand, Trieb- 
fconflikte direkt experimentell herbeizuführen und ihre Folgen 
auf Grund der beobachteten Änderungen des Verhaltens („BehaviorV aufs 
genaueste zu analysieren. Ich selbst habe mich seit Jahren insbesondere 
mit der experimentellen Erforschung der Psych obiologie de* Ameisen 
befaßt, deren Methodik ja in der Hauptsache geradezu darauf beruht, die 
normalen Instinkte der Tiere in Konfliktsituationen zu bringen, um so das 
Maximum an Plastizität (Anpassungsfähigkeit), deren sie allenfalls fähig 
sind, aus ihnen herauszuholen. Es braucht auch kaum gesagt zu werden, daß 
die Ameisen für unsere Zwecke besonders günstige Versuchs- beziehungs- 
weise Vergleichsobjekte sind, weil sie als soziale Tiere besonders mannig- 
faltige und hochentwickelte Instinkte besitzen, Instinkte, die zudem zahl- 
reiche Analogien mit den Verhältnissen des menschlichen Trieblebens 
erkennen lassen. Insbesondere ist es hier ein leichtes, auf experimentellem 
Wege Kollisionen zwischen den Selbst erhaltungs- und den Sozial trieben, 
sowie zwischen verschiedenen phylogenetischen Stufen der letzteren unter 
sich, zu erzeugen. Die Beweiskraft der Beobachtungen, die ich im folgen- 
den — neben anderen biologischen uns physiologischen Parallelen — in 
erster Linie heranziehen werde, wird jedenfalls dadurch nicht gemindert, 
da ich zur Zeit ihrer Ausführung (1907—1913) ihre Tragweite für die Auf- 



Biologisches zu Freuds Trieblehre 1 5 

klärung allgemeiner biologischer Gesetzmäßigkeiten des Trieblebens noch 
nicht erkannte, dieselben vielmehr lediglich zum Zwecke der Erforschung 
gewisser spezieller Verhältnisse der Ameisenhiologie vornahm, und daß mir 
damals die Psychoanalyse noch so gut wie unbekannt war. 



Doch lassen wir nun die Tatsachen sprechen tmd fragen wir uns zu- 
nächst : 

A) Welche Triebe bleiben im Kollisionsfalle im allgemeinen 
manifest, siegreich, und welche werden rezessiv, „verdrängt"? — 
Darüber geben folgende Beispiele Auskunft: 

1) Kollision zwischen Freßtrieh und sozialem Kampftrieb (also 
zwischen einer primitiven Stufe des Selbsterhaltungstriebes und einer primitiven 
Stufe der sozialen Triebreihe): Forel (9) versuchte einmal, eine spontan zwischen 
zwei Staaten der Waldameise (Formica rufa) entbrannte Schlacht dadurch zu 
unterbrechen, daß er den vom Nest auf den Kampfplatz eilenden Hilfstruppen 
der einen Partei große Tropfen Honig auf ihren Weg träufelte. Die Ameisen sind 
hekannthch ungemein auf Honig erpicht. In diesem Falle aber hielten sich die 
meisten Ameisen, die unterwegs auf die Süßigkeit stießen, überhaupt nicht, 
oder kaum einige Sekunden beim Honig auf, indem sie höchstens flüchtig daran 
nippten, um dann sogleich weiter zu eilen und sich in das Rampfgetümmel 
zu stürzen! — Der Nahrungstrieb der Tierchen wurde somit durch den für 
die Zukunft des Gemeinwesens momentan wichtigeren sozialen 
Trieb fast vollständig unterdrückt. 

2) Kollision zwischen Kampftrieb und Brutpflegetrieb, also zwischen 
einer primitiveren, phylogenetisch älteren und einer phylogenetisch jüngeren 
Äußerungsform der sozialen Instinkte : Ich (z — 5) und mein Bruder Edgar Brun ( i) 
konnten in zahlreichen Experimenten imm.er wieder übereinstimmend folgendes 
feststellen: Wenn man neben einem Nest von Formica rufa einen Sack voll 
Ameisen der gleichen Art, aber fremder Staatsangehörigkeit, ausleertj so ent- 
brennt sofort ein erbitterter Kampf, der in der Regel mit der völligen Ver- 
nichtung der einen Partei endet. Gibt man aber den Neuankömmlingen eine 
reichliche „Mitgift" an Brut (Larven oder Puppen) mit, so ist der Kampf 
von vornherein schwächer imd endet schließlich in der Mehrzahl der Fälle — 
oft schon nach fünfzehn bis dreißig Minuten — mit einer Allianz zwischen 
den beiden Parteien, da die meisten Ameisen, anstatt zu kämpfen, sich eifrig 



damit beschäftigen, die Brut in Sicherheit zu bringen. Ausnahmslos wird 
dieser günstige Ausgang dann beobachtet, wenn beide Parteien in Sacken an 
einen dritten Ort transportiert und daselbst nebeneinander ausgeleert werden, — 
ja, wenn die beiden Stämme zusammen in den gleichen Sack gesteckt wurden, 
so kann man (unter den ob^en Bedingungen, d. h. bei Anwesenheit zahlreicher 
Brut) sogar ohne weiteres Allianzen zwischen verschiedenen Arten erzeugen, 
die sich sonst in der Natur stets mit tödlichem Haß bekämpfen! 

Wir ersehen aus diesen Beispielen, die sich beliebig vermehren ließen, 
daß in solchen KoUisionsfällen zunächst nichts von einem Kompromiß, 
zwischen den beiden inkompatiblen Trieben zu bemerken ist, daß viel- 
mehr der eine der beiden miteinander in Konflikt geratenen 
Triehe den anderen restlos zu unterdrücken (zu hemmen) scheint, 
und zwar scheint in der Regel der phylo- und ontogenetisch ältere 
(Primordial-) Trieb gegenüber dem phylogenetisch jüngeren, 
die Zukunftsinteressen der Art, beziehungsweise der sozialen 
Gemeinschaft vertretenden Sekundärtrieb zu unterliegen. Wir 
können diese Regel geradezu als das „Gesetz des Primats der phylo- 
genetisch jüngeren Triebe" bezeichnen, da sie sich ganz allgemein, 
d. h. durchwegs in der Biologie, zu bestätigen scheint: "^ 

So berichtet Greppin (15), daß bei den sonst so scheuen Vögeln der 
Sicherungstrieb, also eine Funktion des primitiven Selbsterhaltungstriebes, 
während der Brunst und ganz besonders während der Bebrütungszeit regelmäßig 
eine beträchtUche Abschwächung erleidet. Genau das nämliche beobachten wir 
auch bei den Säugetieren, bis zum Menschen hinauf, wo ja ebenfalls häufig 
genug um die Befriedigung des mächtig drängenden Sexualtriebes oder um 
die Rettung der Jungen vor Gefahren, oder — beim Menschen — um ein soziales 
Ideal bis zur Selbstaufopferung gekämpft wird. 

,Die Ergebnisse der Biologie stehen somit in bestem Einklang mit 
der allgemeinen Erfahrung der Psychoanalyse, nach welcher auch 
heim neurotischen Triebkonflikt es regelmäßig die primordialen 
sexuellen Triebregungen sind, welche gegenüber den Anforderungen 
der kulturellen Sekundärtriebe zunächst unterliegen und der Verdrängung 
verfallen. 

Die Ursache dieses Verhaltens ist uns vorläufig noch gänzlich dunkel, — 
ja, dasselbe könnte biologisch auf den ersten Bhck geradezu paradox erscheinen, 



indem ja die phylogenetisch alten Urtriebe im ErbgedachtnLs viel fester ein- 
geschliffen sind und daher a prioH eher zu erwarten wäre, daß sie im 
KollisionsfaUe den Sieg über die labileren sekundären Trieb dispositionen davon- 
tragen würden. Der Hinweis auf die höhere biologische Zweckmäßigkeit der 
Sekundärtriebe im Interesse der Erhaltung von Rasse und Gemeinschaft muß 
jedenfalls als biologisches Erklärungsprinzip ausscheiden, da die Setzung von 
Zwecken niemals eine kausale Erklärung, sondern lediglich eine petitia principii 
ist. Wenn ich hier eine vage Vermutung äußern darf, so wäre es die, daß 
die phylo- und ontogenetisch jüngeren Triebe im Kollisionsfalle mit Primordial- 
trieben in der Regel deshalb obsiegen, weil sie infolge ihrer reichHcheren 
Verknüpfung mit rezenten, d. h. embiontisch erworbenen Engrammen eine 
gesteigerte Vividität bei der Ekphorie erlangt haben. 

Ein ähnliches Verhalten sehen wir übrigens schon bei der Kollision 
inkompatibler Reflexe: So wird bekanntlich der phylo- und ontogenetisch 
alte spinale Babinski-Reflex normalerweise, d. h. bei intaktem Großhirn, 
regelmäßig durch den kortikalen Plantarreflex gehemmt. 

Sh erring ton (19), der geniale englische Physiologe, hat die Vorgänge bei 
der Kollision unvereinbarer (inkompatibler) Reflexe in erschöpfender- Weise 
experimentell studiert. Die Ergebnisse seiner Untersuchungen sind meines Er- 
achtens auch für das Verständnis der entsprechenden Vorgänge im Triebleben 
von der größten Wichtigkeit, — finden Avir doch bei niederen Tieren noch 
alle Übergänge von den komplizierten Serienreflexen des Rückenmarks bis zu 
den Instinkthandlungen, die ja, soweit es sich dabei um bis ins einzehie im 
Erbgedächtnis fixierte Realisationsmechanismen handelt, zwanglos als eine Serie 
von meinander greifenden Kettenreflexen aufgefaßt werden können. Die Ver- 
suche Sherringtons beziehen sich auf die Verhältnisse beim sogenannten 
„Rückenmarkstier", d. h. bei einem Tier (Hund oder Katze), dem das 
obere Dorsalmark durchtrennt worden ist. Dann zeigen die kaudal von der 
Verletzungsstelle gelegenen Körper ah schnitte lediglich noch die Eigenreflexe 
des Rückenmarks, das, vom Großhimeinfluß befreit, nunmehr autonom geworden 
ist (spinale Autoraatie). Sh errington fand nun, daß von den zahlreichen, 
oft sehr komplizierten Reflexauto matismen, die ein derart autonomes Rücken- 
mark zeigt, die einen sich bei gleichzeitiger Auslösung (durch entsprechende 
Reizung der bezüglichen refiexogenen Zonen) gegenseitig nicht stören, sondern 
im Gegenteil sich summieren oder miteinander alliieren; andere dagegen sind 
miteinander unvereinbar und schließen sich gegenseitig aus. Und zwar ist das 
letztere immer dann der Fall, wenn die beiden Reflexe bei ihrer ReaHsation 
auf die gleiche motorische Eijdbahn angewiesen sind. Es kommt dann zwischen 



den beiden inkompatiblen Reflexen zu einem Wettstreit ( „competition" ) um 
die Benutzung der gemeinsamen Bahn, und zwar siegt in diesem Wettstreit 
in der Regel {d. h. bei mittlerer Reizstärke) der Reflex, der die Gesamt- 
interessen des Organismus vertritt, also eine höhere Integrations- 
stufe repräsentiert, und daher (bei intakter Verbindung zwischen Hirn und 
Rückenmark) stärker affektbetont erscheint, über denjenigen Reflex, der 
einer niedrigeren Integrationsstufe entspricht, indem er etwa ledigUch nur der 
lokalen Befriedigung einer reflexogenen Zone dient und demgemäß vom Stand- 
punkte des Gesamtorganismus betrachtet, einer geringeren Affektspannung ent- 
sprechen würde. Es sind daher vor allem die nociceptiven, d. h. der Flucht 
vor einem Schmerz, vor einer Schädigung des Gesamt Organismus dienenden 
Reflexe, die sich bei Kollision mit relativ „harmloseren" Reflexen als „präpotent" 
erweisen und die letzteren hemmen. Ein Beispiel: Beim „Rückenmarkshund" 
läßt sich durch Krauen oder Kitzeln einer sattelförmigen Zone des Rumpfes 
mühelos der sogenannte Kratzreflex von Goltz auslosen, d. h. es erfolgen 
die bekannten raschen rhythmischen klonischen Flexionszuckungen des gleich- 
seitigen Hinterbeines zur Beseitigung des Juckreizes. Lädiert man nun, während 
der Kratzreflex im vollen Gar^e ist, die betreffende Hinterpfote durch einen 
kräftigen Nadelstich, so erfolgt alsbald eine Hemmung des Rratzrefiexes und 
es tritt an seiner Stelle der Fluch tref lex des Beines in Erscheinung, d. h. 
eine maximale tonische Flexion des Hinterbeines. Dieser „nocicej^tive" Flexions- 
reflex erweist sich somit im Koilisionsfalle gegenüber dem weniger dringUchen 
Kratzreflex (der der libidinösen Befriedigung einer erogenen Zone vergleichbar 
wäre) in der Regel als präpotent. Ebenso wird der Kratzreflex sofort gehemmt, 
wenn am anderen Bein der Streckreflex ausgelöst wird (weil derselbe, infolge 
spinaler Induktion, im kratzenden Bein automatisch den antagonistischen, tonischen 
Flexionsreflex bedingt). 

Erreicht dagegen der an sich ^weniger dringliche Kratzreflex durch Applikation 
maximaler Reize eine besonders starke Erregungsintensität, so kann er um- 
gekehrt den vorgängjg zur Auslösung gebrachten kontralateralen Streckreflex 
und selbst den hochnociceptiven Flexionsreflex hemmen, d. h. die Erregung 
der betreffenden reflexogenen Zone erreicht in diesem Falle eine derartige 
Dringlichkeit, daß sie sich auch durch Reflexe höherer Integrations- 
stufe nicht mehr unterdrücken läßt, sondern siegreich durchdringt. 
Besonders deutlich wird dies beim sexuellen Umklammerungsreflex des 
durch Sexualhormone erotisierten Rückenmarks des männlichen Frosches (während 
der Brunstzeit), der eine so hohe „spinale Potenz" besitzt, daß er sich selbst 
durch sehr schädliche interkurrente Reize nicht hemmen läßt. Wir können hier 
bereits zwanglos von einem Rückenmarksinstinkt sprechen. 



Wir ersehen hieraus, daß die phylo- und ontogenetisch jüngeren Reflex- 
und Triebformen ihr Primat über die primordialen Triebe (respektive Re- 
flexe) mit Zuverlässigkeit nur solange aufrecht zu erhalten vermögen, als 
die letzteren nicht besonders dringlich zur Auslösung gelangen: ist 
nämlich letzteres der Fall, befindet sich der Organismus beispielsweise in 
unmittelbarer Lebensgefahr, so unterliegen auch beim Menschen die Sekundär- 
triebe nicht sehen, kommen jedenfalls unvergleichlich schwerer gegen den 
mächtig drängenden Anspruch des bedrohten Primordialtriebes auf. Ein 
typisches Beispiel dieses Verhaltens aus der menschlichen Psychologie ist 
die Massenpanik bei einem Theaterbrand oder einer anderen Katastrophe, 
wobei es ja ebenfalls zu einem vollständigen Abbau der Gesittung kommt. 
Ebenso bleibt, um wieder auf die Reflexologie zurückzukommen, der Sexual- 
instinkt des Froschrückenmarkes gegenüber den Schmerzinstinkten (die in 
diesem Falle die Gesamtinteressen des Rückenmarkes und nicht nur 
diejenigen eines einzelnen Segmentes desselben, vertreten) siegreich. Wir 
finden dieses Verhalten wiederum in völliger Übereinstimmung mit den 
Ergebnissen der psychoanalytischen Trieblehre, welche zeigt, daß ein sexueller 
Triebanspruch, wenn er besonders dringlich und seine Erregung daher 
übermächtig angewachsen ist, sich gleichfalls durch die kulturellen Sekundär- 
triebe nicht mehr ohne weiteres abweisen läßt, ja, unter diesen Umständen 
sich selbst gegen nociceptive Erregungen der Ich-Triebe siegreich erweist. 
Seine Befriedigung wird dann, in Mißachtung jeder Gefahr, unter allen 
Umständen erstrebt, oder, falls dies — beispielsweise infolge Krankheit oder 
körperlicher Schwäche — nicht möglich ist, tritt Konversion der Erregung 
in Angst ein. Daher die so häufige Auslösung der Angstneurose in der 
Rekonvaleszenz nach schwerer Krankheit (Freud, lo). Ebenso weigert sich 
die Libido bei besonderer Dringlichkeit, unter dem Einflüsse der Verdrängung 
sich einer anderen Repräsentanz, einem Verschiebungsersatz zuzuwenden, 
sondern setzt sich in solchen Fällen gleichfalls unmittelbar in freie (objekt- 
lose) Angst um. 

Zur Regel wird dagegen das „Primat der Primordialtriebe" 
wohl nur bei schwerem, pathologischem Abbau der „Hierarchie" 
des Trieblebens, wie z. B, bei der progressiven Paralyse oder bei der 
Katatonie, wo bekanntlich nicht selten direkte, d, h. un verhüllte und kom- 



i8 R. Brun 

plette Regressionen der gesamten Persönlichkeit bis in die Säuglingszeit 
stattfinden. 

B^Gehenwir nun zur Dynamik und Ökonomie des Triebkonfliktes 
über, \vie sie sich am biologischen und physiologischen Material (in der 
Reflexologie) äußert, und stellen wir zunächst die dynamische Frage; 
Wo bleibt die Energie (Erregungsmenge) des gehemmten, unter- 
drückten (verdrängten) Reflexes oder Triebes? Verschwindet sie, oder 
läßt sich der Nachweis erbringen, daß sie trotz der Hemmung ihrer Abfuhr 
persistiert? Auch auf diese Frage geben schon die eben erwähnten Experimente 
Sherringtons über das Verhalten inkompatibler Reflexe eindeutige Auskunft: 

Wir haben gesehen, daß beim Rückenmarkshund der Kratzreflex in der 
Regel durch den einige Sekunden später ausgelösten, biologisch hoch- 
wertigeren Fluchtreflex gehemmt wird. Diese Hemmung dauert an, bis 
der Fluchtreflex abgelaufen ist; dann aber erscheint der Kratzreflex 
spontan wieder in Gestalt einer Nachentladung („^/er-PwcAar^e"), 
in welcher die gehemmte Erregung, so weit sie noch nicht er- 
ledigt wurde, hinsichtlich Dauer und Amplitude quantitativ 
restlos Vifieder erscheint und zur Abfuhr gelangt.' JDie Erregung 
des gehemmten Reflexes erlischt somit nicht, sondern bleibt iiT' unvermin- 
derter Stärke erhalten, d. h. sie überdauert die Hemmung und wirkt 
sich einfach später aus. In Analogie zum Geschehen bei der Kollision 
inkompatibler Triebregungen würden wir dieses dynamische Gesetz etwa 
so umschreiben können, daß wir sagen, der vorübergehend gehemmte Trieb 
habe keineswegs auf seine Befriedigung verzichtet, sondern sie lediglich 
— unter dem Drucke der Not — auf eine gelegenere Zeit vertagt und 
hole sie nach, sobald die Umstände dies erlauben. Diese Lösung dürfte 
unter primitiven Lebensbedingungen, beispielsweise bei niederen Tieren, 
die normale Erledigung jeder spontan in Erscheinung tretenden Trieb- 
kollision sein. 

Diese Lösung ist gewissermaßen physiologisch vorgebildet durch den nor- 
malen zyklischen Rhythmus des Auftretens und des Ablaufes der verschiedenen 

i) Neuerdingfs hat Minkowski (20) dieses Experiment bei einer Katee mit dem 
gleichen Ergebnisse wiederholt. 



Biologisches zu Freuds Trieblehre 



19 



Instinkterregungen: Bei Organismen mit primitiverem „biologischen Bereich" 
werden ja die verschiedenen Instinktformen in einer durch die „Gesamthorme" 
der Art (v. Monakow, 17), durch das erblich fixierte latente „Lebensprogramm " 
genau vorgezeichneten Reihenfolge, also sukzessiv ekphoriert, so daß sie sich 
unter normalen Bedingungen bei der Realisation gegenseitig nicht stören. Der 
ganze Lebenslauf solcher Geschöpfe erscheint mehr oder weniger als eine fort- 
laufende Kette aneinandergekopp elter kompliaierter Serienreflexe (Instinkthand- 
lungen), also streng erblich determiniert. Dabei treten manche Instinkte nur 
einmal im Leben des Individuums auf, um nach ihrer Abwicklung wieder für 
immer in die Latenz der Erbmneme unterzutauchen; andere wieder, wie der 
Nahrungstrieb, wiederholen sich periodisch-zyklisch, eventueU mit anderen 
periodisch auftretenden Instinkterregungen in mehr oder weniger regelmäßiger 
Folge alternierend. Noch andere endhch, wie der Selbsterhaltungstrieb in seiner 
primitivsten Form, hegleiten das Individuum als mehr oder minder stabile 
latente Dauererregung sein ganzes Leben lang oder erscheinen wenigstens immer 
in Bereitschaft, gleichsam auf Pikett gestellt. 

Erst auf höherer Organis ations stufe und namentlich mit zunehmender Er- 
weiterung des biologischen Bereiches, wie sie insbesondere durch das Ein- 
greifen des Individualge dach tnisses (der embiontischen, erworbenen Mneme) 
ermöglicht wird, kann es sich dann immer häufiger ereignen, daß gelegentlich 
zwei miteinander unvereinbare Triebregungen gleichzeitig zur Auslösung ge- 
langen (infolge simultaner Ekphorie ihrer durch die Individualmneme gewonnenen 
sekundären Objektrepräsentanzen) und somit in eine Interessenkollision geraten. 
Ebenso wird dieser Fall eintreten, wenn zur Zeit, wo eine Instinkt- oder 
Trieberregung B einsetzt, die hereditär-mnemische (hormonale) oder individuell- 
mnemische (dem Erinnerungsbild des durch die Reizsuche gewonnenen Trieb- 
objektes entsprechende) Erregung des Triebreizes A noch nicht abgeklungen 
ist. Dann wird derjenige Trieb, welcher nach der Ausdrucksweise Sherring- 
tons „minderpotent ist, genötigt sein, auf kürzere oder längere Frist im 
Hemmungszustande zu verharren. 

CJ Stellen wir nun, nach dem Vorgehen Freuds, auch vom Stand- 
punkte des Biologen und Physiologen die zweite, ökonomische Frage, 
die Frage nämlich nach den Schicksalen solcher dauernd gehemmter 
(rezessiver) Triebregungen. Auch hier wollen wir zunächst von den 
einfachsten Verhältnissen, nämlich \viederum vom Falle der Kollision in- 
kompatibler Reflexe, ausgehen. Durchgeht man nun die zahlreichen, sorg- 
fältigen Versuchsprotokolle Sherringtons mit Rücksicht auf diese Frage, 
so kann man ohne weiteres feststellen, daß auch das Gesetz der Öko- 



nomie, wie es Freud von den äußerst verwickelten Verhältnissen beim 
neurotischen Triebkonflikt abgeleitet hat, schon durch die experimentelle 
Physiologie in vollem Umfange bestätigt wird. 

Bei dem eingangs geschilderten Experiment hatte Sherrington den Kitzel- 
reiz des Kratzreflexes bald nach dem Einsetzen des interferierenden nocicep- 
tiven Reizes, welcher den hemmenden Flexions- oder kontralateralen Extensions- 
reflex auslöste, ausfallen lassen. Die Folge war, wie wir sahen, die nach- 
tvä,glich.e¥.iiÜadnng(Afier-Discharge) desjenigen Erregungsquanturas des Kratz- 
reflexes, das im Momente der Hemmung noch nicht zur Abfuhr gelangt war. 
Bei den meisten üLrigen Experimenten ließ Sherrington jedoch den adäquaten 
Reiz des Kratzreflexes auch während und nach der Zeit seiner Hemmung 
durch den nociceptiven Reflex fortwirken. Bei dieser Versuchsanordnung, die 
also durchaus den dynamischen Verhältnissen beim neurotischen Triebkonflikt 
entspricht, wäre somit zu erwarten, daß es zu einer Stauung der fortgesetzt 
weiter erzeugten Erregung des gehemmten Reflexes komme, einer Stauung, 
die sich entweder schon während der Hemmung oder nach ihrem Aufhören 
irgendwie manifestieren müßte. Das ist auch tatsächlich der Fall! Ich 
zitiere aus den betreffenden Versuchsprotokollen Sherringtons vi^örtlich; 

Versuch 5g A, S. 191. „Kratzreflex durch einen kurzdauernden Flexions- 
reflex unterbrochen. Der KratzreHex kehrt nach der Unterbrechung mit ver- 
mehrter Intensität w^ieder. ^ 

Versuch 52, S. 189, „Die Verdrängung des Streckreflexes durch, den Kratz- 
reflex. Der Kratzreflex, nach einer beträchtlichen Latenzzeit, verdrängt (displaces) 
den Streckreflex. Der gekreuzte Streckreflex erscheint nachher nur 
in modifizierter und unvollkommener Form wieder (von mit gesperrt), 
obwohl sein Stimulus unverändert während annähernd sieben Sekunden nach 
dem Aufhören des Reizes für den Kratzreflex fortgesetzt wurde," 

Hier haben wir somit den bemerkenswerten Faü, daß die verdrängende 
Instanz die vorübergehend verdrängte auch qualitativ verändert 
hat — eine merkwürdige physiologische Parallele für das, was wir bei der Ver- 
drängung menschlicher Triebregungen beobachten: Wiederkehr des Ver- 
drängten nur in modifizierter, z. B. symbolischer Form. 

Versuch 59, S. 310. „Taktschlagreflex, gehemmt durch Reizung des Schwanzes. 
Die Hemmung ist, nach Aufhören des hemmenden Reizes, von einer ver- 
mehrten Amplitude und deutlicher Beschleunigung der pendelnden 
Beinbewegung gefolgt." 

Versuch 60, S. 211. (Kontrollversuch); „Unterbrechung des Taktschlag- 
reflexes lediglich durch Aufhebung des auslösenden Reizes (also nicht, wie 
im Versuch 59, durch einen zweiten interferierenden, inkompatiblen Reflex): 



Biologisches zu Freuds Triehlehre 2 1 

Sobald das Bein wieder hängen gelassen wird, beginnt der Reflex aufs neue, 
aber ohne stärkere Amplitude wie im vorhergehenden Versuch." (Weil eben 
diesmal keine Energiestauung stattgefunden hatte.) 

Sherrington beschreibt ferner auch „kompensatorische Reflexe" ; die- 
selben treten dann ein, „wenn der Reflex eine Rückkehr zu einem Zustande 
von Reflexgleichgewicht ist, welches durch einen interkurrenten ReSex gestört 
worden war ; der Kompensationsreflex stellt den Antagonisten dieses interkurrenten 
Reflexes dar". 

Beispiel : Wenn bei bestehender Mittelhirn- (Streck-) Starre der Extremitäten 
an einem Beiii durch intensive Reizung der Flexionsreflex ausgelöst wurde, so 
erfolgt nachher eine „aktive Rückkehr zu der früheren Stellung, indem nun 
die Streckstellung des betreffenden Beines ausgesprochener ist, als sie es vor 
dem interkurrenten Flexionsreflex "war. Der störende Reiz rief somit 
nicht nur den Flexionsreflex hervor, sondern außerdem auch noch 
einen sekundären, antagonistischen Reflex" (von mir gesperrt). 

Ich meine, vrir dürfen Ln dieser Kompensation bereits die einfachste physio- 
logische Grundlage dessen erblicken, was tms auf höchster Stufe, bei der 
Neurose, als sogenannte Reaktionsbildung entgegentritt: Ebenso, wie der 
störende Flexionsreflex einen antagonistischen Kompensationsreflex zur Folge 
hat, so sehen wir auch bei der Neurose, insbesondere bei der Zwangsneurose, 
das Auftauchen einer störenden, peinlichen sexuellen Regung alsbald von einer 
reaktiven Überbetonung der entgegengesetzten moralischen Regung auf dem 
Fuße gefolgt. 

Gehen wir nun zur Untersuchung der ökonomischen Verhältnisse bei 
der Hemmung oder Unterdrückung von Triebregungen bei Tieren, 
besonders bei Insekten, über. Das einfachste Mittel, um bei einem Tier 
eine bereits zur Ekphorie gelangte und in der Realisation begriffene Instinkt- 
handlung künstlich (experimentell) zu hemmen, besteht darin, daß man 
ihm denjenigen sinnlichen Reizkomplex (die Objektrepräsentanz des Triebes), 
an welchem sich die entsprechende Instinkthandlung betätigte, oder kurz 
gesagt, das betreffende Instinktobjekt plötzlich entzieht. Es entsteht 
dann eine Situation, welche derjenigen der Versag ung (genauer: der 
äußeren Versagung) vollkommen homolog ist. Nehmen wir beispiels- 
weise einer in der Koloniegründung begriffenen jungen Ameisenkönigin 
ihre soeben gelegten Eier weg, so beobachten wir regelmäßig, daß das 
Tier in eine hochgradige ängstliche Unruhe gerät; Es läuft rastlos 



22 R, Brun 

im Brutkessel umher und sucht ganz offensichtlich das %'erloren gegangene 
Triebobjekt, Ich habe dieses Phänomen (im Gegensatz zu der primären Reiz- 
suche, die nach der primären, zunächst noch objektlosen Ekphorie eines 
Instinktes durch Hormonreize entsteht), als „sekundäre Reizsuche" 
bezeichnet. 

Typische Beispiele einer solchen sekundären Reizsuehe sind auch die jedem 
Imker bekannte „Weiselunruhe" der Bienen, die regelmäßig dann auftritt, 
wenn der Stock der Königin verlustig gegangen ist, und die hochgradige 
Unruhe, in welche eine Arbeiterameise gerät, ■wenn wir sie längere Zeit in 
einem Behälter völlig von ihren Kameraden isolieren. 

Diese tjrpische, in allen ähnlichen Fällen auftretende ängstliche Unruhe 
nach Objektverlust während der Realisationsphase des Triebes stellt meines 
Erachtens ein vollkommenes Analogon des nervösen Angstanfalles 
dar, nur daß die neurotische Angst hauptsächlich durch innere Versagung 
ausgelöst wird. 

Eine ganz ähnliche Angstentladung findet ja übrigens auch in Gestalt der 
sogenannten Realangst statt, wenn die Befriedigung der Selbsterhaltungs- 
triebe — bei plötzlicher Lebensgefahr — in Frage gestellt is^ Der ganze, 
ungeheure latente Libidobetrag, welcher an das Ich gebunden ist, findet dann 
plötzlich keine Abfuhr mehr und entlädt sich ebenfalls in der inadäquaten 
Form eines akuten Angstanfalles. Und das nämliche sehen wir auch auf dem 
Gebiete der Sozialtriebe: So äußert sich ja auch die plötzliche Hemmung 
dringhcher sozialer und ethischer Trieb ansprüche (bei temporärem Durchbruch 
primitiver Instinkte) regelmäßig in Form einer eigentümlichen ängstlichen Er- 
regung, die wir als Gewissensangst bezeichnen und die sich bezüglich ihrer 
seehschen (subjektiven) und körperlichen (objektiven) Symptome in nichts von 
der Real- und der Sexualangst unterscheidet. Es scheint somit, daß Angst als 
allgemeines Symptom jedesmal dann eintritt, wenn eine bereits in Realisation 
begriffene (also nicht mehr aufschiebbare) Trieberregung plötzlich in ihrem 
Ablauf abgebremst wird, indem sich dann die betreffende Triebenergie jedes- 
mal in Angst umsetzt. 

Die Ursache dieser allgemeinen Unruhe nach Ohjektverlust liegt auf 
der Hand: Der Objektentzug traf eben nur die äußeren Erregungsquellen 
des ekphorierten Instinktkomplexes; seine inneren Erregungsquellen 
aber, die Hormonreize und die mnemischen Erregungen (die here- 



Biologisches zu Freuds Trieb lehre 23 

ditären sowohl als auch die individuellen Engramme, die während der im 
Gange gewesenen Realisation des Triebes bereits gewonnen wurden) wirken 
ja in unverminderter Stärke forti So erklärt sich der allen Geschöpfen 
innewohnende unwiderstehliche, hlinde Drang, eine einmal begonnene 
Instinkt-, beziehungsweise Triebhandlung unter allen Umständen bis zur 
Endlust der Befriedigung zu führen. Einmal zur Ekphorie gelangt, erheischt 
jeder Instinkt unbedingt Befriedigung. 

Fehlt das adäquate Objekt eines zur Ekphorie gelangten Instinktes nun 
dauernd, so kann daher auch dann auf die Befriedigung desselben nicht 
ohneweiters verzichtet werden: Der Instinkt sucht sich trotz allen Hinder- 
nissen unter allen Umständen durchzusetzen; doch gestaltet sich sein 
weiterer Ablauf nun mehr oder weniger abnorm, d.h. der Trieb 
wird in abnorme Bahnen abgelenkt. Von solchen Anomalien des 
Instinktablaufes nach dauerndem Entzug des normalen (adäquaten) Objektes 
können bei Insekten im wesentlichen folgende typische Formen beob 
achtet werden: 

1) Im einfachsten Falle wird der auf Hindernisse gestoßene Ablauf einfach 
wieder von vorn angefangen, repetiert — ein Vorgang, den wir als 
„retrograden Instinktanachronismus" oder als Regression, d. h. 
als ein Zurückgreifen, einen Rückfall des Instinktes in eine bereits 
früher einmal durchlaufene Phase, beschreiben können. Und zwar scheint 
dieser Fall namentlich dann einzutreten, wenn das entzogene Instinktobjekt 
nicht primär in der Umwelt des Tieres gegeben war, sondern erst im 
Verlaufe der Realisation seiner verschiedenen sukzessiven Phasen, also 
durch die Betätigung des Instinktes selbst erzeugt worden war und daher 
durch die Wiederholung der gesamten Kette von Handlungen, die zu 
seiner Erwerbung führten, auch wiedergewonnen werden kann. 

Beispiele: Eine Raupe, die aus ihrem Kokon herausgenommen wird, ist 
ohneweiters imstande, sieh wieder ein neues Kokon zu spinnen, indem sie die 
ganze Kette der dazu erforderlichen komplizierten Reflexbewegungen in der 
nämlichen Reihenfolge repetiert. Ebenso ist eine Ameisenkönigin (Stammutter 
einer Kolonie), der man sämtliche Arbeiterinnen und die gesamte Brut weg- 
genommen hat, nach J a n e t (7) unter Umständen imstande, den Staat aus 
eigener Kraft zu regenerieren, indem sie die bei der Koloniegründung einst 



aktiv ausgeübten Mutterinstinkte sukzessive in der damaligen Reihenfolge -wieder 
ekphoriert. Sie wird also an ihren frisch gelegten Eiern die Brutpflege, die 
sie seit mehreren Jahren ihren Arbeiterinnen überlassen hatte, nun wieder 
selbst ausüben und sich so neue Arbeiterinnen heranziehen. 

Die Versagung hat also in diesen Fällen einen Rückfall ; eine Regression 
der Libido auf eine ontogenetisch frühere, bereits aufgegebene Phase 
der Instinktbetätigung bewirkt. 

Ein weiterer Spezialfall der Instinktregression nach Objektentzug, der 
indessen im allgemeinen wohl nur bei verhältnismäßig niederen Tieren 
beobachtet wird, ist der Rückschlag in eine phylogenetisch ältere, obsolet 
gewordene Bahn; wir sprechen dann von einem Instinktatavismus, 

So beginnen im Bienenstocke nach dem Abiehen der Königin zahlreiche 
Bienen nach Ablauf der Weiselunruhe Drohnenzellen zu bauen und mit 
parthenogenetischen Eiern zu belegen: Sie werden, wie der Imker sagt, 
„drohnenblütig". Die Arbeitsbienen benehmen sich also in diesem Fähe wie 
ihre vorsozialen Ahnen, bei denen noch keine Differenzierung in Königin- und 
Arbeiterkaste stattgefunden hat, wo vielmehr noch jede weibhche Biene ein 
vollwertiges, geschlechtstüchtiges Weibchen war. — Andere Bienen des weisellos 
gewordenen Staates regredieren in ihren Instinkten auf eine nocKprimidvere 
vorsoziale Stufe, indem sie sich, wie ihre Urahnen, leidenschaftHch dner zügel- 
losen Räuberei ergeben, d.h. anstatt Honig einzutragen und die noch vorhandene 
Brut au pflegen, die Honigvorräte des eigenen oder fremder Stöcke plündern. 
Es findet hier somit eine komplette Regression des Instinktlebens auf eine 
asoziale Stufe statt, wobei die nunmehr betätigten Triebregungen überhaupt 
nicht mehr dem nämlichen Instinktkreis angehören. — Ähnliche Instinkt- 
atavismen nach Objektverlust sind uns auch vom Ameisenstaat bekannt. 

Das Gemeinsame an diesen Fällen liegt darin, daß an Stelle des verun- 
möglichten Fortganges der aktuellen, normalen Instinktbetätigung ein 
Komplex ganz andersartiger Instinkthandlungen ekphoriert wird, der sich 
bei näherer Untersuchung als einem früheren Zeitalter der Stammesgeschichte 
des Tieres angehörig erweist. Mit anderen Worten: Die durch den Verlust 
des adäquaten Instinktobjektes in Frage gestellte normale Instinktbetätigung 
wird in diesen Fällen tatsächlich aufgegeben ; doch geht der ihr zukommende 
Energiebetrag, die bezügliche mnemische Erregtmg auch hier keineswegs 
verloren, sondern wird auf einen anderen (dem nämlichen oder einem 



Biologisches zu Freuds Trieblehre 



anderen Instinktkreis angehörenden) Komplex von Instinkthandlungen übei-- 
tragen. In beiden Fällen — sowohl im einfacheren Falle der Regression 
auf eine ontogenetisch frühere Phase des Trieblebens als beim Instinkt- 
atävismus — haben wir es mit einer Ersatzleistung zu tun. Wir können 
somit ganz allgemein sagen: Eine in ihrem Ablauf durch Objekt- 
entzug (äußere Versagung) gehemmte Instinkterregung kann sich 
in Form einer Ersatzleistung durchsetzen (manifestieren), indem 
sie auf eine onto- oder phylogenetisch alte Bahn regrediert. 

z) Ein seltenes Gegenstück zur Instinktregression ist der „anterograde 
oder antizipierende Instinktanachronismus", wie ich die betreffenden 
Phänomene genannt habe. Von einem solchen dürfen wir in den selten beob- 
achteten Fällen sprechen, wo nach Entzug des adäquaten Instinktobjektes die 
nicht realisierbare Phase des Instinktes einfach übersprungen und ohne 
Rücksicht auf das Endergebnis einfach die nächstfolgende Phase von Instinkt- 
handlungen ekphoriert wird. Die Folge eines solchen Überspringens wird 
dann allerdings meist eine mehr oder minder hochgradige Verstümmelung des 
Instinktwerkes sein. Ein dahin gehörendes Beispiel beobachtete Fahre (8) 
bei der Mörtelbiene (Ckalicodoma). Diese nicht soziale Biene baut zierliche 
Einzelzellen, die sie nach erfolgter Füllung mit Nahrungshrei mit einem Ei 
versieht, und sodann sorgfältig mit einem unmittelbar vor der Eiablage her- 
gestellten Deckel verschließt. Fahre spielte nun einer solchen Mörtelbiene einmal 
einen bösen Streich, indem er den unteren Teil einer soeben fertiggestellten 
und nur noch der Eiablage und der Bedeckelung harrenden Zelle zerstörte, 
so daß durch die breite Bresche aller Honigbrei auslief Die mit dem fertigen 
Deckel ankommende Chalicodoma bemerkt den Schaden sofort und gerät in 
große Aufregung. Fahre erwartete nichts anderes, als daß die Biene den 
Schaden reparieren würde. Es geschah aber nichts dergleichen, vielmehr be- 
ruhigt sich das Tier endhch, klettert auf den oberen Rand der demolierten 
Zelle, senkt den Hinterleib in dieselbe ein, legt ihr Ei, das in die untergehaltene 
Hand Fahr es fällt, und krönt sodann ihr, nun natürlich gänzlich nutzlos 
gewordenes Werk mit dem Deckel! — Aus der Psychopathologie des mensch- 
lichen Trieblebens ist ein ähnliches Beispiel nicht bekannt; solche anterograden 
Instinktanachronismen sind natürlich nur bei niederen Tieren mit gänzHch 
erstarrten Instinktautomatismen und Fehlen jeder Plastizität möglich. 

3) Viel häufiger ist demgegenüber auch bei Insekten der Mechanismus, 
daß an die Stelle des fehlenden homophonen oder adäquaten Reizkom- 
plexes (Instinktobjektes) ein mehr oder minder ähnliches Ersatzobjekt 



als Surrogat tritt. Wir sprechen dann von einer Ersatzbefriedigung. 
Im Gegensatz zu dem sub i) erörterten Mechanismus der Ersatzleistung 
bleibt hier die Art tmd Weise der Triebbetätigung dieselbe; es findet 
lediglich eine Übertragung der Triefaenergie auf ein anderes Objekt, 
ein Verschiebungsersatz, statt, 

Beispiele; So adoptieren beispielsweise Ameisen nach dem Tode ihrer 
Stammutter nicht selten eine artfremde Königin als Ersatz. Es wurden ferner 
von mir und anderen wiederholt Fälle beschrieben, wo eine sklavenhaltende 
Araebenart in Ermanglung ihrer normalen Sklaven Raubzüge gegen Nester 
einer ganz anderen Art unternahm. Ein sehr hübscher, von mir (5) beob- 
achteter Fall eines solchen Verschiebungsersatzes ist ferner folgender ; Ich hielt 
eine Königin der Ameisenart Camponotus ügniperdus, die im Begriffe war, 
eine neue Kolonie zu gründen, in einem künstlichen Brutkessel. Nach einigen 
Tagen nahm ich ihr ihre frisch gelegten Eier weg und beobachtete darauf 
jene hochgradige ängsüiche Unruhe, die ich oben als „Reizsuche " beschrieben 
habe. Nach einigen Tagen gab ich dem Tier Puppen von Lasius fuliginosits, 
also einer ganz anderen, viel kleineren Art. Das Tier beruhigte sich sofort 
und pflegte nun diese heterogenen Wesen mehrere Tage lang, als ob es ihre 
eigenen Kinder wären, bis dieselben schließhch zugrunde gingen, — Neuer- 
dings hat Wheeler (21) gezeigt, daß sich auch die phylogeijy^tische Ent- 
wicklung gewisser kompHzierter Instinkte bei manchen Insektengattungen 
zwanglos in eine Reihe von Phasen zerlegen läßt, die durch je eine Art der 
betreffenden Gattung vertreten sind, und die jeweilen dadurch charakterisiert 
sind, daß das ursprüngliche Instinktobjekt, von welchem die Entwicklung ihren 
Ausgang nahm, immer wieder durch ein neues Surrogat ersetzt 
wurde. Die Endphase der Entwicklung des betreffenden Gattungsinstinktes 
ist dann schließlich durch ein Objekt vertreten, das sich zum ursprünglichen 
Instinktobjekt der Gattungsahnen ungefähr so verhält, wie die Urrepräsentanz 
einer menschlichen Sexualstrebung zu deren Symbol, an welchem der 
Keurotiker die betreffende Triebregung „befriedigt". Wir können hier somit 
geradezu von einem phylogenetischen Verschiebungsersatz sprechen. 

Diese Fälle unterscheiden sich. Ökonomisch gesprochen, in nichts von 
den bekannten Beispielen von Ersatzbefriodigung im menschlichen Trieb- 
leben, wo z, B. die alte Jungfer an Stelle der ihr versagt gebliebenen Kinder 
Katzen oder Schoßhündchen mit mütterlicher Liebe betreut. Besonders 
interessant ist dieser Mechanismus des Verschiebungsersatzes vom biologi- 
schen Standpunkte deshalb, weil er wie nichts anderes das gänzlich dys- 



Biologisches zu Freuds Trieblehre 27 

teleologische Walten der Natur beweist, denn es braucht kaum gesagt 
zu werden, daB die Objekt Verschiebung im Grunde gänzlich z^vecklos ist, 
da sie ja nur eine Scheinbefriedigung des Instinktes ermöglicht, der 
sein normales biologisches Ziel nicht erreicht, 

4) Ein weiterer Spezialfall aus der Ökonomie des menschlichen Trieb- 
lebens, nämlich die direkte Abfuhr der gebremsten Libido in Form von 
Angst, läßt sich natürlich am biologischen Material nicht nachweisen, 
da wir ja die Tiere nicht fragen können, was in ihnen vorgeht. Doch 
habe ich oben bereits hervorgehoben, daß die eigentümliche ängstliche Un- 
ruhe der „sekundären Reiz suche , wie sie auch bei Insekten regel- 
mäßig unmittelbar nach erfolgtem Objektverlust, also in der akuten 
Situation der äußeren Versagung auftritt, dynamisch gesprochen eine un- 
verkennbare Ähnlichkeit mit dem nervösen Angstanfall aufweist. 

5) Bekanntlich kommt aber beim Menschen noch eine andere wesentlich 
zweckmäßigere Form von Übertragung der freien Energie dauernd gehemmter 
Triebregungen vor: Ist nämlich die Befriedigung des verdrängten Trieb- 
anspruches weniger dringlich, so kann die mnemische Erregung desselben 
sich nicht allein von ihrer ursprünglichen Objektbesetzung, sondern auch 
von ihrem spezifischen Ziele loslösen, ihren frei gewordenen Energiebetrag 
teilweise oder ganz an den unterdrückenden Trieb abgeben und so zur 
Verstärkung des letzteren beitragen. Es findet dann mit der Affektvers chie 
bung zugleich auch ein Wechsel des Vorzeichens, also eine Affektkon- 
version statt. 

Bekannte Beispiele dieses Vorganges sind die Triebumsetzungen der ver- 
drängten Analerotik. Auch aus der Insektenbiologie ist ein ähnlicher Mecha- 
nismus bekannt: So kämpften jene Ameisen Foreis, deren Nahrungstiieb 
durch den sozialen Kampftrieb eine völlige Hemmung erfahren hatte, mit 
verdoppelter Wut: Der Energiebetrag des gehemmten Nahrungstriebes hatte 
sich auf den Kampftrieb verschoben und zur Verstärkung desselben beige- 
tragen. Eine Paraüele dieses Vorganges haben wir ja sogar in der Refiexologie 
in Gestalt des Kompensationsreflexes von Sherrington (19) kennen gelernt; 
dieser Fall wäre etwa mit der unter dem Einfluß der verdrängenden Gegen- 
triebe erfolgten Konversion ins Gegenteil zu vergleichen, -welche die 
Libido der prägenitalen Partialtriebe regelmäßig erleidet. (Konversion der 
Libido in Scham, Ekel, Empörung u, dgl.) 



Auf höchster kultureller Stufe findet zudem oft noch eine Kompromiß- 
bildung mit der verdrängenden Instanz statt, die es dem verdrängten 
Triebe ermöglicht, im Rahmen des verdrängten Gegentriebes seine auf 
diesen übergegangene Energie (Libido) in einer der ursprünglichen Befrie- 
digungsart irgendvi^ie symbolisch verwandten Form zu betätigen. 
Wir sprechen in diesem günstigsten und biologisch wertvollsten Falle von 
Sublimierun'g im engeren Sinne. Als biologische Parallele dieses Vor- 
ganges wäre etwa die Entstehung der Arbeiterkaste bei den sozialen Insekten 
zu erwähnen, die wir als das großartigste bis jetzt bekannte Beispiel einer 
phylogenetischen Triebsublimierung auffassen können, insofern als 
ja die Arbeiterkaste dauernd und vollständig auf jede direkte Sexual befrie- 
digung verzichtet und die dadurch frei gewordenen ungeheuren Libido- 
beträge restlos in den Dienst sozialer Sekundärtriebe gestellt hat. 



Fassen wir zum Schlüsse die Ergebnisse der vorstehenden Untersuchung 
mit wenigen Worten zusammen, so können wir sagen, daß die von Freud 
aus der Neurosenpsychologie gewonnenen metapsychoLßgischen 
Gesichtspunkte von der Biologie auf der ganzen Linie bestätigt 
werden. Insbesondere kommt den von Freud in die Triebpsychologie ein- 
geführten dynamischen und ökonomischen Prinzipien die Dignität 
allgemeinster biologischer Gesetze zu, die dem Triebkonflikt, wo immer 
und in welcher Form immer er beobachtet wird, eignen. Aber noch mehr: 
Die Analyse experimentell erzeugter Triebkonflikte beziehungsweise Trieb- 
hemmungen bei Tieren (— selbst bei Organismen, welche unserer physischen 
und psychischen Organisation so fern stehen wie die Insekten — ), ja selbst 
die Untersuchung der Vorgänge bei der Kollision inkompatibler Reflexe, 
ergibt die überraschende Tatsache, daß auch die spezifischen, ökonomi- 
schen Triebschicksale, welche gehemmte respektive verdrängte 
Triebe nach Freud erfahren, sich am biologischen Materiale 
(mit alleiniger Ausnahme der Konversion) ebenfalls restlos nachweisen 
lassen; Konnten \vir doch unter diesen Umständen selbst bei Insekten ohne- 
weiters alle spezifischen Mechanismen der direkten Abfuhr gestauter Libido 



(in Gestalt der ängstlichen Unruhe der Reizsuche), die Regression (als 
ontoge netische und phylogenetische Regression sive Atavismus), den Ver- 
schiehungsersatz (Ersatzbefriedigung), die Reattionshildung, ja selbst die 
Sublimiemijg wiederfinden. 

Die metapsychologische Trieblehre von Freud verdient soniit 
in vollem Umfange die Bezeichnung einer biologischen Psycho- 
logie par excellence, indem ihre Gesichtspunkte sich nicht nur 
für die menschliche Triebpsychologie, sondern für den feineren 
Ausbau der Biologie des Trieblebens überhaupt als äußerst frucht- 
bar, ja grundlegend erweisen. Es ist denn auch kein Zufall, sondern ein 
Zeichen der Zeit, daß neuerdings ein Biologe von Range W. M. Wheelers (ai), 
einer der führenden Insektenforscher der Gegenwart, von sich aus zu dem 
nämlichen Ergebnis gekommen ist und der Psychoanalyse kürzlich dieses 
hohe Lob gesprochen hat. 



Benützte Literatur 

i) Brun, E.: Beobachtungen im Kemptaler Am eis engebiete. Biolog. Zentralbl. 

1913- 55- 
z) Brun, R.; Zur Biologie und Psychologie von Pormica rufa. Biolog. Zentralbl. 

ig 10. 30. 
g) — Zur Koloniegründung der Ameisen. Biolog. ZentralM. 1912. 5^ 
4,) — Zur Psychologie der künstlichen Allianikolonien bei den Ameisen. Ebenda. 

5) — Über die Ursachen der künstlichen Allianzen bei den Ameisen. Journ. für 
Psychol. und Neurol. igig. 20, 

6) Das Instinktproblem im Lichte der modernen Biologie, Schw. Arch. f. Neurol. 
1920. 6. 

7) Janet, C: Fondation d'une colonie par une f^melle isolee. Bull. Soc. Zool. 
France 1895. 

8) Fahre, H.: Souvenirs enthomologiques. j886, 2. 

9) Forel, A. : Fourmis de la Suisse, Zürich 1874. 

10) Freud, S. : Über die Berechtigung von der Neurasthenie einen bestimmten 
Spmptomenkomplex als Aiigstneurose abzutrennen, Sammhmg Kleiner Schriften 
lur Neurosenlehre I, 1911. (Ges, Schriften, Bd. I.) 

11) — Triebe und Triebschicksale. Sammlung Kleiner Schriften lur Keurosenlehre IV, 
1918, (Ges, Schriften, Bd, V.) 

12) — Die Verdrängung, Ebenda, 
15) — Das Unbewußte, Ebenda, 

14) — Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, a. Aufl. 1918, (Ges. 
Schriften, Bd. VII.) 



15) Greppin, L. : Zur Kenntnis der geistigen Fähigkeiten unserer Vögel. Mitt. 
natnrf. Ges. Solothum III, 1906, 

16) Hattingbergf: Übertragung und Objektwahl. Internationale Zeitschrift für 
Psychoanalyse VII, 1921, 

17) V. Monakow, Cr Biologie tind Psychiatrie. Schw. Areh. f. Neurol. IV, igi8 
und 191g. 

18) Semon, R,; Die Mneme. München 1904,. 

ig") Sherring^ton, Gh.: The integrative Action of the nervous System. London 1911. 

20) Minkowski, M. : Beitrag zur Physiologie des Rückenmarkes. Schw. Arch. f, 
Neurol. V, 1919. 

21) Wheeler, W, M.: On instincts. The Journal of abnormal Psychol. 1920/21, XV. 



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