R. N. COUDENHOVE KALERGI
PRAKTISCHER IDEALISMUS
ADEL - TECHNIK - PAZIFISMUS
1925
PANEUROPA - VERLAG
WIEN-LEIPZIG
IJBR069031840355
AUe Rechte Vorbehalten
Copyright 1 925 by Pan-Europa- Verlag
Druck der Elbemilhl Papierfabriken und
Graphische Industrie A. G., Wien VI.
INHALT
VORWORT 4
VOM RUSTIKALEN UND URBANEN MENSCHEN 8
l.LANDMENSCH-STADTMENSCH 9
2. JUNKER - LITERAT 12
3. GENTLEMAN - BOHEMIEN 16
4. INZUCHT - KREUZUNG 20
5. HEIDNISCHE UND CHRISTLICHE MENTALITAT 24
KRISEDESADELS 29
6. GEISTESHERRSCHAFT STATT SCHWERTHERRSCHAFT 31
7 . ADELSDAMMERUNG 34
8. PLUTOKRATIE 39
9. BLUTADEL UND ZUKUNFTSADEL 44
10. JUDENTUMUNDZUKUNFTSADEL 49
AUSBLICK 55
APOLOGIEDERTECHNIK 1922 59
L DAS VERLORENE PARADES 61
l.DERFLUCHDERKULTUR 61
2. ENTFALTUNG UND FREIHEIT 62
3.UBERV0LKERUNGUNDN0RDWANDERUNG 64
4. GESELLSCHAFTUNDKLIMA 64
5. BEFREIUNGSVERSUCHEDERMENSCHHEIT 66
II. ETHIK UND TECHNIK 68
1 . DIE SOZIALE FRAGE 68
2. UNZULANGLICHKEIT DER POLITIK 69
3. STAAT UND ARBEIT 70
4. ANARCHIE UND MUSSE 71
5. UBERWINDUNG VON STAAT UND ARBEIT 72
6. ETHIK UND TECHNIK 73
III. ASIEN UND EUROPA 75
1. ASIENUNDEUROPA 75
2. KULTUR UND KLIMA 77
3.DIEDREIRELIGI0NEN 79
4. HARMONIE UND KRAFT 80
IV. EUROPAS TECHNISCHE WELTMISSION 83
l.DEREUROPAISCHEGEIST 83
2. HELLAS ALS VOR - EUROPA 84
3. DIE TECHNISCHENGRUNDLAGEN EUROPAS 85
4. TECHNISCHE WELTWENDE 87
5. EUROPA ALS KULTURTANGENTE 88
6. LIONARDO UND BACON 90
V. JAGD - KRIEG - ARBEIT 91
l.MACHT UND FREIHEIT 91
2. JAGD 92
3. KRIEG 92
4. ARBEIT 93
5. DERKRIEGALSANACHITONISMUS 94
6. TECHNIK 95
VI. DER FELDZUG DER TECHNIK 97
1. EUROPAS MAS SEELEND 97
2. KOLONIALPOLITIK 98
3. SOZIALPOLITIK 99
4. TECHNISCHE WELTREVOLUTION 101
5. DIE ARMEE DER TECHNIK 102
6. DER ELEKTRISCHE SIEG 102
7. DERERFINDERALSERLOSER 104
VII. ENDZIEL DER TECHNIK 106
1. KULTUR UND SKLAVEREI 106
2. DIE MASCHINE 107
3. ABBAUDERGROSSTADT 109
4. DAS KULTURPARADIES DES MIILLIONARS Ill
VIII. DER GEIST DES TECHNISCHEN ZEITALTERS 114
l.HEROISCHERPAZIFISMUS 114
2. DER GEIST DER TRAGHEIT 115
3. SCHONHEIT UND TECHNIK 116
4. EMANZIPATION 118
5. CHRISTENTUM UND RITTERTUM 120
6. DIE BUDDHISTISCHE GEFAHR 121
IX. STINNES UND KRASSIN 124
1. WIRTSCHAFTSSTAATEN 124
2. DAS RUSSISCHE FIASKO 125
3. KAPITALISTISCHE UND KOMMUNISTISCHE PRODUKTION 127
4. SOLDNER UND SOLDATEN DER ARBEIT 130
5. SOZIALER KAPITALISMUS - LIBERALER KOMMUNISMUS 132
6. TRUST UND GEWERKSCHAFTEN 134
X. VOMARBEITSSTAATZUMKULTURSTAAT 136
l.KINDERKULT 136
2. ARBEITSPFLICHT 138
3.PR0DUZENTEN-UNDK0NSUMENTENSTAAT 141
4. REVOLUTION UND TECHNIK 143
5. GEFAHREN DER TECHNIK 146
6. ROMANTIK DER ZUKUNFT 148
PAZIFISMUS 1924 153
l.ZEHNJAHREKRIEG 155
2. KRITIK DES PAZIFISMUS 158
4. REFORM DES PAZIFISMUS 164
5. WELTFRIEDENUNDEUROPAFRIEDEN 167
6. REALPOLITISCHES FRIEDENSPROGRAM 171
7. FORDERUNGDESFRIEDENSGEDANKENS 177
8. FRIEDENSPROPAGANDA 181
9. NEUES HELDENTUM 187
VORWORT
Praktischer Idealismus ist Heroismus; praktischer Materialismus ist Eudamonismus. Wer nicht an
Ideale glaubt, hat keinen Grund, ideal zu handeln; oder fiir Ideale zu kampfen und zu leiden.
Denn er kennt und anerkennt nur einen einzigen Wert: die Lust; nur ein einziges Ubel: den
Schmerz.
Heroismus setzt glauben und Bekenntnis zum Ideal voraus: Die Uberzeugung, dass es hohere
Werte gibt als Lust und groBere Ubel als Schmerz.
Dieser Gegensatz zieht sich durch die ganze Menschheitsgeschichte; es ist der Gegensatz von
Epikuraern und Stoikern. Dieser Gegensatz ist viel tiefer als der zwischen Theisten und
Atheisten: denn es gab Epikuraer, die an Gotter glaubten, wie Epikur selbst; und es gab
Idealisten, die Atheisten waren wie Buddha.
Es handelt sich also hier nicht um den Glauben an Gotter - sondem um den Glauben an Werte.
Der Materialismus ist voraussetzungsloser - aber phantasieloser und unschopferischer; der
Idealismus ist immer problematisch und verstrickt sich oft in Unsinn und Wahnsinn: dennoch
verdankt ihm die Menschheit ihre groBten Werke und Taten.
*
Heroismus ist Aristokratie der Gesinnung. Heroismus ist mit dem aristokratischen Ideal ebenso
verwandt, wie Materialismus mit dem demokra- [III]
tischen. Auch Demokratie glaubt mehr an die Zahl als an den Wert, mehr an Gliick als an GroBe.
Darum kann politische Demokratie nur dann fruchtbar und schopferisch werden, wenn sie die
Pseudo-Aristokratie des Namens und des Goldes zertriimmert, urn an deren Stelle eine neue
Aristokratie des Geistes und der Gesinnung ewig neu zu gebaren.
Der letzte Sinn der politischen Demokratie also ist: geistige Aristokratie; sie will den
Materialisten GenuB schaffen, den Idealisten Macht.
Der Fiihrer soil an die Stelle des Herrschers treten - der edle Sinn an die Stelle des edlen Namens
- das reiche Herz an die Stelle der reichen Tasche. Das ist der Sinn der Entwicklung, die sich
demokratisch nennt.
Jeder andere Sinn ware Kultur-Selbstmord.
Darum ist es kein Zufall, daB Platon zugleich der Prophet der geistigen Aristokratie und der
sozialistischen Wirtschaft war; und zugleich der Vater der idealistischen Weltanschauung.
Denn beide, Aristokratie und Sozialismus, sind: praktischer Idealismus.
Der asketische Idealismus des Siidens offenbarte sich als Religion; der heroische Idealismus des
Nordens als Technik.
Denn die Natur des Nordens war eine Herausforderung an den Menschen. Andere Volkerschaften
unterwarfen sich; der Europaer nahm die Herausforderung an und kampfte. Er kampfte, bis er
stark genug war, die Erde zu unterwerfen: er kampfte, bis er die Natur selbst, die ihn
herausgefordert hatte, in seine Dienste zwang.
Dieser Kampf forderte Heroismus und zeugte Heroismus. So wurde fiir Europa der Held das, was
der Hei- [IV]
lige fiir Asien war; und die Heldenverehrung erganzte die Heiligenverehrung.
Das tatige Ideal trat an die Stelle des beschaulichen, und es gait als groBer, fiir ein Ideal zu
kampfen, als zu leiden.
Der Sinn dieser heroischen Weltmission hat Europa erst seit der Neuzeit ganz erfaBt; denn erst
mit der Neuzeit beginnt sein technisches Zeitalter, sein Befreiungskrieg gegen den Winter. Dieses
technische Zeitalter ist zugleich das Zeitalter der Arbeit. Der Arbeiter ist der Held unserer Zeit;
sein Gegensatz ist nicht der Biirger - sondern der Schmarotzer. Ziel des Arbeiters ist - das
Schaffen, des Schmarotzers - das GenieBen.
Darum ist die Technik neuzeitliches Heldentum und der Arbeider praktischer Idealist.
*
Das politische und soziale Problem des 20. Jahrhunderts ist: den technischen Fortschritt des 19.
einzuholen. Diese Forderung der Zeit wird dadurch erschwert, daB die Entwicklung der Technik
ohne Pause sich im rascheren Tempo weiter vollzieht als die Entwicklung des Menschen und der
Menschheit. Diese Gefahr kann entweder abgewendet werden, indem die Menschheit den
technischen Fortschritt verlangsamt, oder indem sie den sozialen Fortschritt beschleunigt. Sonst
verliert sie ihr Gleichgewicht und iiberschlagt sich. Der Weltkrieg war eine Warnung. So stellt
Technik den Menschen vor die Alternative: Selbstmord oder Verstandigung!
Darum wird die Entwicklung der Welt in den kommenden Jahrzehnten ohne Beispiel sein. Das
heutige MiBverhaltnis von technischer [V]
und sozialer Organisation wird entweder zu vernichtenden Katastrophen fiihren - oder zu einem
politischen Fortschritt, der an Raschheit und Griindlichkeit alle historischen Vorbilder hinter sich
laBt und ein neues Blatt der Menschheitsgeschichte eroffnet.
Da die Technik der menschlichen StoBkraft und dem Heroismus neue Wege weist, beginnt der
Krieg im BewuBtsein der Menschheit seine historische Rolle auszuspielen. Sein Erbe ist die
Arbeit. Die Menschheit wird sich eines Tages organisieren, urn gemeinsam der Erde alles
abzuringen, was sie ihr heute noch vorenthalt. Sobald diese Auffassung sich durchringt, wird
jeder Krieg ein Biirgerkrieg sein und jeder Mord ein Mord. Das Zeitalter des Krieges wird dann
ebenso barbarisch scheinen, wie heute das Zeitalter der Menschenfresserei.
Diese Entwicklung wird kommen, wenn wir an sie glauben und fiir sie kampfen; wenn wir weder
so kurzsichtig sind, die groBen Linien der Entwicklung aus den Augen zu verlieren - noch so
weitsichtig, die praktischen Wege und Hindemisse zu iibersehen, die zwischen uns und unseren
zielen liegen: wenn wir klarsichtig sind, und das klare wissen urn die bevorstehenden Kampfe
und Schwierigkeiten verbinden mit dem heroischen Willen, sie zu iiberwinden.
Nur dieser Optimismus des Wollens wird den Pessimismus der Erkenntnis erganzen und
besiegen.
Statt in den Fesseln der unzeitgemaBen Gegenwart zu verharren und tatenlos von besseren
Moglichkeiten zu traumen, wollen wir also tatigen Anteil nehmen an der Entwicklung der Welt
durch praktischen Idealismus.
Wien, November 1925.
[VI]
ADEL1920
Dem Andenken meines Vaters
Dr. HEINRICH GRAF COUDENHOVE-KALERGI
in Verehrung und Dankbarkeit
ERSTER TEIL:
VOM RUSTIKALEN UND URBANEN MENSCHEN
1. LANDMENSCH - STADTMENSCH
Land und Stadt sind die beiden Pole menschlichen Daseins. Land und Stadt zeugen ihre
besonderen Menschentypen: den rustikalen und urbanen Menschen.
Rustikalmensch und Urbanmensch sind psychologisch Antipoden. Bauern verschiedenster
Gegenden gleichen einander seelisch oft mehr als den Stadtern der benachbarten GroBstadt.
Zwischen Land und Land, zwischen Stadt und Stadt liegt der Raum - zwischen Stadt und Land
die Zeit. Unter den europaischen Rustikalmenschen leben Vertreter aller Zeitalter: von der
Steinzeit bis zum Mi ttel alter; wahrend nur die Weltstadte des Abendlandes, die den ekstremsten
Urbantypus hervorgebracht haben, Reprasentanten neuzeitlicher Zivilisation sind. So trennen
Jahrhunderte, oft Jahrtausende, eine GroBstadt vom flachen Lande, das sie umgibt.
Der Urbanmensch denkt anders, urteilt anders, empfindet anders, handelt anders als der
Rustikalmensch. Das GroBstadtleben ist abstrakt, mechanisch, rational - das Landleben konkret,
organisch, irrational. Der Stadter ist rationalistisch, skeptisch, unglaubig - der Landmann
emotionalistisch, glaubig, aberglaubisch. [9]
Alles Denken und Fiihlen des Landmannes kristallisiert sich um die Natur, er lebt in Symbiose
mit dem Tier, dem lebendigen Geschopf Gottes, ist verwachsen mit seiner Landschaft, abhangig
von Wetter und Jahreszeit. Kristallisationspunkt der urbanen Seele hingegen ist die Gesellschaft;
sie lebt in Symbiose mit der Maschine, dem toten Geschopf des Menschen; durch sie macht sich
der Stadtmensch moglichst unabhangig von Zeit und Raum, von Jahreszeit und Klima.
Der Landmensch glaubt an die Gewalt der Natur iiber den Menschen - der Stadtmensch glaubt an
die Gewah des Menschen iiber die Natur. Der Rustikalmensch ist Naturprodukt, der
Urbanmensch Sozialprodukt; der eine sieht Zweck, MaB und Gipfel der Welt im Kosmos, der
andere in der Menschheit.
Der Rustikalmensch ist konservativ wie die Natur - der Urbanmensch fortschrittlich wie die
Gesellschaft. Aller Fortschritt iiberhaupt geht von Stadten und Stadtern aus. Der Stadtmensch
selbst ist meist das Produkt einer Revolution innerhalb eines landlichen Geschlechtes, das mit
seiner rustikalen Tradition brach, in die GroBstadt zog und dort ein Leben auf neuer Basis
begann.
Die GroBstadt raubt ihren Bewohnem den GenuB der Naturschonheit; als Entschadigung bietet
sie ihnen Kunst. Theater, Konzerte, Galerien sind Surrogate fur die ewigen und wechselnden
Schonheiten der Landschaft. Nach einem Tagwerk voll HaBlichkeit bieten jene Kunstinstitute
dem Stadter Schonheit in konzentrierter Form. Auf dem Lande sind sie leicht entbehrlich. - Natur
ist die extensive, Kunst die intensive Erscheinungsform der Schonheit.
Das Verhaltnis des Urbanmenschen zur Natur, die ihm [10]
fehlt, wird von der Sehnsucht beherrscht; wahrend die Natur dem Rustikalmenschen stete
Erfiillung ist. Daher empfindet sie der Stadter vorwiegend romantisch, der Landmensch klassisch.
Die soziale (christliche) Moral ist ein urbanes Phanomen: denn sie ist eine Funktion des
menschlichen Zusammenlebens, der Gesellschaft. Der typische Stadter verbindet christliche
Moral mit irreligioser Skepsis, rationalistischem Materialismus und mechanistischem Atheismus.
Die Weltanschauung, die daraus resultiert, ist die des Sozialismus: die moderne
GroBstadtreligion.
Fiir den rustikalen Barbaren Europas ist das Christentum kaum mehr als eine Neuauflage des
Heidentums mit veranderter Mythologie und neuem Aberglauben; -eine wahre Religion ist
Glaube an die Natur, an die Kraft, an das Schicksal.
Stadt- und Landmensch kennen einander nicht; darum miBtrauen und miBverstehen sie einander
und leben in verhiillter oder offener Feindschaft. Es gibt vielerlei Schlagworte, unter denen sich
diese elementare Gegnerschaft verbirgt: Rote und Griine Internationale; Industrialismus und
Agrariertum; Fortschritt und Reaktion; Judentum und Antisemitismus.
Alle Stadte schopfen ihre Krafte aus dem Lande; alles Land schopft seine Kultur aus der Stadt.
Das Land ist der Boden, aus dem die Stadte sich erneuem; ist die Quelle, die sie speist; die
Wurzel, aus der sie bliihen. Stadte wachsen und sterben: das Land ist ewig. [11]
2. JUNKER -LITERAT
Bliite des Rustikalmenschen ist der Landadelige, der Junker. Bliite des Urbanmenschen ist der
Intellektuelle, der Literal.
Land und Stadt haben beide ihren spezifischen Adelstypus gezeugt: Willensadel steht gegen
Geistesadel, Blutadel gegen Hirnadel. Der typische Junker verbindet ein Maximum an Charakter
mit einem Minimum an Intellekt - der typische Literat ein Maximum an Intellekt mit einem
Minimum an Charakter.
Nicht immer und iiberall mangelte es dem Landadel an Geist, dem Stadtadel an Charakter; wie
im England der Neuzeit war im Deutschland der Minnesangerzeit der Blutadel ein
hervorragendes Kulturelement; wahrend anderseits der katholische Geistesadel der Jesuiten und
der chinesische Geistesadel der Mandarinen in ihrer Bliitezeit ebensoviel Charakter wie Geist
bewiesen.
Im Junker und Literaten gipfeln die Gegensatze des rustikalen und urbanen Menschen. Typischer
Beruf der Junkerkaste ist der Offiziersberuf: typischer Beruf der Literatenkaste der
Journalistenberuf. [12]
Der Junker-Offizier blieb, psychisch wie geistig, auf der Stufe des Ritters stehen. Hart gegen sich
und andere, pflichttreu, energisch, standhaft, konservativ und beschrankt, lebt er in einer Welt
dynastischer, militaristischer, nationaler und sozialer Vomrteile. Mit einem tiefen MiBtrauen
gegen alles Moderne, gegen GroBstadt, Demokratie, Sozialismus, Internationalismus verbindet er
einen ebenso tiefen Glauben an sein Blut, seine Ehre und die Weltanschauung seiner Vater. Er
verachtet den Stadter, vor allem den jiidischen Literaten und Journalisten.
Der Literat eilt seiner Zeit voran; vorurteilsfrei vertritt er moderne Ideen in Politik, Kunst,
Wirtschaft. Er ist fortschrittlich, skeptisch, geistreich, vielseitig, wandelbar; ist Eudamonist,
Rationalist, Sozialist, Materialist. Er iiberschatzt den Geist, unterschatzt Korper und Charakter:
und verachtet daher den Junker als riickstandigen Barbaren.
Wesen des Junkers ist Starrheit des Willens - Wesen des Literaten ist Beweglichkeit des Geistes.
Junker und Literat sind geborene Rivalen und Gegner: wo die Junkerkaste herrscht, muB Geist
der Gewalt weichen; in solchen reaktionaren Zeiten ist der politische EinfluB der Intellektuellen
ausgeschaltet oder mindestens eingeschrankt. Herrscht die Literatenkaste, muB die Gewalt dem
Geiste weichen: Demokratie siegt iiber Feudalismus, Sozialismus iiber Militarismus.
Der HaB der Willensaristokratie und der Geistesaristokratie Deutschlands gegeneinander wurzelt
im MiBverstehen. Jede sieht nur die Schattenseiten der anderen und ist blind gegen deren
Vorziige. Die Psyche des Junkers, des Rustikalmenschen, bleibt selbst hochstehenden Literaten
ewig verschlossen; wahrend fast alien [13]
Junkern die Seele des Intellektuellen, des Urbanmenschen, fremd bleibt. Statt von dem anderen
zu lernen, blickt der jiingste Leutnant mit Geringschatzung auf die fiihrenden Geister moderner
Literatur herab, wahrend der letzte Winkeljournalist fiir hervorragende Offiziere nur iiberlegene
Verachtung empfindet. Durch dieses doppelte MiBverstehen fremder Mentalitat hat erst das
militaristische Deutschland die Widerstandskraft der urbanen Massen gegen den Krieg
unterschatzt, dann das revolutionare Deutschland die Widerstandskraft der rustikalen Massen
gegen die Revolution. Die Fiihrer des Landes verkannten die Psyche der Stadt und ihre Neigung
zum Pazifismus - die Fiihrer der Stadte verkannten die Psyche des Landvolkes und ihre Neigung
zur Reaktion: so hat Deutschland erst den Krieg verloren, dann die Revolution.
Die Gegensatzlichkeit des Junkers und des Literaten ist darin begriindet, daB diese beiden Typen
Extreme, nicht Gipfelpunkte von Blut- und Geistesadel sind. Denn die hochste Erscheinungsform
des Blutadels ist der Grand-seigneur, des Geistesadels der Genie. Diese beiden Aristokraten sind
nicht nur vereinbar: sie sind verwandt. Casar, die Vollendung des Grand-seigneur, war der
genialste Romer; Goethe, der Gipfel an Genialitat, war von alien deutschen Dichtern am meisten
Grand-seigneur. Hier wie iiberall entfernen sich die Mittelstufen am starksten, wahrend die
Gipfel sich beriihren.
Der vollendete Aristokrat ist zugleich Aristokrat des Willens und des Geistes, aber weder Junker
noch Literat. Er verbindet Weitblick mit Willensstarke. Urteilskraft mit Tatkraft, Geist mit
Charakter. Fehlen solche synthetische Personlichkeiten, so sollten die divergierenden [14]
Aristokraten des Willens und des Geistes einander erganzen, statt bekampfen. In Agypten,
Indien, Chaldaa herrschten einst Priester und Konige (Intellektuelle und Krieger) gemeinsam. Die
Priester beugten sich vor der Kraft des Willens, die Konige vor der Kraft des Geistes: Hirne
wiesen die Ziele, Arme bahnten die Wege. [15]
3. GENTLEMAN - BOHEMIEN
Blut- und Geistesadel Europas schufen sich ihre spezifischen Typen: Englands Blutadel den
Gentleman; Frankreichs Geistesadel den Bohemien.
Gentleman und Bohemien begegnen sich im Bestreben, der oden HaBlichkeit spieBbiirgerlichen
Daseins zu entfliehen: der Gentleman iiberwindet sie durch Stil, der Bohemiene durch
Temperament. Der Gentleman setzt der Formlosigkeit des Lebens Form - der Bohemien der
Farblosigkeit des Lebens Farbe entgegen.
Der Gentleman bringt in die Unordnung menschlicher Beziehungen Ordnung - der Bohemien in
deren Unfreiheit Freiheit.
Die Schonheit des Gentleman-Ideals beruht auf Form, Stil, Harmonie: sie ist statisch, klassisch,
apollinisch. Die Schonheit des Bohemi en-Ideals beruht auf Temperament, Freiheit, Vitalitat: sie
ist dynamisch, romantisch, dionysisch.
Der Gentleman idealisiert und stilisiert seinen Reichtum - der Bohemien idealisiert und stilisiert
seine Armut.
Der Gentleman ist auf Tradition gestellt, der Bohemien auf Protest: das Wesen des Gentleman ist
konservativ- [16]
das Wesen des Bohemien revolutionar. Mutter des Gentleman-Ideal es ist England, das
konservativste Land Europas. Wiege der Boheme ist Frankreich, das revolutionar ste Land
Europas.
Das Gentleman-Ideal ist die Lebensform einer Kaste - das Boheme-Ideal Lebensform von
Personlichkeiten.
Das Gentleman-Ideal weist jenseits von England zuriick zur romischen Stoa - das Boheme-Ideal
weist jenseits von Frankreich zuriick auf die griechische Agora. Die romischen Staatsmanner
naherten sich dem Gentlemantypus, die griechischen Philosophen dem Bohemientypus: Casar
und Seneca waren Gentlemen, Sokrates und Diogenes Bohemiens.
Der Schwerpunkt des Gentleman liegt im Physisch-Psychischen - des Bohemien im Geistigen:
der Gentleman darf Dummkopf, der Bohemien darf Verbrecher sein.
Beide Ideale sind menschliche Kristallisationsphanomene: wie der Kristall nur in unstarrer
Umgebung sich bilden kann, so verdanken jene beiden Ideale ihr Dasein der englischen und
franzosischen Freiheit.
Im kaiserlichen Deutschland fehlte diese Atmosphare zur Personlichheitskristallisation: daher
konnte es kein ebenbiirtiges Ideal entwickeln. Zum Gentleman fehlte dem Deutschen der Stil,
zum Bohemien das Temperament, zu beiden Grazie und Geschmeidigkeit.
Da er in seiner Wirklichkeit keine ihm angemessene Lebensform fand, suchte der Deutsche in
seiner Dichtung nach idealen Verkorperungen deutschen Wesens: und fand als physisch-
psychisches Ideal den jungen Siegfried, als geistiges Ideal den alten Faust.
Beide Ideale waren romantisch-unzeitgemaB: in der Verzerrung der Wirklichkeit erstarrte das
romantische [17]
Siegfried-Ideal zum preuBischen Offizier, zum Leutnant - das romantische Faust-Ideal zum
deutschen Gelehrten, zum Professor.
An die Stelle organischer Ideale traten mechanische: der Offizier reprasentiert die
Mechanisierung des Psychischen: den erstarrten Siegfried; der Professor die Mechanisierung des
Geistigen: den erstarrten Faust.
Auf keine seiner Klassen war das wilhelminische Deutschland stolzer als auf seine Offiziere und
Professoren. In ihnen sah es die Bliite der Nation, wie England in seinen politischen Fiihrern, die
romanischen Volker in ihren Kiinstlern.
Will das deutsche Volk Hoherentwicklung, so muB es seine Ideale revidieren: seine Tatkraft muB
die militarische Einseitigkeit sprengen und sich weiten zu politisch-menschlicher Vielseitigkeit;
sein Geist muB die reinwissenschaftliche Enge sprengen und sich weiten zur Synthese des
Di chter-Denker s .
Das neunzehnte Jahrhundert hat dem deutschen Volke zwei Manner groBten Stiles geschenkt, die
diese Forderungen hoheren Deutschtums verkorperten: Bismarck, den Heros der Tat; Goethe, den
Heros des Geistes.
Bismarck emeuert, vertieft und belebt das kitschig gewordene Siegfried-Ideal - Goethe erneuert,
vertieft und belebt das verstaubte Faust-Ideal.
Bismarck hatte die guten Eigenschaften des deutschen Offiziers - ohne dessen Fehler; Goethe
hatte die guten Eigenschaften des deutschen Gelehrten - ohne dessen Fehler. In Bismarck
iiberwindet die Uberlegenheit des Staatsmannes die Beschranktheit des Offiziers - in Goethe
iiberwindet die Uberlegenheit des Dichter-Denkers die Beschranktheit des Gelehrten: in beiden
das [18]
organische Personlichkeitsideal das Mechanische, der Mensch, die Marionette.
Durch seine vorbildliche Personlichkeit hat Bismarck mehr fiir die Entwicklung des Deutschtums
getan als durch seine Reichsgriindung; durch sein olympisches Dasein hat Goethe das deutsche
Volk reicher beschenkt als durch seinen Faust: denn Faust ist, wie Goetz, Werther, Meister und
Tasso, nur ein Fragment von Goethes Menschentum.
Deutschland sollte sich aber hiiten, seine beiden lebendigen Vorbilder zu verkitschen und
herabzuziehen: aus Bismarck einen Feldwebel, aus Goethe einen Schulmeister zu machen.
An der Nachfolge dieser beiden Gipfel deutschen Menschentums konnte Deutschland wachsen
und gesunden; von ihnen kann es tatige und beschauliche GroBe lernen, Tatkraft und Weisheit.
Denn Bismarck und Goethe sind die beiden Brennpunkte, um die sich ein neuer deutscher
Lebensstil bilden konnte, der den westlichen Idealen ebenbiirtig ware. [19]
4. INZUCHT-KREUZUNG
Meist ist der Rustikalmensch Inzuchtprodukt, der Urbanmensch Mischling.
Eltern und Voreltern des Bauern stammen gewohnlich aus der gleichen, diinnbevolkerten
Gegend; des Adeligen aus derselben diinnen Oberschicht. In beiden Fallen sind die Vorfahren
untereinander blutsverwandt und daher meist physisch, psychisch, geistig einander ahnlich.
Infolgedessen vererben sie ihre gemeinsamen Ziige, Willenstendenzen, Leidenschaften,
Vomrteile, Hemmungen in gesteigertem Grade auf ihre Kinder und Nachkommen. Die
Wesensziige, die sich aus dieser Inzucht ergeben, sind: Treue, Pietat, Familiensinn, Kastengeist,
Bestandigkeit, Starrsinn, Energie, Beschranktheit; Macht der Vomrteile, Mangel an Objektivitat,
Enge des Horizontes. Hier ist eine Generation nicht Variation der vorhergehenden, sondem
einfach deren Wiederholung: an die Stelle von Entwicklung tritt Erhaltung.
In der GroBstadt begegnen sich Volker Rassen, Stande. In der Regel ist der Urbanmensch
Mischling aus verschiedensten sozialen und nationalen Elementen. In ihm heben sich die
entgegengesetzten Charaktereigen- [20]
schaften, Vorurteile, Hemmungen, Willenstendenzen und Weltanschauungen seiner Eltem und
Voreltem auf oder schwachen einander wenigstens ab. Die Folge ist, daB Mischlinge vielfach
Charakterlosigkeit, Hemmungslosigkeit, Willensschwache, Unbestandigkeit, Pietatlosigkeit und
Treulosigkeit mit Objektivitat, Vielseitigkeit, geistiger Regsamkeit, Freiheit von Vorurteilen und
Weite des Horizontes verbinden. Mischlinge unterscheiden sich stets von ihren Eltem und
Voreltern; jede Generation ist eine Variation der vorhergehenden, entweder im Sinne der
Evolution oder der Degeneration.
Der Inzuchtmensch ist Einseelenmensch - der Mischling Mehrseelenmensch. In jedem
Individuum leben seine Ahnen fort als Elemente seiner Seele: gleichen sie einander, so ist sie
einheitlich, einformig; streben sie auseinander, so ist der Mensch vielfaltig, kompliziert,
differenziert.
Die GroBe eines Geistes liegt in seiner Extensitat, das ist in seiner Fahigkeit, alles zu erfassen und
zu umfassen; die GroBe eines Charakters liegt in seiner Intensitat, das ist in seiner Fahigkeit,
stark, konzentriert und bestandig zu wollen. So sind, in gewissem Sinne, Weisheit und Tatkraft
Widerspriiche.
Je ausgesprochener die Fahigkeit und Neigung eines Menschen, die Dinge als Weiser von alien
Seiten zu sehen und sich vorurteilsfrei auf jeden Standpunkt zu stellen - desto schwacher ist meist
sein Willensimpuls, nach einer bestimmten Richtung hin unbedenklich zu handeln: denn jedem
Motiv stellen sich Gegenmotive entgegen, jedem Glauben Skepsis, jeder Tat die Einsicht in ihre
kosmische Redeutungslosigkeit. Tatkraftig kann nur der beschrankte, der einseitige Mensch sein.
Es gibt aber nicht bloB eine unbewuBte, [21]
naive: es gibt auch eine bewuBte, heroische Beschranktheit. Der heroische beschrankte - und zu
diesem Typus zahlen alle wahrhaft groBen Tatmenschen - schaltet zeitweise freiwillig alle Seiten
seines Wesens aus, bis auf die eine, die seine Tat bestimmt. Objektiv, kritisch, skeptisch,
iiberlegen kann er vor oder nach seiner Tat sein: wahrend der Tat ist er subjektiv, glaubig,
einseitig, ungerecht.
Weisheit hemmt Tatkraft - Tatkraft verleugnet Weisheit. Der starkste Wille ist wirkungslos,
wenn er richtungslos ist; auch ein schwacher Wille lost starkste Wirkung aus, wenn er einseitig
ist.
Es gibt kein Leben der Tat ohne Unrecht, Irrtum, Schuld: wer sich scheut, dieses Odium zu
tragen, der bleibe im Reiche des Gedankens, der Beschaulichkeit, der Passivitat. - Wahrhafte
Menschen sind immer schweigsam: denn jede Behauptung ist, in gewissem Sinne, Liige;
herzensreine Menschen sind immer inaktiv: denn jede Tat ist, in gewissem Sinne, Unrecht.
Tapferer aber ist es, zu reden, auf die Gefahr hin, zu liigen; zu handeln, auf die Gefahr hin,
Unrecht zu tun.
Inzucht starkt den Charakter, schwacht den Geist - Kreuzung schwacht den Charakter, starkt den
Geist. Wo Inzucht und Kreuzung unter gliicklichen Auspizien zusammentreffen, zeugen sie den
hochsten Menschentypus der starksten Charakter mit scharfstem Geist verbindet. Wo unter
ungliicklichen Auspizien Inzucht und Mischung sich begegnen, schaffen sie Degenerationstypen
mit schwachem Charakter, stumpfem Geist.
Der Mensch der fernen Zukunft wird Mischling sein. Die heutigen Rassen und Kasten werden der
zunehmen- [22]
den Uberwindung von Raum, Zeit und Vomrteil zum Opfer fallen. Die eurasisch-negroide
Zukunftsrasse, auBerlich der altagyptischen ahnlich, wird die Vielfalt der Volker durch eine
Vielfalt der Personlichkeiten ersetzen. Denn nach den Vererbungsgesetzen wachst mit der
Verschiedenheit der Vorfahren die Verschiedenheit, mit der Einformigkeit der Vorfahren die
Einformigkeit der Nachkommen. In Inzuchtfamilien gleicht ein Kind dem anderen: denn alle
reprasentieren den einen gemeinsamen Familientypus. In Mischlingsfamilien unterscheiden sich
die Kinder starker voneinander: jedes bildet eine neuartige Variation der divergierenden
elterlichen und vorelterlichen Elemente.
Inzucht schafft charakteristische Typen - Kreuzung schafft originelle Personlichkeiten.
Vorlaufer des planetaren Menschen der Zukunft ist im modernen Europa der Russe als slawisch-
tatarisch-finnischer Mischling; well er, unter alien europaischen Volkern, am wenigsten Rasse
hat, ist er der typische Mehrseelenmenschen mit der weiten, reichen, allumfassenden Seele. Sein
starkster Antipode ist der insulare Brite, der hochgeziichtete Einseelenmensch, dessen Kraft im
Charakter, im Willen, im Einseitigen, Typischen liegt. Ihm verdankt das moderne Europa den
geschlossensten, vollendetsten Typus: den Gentleman. [23]
5. HEIDNISCHE UND CHRISTLICHE MENTALITAT
Zwei Seelenformen ringen um Weltherrschaft: Heidentum und Christentum. Mit den
Konfessionen, die diese Namen tragen, haben jene Seelenformen nur sehr ausserliche
Beziehungen. Wird der Schwerpunkt vom Dogmatischen ins Ethische, vom Mythologischen ins
Psychologische verlegt, so wandelt sich Buddhismus in Ultra-Christentum, wahrend
Amerikanismus als modernisiertes Heidentum erscheint. Der Orient ist Haupttrager christlicher,
der Okzident Haupttrager heidnischer Mentalitat: die "heidnischen" Chinesen sind bessere
Christen als die "christlichen" Germanen.
Heidentum stellt Tatkraft, Christentum Liebe an die Spitze der ethischen Wertskala. Christliches
Ideal ist der liebende Heilige, heidnisches Ideal der siegende Held. Christentum will den homo
ferus in einen homo clomesticus wandeln, das Raubtier Mensch in das Haustier Mensch wahrend
Heidentum den Menschen zum Ubermenschen umschaffen will. Christentum will Tiger zu
Katzen zahmen - Heidentum Katzen zu Tigern steigern.
Hauptverkiinder modernen Christentums war Tol- [24]
stoi; Hauptverkiinder modernen Heidentums Nietzsche.
Die germanische Edda-Religion war reinstes Heidentum. Unter christlicher Maske lebte sie fort:
im Mittelalter als ritterliche, in der Neuzeit als imperialistische und militaristische
Weltanschauung. Offiziere, Junker, Kolonisatoren. Industriekapitane sind die fiihrenden
Reprasentanten modernen Heidentums. Tatkraft, Tapferkeit, GroBe, Freiheit, Macht, Ruhm und
Ehre: das sind die Ideale des Heidentums; wahrend Liebe, Milde, Demut, Mitleid und
Selbstverleugnung christliche Ideale sind. Die Antithese: Heidentum-Christentum deckt sich
weder mit der Antithese: Rustikalmensch-Urbanmensch, noch mit: Inzucht-Kreuzung. Zweifellos
aber begiinstigen Rustikalbarbarei und Inzucht die Entwicklung heidnischer Urbanzivilisation
und Mischung die Entwicklung christlicher Mentalitat.
Allgemeingiiltiger heidnischer Individualismus ist nur in diinnbevolkerten Erdstrichen moglich,
wo der Einzelne sich behaupten und riicksichtslos entfalten kann, ohne gleich in Gegensatz zu
seinen Mitmenschen zu geraten. In iibervolkerten Gegenden, wo Mensch an Mensch stoBt, muss
das sozialistische Prinzip gegenseitiger Unterstiitzung das individualistische Prinzip des
Daseinskampfes erganzen und, zum Teil, verdrangen.
Christentum und Sozialismus sind Internationale Grossstadtprodukte. Das Christentum nahm als
Weltreligion seinen Ausgang von der rasselosen Weltstadt Rom; der Sozialismus von den
national gemischten Industriestadten des Abendlandes. Beide AuBerungen christlicher Mentalitat
sind auf Intemationalismus aufgebaut. Der Widerstand gegen das Christentum ging von der
Landbevolkerung aus [25]
(pagani); so wie es auch heute das Landvolk ist, das der Verwirklichung sozialistischer
Lebensform den starksten Widerstand entgegenstellt.
Immer waren diinnbevolkerte, nordliche Gegenden Zentren heidnischen Wollens, dicht
bevolkerte siidliche Gegenden Brutstatten christlichen Fiihlens. Wo heute vom Gegensatz
ostlichen und westlichen Seelenlebens die Rede ist, wird meistens darunter nichts verstanden als
jener Gegensatz zwischen Menschen des Siidens und des Nordens. Der Japaner, als nordlichster
Kulturorientale, nahert sich vielfach dem Okzidentalen; wahrend die Mentalitat des Siiditalieners
und Siidamerikaners orientalisch ist. Fiir die Zustande der Seele scheint der Breitegrad
entscheidender zu sein als der Langengrad.
Nicht nur die geographische Lage: auch die historische Entwicklung wirkt bestimmend auf die
Seelenform eines Volkes. Das chinesische wie das jiidische Volk empfinden deshalb christlicher
als das germanische, well ihre Kulturvergangenheit alter ist. Der Germane steht zeitlich dem
Wilden naher als der Chinese oder Jude; diese beiden alten Kulturvolker konnten sich griindlicher
von der heidnisch-natiirlichen Lebensauffassung emanzipieren, well sie mindestens drei
Jahrtausende langer dazu Zeit hatten. - Heidentum ist ein Symptom kultureller Jugend,
Christentum ein Symptom kulturellen Alters.
Drei Volker: Griechen, Romer, Juden haben jedes auf seine Weise, die antike Kulturwelt erobert.
Erst das asthetisch-philosophische Volk der Griechen: im Hellenismus; dann das praktisch-
politische Volk der Romer: im Imperium Romanum schlieBlich das ethisch-religiose Volk der
Juden: im Christentum. [26]
Das Christentum, ethisch von jiidischen Essenern (Johannes), geistig von jiidischen
Alexandrinem (Philo) vorbereitet, war regeneriertes Judentum. Soweit Europa christlich ist, ist es
(im ethisch-geistigen Sinne) jiidisch; soweit Europa moralisch ist, ist es jiidisch. Fast die ganze
europaische Ethik wurzelt im Judentum. Alle Vorkampfer einer religiosen oder irreligiosen
christlichen Moral, von Augustinus bis Rousseau, Kant und Tolstoi, waren Wahljuden im
geistigen Sinne; Nietzsche ist der einzige nicht-jiidische, der einzige heidnische Ethiker Europas.
Die prominentesten und iiberzeugtesten Vertreter christlicher Ideen, die in ihrer modernen
Wiedergeburt Pazifismus und Sozialismus heiBen, sind Juden.
Im Osten ist das chinesische Volk das ethische par Excellence (im Gegensatz zu den asthetisch-
heroischen Japanern und den religios-spekulativen Indern) - im Westen das jiidische. Gott war
Staatsoberhaupt der alten Juden, ihr Sittengesetz biirgerliches Gesetzbuch, Siinde war
Verbrechen.
Der theokratischen Idee der Identifikation von Politik und Ethik ist das Judentum im Wandel der
Jahrtausende treu geblieben: Christentum und Sozialismus sind beides Versuche, ein Gottesreich
zu errichten. Vor zwei Jahrtausenden waren die Urchristen, nicht die Pharisaer und Sadduzaer
Erben und Erneuerer mosaischer Tradition; heute sind es weder die Zionisten noch die Christen,
sondern die jiidischen Fiihrer des Sozialismus: denn auch sie wollen, mit hochster
Selbstverleugnung die Erbsiinde des Kapitalismus tilgen, die Menschen aus Unrecht, Gewalt und
Knechtschaft erlosen und die entsiihnte Welt in ein irdisches Paradies wandeln. [27]
Diesen jiidischen Propheten der Gegenwart, die eine neue Weltepoche vorbereiten, ist in allem
das Ethische Primar: in Politik, Religion, Philosophie und Kunst. Von Moses bis Weininger war
Ethik Hauptproblem jiidischer Philosophie. In dieser ethischen Grundeinstellung zur Welt liegt
eine Wurzel der einzigartigen GroBe des jiidischen Volkes - zugleich aber die Gefahr, daB Juden,
die ihren Glauben an die Ethik verlieren, zu zynischen Egoisten herabsinken: wahrend Menschen
anderer Mentalitat auch nach Verlust ihrer ethischen Einstellung noch eine Fiille ritterlicher
Werte und Vorurteile (Ehrenmann, Gentleman, Kavalier usw.) iibrigbehalten, die sie vor dem
Sturz in das Werte-Chaos schiitzen.
Was die Juden von den Durchschnitts-Stadtern hauptsachlich scheidet, ist, daB sie
Inzuchtmenschen sind. Charakterstarke verbunden mit Geistesscharfe pradestiniert den Juden in
seinen hervorragendsten Exemplaren zum Fiihrer urbaner Menschheit, zum falschen wie zum
echten Geistesaristokraten zum Protagonisten des Kapitalismus wie der Revolution. [28]
ZWEITER TEIL:
KRISE DES ADELS
6. GEISTESHERRSCHAFT STATT SCHWERTHERRSCHAFT
Unser demokratisches Zeitalter ist ein klagliches Zwischenspiel zwischen zwei groBen
aristokratischen Epochen: der feudalen Aristokratie des Schwertes und der sozialen Aristokratie
des Geistes. Die Feudal aristokratie ist im Verfall, die Geistesaristokratie im Werden. Die
Zwischenzeit nennt sich demokratisch, wird aber in Wahrheit beherrscht von der Pseudo-
Aristokratie des Geldes.
Im Mittelalter herrschte in Europa der rustikale Ritter iiber den urbanen Burger, heidnische
Mentalitat iiber christliche, Blutadel iiber Hirnadel. Die Uberlegenheit des Ritters iiber den
Biirger beruhte auf Korper- und Charakterstarke, auf Kraft und Mut.
Zwei Erfindungen haben das Mittelalter bezwungen, die Neuzeit eroffnet: die Erfindung des
Pulvers bedeutete das Ende der Ritterherrschaft, die Erfindung des Buchdrucks den Anbruch der
Geistesherrschaft. Korperkraft und Mut verloren durch die Einfiihrung der Feuerwafle ihre
ausschlaggebende Bedeutung im Daseinskampf Geist wurde, im Ringen um Macht und Freiheit,
zur entscheidenden Waffe. [31]
Der Buchdruck gab dem Geist ein Machtmittel von unbegrenzter Tragweite; riickte die
schreibende Menschheit in den Mittelpunkt der lesenden und erhob so den Schriftsteller zum
geistigen Fiihrer der Massen. Gutenberg hat den Federn die Macht gegeben, die Schwarz den
Schwertern genommen hatte. Mit Hilfe der Druckerschwarze hat Luther ein groBeres Reich
erobert als alle deutschen Kaiser.
In der Epoche des aufgeklarten Despotismus gehorchten Herrscher und Staatsmanner den Ideen,
die von Denkern stammten. Die Schriftsteller jener Zeit bildeten eine geistige Aristokratie
Europas. Der Sieg des Absolutismus iiber den Feudalismus bedeutete den ersten Sieg der Stadt
iiber das Land und zugleich die erste Etappe im Siegeslauf des Geistesadels, im Sturz des
Schwertadels. An die Stelle der Mittelalterlichen Diktatur des Landes iiber die Stadt trat die
neuzeitliche Diktatur der Stadt iiber das Land.
Mit der franzosischen Revolution, die mit den Privilegien des Blutadels brach, begann die zweite
Epoche der Emanzipation des Geistes. Demokratie beruht auf der optimistischen Voraussetzung,
ein geistiger Adel konne durch die Volksmehrheit erkannt und gewahlt werden.
Nun stehen wir an der Schwelle der dritten Epoche der Neuzeit: des Sozialismus. Auch er stiitzt
sich auf der urbane Klasse der Industriearbeiter, gefiihrt von der Aristokratie revolutionarer
Schriftsteller.
Der EinfluB des Blutadels sinkt, der EinfluB des Geistesadels wachst.
Diese Entwicklung. und damit das Chaos moderner Politik, wird erst dann ein Ende finden, bis
eine geistige [32]
Aristokratie die Machtmittel der Gesellschaft: Pulver, Gold, Druckerschwarze an sich reiBt und
zum Segen der Allgemeinheit verwendet.
Eine entscheidende Etappe zu diesem Ziel bildet der russische Bolschewismus, wo eine kleine
Schar kommunistischer Geistesaristokraten das Land regiert und bewuBt mit dem plutokratischen
Demokratismus bricht, der heute die iibrige Welt beherrscht.
Der Kampf zwischen Kapitalismus und Kommunismus urn das Erbe des besiegten Blutadels ist
ein Bruderkrieg des siegreichen Himadels, ein Kampf zwischen individualistischem und
sozialistischem, egoistischem und altruistischem, heidnischem und christlichem Geist. Der
Generalstab beider Parteien rekrutiert sich aus der geistigen Fiihrerrasse Europas: dem Judentum.
Kapitalismus und Kommunismus sind beide rationalistisch, beide mechanistisch, beide abstrakt,
beide urban. Der Schwertadel hat endgiiltig ausgespielt. Die Wirkung des Geistes, die Macht des
Geistes, der Glaube an den Geist, die Hoffnung auf den Geist wachst: und mit ihnen ein neuer
Adel. [33]
7. ADELSDAMMERUNG
Im Verlaufe der Neuzeit wurde der Blutadel durch die Hof - Atmosphare, der Geistesadel durch
den Kapitalismus vergiftet.
Seit dem Ende der Ritterzeit befindet sich der Hochadel des kontinentalen Europa, mit sparlichen
Ausnahmen, im Zustande progressiver Dekadenz. Durch seine Urbanisierung hat er seine
korperlichen und seelischen Vorziige verloren.
Zur Zeit des Feudalismus war der Blutadel dazu berufen, sein Land gegen Angriffe des Feindes
und tibergriffe des Herrschers zu schiitzen. Der Edelmann war frei und selbstbewuBt gegen
Untergebene, Gleichgestellte, Hohergestellte; Konig auf seinem Landbesitz, konnte er nach
ritterlichen Grundsatzen seine Personlichkeit frei entfalten.
Der Absolutismus anderte diese Situation: der oppositionelle Adel, der, frei, stolz und tapfer, auf
seine historischen Rechte bestand, wurde, soweit es ging, ausgerottet; der Rest wurde an den Hof
gezogen und dort in eine glanzende Knechtschaft gedrangt. Dieser Hofadel war unfrei, abhangig
von den Launen des Herrschers und seiner Kamarilla; so muBte er seine besten Eigen- [34]
schaften verlieren: Charakter, Freiheitsdrang, Stolz, Fiihrerschaft. Um den Charakter und damit
die Widerstandskraft des franzosischen Adels zu brechen, lockte ihn Ludwig XIV. nach
Versailles; der groBen Revolution blieb die Vollendung seines Werkes vorbehalten: sie hat dem
Adel, der seine Vorziige preisgegeben und verloren hatte, seine iiberlebten Vorrechte genommen.
Nur in jenen Landern Europas, wo der Adel, seiner ritterlichen Mission treu, Fiihrer und
Vorkampfer der nationalen Opposition gegen monarchischen Despotismus und Fremdherrschaft
blieb, erhielt sich ein adeliger Fiihrertypus: in England, Ungam, Pol en, Italien.
Seit der Wandlung der europaischen Kultur aus einer ritterlich-rustikalen in eine biirgerlich-
urbane blieb der Blutadel in geistig-kultureller Hinsicht hinter dem Biirgertum zuriick. Krieg,
Politik und die Verwaltung seiner Giiter nahmen ihn so sehr in Anspruch, daB seine geistigen
Fahigkeiten und Interessen vielfach verkiimmerten.
Diese historischen Ursachen neuzeitlicher Adelsdammerung wurden noch durch physiologische
verstarkt. An Stelle des harten, mittelalterlichen Kriegsdienstes brachte die Neuzeit dem Adel
meist arbeitsloses Wohlleben; aus dem bedrohtesten Stand wurde der Adel durch seinen
Erbreichtum allmahlich zum gesichertsten; dazu kamen noch die degenerativen Einfliisse
iibertriebener Inzucht, denen der englische Adel durch haufige Mischung mit biirgerlichem Blute
entging. Durch das Zusammenwirken dieser Umstande verfiel der physische, psychische und
geistige Typus einstigen Adels.
Der Himadel konnte den Blutadel nicht ablosen, well auch er sich in einer Krise, in einem
Verfallzustand [35]
befindet. Demokratie entstand aus Verlegenheit: nicht deshalb, well die Menschen keinen Adel
wollten, sondern deshalb, well sie keinen Adel fanden. Sobald sich ein neuer, echter Adel
konstituiert, wird Demokratie von selbst verschwinden. Weil England echten Adel besitzt, blieb
es, trotz seiner demokratischen verfassung, aristokratisch.
Der akademische Hirnadel Deutschlands, vor einem Jahrhundert Fiihrer der Opposition gegen
Absolutismus und Feudalismus, Vorkampfer moderner und freiheitlicher Ideen, ist heute zur
Hauptstiitze der Reaktion, zum Hauptgegner geistiger und politischer Emeuerung herabgesunken.
Dieser Pseudo-Geistesadel Deutschlands war im Kriege Anwalt des Militarismus, in der
Revolution Verteidiger des Kapitalismus. Seine Leitworte: Nationalismus, Militarismus,
Antisemitismus, Alkoholismus, sind zugleich die Losungsworte im Kampfe wider den Geist. Ihre
verantwortungsreiche Mission: den Feudaladel abzulosen und den Geistesadel vorzubereiten, hat
die akademische Intelligenz verkannt, verleugnet, verraten.
Auch die publizistische Intelligenz hat ihre Fiihrermission verraten. Sie, die berufen war, geistige
Fiihrerin und Lehrerin der Massen zu werden, zu erganzen und zu verbessern, was ein
riickstandiges Schulsystem versaumt und verbrochen hat - erniedrigte sich in ihrer ungeheuren
Mehrheit zur Sklavin des Kapitals, zur Verbildnerin des politischen und kiinstlerischen
Geschmackes. Ihr Charakter zerbrach unter dem Zwang, statt eigener Uberzeugungen fremde zu
vertreten und zu verteidigen - ihr Geist verflachte durch die Uberproduktion, zu der ihr Beruf sie
zwingt.
Wie der Rhetor der Antike, so steht der Journalist der [36]
Neuzeit im Zentmm der Staatsmaschine: er bewegt die Wahler, die Wahler die Abgeordneten, die
Abgeordneten die Minister. So fallt dem Joumalisten die hochste Verantwortung fiir alles
politische Geschehen zu: und gerade er, als typischer Vertreter urbaner Charakterlosigkeit, fiihlt
sich meist von jeder Verpflichtung und Verantwortung frei.
Schule und Presse sind die beiden Punkte, von denen aus die Welt sich unblutig, ohne Gewalt
erneuern und veredeln lieBe. Die Schule nahrt oder vergiftet die Seele des Kindes; die Presse
nahrt oder vergiftet die Seele des Erwachsenen. Schule und Presse sind heute beide in den
Handen einer ungeistigen Intelligenz: sie in die Hande des Geistes zuriickzulegen, ware die
hochste Aufgabe jeder idealen Politik, jeder idealen Revolution.
Die Herrscherdynastien Europas sind durch Inzucht herabgekommen; die Plutokratendynastien
durch Wohlleben. Der Blutadel verkam, well er Diener der Monarchic wurde; der Geistesadel
verkam, well er Diener des Kapitals wurde.
Beide Aristokratien hatten vergessen, daB mit jedem Vorzug, mit jeder Auszeichnung und
Ausnahmestellung Verantwortung verkniipft ist. Sie haben den Wahlspruch alles wahren Adels
verlemt: „Noblesse oblige!" Sie wollten die Friichte ihrer Vorzugsstellung genieBen, ohne deren
Pflichten zu tragen; fiihlten sich als Herren und Vorgesetzte, nicht als Fiihrer und Vorbilder ihrer
Mitmenschen. Statt dem Volke neue Ziele zu weisen, neue Wege zu bahnen, lieBen sie sich von
Herrschern und Kapitalisten zu Werkzeugen ihrer Interessen miBbrauchen: urn Wohlleben,
Ehrenstellen und Geld verkauften sie ihre Seelen, ihr Blut und ihr Him. [37]
Der alte Adel des Blutes und des Hirnes hat den Anspruch verloren, weiter noch als Aristokratie
zu gelten; denn es fehlen ihm die Zeichen alien echten Adels: Charakter, Freiheit,
Verantwortung. Die Faden, die sie mit ihren Volkern verbanden, haben sie zerschnitten: durch
Standesdiinkel auf der einen, Bildungsdiinkel auf der anderen Seite.
Es liegt im Sinne historischer Nemesis, daB die groBe Sintflut, die von RuBland ihren Ausgang
nimmt, auf blutigem oder unblutigem Wege die Welt von den Usurpatoren reinigt, die ihre
Vorzugsstellungen behaupten wollen, wahrend sie langst deren einstige Voraussetzungen
verloren haben. [38]
8. PLUTOKRATIE
Bei dem Tiefstand des Blut- und Geistesadels war es nicht zu verwundern, daB eine dritte
Menschenklasse provisorisch die Macht an sich riB: die Plutokratie. Die Verfassungsform, die
Feudalismus und Absolutismus abloste, war demokratisch; die Herrschaftsform plutokratisch.
Heute ist Demokratie Fassade der Plutokratie: weil die Volker nackte Plutokratie nicht dulden
wiirden, wird ihnen die nominelle Macht iiberlassen, wahrend die faktische Macht in den Handen
der Plutokraten ruht. In republikanischen wie in monarchischen Demokratien sind die
Staatsmanner Marionetten, die Kapitalisten Drahtzieher: sie diktieren die Richtlinien der Politik,
sie beherrschen durch Ankauf der offentlichen Meinung die Wahler, durch geschaftliche und
gesellschaftliche Beziehungen die Minister.
An die Stelle der feudalen Gesellschaftsstruktur ist die plutokratische getreten: nicht mehr die
Geburt ist maBgebend fiir die soziale Stellung, sondern das Einkommen. Die Plutokratie von
heute ist machtiger als die Aristokratie von gestern: denn niemand steht iiber ihr als der Staat, der
ihr Werkzeug und Helfershelfer ist.
Als es noch wahren Blutadel gab, war das System der [39]
Geburtsaristokratie gerechter als heute das der Geldaristokratie: denn damals hatte die
herrschende Kaste Verantwortungsgefiihl, Kultur, Tradition wahrend die Klasse, die heute
herrscht, alles Verantwortungsgefiihles, aller Kultur und Tradition bar ist. Vereinzelte
Ausnahmen andern nichts an dieser Tatsache.
Wahrend die Weltanschauung des Feudalismus heroisch-religios war, kennt die plutokratische
Gesellschaft keine hoheren Werte als Geld und Wohlleben: die Geltung eines Menschen wird
taxiert nach dem, was er hat, nicht nach dem, was er ist.
Dennoch bilden die Fiihrer der Plutokratie in gewissem Sinne eine Aristokratie, eine Auslese:
denn zur Erraffung groBer Vermogen sind eine Reihe hervorragender Eigenschaften notig:
Tatkraft, Umsicht, Klugheit, Besonnenheit, Geistesgegenwart, Initiative, Verwegenheit und
GroBziigigkeit. Durch diese Vorziige legitimieren sich die erfolgreichen GroBuntemehmer als
moderne Eroberernaturen, deren iiberlegene Willens- und Geisteskraft ihnen iiber die Masse
minderwertiger Konkurrenten den Sieg brachte.
Diese Uberlegenheit der Plutokraten gilt jedoch nur innerhalb der erwerbenden Menschenklasse -
sie verschwindet sofort, wenn jene hervorragenden Geldverdiener gemessen werden an den
hervorragenden Vertretem idealer Berufe. Es ist also gerecht, daB ein tiichtiger Industrieller oder
Kauftnann materiell und sozial hoher aufsteigt als seine untiichtigen Kollegen - ungerecht aber ist
es, dass eine gesellschaftliche Macht und Geltung hoher ist als die eines Kiinstlers, Gelehrten,
Politikers, Schriftstellers, Lehrers, Richters, Arztes, der in seinem Berufe ebenso fahig ist wie
jener, dessen Fahigkeiten jedoch ideal eren und sozial eren Zielen [40]
dienen: daB also das gegenwartige Gesellschaftssystem die egoistisch-materialistische Mentalitat
pramiert gegeniiber einer altmistisch-idealen.
In dieser Bevorzugung egoistischer Tiichtigkeit gegeniiber altmistischer, materialistischer
gegeniiber idealistischer liegt das Grundiibel der kapitalistischen Gesellschaftsstruktur; wahrend
die wahren Aristokraten des Geistes und Herzens: die Weisen und die Giitigen, in Armut und
Ohnmacht leben, usurpieren egoistische Gewaltmenschen die Fiihrerstellung, zu der jene berufen
war en.
So ist Plutokratie in energetischer und intellektueller Hinsicht Aristokratie - in ethischer und
geistiger Beziehung Pseudo-Aristokratie; innerhalb der Erwerbsklassen Aristokratie - an
idealeren Berufen gemessen Pseudo-Aristokratie.
Wie die Aristokratie des Blutes und des Geistes, so befindet sich auch die des Geldes
gegenwartig in einer Verfallsperiode. Die Sohne und Enkel jener groBen Unternehmer, deren
Wille, durch Not und Arbeit gestahlt, sie aus dem Nichts zur Macht emporgefiihrt hatte,
erschlaffen zumeist in Wohlleben und Untatigkeit. Nur selten vererbt sich die vaterliche
Tiichtigkeit oder sublimiert sich zu geistigerem und idealerem Schaffen. Den
Plutokratengeschlechtern fehlt jene Tradition und Weltanschauung, jener konservativ-rustikale
Geist, der einst die Adelsgeschlechter jahrhundertelang vor Entartung bewahrt hatte.
Schwachliche Epigonen iibernehmen das Machterbe ihrer Vater ohne die Gaben des Willens und
Verstandes, durch die es errafft worden war. Macht und Tiichtigkeit geraten in Widerspruch: und
unterhohlen so die innere Berechtigung des Kapitalismus. Die historische Entwicklung hat diesen
natiirlichen [41]
Verfall beschleunigt. Durch die Hochkonjunktur des Krieges emporgetragen beginnt eine neue
Schieber-Plutokratie die alte Unternehmer-Plutokratie zu zersetzen und zu verdrangen. Wahrend
mit der Bereicherung des Untemehmers der Volkswohl stand wachst, sinkt er mit der
Bereichemng des Schiebers. Die Unternehmer sind Fiihrer der Wirtschaft - die Schieber deren
Parasiten: Untemehmertum ist produktiver - Schiebertum unproduktiver Kapitalismus.
Die gegenwartige Hochkonjunktur erleichtert skrupellosen, hemmungslosen und gewissenlosen
Menschen den Gelderwerb. Fiir Spekulations- und Schiebergewinne sind Gliick und
Riicksichtslosigkeit unentbehrlicher als hervorragende Willens- und Verstandesgaben. So
reprasentiert die moderne Schieber-Plutokratie eher eine Kakistokratie des Charakters als eine
Aristokratie der Tiichtigkeit. Durch die zunehmende Verwischung der Grenzen zwischen
Untemehmertum und Schiebertum wird der Kapitalismus vor dem Forum des Geistes und der
Offentlichkeit kompromittiert und herabgezogen.
Keine Aristokratie kann sich ohne moralische Autoritat dauernd behaupten. Sobald die
herrschende Klasse aufhort, Symbol ethischer und asthetischer Werte zu sein, wird ihr Sturz
unaufhaltsam.
Die Plutokratie ist, an anderen Aristokratien gemessen, arm an asthetischen Werten. Sie erfiillt
die politischen Funktionen einer Aristokratie, ohne die Kulturwerte eines Adels zu bieten.
Reichtum ist aber nur im Kleide der Schonheit ertraglich, nur als trager einer asthetischen Kultur
gerechtfertigt. Indessen hiillt sich die neue Plutokratie in ode Geschmacklosigkeit und [42]
aufdringliche HaBlichkeit: ihr Reichtum wird unfmchtbar und abstoBend.
Die europaische Plutokratie vemachlassigt im Gegensatz zur amerikanischen- ihre ethische
Mission ebensosehr wie ihre asthetische: soziale Wohltater groBen Stiles sind ebenso sparlich wie
Mazene. Statt ihren Daseinszweck im Sozialen Kapitalismus zu erblicken, in der
Zusammenfassung des zersplitterten Volksvermogens zu groBziigigen Werken schopferischer
Humanitat - fiihlen sich die Plutokraten in ihrer erdriichenden Mehrheit berechtigt, ihr Wohlleben
verantwortungslos auf Massenelend aufzubauen. Statt Treuhandler der Menschheit sind sie
Ausbeuter, statt Fiihrer Irrefiihrer.
Durch diesen Mangel an asthetischer und ethischer Kultur zieht sich die Plutokratie nicht nur den
HaB, sondern auch die Verachtung der offentlichen Meinung und ihrer geistigen Fiihrer zu: da sie
es nicht verstand, Adel zu werden, muB sie fallen.
Die russische Revolution bedeutet fiir die plutokratische Geschichtsepoche den Anfang vom
Ende. Selbst wenn Lenin unterliegt, wird sein Schatten ebenso das zwanzigste Jahrhundert
beherrschen, wie die franzosische Revolution trotz ihres Zusammenbruches die Entwicklung des
neunzehnten bestimmt hat: nie hatten im kontinentalen Europa Feudalismus und Absolutismus
freiwillig abgedankt - wenn nicht aus Angst vor einer Wiederholung jakobinischen Terrors, vor
dem Ende des franzosischen Adels und Konigs. So wird es dem Damoklesschwert
bolschewistischen Terrors schneller gelingen, die Herzen der Plutokraten zu erweichen und
sozialen Forderungen zuganglich zu machen als in zwei Jahrtausenden dem Evangelium Christi.
[43]
9. BLUTADEL UND ZUKUNFTSADEL
Adel beruht auf korperlicher, seelischer, geistiger Schonheit; Schonheit auf vollendeter Harmonie
und gesteigerte Vitalitat: wer darin seine Mitwelt iiberragt, ist Aristokrat.
Der alte aristokratische Typus ist im Aussterben; der neue noch nicht konstituiert, unsere
Zwischenzeit ist bettelarm an groBen Personlichkeiten: an schonen Menschen; an edlen
Menschen; an weisen Menschen. Indessen usurpieren Epigonen des versunkenen Adels die toten
Formen einstiger Aristokratie und fiillen sie mit dem Inhalt ihrer armseligen Biirgerlichkeit. Die
Starke Lebensfiille einstigen Adels ist auf Emporkommlinge iibergegangen: doch ihnen fehlen
seine Formen, seine Vornehmheit, seine Schonheit.
Dennoch braucht die Zeit an der Idee des Adels, an der Zukunft eines Adels nicht zu verzweifeln.
Will die Menschheit vorwartsschreiten, braucht sie Fiihrer, Lehrer, Wegweiser; Erfiillungen
dessen, was sie werden will; Vorlaufer ihrer kiinftigen Erhebung in hohere Spharen. Ohne Adel
keine Evolution. Eudamonistische Politik kann demokratisch - evolutionistische Politik muB
aristokratisch sein. Urn [44]
emporzusteigen, um vorwartszuschreiten sind Ziele notig; um Ziele zu erreichen, sind Menschen
notig, die Ziele setzen, zu Zielen fiihren: Aristokraten.
Der Aristokrat als Fiihrer ist ein politischer Begriff; der Adelige als Vorbild ist ein asthetisches
Ideal. Hochste Fordemng verlangt, daB Aristokratie mit Adel, Fiihrer mit Vorbild zusammenfallt:
daB vollendeten Menschen die Fiihrerschaft zufallt.
Von der europaischen Quantitatsmenschheit, die nur an die Zahl, die Masse glaubt, heben sich
zwei Qualitatsrassen ab: Blutadel und Judentum. Voneinander geschieden, halten sie beide fest
am Glauben an ihre hohere Mission, an ihr besseres Blut, an menschliche Rangunterschiede. In
diesen beiden heterogenen Vorzugsrassen liegt der Kern des europaischen Zukunftsadels: im
feudalen Blutadel, soweit er sich nicht vom Hofe, im jiidischen Hirnadel, soweit er sich nicht
vom Kapital korrumpieren lieB. Als Biirgschaft einer besseren Zukunft bleibt ein kleiner Rest
sittlich hochstehenden Rustikaladels und eine kleine Kampfgruppe revolutionarer Intelligenz.
Hier wachst die Gemeinschaft zwischen Lenin, dem Mann aus landlichem Kleinadel, und
Trotzki, dem jiidischen Literaten, zum Symbol: hier versohnen sich die Gegensatze von
Charakter und Geist, von Junker und Literat, von rustikalem und urbanem, heidnischem und
christlichem Menschen zur schopferischen Synthese revolutionarer Aristokratie.
Ein Schritt vorwarts im Geistigen wiirde geniigen, um die besten Elemente des Blutadels, die auf
dem Lande ihre physische und moralische Gesundheit vor den depravierenden Einfliissen der
Hofluft bewahrt haben, in den Dienst der neuen Menschenbefreiung zu stellen. Denn zu dieser
Stellungnahme pradestiniert sie ihr [45]
traditioneller Mut, ihre antibiirgerliche und antikapitalistische Mentalitat, ihr
Verantwortungsgefiihl, ihre Verachtung materiellen Vorteils, ihr stoisches Willenstraining, ihre
Integritat, ihr Idealismus. In geistigere und freiere Bahnen gelenkt, konnten sich die starken
adeligen Energien, die bisher Stiitzen der Reaktion waren, zu neuer Bliite regenerieren und
Fiihrematuren zeugen, die Unbeugsamkeit des Willens mit SeelengroBe und Selbstlosigkeit
verbinden; und, statt als Exponenten des Biirgertums (das ihnen im Innersten zuwider ist)
kapitalistischen Interessen zu dienen, in eine Reihe treten mit den Vertretem des verjiingten
Geistesadels zur Befreiung und Veredelung der Menschheit.
Pohtik war in Europa durch Jahrhunderte Adelsprivileg. Der Hochadel bildete eine intemationale
politische Kaste, in der diplomatische Talente herangeziichtet wurden. Seit vielen Generationen
lebt der europaische Blutadel in einer politischen Atmosphare, von der das Biirgertum mit
Absicht ferngehalten wurde. Auf seinen Latifundien lernte der Adel die Kunst des Regierens, der
Menschenbehandlung - auf den fiihrenden Staatsposten des In- und Auslandes die Kunst der
Volkerbehandlung. Politik ist Kunst, nicht Wissenschaft; ihr Schwerpunkt liegt mehr im Instinkt
als im Verstande, mehr im UnterbewuBten als im BewuBten. Politische Begabung laBt sich
wecken und ausbilden, nie erlemen. Genie durchbricht alle Regeln: an politischen Talenten aber
ist der Adel reicher als das Biirgertum. Denn, um Kenntnisse zu erwerben, geniigt ein
Einzelleben: um Instinkte zu ziichten, bedarf es des Zusammenwirkens vieler Generationen. In
den Wissenschaften und schonen Kiinsten iiberragt das Biirgertum an Begabung den Adel: in der
Politik ist das Verhaltnis umgekehrt. Daher [46]
kommt es, daB auch die Demokratien Europas ihre AuBenpolitik vielfach Abkommlingen ihres
Hochadels anvertrauen, denn es liegt im Staatsinteresse, die Erbmasse an politischer Begabung,
die der Adel im Laufe der Jahrhunderte aufgespeichert hat, der Allgemeinheit nutzbar zu machen.
Die politischen Fahigkeiten des Hochadels sind nicht zuletzt auf seine starke Blutmischung
zuriickzufiihren. Denn diese nationale Rassenmischung weitet vielfach seinen Horizont und
paralysiert so die iiblen Folgen gleichzeitiger Kasten-Inzucht. Die groBe Mehrheit minderwertiger
Aristokraten verbindet die Nachteile der Mischung mit denen der Inzucht: Charakterlosigkeit mit
Geistesarmut; wahrend sich in den seltenen Hohepunkten modemen Hochadels die Vorziige
beider begegnen: Charakter mit Geist.
In intellektueller Hinsicht klafft heutzutage zwischen der auBersten Rechten (konservativem
Blutadel) und der auBersten Linken (revolutionarem Geistesadel) eine gewaltige Niveaudifferenz,
wahrend im Charakter diese scheinbaren Extreme sich beriihren. Es liegt aber alles Intellektuelle,
BewuBte an der Oberflache - alles Charakteristische, Unbewusste in der Tiefe der Personlichkeit.
Erkenntnisse und Meinungen sind leichter zu bilden und umzubilden als Charaktereigenschaften
und Willensrichtungen.
Lenin und Ludendorff sind in ihren politischen Idealen Antagonisten: in ihrer Willenseinstellung
Briider. Ware Ludendorff im revolutionaren Milieu russischen Studententums aufgewachsen;
hatte er, wie Lenin, in friiher Jugend die Hinrichtung seines Bruders durch kaiserliche Henker
erlebt: wir wiirden ihn, wahrscheinlich, an der Spitze des roten RuBland sehen. Wahrend [47]
Lenin, in einer preuBischen Kadettenschule groBgezogen, vielleicht ein Uber-Ludendorff
geworden ware. Was diese beiden verwandten Naturen scheidet, ist ihr geistiges Niveau. Lenins
Beschranktheit scheint heroisch-bewuBt, Ludendorffs Beschranktheit naiv-unbewuBt zu sein.
Lenin ist nicht bloB Fiihrer - er ist auch Geistiger; sozusagen ein vergeistigte Ludendorff.
Die gleiche Parallele laBt sich ziehen zwischen zwei anderen vertretem der auBersten Linken und
Rechten: Friedrich Adler und Graf Arco. Beide waren Morder aus idealismus, Martyrer ihrer
Uberzeugung. Ware Adler im militaristisch-reaktionaren Milieu deutschen Blutadels, Arco im
sozialistisch-revolutionaren Milieu osterreichischen Geistesadels aufgewachsen- so hatte,
wahrscheinlich, die Kugel Arcos den Ministerprasidenten Stiirgkh, die Kugel Adlers den
Ministerprasidenten Eisner getroffen. Denn auch sie sind Briider, getrennt durch die
verschiedenheit anerzogener Vorurteile, verbunden durch die Gemeinsamkeit heroisch-
selbstlosen Charakters. Auch hier liegt der Unterschied im geistigen Niveau (Adler ist
Geistesmensch), nicht in der Reinheit der Gesinnung. Wer den Charakter des Einen lobt, darf den
des Anderen nicht herabsetzen - wie dies von beiden Seiten taglich geschieht.
Wo potenzierte Lebenskraft ist, da ist Zukunft. Die Bliite des Bauemtums, der Landadel, hat
(soweit er sich gesund erhielt) in tausendjahriger Symbiose mit der lebendigen und
lebenspendenden Natur eine Fiille vitaler Krafte gesammelt und aufgespeichert. Gelingt es einer
modernen Erziehung, einen Teil dieser gesteigerten Lebensenergie ins Geistige zu sublimieren:
dann konnte, vielleicht, der Adel der Vergangenheit entscheidenden Anteil nehmen am Aufbau
des Adels der Zukunft. [48]
10. JUDENTUM UND ZUKUNFTSADEL
Haupttrager des kormpten wie des integren Hirnadels: des Kapitalismus, Journalismus und
Literatentums, sind Juden*. Die Uberlegenheit ihres Geistes pradestiniert sie zu einem
Hauptfaktor zukiinftigen Adels.
Ein Blick in die Geschichte des jiidischen Volkes erklart seinen Vorsprung im Kampf um die
Menschheitsfiihrung. Vor zwei Jahrtausenden war das Judentum eine Religionsgemeinschaft,
zusammengesetzt aus ethisch religios veranlagten Individuen aller Nationen des antiken
Kulturkreises, mit einem national-hebraischen Mittelpunkt in Palastina. Damals war bereits das
Gemeinsame, Verbindende und Primare nicht die Nation, sondern die Religion. Im Laufe des
ersten Jahrtausends unserer Zeitrechnung traten in diese Glaubensgemeinschaft Proselyten aus
alien Volkern ein, zuletzt Konig, Adel und Volk der mongolischen Chazaren, der Herren
SiidruBlands. Von da an erst schloB sich die jiidische Religionsgemeinschaft zu einer kiinstlichen
Volks-
* Das Folgende bezieht sich in erster Linie auf Mittel- und Osteuropa.
[49]
gemeinschaft zusammen und gegen alle iibrigen Volker ab*.
Durch unsagbare Verfolgungen versucht seit einem Jahrtausend das christliche Europa das
jiidische Volk auszurotten. Der Erfolg war, daB alle Juden, die willensschwach, skmpellos,
opportunist sch oder skeptisch waren, sich taufen lieBen, um dadurch den Qualen endloser
Verfolgung zu entgehen. Anderseits gingen unter diesen vielfach erschwerten
Lebensbedingungen alle Juden zugrunde, die nicht geschickt, klug und erfinderisch genug waren,
den Daseinskampf in dieser schwierigsten Form zu bestehen.
So ging schlieBlich aus all diesen Verfolgungen eine kleine Gemeinschaft hervor, gestahlt durch
ein heldenmiitig ertragenes Martyrium fur die Idee und gelautert von alien willensschwachen und
geistesarmen Elementen. Statt das Judentum zu vernichten, hat es Europa wider Willen durch
jenen kiinstlichen AusleseprozeB veredelt und zu einer Fiihrernation der Zukunft erzogen. Kein
Wunder also, daB dieses Volk, dem Ghetto-Kerker entsprungen, sich zu einem geistigen Adel
Europas entwickelt. So hat eine giitige Vorsehung Europa in dem Augenblick, als der Feudaladel
verfiel, durch die Judenemancipation eine neue Adelsrasse von Geistes Gnaden geschenkt.
Der erste typische Reprasentant dieses werdenden Zukunftsadel war der revolutionare Edeljude
Lassalle, der in hohem MaBe Schonheit des Korpers mit Edelmut des Charakters und Scharfe des
Geistes vereinte: Aristokrat im hochsten und wahrsten Sinne des Wortes, war er ein geborener
Fiihrer und Wegweiser seiner Zelt.
* Siehe: „Das Wesen des Antisemitismus" von Dr. Heinrich Graf Coudenhove-Kalergi (II.
Auflage, Paneuropa-Verlag, Wien).
[50]
Nicht: das Judentum ist der neue Adel; sondern: das Judentum ist der SchoB, aus dem ein neuer,
geistiger Adel Europas hervorgeht; der Kern, um den sich ein neuer, geistiger Adel gruppiert.
Eine geistig-urbane Herrenrasse ist in Bildung: Idealisten, geistvoll und feinnervig, gerecht und
iiberzeugungstreu, tapfer wie der Feudaladel in seinen besten Tagen, die Tod und Verfolgung,
HaB und Verachtung freudig auf sich nehmen, um die Menschheit sittlicher, geistiger, gliicklicher
zu machen.
Die jiidischen Helden und Martyrer der ost- und mitteleuropaischen Revolution stehen an Mut,
Ausdauer und Idealismus den nichtjiidischen Helden des Weltkrieges in nichts nach - wahrend sie
dieselben an Geist vielfach iiberragen. Das Wesen dieser Manner und Frauen, die es versuchen,
die Menschheit zu erlosen und zu regenerieren, ist eine eigentiimliche Synthese religioser und
politischer Elemente: von heroischem Martyrertum und geistiger Propaganda, revolutionarer
Tatkraft und sozialer Liebe, von Gerechtigkeit und Mitleid. Diese Wesensziige, die sie einst zu
Schopfem der christlichen Weltbewegung gemacht haben, stellen sie heute an die Spitze der
sozialistischen.
Mit diesen beiden Erlosungsversuchen geistig-sittlichen Ursprunges hat das Judentum die
enterbten Massen Europas reicher beschenkt als irgendein zweites Volk. Wie denn auch das
moderne Judentum durch seinen Prozentsatz an bedeutenden Mannem alle iibrigen Volker
iibertrifft: kaum ein Jahrhundert nach seiner Befreiung steht dieses kleine Volk heute mit Einstein
an der Spitze moderner Wissenschaft; mit Mahler an der Spitze moderner Musik; mit Bergson an
der Spitze moderner Philosophic; mit Trotzki an der Spitze [51]
moderner Politik. Die prominente Stellung, die das Judentum heutzutage innehat, verdankt es
allein seiner geistigen Uberlegenheit, die es befahigt, iiber eine ungeheuere Ubermacht
bevorzugter, gehassiger, neidischer Rivalen im geistigen Wettkampf zu siegen. Der moderne
Antisemitismus ist eine der vielen Reaktionserscheinungen des MittelmaBigen gegen das
Hervorragende; ist eine neuzeitliche Form des Ostrakismus, angewandt gegen ein ganzes Volk.
Als Volk erlebt das Judentum den ewigen Kampf der Quantitat gegen die Qualitat,
minderwertiger Gruppen gegen hoherrvertige Individuen, minderwertiger Majoritaten gegen
hoherwertige Minoritaten.
Die Hauptwurzeln des Antisemitismus sind Beschranktheit und Neid: Beschranktheid in
Religiosen oder im Wissenschaftlichen; Neid im Geistigen oder im Wirtschaftlichen.
Dadurch, daB sie aus einer internationalen Religionsgemeinschaft, nicht aus einer lokalen Rasse
hervorgegangen sind, sind die Juden das Volk der starksten Blutmischung; dadurch, daB sie sich
seit einem Jahrtausend gegen die iibrigen Volker abschlieBen, sind sie das Volk starkster Inzucht.
So vereinigen, wie beim Hochadel, die Auserwahlten unter ihnen Willensstarke mit
Geistesscharfe, wahrend ein anderer Teil der Juden die Mangel der Inzucht mit den Mangeln der
Blutmischung Verbindet: Charakterlosigkeit mit Beschranktheit. Hier fmdet sich heiligste
Selbstaufopferung neben beschranktester Selbstsucht, reinster Idealismus neben krassestem
Materialismus. Auch hier bestatigt sich die Regel: je gemischter ein Volk, desto unahnlicher sind
seine Reprasentanten untereinander, desto unmoglicher ist es, einen Einheitstypus zu
konstruieren. [52]
Wo viel Licht, da ist viel Schatten. Geniale Familien weisen einen hoheren Prozentsatz an
Irrsinnigen und Verbrechern auf als mittelmaBige; das gilt auch von Volkern. Nicht bloB die
revolutionare Geistesaristokratie von morgan - auch die plutokratische Schieber-Kakistokratie
von heute rekrutiert sich vomehmlich aus Juden: und scharft so die agitatorischen Waffen des
Antisemitismus.
Tausendjahrige Sklaverei hat den Juden, mit seltenen Ausnahmen, die Geste des Herrenmenschen
genommen. Dauernde Unterdriickung hemmt Personlichkeitsentfaltung: und nimmt damit ein
Hauptelement des asthetischen Adelsideals. An diesem Mangel leidet, physisch wie psychisch,
ein GroBteil des Judentums; dieser Mangel ist die Hauptursache, daB der europaische Instinkt
sich dagegen straubt, das Judentum als Adelsrasse anzuerkennen.
Das Ressentiment, mit dem die Unterdriickung das Judentum belastet hat, gibt ihm viel vitale
Spannung; nimmt ihm dafiir viel vornehme Harmonie. Ubertriebene Inzucht, verbunden mit der
Hyperurbanitat der Ghetto- Vergangenheit, hatte manche Ziige physischer und psychischer
Dekadenz im Gefolge. Was der Kopf der Juden gewann, hat oft ihr Korper verloren; was ihr Him
gewann, hat ihr Nervensystem verloren.
So leidet das Judentum an einer Hypertrophic des Hirnes und stellt sich so in Gegensatz zur
adeligen Forderung harmonischer Personlichkeitsentfaltung. Die korperliche und nervose
Schwache vieler geistig hervorragender Juden zeitigt einen Mangel an physischem Mut (oft in
Verbindung mit hochstem moralischen Mut) und eine Unsicherheit des Auftretens:
Eigenschaften, die [53]
heute noch mit dem ritterlichen Ideal des Adelsmenschen unvereinbar erscheinen.
So hat das geistige Herrenvolk der Juden unter Ziigen des Sklavenmenschen zu leiden, die ihm
seine historische Entwicklung aufgepragt hat: noch heute tragen viele jiidische
Fiihrerpersonlichkeiten Haltung und Geste des unfreien, unterdriickten Menschen. In ihren
Gesten sind herabgekommene Aristokraten oft adeliger als hervorragende Juden. Diese Mangel
des Judentums, durch die Entwicklung entstanden, werden durch die Entwicklung wieder
verschwinden. Die Rustikalisierung des Judentums (ein Hauptziel des Zionismus), verbunden mit
sportlicher Erziehung, wird das Judentum vom Ghetto-Rest, den es heute noch in sich tragt,
befreien. DaB dies moglich ist, beweist die Entwicklung des amerikanischen Judentums. Der
faktischen Freiheit und Macht, die das Judentum errungen hat, wird das BewuBtsein derselben,
dem BewuBtsein allmahlich Haltung und Geste des freien, machtigen Menschen folgen.
Nicht nur das Judentum wird sich in der Richtung des westlichen Adelsideals wandeln - auch das
westliche Adelsideal wird eine Wandlung erfahren, die dem Judentum auf halbem Wege
entgegenkommt. In einem friedlicheren Europa der Zukunft wird der Adel seinen kriegerischen
Charakter abstreifen und mit einem geistig - priesterlichen vertauschen. Ein pazifiziertes und
sozialisiertes Abendland wird keine Gebieter und Herrscher mehr brauchen - nur Fiihrer,
Erzieher, Vorbilder. In einem orientalischen Europa wird der Zukunftsaristokrat mehr einem
Brahmanen und Mandarin gleichen als einem Ritter. [54]
AUSBLICK
Der Adelsmensch der Zukunft wird weder feudal noch jiidisch, weder biirgerlich noch
proletarisch: er wird synthetisch sein. Die Rassen und Klassen im heutigen Sinne werden
verschwinden, die Personlichkeiten bleiben.
Erst durch Verbindung mit bestem Biirgerblut werden die entwicklungsfahigen Elemente
einstigen Feudaladels sich zu neuer Bliite emporringen; erst durch Vereinigung mit den Gipfeln
nichtjiidischen Europaertums wird das jiidische Element des Zukunftsadel zur vollen Entfaltung
gelangen. Den auserwahlten Menschen der Zukunft mag ein physisch hochgeziichteter
Rustikaladel vollendete Korper und Gesten, ein geistig hochgebildeter Urbanadel vergeistigte
Physiognomien, durchseelte Augen und Hande schenken.
Der Adel der Vergangenheit war aufgebaut auf Quantitat: der feudale auf die Zahl der Ahnen; der
plutokratische auf die Zahl der Millionen. Der Adel der Zukunft wird auf Qualitat beruhen: auf
personlichem Wert, personlicher Vollkommenheit; auf Vollendung des Leibes, der Seele, des
Geistes.
Heute, an der Schwelle eines neuen Zeitalters, tritt an die Stelle des einstigen Erbadels ein
Zufallsadel; [55]
statt Adelsrassen adelige Individuen: Menschen, deren zufallige Blutzusammensetzung sie zu
vorbildlichen Typen erhebt.
Aus diesem Zufallsadel von heute wird die neue Internationale und intersoziale Adelsrasse von
morgen hervorgehen. Alles Hervorragende an Schonheit, Kraft, Energie und Geist wird sich
erkennen und zusammenschlieBen nach den geheimen Gesetzen erotischer Attraktion. Sind erst
einmal die kiinstlichen Schranken gefallen, die Feudalismus und Kapitalismus zwischen den
Menschen errichtet haben - dann werden automatisch den bedeutendsten Mannern die schonsten
Frauen zufallen, den hervorragendsten Frauen die vollendesten Manner. Je vollkommener dann
im Physischen, Psychischen, Geistigen ein Mann sein wird - desto groBer die Zahl der Frauen,
unter denen er wird wahlen konnen. Nur den edelsten Mannern wird die Verbindung mit den
edelsten Frauen freistehen und umgekehrt - die Minderwertigen werden sich mit den
Minderwertigen zufrieden geben miissen. Dann wird die erotische Lebensform der
Minderwertigen und MittelmaBigen Freie Liebe sein, der Auserwahlten: Freie Ehe. So wird der
neue Zuchtadel der Zukunft nicht hervorgehen aus den kiinstlichen Normen menschlicher
Kastenbildung, sondern aus den gottlichen Gesetzen erotischer Eugenik.
Die natiirliche Rangordnung menschlicher Vollkommenheit wird an die Stelle der kiinstlichen
Rangordnung: des Feudalismus und Kapitalismus treten.
Der Sozialismus, der mit der Abschaffung des Adels, mit der Nivellierung der Menschheit
begann, wird in der Ziichtung des Adels, in der Differenzierung der Menschheit gipfeln. Hier, in
der sozialen Eugenik, liegt [56]
seine hochste historische Mission, die er heute noch nicht erkennt: aus ungerechter Ungleichheit
iiber Gleichheit zu gerechter Ungleichheit zu fiihren, iiber die Triimmer aller Pseudo-Aristokratie
zu echtem, neuem Adel. [57]
APOLOGIE DER TECHNIK 1922
Motto:
Ethik ist die Seele unserer Kultur ■
Technikihr Leib:
mens sana in corpore sanol
/. DAS VERLORENE PARADIES
1. DER FLUCH DER KULTUR
Die Kultur hat Europa in ein Zuchthaus verwandelt und die Mehrzahl seiner Bewohner in
Zwangsarbeiter. -
Der modeme Kulturmensch fristet ein elenderes Leben als alle Tiere der Wildnis: die einzigen
Wesen, die noch bemitleidenswerter sind, als er, sind seine Haustiere - weil sie noch unfreier
sind.
Das Dasein eines Biiffels im Urwalde, eines Kondors in den Anden, eines Haifisches im Ozean
ist unvergleichlich schoner, freier und gliicklicher als das eines europaischen Fabrikarbeiters, der,
Tag fiir Tag, Stunden und Stunden an seine Maschine gekettet, unorganische Handgriffe
verrichten muB, um nicht zu verhungern.
Auch der Mensch war einst in der Vorzeit ein gliickliches Wesen: ein gliickliches Tier. Da lebte
er in Freiheit, als Teil einer tropischen Natur, die ihn nahrte und warmte. Sein Leben bestand in
der Befriedigung seiner Triebe; er genoB es, bis ihn ein natiirlicher oder gewaltsamer Tod traf. Er
war frei; lebte in der Natur - statt im Staate; spielte - statt zu arbeiten: darum war er schon und
gliicklich. Sein Lebensmut und seine Lebens- [61]
freude waren starker als alle Schmerzen, die ihn trafen und als alle Gefahren, die ihm drohten.
Im Laufe der Jahrtausende hat der Mensch dieses kostliche, freie Dasein verloren. Der Europaer,
der sich fiir den Gipfel der Zivilisation halt, lebt in unnatiirlichen und haBlichen Stadten ein
unnatiirhches, haBliches, unfreies, ungesundes, unorganisches Leben. Mit verkiimmerten
Instinkten und geschwachter Gesundheit atmet er in diisteren Raumen verdorbene Luft; die
organisierte Gesellschaft, der Staat, raubt ihm jede Bewegungs- und Handlungsfreiheit, wahrend
ein rauhes Klima ihn zu lebenslanglicher Arbeit zwingt.
Die Freiheit, die er einst besaB, hat der Mensch verloren: und mit ihr das Gliick. -
2. ENTFALTUNG UND FREIHEIT
Alles irdischen Daseins Endziel ist Entfaltung: das Gestein will auskristallisieren, die Pflanze
wachsen und bliihen, das Tier und der Mensch sich ausleben. Die Lust, die nur Menschen und
Tieren bekannt ist, hat keinen eigenen, sondern nur symptomatischen Wert: das Tier befriedigt
nicht seine Instinkte, well es dabei Lust empfmdet - sondern es empfmdet Lust, well es seine
Instinkte befriedigt.
Entfaltung bedeutet Wachstum nach den Gesetzen des eigenen Innern: Wachstum in Freiheit.
Jeder auBere Druck und Zwang hemmt die Freiheit der Entfaltung. In einer determinierten Welt
hat Freiheit keine andere Bedeutung als: Abhangigkeit von inneren Gesetzen, wahrend Unfreiheit
heiBt: Abhangigkeit von auBeren Verhaltnissen. Der Kristall hat nicht die Freiheit, sich eine
beliebige stereometrische Gestalt zu [62]
wahlen: die Knospe hat nicht die Freiheit, sich zu einer beliebigen Bliite zu entfalten: aber die
Freiheit des Gesteines besteht darin, daB es zum Kristall, die Freiheit der Knospe, daB sie zur
Bliite wird. Das unfreie Gestein bleibt amorph oder kristallinisch - die unfreie Bliite verkiimmert.
In beiden Fallen ist der auBere Zwang starker als die innere Kraft. Das Produkt menschlicher
Freiheit ist der entfaltete Mensch; das Produkt menschlicher Unfreiheit: der verkiimmerte
Mensch.
Weil der freie Mensch sich entfalten kann, ist er schon und gliicklich. Der freie, entfaltete
Mensch ist das Ziel aller Entwicklung und das MaB aller menschlichen Werte.
Der Mensch hat seine einstige Freiheit verloren: das war sein Siindenfall. So wurde er zu einem
ungliichlichen, unvollkommenen Geschopf Alle wilden Tiere sind schon - wahrend die meisten
Menschen haBlich sind. Es gibt viel mehr vollkommene Tiger, Elephanten, Adler, Fische,
Insekten als Menschen: denn der Mensch ist, durch Verlust seiner Freiheit, verkiimmert und
verkommen.
Die Sage vom verlorenen Paradiese der Vorzeit verkiindet die Wahrheit, daB der Mensch ein
Verbannter ist aus dem Reiche der Freiheit, der MuBe und des naturgemaBen Lebens, in dem
heute noch die Fauna des Urwaldes lebt und dem, unter den heutigen Menschen, einige
Siidseeinsulaner noch am nachsten stehen.
Das verlorene Paradies ist die Zeit des menschlichen Tier-Daseins in den Tropen, da es noch
keine Stadte, keine Staaten und keine Arbeit gab. - [63]
3. UBERVOLKERUNG UND NORDWANDERUNG
Zwei Dinge haben den Menschen aus seinem Paradiese vertrieben: die Ubervolkemng und die
Wanderung in kaltere Zonen. -
Durch die Ubervolkemng hat der Mensch die Freiheit des Raumes verloren: iiberall stoBt er an
seine Mitmenschen und deren Interessen - so wurde er zum Sklaven der Gesellschaft.
Durch die Auswanderung nach Norden hat der Mensch die Freiheit der Zeit verloren: die MuBe.
Denn das rauhe Klima zwingt ihn zu unfreiwilliger Arbeit, urn sein Leben zu fristen: so wurde er
zum Sklaven der nordischen Natur.
Die Kultur hat die drei Formen der Schonheit vernichtet, die das Dasein des Naturmenschen
verklarten: Freiheit, MuBe, Natur; an deren Stelle hat sie den Staat, die Arbeit und die Stadt
gesetzt.
Der Kultureuropaer ist ein Verbannter des Siidens, ein Verbannter der Natur. -
4. GESELLSCHAFT UND KLIMA
Die beiden Zwingherm des Kultureuropaers heiBen: Gesellschaft und Klima.
Die soziale Unfreiheit erreicht ihren Hohepunkt in der modemen GroBstadt, well hier Gedrange
und Ubervolkemng am groBten sind. Da leben die Menschen nicht nur nebeneinander, sondem
iibereinander geschichtet, eingemauert in kiinstliche Steinblocke (Hauser); standig bewacht und
beargwohnt durch die [64]
Organe der Gesellschaft, miissen sie sich ungefragt einer Unzahl von Gesetzen und Vorschriften
fiigen; wenn sie gegen dieselben verstoBen, werden sie von ihren Mitmenschen jahrelang
gemartert (eingesperrt) oder ermordet (hingerichtet). - Weniger driickend als in den Stadten ist
die soziale Unfreiheit auf dem Lande, am wenigsten driickend in diinn bevolkerten Gegenden,
wie etwa Westamerika, Gronland, der Mongolei und Arabien. Dort kann sich noch der Mensch
im Raume entfalten, ohne gleich mit der Gesellschaft in Konflikt zu geraten; dort gibt es noch
Reste sozialer Freiheit.
Die klimatische Unfreiheit ist am driickendsten in den Kulturlandem des Nordens. Dort muB der
Mensch einem sonnenarmen Boden wahrend der kurzen Sommermonate die Nahrung fur das
ganze Jahr abtrotzen und sich gleichzeitig durch Beschaffung von Kleidung, Wohnung und
Heizung vor dem Winterfrost schiitzen. Straubt er sich gegen diese Zwangsarbeit, so muB er
verhungern oder erfrieren. So zwingt ihn das nordische Klima zu rastloser, aufreibender,
miihsamer Zwangsarbeit. - Mehr Freiheit gewahrt die Natur in gemaBigten Zonen, wo der
Mensch nur dem einen Zwingherm: dem Hunger, dienen muB, wahrend der zweite: der Frost,
von der Sonne bezwungen wird. Der freieste Mensch ist der tropische, well dort Friichte und
Niisse ihn auch ohne Arbeit ernahren. Nur dort gibt es noch klimatische Freiheit.
Europa ist ein iibervolkerter und nordlicher Erdstrich zugleich: deshalb ist der Europaer der
unfreieste Mensch, Sklave der Gesellschaft und der Natur.
Gesellschaft und Natur treiben einander ihre Opfer zu: der Mensch, der aus der Stadt in die
Einode flieht, [65]
um doit Schutz zu suchen vor dem Gedrange der Gesellschaft sieht sich bedroht vom
unbarmherzigen Klima, von Hunger und Frost. Der Mensch, der vor den Naturgewalten in die
Stadt flieht und dort bei seinen Mitmenschen Schutz sucht - sieht sich bedroht von der
unbarmherzigen Gesellschaft, die ihn ausbeutet und zertritt. -
5. BEFREIUNGSVERSUCHE DER MENSCHHEIT
Die Weltgeschichte setzt sich zusammen aus Befreiungsversuchen des Menschen aus dem Kerker
der Gesellschaft und dem Exil des Nordens.
Die vier Hauptwege, auf denen der Mensch versuchte, in das verlorene Paradies der Freiheit und
der MuBe heimzukehren, waren folgende:
I. Der Weg nach riickwartst (Auswanderung): zuriick zur Einsamkeit und zur Sonne. Mit diesem
Ziele wandem seit jeher Menschen und Volker aus dichtbesiedelten Erdstrichen in
diinnbesiedelte, aus kalteren in warmere Zonen. Fast alle Volkerwanderungen und ein groBer Teil
der Kriege lassen sich auf diesen urspriinglichen Drang nach Bewegungsfreiheit und Sonne
zuriickfuhren. -
II. Der Weg nach oben (Macht): hinauf aus dem Menschengedrange in die Einsamkeit, Freiheit
und MuBe der oberen Zehntausend! Dieser Ruf erscholl, als infolge der Ubervolkerung Macht
Vorbedingung der Freiheit - und infolge der klimatischen Verhaltnisse Macht Vorbedingung der
MuBe wurde. Denn nur der Machtige kann sich entfalten, ohne auf seine Mitmenschen [66]
Riicksicht nehmen zu brauchen - nur der Machtige kann sich vom Arbeitszwange befreien, indem
er andere fiir sich arbeiten laBt. In iibervolkerten Landem steht der Mensch vor der Wahl,
entweder auf die Kopfe seiner Mitmenschen zu steigen oder seinen eigenen Kopf von ihnen
treten zu lassen: Herr oder Knecht, Rauber oder Bettler zu sein. - Dieser allgemeine Drang nach
Macht war der Vater der Kriege, Revolutionen und Kampfe zwischen den Menschen.-
III. Der Weg nach innen (Ethik): weg aus dem auBeren Gedrange in die innere Einsamkeit, aus
der auBeren Arbeit in die innere Harmonie! Befreiung des Menschen durch Selbstbeherrschung,
Seibstbeschrankung und Selbstlosigkeit; Bediirfnislosigkeit als Schutz vor Bediirftigkeit;
zuriickschrauben der Anspriiche auf MuBe und Freiheit, bis sie jenen Minimum entsprechen, das
eine iibervolkerte Gesellschaft und ein rauhes Klima bieten. - Auf diesen Drang, Ersatz fur die
auBere Unfreiheit und Arbeit in der Freiheit und Seelenruhe des Herzens zu suchen, gehen alle
religiosen Bewegungen zuriick. -
IV. Der Weg nach vorwarts (Technik): heraus aus der Epoche der Sklavenarbeit ein neues
Zeitalter der Freiheit und MuBe durch den Sieg des Menschengeistes iiber die Naturkrafte!
Uberwindung der Uberbevolkerung durch Produktionssteigerung, der menschlichen
Sklavenarbeit durch Versklavung der Naturkrafte. - Auf dieses Streben, durch Bezwingung der
Natur ihre Gewaltherrschaft zu brechen, ist der technische und wissenschaftliche Fortschritt
zuriickzufuhren. - [67]
//. ETHIK UND TECHNIK
1 . DIE SOZIALE FRAGE
Die Schicksalsfrage der europaischen Kultur lautet: „Wie ist es moglich, eine auf den engen
Raum eines kalten und kargen Erdteiles zusammengedrangte Menschheit vor Hunger, Kalte,
Totschlag und Uberanstrengung zu schiitzen und ihr die Freiheit und MuBe zu geben, durch die
sie einst zu Gliick und Schonheit gelangen kann?"
Die Antwort lautet: "Durch Entwicklung der Ethik und der Technik". -
Die Ethik kann den Europaer durch Schule, Presse und Religion aus einem Raubtier in ein
Haustier verwandeln und ihn dadurch reif zur freien Gemeinschaft machen - die Technik kann
durch Steigerung der Produktion und Umwandlung der menschlichen Zwangsarbeit in
Maschinenarbeit dem Europaer die freie Zeit und Arbeitskraft schenken, die er zum Ausbau einer
Kultur braucht.
Ethik lost die soziale Frage von innen - Technik von auBen. -
In Europa haben nur zwei Menschenklassen die Voraussetzungen zum Gliick: die Reichen, die
alles tun und haben konnen, was sie wollen - und die Heiligen, [68]
die nicht mehr tun und haben wollen, als ihnen ihr Schicksal gewahrt. Die Reichen erobem sich
ein objektive Freiheit durch ihre Macht, Mitmenschen und Naturkrafte in Organe ihres Wollens
zu verwandeln - die Heiligen erobern sich eine subjektive Freiheit durch die Gleichgiiltigkeit, mit
der sie irdischen Giitern gegeniiberstehen. Der Reiche kann sich nach auBen entfalten - der
Heilige nach innen.
Alle iibrigen Europaer sind Sklaven der Natur und der Gesellschaft: Zwangsarbeiter und
Gefangene. -
2. UNZULANGLICHKEIT DER POLITIK
Es ist das Ideal der Ethik, aus Europa eine Gemeinschaft von Heiligen zu machen; es ist das Ideal
der Technik, aus Europa eine Gemeinschaft von Reichen zu machen. Die Ethik will die
Begehrlichkeit abschaffen, damit die Menschen sich nicht mehr arm fiihlen - die Technik will die
Not abschaffen, damit die Menschen nicht mehr arm sind.
Die Politik ist weder in der Lage, die Menschen zufrieden zu machen, noch reich. Deshalb
miissen ihre eigenmachtigen Versuche, die soziale Frage zu losen, scheitern. Nur im Dienste der
Ethik und Technik kann Politik an der Losung der sozialen Frage mitwirken.
Bei dem heutigen Stande der Ethik und Technik ware das hochste, was Politik erreichen konnte,
die Verallgemeinerung der Unfreiheit, Armut und Zwangsarbeit. Sie konnte diese Ubel nur
ausgleichen, nicht aufheben; konnte aus Europa ein Zuchthaus gleichberechtigter Zwangsarbeiter
machen - aber kein [69]
Paradies. Der Staatsbiirger des sozialen Idealstaates ware unfreier und geplagter als der
Siidseeinsulaner im Naturzustande: die Kulturgeschichte wiirde zur Geschichte eines
verhangnisvollen Betruges am Menschen. -
3. STAAT UND ARBEIT
Solange die Ethik zu schwach ist, um den Menschen vor seinen Mitmenschen zu schiitzen, und
die Technik zu unentwickelt, um deren Arbeitslast auf die Naturkrafte zu iiberwalzen, - sucht die
Menschheit die Schaden der Ubervolkerung durch den Staat abzuwehren, die Gefahren des
Klimas durch die Arbeit.
Der Staat schiitzt den Menschen vor der Willkiir der Mitmenschen - die Arbeit vor der Willkiir
der Naturgewalten.
Der organisierte Zwangsstaat gewahrt unter gewissen Bedingungen dem Menschen, der auf seine
Freiheit verzichtet, den Schutz der Person und des Eigentums gegen die Mord- und Raubgeliiste
seiner Mitmenschen - die organisierte Zwangsarbeit gewahrt in nordlichen Gegenden dem
Menschen, der auf seine Zeit und Arbeitskraft verzichtet, Schutz vor dem Verhungern und
Erfrieren. -
Diese beiden Institutionen begnadigen den Europaer, der von Natur aus als iiberzahlig dem Tode
verfallen ware, zu lebenslanglicher Zwangsarbeit; um sein Leben zu fristen, muB er seine Freiheit
hingeben. Als Staatsbiirger ist er eingesperrt in den engen Kafig seiner Rechte und Pflichten - als
Zwangsarbeiter ist er eingespannt in das harte Joch seiner Arbeitsleistung. Lehnt [70]
er sich gegen den Staat auf - so droht ihm der Galgen; lehnt er sich gegen die Arbeit auf - so
droht ihm der Hunsertod. -
4. ANARCHIE UND MUSSE
Staat und Arbeit geben beide vor, Ideale zu sein; sie verlangen von ihren Opfern Ehrfurcht und
Liebe. Sie sind aber keine Ideale: sie sind schwer zu ertragende soziale und klimatische
Notwendigkeiten.
Seit es Staaten gibt, traumt die Sehnsucht des Menschen von Anarchie, vom idealen Zustande der
Staatslosigkeit - seit es Arbeit gibt, traumt die Sehnsucht des Menschen von MuBe, vom
Idealzustand der freien Zeit.
Anarchie und MuBe sind Ideale - nicht Staat und Arbeit.
Anarchie ist in einer dichtbevolkerten Gesellschaft, die nicht auf hoher ethischer Stufe steht,
undurchfiihrbar. Ihre Verwirklichung miiBte den letzten Rest an Freiheit und Lebensmoglichkeit,
den der Staat seinen Biirgern reserviert, vemichten. In der allgemeinen Panik kollidierender
Egoismen wiirden die Menschen einander erdriicken. Statt zur Freiheit miiBte Anarchie zur
argsten Unfreiheit fiihren.
Bei allgemeiner MuBe miiBten in einem nordlichen Weltteil innerhalb Monate die Mehrzahl der
Menschen verhungern oder erfrieren. Not und Elend wiirden ihren Gipfel erreichen. -
Einsiedler-Anarchien herrschen in Wiisten und Schneefeldern unter Eskimos und Beduinen;
MuBe herrscht in diinnbevolkerten und fruchtbaren Siidlandern. - [71]
5. UBERWINDUNG VON STAAT UND ARBEIT
Zwangsstaat und Zwangsarbeit, die beiden Beschiitzer und Zwingherrn des Kulturmenschen,
konnen durch keine politische Revolution beseitigt werden; nur durch Ethik und Technik. Bevor
nicht Ethik den Zwangsstaat iiberwunden hat, bedeutet Anarchie allgemeinen Mord und Raub -
bevor nicht Technik die Zwangsarbeit iiberwunden hat, bedeutet MuBe allgemeinen Hunger- und
Kaltetod.
Nur durch Ethik kann sich der Bewohner iibervolkerter Lander aus der Tyrannei der Gesellschaft
erlosen, nur durch Technik kann sich der Bewohner kalterer Zonen aus der Tyrannei der
Naturgewalten erlosen.
Die Mission des Staates ist, durch Forderung der Ethik sich selbst iiberflussig zu machen und
schlieBlich zur Anarchie zu fiihren - die Mission der Arbeit ist, durch Forderung der Technik sich
selbst iiberfliissig zu machen und schlieBlich zur MuBe zu fiihren.
Nicht die freiwillige Menschengemeinschaft ist Fluch - sondem nur der Zwangsstaat; nicht die
freiwillige Arbeit ist Fluch - sondem nur die Zwangsarbeit. Nicht Ziigellosigkeit ist Ideal sondern
Freiheit: nicht MiiBiggang ist Ideal - sondern MuBe.
Zwangsstaat und Zwangsarbeit sind Dinge, die iiberwunden werden miissen:
aber sie konnen nicht iiberwunden werden durch Anarchie und MuBe, bevor nicht Ethik und
Technik ausgereift sind; um dahin zu gelangen, muB der Mensch den Zwangsstaat ausbauen, um
die Ethik zu fordern - die Zwangsarbeit ausbauen, um die Technik zu fordern. [72]
Der Weg zur ethischen Anarchic fiihrt iibcr Staatszwang, dcr Wcg zu tcchnischcn MuBc fiihrt
iibcr Arbcitszwang.
Die Kurve der Kulturspirale, die aus dem Paradiese der Vergangenheit in das Paradies der
Zukunft fiihrt, nimmt folgenden Doppellauf:
Naturanarchie - Ubervolkerung - Zwangsstaat - Ethik - Kulturanarchie; NaturmuBe -
Nordwanderung - Zwangsarbeit - Technik - KulturmuBe.
Wir befinden uns heute in der Mitte dieser Kurven, von beiden Paradiesen weit entfernt: daher
unser Elend. Der moderne Durchschnittseuropaer ist nicht mehr Naturmensch - aber noch nicht
Kulturmensch; nicht mehr Tier - aber noch nicht Mensch; nicht mehr Teil der Natur - aber noch
nicht Herr der Natur. -
6. ETHIK UND TECHNIK
Ethik und Technik sind Schwestern: Ethik beherrscht die Naturkrafte in uns, Technik beherrscht
die Naturkrafte um uns. Beide suchen die Natur zu bezwingen durch gestaltenden Geist.
Ethik sucht durch heroische Vemeinung den Menschen zu erlosen: durch Resignation - Technik
durch heroische Bejahung: durch Tat.
Ethik kehrt den Machtwillen des Geistes nach innen: sie will den Mikrokosmos erobem. -
Technik kehrt den Machtwillen des Geistes nach auBen: sie will den Makrokosmos erobem.
Weder Ethik noch Technik allein kann den nordischen Menschen erlosen: denn eine darbende
und frierende Menschheit kann durch Ethik weder gesattigt [73]
noch erwarmt werden, eine bose und begehrliche Menschheit durch Technik weder vor sich
selbst geschiitzt noch befriedigt werden.
Was niitzt den Menschen alle Sittlichkeit, wenn sie dabei verhungem und erfrieren? Und was
niitzt den Menschen aller technische Fortschritt, wenn sie ihn dazu miBbrauchen, einander zu
schlachten und zu verstiimmeln?
Kultur-Asien leidet mehr an Ubervolkerung als an Frost: es konnte daher leichter auf Technik
verzichten und sich seiner ethischen Entwicklung hingeben als Europa, wo Ethik und Technik
einander erganzen miissen. - [74]
///. ASIEN UND EUROPA
1. ASIEN UND EUROPA
Asiens GroBe liegt in seiner Ethik - Europas GroBe in seiner Technik.
Asien ist der Lehrmeister der Welt in der Selbstbeherrschung. -
Europa ist der Lehrmeister der Welt in der Naturbeherrschung. In Asien lag der Schwerpunkt der
sozialen Frage in Ubervolkerung - in Europa im Klima.
Asien muBte vor allem versuchen, ein friedliches Zusammenleben zwischen einer Uberzahl von
Menschen zu ermoglichen: das konnte es nur durch Erziehung des Menschen zur Selbstlosigkeit
und Selbstbeherrschung, durch Ethik.
Europa muBte vor allem versuchen, die Schrecken des Hungers und der Kalte zu bannen, die
seine Bewohner standig bedrohten: das konnte es nur durch Arbeit und Erfmdung, durch
Technik. -
Es gibt zwei Grundwerte des Lebens: Harmonic und Energie; auf sie sind alle iibrigen Werte
zuriickzufiihren.
Asiens GroBe und Schonheit beruht auf Harmonic. [75]
Europas GroBe und Schonheit bemht auf Energie; Asien lebt im Raume: sein Geist ist
beschaulich, in sich gekehrt, ruhig und geschlossen; es ist weiblich, pflanzenhaft, statisch,
apollinisch, klassisch, idyllisch -
Europa lebt in der Zeit: sein Geist ist tatig, nach auBen gerichtet, bewegt und zielstrebig; es ist
mannlich, tierhaft, dynamisch, dionysisch, romantisch, heroisch.
Asiens Symbol ist das allumfassende Meer, der Kreis -
Europas Symbol ist der vorwartsstrebende Strom, die Gerade. Hier enthiillt sich der tiefste Sinn
des kosmischen Symboles Alpha und Omega. In der Zeichensprache vermittelt es uns jene
mystische, immer wiederkehrende Polaritat von Kraft und Form, von Zeit und Raum, von
Mensch und Kosmos, die sich hinter der Seele Europas und Asiens verbirgt:
das groBe Omega, der Kreis. dessen weites Tor dem Kosmos zu offensteht - ist ein Sinnbild der
gottlichen Harmonie Asiens;
das groBe Alpha, ein nach oben weisender spitzer Winkel, der das Omega durchstoBt - ist ein
Sinnbild der menschlichen Aktivitat und Zielstrebigkeit Europas, die mit der ewigen Ruhe Asiens
bricht. A und Q sind auch im Freudschen Sinne unverkennbare Symbole des mannlichen und des
weiblichen Geschlechtes: die Vereinigung dieser Zeichen bedeutet Zeugung und Leben und
offenbart den ewigen Dualismus der Welt. Die gleiche Symbolik liegt wahrscheinlich auch den
Ziffem 1 und zugrunde: das endliche Eins als Protest gegen die unendliche Null - Ja gegen
Nein. - [76]
2. KULTUR UND KLIMA
Die Seele Asians und Europas ist hervorgegangen aus dem asiatischen und europaischen Klima.
Asians Kulturzentren liegen in warmen - Europas Kulturzentren in kalten Gegenden. Das ergab
ihre gegensatzliche Einstellung zur Natur: wahrend sich der Siidlander als Kind und Freund
seiner freigebig spendenden Natur fiihlen darf - ist der Nordlander gezwungen, in hartem Kampfe
alles, was er zum Leben braucht, einem geizigen Boden abzuringen; so steht er vor der Wahl:
entweder Herr oder Knecht der Natur zu werden - auf jeden Fall aber ihr Gegner.
Im Siiden war die Auseinandersetzung zwischen Mensch und Natur friedlich-harmonisch - im
Norden war sie kriegerisch-heroisch.
Europas Dynamik erklart sich dadurch, daB es das nordliche Kulturzentrum der Erde ist. Seit
zehntausenden von Jahren stellen Kalte und Kargheit des Bodens den Europaer vor die Wahl:
„Arbeite oder stirb!" Wer nicht arbeiten wollte oder konnte, musste verhungern oder erfrieren.
Durch viele Geschlechter rottete der nordische Winter systematisch die schwachen, passiven,
tragen und beschaulichen Europaer aus und ziichtete so einen harten tatigen, heroischen
Menschenschlag.
Seit prahistorischer Zeit ringt die weiBe, langer noch die blonde Menschheit mit dem Winter, der
sie gebleicht, zugleich aber gestahlt hat. Dieser vorzeitlichen Abhartung hat es der Europaer zu
verdanken, daB er seine Gesundheit und Tatkraft durch all seine Kultursiinden hindurch bis heute
bewahrt hat. [77]
Der weiBe Mensch ist ein Sohn des Winters, der Sonnenferne: um die Kalte zu iiberwinden,
muBte er Muskeln und Geist zu Hochstleistungen anspannen und selber neue Sonnen schaffen;
muBte die ewig feindliche Natur iiberwinden, umschaffen, unterwerfen.
Unter diesem Zwang, zwischen Tat und Tod zu wahlen, entstand am Nordrande jeder Kultur ihr
starkster, heroischster Typus: in Europa der Germane (Nor[d]-manne), in Asien der Japaner, in
Amerika der Azteke. -
Die Hitze zwingt den Menschen, seine Aktivitat auf ein Minimum zu beschranken - die Kalte
zwingt ihn, seine Aktivitat auf ein Maximum zu steigern.
Stets hat der aktive, heroische Mensch des Nordens den passiven, harmonischen Siiden besiegt
und erobert: dafiir hat dann der kultiviertere Siiden den barbarischen Nordmenschen assimihert
und zivilisiert - bis er schheBhch selbst durch einen neuen Norden erobert, barbarisiert und
regeneriert wurde.
Die meisten kriegerischen Eroberungen in der Geschichte gehen von Nordvolkem aus und
richten sich gegen den Siiden - die meisten geistig - religiosen Storungen gehen von den
Siidvolkem aus und wenden sich gegen Norden.
Europa ist religios von Juden, - militarisch von Germanen erobrert worden: in Asien siegten die
Religionen Indiens und Arabiens: - wahrend dessen politische Vormacht Japan ist.
Die aktiven Volker warmerer Zonen (Araber. Tiirken, Tartaren, Mongolen) stammen aus Wiisten
oder Steppen: hier war an Stelle des nordischen Winters die Diirre des Bodens ihr Zuchtmeister:
aber auch hier vollzog sich [78]
zwangslaufig der Sieg des heroischen Menschen iiber den idyllischen, des aktiven iiber den
passiven, des hungrigen iiber den satten. -
3. DIE DREI RELIGIONEN
Indiens Hitze, die jede Tatigkeit lahmt, schuf dessen beschauliche Mentalitat;
Europas Kalte, die zur Tatigkeit zwingt, schuf dessen aktive Mentalitat;
Chinas mittlere Temperatur, die einen harmonischen Wechsel von Tatigkeit und Beschaulichkeit
verlangt, schuf dessen harmonische Mentalitat.
Diese drei Temperaturen haben drei religiose Grundtypen gezeugt den beschaulichen, heroischen
und harmonischen Typus.
Die heroische Religion und Ethik des Nordens kommt zum Ausdruck in der Edda sowie in der
Weltanschauung des europaischen und japanischen Rittertums, und erlebt ihre Auferstehung in
der Lehre Nietzsches. Ihre hochsten Tugenden sind Tapferkeit und Tatkraft, ihr Ideal ist der
Kampf und der Held: Siegfried. Die beschauliche Religion und Ethik des Siidens findet ihre
Vollendung im Buddhismus. Ihre hochsten Tugenden sind Entsagung und Milde, ihr Ideal ist der
Friede und der Heilige: Buddha.
Die harmonische Religion und Ethik der Mitte entfaltete sich im Westen in Hellas, im Osten in
China. Sie fordert weder die Askese des Kampfes noch der Entsagung. Sie ist optimistisch und
diesseitig; ihr Ideal ist der edle Mensch: der Weise Konfuzius, der Kiinstler [79]
Apollon. Das griechische Ideal des apollinischen Menschen steht in der Mitte zwischen dem
germanischen Helden Siegfried und dem indischen Heiligen Buddha. -
Alle religiosen und ethischen Gebilde sind Kombinationen aus diesen drei Grundtypen. Jede
Religion, die sich ausbreitet, muB sich diesen klimatischen Forderungen anpassen. So nahert sich
das orientalische Christentum der Siidreligion, das katholische der Mittelreligion, das
protestantische der Nordreligion. Das gleiche gilt vom Buddhismus in Ceylon, China und Japan. -
Das Christentum hat unserer Kultur die asiatischen Werte des Siidens iibermittelt; die
Renaissance hat uns die antiken Werte der Mitte iibermittelt:
das Rittertum hat uns die germanischen Werte des Nordens iibermittelt. -
4. HARMONIE UND KRAFT
Europas Kulturwerte sind gemischt - sein Geist vorwiegend nordisch.
An Giite und Weisheit ist der Orientale dem Europaer iiberlegen - an Tatkraft und Klugheit steht
er ihm nach.
Die europaische Ehre ist ein heroischer Wert - die orientalische Wiirde ein harmonischer.
Dauernder Kampf hartet, dauernder Friede mildert das Herz. Darum ist der Orientale milder und
sanfter als der Europaer. Dazu kommt, daB die soziale Vergangenheit der Inder, Chinesen,
Japaner und Juden um ein vielfaches alter ist als die der Germanen, die noch vor 2000 Jahren in
Anarchic lebten: so konnten die Asiaten ihre sozialen Tugenden besser und langer entwickeln als
die Europaer. [80]
Der Giite des Herzens entspricht die Weisheit des Geistes. Weisheit bemht auf Harmonie -
Klugheit auf Scharfe des Geistes.
Auch Weisheit ist eine Frucht des reiferen Siidens, die im Norden selten ist. Selbst die
Philosophen Europas sind selten weise, seine Ethiker selten giitig. Noch die antike Kultur war
reicher an weisen Mannem, deren Gesamtpersonlichkeit den Stempel geklarter Geistigkeit trug -
wahrend dieser Typus im modernen Europa (unter Christen) beinahe ausgestorben ist. Auch das
hangt mit der kulturellen Jugend der Germanen zusammen und mit der Leidenschaftlichkeit des
europaischen Geistes. Dazu kommt, daB im christlichen Mittelalter die Kloster mitten in einer
kriegerischen und tatigen Welt die einzigen Asyle waren fiir beschauliche Weisheit: dorthin
zogen sich die Weisen zuriick und starben, als Opfer des Keuschheitsgeliibdes, aus.
Die europaischen Christusbilder blicken ernst und traurig wahrend die Buddhastatuen lacheln.
Die Denker Europas sind tiefernst - wahrend die Weisen Asiens lacheln: denn sie leben in
Harmonie mit sich, der Gesellschaft und der Natur, nicht im Kampfe; beginnen jede Reform an
sich, statt an anderen und wirken so mehr durch ihr Beispiel als durch Biicher. Jenseits des
Denkens fmden sie ihre Kindlichkeit wieder - wahrend Europas Denker friih vergreisen.
Und dennoch ist Europa auf seine Art ebenso groB wie Asien: aber seine GroBe liegt weder in der
Giite noch in der Weisheit - sondern in der Tatkraft und im Erfmdergeist.
Europa ist der Held der Erde; auf jeder Kampffront der Menschheit steht es an der Spitze der
Volker: in Jagd, Krieg und Technik hat der Euro- [81]
paer mehr geleistet als irgendein historisches Kulturvolk vor oder neben ihm. Er hat fast alle
gefahrlichen Tiere in seinen Landem ausgerottet; hat fast alle dunkelfarbigen Volker besiegt und
unterworfen, und schlieBlich durch Erfindung und Arbeit, durch Wissenschaft und Technik eine
solche Macht iiber die Natur errungen, wie nie und nirgends zuvor fiir moglich gehalten wurde.
Asiens Weltmission ist die Erlosung der Menschheit durch Ethik - Europas Weltmission ist die
Befreiung der Menschheit durch Technik.
Europas Symbol ist nicht der Weise, nicht der Heilige, nicht der Martyrer - sondern der Held, der
Kampfer, Sieger und Befreier. - [82]
IV. EUROPAS TECHNISCHE WELTMISSION
1. DER EUROPAISCHE GEIST
Mit der Neuzeit beginnt die groBe Kulturmission Europas.
Das Wesen Europas ist der Wille, die Welt durch Taten zu verandem und zu erbessern. Europa
strebt bewuBt aus der Gegenwart in die Zukunft; es befindet sich im Zustande standiger
Emanzipation, Reformation, Revolution; es ist neuerungssiichtig, skeptisch, pietatlos und ringt
mit seinen Gewohnheiten und Traditionen.
In der jiidischen Mythologie entspricht der europaische Geist Luzifer - in der griechischen
Prometheus: dem Lichtbringer, der den gottlichen Funken zur Erde tragt, der sich auflehnt gegen
die himmlisch-asiatische Harmonie, gegen die gottliche Weltordnung, der Fiirst dieser Erde, der
Vater des Kampfes, der Technik, der Aufklarung und des Fortschrittes, der Fiihrer des Menschen
in seinem Ringen gegen die Natur.
Der Geist Europas hat den politischen Despotismus gebrochen, und die Gewaltherrschaft der
Naturkrafte. Der Europaer ergibt sich nicht in sein Schicksal, sondern sucht es durch Tat und
Geist zu meistern: als Aktivist und als Rationalist. [83]
2. HELLAS ALS VOR - EUROPA
Hellas war der Vorlaufer Europas; es empfand zuerst den Wesensunterschied zwischen sich und
Asien und entdeckte seine aktivistisch-rationalistische Seele. Sein Olymp war nicht ein Paradies
des Friedens - sondern eine Statte des Kampfes; sein hochster Gott war ein pietatloser Rebell.
Hellas stiirzte seine Konige und Gotter - und setzte an deren Stelle den Staat des Burgers und die
Religion des Menschen.
Diese europaische Periode Griechenlands begann mit dem Sturze der Tyrannen und schloB mit
der asiatischen Despotie Alexanders und der Diadochen; fand eine kurze Fortsetzung im
republikanischen Rom urn sich dann endgiiltig an das romische Kaiserreich zu verlieren.
Alexander der GroBe, die hellenistischen Konige und romischen Kaiser waren Erben der
asiatischen Idee des GroBkonigtums. Das romische Kaiserreich unterschied sich in keiner
wesentlichen Hinsicht von den orientalischen Despotien Chinas, Mesopotamiens, Indiens und
Persiens. -
Im Mittelalter war Europa eine geistige Kulturprovinz Asiens. Es war beherrscht von der
asiatischen Religion Christi. Asiatisch war seine religiose Kultur, seine mystische
Grundstimmung, seine monarchische Staatsform und der Dualismus von Papsten und Kaisern,
Monchen und Rittem.
Erst mit der Emanzipation Europas vom Christentum, die mit Renaissance und Reformation
begann, in der Aufklarung ihre Fortsetzung und in Nietzsche ihren Hohepunkt fand - kam Europa
wieder zu sich und trennte sich geistig von Asien. - [84]
Die europaische Kultur ist die Kultur der Neuzeit.
3. DIE TECHNISCHEN GRUNDLAGEN EUROPAS
Die Welt Philipps II. bedeutet in keiner wesentlichen Hinsicht einen Kulturfortschritt gegen iiber
der Welt Hammurabi s: Weder in der Kunst, noch in der Wissenschaft, noch in der Politik, noch
in der Justiz, noch in der Verwaltung. In den dreieinhalb Jahrhunderten, die zwischen uns und
Philipp liegen, hat sich die Welt griindlicher geandert als in den vorhergehenden dreieinhalb
Jahrtausenden.
Es war die Technik, die Europa aus seinem asiatischen Dornroschenschlaf des Mi ttel alters
weckte. Sie hat Rittertum und Feudalismus durch die Erfmdung der Feuerwaffe - Papsttum und
Aberglauben durch Erfmdung des Buchdruckes besiegt; durch KompaB und Schiffstechnik hat
sie dem Europaer die fremden Weltteile erschlossen, die sie dann, mit Hilfe des Pulvers, erobert
hat.
Der Fortschritt der modemen Wissenschaften ist von der Entwicklung der Technik nicht zu
trennen: ohne Teleskop gabe es keine moderne Astronomic, ohne Mikroskop keine Bakteriologie.
Auch die moderne Kunst steht in engstem Zusammenhange mit der Technik: die moderne
Instrumentalmusik, die moderne Architektur, das moderne Theater ruhen teilweise auf
technischer Grundlage. Die Wirkung der Photographic auf die Portratmalerei wird sich ebenfalls
verstarken: denn, da die Photographic in der [85]
Reproduktion der Gesichtsformen uniibertrefflich ist, wird sie die Malerei zwingen, sich auf ihr
eigenstes Feld zuriickzuziehen und das Wesen, die Seele des Menschen festzuhalten. - Eine
ahnliche Wirkung wie die Photographie auf die Malerei konnte die Kinematographie auf das
Theater ausiiben.
Die modeme Strategie hat sich unter dem EinfluB der Technik griindlich geandert. Aus einer
psychologischen Wissenschaft ist Kriegskunst vorwiegend zu einer technischen geworden. Die
heutigen Kriegsmethoden unterscheiden sich von den mittelalterlichen wesentlicher als diese von
der Kampfesweise der Naturvolker.
Die ganze Politik der Gegenwart steht im Zeichen der technischen Entwicklung: Demokratie,
Nationalismus und Volksbildung lassen sich auf die Erfindung des Buchdruckes zuriickfuhren:
Industrialismus und kolonialer Imperialismus. Kapitalismus und Sozialismus sind
Folgeerscheinungen des technischen Vortschrittes und der durch ihn bedingten Umstellung der
Weltwirtschaft. Wie der Ackerbau eine patriarchalische, das Handwerk eine individualistische
Mentalitat schafft - so schafft die gemeinsame, organisierte Industiearbeit die soziahstische
Mentahtat: die technische Organisation der Arbeit spiegelt sich wieder in der sozialistischen
organisation der Arbeiter.
Endlich hat der technische Fortschritt den Europaer selbst verandert: er ist hastiger, nervoser,
unbestandiger, wacher, geistesgegenwartiger, rationahstischer, tatiger, praktischer und kliiger
geworden.
Streichen wir all diese Folgeerscheinungen der Technik von unserer Kultur ab, so steht das, was
iibrig bleibt, in keiner Hinsicht hoher als die alt-agyptische und altbabylonische Kultur - in
mancher Hinsicht sogar tiefer. [86]
Der Technik also verdankt Europa seinen Vorsprung vor alien anderen Kulturen. Erst durch sie
wurde es zum Herrn und Fiihrer der Welt.
Europa ist eine Funktion der Technik. Amerika ist die hochste Steigerung Europas.-
4. TECHNISCHE WELTWENDE
Das technische Zeitalter Europas ist ein weltgeschichtliches Ereignis, dessen Bedeutung mit der
Erfindung der Feuerung in der menschlichen Urzeit zu vergleichen ist. Mit der Erfindung des
Feuers begann die Geschichte der menschlichen Kultur, begann die Menschwerdung des
Tiermenschen. Alle folgenden geistigen und materiellen Fortschritte der Menschheit bauen sich
auf diese Entdeckung des Ur-Europaers Prometheus auf.
Die Technik bezeichnet einen ahnlichen Wendepunkt in der Menschheitsgeschichte wie das
Feuer. In Zehntausenden von Jahren wird die Geschichte eingeteilt werden in eine vor -
technische die und in eine nach - technische Epoche. Der Europaer, - der bis dahin langst
ausgestorben sein wird - wird von jener kiinftigen Menschheit als Vater der technischen
Weltwende wie ein Erloser gepriesen werden.
Die Wirkungsmoglichkeiten des technischen Zeitalters, an dessen Beginn wir stehen, sind
uniibersehbar. Es schafft die materiellen Grundlagen fiir alle kommenden Kulturen, die sich
durch ihre veranderte Basis wesentlich von alien bisherigen unterscheiden werden.
Alle bisherigen Kulturen, von der altagyptischen und chinesischen bis zu der des Mittelalters,
waren einander in ihrem Ablauf und in ihrer Entfaltung so ahnlich, well [87]
sie auf den gleichen technischen Voraussetzungen ruhten. Von der agyptischen Friihzeit bis zum
Ausgange des Mi ttel alters hat die Technik keinen wesentlichen Fortschritt zu verzeichnen.
Die Kultur, die aus dem technischen Zeitalter hervorgehen wird, wird ebenso hoch iiber der
antiken und mittelalterhchen stehen - wie diese iiber den Kulturen der Steinzeit. -
5. EUROPAALS KULTURTANGENTE
Europa ist kein Kulturkreis - es ist eine Kulturtangente: die Tangente zum groBen Kreislaufe der
orientalischen Kulturen, die entstanden, bliihten und vergingen, urn an anderer Stelle verjiingt
wieder aufzuerstehen.
Diesen Kulturkreislauf hat Europa gesprengt und in dessen Bahn eine Richtung getragen, die
unbekannten Lebensformen entgegenfiihrt.
Innerhalb der orientalischen Kulturen des Ostens und des Westens war alles schon dagewesen:
die technische Kultur Europas aber ist etwas Niedagewesenes, etwas wahrhaft Neues.
Europa ist ein Ubergang zwischen dem in sich geschlossenen Komplex aller bisherigen
historischen Kulturen und den Kulturformen der Zukunft.
Ein Zeitalter, das dem europaischen an Bedeutung und Dynamik vergleichbar ist, dessen Spuren
wir aber verloren haben, muB der altbabvlonischen, altchinesischen und altagyptischen Kultur
vorausgegangen sein. Diese prahistorische Vor - Europa hat das [88]
Fundament geschaffen fiir alle Kulturen der letzten Jahrtausende; wie das moderne Europa war es
eine Kulturtangente, die sich losgelost hatte vom Kreislaufe der prahistorischen Vor-Kulturen.
Der Ablauf der groBen Weltgeschichte setzt sich zusammen aus asiatischen Kulturkreislaufen
und europaischen Kulturtangenten. Ohne diese Tangenten (die nur im geistigen, nicht im
geographischen Sinne europaisch sind) gabe es nur Entfaltung, nicht Entwicklung. Nach einer
langen Periode der Reife lost sich immer wieder ein geniales Volk aus dem Dunkel der Zeiten,
sprengt den natiirlichen Kulturablauf und hebt die Menschheit auf eine hohere Stufe.
Erfindungen, nicht Dichtungen oder Religionen, bezeichnen diesen Staten der
Kulturentwichlung: die Erfindung der Bronze, des Eisens, der Elektrizitat. Diese Erfindungen
bilden das ewige Vermachtnis eines Zeitalters an alle kommenden Kulturen. Von der Antike wird
nichts iibrig bleiben - wahrend die Neuzeit die Kultur bereichert durch die Bezwingung der
Elektrizitat und anderer Naturkrafte: diese Erfindungen werden den Faust iiberleben, die
Gottliche Komodie und die Ilias.
Mit dem Mittelalter schloB der Kulturkreis des Eisens - mit der Neuzeit beginnt der Kulturkreis
der Maschine: hier beginnt nicht eine neue Kultur - sondem ein neues Zeitalter.
Schopfer dieses technischen Zeitalters ist das geniale Promethiden-Volk der germanisierten
Europaer. Auf ihrem Erfindergeist beruht die moderne Kultur ebenso wie auf der Ethik der
Juden, der Kunst der Hellenen und der Politik der Romer. - [89]
6. LIONARDO UND BACON
Zu Beginn des technischen Zeitalters haben zwei groBe Europaer den Sinn Europas
vorausgeahnt: Lionardo da Vinci und Bacon von Verulam. Lionardo widmete sich technischen
Aufgaben mit der gleichen Leidenschaft wie kiinstlerischen. Sein Lieblingsproblem war der
Menschenflug, dessen Losung unsere Zeit staunend miterlebt hat.
In Indien soil es Joghis geben, die durch Ethik und Askese die Schwerkraft aufheben und in der
Luft schweben konnen; in Europa bezwang der Erfindergeist von Ingenieuren und dessen
Materialisation: das Flugzeug, die Schwerkraft auf technischem Wege. Levitation und
Flugtechnik stellen symbolisch den asiatischen und europaischen Weg zur Macht und Freiheit
des Menschen dar. -
Bacon war der Schopfer der kiihnen technischen Utopie „Nova Atlantis". Ihr technischer
Charakter unterscheidet sie wesentlich von alien vorhergehenden Utopien; von Platon bis Norus.
Der Wandel des mittelalterlich-asiatischen Denkens in ein neuzeitlich-europaisches driickt sich
aus in dem Gegensatz von Morusethisch-politischer "Utopia" und Bacons technisch-
wissenschaftlicher "Nova Atlantis". Moms sieht noch in sozial - ethischen Reformen den Hebel
der Weltverbesserung - Bacon in technischen Erfindungen.
Moms war noch Christ - Bacon schon Europaer. - [90]
y. JAGD - KRIEG - ARBEIT
1. MACHTUND FREIHEIT
Der beschauliche Mensch lebt im Frieden mit seiner Umwelt - der tatige in dauemden
Kriegszustande. Um sich zu erhalten, durchzusetzen und zu entfalten muB er standig fremde und
feindliche Krafte abwehren, vernichten, versklaven.
Der Lebenskampf ist ein Kampf um Freiheit und Macht. Siegen heiBt: seinen Willen durchsetzen.
Deshalb ist nur der Sieger frei, nur der Sieger machtig. Zwischen Freiheit und Macht laBt sich
keine Grenze ziehen: der Vollgenuss der eigenen Freiheit verletzt fremde Interessen: Macht ist
die einzige Sicherung ungehemmter Freiheit.
Der Kampf der Menschheit um Freiheit fallt zusammen mit ihrem Kampfe um Macht. In dessen
Verlauf hat sie den Erdball erobert und bezwungen: das Tierreich durch Jagd und Viehzucht - das
Pflanzenreich durch Ackerbau - das Mineralreich durch Bergbau - die Naturkrafte durch Technik.
Aus einem unscheinbaren, schwachen Tier hat sich der Mensch zum Herrn der Erde
aufgeschwungen. - [97]
2. JAGD
Die erste Phase des menschlichen Kampfes war das Zeitalter der Jagd.
In hunderttausenden von Jahren wahrenden Kampfen hat der Mensch die Herrschaft iiber die
Tierwelt errungen. Dieser siegreiche Kampf des relativ schwachen Menschen gegen alle
ausgerotteten und noch vorhandenen groBeren und wilderen Tierarten ist in seiner GroBartigkeit
zu vergleichen mit der Eroberung der antiken Welt durch das kleine latinische Dorf Rom.
Der Mensch siegte iiber alle Horner und Zahne, Pranken und Krallen seiner physisch besser
geriisteten Rivalen einzig durch die Waffe seines iiberlegenen Verstandes, der sich im Laufe
dieses Kampfes standig gescharft hat.
Die Ziele des menschlichen Kampfes gegen seine tierischen Feinde waren defensiv und offensiv:
Abwehr und Versklavung.
Zuerst begniigte sich der Mensch damit, die feindlichen Tiere unschadlich zu machen durch
Abwehr und Vertilgung; spater begann er sie zu zahmen und sich ihrer zu bedienen. Er
verwandelte Wolfe in Hunde, Biiffel in Kinder, wilde Elefanten, Kamele, Renntiere, Esel, Pferde,
Lamas, Ziegen, Schafe und Katzen in zahme. So unterwarf er sich aus der Schar vorzeitlicher
Rivalen ein Heer von Tiersklaven, ein Arsenal von lebenden Maschinen, die in seinen Diensten
arbeiteten und kampften, seine Freiheit mehrten und seine Macht. -
3. KRIEG
Um die errungene Macht zu behaupten und zu mehren, ging der Mensch dazu iiber, seine
Mitmenschen [92]
mit den gleichen Methoden zu bekampfen wie die Tierwelt. Das Zeitalter der Jagd wandelte sich
in ein Zeitalter des Krieges. Der Mensch rang mit dem Menschen urn die Verteilung der von der
Tierwelt eroberten Erde. Der Starkere wehrte den Schwacheren ab, vertilgte oder versklavten:
Krieg war eine Spezialform der Jagd, Sklaverei eine Spezialform der Tierhaltung. Im Kampfe urn
Macht und Freiheit siegte der starkere, kiihnere und kliigere Mensch iiber den schwacheren,
feigeren, diimmeren. Auch der Krieg scharfte den Menschengeist, stahlte die Menschenkraft. -
4. ARBEIT
Auf die Dauer konnten weder Jagd noch Krieg allein den Menschen emahren: er muBte wieder
einen Frontwechsel vomehmen, und den Kampf aufnehmen gegen die leblose Natur. Das
Zeitalter der Arbeit begann. Noch brachten Kriege und Jagdabenteuer Ruhm und Sensationen -
aber der Schwerpunkt des Lebens verschob sich nach der Arbeit, well nur sie ihm die Nahrung
brachte, deren es zu seiner Erhaltung bedurfte.
Die Arbeit war eine Spezialform des Krieges - die Technik eine Spezialform der Sklaverei: statt
Menschen wurden Naturkrafte besiegt und versklavt.
Durch Arbeit bekampfte der Mensch den Hunger: er unterwarf sich den Boden und die
Feldfriichte und erntete ihren Ertrag. Durch Arbeit bekampfte der Mensch die Winterkalte: er
baute Hauser, wob Stoffe, fallte Holz. So schiitzte er sich durch Arbeit vor den feindlichen
Naturgewalten. - [93]
5. DER KRIEG ALS ANACHITONISMUS
Jagd, Krieg, Arbeit gingen so vielfach in einander iiber, daB es unmoglich ist, sie chronologisch
von einander zu trennen. Friiher lief das Zeitalter der Jagd durch Jahrtausende parallel mit dem
des Krieges - wie heute das Zeitalter des Krieges parallel lauft mit dem der Arbeit; aber der
Schwerpunkt der Kampffront verschob und verschiebt sich bestandig. Wahrend urspriinglich die
Jagd im Mittelpunkte menschlicher Tatigkeit stand, trat in der Folge der Krieg an ihre Stelle und
zuletzt die Arbeit.
Der Krieg, der einst fiir den Kulturfortschritt wesentlich und notwendig war, hat diese Bedeutung
verloren und ist zu einem gefahrlichen Kulturschadling geworden. Heute bezeichnen nicht Kriege
die Etappen des Fortschrittes - sondern Erfmdungen.
Die Entscheidungskampfe der Menschheit um Freiheit und Macht spielen sich heute an der Front
der Arbeit ab.
In einer Zeit, da der Weltkrieg nur mehr Historiker interessieren wird, wird unsere
Jahrhundertwende ruhmvoll dastehen als Geburtsstunde des Menschenfluges.
Wie im Zeitalter des Krieges sich die Jagd als Anachronismus erhielt - so erhalt sich im Zeitalter
der Arbeit der Krieg als Anachronismus. Aber in dieser Epoche ist jeder Krieg Biirgerkrieg, well
er sich gegen Mitkampfer richtet und die gemeinsame Arbeitsfront verwirrt.
Im Zeitalter der Arbeit ist die Verherrlichung des Kriges ebenso unzeitgemaB, wie in der
Kriegsepoche die Verherrlichung der Jagd. Urspriinglich war der [94]
Drachen- und Lowentoter der Held; dann war es der Feldherr; schlieBlich ist es der Erfinder.
Lavoisier hat fiir die menschliche Entwicklung mehr geleistet, als Robespierre und Bonaparte
zusammen.
Wie in der Jagdepoche der Jager herrschte, in der Kriegsepoche der Krieger - so wird im Zeitalter
der Arbeit der Arbeiter herrschen. -
6. TECHNIK
Das Zeitalter der Arbeit zerfallt in das des Ackerbaues und der Technik.
Als Ackerbauer ist der Mensch der Natur gegeniiber vorwiegend defensiv - als Techniker
offensiv.
Die Methoden der Arbeit entsprechen denen des Krieges und der Jagd: Abwehr und Versklavung.
Die Epoche des Ackerbaues beschrankt sich darauf, Hunger und Kalte abzuwehren - wahrend die
Technik dazu iibergeht, die ehemals feindlichen Naturkrafte zu versklaven. Der Mensch herrscht
heute iiber Dampf und Elektrizitat und iiber ein Sklavenheer von Maschinen. Mit ihnen wehrt er
sich nicht nur gegen Hunger und Kalte, Naturkatastrophen und Krankheiten - sondem
unternimmt es sogar, gegen die Schranken von Raum, Zeit und Schwerkraft anzugehen. Sein
Kampf urn Freiheit von den Naturkraften geht iiber in ein Ringen urn Macht iiber die Naturkrafte.
Technik ist praktische Anwendung der Wissenschaft zur Beherrschung der Natur; zur Technik im
weiteren Sinne gehort auch Chemie als Atom-Technik und Medizin als organische Technik.
Technik vergeistigt die Arbeit: dadurch [95]
mindert sie die Arbeitslast und steigert sie den Arbeitsertrag.
Technik beruht auf heroischer, aktivistisher Einstellung zur Natur; sie will sich nicht dem Willen
der Naturkrafte fiigen, sondern ihn beherrschen. Der Wille zur Macht ist die Triebfeder
des technischen Fortschrittes. In den Naturkraften sieht der Techniker Zwingherm, die zu stiirzen,
Gegner, die zu besiegen, Bestien, die zu zahmen sind. -
Die Technik ist ein Kind des europaischen Geistes. -
VI. DER FELDZUG DER TECHNIK
1. EUROPAS MASSEELEND
Durch die Bevolkerungzunahme wird die Lage des Europaers immer verzweifelter; trotz aller
bisherigen Fortschritte der Technik befindet er sich noch in einem recht erbarmlichen Zustande.
Die Gespenster des Hungers und des Erfrierens hat er zuriickgedrangt - aber urn den Preis seiner
Freiheit und seiner MuBe.
Die furchtbare Zwangsarbeit beginnt fiir den Europaer im siebenten Lebensjahr mit dem
Schulzwange und endet gewohnlich erst mit dem Tode. Seine Kindheit wird vergiftet durch die
Vorbereitung zum Lebenskampfe, der in den folgenden Jahrzehnten seine ganze Zeit und
Personlichkeit, seine Lebenskraft und Lebensfreude verschlingt. Auf MuBe steht Todesstrafe; der
vermogenslose Durchschnittseuropaer steht vor der Wahl: entweder bis zur Erschopfung zu
arbeiten oder samt seinen Kindern zu verhungem. Die Hungerpeitsche treibt ihn an, trotz
Erschopfung, Ekel und Erbitterung weiterzuarbeiten.
Die europaischen Volker haben zwei politische Versuche unternommen, diesen erbarmlichen
Zustand zu verbessern: Kolonialpohtik und Sozialismus. - [97]
2. KOLONIALPOLITIK
Die erste Form der Kolonialpolitik besteht in der Erobemng und Besiedelung diinnbevolkerter
Erdstriche durch Nationen, die an Ubervolkemng leiden. Die Auswanderung ist tatsachlich
imstande, Lander vor Ubervolkemng zu retten und Menschen, denen das europaische Gedrange
unertraglich wird, ein freies und menschenwiirdiges Dasein zu sichern. Die Auswanderung bietet
noch vielen Menschenmillionen einen Ausweg aus der europaischen Holle und sollte daher auf
jede Weise gefordert werden. -
Die zweite Form der Kolonialpolitik beruht auf Ausbeutung warmerer Erdstriche und farbiger
Volker. Menschen siidlicher Rassen werden durch europaische Kanonen und Gewehre aus ihrer
goldenen MuBe aufgescheucht und gezwungen, im Dienste Europas zu arbeiten. Der armere, aber
starkere Norden pliindert systematisch den reicheren aber schwacheren Siiden; er raubt ihm
Reichtum, Freiheit und MuBe und verwendet diesen Raub zur Mehrung des eigenen Reichtums,
der eigenen Freiheit und der eigenen MuBe.
Diesem Hilfsmittel des Raubes, der Ausbeutung und der Sklaverei haben einige europaische
Volker einen Teil ihres Wohlstandes zu verdanken, der sie in die Lage versetzt, das Los ihrer
einheimischen Arbeiter zu verbessern. -
Auf die Dauer muB dieses Hilfsmittel versagen: denn seine unausbleibliche Folge ist ein
ungeheurer Sklavenaufstand, der die Europaer aus den farbigen Kolonien wegfegen und damit
Europas tropische Kulturbasis stiirzen wird. - [98]
Auch die Auswanderung ist nur ein provisorisches Hilfsmittel: heute schon sind einige Kolonien
ebenso dichtgedrangt wie ihre Mutterlander und nahren das gleiche Elend. Die Zeit muB
kommen, da es keine menschenleeren Gebiete auf Erden mehr geben wird.
Bis dahin miissen neue Mittel gefunden werden, um dem europaischen Verhangnis
entgegenzutreten. -
3. SOZIALPOLITIK
Den zweiten Versuch, das europaische Massenelend zu lindern, untemimmt der Sozialismus.
Der Sozialismus will die europaische Holle bannen durch gleichmaBige Verteilung der
Arbeitslast und des Arbeitsertrages. Es unterliegt keinem Zweifel, daB sich das Los der
europaischen Massen durch verniinftige Reformen wesentlich verbessern lieBe. Wenn aber der
soziale Fortschritt nicht getragen wird durch einen Aufschwung der Technik, kann er das soziale
Elend nur lindern, nicht beheben.
Denn die Arbeitslast, die zur Fiitterung und Warmung der vielzuvielen Europaer notig ist, ist
groB; der Arbeitsertrag, den das rauhe und nicht geniigend fruchtbare Europa auch bei
intensivster Ausniitzung abwirft, relativ klein, so daB auch bei gerechtester Verteilung auf jeden
Europaer sehr viel Arbeit und sehr wenig Lohn fiele. Beim heutigen Stande der Technik wiirde
sich das Leben in einem sozialistischen Europa in die Doppeltatigkeit auflosen: arbeiten um zu
essen und essen um zu arbeiten. Das Gleichheitsideal ware erreicht: aber von Freiheit, MuBe und
Kultur ware [99]
Europa ferner denn je. Um die Menschen zu befreien, ist Europa einerseits zu barbarisch,
andererseits zu arm. Das Vermogen der wenigen Reichen, auf alle verteilt, wiirde spurlos
verschwinden: die Armut ware nicht abgeschafft, sondern verallgemeinert.
Der Sozialismus ist allein nicht imstande, Europa aus seiner Unfreiheit und seinem Elend zu
Freiheit und Wohlstand zu fiihren. Weder Stimmzettel noch Aktien konnten den Kohlenarbeiter
dafiir entschadigen, daB er sein Leben in Hohlen und Schachten verbringen muB. Die meisten
Sklaven orientalischer Despoten sind freier als dieser freie Arbeiter eines sozialisierten Werkes.
Der Sozialismus verkennt das europaische Problem, wenn er in der ungerechten Verteilung das
Grundiibel der europaischen Wirtschaft sieht, statt in der ungeniigenden Produktion. Die Wurzel
des europaischen Elends liegt in der Notwendigkeit der Zwangsarbeit nicht in der
Ungerechtigkeit ihrer Verteilung. Der Sozialismus irrt, wenn er im Kapitalismus die letzte
Ursache der furchtbaren Zwangsarbeit sieht, unter der Europa stohnt; denn in Wahrheit flieBt nur
ein sehr geringer Teil der europaischen Arbeitslei stung den Kapitalisten und ihrem Luxus zu: der
allergroBte Teil dieser Arbeit dient dazu, einen unfruchtbaren Weltteil in einen fruchtbaren zu
verwandeln, einen kalten in einen warmen und auf ihm eine Menschenzahl zu erhalten, die er auf
natiirlichem Wege nicht emahren konnte.
Der Winter und die Ubervolkerung Europas sind hartere und grausamere Despoten, als samtliche
Kapitalisten: aber nicht die Politiker fiihren die europaische [100]
Revolution gegen diese unbarmherzigen Zwingherrn - sondern die Erfinder. -
4. TECHNISCHE WELTREVOLUTION
Der koloniale Imperialismus ebenso wie der Sozialismus sind Palliative, nicht Heilmittel der
europaischen Krankheit; sie konnen die Not lindern, nicht bannen; die Katastrophe aufschieben,
nicht verhiiten. Europa wird sich entscheiden miissen, entweder seine Bevolkemng zu dezimieren
und Selbstmord zu begehen - oder durch groBziigige Steigerung der Produktion und
Vervollkomnung der Technik zu genesen. Denn nur dieser Weg kann die Europaer zu Wohlstand,
MuBe und Kultur fiihren, wahrend die sozialen und kolonialen Rettungswege schlieBlich in
Sackgassen miinden.
Europa muB sich dariiber klar sein, daB der technische Fortschritt ein Befreiungskrieg
allergroBten Stiles ist gegen den hartesten, grausamsten und unbarmherzigsten Tyrannen: die
nordische Natur.
Von dem Ausgange dieser technischen Wei tr evolution hangt es ab, ob die Menschheit die sich
einmal in Aonen bietende Gelegenheit: Herrin iiber die Natur zu werden - niitzt, oder ob sie diese
Gelegenheit, vielleicht fiir immer, ungeniitzt voriiber gehen laBt. -
Vor hundert Jahren etwa eroffnete Europa die Offensive gegen die iibermachtige Natur, gegen
die es sich bis dahin nur verteidigt hatte. Es begniigte sich nicht mehr damit, von der Gnade der
Naturgewalten zu leben: sondern es begann, seine Feinde zu versklaven. [101]
Die Technik hat begonnen, das Sklavenheer der Haustiere zu erganzen und das Sklavenheer der
Schwerarbeiter zu ersetzen durch Maschinen, die betrieben werden von Naturkraften. -
5. DIE ARMEE DER TECHNIK
Europa (und mit ihm Amerika) hat zu diesem groBten und folgenschwersten aller Kriege den
Erdball mobihsiert.
Die Fronttruppen des weltumspannenden Arbeitsheeres, das gegen die Willkiir der Naturkrafte
kampft, sind die Industriearbeiter; ihre Offiziere, Ingenieure, Untemehmer, Direktoren, ihren
Generalstab bilden die Erfinder, ihren Train Bauern und Landarbeiter, ihre Artillerie die
Maschinen, ihre Schiitzengraben Bergwerke, ihre Forts Fabriken.
Mit dieser Armee, deren Reserven er alien Weltteilen entnimmt, hofft der weiBe Mensch die
Tyrannis der Natur zu brechen, ihre Krafte dem Menschengeiste zu unterwerfen und so den
Menschen endgiiltig zu befreien. -
6. DER ELEKTRISCHE SIEG
Die technische Armee hat ihren ersten entscheidenden Sieg davongetragen iiber einen der altesten
Widersacher des Menschengeschlechtes: den Blitz.
Seit jeher hat der elektrische Funke als Blitz den Menschen bedroht, verwundet, getotet; hat seine
Hauser verbrannt und sein Vieh erschlagen. Diesem tiickischen Feinde, der ihm nie in irgend
einer Weise half, war der Mensch durch hunderttausende von Jahren preisgegeben: bis Benjamin
Franklin durch Erfmdung [102]
des Blitzableiters seine Schreckensherrschaft iiber den Menschen brach.
Der elektrische Funke als GeiBel der Menschheit war damit abgewehrt. Aber der weiBe Mensch
begniigte sich nicht mit diesem Abwehrsiege: er ging zur Offensive iiber und erreichte es, in
einem Jahrhundert diesen Feind in einen Sklaven, dieses gefahrlichste Raubtier in sein
niitzlichstes Haustier zu verwandeln.
Heute beleuchtet der elektrische Funke, der einst unsere Vorvater mit Entsetzen erfiillt hat, unsere
Zimmer, kocht unseren Tee, biigelt unsere Wasche, heizt unsere Zimmer, lautet unsere Glocken,
befordert unsere Briefe (Telegramme), zieht Bahnen und Wagen, treibt Maschinen - ist also, mit
einem Worte, unser Bote, Brieftrager, Dienstmann, Koch, Heizer, Beleuchter, Arbeiter,
Lasttrager und sogar unser Henker geworden. Was heute der elektrische Funke in Europa und
Amerika im Dienste des Menschen leistet, ware selbst durch Verdoppelung der menschlichen
Arbeitszeit nicht entfernt zu ersetzen.
So wie diese ehemals feindliche Naturkraft nicht nur zuriickgeschlagen wurde, sondern sich in
den unentbehrlichsten und niitzlichsten Diener des Menschen verwandelt hat - so werden dereinst
auch die Fluten des Meeres und die Gluten der Sonne, Stiirme und Uberschwemmungen aus
Feinden zu Sklaven des Menschen werden. Aus Giften werden Heilmittel, aus todlichen Bazillen
Schutzimpfungen. Wie der Mensch der Urzeit wilde Tiere gezahmt und unterworfen hat - so
zahmt und unterwirft der Mensch der Neuzeit wilde Naturkrafte.
Durch solche Siege wird sich der nordische Mensch [103]
einst Freiheit, MuBe und Kultur erobem: nicht durch Entvolkerung oder Entsagung, nicht durch
Krieg und Revolution - sondern durch Erfindung und Arbeit, durch Geist und Tat. -
7. DER ERFINDER ALS ERLOSER
In unserer europaischen Geschichtsepoche ist der Erfinder ein groBerer Wohltater der Menschheit
als der Heilige.
Der Erfinder des Automobils hat mehr Gutes fiir die Pferde getan und ihnen mehr Leiden erspart
als samtliche Tierschutzvereine der Welt.
Das Kleinauto ist im Begriffe, Tausende von ostasiatischen Kulis aus ihrem Zugtierdasein zu
erlosen.
Die Erfinder des Diphterie - und Blattemserums haben mehr Kindem das Leben gerettet, als alle
Sauglingsheime.
Die Galeerensklaven verdanken der neuzeitlichen Schiffstechnik ihre Befreiung, wahrend durch
die Einfiihrung der Petroleumfeuerung die modeme Technik die Schiffsheizer aus ihrem
Hollenberufe zu erlosen beginnt.
Der Erfinder, der, etwa durch Atomzertriimmerung, einen praktischen Kohlenersatz schafft - wird
fiir die Menschheit mehr geleistet haben als der erfolgreichste soziale Reformator: denn er wird
die Millionen Kohlenarbeiter aus ihrem menschenunwiirdigen Dasein erlosen und einen groBen
Teil der menschlichen Arbeitslast tilgen - wahrend heute kein kommunistischer Diktator es
vermeiden konnte, Menschen zu jenem unterirdischen Grubenleben zu verurteilen.
Der Chemiker, dem es gelingt, Holz genieBbar zu [104]
machen, wiirde die Menschheit aus dem Sklavenjoche des Hungers befreien, das sie langer und
grausamer driickt als jede menschliche Gewaltherrschaft. -
Weder Ethik, noch Kunst, noch Religion, noch Politik werden den paradiesischen Fluch tilgen, -
sondern Technik. Der organischen Technik, der Medizin, ist es vorbehalten, den Erbfluch der
Frau zu bannen: „Du sollst unter Schmerzen Deine Kinder gebaren"; der anorganischen Technik
ist es vorbehalten, den Erbfluch des Mannes zu bannen: "Im SchweiBe Deines Angesichtes sollst
Du Dein Brot essen". -
In vieler Hinsicht gleicht unser Zeitarter dem Beginn der romischen Kaiserzeit. Damals hoffte die
Welt auf Erlosung durch das Friedensreich der pax romana. Die erhoffte Weltwende kam - aber
von ganz anderer Seite: nicht von auBen - sondern von innen; nicht durch Politik - sondern durch
Religion; nicht durch Casar Augustus - sondern durch Jesus Christus.
Auch wir stehen vor einer Weltwende; die Menschheit erwartet heute von der sozialistischen
Aera den Anbruch des goldenen Zeitalters. Die erhoffte Weltwende wird, vielleicht, kommen:
aber nicht durch Politik - sondern durch Technik: nicht durch einen Revolutionar - sondern durch
einen Erfinder: nicht durch Lenin - sondern durch einen Mann, der vielleicht heute schon
irgendwo namenlos lebt und dem es eines Tages gelingen wird, durch ErschlieBung neuer,
ungeahnter Energiequellen die Menschheit aus Hunger, Frost und Zwangsarbeit zu erlosen. -
[105]
VII. ENDZIEL DER TECHNIK
1. KULTUR UND SKLAVEREI
Jede bisherige Kultur war auf Sklaverei gegriindet: die Antike auf Sklaven, die mittelalterliche
auf Leibeigene, die neuzeitliche auf Proletarier. -
Die Bedeutung der Sklaven bemht darauf, daB sie durch ihre Unfreiheit und Mehrarbeit Raum
schaffen fiir die Freiheit und Musse einer Herrenkaste, die Vorbedingung jeder Kulturbildung ist.
Denn es ist nicht moglich, daB die gleichen Menschen die ungeheuere physische Arbeit leisten,
die zur Ernahrung, Kleidung und Behausung ihrer Generation erforderlich - und zugleich die
ungeheure Geistesarbeit, die zur Schaffung und Erhaltung einer Kultur notig ist.
Uberall herrscht Arbeitsteilung: damit das Gehirn denken kann, miissen die Eingeweide
verdauen; ohne daB ihre Wurzeln in der Erde wiihlen, kann keine Pflanze zum Himmel bliihen.
Trager jeder Kultur sind entfaltete Menschen. Entfaltung ist unmoglich ohne eine Atmosphare
von Freiheit und MuBe: auch das Gestein kann nur in fliissigem, freiem Zustande
auskristallisieren; wo es eingeschlossen, unfrei ist, muB es amorph bleiben.
Die Kultur bildende Freiheit und MuBe [106]
weniger konnte nur geschaffen werden durch Knechtschaft und Uberarbeitung vieler. In
nordlichen und iibervolkerten Strichen war das gottliche Dasein von Tausenden immer und
iiberall aufgebaut auf einem tierischen Dasein von Hunderttausenden.
Die Neuzeit mit ihren christlichen, sozialen Ideen stand vor der Alternative: entweder auf Kultur
zu verzichten - oder die Sklaverei beizubehalten. Gegen die erste Eventualitat sprachen
asthetische - gegen die zweite ethische Bedenken: die erste widerstrebte dem Geschmack, die
zweite dem Gefiihl.
Westeuropa entschied sich fiir die zweite Losung: urn den Rest seiner biirgerlichen Kultur zu
erhalten, behielt es im Industrieproletariate in verkappter Form die Sklaverei bei - wahrend
RuBland sich anschickt, zur ersten Losung zu greifen: es befreit seine Proletarier, bringt aber
dieser Sklavenbefreiung seine ganze Kultur zum Opfer.
Beide Losungen sind in ihrer Konsequenz unertraglich. Der Menschengeist muB nach einem
Ausweg aus diesem Dilemma suchen: er fmdet ihn in der Technik. Sie allein kann zugleich die
Sklaverei brechen und die Kultur retten.
2. DIE MASCHINE
Endziel der Technik ist: Ersatz der Sklavenarbeit durch Maschinenarbeit; Erhebung der
Gesamtmenschheit zu einer Herrenkaste, in deren Dienst ein Heer von Naturkraften in
Maschinengestalt arbeitet. [107]
Wir befinden uns auf dem Wege zu diesem Ziele: friiher muBten fast alle technischen Energien
von Menschen- oder Tiermuskeln erzeugt werden - heute werden sie vielfach durch Dampfkraft,
Elektrizitat und Motorkraft ersetzt. Immer mehr fallt dem Menschen die Rolle eines Regulators
von Energien zu - statt der eines Erzeugers. Gestern noch zog der Arbeiter als Kuli die Kultur
vorwarts - morgen wird er deren Chauffeur sein, der beobachtet, denkt und lenkt, statt zu laufen
und zu schwitzen.
Die Maschine ist die Befreiung des Menschen aus dem Joche der Sklavenarbeit. Durch sie kann
ein Hirn mehr Arbeit leisten und mehr Werte schaffen als Millionen Arme. Die Maschine ist
materialisierter Menschengeist, gefrorene Mathematik, das dankbare Geschopf des Menschen,
gezeugt aus der Geisteskraft des Erfmders, geboren aus der Muskelkraft der Arbeiter.
Die Maschine hat eine doppelte Aufgabe: die Produktion zu mehren und die Arbeit zu
vermindern und zu erleichtern.
Durch Mehrung der Produktion wird die Maschine die Not brechen - durch Minderung der Arbeit
die Sklaverei.
Heute darf der Arbeiter nur zum geringsten Telle Mensch sein - well er zum groBten Telle
Maschine sein muB: in der Zukunft wird die Maschine das Maschinelle, das Mechanische der
Arbeit iibernehmen und dem Menschen das Menschliche, das Organische iiberlassen. So eroffnet
die Maschine die Aussicht auf Vergeistigung und Individualisierung der menschlichen Arbeit:
ihre freie und schopferische Komponente wird wachsen gegeniiber der auto- [108]
matisch-mechanischen - die geistige gegeniiber der materiellen. Dann erst wird die Arbeit
aufhoren, den Menschen zu entpersonlichen, zu mechanisieren, zu entwiirdigen; dann erst wird
die Arbeit dem Spiel, dem Sport und der freien schopferischen Tatigkeit ahnlich werden. Sie wird
nicht, wie heute, eine Geisel sein, die alles Menschliche unterdriickt - sondern ein Hilfsmittel
gegen Langeweile, eine Zerstreuung und eine korperliche oder geistige Ubung zur Entfaltung
aller Fahigkeiten. Diese Arbeit, die der Mensch als Hirn seiner Maschine leisten wird und die auf
Herrschaft gegriindet ist, wird anregen statt abzustumpfen, erheben statt herabzudriicken. -
3. ABBAU DER GROSSTADT
Neben diesen beiden Aufgaben: Linderung der Not durch Steigerung der Produktion und Abbau
der Sklaverei durch Minderung und Individualisierung der Arbeit - hat die Maschine noch eine
dritte Kulturmission: die Auflosung der modernen GroBstadt und die Zuriickfiihrung des
Menschen in die Natur. -
Der Ursprung der modernen GroBstadt fallt in eine Zeit, da das Pferd das schnellste
Verkehrsmittel war und es noch keine Telephone gab. Damals war es notwendig, daB die
Menschen in nachster Nahe ihrer Arbeitsstatten und infolgedessen auf einen engen Raum
zusammengepfercht lebten.
Die Technik hat diese Voraussetzungen geandert: Schnellbahn, Auto, Fahrrad und Telephon
erlauben es heute dem Arbeiter, viele Kilometer von seinem Bureau entfernt zu Wohnen. Fiir den
Bau [109]
und die Anhaufung von Zinskasemen besteht keine Notwendigkeit mehr. Kiinftig werden die
Menschen die Moglichkeit haben, nebeneinander zu wohnen statt iibereinander, in Garten
gesunde Luft zu atmen, und in hellen geraumigen Zimmern ein gesundes, reinliches,
menschenwiirdiges Leben zu fiihren. Elektrische und Gasofen werden (ohne die Miihe des
Heizens und der Beschaffung des Brennmateriales) vor der Winterkalte schiitzen, elektrische
Lampen vor den langen Winternachten. Der Menschengeist wird iiber den Winter triumphieren
und die nordliche Zone ebenso wohnlich machen, wie die gemaBigte.
Die Entwicklung zur Gartenstadt hat bereits begonnen: die Reichen verlassen die Zentren der
GroBstadte, die sie friiher bewohnten, und siedeln sich an deren Peripherie oder in deren
Umgebung an. Die neuentstehenden Industriestadte dehnen sich in die Weite statt in die Hohe. -
Auf hoherer Ebene werden die Stadte der Zukunft in der Anlage etwas Ahnlichkeit haben mit
denen des Mittelalters: wie dort urn einen riesigen Dom die niedrigen Biirgerhauschen gruppiert
waren - so werden einst urn einen riesigen Wolkenkratzer (der alle offentlichen und privaten
Bureaus umfassen und Waren und Speisehaus sein wird) sich die niedrigen Hauser und weiten
Garten der Gartenstadt ausdehnen. In Fabriksstadten wird die Fabrik jene zentrale Kathedrale der
Arbeit sein: die Andacht des Menschen in diesen Kathedralen der Zukunft wird Arbeit fiir die
Gemeinschaft sein.
Wer nicht beruflich an die Stadt gefesselt sein wird, wird auf dem Lande leben, das durch
Femleitungen und drahtlose Verbindungen an den Bequemlichkeiten, [110]
Tatigkeiten und Zerstreuungen der Stadte teilnehmen wird.
Es wird eine Zeit kommen, in der die Menschen nicht mehr verstehen werden, wie es einmal
moglich war, in den Steinlabyrinthen zu leben, die wir heute als moderne GroBstadte kennen. Ihre
Ruinen werden dann bestaunt werden, wie heute die Behausungen der Hohlenbewohner. Die
Arzte werden sich die Kopfe zerbrechen, wie es vom hygienischen Standpunkte iiberhaupt
moglich war, daB Menschen in solcher Abgeschlossenheit der Natur, Freiheit, Licht und Luft, in
einer solchen Atmosphare von RuB, Rauch, Staub und Schmutz iiberhaupt leben und gedeihen
konnten. -
Der kommende Abbau der GroBstadt als Folge des Aufschwunges der Verkehrstechnik, ist eine
notwendig Voraussetzung wirklicher Kultur. Denn in der unnatiirlichen und ungesunden
Atmosphare der heutigen GroBstadt werden die Menschen systematisch an Leib, Seele und Geist
vergiftet und verkriippelt. Die GroBstadtkultur ist eine Sumpfpflanze: denn sie wird getragen von
degenerierten, krankhaften und dekadenten Menschen, die freiwillig oder unfreiwillig in diese
Sackgassen des Lebens geraten sind. -
4. DAS KULTURPARADIES DES MIILLIONARS
Die Technik ist in der Lage, dem modernen Menschen mehr Gliicks- und
Entfaltungsmoglichkeiten zu bieten als vergangene Zeiten ihren Fiirsten und Konigen.
Freilich ist heute noch, zu Beginn der technischen Weltperiode, die Zahl derjenigen, denen die
Erfmdun-[111]
gen der Neuzeit unbeschrankt zur Verfugung stehen, gering.
Ein modemer Dollarmillionar kann sich mit allem Luxus, allem Komfort, aller Kunst und aller
Schonheit umgeben, die die Erde bietet. Er kann alle Friichte der Natur und Kultur genieBen,
kann, ohne zu arbeiten, leben, wo und wie es ihm gefallt. Durch Telephon und Auto kann er nach
Wahl mit der Welt verbunden oder von ihr geschieden sein; er kann als Einsiedler in der
GroBstadt leben oder in Gesellschaft auf seinem Landsitz; braucht weder unter dem Klima zu
leiden noch unter der Ubervolkerung; Hunger und Frost sind ihm fremd; durch seine Aeroplane
ist er Herr der Luft, durch seine Jacht Herr der Meere. In vieler Hinsicht ist er freier und
machtiger als Napoleon und Casar. Sie konnten nur Menschen beherrschen - aber nicht iiber
Ozeane fliegen und iiber Kontinente sprechen. Er hingegen ist Herr der Natur. Naturkrafte
bedienen ihn als unsichtbare, machtige Diener und Geister. Mit ihrer Hilfe kann er schneller und
hoher fliegen als ein Vogel, schneller iiber die Erde rasen als eine Gazelle und unter Wasser leben
wie ein Fisch. Durch diese Fahigkeiten und Gewalten ist er freier sogar als der Eingeborene der
Siidsee und hat den paradiesischen Fluch iiberwunden. Auf dem Umwege iiber die Kultur ist er in
ein vollkommeneres Paradies heimgekehrt. -
Die Grundlage zu so vollkommenem Leben hat die Technik geschaffen. Fiir einige Auserwahlte
hat sie aus den nordischen Urwaldem und Siimpfen Kulturparadiese gemacht. In diesen
Gliickskindem kann der Mensch ein Versprechen des Schicksals an seine Kindeskinder sehen.
Sie sind die Vorhut der Menschheit auf ihrem Wege in das Eden der [112]
Zukunft. Was heute Ausnahme ist, kann, bei weiterem technischen Fortschritte, Regel werden.
Die Technik hat die Tore des Paradieses gesprengt; durch den schmalen Eingang sind bisher nur
wenige geschritten: aber der Weg steht offen und durch FleiB und Geist kann einst die ganze
Menschheit jenen Gliickskindern folgen. Der Mensch braucht nicht zu verzweifeln:
niemals war er seinem Ziele so nahe wie heute.
Vor wenigen Jahrhunderten war der Besitz eines Glasfensters, eines Spiegels, einer Uhr, von
Seife oder Zucker ein groBer Luxus: die technische Produktion hat diese einst seltenen Giiter iiber
die Massen verstreut. Wie heute jedermann eine Uhr tragt und einen Spiegel besitzt - so konnte
vielleicht in einem Jahrhundert jeder Mensch ein Auto, seine Villa und sein Telephon haben. Der
Wohlstand muB umso schneller steigen und umso allgemeiner werden, je rascher die
Produktionsziffern steigen im Verhaltnis zu den Bevolkerungsziffern. Es ist das Kulturziel der
Technik einst alien Menschen die Lebensmoglichkeiten zu bieten, iiber die heute jene Millionare
verfiigen. Deshalb kampft die Technik gegen die Not - nicht gegen den Reichtum; gegen
Knechtschaft - nicht gegen Herrschaft. Ihr Ziel ist Verallgemeinerung des Reichtums, der Macht,
der MuBe, der Schonheit und des Gliickes: nicht Proletarisierung, sondem Aristokratisierung der
Menschheit [113]
VIII. DER GEISTDES TECHNISCHEN ZEIT ALTERS
1. HEROISCHER PAZIFISMUS
Das Paradies der Zukunft laBt sich nicht durch Putsche erschleichen - es laBt sich nur durch
Arbeit erobern. Der Geist des technischen Zeitalters ist heroisch-pazifistisch: heroisch, well
Technik Krieg mit verandertem Objekt ist - pazifistisch well sich sein Kampf nicht gegen
Menschen richtet, sondern gegen Naturgewalten. -
Das technische Heldentum ist unblutig: der technische Held arbeitet, denkt, handelt, wagt und
duldet, nicht urn seinen Mitmenschen nach dem Leben zu trachten, sondern urn sie aus dem
Sklavenjoch von Hunger, Kalte, Not und Zwangsarbeit zu erlosen.
Der Held des technischen Zeitalters ist ein friedlicher Held der Arbeit und des Geistes. -
Die Arbeit des technischen Zeitalters ist Askese: Selbstbeherrschung und Entsagung. In ihrer
heutigen Form und ihrem heutigen AusmaBe ist sie kein Vergniigen, sondern ein hartes Opfer.
das wir unseren Mitmenschen und Nachkommen darbringen. [114]
Askese heiBt Ubung: sie ist der griechische Ausdmck fiir das, was auf englisch Training heiBt;
durch diese Ubersetzung verliert der Begriff Askese seinen pessimistische Charakter und wird
optimi sti sch-heroi sch .
Die optimi sti sche, lebensbejahende Askese des technischen Zeitalters bereitet ein Reich Gottes
auf Erden vor: sie rodet die Erde zum Paradiese; zu diesem Zwecke versetzt sie Berge, Fliisse
und Seen, wickelt den Erdball in Kabel und Schienen, schafft aus Urvaldern Plantagen, aus
Steppen Ackerland. Wie ein iiberirdisches Wesen verandert der Mensch die Erdoberflache nach
seinen Bediirfnissen. -
2. DER GEIST DER TRAGHEIT
Im Zeitalter der Arbeit und Technik gibt es kein groBeres Laster als Tragheit - wie es im Zeitalter
des Krieges kein groBeres Laster als Feigheit gibt.
Die Uberwindung der Tragheit ist die Hauptaufgabe des technischen Heroismus.
Wo das Leben sich als Energie manifestiert - steht die Tragheit im Zeichen des Todes. Der
Kampf des Lebens gegen den Tod ist ein Kampf der Tatkraft gegen die Tragheit. Der Sieg des
Todes iiber das Leben ist ein Sieg der Tragheit iiber die Tatkraft. Die Boten des Todes sind Alter
und Krankheit: in ihnen gewinnt die Tragheit Ubermacht iiber die Lebensenergie: Ziige, Glieder,
Bewegungen werden schlaff und hangend, Lebenskraft, Lebensmut und Lebensfreude sinken,
alles neigt sich zur Erde, wird miide und trage - bis der Mensch, der nicht mehr vorwartsschreiten
und sich [115]
nicht mehr aufrechthalten kann, als Opfer der Tragheit ins Grab sinkt: doit triumphiert die
Tragheit iiber das Leben.
Alle jungen Bliiten streben, der Schwerkraft entgegen, zur Sonne: alle reifen Friichte fallen, von
der Schwerkraft iiberwaltigt, zur Erde. -
Symbol des technischen Sieges iiber die Schwerkraft, des triumphalen Menschenwillens und
Menschengeistes iiber die Tragheit der Materie ist der fliegende Mensch. Wenige Dinge sind so
erhaben und so schon wie er. Hier vermahlen sich Dichtung und Wahrheit, Romantik und
Technik, die Mythen von Daedalus und Wieland mit den Visionen Lionardos und Goethes; durch
Taten von Technikern werden die kiihnsten Dichtertraume Wirklichkeit: auf Fliigeln, die sein
Geist und sein Wille gespannt haben, erhebt sich der Mensch iiber Raum, Zeit und Schwerkraft,
iiber Erde und Meer. -
3. SCHONHEIT UND TECHNIK
Wer an den Schonheitswert der Technik noch zweifelte, muB angesichts des fliegenden
Menschen verstummen. Aber nicht nur das Flugzeug schenkt uns neue Schonheit: auch
Automobil, Motorboot, Schnellzugslokomotive, Dynamomaschine sind in Tatigkeit und
Bewegung von eigener, spezifischer Schonheit. Weil aber diese Schonheit dynamisch ist, kann
sie nicht, wie die statische Schonheit der Landschaft, von Pinsel, Griffel und MeiBel festgehalten
werden: deshalb existiert sie nicht fur Menschen ohne originalen Schonheitssinn, die der Kunst
als Wegweiserin im Irrgarten der Schonheit bediirfen. [116]
Ein Ding ist schon durch die Ideale der Harmonie und Vitalitat, die es uns vermittelt und die
Impulse, die es uns nach diesen Richtungen gibt. So schafft sich jede Kultur ihre eigenen
Symbol e der Kraft und Schonheit:
der Grieche steigerte seine eigene Harmonie an Statuen und Tempeln;
der Romer steigerte seine Kraft und Tapferkeit an den Zirkuskampfen seiner Raubtiere und
Gladiatoren;
der mittelalterliche Christ vertiefte und verklarte seine Seele durch Einfiihlung in die Passion im
MeBopfer und Altarsakramente;
der Burger der Neuzeit wuchs an den Helden seiner Theater und Romane;
der Japaner lemte Grazie, Anmut und Schicksalsergebung von seinen Blumen. -
In einer Zeit rastlosen Fortschrittes muBte das Schonheitsideal dynamisch werden - und mit ihm
sein Symbol. Der Mensch des technischen Zeitalters ist ein Schiiler der Maschine, die er
geschaffen hat: von ihr lernt er unermiidliche Tatigkeit und gesammelte Kraft. Die Maschine als
Geschopf und Tempel des heiligen Menschengeistes symbolisiert die Uberwindung der Materie
durch den Geist, des Starren durch die Bewegung. der Tragheit durch die Kraft: das Sich
aufreiben im Dienste der Idee, die Menschheitsbefreiung durch die Tat. -
Die Technik hat dem kommenden Zeitaltet eine neue Ausdrucksform geschenkt: das Kino. Das
Kino steht im Begriffe, das Theater von heute, die Kirche von gestern, Zirkus und Amphitheater
von vorgestem abzulosen und im Arbeitsstaate der Zukunft eine fuhrende Kulturrolle zu spielen.
[117]
Bei all seinen kiinstlerischen Mangeln beginnt heute schon der Film ein neues Evangelium
unbewuBt in die Massen zu tragen: das Evangelium der Kraft und der Schonheit. Er verkiindet
jenseits von Gut und Bose, den Sieg des starksten Mannes und der schonsten Frau - ob nun der
Mann, der seine Rivalen an Korper-, Willens- oder Geisteskraft iiberragt, Abenteurer oder Held,
Verbrecher oder Detektiv ist, und ob die Frau, die reizvoller oder edler, grazioser oder selbstloser
ist als die anderen, Hetare oder Mutter ist. So predigt die Leinwand in tausend Variationen den
Mannern:
"Seid stark!" denFrauen: "Seid schon!"
Diese massenpadagogische Mission, die im Kino schlummert, zu lautern und auszubauen, ist eine
der groBten und verantwortungsvollsten Aufgaben der heutigen Kiinstler: denn das Kino der
Zukunft wird fraglos auf die proletarische Kultur einen groBeren EinfluB haben, als das Theater
auf die biirgerliche. -
4. EMANZIPATION
Der Kultus des technischen Zeitalters ist ein Kultus der Kraft. Fiir die Entfaltung der Harmonie
fehlt Zeit und MuBe. In ihrem Zeichen wird einst das goldene Zeitalter der Kultur stehen, das
dem eisemen Zeitalter der Arbeit folgen wird.
Bezeichnend fur die dynamische Einstellung unserer Epoche ist ihr mannlich - europaischer
Charakter. Die mannlich-europaische Ethik Nietzsches bildet den Protest unseres Zeitalters gegen
die weiblich-asiatische Moral des Christentums.
Auch die Emanzipation der Frau ist ein Sym- [118]
ptom fiir die Vermannlichung unserer Welt: denn sie fiihrt nicht den weiblichen Menschentypus
zur Macht - sondern den mannlichen. Wahrend friiher die weibliche Frau durch ihren EinfluB auf
den Mann teilnahm an der Weltbeherrschung - schwingen heute Manner beiderlei Geschlechtes
das Zepter der wirtschaftlichen und politischen Macht. Die Frauenemanzipation bedeutet den
Triumph des Mannweibes iiber die wirkliche, weibliche Frau; sie fiihrt nicht zum Siege - sondern
zur Abschaffung des Weibes. Die Dame ist schon im Aussterben: die Frau soil ihr folgen. -
Durch die Emanzipation wird das weibliche Geschlecht, das bisher teilweise enthoben war, fiir
den technischen Krieg mobilisiert und eingereiht in die Armee der Arbeit. -
Die Emanzipation der Asiaten vollzieht sich unter den gleichen Bedingungen wie die
Emanzipation der Frauen; sie ist ein Symptom fiir die Europaisierung unserer Welt: denn sie
fiihrt nicht den orientalischen Typus zum Siege - sondern den europaischen. Wahrend friiher der
orientalische Geist durch das Christentum Europa beherrschte - teilen sich heute weiBe und
farbige Europaer in der Weltherrschaft. Das sogenannte Erwachen des Orients bedeutet den
Triumph des gelben Europaers iiber den wahren Orientalen; es fiihrt nicht zum Siege - sondern
zur Vemichtung der orientalischen Kultur. Wo im Osten das Blut Asiens siegt, siegt mit ihm der
Geist Europas: der mannliche, harte, dynamische, zielstrebige, tatkraftige, rationalistische Geist.
Um am Fortschritte teilzunehmen, muB Asien seine harmonische Seele und Kultur gegen die
europaisch-vitale vertauschen. - Die Emanzipation der Asiaten bedeutet ihren Eintritt in die
europaisch- [119]
amerikanische Armee der Arbeit und ihre Mobilisierung fiir den technischen Krieg.
Nach dessen siegreicher Beendigung wird Asien wieder asiatisch, die Frau wieder weiblich sein
konnen: dann werden Asien und die Frau die Welt zu reinerer Harmonie erziehen. Bis dahin aber
miissen die Asiaten die europaische Uniform tragen - die Frauen die mannliche. -
5. CHRISTENTUM UND RITTERTUM
Wer unter Kultur Harmonie mit der Natur versteht, muB unsere Epoche barbarisch nennen - wer
unter Kultur Auseinandersetzung mit der Natur versteht, muB die spezifische, mannlich-
europaische Form unserer Kultur wiirdigen. Der christlich-orientalische Ursprung der
europaischen Ethik lieB sie den ethischen Wert des technischen Fortschrittes verkennen; erst
unter der Perspektive Nietzsches erscheint das heroisch-asketische Ringen des technischen
Zeitalters um Erlosung durch Geist und Tatkraft als gut und edel.
Die Tugenden des technischen Zeitalters sind vor allem: Tatkraft, Ausdauer, Tapferkeit,
Entsagung, Selbstbeherrschung und Solidaritat. Diese Eigenschaften stahlen die Seele zum
unblutigen, harten Kampf der sozialen Arbeit. -
Die Ethik der Arbeit kniipft an die ritterliche Ethik des Kampfes an: beide sind mannlich, beide
nordisch. Nur wird sich diese Ethik den neuen Verhaltnissen anpassen und an die Stelle der
iiberlebten Ritterehre eine neue Arbeitsehre setzen. Der neue Ehrbegriff wird auf Arbeit beruhen
- die neue Schande [120]
auf Faulheit. Der faule Mensch wird als Deserteur der Arbeitsfront betrachtet und verachtet
werden. Die Objekte der neuen Heldenverehmng werden Erfinder sein, statt Feldherrn: Werte-
Schopfer statt Werte-Zerstorer.
Aus der christlichen Moral wird die Ethik der Arbeit den Geist des Pazifismus und des
Sozialismus iibemehmen: weil nur der Friede fiir die technische Entwicklung produktiv - der
Krieg destruktiv ist, und weil nur der soziale Geist der Zusammenarbeit aller Schaffenden zum
technischen Siege iiber die Natur fiihren kann. -
6. DIE BUDDHISTISCHE GEFAHR
Jede passivistische und lebensfeindliche Propaganda, die sich gegen die technische und
industrielle Entwicklung richtet - ist Hochverrat an der Arbeitsarmee Europas: denn sie ist
Aufforderung zum Riickzug und zur Fahnenflucht wahrend des Entscheidungskampfes. -
Tolstoianer und Neo-Buddhisten machen sich dieses Kulturfrevels schuldig: sie fordern die weiBe
Menschheit auf, kurz vor ihrem Endsiege vor der Natur zu kapitulieren, das von der Technik
eroberte Gelande zu raumen und freiwillig zur Primitivitat des Ackerbaues und der Viehzucht
zuriickzukehren. Miide des Kampfes wollen sie, daB Europa kiinftig in seiner armlichen Natur ein
armliches, kindliches Dasein fristet - statt sich durch hochste Anspannung des Geistes, des
Willens und der Muskeln siegreich eine neue Welt zu schaffen.
Was in Europa noch lebensfahig und lebenstiichtig ist, lehnt diesen Kulturselbstmord ab: es fiihlt
die [121]
Einzigartigkeit seiner Lage und seine Verantwortung vor der kiinftigen Menschheit. Eine
Waffenstreckung der Technik wiirde die Welt in den asiatischen Kulturkreislauf zuriickwerfen.
Hart vor ihren Ziele wiirde die technische Wei tr evolution, die Europa heiBt, zusammenbrechen
und eine der groBten Menschheitshoffnungen begraben. Das Nordland Europa, das von seinem
heroischen Schaffen lebt, muB den entnervenden Geist des Buddhismus abwehren. Japan muB, je
mehr es sich industrialisiert, vom Buddhismus innerlich abriicken; so miiBte Europa, je mehr es
sich innerlich dem Buddhismus hingibt, seine technische Mission vemachlassigen und verraten.
Der Buddhismus ist eine wunderbare Kronung reifer Kulturen - aber ein gefahrliches Gift fiir
werdende Kulturen. Seine Weltanschauung taugt fiir das Alter, fiir den Herbst - wie die Religion
Nietzsches fiir Jugend und Friihling - der Glaube Goethes fiir die Bliite des Sommers. -
Der Buddhismus wiirde die Technik ersticken - und mit ihr den Geist Europas. -
Europa soil seiner Mission treu bleiben und nie die Wurzeln seines Wesens verleugnen:
Heroismus und Rationalismus, germanischen Willen und hellenischen Geist. Denn das Wunder
Europa entstand erst aus der Vermahlung dieser beiden Elemente. Der blinde Tatendrang der
nordischen Barbaren wurde sehend und fruchtbar durch die Beriihrung mit der mittellandischen
Geisteskultur: so wurden aus Kriegem Denker, aus Helden Erfmder.
Der Mystizismus Asiens bedroht Europas geistige Klarheit - der Passivismus Asiens bedroht
[122]
seine mannliche Tatkraft. Nur wenn Europa diesen Versuchungen und Gefahren widersteht und
sich auf seine hellenischen und germanischen Ideale besinnt - wird es den technischen Kampf zu
Ende kampfen konnen, um einst sich und die Welt zu erlosen. - [123]
IX. STINNES UND KRASSIN
1 . WIRTSCHAFTS STAATEN
Stinnes ist der Fiihrer der kapitalistischen Wirtschaft Deutschlands - Krassin der Fiihrer der
kommunistischen Wirtschaft RuBlands. Im Folgenden gelten sie als Exponenten der
kapitalistischen und der kommunistischen Produktion, nicht als Personlichkeiten. -
Seit dem Zusammenbruch der drei groBen europaischen Militarmonarchien gibt es in unserem
Weltteile nur noch Wirtschaftsstaaten: wirtschaftliche Probleme stehen im Zentrum der inneren
und auBeren Politik: Merkur regiert die Welt; als Erbe des Mars - als Vorlaufer Apollons.
Die Wandlung vom Militarstaate zum Wirtschaftsstaat ist der politische Ausdruck der Tatsache,
daB an Stelle der Kriegsfront die Arbeitsfront in den Vordergrund der Geschichte geriickt ist.
Dem Zeitalter des Krieges entsprachen Militarstaaten - dem Zeitalter der Arbeit entsprechen
Wirtschaftsstaaten.
Der kommunistische wie der kapitalistische Staat sind Arbeitsstaaten: nicht mehr [124]
Kriegsstaaten - noch nicht Kulturstaaten. Beide stehen im Zeichen der Produktion und des
technischen Fortschrittes. Beide werden von Produzenten beherrscht, wie einst die Militarstaaten
von Militars: der kommunistische von den Fiihrern der Industriearbeiter - der kapitalistische von
den Fiihrern der Industriellen.
Kapitalismus und Kommunismus sind ebenso wesensverwandt, wie Katholizismus und
Protestantismus, die sich durch Jahrhunderte fiir extreme Gegensatze hielten und mit alien
Mitteln blutig bekampften. Nicht ihre Verschiedenheit, sondern ihre Verwandtschaft ist die
Ursache des erbitterten Hasses, mit dem sie einander verfolgen.
Solange Kapitalisten und Kommunisten auf dem Standpunkte stehen, es sei erlaubt und geboten,
Menschen totzuschlagen oder auszuhungern, well sie andere wirtschaftliche Grundsatze vertreten
- befmden sich beide praktisch auf einer sehr niedrigen Stufe der ethischen Entwicklung.
Theoretisch sind freilich die Voraussetzungen und Ziele des Kommunismus ethischer als die des
Kapitalismus, well sie von objektiveren und gerechteren Gesichtspunkten ausgehen.
Fiir den technischen Fortschritt sind aber ethische Gesichtspunkte nicht maBgebend: hier ist die
Frage entscheidend ob das kapitalistische oder das kommunistische System rationeller und
geeigneter ist, den technischen Befreiungskampf gegen die Naturgewalten durchzufiihren. -
2. DAS RUSSISCHE FIASKO
Der Erfolg spricht fiir Stinnes, gegen Krassin: die kapitalistische Wirtschaft bliiht, wahrend die
kommu- [125]
nistische darniederliegt. Aus dieser Feststellung auf den Wert der beiden Systeme zu schlieBen,
ware einfach aber ungerecht. Denn es darf nicht iibersehen werden, unter welchen
Begleitumstanden der Kommunismus die russische Wirtschaft iibemommen und gefiihrt hat:
nach einem militarischen, politischen und sozialen Zusammenbruch, nach Verlust wichtigster
Industriegebiete, im Kampfe gegen die ganze Welt, unter dem Druck jahrelanger Blockade,
dauernden Biirgerkrieges und der passiven Resistenz der Bauern, der Burger und der Intelligenz;
dazu trat noch die katastrophale MiBemte. Wenn man all diese Umstande, sowie die geringere
organisatorische Begabung und Bildung des russischen Volkes in Rechnung zieht - so kann man
nur dariiber staunen, daB sich noch Reste einer russischen Industrie erhalten haben.
Die MiBerfolge des fiinljahrigen Kommunismus unter diesen erschwerenden Umstanden an den
Erfolgen des ausgereiften Kapitalismus messen zu wollen, ware ebenso ungerecht, wie ein
neugeborenes Kind mit einem erwachsenen Manne zu vergleichen und daraufhin festzustellen,
das Kind sei ein Idiot - wahrend in ihm, vielleicht, ein werdendes Genie schlummert. -
Selbst wenn der Kommunismus in RuBland zusammenbricht, ware es ebenso naiv, die soziale
Revolution damit fiir abgetan zu erklaren - wie es nach dem Zusammenbruch der hussitischen
Bewegung toricht gewesen ware, die Reformation fiir erledigt zu halten: denn nach wenigen
Jahrzehnten erschien Luther und fiihrte viele der hussitischen Ideen zum Siege. - [126]
3. KAPITALISTISCHE UND KOMMUNISTISCHE PRODUKTION
Der wesentliche Vorspmng der kapitalistischen Wirtschaft liegt in ihrer Erfahrung. Sie beherrscht
alle Methoden der Organisation und Produktion, alle strategischen Geheimnisse im Kampfe
zwischen Mensch und Natur und verfiigt iiber einen Stab geschulter Industrieoffiziere. Der
Kommunismus dagegen sieht sich gezwungen, mit einem unzureichenden Generalstab und
Offizierskorps neue Kriegsplane zu entwerfen, neue Organisations- und Produktionsmethoden zu
versuchen. Stinnes kann auf eingefahrenen Geleisen vorwartsdringen - wahrend Krassin
Pfadfinder sein muB im Urwald der wirtschaftlichen Revolution. -
Durch Konkurrenz, Gewinn und Risiko verwendet der Kapitalismus einen uniibertrefflichen
Motor, der den Wirtschaftsapparat in standiger Bewegung erhalt: den Egoismus. Jeder
Unternehmer, Erfinder, Ingenieur und Arbeiter sieht sich im kapitalistischen Staate gezwungen,
seine Krafte aufs hochste anzuspannen, um nicht von der Konkurrenz iiberrannt zu werden und
zugrunde zu gehen. Die Soldaten und Offiziere der Arbeitsarmee miissen vorriicken, um nicht
unter die Rader zu kommen.
In der freien Initiative des Untemehmens liegt ein weiterer Vorzug des Kapitalismus, dem die
Technik viel zu verdanken hat. Eines der schwierigsten Probleme des Kommunismus liegt in der
Vermeidung des wirtschaftlichen Biirokratismus, von dem er standig bedroht ist. -
Der technische Hauptvorzug des Kommunismus liegt darin, daB er die Moglichkeit hat, samt-
[127]
liche produktive Krafte und Naturschatze seines Wirtschaftsgebietes zusammenzufassen und
nach einem einheitlichen Plane rationell zu verwenden. Damit erspart er all die Krafte, die der
Kapitalismus auf die Abwehr der Konkurrenz verschwendet. Die prinzipielle PlanmaBigkeit der
kommunistischen Wirtschaft, die es heute unternimmt, das russische Riesenreich nach einem
einheitlichen Plane rationell zu elektrifizieren, bedeutet technisch einen wesentlichen Vorzug
gegeniiber der kapitalistischen Produktionsanarchie. Die kommunistische Arbeitsarmee kampft
unter einheitlichem Kommando geschlossen gegen die feindliche Natur - wahrend die
zersplitterten Arheitsbataillone des Kapitalismus nicht nur gegen den gemeinsamen Feind
kampfen, sondem zum Teil auch gegeneinander, zur Niederwerfung der Konkurrenten.
Krassin hat auBerdem seine Armee fester in der Hand als Stinnes; denn die Arbeiter der
Stinnesarmee sind sich dariiber klar, daB ein Teil ihrer Arbeit der Bereicherung eines fremden,
feindlichen Untemehmers dient, wahrend die Arbeiter der Krassinarmee sich bewuBt sind, daB
sie fur den kommunistischen Staat arbeiten, dessen Teilhaber und Stiitzen sie sind. Stinnes
erscheint seinen Arbeitern als Unterdriicker und Gegner - Krassin als Fiihrer und Verbiindeter.
Deshalb kann es Krassin wagen, Streiks zu verbieten und Sonntagsarbeit einzufiihren - wahrend
dies fur Stinnes unmoglich ware.
Die Stinnesarmee ist zersetzt durch wachsende Unzufriedenheit und Meuterei (Streik) - wahrend
die Krassinarmee trotz ihrer materiellen Not von einem idealen Ziele getragen wird. Kurz: der
Krieg gegen die Naturkrafte ist in RuBland Volkskrieg - in Europa und [128]
Amerika ein dynastischer Krieg von Industriekonigen. -
Die Arbeit des kommunistischen Arbeiters ist ein Kampf fiir seinen Staat und seine Staatsform -
die Arbeit des kapitalistischen Arbeiters ein Ringen urn sein Leben. Hier ist die Haupttriebfeder
der Arbeit der Egoismus - dort der politische Idealismus: beim heutigen Stande der Ethik ist,
leider, Egoismus ein starkerer Motor als Idealismus und damit der Kampfwert der
kapitalistischen Arbeitsarmee groBer als der der kommunistischen. Der Kommunismus verfiigt
iiber einen rationelleren Wirtschaftsplan - der Kapitalismus iiber einen starkeren Arbeitsmotor.
Der Kapitalismus wird nicht an seinen technischen, sondem an seinen ethischen Defekten
scheitem. Die Unzufriedenheit der Stinnesarmee wird sich auf die Dauer nicht durch
Maschinengewehre niederhalten lassen. Der reine Kapitalismus griindet sich auf die
Unselb standi gkeit und Unwissenheit der Arbeiter - wie der militarische Kadavergehorsam auf die
Unselb standi gkeit und Unwissenheit der Soldaten. Je selbstandiger, selbstbewuBter und
gebildeter die Arbeiterklasse wird - desto unmoglicher wird es fur Privatleute sein, sie fur ihre
Privatinteressen arbeiten zu lassen. -
Die Zukunft gehort Krassin - iiber die Wirtschaft der Gegenwart entscheidet das russische
Experiment. Darum liegt es im eigensten Interesse der ganzen Welt, dieses Experiment nicht nur
nicht zu storen, sondern nach Kraften zu fordem: denn nur dann ware dessen Ausgang eine
Antwort auf die Frage, ob der Kommunismus fahig ist, die heutige Wirtschaft zu [129]
reformieren - oder ob ihm das notwendige Ubel des Kapitalismus vorzuziehen ist. -
4. SOLDNER UND SOLDATEN DER ARBEIT
Dem Kapitalismus entsprach im Zeitalter des Krieges das Soldnerheer - dem Kommunismus das
Volksheer. Zur Soldnerzeit konnte sich jeder reiche Privatmann ein Kriegsheer anwerben und
ausriisten, das er besoldete und befehligte - so wie sich heute jeder reiche Privatmann ein
Arbeitsheer anwerben und ausriisten kann, das er besoldet und befehhgt.
Vor drei Jahrhunderten spielte Wallenstein eine analoge Rolle in Deutschland, wie heute Stinnes:
mit Hilfe seines Vermogens, das er im bohmischen Kriege vermehrt hatte, und der Armee, die er
mit demselben warb und unterhielt, wurde Wallenstein aus einem Privatmanne zur machtigsten
Personlichkeit des Deutschen Reiches - wie heute Stinnes durch sein Vermogen, das er im
Weltkriege vermehrt hat, sowie durch Presse und Arbeitsarmee, die er mit demselben wirbt und
unterhalt, zum machtigsten Manne der deutschen Republik geworden ist. -
Im kapitalistischen Staate ist der Arbeiter Soldner, der Unternehmer Kondottiere der Arbeit - im
kommunistischen Staate ist der Arbeiter Soldat eines Volksheeres, das staatlich angestellten
Generalen untersteht. Wie damals die Kondottieri mit dem Blute ihrer Soldner Fiirstentiimer
eroberten und Dynastien griindeten - so erobern die modemen Kondottieri [130]
mit dem SchweiBe ihrer Arbeiter Reichtiimer und Machtstellungen und griinden Plutokraten-
Dynastien. Wie einst jene Soldnerfiihrer - so verhandeln heute Industriekonige als
gleichberechtigte Faktoren mit Regierungen und Staaten: sie lenken die Politik durch ihr Geld,
wie einst jene durch ihre Macht.
Die Reform der Arbeitsarmee, die der Kommunismus durchfiihrt, entspricht in alien Einzelheiten
der Heeresform, die alle modemen Staaten durchgemacht haben.
Die Heeresreform hat die Soldnerheer deurch Volksheere ersetzt: sie hat die allgemeine
Wehrpflicht eingefiihrt, das Heerwesen verstaatlicht, private Anwerbungen verboten, die
Landsknechtfiihrer durch staatlich angestellte Offiziere ersetzt und die Wehrpflicht ethisch
verherrlicht.
Der Arbeitsstaat fiihrt die gleichen Reformen in der Arbeitsarmee ein: er proklamiert die
allgemeine Arbeitspflicht, verstaatlicht die Industrie, verbietet private Untemehmungen, ersetzt
die Privatunternehmer durch staatlich angestellte Direktoren und verherrlicht die Arbeit als
sittliche Pflicht. -
Stinnes und Krassin sind beide Befehlshaber gewaltiger Arbeitstruppen, die gegen den
gemeinsamen Feind kampfen: die nordische Natur. Stinnes fiihrt als moderner Wallenstein ein
Soldnerheer - Krassin als Feldmarschall eines Arbeitsstaates ein Volksheer. Wahrend diese
beiden Feldherrn sich fur Gegner halten, sind sie Verbiindete, marschieren getrennt, schlagen
vereint. - [131]
5. SOZIALER KAPITALISMUS - LIBERALER KOMMUNISMUS
Wie die Regeneration des Katholizismus eine Folge der Reformation war, so konnte die Rivalitat
des Kapitalismus und Kommunismus beide befruchten: wenn sie, statt einander durch Mord,
Verleumdung und Sabotage zu bekampfen, sich darauf beschranken wiirden, durch kulturelle
Leistungen ihren hoheren Wert zu erweisen.
Keine theoretische Rechtfertigung des Kapitalismus wirbt starker fiir dieses System als die
unbestreitbare Tatsache, daB das Los der amerikanischen Arbeiter (von denen manche im eigenen
Auto zur Fabrik fahren) praktisch ein besseres ist als das der russischen, die mit ihren
Mitarbeitern gleichmaBig hungem und verhungem. Denn Wohlstand ist wesentlicher als
Gleichheit: besser, alle werden wohlhabend und wenige reich als daB allgemeines, gleichmaBiges
Elend herrscht. Nur Neid und Pedanterie konnen sich gegen dieses Urteil stemmen. Am besten
freilich ware universeller, allgemeiner Reichtum - aber der liegt in der Zukunft, nicht in der
Gegenwart: ihn herbeifiihren kann nur die Technik, nicht die Politik. -
Der amerikanische Kapitalismus ist sich bewuBt, daB er sich nur durch groBziigiges soziales
Wirken behaupten kann. Er betrachtet sich als Verwalter des nationalen Reichtums, den er zur
Forderung von Erfmdungen, zu kulturellen und humanitaren Zwecken verwendet.
Nur ein sozialer Kapitalismus, der so unternimmt, sich mit der Arbeiterschaft auszusohnen, hat
Aussicht auf Bestand: nur ein liberaler Kommunismus, der es unternimmt, sich mit der
Intelhgenz [132]
auszusohnen, hat Aussicht auf Bestand. Den ersten Weg versucht England, den zweiten
neuerdings RuBland. Gegen den Widerstand der Offiziere einen Krieg zu fiihren, ist auf die
Dauer ebenso unmoglich, wie gegen den Widerstand der Mannschaft. Das gilt auch von der
Arbeitsarmee: sie ist auf sachverstandige Fiihrer ebenso angewiesen, wie auf willige Arbeiter.
Krassin hat erkannt, daB es fur den Kommunismus notwendig ist, vom Kapitalismus zu lemen.
Deshalb fordert er neuerdings die private Initiative, ernennt zu Leitem der Staatsbetriebe
energische und sachverstandige Ingenieure mit weitestgehenden Vollmachten und
Gewinnbeteiligung und ruft einen Teil der vertriebenen Industriellen zuriick; schlieBlich
unterstiitzt er den schwachen Arbeitsmotor Idealismus durch Egoismus, Ehrgeiz und zwang und
sucht durch dieses gemischte System die Arbeitslei stung des russischen Proletariats zu steigern.
Nur diese kapitalistische Methoden konnen den Kommunismus retten: denn er hat erkennen
gelernt, daB der Winter und die Diirre grausamere Despoten RuBlands sind als samtliche Zaren
und GroBfursten: und daB der entscheidendere Befreiungskrieg ihnen gilt. Darum stellt er heute
die Bekampfung der Hungersnot, die Elektrifizierung und den Wiederaufbau der Industrie und
des Eisenbahnwesens in den Mittelpunkt seiner Gesamtpolitik und opfert sogar diesen
technischen Planen eine Reihe politischer Grundsatze. Er weiB, daB sein wirtschaftlicher Erfolg
oder MiBerfolg den politischen bestimmen wird und daB es von ihm abhangt, ob die russische
Revolution schlieBlich zur Welterlosung fiihrt - oder zur Weltenttauschung. - [133]
Die Abschaffung des Privateigentums muB beim heutigen Stande der Ethik an uniiberwindlichen
psychologischen Widerstanden scheitern. Dennoch bleibt der Kommunismus ein Wendepunkt in
der wirtschaftlichen Entwicklung vom Untemehmer- zum Arbeiterstaate - und in der politischen
Entwicklung vom unfruchtbaren System der plutokratischen Demokratie zu einer neuen sozialen
Aristokratie geistiger Menschen.
6. TRUST UND GEWERKSCHAFTEN
Solange der Kommunismus sich als unreif erweist, die Fiihrung im technischen
Befreiungskampfe zu iibernehmen, werden Krassin und Stinnes sich verstandigen miissen.
Diesen Weg, der zur Zusammenarbeit fiihrt statt zur Gegeneinanderarbeit, werden die fanatischen
Dummkopfe des Kapitalismus wie des Kommunismus von sich weisen: nur die heilsten Kopfe
beider Lager werden sich begegnen in der Erkenntnis, daB es besser ist, die Weltkultur durch
einen Verstandigungsfrieden zu retten, als durch einen Vernichtungssieg zu zerstoren. Dann
werden aus den Kondottieri der Wirtschaft Generale werden, aus Soldnern der Wirtschaft
Soldaten.
In der roten Wirtschaft von morgen kann es ebensowenig Gleichheit geben zwischen Fiihrern und
Gefiihrten, wie in der roten Armee von heute: aber die kiinftigen Industriellen werden nicht mehr
unverantwortlich sein wie heute, sondern sich der Gesamtheit verantwortlich fiihlen. Die
unproduktiven Kapitalisten, (Schieber) werden aus dem Wirtschaftsleben ebenso verschwinden,
wie einst die dekorativen Hofgenerale aus der [134]
Armee. Wie dies heute schon vielfach der Fall ist, wird der produktive Kapitalist zum
intensivsten Arbeiter seiner Fabrik werden miissen. Durch ein gleichzeitiges Sinken seines
ubermaBigen Gewinnes wird ein gerechter Ausgleich eintreten zwischen seiner Arbeit und
seinem Einkommen.
Zwei wirtschaftliche Kraftgruppen beginnen sich in den kapitalistischen Arbeitsstaaten in der
Fiihrung der Wirtschaft zu teilen: die Vertreter der Unternehmer und der Arbeiter - Trusts und
Gewerkschaften. Ihr EinfluB auf die Politik ist im Wachsen und wird die Parlamente an
Bedeutung iiberflugeln. Sie werden einander erganzen und kontrollieren wie einst Senat und
Tribunat, Oberhaus und Unterhaus. Die Bezwingung der Naturkrafte und die Eroberung der
Naturschatze werden die Trusts leiten - die Verteilung der Beute werden die Gewerkschaften
kontrollieren.
Auf dem gemeinsamen Boden der Produktionssteigerung und der Vervollkommnung der Technik
werden sich Stinnes und Krassin begegnen: denn sie sind Gegner in der Frage der Verteilung -
Bundesgenossen in der Frage der Erzeugung: gegeneinander kampfen sie in der Frage der
Wirtschaftsmethode - mit einander im Menschheitskriege gegen die Naturkrafte. - [135]
X. VOM ARBEITSSTAA T ZUM KUL TURSTAA T
1. KINDERKULT
Unsere Epoche ist gleichzeitig die Kampfepoche der Technik und die Vorbereitungsepoche der
Kultur. Sie stellt an uns die Doppelfordemng:
1 . Ausbau des Arbeitsstaates.
2. Vorbereitung des Kulturstaates.
Die erste Aufgabe stellt die Politik in den Dienst der Technik - die zweite in den Dienst der Ethik.
Nur der Blick auf das kommende Zeitalter der Kultur gibt der leidenden und kampfenden
Menschheit des technischen Zeitalters die Kraft, den Kampf mit den Naturgewalten bis zum
Siege fortzusetzen.
Die Mehrarbeit, die der modeme Mensch gegeniiber dem mittelalterlichen leistet, ist sein
Vermachtnis an den Menschen der Zukunft; durch diese Mehrarbeit hauft er ein Kapital an
Erkenntnissen, Maschinen und Werten an, dessen Zinsen einst seine Enkel genieBen werden.
Die Teilung der Menschheit in Herren und Sklaven, in Kulturtrager und Zwangsarbeiter, wird
auch heute anerkannt: aber diese Kasten beginnen sich aus dem Sozialen ins Zeitliche zu
verschieben. Wir sind nicht [136]
die Sklaven unserer Zeitgenossen - sondern unserer Enkel. Statt eines neben einander
bestehenden Herren- und Sklavenstandes setzt unsere Kulturauffassung eine nacheinander
bestehende Sklaven- und Herrenepoche. Die Arbeitswelt von heute errichtet die Grundlagen der
Kulturwelt von morgen.
Wie einst die KulturmuBe der Herren aufgebaut war auf der Uberarbeitung der Sklaven - so wird
die KulturmuBe der Zukunft aufgebaut sein auf der Uberarbeitung der Gegenwart. Die jetzige
Menschheit steht im Dienste der kommenden; wir saen, auf daB andere ernten; unsere Zeit
arbeitet, forscht und ringt - damit eine kiinftige Welt in Schonheit erstehen kann.
So tritt an die Stelle des ostlichen Ahnen-Kultes ein westlicher Kinder-Kult. Er bliiht im
kapitalistischen wie im kommunistischen Arbeitsstaate: in Amerika wie in RuBland. Die Welt
kniet vor dem Kinde als Idol, als Versprechen einer schoneren Zukunft. Es ist zum Dogma
geworden, bei aller Wohltatigkeit zuerst des Kindes zu gedenken. Im kapitalistischen Westen
arbeiten sich die Vater zu Tode, um ihren Kindem reichere Lebensmoglichkeiten zu hinterlassen
- im kommunistischen Osten lebt und stirbt eine ganze Generation im Elend, um ihren
Nachkommen eine gliicklichere und gerechtere Zukunft zu sichern. Die Pietat des europaischen
Zeitalters ist nach vorwarts gerichtet.
Der westliche Kinder-Kult wurzelt im Entwicklungsglauben. Der Europaer sieht im spateren das
bessere, hoherentwickelte; er glaubt, daB seine Enkel der Freiheit wiirdiger sein werden als er und
seine Zeitgenossen: er glaubt, daB die Welt vorwartsgeht. Wahrend der Orientale die Gegenwart
schwebend sieht, im Gleich- [137]
gewicht zwischen der Vergangenheit und der Zukunft - erscheint sie dem Europaer als rollende
Kugel, die sich immer schneller von ihrer Vergangenheit loslost, um einer unbekannten Zukunft
zuzueilen. Der Orientale steht jenseits der Zeit; der Europaer geht mit der Zeit: er stoBt die
Vergangenheit ab und umarmt seine Zukunft. Seine Geschichte ist eine stete Abrechnung mit der
Vergangenheit und ein Drangen nach Zukunft. Weil er das Vorwartsschreiten der Zeit miterlebt,
bedeutet Stillstand fur ihn Riickschritt. Er lebt in der heraklitischen Welt des Werdens - der
Orientalien der parmenidischen Welt des Seins.
Infolge dieser Einstellung ist unser Zeitalter nur aus der Perspektive des kommenden zu werten.
Es ist eine Zeit der Vorbereitung und des Kampfes, der Unreife und des Uberganges. Wir sind ein
junges Geschlecht, das iiber die Briicke zweier Welten schreitet und am Beginn eines
unbetretenen Kulturkreises steht: so erleben wir unser starkstes Gefiihl im Vorwartsdringen, im
Wachsen und Kampfen - nicht im friedlichen GenuB orientalischer Reife. Nicht Lust ist unser
Ziel - sondern Freiheit; nicht Beschaulichkeit ist unser Weg sondern Tat. -
2. ARBEITSPFLICHT
Der Ausbau des Arbeitsstaates ist die eine Kulturpflicht unseres Zeitalters. Der Arbeitsstaat ist
die letzte Etappe des Menschen auf seinem Wege in das Kulturparadies der Zukunft.
Den Arbeitsstaat ausbauen, heiBt: alle erfaBbaren Arbeitskrafte der Natur und des Menschen auf
rationellste Weise in den Dienst der Produktion und des technischen Fortschrittes stellen. - [138]
In einer Epoche, die an den Grundlagen kommender Kulturen baut, hat niemand ein Recht auf
MuBe. Die allgemeine Arbeitspflicht ist eine ethische und technische Pflicht zugleich.
Ein ideales Programm fiir den Ausbau des Arbeitsstaates hat Popper-Lynkeus entworfen in
seinem Werke: "Die allgemeine Nahrpflicht." Er fordert darin, daB an die Stelle der Wehrpflicht
eine allgemeine, obligatorische Arbeitsdienstpflicht tritt, diese wiirde mehrere Jahre dauern und
den Staat in die Lage setzen, jedem seiner Mitglieder zeitlebens ein Existenzminimum an
Nahrung, Wohnung, Kleidung, Heizung und arztlicher Pflege zu garantieren. Dieses Programm
konnte das Elend und die Sorge brechen und zugleich die Diktatur der Kapitalisten und
Proletarier. Die Klassenunterschiede wiirden durch die allgemeine Arbeitspflicht ebenso
aufhoren, wie durch die Durchfiihrung der allgemeinen Wehrpflicht im Kriege der Gegensatz
zwischen Berufssoldaten und Zivilisten. - Die Abschaffung des Proletariates aber ist ein
erstrebenswareres Ideal als dessen Herrschaft. -
Die allgemeinste Zwangsarbeit ist der Preis, den Popper-Lynkeus fur die Beseitigung des Elends
und der Sorge fordert. Diese Zwangsarbeit durch Forderung der Technik und Verbesserung der
Organisation auf ein Minimum zu reduzieren und schlieBlich durch freiwillige Arbeit zu ersetzen
- bildet den zweiten Programmpunkt des Arbeitsstaates.
Die Hoffnung, die Lenin in "Staat und Revolution" auBert, die Menschheit wiirde auch nach
Abschaffung der Zwangsarbeit freiwillig welter arbeiten, ist fiir den Nordlander keine Utopie.
Denn der rastlose Europaer und Amerikaner fmdet in der Untatigkeit keine [139]
Befriedigung; durch mehrtausendjahrigen Zwang ist ihm Arbeit zur zweiten Natur geworden: er
braucht sie, um seine Krafte zu iiben und das Gespenst der Langeweile zu bannen. Sein Ideal ist
tatig, nicht beschaulich. Aus diesem Gmnde - nicht aus Habsucht - arbeiten die meisten
Millionare des Westens rastlos weiter, statt ihren Reichtum sorglos zu genieBen; aus dem
gleichen Grunde betrachten auch viele Angestellten ihre Pensioniemng als Schicksalsschlag, weil
sie die gewohnte Arbeit dem erzwungenen MiiBiggang vorziehen. -
Beim heutigen Stande der Technik ware diese freiwillige Arbeit noch unzureichend zur Bannung
der Not: noch sind viel Uberarbeitung und Zwangsarbeit notwendig, um den Weg freizumachen
fiir eine schone und freie Arbeit der Zukunft.
Diesen Weg in die Zukunft bahnen die Erfmder. Ihr unermiidliches und stilles Schaffen ist
wesentlicher und bedeutsamer fiir die Kultur als das laute Treiben der Politiker und Kiinstler, die
sich in den Vordergrund der Weltarena drangen. Die modeme Gesellschaft ist verpflichtet, auf
jede erdenkliche Weise ihre Erfmder und deren Tatigkeit zu fordem: ihnen miiBte sie die
Vorzugsstellung gewahren, die das Mittelalter seinen Monchen und Priestern einraumte und
ihnen so die Moglichkeit bieten, ohne Sorgen ihre Erfmdungen auszubauen.
Wie die Erfmder die wichtigsten Personlichkeiten unserer Epoche sind, so sind die
Industriearbeiter deren wichtigster Stand: denn sie bilden den Vortrupp im Kampfe des
Menschen um die Erdherrschaft und gebaren die Gebilde, die von Erfmdern gezeugt werden. -
[140]
3. PRODUZENTEN- UND KONSUMENTENSTAAT
Eine weitere Pflicht des Arbeitsstaates ist die Hebung des allgemeinen Wohlstandes durch
Steigemng der Produktion.
Sobald mehr Lebensmittel auf den Markt geworfen werden, als verzehit werden konnen - hort der
Hunger auf und der selige Naturzustand der Brotbaumlander kehrt auf hoherer Stufe wieder.
Nur wenn eine Stadt mehr Wohnungen baut, als sie Familien beherbergt, bannt sie die
Wohnungsnot, die sie durch Zwangseinquartierungen nur lindert, verteilt und verschiebt.
Nur wenn ebensoviele Autos erzeugt werden wie Taschenuhren, wird jeder Arbeiter Autobesitzer
sein: nicht, indem Volkskommissare sich in beschlagnahmte Autos von Bankdirektoren setzen.
Nur durch Produktion, nicht durch Konfiskation kann sich der Wohlstand eines Volkes dauemd
heben. -
Im kapitalistischen Staate ist die Produktion abhangig von der Preisbildung. Wenn es im
Interesse der Preisbildung liegt, ist der Produzent ebenso entschlossen, Waren zu vernichten wie
zu erzeugen, die Technik zu hemmen wie zu fordern, die Produktion zu drosseln wie zu steigem.
Steht die technische und kulturelle Entwicklung im Einklang mit seinen Interessen, so ist er
bereit, sie zu fordern - stehen sie zu einander im Widerspruch, so entscheidet er sich
unbedenklich fur den Gewinn gegen die Technik, Produktion und Kultur. Es liegt im dauernden
Interesse der Produzenten, daB die Nachfrage immer das Angebot iiber - [141]
steigt - wahrend es im Interesse der Konsumenten liegt, daB das Angebot die Nachfrage
iibersteigt.
Der Produzent lebt von der Not des Konsumenten: die Getreideproduzenten leben davon, daB
Menschen hungem; die Kohlenproduzenten leben davon, daB Menschen frieren. Sie haben ein
Interesse daran, Hunger und Frost zu verewigen. Das Getreidekapital ware entschlossen, die
Erfindung eines Brotersatzes - das Kohlenkapital, die Erfindung eines Kohlenersatzes zu
sabotieren; sie wiirden gegebenenfalls versuchen, die betreffende Erfindung aufzukaufen und zu
vernichten. Die Arbeiter der betreffenden Produktionszweige waren mit ihren Untemehmem
solidarisch, urn nicht Arbeit und Einkommen zu verlieren.
Die industriellen Unternehmer und Arbeiter sind an der Preissteigerung ihrer Industrieartikel
interessiert, - die Landwirte und Landarbeiter an der Preissteigerung ihrer Bodenprodukte. Als
Produzenten gehen die Wiinsche der Menschen auseinander - wahrend als Konsumenten alle
Menschen das gleiche, gemeinsame Ziel haben: Reduktion der Preise durch Steigerung der
Produktion.
Ein weiterer Unfug des Produzentenstaates ist die Reklame. Sie ist eine notwendige Folge des
Konkurrenzkampfes und besteht in der Erhohung der Nachfrage durch kiinstliche Weckung der
menschlichen Begehrlichkeit. Dieses Zurschaustellen und Aufdrangen des Luxus, der die
Begehrlichkeit weckt, ohne sie je befriedigen zu konnen - wirkt heute als Hauptursache des
allgemeinen Neides, der allgemeinen Unzufriedenheit und Verbitterung. Kein GroBstadter kann
alle ausgestellten Waren kaufen, die [142]
in den Auslagen seine Augen blenden: er muB sich also immer arm fiihlen, gemessen an diesen
aufgestapelten, ausgestellten Reichtiimern und Geniissen. Die seelischen Verheerungen, welche
die Reklame anrichtet, lassen sich nur beseitigen durch Abschaffung der Konkurrenz; der
Konkurrenzkampf wieder laBt sich nur beseitigen durch eine Abkehr vom Kapitalismus.
Trotz der groBartigen Forderung, die das technische Zeitalter dem Kapitalismus verdankt, darf es
nicht blind werden gegen die Gefahren, die von dieser Seite drohen: es muB rechtzeitig ein
besseres System zur Durchfiihrung bringen, das die Fehler des Kapitalismus vermeidet.
Der Rivale und Erbe des kapitalistischen Untemehmerstaates, der kommunistische Arbeiterstaat,
iibernimmt einen Teil der Fehler seines Vorgangers: denn auch in ihm herrscht eine
Produzentengruppe, auch er ist ein Produzentenstaat.
Der Kulturstaat der Zukunft hingegen wird Konsumentenstaat sein: seine Produktion wird von
den Konsumenten kontrolliert werden - nicht, wie heute, der Konsum durch die Produzenten. Es
wird nicht dem Gewinn - sondem der allgemeinen Wohlfahrt und Kultur zuliebe produziert
werden: nicht um der Produzenten, sondern um der Konsumenten willen.
Es ist die kiinftige Mission des Parlamentes, die iibereinstimmenden Interessen aller
Konsumenten zu vertreten und zu verteidigen gegen die divergierenden Interessen der
Produzentengruppen, deren Sprachrohr heute noch die Abgeordneten und Parteien sind.
4. REVOLUTION UND TECHNIK
Der wirtschaftliche Umsturz, der die heutige Produktionsanarchie Europas zu neuer Ordnung um
[143]
schaffen soil, darf seine produktive Mission nie vergessen und muB sich hiiten, in die
destruktiven Methoden RuBlands zu verfallen. Denn Europa ist durch seine Nordlage und
Ubervolkerung mehr als jeder andere Erdteil auf organisierte Arbeit und industrielle Produktion
angewiesen. Es kann nicht einmal voriibergehend von den Almosen seiner geizigen Natur leben;
alles, was es erreicht hat, verdankt es den Taten seiner Arbeitsarmee. Deren radikale
Desorganisation durch Krieg oder Anarchie bedeutet den Kulturtod Europas: denn durch einen
voriibergehenden Stillstand der europaischen Produktion miiBten mindestens hundert Millionen
Europaer verhungern; eine solche Katastrophe konnte Europa, dem die Widerstandskraft
RuBlands fehlt, nicht iiberleben. -
Die Ethik fordert vom kommenden Umsturz Europas, daB er das menschliche Leben schont und
heiligt - :
die Technik fordert vom kommenden Umsturz Europas, daB er das menschliche Schaffen schont
und heiligt.
Wer einen Menschen mutwillig totet - frevelt am heiligen Geiste der Gemeinschaft; wer eine
Maschine mutwillig zerstort - frevelt am heiligen Geiste der Arbeit. Dieses doppelten Frevels hat
sich im hochsten Grade schuldig gemacht der Kapitalismus im Weltkriege, der Kommunismus in
der russischen Revolution. Beide kannten weder Ehrfurcht vor menschlichem Leben noch vor
menschlichem Schaffen.
Wenn Europa belehrbar ist, kann es von der russischen Revolution lernen, welche Methoden es
nicht anwenden darf; denn an ihr hat es ein warnendes Beispiel fur die Bedeutung der Technik
und fur die [144]
Rache, die sie an ihren Verachtern nimmt. RuBlands Machthaber wahnten, ihr Land und die Welt
mit ethischen Zielen und militarischen Mitteln allein erlosen zu konnen - statt durch Arbeit und
Technik. Sie haben die Industrie und Technik ihres Landes der Politik zum Opfer gebracht.
Wahrend sie aber nach den Sternen der Gleichheit griffen, verloren sie den Boden der Produktion
unter ihren FiiBen - und stiirzten so in den Abgrund des Blends. Urn sich aus diesem Abgrund, in
dem RuBlands Volker verkommen, zu retten, sehen sich die Kommunistenfiihrer gezwungen, ihre
kapitalistischen Todfeinde zu Hilfe zu rufen gegen die iibermachtige russische Natur, die einst
Napoleons groBe Armee zerschmettert hat und heute den Bolschewismus mit dem gleichen
Verhangnis bedroht.
Folgt Europa dem destruktiven Beispiel der russischen Revolution, so riskiert es, statt zu einer
neuen, nachkapitalistischen Ordnung durchzudringen, in die Primitivitat vorkapitalistischer
Barbarei zuriickzusinken und gezwungen zu sein, noch einmal die kapitalistische Epoche zu
durchleben. Seine Geistesklarheit moge es vor diesem tragischen Schicksal bewahren: sonst
ergeht es ihm wie einem Patienten, der in der Narkose an Herzschwache stirbt - wahrend an ihm
eine geniale Operation vollzogen wird. Denn der Herzschlag Europas ist die Technik: ohne
Technik kann es nicht leben - auch unter der freiesten Verfassung. Bevor an die Giiterverteilung
geschritten werden kann, muB die Giitererzeugung gesichert werden: denn was niitzt Gleichheit,
Wenn alle verhungern? Und was schadet Ungleichheit, wenn niemand Not leidet?
Die europaische Revolution miiBte ihre Produktion vervielfachen, statt sie zu vemichten - ihre
[145]
Technik beleben, statt sie zu zerstoren. Nur dann hatte sie Aussicht auf Erfolg und auf dauernde
Verwirklichung ihrer ethischen Ideale.
Die technische Organisation und der Maschinenpark Europas bilden das Fundament seiner
kiinftigen Kultur; versucht Europa, diesem Kulturbau das politische Dach aufzusetzen, bevor
dessen technische Grundmauern stehen - stiirzt der Bau zusammen und begrabt unter seinen
Trummern die leichtfertigen Baumeister mitsamt den bedauemswerten Bewohnem. -
5. GEFAHREN DER TECHNIK
Wohin ethische Forderungen fiihren, wenn sie bhnd sind gegen technische Notwendigkeiten - hat
der Verlauf der russischen Revolution gezeigt; wohin technische Fortschritte fiihren, wenn sie
blind sind gegen ethische Notwendigkeiten - hat der Verlauf des Weltkrieges gezeigt.
Technik ohne Ethik muB ebenso zu Katastrophen fiihren, wie Ethik ohne Technik. Wenn Europa
in ethischer Hinsicht keine Fortschritte macht, muB es aus einem Weltkriege in den anderen
taumeln: diese werden urn so fiirchterlicher sein, je hoher sich inzwischen die Technik
entwickelt. Europas Zusammenbruch ist also unvermeidlich, wenn nicht sein ethischer Fortschritt
Schritt halt mit dem technischen. Dennoch ware es ebenso lacherlich und feige, wegen der
Moglichkeit technischer Kulturkatastrophen die Technik als solche zu bekampfen und zu
verdammen - wie es lacherlich und feige ware, wegen der Moglichkeit von Eisenbahnunfallen die
Eisenbahn zu vermeiden und zu verponen. [146]
Wahrend Europa den Arbeitsstaat ausbaut, darf es nie vergessen den Kulturstaat vorzubereiten.
Die Trager der ethischen Entwicklung: Lehrer und Priester, Kiinstler und Schriftsteller - bereiten
den Menschen auf den groBen Festtag vor, der das Ziel der Technik ist. Ihre Bedeutung ist ebenso
groB, wie die der Ingenieure, Chemiker, Arzte: diese gestalten den Leib der kommenden Kultur -
jene die Seele. Denn Technik ist der Leib, Ethik die Seele der Kultur. Hier liegt ihr Gegensatz -
hier ihre Verwandtschaft. -
Ethik lehrt den Menschen den rechten Gebrauch der Macht und Freiheit, die ihm Technik
gewahrt. Ein MiBbrauch der Macht und Freiheit ist fiir den Menschen verhangnisvoller als
Ohnmacht und Unfreiheit: durch die menschliche Bosheit konnte das Leben in der kiinftigen
Periode der MuBe noch schrecklicher werden als in der gegenwartigen Periode der Zwangsarbeit.
Von der Ethik hangt es ab, ob die Technik den Menschen in die Holle fiihrt oder in den Himmel.
Die Maschine tragt einen Januskopf: geistvoll gehandhabt, wird sie Sklavin des
Zukunftsmenschen sein und ihm Macht, Freiheit, MuBe und Kultur sichern - geistlos gehandhabt,
wird die Maschine den Menschen versklaven und ihm den Rest seiner Macht und Kultur rauben.
Gelingt es nicht, die Maschine zu einem Organ des Menschen zu machen - so muB der Mensch
zu einem Bestandteil der Maschine herabsinken.
Technik ohne Ethik ist praktischer Materialismus: er fiihrt zum Untergang des Menschlichen im
Menschen, und zu seiner Verwandlung in eine Maschine; er verleitet den Menschen, sich zu
verauBerlichen und seine Seele an Dinge hinzugeben. Aller technische [147]
Fortschritt aber wird schadlich und wertlos, wenn der Mensch, indes er die Welt erobert, seine
Seele verliert: dann ware es besser, er ware Tier geblieben.
Wie unter Kriegsvolkem Heere und Kriege notwendig waren zur Erhaltung der Freiheit und der
Kultur - so sind in armen und iibervolkerten Erdteilen Arbeit und Technik notwendig zur
Erhaltung des Lebens und der Kultur. Die Armee muB aber politischen Zielen dienstbar bleiben -
die Technik ethischen. Eine Technik, die sich von der Ethik emanzipiert und sich fiir einen
Selbstzweck halt, ist ebenso verhangnisvoll fiir die Kultur, wie fiir einen Staat eine Armee, die
sich von der Politik emanzipiert und sich fiir einen Selbstzweck halt: ein fiihrerloser
Industrialismus muB die Kultur ebenso in den Abgrund reiBen - wie ein fiihrerloser Militarismus
den Staat.
Wie der Korper Organ der Seele ist, so muB sich die Technik der ethischen Fiihrung unterwerfen;
sie muB sich hiiten, in den Irrtum zu verfallen, den die Kunst bei der Proklamierung des I'art pour
I'art begangen hat; denn weder Kunst noch Technik, noch Wissenschaft, noch Politik sind
Selbstzweck: sie alle sind nur Wege, die zum Menschen fiihren - zum starken, vollendeten
Menschen. -
6. ROMANTIK DER ZUKUNFT
In harten und schweren Zeiten wachst die Sehnsucht und mit ihr die Romantik.
Auch unsere Zeit hat eine Romantik geboren: iiberall regt sich die Sehnsucht nach fremden,
schoneren Welten, die uns hinweghelfen sollen iiber das graue Einerlei [148]
unserer Arbeitstage. Die Pflegestatten modemer Romantik: Kinos, Theater und Romane sind wie
Fenster, aus denen die Zwangsarbeiter des europaischen Zuchthauses hinausblicken konnen ins
Freie. -
Die moderne Romantik hat vier Hauptformen:
Die Romantik der Vergangenheit, die uns zuriickversetzt in buntere und freiere Epochen unserer
Geschichte;
die Romantik der Feme, die uns den groBen Osten und den wilden Westen erschlieBt; die
Romantik des Okkulten, die eindringt in die verschlossenste Bezirke des Lebens und der Seele
und den oden Alltag mit Wundern und Geheimnissen erfiillt;
die Romantik der Zukunft, die den Menschen iiber das trostlose Heute hinwegtrostet durch den
Ausblick auf ein goldenes Morgen.
Spengler, Kayserhng und Steiner kommen dieser modernen Romantik entgegen; Spengler
erschlieBt uns die Kuhuren der Vergangenheit - Kaiserling die Kulturen der Feme - Steiner das
Reich des Okkulten. Die groBe Wirkung, die diese Manner auf das deutsche Geistesleben
ausiiben, ist teilweise zuriickzufiihren auf die romantische Sehnsucht des schwergepriiften
deutschen Volkes, das in die Vergangenheit, in die Feme und zum Himmel blickt, um dort Trost
zu fmden. -
In die Vergangenheit, in die Feme und ins Jenseits fiihrt die Phantasie - in die Zukunft die Tat.
Daher wirkt weder Historismus, noch Orientalismus, noch Okkultismus als die eigentlich
treibende Kraft unserer Zeit - sondern die Romantik der Zukunft: sie hat die Idee des
Zukunftsstaates geboren und damit die Weltbewegung des Sozialismus: sie hat die Idee des [149]
Ubermenschen gezeugt und damit die Umwertung der Werte eingeleitet.
Marx, der Verkiinder des Zukunftsstaates und Nietzsche, der Verkiinder des Ubermenschen sind
beide Romantiker der Zukunft. Sie verlegen das Paradies weder in die Vergangenheit - noch in
die Feme - noch in das Jenseits: sondern in die Zukunft.
Marx predigt das kommende Weltreich der Arbeit - Nietzsche das kommende Weltreich der
Kultur. Alles, was sich heute mit dem Ausbau des Arbeitsstaates befaBt, muB Stellung nehmen
zum Sozialismus - alles, was sich heute mit der Vorbereitung des Kulturstaates befaBt, muB
Stellung nehmen zum Ubermenschen. Marx ist der Prophet des Morgen - Nietzsche der Prophet
des Ubermorgen.
Alle groBen sozialen und geistigen Ereignisse im heutigen Europa kniipfen irgendwie an das
Werk dieser beiden Manner an: die soziale und politische Weltrevolution steht im Zeichen Marx'-
die ethische und geistige Weltrevolution steht im Zeichen Nietzsches. Ohne diese beiden Manner
ware das Antlitz Europas ein anderes. -
Marx und Nietzsche, die Verkiinder des sozialen und des individualen Zukunftsideales, sind
beide Europaer, Manner, Dynamiker. Aus der Fixierung ihrer Ideale in die Zukunft ergeben sich
Wille und Notwendigkeit, sie durch Taten zu verwirklichen. Ihre dynamischen Ideale enthalten
Forderungen: sie wollen den Menschen nicht nur belehren, sondern bezwingen; sie drehen seinen
Blick nach vorwarts und wirken so als Umschopfer der Gesellschaft und des Menschen. In ihrer
Polaritat spiegelt sich das Wesen des europaischen Geistes und die Zukunft des europaischen
Schicksals. -
Das hochste, letzte Ideal europaischer Zukunfts- [150]
romantik ist: nicht Abkehr - sondern Riickkehr zur Natur auf hoherer Ebene. Im Dienste dieses
Ideales steht die Kultur, die Ethik und die Technik. Nach hunderttausenden von Kriegsjahren soil
der Mensch wieder Frieden schlieBen mit der Natur und heimkehren in ihr Reich; aber nicht als
ihr Geschopf - sondern als ihr Herr. Denn der Mensch steht im Begriffe, die Verfassung seines
Planeten zu stiirzen: gestem war sie anarchisch, morgen soil sie monarchisch werden. Eines unter
den Milliarden Geschopfen greift nach der Krone der Schopfung: der freie, entfaltete Mensch als
koniglicher Gebieter der Erde. -
151
PAZIFISMUS1924
Den toten, lebenden, kommenden
Helden des Friedens!
1. ZEHN JAHRE KRIEG
Der Friede, der vor zehn Jahren in Triimmer ging, ist bis heute nicht wiederhergestellt.
Auf die fiinfjahrige Kriegsperiode folgte fiir Europa eine fiinljahrige Halbkriegsperiode. In diese
Periode fallt der russisch-polnische und der griechisch-tiirkische Krieg, die Ruhrbesetzung, die
Kampfe in Oberschlesien, Litauen, Westungarn, Fiume, Korfu, die Biirgerkriege in Deutschland,
Italien, Spanien, Ungarn, Irland, Griechenland, Bulgarien und Albanien, das Umsichgreifen der
politischen Morde und der Volkerverhetzung, der Zusammenbruch von Wahrungen und die
Verarmung ganzer Volker.
Dieses schlimmste Jahrzehnt europaischer Geschichte seit der Volkerwanderung bildet eine
schlimmere Anklage gegen den Krieg, als Pazifisten sie jemals vorbringen konnten und konnen:
dennoch ist dieser Angeklagte weder an seiner Freiheit, noch an seiner Ehre, noch an seinem
Leben bestraft worden, sondern laBt sich iiberall als Triumphator feiern, diktiert die europaische
Politik und bereitet sich vor, von neuem iiber die Volker Europas herzufallen, urn sie endgiiltig zu
vernichten.
Denn es ist zweifellos, daB infolge der Fortschritte der Kriegstechnik, insbesondere der
Giftfabrikation und der Aviatik, der nachste europaische Krieg diesen Erdteil nicht schwachen,
sondern vernichten wiirde.
Zu dieser Gefahr, die ihn personlich unmittelbar betrifft, muB jeder Europaer Stellung nehmen.
Erscheint sie ihm unabwendbar, so bleibt als einzige logische Konsequenz die Auswanderung
nach einem fremden [155]
Erdteil. Erscheint sie ihm abwendbar, so bleibt als Pflicht der Kampf gegen die Kriegsgefahr und
deren Trager: die Pflicht zum Pazifismus.
Europaer zu bleiben, ist heute nicht nur ein Schicksal - sondern auch eine verantwortungsvolle
Aufgabe, von deren Losung die Zukunft aller und jedes Einzelnen abhangt.
*
Pazifismus ist heute in Europa die einzige Realpohtik. Wer von einem Kriege das Heil hofft, gibt
sich romantischen Illusionen hin.
Die Mehrzahl der europaischen Politiker scheint dies zu erkennen und den Frieden zu wiinschen -
und mit ihnen die iiberwaltigende Mehrzahl der Europaer.
Diese Tatsache kann den Pazifisten nicht beruhigen, der sich daran erinnert, daB dies auch 1914
der Fall war; auch damals wollten die meisten Staatsmanner und die Majoritat der Europaer den
Frieden: und dennoch brach, gegen ihren Willen, der Krieg aus. Dieser Kriegsausbruch erfolgte
durch einen internationalen Staatsstreich der kriegsfreundlichen Minoritaten gegen die
kriegsfeindlichen Majoritaten Europas.
Dieser Staatsstreich, von langer Hand vorbereitet, ergriff einen giinstigen AnlaB, iiberrumpelte
durch Lagen und Schlagworte die ahnungslosen Volker, deren Schicksal nun durch Jahre jenen
Minoritaten preisgegeben blieb.
So kam es zum Weltkrieg durch die Entschlossenheit der Militaristen und die Schwache der
Pazifisten. Solange dieses Verhaltnis bleibt, kann taglich ein neuer europaischer Krieg
ausbrechen. Denn heute wie damals steht eine kleine aber tatkraftige Kriegsminoritat einer
groBen aber energielosen Friedensmajoritat gegeniiber; sie spielt mit dem Krieg, statt ihn zu
zerstampfen; sie besanftigt die Kriegshetzer, statt sie niederzuwerfen und schafft so die gleiche
Lagewie 1914.
*
[156]
Der Pazifismus vergiBt, daB ein Wolf starker ist als tausend Schafe - und daB die zahl in der
Politik wie in der Strategie nur dann entscheidet, wenn sie gut gefiihrt und gut organisiert ist.
Dies ist der Pazifismus heute so wenig wie vor zehn Jahren: Ware er dies schon damals gewesen,
so ware der Krieg nicht ausgebrochen; ware er dies heute, so ware Europa vor einem neuen
Kriege sicher.
Die Ohnmacht des Pazifismus liegt heute wie damals darin, daB zwar sehr viele den Frieden
wiinschen, aber sehr wenige ihn wollen; daB viele den Krieg furchten - aber nur wenige ihn
bekampfen. [157]
2. KRITIK DES PAZIFISMUS
Die passive Kriegsschuld trifft den europaischen Pazifismus. Seine schlechte Fiihrung, seine
Schwache und Charakterlosigkeit hat die Kriegshetzer ermutigt, den Krieg zu beginnen.
Die Anhanger des Friedensgedankens, die 1914 fiir ihr Ideal nicht rechtzeitig und nicht stark
genug eingetreten sind, sind mitverantwortlich am Kriegsausbruch.
Wenn aber heute, nach dieser Erfahrung und Erkenntnis, ein Gegner des Krieges bei jener
Passivitat beharrt, so ladet er eine noch schwerere Schuld auf sich, indem er dem Zukunftskrieg
indirekt Vorschub leistet.
Ein reicher Pazifist, der heute den Frieden nicht finanziert, ist ein halber Kriegshetzer.
Ein pazifistisch gesinnter Journalist, der heute den Frieden nicht propagiert - ist ebenfalls ein
halber Kriegshetzer.
Ein Wahler, der aus innerpolitischen Motiven einen Kandidaten wahlt, von dessen Friedenswillen
er nicht iiberzeugt ist - unterschreibt damit sich und seinen Kindern ein halbes Todesurteil.
Die Pflicht jedes Pazifisten ist: im Rahmen seiner Moglichkeiten den drohenden Zukunftskrieg
zu verhindern; tut er nichts nach dieser Richtung, so ist er entweder kein Pazifist oder
pflichtvergessen.
*
Der Pazifismus hat aus dem Kriege nichts gelemt: er ist heute wesentlich der gleiche wie 1914.
Wenn er seine Fehler nicht erkennt und sich nicht [158]
wandelt, wird der Militarismus auch in Zukunft iiber ihn hinwegschreiten.
Die Hauptfehler des europaischen Pazifismus sind:
Der Pazifismus ist unpolitisch: unter seinen Fiihrern sind zu viele Schwarmer, zu wenig Politiker.
Darum baut der Pazifismus vielfach auf Illusionen, rechnet nicht mit gegebenen Tatsachen, nicht
mit der menschlichen Schwache, Unvemunft und Bosheit: so zieht er aus falschen
Voraussetzungen falsche Schliisse. Der Pazifismus ist uferlos; er versteht es nicht, seine Ziele zu
beschranken; er erreicht nichts, weil er alles zugleich will.
Der Pazifismus ist weitsichtig; er ist vemiinftig im Ziel - aber unverniinftig in den Mitteln. Er
richtet sein Wollen auf die Zukunft - und uberlaBt die Gegenwart den Intriguen der Militaristen.
Der Pazifismus ist planlos: er will den Krieg verhindern, ohne ihn zu ersetzen; seinem negativen
Ziel fehlt das positive Programm einer aktiven Weltpolitik. Der Pazifismus zersplittert; er hat
Sekten, aber keine Kirche; seine Gruppen arbeiten isoliert, ohne einheitliche Fiihrung und
Organisation.
Der Pazifismus pflegt Anhangsel, statt Mittelpunkt politische Programme zu sein; ihr Mittelpunkt
ist eine innerpolitische Einstellung, wahrend ihr Pazifismus mehr taktisch als prinzipiell ist.
Der Pazifismus ist inkonsequent; er halt sich meist bereit, einem "hoheren Ideal", das heiBt einem
geschickten Schlagwort gegeniiber kritiklos zuriickzutreten, wie er dies 1914 getan hat und auch
kiinftig zu tun bereit ware.
*
Das groBte Ubel des Pazifismus sind die Pazifisten. Daran andert auch die Tatsache nichts, daB
sich unter ihnen die besten und bedeutendsten Manner unserer Zeit finden. Diese sind von der
folgenden Kritik ausgenommen. [159]
Die meisten Pazifisten sind Phantasten, welche die Politik und deren Mittel verachten, statt sie zu
betreiben; damm werden sie, sehr zum Schaden ihres Zieles, politisch nicht ernst genommen.
Viele Pazifisten glauben, die Welt durch Predigen zu andern - statt durch Handeln: sie
kompromittieren den politischen Pazifismus, indem sie ihn mit religiosen und methaphysischen
Spekulationen durchsetzen.
Meist ist die Furcht vor dem Kriege die Mutter des Pazifismus. Erstreckt sich diese Furcht vor
der Gefahr auch auf das sonstige Leben der Pazifisten, so verhindert es sie, sich fur den
Friedensgedanken zu exponieren.
Die Tapferkeit und Opferwilligkeit der Pazifisten ist seltener als die der Militaristen; viele
erkennen die Kriegsgefahr - aber wenige bringen personliche oder materielle Opfer, urn sie
abzuwenden. Statt Kampfer- sind sie Driickeberger des Pazifismus, die anderen den Kampf
iiberlassen, an dessen Friichten sie teilnehmen.
Viele Pazifisten sind sanfte Naturen, die nicht nur den Krieg scheuen - sondem auch den Kampf
gegen den Krieg; ihr Herz ist rein, aber ihr Wille schwach und daher ihr Kampfwert illusorisch.
Die meisten Pazifisten sind iiberzeugungsschwach - wie die meisten Menschen; unfahig, einer
Massensuggestion im entscheidenden Augenblick zu trotzen - sind sie Pazifisten im Frieden,
Militaristen im Kriege. Nur eine feste Organisation, gefiihrt von einem starken Willen, kann sie
dauernd in den Dienst des Friedens zwingen. [160]
3. RELIGIOSER UND POLITISCHER PAZIFISMUS
Der religiose Pazifismus bekampft den Krieg, unsittlich - der politische Pazifismus, weil er
unrentabel ist.
Der religiose Pazifismus sieht im Krieg ein Verbrechen - der politische Pazifismus eine
Dummheit.
Der religiose Pazifismus will den Krieg abschaffen durch Anderung des Menschen - der
politische Pazifismus will den Krieg verhindem durch Anderungen der Verhaltnisse. -
Beide Formen des Pazifismus sind gut und berechtigt: gesondert dienen sie dem menschlichen
Frieden und Fortschritt; nur im ihrer Vermischung schaden sie einander mehr, als sie einander
niitzen. Hingegen sollen sie einander bewusst unterstiitzen: es ist also selbstverstandlich, dass der
politische Pazifist sich auch ehtischer Argumente bedient, um die Werbekraft seiner Propaganda
zu starken; und dass der religiose Pazifist im Entscheidungsfall die pazifistische Politik
unterstiitzen wird - statt der militaristischen.
*
In seinen Methoden muB sich aber der praktische Pazifismus vom ethischen Pazifismus
emanzipieren: sonst bleibt er unfahig, den Kampf gegen den Militarismus erfolgreich zu fiihren.
In der Politik haben sich die machiavellistischen Methoden des Militarismus besser bewahrt als
[161]
die tolstoischen Methoden des Pazifismus, der infolgedessen 1914 und 1919 kapitulieren muBte.
Will kiinftig der Pazifismus siegen, so muB er, von seinen Gegnern lernen und seine tolstoischen
Ziele mit machiavellistischen Mitteln verfolgen: er muB von Raubem lernen, wie man mit
Raubem umgeht. Denn wer unter Raubern im Sinne der Gewaltlosigkeit seine Waffe wegwirft,
hilft damit nur den Raubern, nur der Gewalt, nur dem Unrecht. Darum muB der politische Pazifist
die Tatsache anerkennen, daB in der Tagespolitik die Gewaltlosigkeit der Gewalt nicht
gewachsen ist; daB nur der auf Gewalt verzichten kann, der, wie einst das Christentum, mit
Jahrhunderten rechnet. Das kann aber Europa nicht: siegt hier der Friede nicht bald, so werden in
300 Jahren nur noch chinesische Archaologen seine Kirchhofsruhe storen. Es geniigt also nicht,
daB der europaische Friede siegt: siegt er nicht bald, ist sein Sieg illusorisch.
*
Wer ein Spiel erfolgreich spielen will, muB sich den Spielregeln unterwerfen. Die Spielregeln der
Politik sind: List und Gewalt.
Will der Pazifismus in die Politik praktisch eingreifen, so muB er sich dieser Mittel zur
Bekampfung des Militarismus bedienen. Erst nach seinem Siege konnte er die Spielregeln andem
und Recht an die Stelle von Macht setzen.
Solange jedoch in der Politik Macht vor Recht geht, muB der Pazifismus sich auf Macht stiitzen.
UberlaBt er die Macht den Kriegsfreunden, wahrend er sich selbst nur auf sein gutes Recht stiitzt
- so leistet er, als Prinzipienreiterei, nur dem Zukunftskriege Vorschub.
Ein Politiker, der keine Gewalt anwenden will, gleicht einem Chirurgen, der nicht schneiden will:
hier wie dort kommt es darauf an, das richtige MaB zu finden zwischen zu viel und zu wenig:
sonst stirbt der Patient, statt zu genesen. [162]
Politik ist die Lehre von der Eroberung und dem richtigen Gebrauch der Macht. Der innere
Frieden aller Lander wird aufrechterhalten durch Recht und Gewalt: Recht ohne Gewalt miiBte
sofort zu Chaos und Anarchie fiihren, also zur schlimmsten Form der Gewalt.
Das gleiche Schicksal droht dem internationalen Frieden - wenn sein Recht keine Stiitze in einer
intemationalen Machtorganisation fmdet.
Der Pazifismus als politisches Programm darf also keinesfalls die Gewalt ablehnen: nur muB er
sie gegen den Krieg einsetzen - statt fiir den Krieg.
*
Das MiBtrauen der friedliebenden Massen in die politische Fiihrung der Pazifisten, das scheinbar
paradox ist, erklart sich daraus, daB die meisten Pazifisten das ABC der Politik nicht beherrschen.
Denn wie wir in einem ProzeB unsere Vertretung lieber einem geschickten Anwalt anvertrauen,
als einem ungeschickten - auch wenn dieser noch so giitig ist: so legen auch die Volker ihr
Schicksal lieber in geschickte, als in giitige Hande.
Die Pazifisten werden erst dann das politische Vertrauen der Massen erobem, wenn sie, nach den
Worten der Bibel, nicht nur sanft sind wie die Tauben - sondern auch klug wie die Schlangen;
wenn sie nicht nur edler in den Zielen - sondern auch geschickter in den Mitteln sind, als ihre
militaristischen Rivalen. [163]
4. REFORM DES PAZIFISMUS
Die neue Zeit fordert einen neuen Pazifismus. Staatsmanner sollen an seine Spitze treten, statt
Traumer; Kampfer sollen seine Reihen fiillen, statt Norgler!
Nur ein staatskluger Pazifismus kann die Massen iiberzeugen, nur ein heroischer Pazifismus kann
sie hinreiBen!
Die neuen Pazifisten sollen Optimisten des Willens sein - aber Pessimisten der Erkenntnis. Sie
sollen die Gefahren, die dem Frieden drohen, weder iibersehen noch iibertreiben - sondern:
bekampfen. Die Behauptung: "Ein neuer Krieg ist unmoglich." ist ebenso falsch wie die
Behauptung: "Ein neuer Krieg ist unvermeidlich." Ob die Kriegsmoglichkeit sich in
Kriegswirklichkeit verwandeln wird oder nicht, hangt in erster Linie von der Tatkraft und
Umsicht der Pazifisten ab. Denn Krieg und Frieden sind keine Naturereignisse - sondern
Menschenwerk.
Darum muB der Pazifist dem Frieden gegeniiber folgenden Standpunkt einnehmen:
"Der Friede ist bedroht;
Der Friede ist moglich;
Der Friede ist wiinschenswert:
Schaffen wir also den Frieden!"
*
Der neue Pazifismus muB seine Ziele beschranken, um sie zu erreichen und nur das fordern, was
er entschlossen ist, durchzusetzen. Denn das Reich des Friedens laBt sich nur schrittweise erobern
und ein [164]
Schritt vorwarts in der Wirklichkeit gilt mehr als tausend Schritte in der Phantasie.
Uferlose Programme locken nur Phantasten - wahrend sie Politiker abstoBen: ein Politiker kann
aber fiir den Frieden mehr tun, als tausend Phantasten!
*
Die Pazifisten aller Nationen, Parteien und Weltanschauungen miissen in der internationalen
Politik eine Phalanx bilden mit einheitlicher Fiihrung und gemeinsamen Symbolen.
Eine Fusion so vieler divergierender Gruppen ist unmoglich und unzweckmaBig - aber ihre
Kooperation ist moglich und notwendig.
Der Pazifismus muB von jedem Politiker Klarheit fordern iiber seine Stellung zu Krieg und
Frieden. In dieser Lebensfrage hat jeder Wahler ein Recht, den Standpunkt seines Kandidaten
genau zu kennen, zu wissen, unter welchen prazisen Umstanden dieser fiir den Krieg stimmen
wiirde und welche Mittel er anwenden will, um den Krieg zu verhindern.
Nur wenn die Wahler auf diese weise in die AuBenpolitik eingreifen, statt sich wie bisher mit
Phrasen und Schlagwortem abspeisen zu lassen - konnten die Parlamente zu Spiegelbildern des
Friedenswillen werden, der die Massen der Arbeiter, Bauern und Biirger aller Nationen beseelt.
*
Der neue Pazifismus muB vor allem auch die Pazifisten reformieren.
Der Pazifismus kann nur siegen, wenn die Pazifisten bereit sind, im Kampf um den Frieden Opfer
zu bringen an Ehre, Geld und Leben; wenn die zahlkraftigen Pazifisten zahlen - die tatkraftigen
handeln.
Solange die Massen in den Militaristen, die taglich bereit sind, ihr Leben fiir ihr Ideal
hinzugeben, Helden [165]
sehen - in den Pazifisten aber Schwachlinge und Feiglinge, wird die Begeisterung fiir den Krieg
starker sein, als die Begeisterung fiir den Frieden.
Denn die Uberzeugungskraft liegt in den Dingen - die Begeisterungskraft aber in den Menschen.
Diese Kraft, zu begeistem, wird urn so starker sein, je mehr die Pazifisten Kampfer, Apostel,
Helden und Martyrer ihrer Idee werden - statt deren Anwalte und NutznieBer. - [166]
5. WELTFRIEDEN UNO EUROPAFRIEDEN
Die Ziele des religiosen Pazifismus sind absolut und einfach - die Ziele des politischen
Pazifismus relativ und vielfaltig. Jedes politische Problem fordert eine besondere Stellungnahme
des Pazifismus.
Es gibt drei Haupttypen des Krieges: der Angriffs- , Verteidigungs - und Befreiungskrieg.
Alle Pazifisten sind Gegner des Eroberungskrieges; der Weg zu seiner Bekampfung ist klar
vorgezeichnet: gegenseitige Versicherung von Staaten zu gemeinsamen Abwehr des
Friedensbrechers. Eine solche Organisation, wie sie heute der Volkerbund im Garantiepakt plant,
wird in Zukunft die Volker vor Eroberungskriegen schiitzen und ihnen zugleich individuelle
Verteidigungsaktionen ersparen.
Viel schwieriger ist das Problem des Befreiungskrieges. Denn dieser ist in der Form ein
Angriffskrieg - im Wesen aber ein Verteidigungskrieg gegen eine erstarrte Eroberung. Ein
Pazifismus, der Befreiungskriege unmoglich macht, ergreift damit die Partei der Unterdriicker.
Anderseits ware die Internationale Legitimierung des Befreiungskrieges ein Freibrief fiir
Er ob erung skri ege .
Denn die Befreiung unterdriickter Volker und Klassen bildet den beliebtesten Vorwand aller
Eroberungskriege; und da es iiberall Volker, Volkssplitter, Rassen und Klassen gibt, die sich
unterdriickt fiihlen oder es wirklich sind, ware heute ein Pazifismus, der den Befreiungskrieg
gestattet, praktisch illusorisch. [167]
Zwei Theorien stehen sich also hier gegeniiber: der konservative Pazifismus saturierte Volker,
deren Ziel die Bekampfung jedes Friedensbrechers, die Erhaltung des Status quo und der
gegenwartigen Herrschaftsverhaltnisse ist - und der revolutionare Pazifismus, dessen Ziel ein
letzter Weltkrieg zur Befreiung aller unterdriickten Klassen, Volker und Rassen und damit die
Vernichtung jeder kiinftigen Kriegsursache und die Begriindung - der pazifistischen Weltrepublik
ist.
Der konservative Pazifismus hat seine Zentrale im Genfer Volkerbund - der revolutionare in der
Moskauer Internationale.
*
Der Genfer Pazifismus will heute den Frieden erhalten, ohne die Konfliktstoffe zu beseitigen, die
zu einem Zukunftskrieg zu fiihren drohen; der Moskauer Pazifismus will die Internationale
Explosion beschleunigen, um wenigstens fiir die Zukunft ein gesichertes Friedensreich zu
errichten.
Es ist zu fiirchten, daB Genf zu schwach sein wird, um den Frieden zu erhalten - und Moskau zu
schwach, ihn zu errichten. Darum bedrohen beide Tendenzen in ihrem Radikalismus den
Weltfrieden.
Ein teilweiser Ausweg aus diesem Dilemma ist ein evolutionarer Pazifismus, dessen Ziel ein
schrittweiser Abbau der nationalen und sozialen Unterdriickung bei gleichzeitiger
Aufrechterhaltung des Friedens ist. Dieser Pazifismus, der wie ein schmales Sell iiber einen
doppelten Abgrund fiihrt, erfordert das hochste politische Geschick der Fiihrer und ein groBes
politisches Verstandnis der Volker. Dennoch muB er von alien versucht werden, die ehrlich den
Frieden wollen.
*
Die beiden schwierigsten Friedensprobleme der Zukunft sind: das indische und das australische
Problem. In der indischen Frage (die ein Spezial- [168]
fall der allgemeinen Kolonialfrage ist) stehen sich der Wille der indischen Kulturnation zur
politischen Unabhangigkeit und der Wille GroBbritanniens, es in seinem Staatsverbande zu
halten, scheinbar unversohnlich gegeniiber. Diese Lage reizt die asiatischen (und halbasiatischen)
Volker, sich eines Tages mit Indien zu einem groBen Befreiungskampfe zu vereinigen.
Die australische Frage (die ein Spezialfall der pazifischen Einwanderungsfrage ist) dreht sich urn
die Aussperrung der Mongolen aus den angel sachsischen Siedlungsgebieten. Der starke
Bevolkerungszuwachs der Mongolen steht in keinem Verhaltnis zu ihrem Mangel an
Siedlungsgebieten und droht eines Tages zu einer Explosion im pazifischen Ozean zu fiihren,
wenn ihnen kein Ventil geoffnet wird. Anderseits wissen die weiBen Australier, daB eine
Zulassung der Mongolen sie binnen kurzem in die Minoritat drangen wiirde. Welche Losung
dieses Problem finden wird, wenn einst China ebenso geriistet sein wird wie Japan, ist
unbestimmt.
Die friedliche Losung dieser Weltprobleme bildet eine sehr schwierige Aufgabe der britischen,
asiatischen und australischen Pazifisten.
Die europaischen Pazifisten jedoch miissen klar erkennen, daB eine kriegerische Losung dieser
Fragen wahrscheinlicher ist als eine friedliche, daB ihnen aber die Macht und der EinfluB fehlt,
diese drohenden Kriege zu verhindem.
*
Diese Erkenntnis klart die Mission des europaischen Pazifismus: er hat nicht die Macht, den
Erdball zu pazifizieren - wohl aber hat er die Macht, Europa den Dauerfrieden zu schenken,
indem er die europaische Frage lost und seinen Erdteil davor bewahrt, in jene asiatische und
pazifische Zukunftskonflikte verwickelt zu werden. Infolgedessen muB der politische Pazifismus
Europas seine Ziele beschranken und unterscheiden lemen, was er nur [169]
wiinschen - und was er auch erreichen kann. Ohne seine Krafte zu iiberspannen, muB er zunachst
in seinem eigenen Erdteil um den Dauerfrieden ringen und es den Amerikanern, Briten, Russen
und Asiaten iiberlassen, in den ihnen zugefallenen Weltteilen den Frieden zu erhalten. Dabei
miissen aber alle Pazifisten der Welt miteinander in standiger Fiihlung bleiben, da viele Probleme
(vor allem die Abriistung), nur international zu losen sind, und da der Internationale Pazifismus
versuchen muB, Konflikte zwischen jenen Weltkomplexen zu vermeiden und zu schlichten.
Im Verhaltnis zu jenen ostasiatischen Kriegsgefahren sind die europaischen Friedensprobleme
relativ leicht zu losen. Kein uniiberwindliches Hindemis steht dem europaischen Frieden im
Weg. Bei einem europaischen Kriege konnte niemand etwas gewinnen aber alle alles verlieren.
Der Sieger wiirde todlich verwundet - der Besiegte vernichtet aus diesem Massenmorden
hervorgehen.
Deshalb konnte ein neuer europaischer Krieg nur entstehen durch ein Verbrechen der
Militaristen, durch den Leichtsinn der Pazifisten und die Dummheit der Politiker.
Er kann verhindert werden, wenn in jedem Lande die Kriegshetzer in Schach gehalten werden,
die Pazifisten ihre Pflicht erfiillen und die Staatsmanner die Interessen ihrer Volker wahren.
*
Die Sicherung des Friedens in Europa, das heute zum Balkan der Welt geworden ist, bildet einen
wesentlichen Schritt vorwarts zum Weltfrieden. Wie der Weltkrieg von Europa seinen Ausgang
nahm - so konnte vielleicht auch der Weltfrieden einst von Europa seinen Ausgang nehmen.
Keinesfalls ist an einen Weltfrieden zu denken, bevor nicht der europaische Frieden in einem
stabilen System verankert ist. [170]
6. REALPOLITISCHES FRIEDENSPROGRAM
Die europaische Kriegsgefahr gliedert sich in zwei Gruppen: die erste ist in der nationalen
Unterdriickung begriindet - die zweite in der sozialen. Heute bedrohend die Grenzfragen und die
mssische Frage den europaische Frieden. -
Das Wesen der Grenzfrage ist, daB die meisten europaischen Staaten und Volker mit ihren
derzeitigen Grenzen unzufrieden sind, da sie den nationalen, wirtschaftlichen oder strategischen
Forderungen der Nationalisten nicht entsprechen. Eine friedliche Anderung der heutige Grenzen
ist bei deren gegenwartigen Bedeutung unmoglich: daher bereiten die Nationalisten jener
unzufriedenen Staaten eine gewaltsame Grenzanderung durch einen neuen Krieg vor und
zwingen ihre Nachbarn zu Riistungen.
Die mssische Frage wurzelt heute in der Tatsache, daB an der offenen Ostgrenze Europas eine
Weltmacht steht, deren Fiihrer es als ihr Ziel bekennen, das bestehende System in Europa
gewaltsam zu stiirzen. Urn dieses Ziel zu erreichen, unterstiitzen sie die soziale Irredenta Europas
mit Geld und hoffen bald in die Lage zu kommen, diesen Propagandageldern beim Ausbruch der
europaischen Revolution Sowjettruppen nachsenden zu konnen.
Aus prinzipiellen Griinden ist RuBland Gegner des heutigen Pazifismus, bekennt sich zu
militaristischen Methoden und organisiert eine starke Armee, um mit deren Hilfe die Weltkarte,
wenigstens in Europa [172]
und Asien, griindlich zu andern. Sobald diese Armee stark genug sein wird, wird sie zweifellos
gegen Westen marschieren.
*
Diese beiden Probleme, die sich an einzelnen Punkten (Bessarabien, Ostgalizien) begegnen,
bedrohen taglich den Frieden Europas. Jeder europaische Pazifist muB sich mit ihnen
auseinandersetzen und versuchen, sie abzuwenden.
Das Pan-Europa-Programm*) ist der einzige Weg, diese beiden drohenden Kriege mit
realpolitischen Mitteln zu verhindern und den europaischen Frieden zu sichern. Sein Ziel ist:
1. Sicherung des innereuropaischen Friedens durch paneuropaischen Schiedsvertrag,
Garantiepakt, Zollbund und Minoritatenschutz.
2. Sicherung des Friedens mit RuBland durch ein paneuropaisches Defensivbiindnis, durch
gegenseitige Anerkennung, Nichteinmischung und Grenzgarantie, gemeinsame Abriistung und
wirtschaftliche Zusammenarbeit, sowie durch Abbau der sozialen Unterdriickung.
3. Sicherung des Friedens mit Britannien, Amerika und Ostasien durch obligatorische
Schiedsvertrage und regionale Volkerbundsreform.
*
Das Pan-Europa-Programm ist die einzig mogliche Losung des europaischen Grenzproblems.
Denn die Unvereinbarkeit aller nationalen Aspirationen, sowie die Spannung zwischen den
geographisch-strategischen, historisch-wirtschaftlichen und nationalen Grenzen in Europa macht
eine gerechte Grenzfiihrung unmoglich. Eine Veranderung der Grenzen wiirde
*) Siehe: „Pan-Europa" von R. N. Coudenhove-Kalergi (Pan-Europa-Verlag, Wien).
[172]
alte Ungerechtigkeiten beseitigen, aber neue an deren Stelle setzen.
Darum ist eine Losung des europaischen Grenzproblems nur durch dessen Ausschaltung moglich.
Die beiden Elemente dieser Losung sind:
A. Das konservative Element des territorialen Status quo, das die bestehenden Grenzen
stabilisiert und so den drohenden Krieg verhindert;
B. das revolutionare Element der allmahlichen Beseitigung der Grenzen in strategischer,
wirtschaftlicher und nationaler Hinsicht, das die Keime kiinftiger Kriege zerstort.
Diese Sicherung der Grenzen, verbunden mit deren Abbau, bewahrt die formale Gliederung
Europas, wahrend sie deren Wesen andert.
So sichert sie zugleich den gegenwartigen und kiinftigen Frieden, die wirtschaftliche und die
nationale Entfaltung Europas.
*
Die andere europaische Kriegsgefahr ist die russische. Die russische Militarisierung entspringt
einerseits der Furcht vor einer antibolschewistischen Invasion, die durch Europa unterstiitzt
wiirde - andererseits dem Willen, im Zeichen der sozialen Befreiung einen Angriffskrieg gegen
Europa zu fiihren.
Darum muss es das Ziel des europaischen Pazifismus sein zu gleich RuBland vor einem
europaischen und Europa vor einem russischen Angriff zu sichern. Das erste ist nur durch
ehrliche Friedenswillen moglich - das zweite durch militarische Uberlegenheit. Diese militarische
Uberlegenheit kann Europa ohne Steigerung seiner Riistungen sofort erreichen durch ein
paneuropaisches Defensivbiindnis.
Der europaische Pazifismus darf aber diese militarische Ubermacht nicht in ein Wettriisten
ausarten [173]
lassen, sondern muB sie zur Basis einer mssisch-europaischen Abriistung und Verstandigung
machen.
Europa hat nicht die Moglichkeit, die politische Einstellung der russischen Machthaber, deren
System expansiv ist, zu andern. Da es dieselben zum Frieden nicht iiberreden kann, muB es sie
zum Frieden zwingen. Wenn ein Nachbar friedlich orientiert ist, der andere kriegerisch, so fordert
der Pazifismus, daB die militarische Uberlegenheit auf Seiten des Friedens steht. Eine Umkehr
dieses Verhaltnisses bedeutet den Krieg.
Es ist ein Irrwahn vieler Pazifisten, in der eigenen Riistungsbeschrankung den sicheren Weg zum
Frieden zu sehen. Unter Umstanden fordert der Friede Abriistung - unter anderen Umstanden
aber Riistung. Hatten beispielsweise England und Belgien 1914 iiber starke Armeen verfiigt, so
hatte der englische Vermittlungsvorschlag unmittelbar vor der Katastrophe mehr Aussicht auf
Annahme gehabt.
Wenn sich heute etwa ein Volk aus Pazifismus zur Kriegsdienstweigerung bekennt, wahrend sein
Nachbar auf die Gelegenheit lauert, es zu iiberfallen, so fordert es nicht den Frieden, sondern den
Krieg.
Wenn ein anderes Volk zur Sicherung seines Friedens seine Riistungen steigert und dadurch
einen friedlichen Nachbarn zum wettriisten provoziert - so fordert es auch nicht den Frieden,
sondern den Krieg.
Jedes Friedensproblem fordert eine individuelle Behandlung. Darum kann Europa heute nicht die
gleichen Friedensmethoden gegeniiber England und RuBland anwenden.
Der Friede mit England, dessen Politik stabil und pazifistisch ist, laBt sich auf Vertrage stiitzen -
der Friede mit RuBland, das sich in einer Revolution befmdet und seine Kriegsplane gegen das
europaische System nicht verleugnet, bedarf militarischer Sicherungen. [174]
Es ware ebenso unpolitisch und unpazifistisch, sich den Sowjets gegeniiber auf Vertrage zu
verlassen - wie England gegeniiber auf die Flotte. Hingegen muB der europaische Pazifismus
jederzeit bereit sein, einem pazifistischen RuBland, das abriistet und auf seine Interventionsplane
ehrlich verzichtet, ebenso gegeniiberzutreten, wie dem pazifistischen England.
*
Europas Pazifisten diirfen aber nie vergessen, daB RuBland im Namen der sozialen Befreiung
riistet und daB Millionen Europaer eine russische Invasion als Befreiungskrieg auffassen wiirden.
Dieser Krieg wird urn so drohender, je mehr diese Uberzeugung in den Massen Europas urn sich
greift.
Wie die nationalen Kriegsgefahren dauemd nur gebannt werden konnen durch einen Abbau der
nationalen Unterdriickung, kann diese soziale Kriegsgefahr nur gebannt werden durch Abbau der
sozialen Unterdriickung.
Die soziale Irredenta Europas wird erst dann von der Moskauer Internationale abfallen, wenn ihr
der praktische Beweis erbracht wird, daB die Lage und die Zukunft der Arbeiterschaft in den
demokratischen Landern eine bessere ist als in den sowjetischen. Gelingt dem Kommunismus der
Gegenbeweiss, so kann keine AuBenpolitik Europa vor der Revolution und dem AnschluB an
SowjetruBland bewahren.
Hier zeigt sich die enge Verbindung zwischen Innen und AuBenpolitik, zwischen Freiheit und
Frieden. Da jede Unterdriickung, ob sie nun national oder sozial ist, den Keim eines Krieges in
sich birgt, bildet der Kampf gegen die Unterdriickung einen wesentlichen Bestandteil des
Kampfes um den Frieden. [175]
Jede Unterdriickung zwingt die Unterdriicker zur Aufrechterhaltung einer Militarmacht, die
Unterdriickten und deren Verbiindete aber zur Kriegshetze. Umgekehrt gibt eine Kriegs- und
Riistungspolitik den staatlichen Machthabern das starkste Instrument zur innerpolitischen
Unterdriickung in die Hand: die Armee. Darum wird der europaische und der Weltfriede erst
dann endgiiltig gesichert sein, wenn die Religionen, Nationen und Klassen aufhoren werden, sich
unterdriickt zu fiihlen.
Das ist der Grund, weshalb friedliche AuBenpolitik Hand in Hand geht mit freiheitlicher
Innenpolitik - Kriegspolitik nach auBen aber mit Unterdriickung nach innen. [176]
7. FORDERUNG DES FRIEDENSGEDANKENS
Neben der Erkampfung seines auBenpolitischen Friedensprogrammes soil der Pazifist keine
Gelegenheit versaumen, die internationale Zusammenarbeit und Verstandigung zu fordem.
Dies bestimmt die Einstellung des Pazifismus zum Volkerbund.
Der heutige Volkerbund ist als Friedensinstitution sehr unvollkommen; er ist, vor allem, schwer
belastet durch die Erbschaft des Krieges, der ihn geboren hat. Er ist schwach, ungegliedert,
unzuverlaBlich; auBerdem ist er ein Torso, so lange die Vereinigten Staaten, Deutschland und
RuBland ihm fembleiben. Dennoch ist der Genfer Volkerbund der erste Entwurf zu einer
intemationalen Staatenorganisation der Welt, die an die Stelle der bisherigen Staatenanarchie
treten soil.
Er hat den unermeBliche Vorteil der Existenz gegeniiber alien besseren Institutionen, die nur
Projekte sind.
Darum muBjeder Pazifist den schwachen, gebrechlichen, embryonal en Volkerbund unterstiitzen:
er soil ihn kritisieren aber nicht bekampfen; an seiner Umgestaltung arbeiten - aber nicht an
seiner Zerstorung.
Jeder Pazifist soil dazu beitragen, den dummen VolkerhaB zu beseitigen, der alien schadet und
keinem niitzt. Dies kann er am besten durch Verbreitung der Wahrheit und durch Bekampfung
der boswilligen und ungebildeten Volkerverhetzung. [177]
Denn eine Hauptursache des nationalen Hasses ist, daB die Volker einander nicht kennen und
nach den AuBerungen einer chauvinistischen Presse und Literatur nur in Zerrbildern sehen. Um
diese Entstellungen zu bekampfen, soil der Pazifismus eine aufklarende Volksliteratur schaffen,
Ubersetzungen fordem, ebenso den Austausch von Professoren, Lehrem, Studenten und Kindern.
Durch Internationale Vereinbarung soil die chauvinistische Hetze gegen fremde Nationen in
Schule und Presse riicksichtslos bekampft werden.
Zur Forderung des Friedensgedankens und zur Bekampfung der Kriegshetze sollten in alien
Staaten Friedensministerien entstehen, die, in standigem Kontakt miteinander und mit alien
pazifistischen Organisationen des In- und Auslandes, der international en Versohnung dienen.
*
Eine der wesentlichsten Aufgaben des Pazifismus ist die Einfiihrung einer internationalen
Verstandigungssprache. Denn, bevor die Volker miteinander reden konnen, laBt sich schwer von
ihnen verlangen, daB sie einander verstehen.
Ein Internationale Verkehrssprache hatte den Zweck, daB daheim jeder Mensch seine
Muttersprache spricht, wahrend er sich im Umgang mit Angehorigen fremder Nationen der
Verstandigungssprache bedient. So brauchte jeder Mensch, der seine Heimat verlaBt, nur die eine
Verstandigungssprache zu beherrschen, wahrend er heute im Ausland mehrerer Sprachen bedarf.
Als Internationale Verkehrssprache kommen nur Esperanto und Englisch in Frage. Welche dieser
beiden Sprachen fiir den internationalen Verkehr gewahlt wird, ist belanglos neben der
Forderung, daB sich die Welt auf eine dieser beiden Sprachen einigt. [178]
Die englische Sprache hat gegeniiber Esperanto den groBen Vorteil, daB sie in Australien, in halb
Asien, Afrika und Amerika sowie in groBen Teilen Europas bereits die Rolle einer
intemationalen Verkehrssprache ubernommen hat, so daB in diesen Gebieten ihre offizielle
Einfiihrung nur die Sanktion einer bestehenden Ubung ware. Dann kommt, daB sie in ihrer
Zwischenstellung zwischen den germanischen und romanischen Sprachen fiir Germanen wie fiir
Romanen leicht erlernbar ist, ebenso fiir Slawen, die bereits eine germanische oder romanische
Sprache beherrschen. AuBerdem ist Englisch die Sprache der beiden machtigsten Reiche der Erde
und die verbreitetste Muttersprache der weiBen Menschheit.
Die Einfiihrung der intemationalen Hilfssprache konnte durch einen Vorschlag des Volkerbundes
erfolgen, sie zunachst in alien Mittelschulen und Lehrerbildungsanstalten der Welt obligatorisch
einzufiihren und nach einem Jahrzehnt auch in den Volksschulen.
*
Die Verbreitung der Aufklarung und der Kampf gegen die menschliche Unwissenheit birgt
raschere Aussichten auf Erfolg der Friedenspropaganda in sich, als die Verbreitung der
Humanitat und der Kampf gegen die Bosheit.
Denn menschliche Uberzeugungen wandeln sich rascher als menschliche Instinkte. Und die
Friedensbewegung hatte es, wenigstens in Europa, gar nicht notig, an das menschliche Herz zu
appelieren - wenn sie sich einigermaBen auf den menschlichen Verstand verlassen konnte.
Wie die Aufklarung mit Hexenverbrennungen, Folter und Sklaverei fertig geworden ist - so wird
sie eines Tages auch mit dem Kriege, jenem Uberbleibsel aus einem barbarischen Zeitalter der
Menschheit, fertig werden. [179]
Wann dies geschehen wird, ist unbestimmt; daB dies geschehen wird, bestimmt. Das Tempo
hangt von den Pazifisten ab. DaB die Menschen nach hunderttausenden von Jahren endlich
fliegen gelernt haben, war viel wunderbarer und unwahrscheinlicher, als daB sie eines Tages
lemen werden, in Frieden miteinander zu leben. - [180]
8. FRIEDENSPROPAGANDA
Die Friedenspropaganda ist die notwendige Erganzung der Friedenspolitik: denn die pazifistische
Politik ist kurzfristig - die pazifistische Propaganda langfristig.
Die Friedenspropaganda allein ist unfahig, den unmittelbar drohenden Krieg zu verhindern, da sie
zu ihrer Auswirkung mindestens zweier Generationen bedarf; die Friedenspolitik allein ist
unfahig, den Dauerfrieden zu sichem, da bei der raschen Entwicklung unseres Zeitalters der
Wirkungskreis der Politik kaum iiber zwei Generationen reicht.
Die Friedenspolitik kann bestenfalls durch groBes Geschick ein pazifistisches Provisorium
schaffen, urn der Friedenspropaganda indessen die Moglichkeit zu bieten, die Volker moralisch
abzuriisten und sie davon zu iiberzeugen, daB der Krieg ein barbarisches, unpraktisches und
veraltetes Mittel zur Austragung intemationaler Differenzen ist.
Denn, so lange sich diese Erkenntnis nicht international durchgesetzt hat und so lange es Volker
gibt, die den Krieg fur das geeignetste Mittel zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele betrachten,
kann sich der Friede nicht auf Abriistung stiitzen, sondern nur auf die militarische Uberlegenheit
der Pazifisten.
Vollige Abriistung ist erst nach dem Siege des Friedensgedankens moglich - so wie die
Abschaffung der Polizei erst moglich ware nach dem Aussterben des Verbrechertums: sonst fiihrt
die Abschaffung der Polizei zur Diktatur des Ver- [181]
brechens - die Abschaffung der Armee zur Diktatur des Krieges.
*
Die pazifistische Propaganda richtet sich gegen die Kriegsinstinkte, Kriegsinteressen und
Kriegsideale. Der Kampf gegen die Kriegsinstinkte muB gefiihrt werden durch deren
Schwachung und Ablenkung sowie durch Starkung der Gegeninstinkte.
Vor allem gilt es die Volker des Krieges zu entwohnen und so ihre Kriegsinstinkte absterben zu
lassen, wie Raucher, Trinker und Morphinisten ihre Neigungen durch deren Nichtausiibung
ablegen. Das Mittel zur Kriegsentwohnung ist Friedenspolitik.
Der Sport ist sehr geeignet, die menschlichen, insbesondere die mannlichen Kampfinstinkte, von
der Kriegseinstellung abzulenken. Es ist kein Zufall, daB die sporthebendsten Volker Europas
(Englander, Skandinavier) zugleich auch die friedlichsten sind.
Nur die Jagd bildet hier eine Ausnahme: sie konserviert die primitivste Kampfesform und starkt
die Mordinstinkte, statt sie abzuleiten. Es hat viel zur Erhaltung des europaischen Militarismus
beigetragen, daB in vielen europaischen Landern die Jagd der Hauptsport der herrschenden
Kasten und Manner war: denn die Jagd erzieht leicht zur MiBachtung fremden Lebens und
stumpft ab gegen BlutvergieBen.
*
Die Verurteilung des Krieges darf nie ausarten zu einer Verurteilung des Kampfes. Eine solche
Entgleisung des Pazifismus wiirde nur den Militaristen schlagende Gegenargumente in die Hande
spielen und den Pazifismus ethisch und biologisch kompromittieren.
Denn Kampf und Kampfeswille sind Schopfer und Erhalter der menschlichen Kultur. Das Ende
des [182]
Kampfes und das Absterben der menschlichen Kampfinstinkte ware gleichbedeutend mit dem
Ende und Absterben der Kultur und des Menschen.
Der Kampf ist gut; nur der Krieg ist schlecht, well er eine primitive, rohe und veraltete Form des
intemationalen Kampfes ist wie das Duell eine primitive, rohe und veraltete Form des
gesellschaftlichen.
Ziel des Pazifismus ist daher nicht die Abschaffung des Kampfes, sondem die Verfeinerung,
Sublimierung und Modemisierung seiner Methoden.
*
Heutzutage ist die wirtschaftliche Kampfesform im Begriffe, die militarische abzulosen: Boykott
und Blockade treten an die Stelle des Krieges, der politische Streik an die Stelle der Revolution.
China hat mit der Waffe des Boykotts mehrere politische Schlachten gegen Japan gewonnen und
Gandhi versucht, auf diese unblutige Methode den indischen Befreiungskampf durchzufuhren.
Eine Zeit wird kommen, in der die nationale Rivalitat statt mit Messern und Bleikugeln mit
geistigen Waffen ausgefochten werden wird. Statt wettzuriisten, werden dann die Volker
miteinander wetteifem in wissenschaftlichen, kiinstlerischen und technischen Leistungen, in
Gerechtigkeit und sozialer Fiirsorge, in Volksgesundheit und Volksbildung und in der
Hervorbringung groBer Personlichkeiten.
Die zweite Aufgabe der Friedenspropaganda bildet der Kampf gegen die Kriegsinteressen.
Diese Propaganda besteht darin, den Volkern und Individuen die geringen Chancen des
Gewinnes und das ungeheuere Risiko des Verlustes nachzuweisen mit dem Ergebnis, daB der
Krieg gegenwartig [183]
zu einem schlechten, riskanten und unrentablen Geschaft geworden ist.
Was die Volker betrifft, hat Norman Angell *) bereits vor dem Kriege diesen Beweis erbracht
und der Weltkrieg hat seine These glanzend bestatigt.
Ob vom nationalen Standpunkt aus ein siegreicher Befreiungskrieg Indiens oder eine Eroberung
Australiens durch die Mongolen die Opfer aufwiegen wiirde, mag hier unerortert bleiben: sicher
ist jedoch, daB in einem neuen europaischen Kriege der Sieger, in politischer, wirtschafthcher
und nationaler Hinsicht schwer geschadigt, aus dem Kampfe hervorgehen wiirde, wahrend das
besiegte Volk fiir immer vemichtet ware. Der mogliche Gewinn steht in keinerlei Verhaltnis zu
den sicheren Verlusten.
*
Personlich am Kriege interessiert sind nur ehrgeizige Politiker und Militars einerseits, die sich
Ruhm erhoffen - und habsiichtige Kriegslieferanten anderseits, die sich Geschafte erhoffen. Diese
Gruppen sind sehr klein, aber sehr machtig.
Die erste Gruppe kann in demokratischen Staaten von einem entschlossenen Pazifismus
kaltgestellt werden: Politiker, die ihren Ehrgeiz iiber das Wohl ihrer Volker stellen, sollen als
Verbrecher behandelt werden.
Von den Offizieren wird oft behauptet, daB ihre kriegerische Einstellung Berufspflicht ist. In
Staaten, deren Politik pazifistisch ist, ware dies ein schwerer Fehler; denn dort gilt die Armee
nicht als ein Mittel zur Eroberung, sondern als notwendige Waffe gegen fremden Kriegswillen.
Es ware daher notig, daB gerade die Offiziere zu Pazifisten erzogen werden, aber zu heroischen
Pazifisten, die jederzeit bereit sind, ihr Leben fiir die Erhaltung des Friedens einzusetzen und sich
als Kreuzritter im Kampfe gegen den Krieg fiihlen.
*) „Die falsche Rechnung" von Norman Angell.
[184]
Die Industriellen, die den Krieg wegen der Kriegsgewinne herbeisehnen, sollen darauf verwiesen
werden, daB am Ausgang des nachsten europaischen Krieges wahrscheinlich der Bolschewismus
steht. Es erwartet sie also mit einer Wahrscheinlichkeit von iiber 50% am Kriegsende die
Expropriation, wenn nicht der Galgen. Das Kriegsgeschaft verliert durch diese Aussicht seinen
Reiz. Denn es erscheint immerhin vorteilhafter fiir die Industrie, sich mit den relativ schmalen
aber gefahrlosen Friedensgewinnen zu begniigen, statt nach den fetten aber lebensgefahrlichen
Kriegsgewinnen zu greifen.
Diese Argumentation ist wichtig, weil sie der Kriegspropaganda ihren goldenen Motor entzieht
und der Friedenspropaganda zufiihrt.
Die Friedenspropaganda muB auch die menschliche Phantasie gegen den Zukunftskrieg
mobilisieren. Sie muB die Massen aufklaren iiber die Gefahren und Schrecken, die sie im
Kriegsfalle bedrohen: iiber die neuen Strahlen und Gase, die ganze Stadte ausmorden konnen;
iiber den drohenden Ausrottungskrieg, der sich weniger gegen die Front, als gegen das Hinterland
richten wiirde; iiber die politischen und wirtschaftlichen Folgen, die ein solcher Krieg fiir Sieger
und Besiegte nach sich ziehen wiirde.
Diese Propaganda muB der schwachen menschlichen Erinnerung und der schwachen
menschlichen Phantasie nachhelfen: denn, hatten die Menschen mehr Phantasie - so gabe es
keinen Krieg mehr. Der Wille zum Leben ware der starkste Verbiindete des Pazifismus.
*
Die Kriegsinstinkte sind roh und primitiv - die Kriegsinteressen problematisch und gefahrlich -
die Kriegsideale verlogen und veraltet. [185]
Sie leben von der Falschung, die Krieg mit Kampf indentifiziert, Krieger mit Helden,
Phantasielosigkeit mit Tapferkeit, Furcht mit Feigheit.
Sie stammen aus einer versunkenen Epoche, aus iiberwundenen Verhaltnissen. Sie wurden einst
von einer Kriegerkaste gepragt und von freien Volkem kritiklos iibernommen.
Einst war der Krieger der Hiiter der Kultur, der Kriegsheld der Held an sich, der Krieg das
Lebenselement der Volker, deren Schicksal entschieden wurde durch ihre Tapferkeit im Felde.
Seither ist der Krieg unritterlich geworden, seine Methoden gemein, seine Formen haBlich; die
personliche Tapferkeit ist nicht mehr entscheidend: an die Stelle der ritterlichen Schonheit eines
Massentumieres ist die elende HaBlichkeit eines Massenschlachthauses getreten. Der
mechanisierte Krieg von heute hat fiir immer seine einstige Romantik verloren.
Vom ethischen Standpunkt ist der Verteidigungskrieg organisierte Notwehr - der Angriffskrieg
organisierter Mord. Noch schlimmer: friedliche Menschen werden gewaltsam gezwungen, andere
friedliche Menschen zu vergiften und zu zerfleischen.
Die Schuld an diesem angestifteten Massenmord trifft nicht die Ausfiihrenden, sondern die
Anstifter. Diese Anstifter sind in demokratischen Staaten unmittelbar die kriegsfreundlichen
Abgeordneten, mittelbar deren Wahler.
Wer sich daher scheut, einen Mord zu begehen, soil es sich gut iiberlegen, wen er als seinen
Vertrauensmann ins Parlament schickt! [186]
9. NEUES HELDENTUM
Die Erneuerung des Heldenideals durch den Pazifismus zerschlagt die Hauptwaffe der
militaristischen Propaganda. Denn nichts gibt dem Militarismus eine starkere Werbekraft als die
Monopolisiemng des Heldentums.
Der Pazifismus wiirde durch einen Kampf gegen das Heldenideal Selbstmord begehen; er miiBte
damit alle seine wertvollen Anhanger verlieren: denn die Ehrfurcht vor dem Heldentum ist das
MaB des menschlichen Edelmuts.
Der Pazifismus soil in der Heldenverehrung mit dem Militarismus wetteifern und versuchen, ihn
im Heidentum zu iibertreffen. Aber zugleich soil er den Heldenbegriff aus seiner mittelalterlichen
Schale befreien und ihn mit dem ganzen Inhalt einer modernen Ethik erfiillen.
Die Erkenntnis muB sich durchringen, daB das Heldentum Christi eine hohere Entwicklungsform
darstellt als das Heldentum des Achilles - und daB die physischen Helden der Vergangenheit nur
Vorlaufer sind der moralischen Helden der Zukunft.
*
Kein redlicher Pazifist wird versuchen, den Mannem das Heldentum abzustreiten, die iiber den
Wehrzwang hinaus an der Front ihr Leben fur ihre Ideale eingesetzt haben; die freiwillig ihr
Framiliengliick, ihre Bequemlichkeit, ihre Sicherheit und Gesundheit zuriickgestellt haben, um
ihre Pflicht zu erfiillen. Ihr Heldentum wird durch die Frage, ob sie von falschen oder richtigen
[187]
Voraussetzungen ausgingen, nicht beriihrt. Nichts ware gemeiner als die Verhohnung dieses
Heldentums.
Den Gegenpol zu diesen Helden bilden jene Demagogen, die in Bureaus, Versammlungen,
Redaktionsstuben und Parlamenten zum Kriege hetzten und hetzen, urn dann, fern von der Front,
den niedrigsten MiBbrauch zu treiben mit fremdem Heldentum.
Der Versuch mancher Militaristen, das Heldentum fiir die Kriegspartei zu monopolisieren, ist
ebenso unredlich, wie der Versuch mancher Nationahsten, fiir ihre Partei das Nationalgefiihl zu
monopolisieren.
Denn, wer sein Volk vor der groBten Katastrophe der Weltgeschichte bewahren will, ist
mindestens so patriotisch wie der, der es durch einen siegreichen Krieg zu neuer Macht zu fiihren
hofft: nur baut dieser auf Irrtum, jener auf Wahrheit.
Es gibt heute manche Lander in Europa, in denen es lebensgefahrlicher ist, fiir den Frieden
einzutreten als fiir den Krieg: in diesen Landem beweisen die Friedensapostel einen groBeren
Heldenmut als die Kriegsapostel.
*
Die schwerste und ungerechteste Beleidigung fiir ein Volk aber ist es, wenn ein Stand, namlich
der Offiziersstand, den Heldencharakter fiir sich monopolisiert: denn es gibt Heldentum in jedem
Beruf, stilles und groBes Heldentum, ohne Ruhm, ohne Romantik und ohne glanzende Fassade:
das Heldentum der Arbeit und des Geistes, das Heldentum der Mutterschaft, das Heldentum der
Uberzeugung.
Und wer die Biographien der groBen Kiinstler, Denker, Forscher, Erfmder und Arzte studiert,
wird verstehen lernen, daB es auch anderes Heldentum gibt, als das der Krieger und Abenteuerer.
*
Jeder ist ein Held, der sein privates Interesse seinem Ideal zum Opfer [188]
bringt: je groBer das Opfer, desto groBer das Heldentum.
Wer sich nicht fiirchtet, ist nicht heroisch, sondem nur phantasielos. Heroisch handelt nur der, der
seinen Idealen zu liebe die Furcht iiberwindet. Je groBer seine Furcht ist - desto groBer seine
Uberwindung und sein Heroismus.
*
Europa hat sich aus der Herrschaft des Feudalismus befreit - aber nicht aus der Herrschaft der
feudalen Werte. Dadurch ist das Heldenideal ebenso unzeitgemaB und morsch geworden wie der
Ehrbegriff. Nur eine Emeuerung kann sie retten.
Die Ehre eines Menschen und eines Volkes soil unabhangig werden von fremden Handlungen
und einzig bestimmt werden durch eigene Taten.
Der Grundsatz muB sich durchsetzen, daB die Ehre einer Nation niemals dadurch verletzt werden
kann, daB ihre Fahne irgendwo von Betrunkenen herabgerissen wird: sondern nur dadurch, daB
ihre Richter parteiisch, ihre Beamten bestechlich, ihre Staatsmanner wortbriichig sind; daB sie
ihre besten Sohne verbannt oder ermordet, daB sie schwachere Nachbarn provoziert, Minoritaten
bedriickt, ihre Verpflichtungen vemachlassigt und Vertrage bricht.
Durch diesen neuen Ehrenkodex werden alle Streitfragen, die wegen Ehrensachen Volker
entzweien und in Kriege treiben, von selbst aufhoren: denn jedes Volk wird es dann als seine
Ehrenpflicht betrachten, einem anderen Genugtuung zu leisten nicht urn dessen Ehre, sondern urn
die eigene nationale Ehre zu wahren oder wiederherzustellen. Die Form dieser Genugtuung wird
dann durch Schiedsgerichte leicht zu bestimmen sein. - [189]
Der Pazifismus muB die gegenwartige und die kommende Generation zum Heldentum der
Uberzeugung erziehen. Die Liige und Gesinnungsfeigheit waren mit schuld am Ausbruch des
Krieges, sie haben ihn genahrt und erhalten, um ihren Stempel schlieBlich auch dem Frieden
aufzudriicken. Darum ist der Kampf gegen die Liige auch ein Kampf gegen den Krieg. Das
Heldentum des Friedens wird ein Heldentum der Gesinnung, der Uberzeugung, der
Selbstbeherrschung sein; nur dann kann es iiber das Heldentum der Militaristen triumphieren.
Dieses Heldentum des Friedens ist schwieriger und seltener als das des Krieges. Es ist schwerer,
seinen Leidenschaften zu gebieten, als seiner Mannschaft; schwerer, seinen eigenen Charakter zu
disziplinieren, als ein Heer von Rekruten. Und viele, die ohne Bedenken einem Feinde ein
Bajonett in den Leib rennen konnten, fmden nicht den Mut, ihre Uberzeugung einem Freunde
gegeniiber zu bekennen. Diese moralische Feigheit ist der Nahrboden aller Demagogic, auch der
militaristischen: aus Angst, feige zu erscheinen, verleugnen heute Millionen ihren inneren
Pazifismus; es ist ihnen lieber, feige zu sein, als fiir feige zu gelten.
Der Sieg des Friedensgedankens hangt also innig zusammen mit dem Siege des moralischen
Heldentums, das bereit ist, lieber alles zu opfern, als die Uberzeugung und sich rein zu halten
gegen alle Uberredungs-, Erpressungs- und Bestechungsversuche einer unreinen Zeit.
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Solche Friedenshelden soil der Pazifismus zunachst in alien europaischen Landem zu einer
freiwilligen Armee des Friedens organisieren.
Diese Friedensarmee soil sich aus Helden rekrutieren, die den Krieg als barbarisches und
unsinniges Mittel der Politik und als Feind der Menschheit verwerfen [190]
und jederzeit bereit sind, fiir ihren pazifistischen Glauben jedes Opfer zu bringen.
Zunachst sollen diese Kampfer des Friedens als Propagandisten und Agitatoren ihrer Idee die
Millionen um Sich scharen, die den Frieden wiinschen. Die Friedensarmee muB aber auch bereit
sein, im entscheidenden Augenblick der Gefahr gegen den Krieg zu marschieren und den Frieden
durch ihr tatkraftiges Eingreifen zu retten.
An die Spitze dieser Friedensarmee sollen Manner treten, die staatsmannische Einsicht verbinden
mit einem unbeugsamen und unerschiitterlichen Willen zum Frieden.
Nur wenn solche Fiihrer an die Spitze solcher Kampfer treten, darf Europa hoffen, nie mehr von
einem Kriege iiberrannt und zerstampft zu werden. [191]
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