DAS
TAGE-BUCH
Herausgeber: Stefan Grofimann
Berlin 1921
IJahrgang
l.Halbjahr
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* STEFAN GRO SSMANN*
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BERLIN • 8. JANUAR
19 2 1
INHALT
Seite
Tnomas Wenrlin: An Fritz Etert 1
» * Honler Foucnet & Co 3
ti. Gomperz: Zusammensclilui?cler geistigen Arbeiter o
Dr. Kurt Pintkus: Verfall des Tkeaters? .... 13
H. von Kanlenberg : Der deutsche Mann ...... 16
Peter Altenoerg : EmpfenlungsscnreiDen 22
Max Brod: Feuer \ 23
Aus dem TageDucli 24
Einzellieft 2,50 M. Vierteljakrlich 25.- M.
einschl. Zuschlag
In der Schweiz einschl. Zuscktag Fr. 1.—
* ERNST ROWOHLT VERLAG'*
DAS TAGE-BUCH
HERAUSGEBER STEFAN GROSSMANN
1NHALTS-VERZEICHNIS
2. Jahrgang / 1. Halbjahr
19 2 1
Politik, Geschichte, Philosophic
Wirtschaffc:
Bruno, Bernhardt Die Machrichtenburos 469
Dokumente uber die Ermordung des
Zaren und seiner Familie , . , 393
Erzberger, M., Politik oder? . . - 545
— Daa teuerste Ministerium der Welt 609
Federn. Walther: Wisner wirtschaf t-
liches Tagebuch . . 519, 649, 781
— A mere robbery 257
Gompertz, H.: Der klaaaenmatfige Zu-
aammenschlutfdergeistigen Arbeiter 6
Groffmann. Stefan: Richard Riedl . 321
— HalsentzUndungen 449
Hibben, Paxton: Die Tragodie eines
kleinen Landea 678
Hinrichs, • A. E. : Amerika und das
deutache Eigentum 36
Hofmannsthal, Hugo von: Napoleon 588
Honeij. Jamfcs Albert: Wie lange wird
Polen besteben? . ... . .323
Kauder, Gustav: Der Tecbnarcb . . 378
Kommer, Dr. Rudolf: Die Konferenz
uber die Oftfragen 292
Leftwicb, Birrell: Das amerikaniscbe
Staatsdepartement 102
Moellendorf, W. von; Wirtschaf ts-
verfasaung / 452
Miallcr, Robert: Deutschland und der
Mensch 67
M. G.: Offene Betrachtungen uber
daa Oberschlesiache Problem . .153
Nowak,KarlFriedrich: KronratwS gen
Brest-Litowsk . . . . . , . . 646
Noyea, Pierrepont B.: Unter dem
Friedensvertrag . . , . . . 194
Paleologue, Maurice: Gesprach mit
dem Zaren 458
— Kalajew . . • . ' . . . . 752
R ath en au, Walther: Uber Produktions-
politik 741
Scbeidemann, Pbilipp : Mit Viktor
Adler . . . 105
Schwarzachild, Leopold: Die Frank-
furter Finanzzentrale . . . .419
— Daa unmogliche Mifitrauenavotum 737
Shaw, Bernhard G.: Der alte Revo-
lution^ und die neue Revolution 483
Stcinitzer,Erwin:UnserGegenvorscblag 289
S.: Wirtachaftlichea Tagebuch 117,
152, 182, 244, 278, 372, 433,
456, 498 .. 555
Villard, Oswald Garrisson: Lansing
liiftet den Schleier 513
Wehrlin, Thomas: An Fritz Ebert 1
— Assessor Wehrhabns Ende . . , 65
— Ein niitfglucktes Ausnahmegeaetz 165
— Starb die Internationale? . . . 193
— Zum ersten Mai 481
— Fliiatern im Reichstag .... 577
— Anschlutf-F&Uen . , 705
—7 An Herrmann Mullcr .... 769
Weitsch, Eduard : Volkabochschulheim
Dretfigacker 331
Wolf, Friedrich: Bilthoven . . .523
** + Hohler Fouchet & Co. ... 3
*% Prag und Paris ...... 42
Kunst, Literatur und Wissen-
schaft:
Blei, Franz: Doblins Wallenstein . 400
Borcbardt, Rudolf: Das groffe Schau-
spielhaua 108
B. Johannes Buchholtz : Egholm Gott 700
Oakar A. H. Schmitz: Scheinwerfer
uber Europa 729
Werner Scbcndell: Irene . ... 795
Deliua, Rudolf von: Daa Ende der
Materie 43
— Relativitat 227
— Die Malerei der Element e , ... . 496
Ernst, Paul: Ein deutacber Casanova 718
Eulenbcrg, Herbert: Ein Zeitschrift-
steller 493
E. W. Melcbior Viscber : Sekunde
durch Him 701
Flietf, Dr. Wilhelm : Der letzte Lebens-
blitz 75
Goetz, Ruth: Filmdichter oder Film-
verleiher . 84
Groffmann, Stefan : Em neuer Scbmidt-
bonn 82
— Liebeserklarungen ana Theater . 275
— Schnitzler 402
— Reinhardt am Scbeidew«({e . . 625
Guarnieri, Romano: Italiens juttge
Kunst 301
Hauptmann, Carl: Das Wort in den
neuen Hausern des Sch weigens . 209
Hofmannsthal, Hugo von: Die Ironic
der Dinge ■. 464
— Schone Sprache 783
Kaatner,Rudo1f : Mahler- Auferatehung 664
— Busonis commedia .dell 'arte . . 695
MiiUer, Robert: Moritz Heimann . 110
Owiglaff, Dr., Fritz Mauthners: Der
Atheism ua im Abendlande . 541
Pinthus, Dr. Kurt : Verf all desl heaters 13
P. M. : Ein Bekenntniabuch . . .601
P.: Die Chapliniade 701
Roda Roda, Auffenberg- Komarow:
Aus Oaterreichs Hohe undNieder-
gang 761
Sehmidtbonn, Wilhelm: Das Geschenk
der schonen Erde, Idyllen von
Heinrich Eduard Jacob .... 730
Wolf, Dr. Friedrich : Hygiene der
offentKchen Moral 262
Zivier, Georg: Heinrich Eduard Jacobs
MTulpenfrever'' 762
Betrachtungen, Briefe,
Erinnerungen:
Altenherg,Peter : Empfehtungfjachreiben 22
Bran des, Georg : Berliner Er in ne run-
gen 229, 328 . " 356
Bruno. Bernhard: Ein Berliner Schicksal 33
Dauthendey, Max: Tagebuchblatt . 299
Eflflig, Herm ann : Brief aus Hundekehle , -49
Eulenberg, Herbert : Die Kronea . . 306
Furter, Frank: Sergeant Heynen uod
das Volkerrecht 675
Gragiin, Hans : Sport-Exnibitionismus 45
Groffmann, Stefan: Revolutionerl ge-
fallig? ......... 97
— Peter Krapotkin ...... 129
— Berliner Karneval 237
— Arthur Holitscher. der Leninist 334
— Attentater in der Sonne . . . 353
— Verfall der Atteatater , . . .417
— Wolfling 428
— Der Siegessaulenprozef? . . . . 526
i— YKlfte durcha genieffende Berlin . 654
Der auferstandene Mathias . . 673
— Walther Rathenau 708
Hebbel, Friedrich: Unbekannte Briefe
56. 79, 144
Hoffmann, Camill: Tolstois Arzt . 390
Hofmannsthal, Hugo von: Ersatz fur
Traurae ..,..,.. 685
KahUnberg,H.von: Der deutscheMann 16
Kaiser, Georg: Brief iiber sich selbst 264
Kommer. Rudolf: Der Mann, der im
Schatten stand 387
Mathias, Leo^ Bewertung geistiger Ar-
beit in Sowjet- Rutland . . . 582
— Museen in Sowjet-Rutfland .. . 641
Michel, Wilhelm: Phil o sop hisch e Mai-
tage in Darmstadt 784
Minck, Friedrich : Lenin oder Trotzki? 712
— Die Techeka 775
Olden, Rudolf: Kontinentale Erfahrun-
gen iibcr England . . . . . 489
Pallenberg, Max : Unser prominenter
Verein : 53
Slezak. Leo: Gustav Mahler . . . 366
Straufi, Emil: Meine Verteidigungsrede 203
Sutter, Otto Ernst: Messe ist toller
Betrieb 425
Tschalnin, Sergei: Die Apfelaine . . 697
Urzidill, Johannes: Bene.-i-Kramar . 295
Wehrlin, Thomas: ^Veder judisches,
noch fdrbiges Weib . . . . . 161
— Der Prinzenbrief 225
— Unterhaltungen mit Kommumsten 385
Dichtungen, Aphorism en, Satiren :
Adler, Hans: Affentheater . . .150
Altenberg. Peter: Worte fiir Frauen 596
Barton, Wilhelm E. : Parabel vom
Manne, der Zcit iiber Zcit hatte 242
Bethge. Haosl Liebeslieder aus Belu-
tschistaa 530
Brod, Max: Feuer 23
B : Wilhelm heiratet wieder . . . 727
Gapek, Karl: Das Tribunal . . .114
Dauthendey, Max: Nachtlied des Ge~
fangenen 424
Ehrenstein. Albert: Der Liebende . 504
Frank, Bruno: Das Haar . . . .170
Goethe: Satze und Sprue he 12, 21,
119, 184, 226 280
Grillparzer: Obdachlose Dichtung . 305
Groffmann, Stefan: Hanischs Reigen 51
Grund, Helen*. Polygame Frau . .116
Jacobi, Joh'ann Georg: AndieDeutschen 711
Klinge. Gert: Poet 537
Leonhard, Rudolf: Aus „AHe# oder
NicW 228, 247 389
Markus, Hugo : Gedicnt auf einen
Lehrling 623
Mayer, Paul: Melancholie .... 267
Mencken, H. L. : Grundaatze . . . 666
Morgenstern, Christian: Die Dumm-
beit spricht 56 1
Pander, Oswald: Satze und Spriieh* 501
Ringelnatz, Joachim : GrotfstSdtische
Sachen ......... 112
— Das Terrbariura ...... 240
— Stoffwechsel- 488
— Flic und Ele 724
Roda Roda: Der verlegcnc Herr . 557
Rousseau, J. J. : „GestSndnisse" . . 542
,Scher, Peter-: Legende vom Liebling
und vom schlechten Hund . . 219
Schleich, Carl Ludwig: Arago und
Laplace 74
— Schollenbestandig . .... 154
Schmidtbonn, Wilhelm: Das geoffnete
Hemd 213
Stehr, Hermann : Feindschaft der Liebe 58
— Rat des Greises .... . 64S
Sternheira. Carl: Fairfax 405, 430,
467, 502, 532, 562, 593, 628,
658, 688 722
Sze"kely. Stefan: Herr Theaterdirektor 621
— Das Madchen 757
Szep, Erno : Die goldene Uhr . . 268
Toller, Ernst : Deutsche Revolution 358
Wolf, Friedrich: Der letzte Mops . 755
— Der Kafig in der Nachtigall . . 337
/„. Der Sieger 164
Glossen:
Aleppe, Adrian: Die unmbgliche Grenze 436
Altenburg, Jan : Historic einer rCiinftt-
lerkneipe 216
— Der aufgeschobene Trauertag . . 341
Billig, Oskar: Reklame al Fresko . 472
Dornseiff , Franz : Florenz- . . . ' . 696
Edschmid, Kasimir: In einer #igenen
Sache ......... 551
Gerster, Geh. Sao. -Rat, Dr. : Deutscker
Ordnungasinn ....... 569
Groffmann, Stefan: Der 3. Mai 1921
in Berlin 309
— Das Toten muff sufhorcn . . 538?
Schumann verlangt seinen Tod . 559
G., St.: Paul Cassirer 281
Grund, Helen : Mentor fiir neue Reiche 24
— Miflverhaltntsse 565
Hartmann Ludo M., Konrad Haniich:
Staat und HochscHule . . . .125
Haubach, Theodor » Tagore in Darm-
stadt . . - , " 790
Hollriegel. Arnold: Karl, der Plotz-
liche 472
Kastner, Rudolf: Raubbau an Mahler 249
Koester, Hans : In eigener Sache . . 668
Loewenthal, Dr. Carl: Emil Strauff 147
Lsch. : Anmerkungen .125
Lschw. : Prinz Max dementiert sicn 7^fi8
L. S. : Der Hungerstreiker Lamp . 60
m.: Provinzjournalisten . . ... . 123
M., Dr. : Banknotemchicksale . . . 568
Olden, Rudolf: Die Sunde wider das
Blut . . . .• 410
— Einstein, Ealconer und ich . . 632
— SchonheiUpflegeimWieuerWinter
1918 . . 792
Polgar, Alfred: Fiesco, neu inszeniert 786
R. S.: Filmdilettanten 90
Saekel, Herbert: Christus-Film . . 313
Schulz. Franz: Weder verstockt, nocb
zerkniracht 122
S., Paula: Wir Entschlutfkranken . 634
Szekely, Stefan : Mein Freund, der
Dramaturg , 500
Tschalnin, Sergei: Moskauer Schicksal 633
Tschuppik, Karl : Der heroische Trottel 282
Valentin, Hans: Der Chineaenknabe in
der Yong-Wong-Truppe . . . 314
Walser, Robert: Portrat . . . .339
Zadora, Michael: Em Protect . . .791
R. AbendrokK. Riesa
Das Tage-Buct / Heft 1 JaKrg. 2 / Berlin, 8. Januar 1921
ZUM ZWEITEN JAHRGANG
Keine Programmreden zum ersten Geburtstag 1
Sent Eucb den ersten Jabrgang des ^Tagebueb* an, aber mit
guten Augen, und fragt Eucb selbst, welche deutscbe Wocben-
schrift so viel Lebensbuntbeit und soviel innere Freibeit entbalt.
Sagt Ibr Ja zu una, so kauft nicbt bloB Einzelbefte, sondern
abonniert! Verlag und R edaktion Jes „Tagebucb"
THOMAS WEHRLIN AN FRITZ EBERT
Sle baben, verebrter Herr Ebert, Hire Kanditatur fur die Reicbs-
prasidentscbaft wieder angemeldet. Die Nacbricbt ist in die Zeitungen
ubergegangen und es bat nirgendwo ein Wort des Protestes gegeben.
Im Grunde ist diese direkte Wabl durcb das Volk alien Parteien gleicb
unangenebm und, wenn sie nur konnten, wurden alle Parteien diese lastige
Volksbefragung und ~entscbeidung vermeiden und Sie rubig, solang Sie
wollen, in Ibrem Prasi den tens tubl belassen. Das ist gewil? em personbcber
Erfolg fur Sie. Nur Ibr Takt, Ibre Scbweigsamkeit, Ibr lautloses
^Valten bat diese allgemeine Anerkennung ermoglicbt. Das Gesmdel,
das Sie, nucbternen Burger, als Siiffling und Ibre einfacbe, unauffalbge
Frau als Protzin karrikieren wollte, bat sicb langst verlaufen. Sie
lassen sicb aucb nicbt mebr so oft fotografieren wie im Anfang Ibrer
Presidents cbaft, es bestebt ja aucb kem Bedurfms nacb einem Ebert-
Kultus. Sie sind beliebt, weil Sie fast nicbt da smd.
Aber das Moraliscbe, in der Pobtik das Sacbbcbe, als das emzig
Moraliscbe, verstebt sicb immer von selbst. Und da bitte lcb Sie, ver~
ebrter Herr Reicbsprasident, sicb emmal die Frage vorzulegen, ob Ibre
Presidents cbaft der jungen Repubbk von Vorteil ist? Icb glaube es
nicbt. In derselben Zeit, in der der \Vidtrstand gegen Ibre Person bin-
geschmolzen ist, bat der monarcbiscbe Gedanke unzweiielbaft groise Er-
oberungen gemacbt. Zwiscben diesen beiden Tatsacben bestebt ein Zu~
sammenbang. Es gibt eine Menge sebr scblauer Monarcbisten, die im
Augenbbck fur eine Prasidentscbaft Ebert emtreten, eben wed von ibr
kein Glanz, keine Legende, keine Anziebungskraft ausgebt. Je unbemerk-
barer diese Repubbk, so sagen sicb die riobenzollern-Jesuiten, desto
weniger setzt sie sicb in den ICopfen, in den Gemutern fest. Ibr Vor-
zug, dal? sie bemabe nicbt da smd, wird gerade von den Monarcbisten
bocb eingescbatzt. Die Repuolik ware unangenebmer, gefabrbcber und —
dauerbaf ter, wenn an ibrer Spitze kem unbeacbteter, stiller Parteisekretar a. D . ,
sondern eine Personbcbkeit, em representativ man stande, um den berum
Legende und Illusion entstebt. Ibr Vorzug, verebrter Herr President,
ist Ikre eckte, unversckminkte Mitt elm ai?igkeit, das geniigt und erquickt
nack dem wilkelminisck— tkeatraliscken Zeitalter.
Aber in den Republiken, die sick grundlick kefreien wollen von
Ikrer dynastisck-miktanscken Vergangenkeit, da waren kluge Repukli-
kaner emsicktig genug, eine ukerparteikcke, lllusionerzeugende Personlick-
keit an die kockste Spitze des Staates zu stellen. Die Tsckecken, die
ein leidensckaftlickes Volk von Politikern sind, wutften, warum sie
Tkomas Masaryk aui den Gipfel des Hradsckin setzten. Masaryk,
der erne versckwindend kleine Gruppe von Realisten kinter sick kat, der
weder den Sozialisten, nock den Nationalisten angekort. Aker er ist
mckt nur der erste Mann im Staate, er ist auck die starkste geistig-
moraliscke Autontat Tsckeckiens, unwillkiirlick kat ikn die Legende
umrankt. Der Gedanke, daf? Karl von Hakskurg, der liebenswurdige
Operettenerzkerzog, den Denker und Dulder Masaryk jemals verdrangt,
konnte gar mckt aufkeimen. Ebenso staatsmannisck kandelten die Oester-
reicker, als sie jetzt Mickael H a i n i s c k zum Bundesprasidenten wakl-
ten, gleickialls einen ukerparteilicken Mann, einen Landwirt, der die Be-
durfmsse des Indus triestaates kennt, einen Eigenbrotler, zu dem die
Bauern und (versckamt, weil sie lkm mckt sckaden wollen) die Sozia-
listen J a sagen. Dort konzentneren sick die inneren Krafte des Reickes
in emem fukrenden Kdpf. Die Republik erstarkt innerlick, wenn ein
mekr als gewoknlicker und dock nuckterner, ein allseitig imponierender,
zuriickkaltender Mann an ikrer Spitze stekt.
Ware die deutscke Repuklik in den Kopfen, in der Pkantasie, in
den Instinkten des poktiscken Deutscken sckon befestigt, dann ware ver-
ekrter Herr Ekert, gegen Ikre lautlose, unbemerkkare, elastiscke Prasi-
dentsckart kem Emwand zu erkeken.
Aber in diesem nock mstinktiv monarckiscken Reick, in dieser
•wider wilkgen Repuklik mui?ten Arkeiter, Burger, Bauern irgendwie zur
neuen Staatsrorm verlockt und verfukrt werden. Deskalb muQte an der
Spitze der Republik em Mann von illusionierendem Wesen steken, Einer,
der mckt nur kei einem Bruckteil der Reickstagsmajoritat, sondern in
der lekenden, wekenden Volksgemeinsckaft das Gefukl erzeugt: Blut von
unserem Blut, Hirn von unserem Hirn, ein Fukrer. Es ist wakr, der
Fall Masaryk ist ein besonderer Gliicksfall. Aber sckon der Fall
Hainisck, den kis zu seiner Wakl nur ein kleiner , freilick aus alien
Parteien bestekender Kreis kannte, ist von denkenden republikaniscken
Politikern kewutft gesckaffen worden. Uns feklen die iiberparteilicken
Fukrer, die Kredit auf alien Seiten kaben. Vielleickt ware ein
freier religioser Deutscker, wie Friedrick Naumann, der ideale Pre-
sident gewesen, weil soziale und nationale, religiose und rationale,
dicktenscke und denkeriscke Elemente sick in ikm vereinigten. Auck
in rlans Delkruck sind conservative und Erneuerungstendenzen lebendig
veremt, dock reklt ikm die sckopferiscke Naivitat, er ist ein Professor.
Aber wo gikt es politiscke Deutscke, die nickt Professoren sind? Bis
tier in die Reinen der Kommunisten kat sick das unorigmale, temperament-
lakmende Privatdozententum eingenistet. ;Der ideale President der
deutscken RepubLk muKte JoKann Wolfgang von Goethe heitfen, der ein
Dickter una Staatsmann gewesen. Wie -war's, wenn man den Prasidenten,
dessen Befugmsse Preui? eng genug begrenzt kat, in diesen Spkaren
suckte? Der Berufspolitiker wurde auflacken, -wenn man ikm den Namen
Gerhart Hauptmann vorsckliige. Aker das keweist klol? die Fantasie-
losigkeit der politiscken Facksimpel. Die Repuklik braucht ein Gesicht
und sie brauckt eine Fakne. Aber ikr allzu scknelles Ja, verebrter
Herr Ebert, yerhindert, dai? wir alle uns anstrengen und suchen. Es
bandelt sicb darum, die Figur zu finden, Aie geeignet ist, die Lust an
der Republik zu steigern oder vielmebr zu wecken.
Icb rurchte,* verekrter Herr Ebert, Sie werden wieder gewaklt
werden. AkVer wird davon Nutzen baben ? Ibre Partei ? An Aie Sie,
selbstverstandlich, vor allem denken. Icb kezweifle es. Kommunisten
und Altpreutfen werden aus Ibrer Prasidentsckaft billiges agitato risckes
Kapital scblagen. Die Republik ? Sie sind zu still, zu grau, zu korrekt,
bie sind zu wenig da. Die Monarckisten werden Sie wablen, well Sie
wissen, dai? Sie sicb biiten werden, Ibre Mackt zu verstarken, ja nur
zu gebraucken. Ibr durcb Partei disziplin gedrilltes Temperament wird sicb me
immer bescbeiden. SelbstKapp, Sie erinnern sicb nocb, wollte IkrSckein-sein
nicbt storen!
Desbalb balte icb Ibre Kandidatur fur einen Fekler, und icb wiirde
Sie bitten, den Fall nocb einmal zu uberdenken, wenn icb nicbt wiii?te,
dai? die Partei-Instanzen, nicbt nur die Vorwartsgericbteten, sckon ent-
scmeden baben. Und die Partei-Instanzen — das ist dock bis auf
weiteres Deutsckland. Mitkin ware Iknen eigentlick sckon zu gratulieren,
Iknen, Herr Ebert, und der deutscken Republik?
HOHLER FOUCHET & CO.
Budapest, Endc Dezember 1920.
Es geschieht nun zum zweitenmal, dai? die Frage der ungarischen
Armee im englisch'en Unterhaus besprochen wird. Auf die Frage
eines^Abgeordneten erteilte Unterstaatssekretar Harms worth, nun
zum zweitenmal, die aus mangelnder Sachkenntnis oder aus ge-
flissentlich verlogerier, hinterhaltiger Diplomatic stammende, jeden-
falls aber auf absolut falschen Voraussetzungen beruhende Aus-
kunft, wonach die ungarische Armee aus 36000 Mannern bestehe.
Man muf? wissen , dai? die dem Staate Ungarn vom aller-
hochsten Rate zugestandene Zahl der BewafTneten 35000 Mann
betragt. Somit sollte also die tatsachliche ungarische Wehrmacbt
die von rechtswegen zugestandene Zahl kaum um ein Tausend
Mann iiberschreiten.
Die Information des englischen Unterstaatssekretars ist auf
die Berichte der in Budapest sitzenden Generalitat der Entente,
sowie insbesondere auf die Nachrichten des englischen Vertreters
Ho hies aufgebaut.
Ist es auch dem Autfenstehenden nicht moglich, die genaue
Zahl der ungarischen Armee abzuschatzen , so ist es doch umso
leichter moglich, die Berichte des Budapester Entente -Vertreters
auf ihre Wahrheit hin zu iiberpriifen.
Denn eben dieser selbe englische Vertreter in Budapest,
Mister Ho hies, hat seiner Zeit nach dem eben veriibten Mord
an den Redakteuren des rechtssozialischen Organs „Nepszava'\
den beriihmten , damals in alien Zeitungen abgedruckten Bericht
erstattet, da(? in Budapest vollkommene Ordnung herrsche und
dai? man dem Verweser Ho r thy, der dieses Wunder fertig-
gebracht hat, eine womoglich noch grotfere Macht in die energischen
Hande zu legen habe.
Der ebenfalls in Budapest weilende President der Donau-
kommission. Admiral Troubridge, hat zur selben Zeit ein nicht
minder beruhigendes Bild iiber das herrliche Walten des „christ-
lichen Regimes im christlichen Staat" entworfen. Die Sicherheit
der biirgerlichen Existenz ware — nach Troubridge "s Bericht —
eben so vollkommen, als die des Burgers in London.
Diese Berichte wurden im Anfang des Jahres 1920 als bare
Miinze von alien biirgerlichen Zeitungen dieser Welt angenommen.
Heute bediirfen sie keiner Widerlegung mehr. Und doch hat es
der franzosische Vertreter fertiggebracht , just an dem Tage der
unlangst begangenen ruchlosen Polizistenmorde der Horthy^
Offiziere, einen Bericht nach Paris iiber die mustergultige Ord-
nung in Budapest zu senden.
Herr Fouchet reist heute von Budapest nach Paris, weil
dort jetzt der ungarische Friede ratifiziert wird und er verhandelt
zugleich — so heil?t es — damit jener heikle Punkt des Vertrages,
die Auflosung der Armee betreffend, nicht buchstablich streng
durchgefiihrtwerde. In demselben Sinne schreibt der royalistisch-
katholische Senator de Meuzie seine Horthy-freundlichen und
aus dem Horthy- Propaganda -Fonds wohlbezahlten Aufsatze fiir
franzosische Zeitungen.
So sind die hohen englischen und franzosischen Herrschaften,
fiir das viele vergossene Blut und fiir das entsetzliche Regiment der
Gewalt nicht minder verantwortlich, als vielleicht Horthy selber.
Nach den neuerlichen Lugenberichten iiber die Seelenzahl
der ^Vehrmacht, ist es wohl zu befiirchten, dal? die Horthyleute den
nicht zu mindest auch durch ihre Treibereien verursachten inner-
politischen Wirrnissen, durch Entfaltung autferpolitischer Wirren
die Krone aufsetzen. Denn die ungarische Armee zahlt allein an
Offizieren mehr als 36000 Mann. Horthy gebietet iiber eine Armee
von ungefahr drei- bis viermalhunderttausend Mann. Die fort-
wahrenden Einberufungen geschehen vor den Augen der fremd-.
landischen Kommissionen ganz regelrecht, off en und unverhohlen.
Auch "die Aufstellung einer reichstreuen osterreichischen Truppe
in Ungarn fand die Gutheitfung der Alliierten. Denn auf eine
Anzeige beim allerhochsten Rat, gegen diesen Rest der k. und k.
Herrlichkeit , wurde wohl die Truppe von einer Entente-Mission
zur Rechenschaft gezogen , aber als die osterreichischen Of fiziere
erklarten , sie waren vor dem bolschewistischen Terror des Dr.
Renner und dem des Dr. Deutsch aus AkVien nach dem
Soldatenparadies nach Ungarn geflohen, da gaben sich die hohen
Herren der Mission mit dieser Erklarung zufrieden. So ist in
Ungarn fur alle abgeriisteten Desperados dieser Welt eine Zu-
fluchtstatte eroffnet worden.
Der englische Unterstaatssekretar hat allerdings nach dieser
zweiten Anfrage zugeben miissen — wovon er , als die erste
Anfrage geschah, wohlweislich zu schweigen gewutft hat — dai?
Horthy aul?er der regelrechten Wehrkraft, noch iiber siehzig
bis achtzig Tausend bewaffnete Manner, verfiige , die allerdings
mangelhaft ausgeriistet sind.
Der Herr Unterstaatssekretar vergiift, daf? all diese Ausriistung
von englischer Seite werktatig besorgt wird! Der in Paris sitzende
Journalist Achmed Barthelet — halb Englander, halb Tiirke
halb Journalist, halb Geschaftsmann, doch ein ganzer Schieber — ,
und auch der in Budapest sitzende, einstige Offizier, nunerfolg-
reicher Schieber , ein gewisser Stead, und noch viele andere
Englander, Italiener und Franzosen, alle das ihrige tun, um den
Waffenschmuggel der internationalen Reaktion nach Ungarn z\\
betreiben. Viele Burger sind bei dieser Arbeit rein aus Snobts~
mus betatigt, um mit so feinen Magnaten und Pralaten, als es die
Machthaber des Horthy - Clique sind, verkehren zu, durfen.
(M ister Cumingham in Wien gehort zu dieser Sorte der
Schadlinge.)
Ob die alliierten Regierungen offiziell hinter all 1 -dem. Treiben
stehen , oder ob die Missionen in Budapest ein geheimes und ge~
meines politisches Spiel treiben, um London urid Paris einzufiihren?
^Ver weil??
Was sich nicht leugnen latft , ist die Tatsache , dal? die
ungarische Frage auf diese Art sich zu einem Konflikt zwischen
den alliierten Machten und den von ebendenselben Alliierten ge-
grundeten Successionsstaaten zuspitzt. Denn Tschechien-Rumanien,
Jugoslavien konnen nicht abriisten, solange die ungarische Armee
besteht und diese Armee wird bestehen, solange sie in Ho hi er, bei
Harmsworth, in Fouchet, bei De Meuzie machtige franzosische
und englische Protektoren findet.
Die Furcht erscheint nur allzu begriindet, dal? das verhangnis-
volle Rankespiel der Missionen zu einem kriegerischen Konflikt
im Osten fiihren wird.
Ist das die Absicht des „Volkerbunds" oder des allhochsten Rates?
Oder, wenn nicht, wie lange ist er gewillt, die Herren Fouchet,
Hohler und Troubridge an ihren so schlecht verwalteten Posten
nach so mannigfaltiger Blamage zu halten ?
DER KLASSENMASSIGE ZUSAMMEN-
H. gomperz SCHLUSS DER GEISTIGEN ARBEITER
Die Organisierung der geiatigen Arbeiter, im November 1918 mit grotfem
Gesclirei begonnen, iat in Deutachland bald nach der Revolution eteckcn
geblieben. Uraaomelir sollten die Betrachtungen des Wiener Hochschullehrers
beachtet werden.
Als es mit der Auseinandersetzung zwiscben „Burgertum"
und ^Proletariat"" ernst zu werden scbien, nabmen beide Klassen
die geistigen Arbeiter als zu sicb geborig in Anspruch, Von recbts
ward uns zugeraunt, dal? alle bober Gebildeten sicb gegen die
grofie Masse der minder Gebildeten zusammenscblietfen mtif?ten :
es gelte die Erbaltung des ,J3urgertums'"; von links wurden wir
etwas lauter dariiber belebrt, dal? Alle, die von ibrer Arbeit lebe n
gegen die Nutznietfer blotfen Kapitalsbesitzes zusammenbalten mutften
im Interesse der Rechte des „werktatigen Volkes". In der Tat
blieb uns das Ansinnen nicbt erspart, in die „Arbeiterrate", urid
wieder in die diesen entgegengestellten ,,Burgerrate", Vertreter der
geistigen Arbeit zu entsenden.
Kapitalbesitzer und Handarbeiter waren somit dariiber einig,
daJ? sich die geistigen Arbeiter notwendig einer dieser beiden
Klassen zuzablen mutften! Und wenigstens bei uns in Wien
bat sicb wobl aucb die grol?e Mehrbeit der geistigen Arbeiter selbst
biervon uberzeugen lassen, Freilich nicbt obne sebr merklicbes
Unbebagen. Die Versammlungen der Wiener Hocbscbullebrer
z. B., in denen iiber die Vornabme von Wablen in die „Arbeiter~
rate" entscbieden wurde, boten grotfenteils das Bild ratloser Ver-
bliiffung : die grol?e Mebrbeit der Kollegen war sicb durchaus
keiner besonders engen Zusammengebdrigkeit mit den Gewerk-
schaften der Handarbeiter bewuf?t und empfand es ddcb aucb
wieder als eine Beleidigung, wenn man ihr vorwarf, sie stebe im
Dienste des ^Kapitalismus". Meiner Uberzeugung nacb deutet aber
diese scbeinbar bloi? weltfremde Ratlosigkeit doch auf ein ernstes
sacbliches Problem.
Ob und wann namlicb das Klasseninteresse das fur den Menschen
wicbtigste Interesse ist, wieweit sicb Klassen von einander iiber-
baupt scharf abgrenzen lassen — all das kann fraglicb sein. Dai?
aber, wenn einmal die Bevolkerung eines Landes von mittel-
europaischer Entwicklungsbobe in Klassen unterscbieden werden
soil, die geistigen Arbeiter als eigene Klasse auftreten und An-
erkennung beiscben sollten, das scbeint mir autfer Frage zu steben.
Gewil? leisten viele Besitzer von Kapital bei der Leitung ibrer
Unternebmungen bocbwertige geistige Arbeit; gewil? streben aucb
viele Handarbeiter in ibrem Facb, und aucb dariiber binaus, redlicb
nacb hoberer Bildung: trotz alledem baben wir als geistige Arbeiter
Interessen, die weder mit denen des Kapitalisten als solcben nocb
mit denen der Handarbeiter als solcber zusammenfallen,
Der Kapitalist als solcher ist Bezieher arbeitslosen Einkommens :
daran, da.8 es solches Einkommen gebe, haben -»■ wie immer es
urn den Einzelnen stehe — die geistigen Arbeiter als Klasse gar
kein Interesse : der Ingenieur arbeitet fur eine Staatsbahn so gut
wie fur eine Privatbahn, der Leiter einer Lebensmittelvexkaufs-
stelle ist nicbt besser gestellt, wenn sie einem Grotfkaufmann, als
wenn sie einer Verbraucberorganisation gehort ! Unser Interesse
ist, daf? die zur Leitung eines Unternebmens erforderlicbe Kopf-
arbeit angemessen entlohnt werde ; wem aber der Reinertrag des
Unternebmens zufallt — ob dem Begriinder oder seinen Erben,
ob den Besitzern von Anteilscheineri, ob einer Genossenscbaft von
Verbrauchern, ob unmittelbar dem Staate — , das kann uns als
geistigen Arbeitern vollstandig gleichgiiltig sein!
Auf der anderen Seite haben die Handarbeiter als solcbe
nur daran Interesse, dai? korperliche Arbeit iiberbaupt moglichst
gut entlobnt, der verfiigbare Vorrat an Giitern unter die Arbeitenden
moglicbst nacb der von ibnen aufgewandten Arbeitszeit verteilt
werde; denn nur dies gemeinsame Interesse konnen sie mit der
hauptsachlichsten Waffe ibrer Klasse, durcb die Massenwirkung
ihrer Zabl, durcbzusetzen hoffen (sofern dabei der hoherwertigen
Arbeit ein Vorzug, etwa gar ein ansebnlicher Vorzug eingeraumt
wird, wird das rein proletariscbe Klasseninteresse bereits verlassen:
tatsacblicb bait sicb derartige Bevorzugung aucb meist in Grenzen,
die fur die Hobe der Lebensbaltung nicbt entscbeidend sind : wa-
rum sollten aucb die Masseri der Handarbeiter dafiir k'ampfen,
dai? besonders geschickte Kunstgewerbler langere Urlaubsreisen
unternebmen oder sicb einekleineBucbersammlung anlegen konnten ?)
Der geistige Arbeiter als solcber dagegen muJ? unerscbiitterlicb
darauf beharren, dai? seine Arbeit ibrem AVesen nacb eine bober~
wertige ist, dal? sie bei gleicber Arbeitszeit zur Giitererzeugung
unverbaltnismaf?ig mebr beitragt als die Handarbeit und dai?
ihm daher aucb eine wesentlicb bobere Entlobnung als die Vor-
bedingung einer wesentlicb boheren Lebensbaltung zustebt. (An-
spriicbe, die nun freilicb im besonderen Falle insoweit ermai?igt
werden miissen, als irgend eine Kopfarbeit nicbt als wabrbaft
geistige, leitende Arbeit anerkannt werden kann). Denn dai?
nur korperliche Arbeit Werte scbaffe oder daf? docb geistige
Arbeit zum Scbaffen von Werten nur nacb dem Mal?e der auf-
gewandten Arbeitszeit beitrage, — mit dieser ungebeuerlicben
Bebauptung darf sicb der geistige Arbeiter als solcber niemals ab~
finden ! Sie ist kaum besser als es die andere ware : was die in
einem gewerblicben Unternebmen bergestellten Giiter eigentlicb
erzeuge, seien die Masehinen, die Rader und Hammer der Fabrik!
Was bedeutet iiberbaupt Stoff obne Form, was Menscben
obne bestimmte Formen ibrer Zusammenfassung und den diese
Formen beseelenden Geist ? Was bedeutet daber aucb die korper-
liche Arbeit ohne geistige Leitung, die arbeitende Hand ohne den
leitenden Kopf? Nicht jene, oder docb nicbt vor allem jene,
scbaflen Giiter und Werte, die an Hammern und Radern, an
Kesseln und VentHen, im Stollen oder am Setzkasten ihren Korper
abmiiben, die ibnen zugewiesene Arbeit verricbten, vielmebr, zu~
mindest in weit boberem Matfe, jene, die die Arbeitsweise erdenken,
die Maschinen planen, die Arbeitsgelegenbeit erspaben, die Arbeit
verteilen und iiberwacben,* den einen an den Hammer oder das
R'ad, an den Kessel oder das Ventil, die anderen in den Stollen
oder an den Setzkasten stellen und ibm seine Aufgabe vorschreiben.
Gewitf, der Gegensatz zwiscben Hand- und Kopfarbeit tritt
nicbt immer und iiberall scbroff und unausgleicbbar zutage : der
kleine Landwirt, der kleine Tiandwerker, der Kiinstler fiibren
zum guten Teile das von ibnen Geplante, Erdacbte, Entworfene
mit eigener Kraft aus, zur Arbeit eines Mecbanikers oder Loko-*
motivfiibrers geboren gewisse geistige Leistungen als wesentlicbe
Bestandstiicke ! Ganz dasselbe indes gilt aucb von dem Gegensatz
zwiscben Arbeit und Kapitalbesitz : der Ertrag des Landwirts flietft
aucb aus seinem Eigentum an Grund, Vieb und Pflug, der des
Tiscblers aus dem Eigentum an Hobelbank und Holzvorrat, der
Fabrikant, der Kaufmann sind scbon als solcbe aiicb geistige
Arbeiter. "Will man von diesen gesellscbaftlicben Zwiscbenstufen
nicbt abseben, so darf man von Klassen iiberbaupt nicbt reden ;
redet man von ibnen — und das mag dort berecbtigt sein, wo
jene Zwiscbenstufen den gesellscbaftlicben Aufbau nicbt gerade
entscbeidend bestimmen — , dann darf man aucb den geistigen
Arbeitern die Anerkennung als besondere Klasse nicbt weigern.
Zu jbr zablt vor allem — und zwar am entscbiedensten in seinen
boberen Scbicbten — der ganze Beamtenstand : zunacbst die Be~
amtenscbaft des Staates, der Lander und Gemeinden als das Werk~
zeug der offentlicben Wirtscbaft und WirtscbaftskontrolleVferner
die gesamte tecbniscbe, kaufmanniscbe und Verwaltungsbeainten-
scbaft gewerblicber Betriebe, die Leiter und Angestellten derBanken
und Kaufbauser, landwirtschaftlicbe Verwalter und Aufseber, nicbt
minder aber aucb die berufsmatfigen Vertreter der „proletariscben Vk
Klasseninteressen, etwa Gewerkscbaftssekretare, Leiter und An~
gestellte von Sozialversicberungskassen, denen sicb in freierer Weise
die Zeitungsscbreiber und Politiker anreiben — dann aber aucb
Lebrer und Forscber, Arzte und Anwalte, welcbe die zur Leitung
der Gutererzeugung notigen Erkenntnisse vorbereiten, gewinnen
und ausbreiten, die Arbeiter aller Art zu nutzbringender Tatig-
keit tauglicb machen und erbalten. Die also umgrenzte Klasse
der Kopfarbeiter, weit weniger zablreicb als die der Handarbeiter,
tragt docb zur Hervorbringung der Giiter einer Volksgemeinscbaft
ebensoviel, wenn nicbt mebr bei, wie diese : war es so unbillig,
wenn sie als Klasse einen gleicben, fur den Einzelnen einen grotferen
Anteil an den erzeugten Giitern wie aucb an der iiber deren Ver-
teilung entscbeidenden politischen Macbt in Ansprucb nabme?
8
Ob em soldier Anspruch billig ware, dariiber konnen V6iV
schiedene Weltanschauungen verschieden urteilen : dai? er aber
erhoben und in weitem Umf ang auch durchgesetzt werden wird,scheint
mir gewil?! Gab es namlich j em als eine Zeit, in der bloi? der
Besitz als solcher herrschte, so ist sie docb offensichtlich vorbei;
ein gewisser Anteil an der Herrschaft wird der Arbeit unstreitig
zufallen. HERRSCHEN aber hetft LEITEN : blofe Handarbeiter
sind zur Herrschaft ganzlich unfahig, vermochten hochstens alles
zu zerriitten, eine allgemeine Unordnung herbeizufiihren ; Herrschaft
oder Mitberrschaft der Arbeit wird in Wahrheit immer Herr-
schaft oder Mitberrschaft von Kopfarbeitern sein, in deren
Reihen freilich immer auch einzelne, zur Kopfarbeit befahigte ehe-
malige. Handarbeiter Platz finden werden ! Und steht es denn
nicht schon heute vor unser aller Augen, dai? die politische Macht
der ,, Arbeiter" nicht durch Handarbeiter, sondern durch Kopf-
arbeiter — durch Angestellte von Gewerkschaften und Verbraucher-
genossenschaften, Volksredner und Zeitungsschreiber, Schriftsteller
und Denker ausgeiibt wird? Ja dai? gerade die ausgepragteste
Arbeiterherrschaft, die „Diktatur des Proletariats" sich geradezu
als Zwangsherrschaft einiger geistiger Arbeiter darstellt ?
Nun aber mag man die „Willensfreiheit" noch so hoch ein-
schatzen — man wurde doch die menschliche Natur vollig ver~
kennen und wiirde uberdies durch alle geschichtliche Erfahrung
widerlegt, wollte man es fiir moglich halten, dai? jemals eine Klasse
ihre Herrschaft lediglich im Interesse der von ihr Beherxichten
ausiiben konnte : vielmehr ist es unvermeidlich dai?, wo die Kopf-
arbeiter herrschen, auf die Dauer auch ihre Interessen nicht zu
kurz kommen, auch ihr Einkommen, ihre Lebenshaltung sich ganz
wesentlich iiber die der blol?en Handarbeiter erheben werden.
Diirfte man erwarten, dai? je Menschen uber Menschen in dem
Geiste herrschen werden, in dem ein Schutzengel seinen Schiitz-
ling leitet, so diirfte ja niemand der unumschrankten Herrschaft
eines ,,aufgeklarten" Fiirsten, oder einer Aristokratie als wahrer
„Herrschaft der Besten", widerstreben. Davon kann keine Rede
sein: wo Kopf arbeiter herrschen, werden sie schliei?lich auch fiir
sich sorgen, ja die Besorgnis ware verstandlich, ob sie das nicht
allzu schrofF und riicksichtslos tun werden? Denn einer fest ge-
schlossenen Vereinigung aller Kopfarbeiter stiinde der bloi?e Hand-
arbeiter fast so wehrlos gegeniiber, wie das Haustier dem Menschen,
vermdchte kaum auch nur der formlichen Versklavung der Minder-
befahigten durch die Hoherbefahigten vorzubeugen — ein Ergebnis,
zu dem es wahrscheinlich nur darum nie kommen wird, weil sich
voraussichtlich immer wieder Kopfarbeiter finden werden, um die
jeweilige Unzufriedenheit der Handarbeiter auszuniitzen, an ihrer
Spitze die bisher machthabenden Kopfarbeiter zu verdrangen und
sich selbst an deren Stelle zu setzen (ein Vorgang, der sich ja,
als „Sturz einer politischen Partei durch die andere"* auch schon
bisher oft genug abgespielt hat) !
9
Gewif? 1st aber das eine, daJ? die Interessen der Kopfarbeiter
mit denen der Handarbeiter durchaus nicht einfach zusammenf alien :
wcr beide, bloi? darum. weil sie kein arbeitsloses Einkommen be-
ziehen, kein Kapital besitzen, zu der einen Klasse der „Arbeiter'"
zusammenf af?t, erliegt einer ganz ahnlichen Tauschung wie jener,
der dem Liberalismus erlegen und an der er schliel?lich zugrunde-
gegangen ist. Als der Kampf gegen die Vorrechte des Adels im'
Vordergrunde der offentlichen Aufmerksamkeit stand, da erschien,
im Gegensatze zu diesem bevorrecbteten Stande, das ganze nicbt
adelige Volk als eine einzige, in sicb gescblossene Masse, die Masse
der ^Burger"*: dies wollte der Liberalismus befreien, alien Biirgern
„gleiche Rechte*" erkampfen. Seine groi?e Tauschung best and darin,
dal? er die Unterscbiede unter den Nicbtadeligen iibersab : so~
bald die Vorrecbte des Adels beseitigt waren, zeigte sichV daf?
das „gleiche Recht" fiir Besitzende und Besitzlose in Wabrbeit
die Herrscbaft jener iiber diese bedeutet ; die politiscbe Macbt und
die kulturellen Uberlieferungen gingen von den Adeligen nicbt an
die „Burger M ' iiberhaupt iiber, vielmebr nur an die besitzenden
Burger, die ja tibrigens aucb scbon in den letzten Zeiten der Adels~
herrscbaft an der politiscben Beherrschung der Nation wie aucb
an ibrer geistigen Leitung bedeutenden Anteil genommen batten;
nur die Lage der besitzlosen „Burger" hatte sicb bei alledem
nicbt allzusebr geandert 1
Einen ganz ahnlichen Febler begebt nun meiner Uberzeugung
nacb, wer beute, im Kampf e gegen die Vorrecbte der Kapitalsbe~
sitzer, in alien Vermogenslosen nur eine einbeitlicbe Klasse, die
der „Arbeiter v oder „Proletarier\ siebt und nun die Enteignung
der Kapitalisten, die Einziehung des arbeitslosen Einkommens zu
Gunsten dieser einbeitlicben Klasse fordert: er iibersiebt
dabei alle Unterscbiede zwischen Arbeitern und Arbeitern,
insbesondere den einen, bis auf den Grund binabreicbenden Unter-
scbied zwischen Hand~ und Kopf arbeitern ! Gelingt je die
Enteignung der Kapitalisten, ao wird ibre Macbt, wie auch die in
ihrem Kreise ausgebildete oder docb bewahrte Bildungsuberliefe-
rung, nicht etwa an die „Arbeiter" im allgemeinen ubergeben,
vielmehr an einen. mebr oder weniger we it gezogenen Kreis
von Kopfarbeitern (Beamte des Staatesundder Arbeitervereinigungen,
Berufspolitiker, Zeitungsschreiber, Scbriftsteller, Professoren), von
sogenannten „Intellektuellen", in deren Handen sich ja auch schon
in der Zeit des Kapitalismus ein ansehnlicber Anteil an der
politiichen Macht und ein noch ansebnlicherer an der geistigen
Fuhrung des Volkes angesammelt hatte ! Diese ,.Intellektuellen"
wiirden sich dann iiber kurz oder lang aucb ein den Durchscbnitt
iibersteigendes Einkommen, eine den Durcbschnitt iibertreffende
Lebenshaltung zu sichern wissen — eine andere Frage freilicb ist
es, wieweit dadurch auch die Lage des blol?en Handarbeiters auf
die Dauer verbessert wiirde !
10
Nun aber wird man mir einwenden : wenn wirklich die Zu-
kunft der geistigen Arbeiter derart gesichert ist, wenn sie auf alle
Falle — sei's neb en den Kapitalisten, seis an ihrer Stelle — mai?~
gebenden politischen Einfluf? ausiiben und auch imstande sein
werden, sich ein ibrer hoherwertigen Leistung angemessenes Ein-
kommen, eine ibren hoheren Lebensanspriichen gema#e Lebenshaltung
zu erwirken und zu sichern — wenn demnacb ibre augenblick-
licbe Notlage nur eine kurze Ubergangserscheinung sein kann :
was bebelligen sie damit die Offentlichkeit, warum soil ibr klassen-
matfiger Zusammenschlui? so besonders dringlicb sein ? — Meine
Antwort ist sebr einf acb : geistige Arbeiter werden es immer
sein, die das Volk fiibren und aucb beberrscben; allein niemand
biirgt uns dafiir, daf? dies aucb alien geistigen Arbeitern oder gar
jedem einzelnen im Verhaltnis zum "Werte seiner Leistung
zugute kommen wird ! Wenn sich die geistigen Arbeiter nicbt
klassenmatfig zusammenschlietfen, fur ibr Klasseninteresse nicbt
das Gewicbt ibrer Zabl s die lebendige Kraft gescblossenen Vor-
drangens, zuletzt aucb die Drobung mit der Einstellung ibrer
Leistungen einsetzen konnen, dann wird sicb geistige Arbeit — nicbt
viel anders als aucb scbon bisber ! — nur zur Geltung bringen konnen
entweder im Dienste des Kapitals oder an der Spitze korper-
licb arbeitender Massen — d. b. geistige Arbeiter werden wobl
aucb dann an leitenden Stellen steben und, allein oder doch mit
Anderen — den Rabm des Volksvermogens abschopfen, allein
nur jene, die sicb entweder dem Reicbtum anzusebmiegen oder
die Armut mit sicb fortzureitfen wissen: nur zwei geistige Tatig-
keiten also werden dann „nach Gebuhr" belobnt werden: Mam-
monsdienst und Demagogic!
Wer dies nicbt will, der trete fur den klassenmatfigen Zu-
sammenschlui? aller geistig Arbeitenden ein und nebme an ibm
Teil ! Nur auf diese Weise kann die geistige Arbeit als solcbe
sicb den ibr zustebenden Raum zwiscben dem Besitz auf der
einen, der blol? korperlicheri Arbeit auf der andern Seite erkampfen
und sicbern und das, was sie nie aufboren wird, fiir sicb in An-
sprucb zu nebmen: eine Hobe der eigenen Lebensfiibrung und
einen Einflu/? auf die Allgemeinbeit, bemessen nicbt nacb der Zahl
ibrer Vertreter oder nacb der von ibnen aufgewandten Arbeitszeit,
sondern vielmebr nacb ibrer B e d e u t u n g fiir das offentliche
und insbesondere das wirtscbaftlicbe Leben ! Nur auf diese Weise
werden aber aucb die geistigen Arbeiter das politiscbe, gesell»chaft-
licbe und wirtscbaftlicbe Klassenprogramm, in das jener Ansprucb
sicb fruber. oder spater ganz von selbst umsetzen wird, im einzelnen
ausarbeiten und es einbellig aufstellen, vertreten und durchsetzen
konnen. Nur durcb klassenmatfigen Zusammenschlui? kann sich
auch die geistige Arbeiterschaft eine gedeihlicbe Zukunft sicbern.
An Versucben, einen solchen Zusammenschlui? in die Wege
zu leiten, hat es bei uns in Oesterreich keineswegs gefeblt. Die
II
iruckende Not des Augenbiicks hat sogar zwei Organisationen
geis tiger Arbeiter und ihrer Berufs verbande ins. Leben gerufen.
Der „Allgemeine Verband geistiger Arbeiter" bemtiht sich, den
Mitgliedern der ihm angeschlossenen Verbande auf zaklreichen
Gebieten, namentlich bei der Beschaffung von Biichern und anderen
Arbeitsmitteln, Erleichterungen zu verschaffen ; der „Zentralrat
geistiger Arbeiter fc mochte den Mitgliedern der ibm angescblossenen
Verbande menschenwiirdige Lebensbedingungen erkampfen. Gewisse
Erfolge werden diesen Bemiihungen wobl nicht vorenthalten bleiben.
Wird sich ihnen aber aucb der hohere Erfolg aureihen, in breiten
Schichten der Kopfarbeiterschaft das Gefiihl klassenmatfiger Zu-
sammengehdrigkeit zu wecken und aus diesem Gefiibl neue, zeit-
gerecbte Standesforderungen gesellschaftlicher, ja politiscber Art
hervorspringen zu lassen ? Das wird wohl vor allem da von ab-
hangen, ob die Leiter dieser Organisation es versteben werden,
sich zu den gesellscbaftlicben und politischen Fragen der Zeit in
ein ricbtiges, namlich in ein frucbtbares Verhaltnis zu setzen.
Denn nicbt die blinde, bedingungslose Scheu vor aller Politik ist
es, die den geistigen Arbeitern not tut; nocb unbeilvoller aber
war' es fur ibre Bewegung, wenn sie sicb in den Dienst irgend-
welcber bestebender politiscber Parteien, etwa gar „burgerlicher \
kapitalistischer, stellte. Die Aufgabe des Augenblicks ist es viel-
mehr, die klassenmatfig zusammengefatfte geistige Arbeiterschaft als
neuen Faktor in die gesellscbaftlicben und politiscben Kampfe
unserer Tage einzufiihren. Gelange dies, so wiirde sicb dieser
Faktor durcb sein inneres Scbwergewicbt bald genug aucb Geltung
verschaffen und dann braucbte uns, nacb Uberwindung gewisser,
unvermeidlicber Ubergangserscheinungen, um die Zukunft der
geistigen Arbeiterscbaft nicbt bange zu sein. Denn zuletzt wird
siclTs docb immer wieder erweisen, dai? geistige Arbeit m e b r
vermag als jeder angesammelte Vorrat blotfer Arbeitsmittel, aber
auch mehr als jede nocb so grotfe Menge blotfer Handarbeit —
so gewii? aucb im Menscben das Gebirn mehr bedeutet als das
Fett* jedocb auch mehr als der Muskel!
Die Deutschen sind ubrigens wunderkche Leute ! Sie machen sich
durcb ihrc tiefen Gedanken und Ideen, die sie uberall sucten und uber~
all hineinlegen, das Leben schwerer als billig. Ei, so babt dock endlich
einmal die Courage, euck den Eindrucken hmzugeben, eucb er~
gotzen zu lassen, eucb rtihren zu lassen, eucb erbeben zu lassen, fa eucb
belebren, und zu etwas Gro#em entflammen und ermutigen zu lassen;
aber denkt nur nicbt immer, es ware alles eitel, wenn es nicbt lrgend
abetrakter Gedanke und Idee ware. Goethe 1827
12
dr. kurt pinthus VERFALL DES THEATERS?
Lieber Stefan Grossmann, Ihre imaginare Rede (Heft 50 des
»Tagebuch«) ist ebenso wichtig wie richtig. Nur zweierlei be-
daure ich ; erstens , dai? diese Rede nicht wirklich auf der Ge-
nossenschaftsversammlung gehalten wurde , zweitens, dal? sie die
W^hrheit zu liebenswurdig und milde sagt. Man miitfte nicht
mit Engelszungen , sondern in groben und scharfen Tonen reden,
denn die Sache, um die Sie kampfen, ist der Kernpunkt eines
Komplexes von Fragen , die zu der Antwort zwingen : Die Exi-
stenz des Theaters uberhaupt wird zur Unmoglichkeit !
Wer wahrend der letzten Monate in der praktischen Arbeit
des Theaters sich befand und gefragt wird, welche Zukunft das
Theater habe, mochte rasch und erbittert antworten: Keine!
Es ware frevelhaft und verantwortungslos , programmatische Leit-
satze aus dem Hirn zu ziehen ohne Riicksicht auf die tat-
sachliche augenblickliche Situation des Theaters. Diese Situation
ist viel trostloser als das Publikum noch ahnt. Ungeheuer un<f
unentrinnbar sind jetzt die Schwierigkeiten und Hemmungen,
Theater zu spielen , wobei nicht die Theater gemeint seien , die
serienweise hintereinander dasselbe Stiick Dutzende oder Hunderte
von Malen mit begrenztem Personal zeigen, sondern die Theater
mit wechselndem, kunstlerisch-ernsthaftem Spielplan. Hierzu ge-
horen nicht nur die Theater in privatem Besitz, die nur solange
spielen konnen, wie sie ohne Verlust arbeiten, sondern auch die
mit j en em grolsen Defizit spielenden Staats- und Stadttheater,
das jahrlich von Staat oder Kommunen gedeckt wird. Auch
diese Theater befinden sich bereits in einem kritischen Stadium,
denn (das ergab die letzte Tagung des .Biihnenvereins) die Ab~
neigung der Staats- und Stadtvater wird immer heftiger , ein
Defizit von mehreren Millionen fiir ein einziges Haus zu be-
gleichen , wahrend dicht dabei in vielen Hausern unterernahrte
Kinder in Zeitungspapier gewickelt auf dem blol?en Futfboden
schlafen mussen.
Die in Privatbesitz befindlichen Theater mutften sich — selBst
wenn sie ernste Ziele erstrebten — nach und nach dem Serien-
spiel zuwenden oder, um einen kunstlerischen, wechselnden Spiel-
plan aufrecht erhalten zu konnen, solchen Serientheatern angliedern
(wie in Berlin Meinhardt und Bernauer das Berliner Theater-
und Komodienhaus, Bamowsky das Kunstlerth eater ; die Biihnen
des Deutschen Theaters haben' als Riickgrat die Abonnements^
vorstellungen des Grotfen Schauspielhauses). Die Lage in den
Provinzstadten stimmt ziemlich< mit der Situation der Berliner
Theater iiberein.
Die Anzahl der an jedem Abend in jedem Theater ver-
kauften Platze ist begrenzt ; begrenzt ist auch der zu fordernde
Preis fiir diese Platze, denn erfahrungsgemai? versagt das Publikum,
13
wenn eine gewisse Hohe des Preises iiberschritten wird. Ins
Unbegrenzte aber wachst der Ausgaben ~ Etat der Theater durch
die sich stetig erhohenden Gagen, die ungeheueren Kosten des
anzuschaffenden Materials fur Dekorationen und Kostiime, fur
Heizung und Licht und auch die riesigen Steuerabgaben. Man
berechne sich . wie z. B. der Etat der Biihnen des Deutschen
Theaters plotzlich belastet wird, wenn jeder der hier beschaftigten
600 Menschen nur eine Gagenerhohung von 200 — 300 M. pro Monat
erhalt; die Mehrausgabe von etwa 200000 M. monatlich ist natiir~
iich keinesfalls durch Steigerung der Eintrittspreise auszugleichen.
Die innere Zerriittung des Theaters wird verschlimmert durch
lie Riickwirkungen des Kinos, nicht etwa, weil es, wie man fruher
befiirchtete, das Publikum, sondern, weil es die Schauspieler vom
Theater abzieht ■ und korrumpiert. Selbstverstandlich kommt der
Schauspieler, der beim Film an einem Tage mehr verdient als imTheater
wahrend des ganzen Monats, nicht zur Probe, sobald er die Mog~
lichkeit zu film en hat. Oft mui? die wichtige Rolle eines Stiickes
mit einem falschen oder schlechten Darsteller besetzt werden, weil
der fiir die Rolle geeignete Schauspieler gerade filmt. Es kommt
an den ersten Theatern Berlins hauftg vor, daf? wahrend der vier
AA^ochen lang dauernden Proben zu einem Stiick nicht em einziges
Mai eine Probe vollstandig besetzt ist. So erfolgt allmahlich eine
Auflosung und Lockerung des Ensembles, die Gesamtleistung ist nicht
zu ubersehen, und manches Stiick fiel durch, nicht weil es schlecht
war, sondern "weil der Film die schauspielerische Arbeit zerstort.
Es gibt ein Mittel, den Schauspieler zur Probe zu zwingen, denn,
vor die ^vVahl zwischen Theater und Film gestellt, wird er den
Film wahlen, weil er ihm grof?ere Einnahmemoglichkeiten gewahrt.
Da der Schauspieler stets die leichte Nebeneinnahme durch den
Film hat, die meist hoher ist als die Gage, wird er iibermutig
und weist jede Rolle, die ihm nicht gefallt oder zu klein ist,
zvriick. Nicht nur grotfe Schauspieler, sondern ganz mittelmaf?ige
Begabungen verfallen in diese riicksichtslose Unart , die eben erst
durch die Meiniger, durch Brahm und Reinhardt miihsam ausge-
rottet war. Denn man pfeift darauf, viele Vormittage zu opfern,
um schlie!?lich ein paar Satze zu sprechen und in der Kritik nicht
genannt zu werden, wenn man in der gleichen Zeit taglich einige
Hundert oder Tausend Mark verdient und seinen Namen in
Plakaten und Inseraten ausposaunt sieht. — Und trotzdem kann
sich der Film noch riihmen, das Theater zu stiitzen, denn ohne
die Nebeneinnahmen des Film mul?te ein grower Prozentsatz der
Schauspieler hungern.
Um einen moglichst starken Erfolg bei Publikum und Kritik
zu erzielen, versucht, der Theaterdirektor die Premiere des Stiickes
in moglichst guter Besetzung herauszubringen, in dem er die
besten Krafte seines Ensembles und fremde , nur fiir die ersten
14
Vorstellungen engagierte, zusammenstellt. Die Konkurrenz des
Kinos, die Hohe der Theater-Stargage (oft 1500-3000 M. fiir
den Abend) sowie der Austausch der ersten Schauspieler unter
den verschiedenen Theatern derselben Direktion oder mit anderen
Theatern, machen es unmoglich, dieselbe Besetzung dauernd bei~
zubebalten. So entwickelt sicb das System der zweiten Besetzungen,
durcb die nicbt nur das Publikum, sondern auch der Schauspieler
betrogen wird. Denn wahrend der biihnensichere Protagonist
etwa 20 Proben fiir die Premiere hat, wird der ma(?igere oder der
junge, unsichere, hilfsbediirftige Schauspieler nach zwei diirftigen
Proben mit einem Hilfsregisseur auf die Biihne gestotfen ; niemand
arbeitet mit ihm, er entwickelt sich nicht, — und eine Generation
von verkiimmerten, dilettantischen, verbitterten Schauspielern wachflt
heran, obne Nachwuchs zu sein.
Immer mehr gute Schauspieler wenden zum Serientbeater ab,
nicbt nur weil es hohere Gagen zahlt, sondern weil die vielen
probefreien Tage Gelegenheit zum Filmen geben. Seligste Sehn-
sucht aber ist es, ein Star fiir Film und Theater ohne festes
Engagement zu werden. Man male sicb diese Situation aus —
und man wundert sicb nicht mehr, wie durch Kurbelkasten und
Serientbeater die Schauspielkunst zerradert und zerrottert wird.
. . . . Es geschieht das Ungeheuerliche , dal? im Augenblick der
ungebeuersten Gefahrdung des Theaters die Schauspieler ihm nicht
zu Hilfe kommen , sondern es schandlich verraten und verlassen.
Der Verfall des Theaters wird weniger durch den Verfall der
materiellen Situation als durch den Verfall der Gesinnung der
Schauspieler verursacht. Nicht nur das Theater , sondern auch
die Schauspielkunst gebt zugrunde. Das ernsthafte Theater kann
weder durch Sozialisierung der Einzelunternebmungen, noch durch
die unmogliche riesenhafte materielle Unterstiitzung von autfen her
gerettet werden, sondern nur durch die Schauspieler selbst.
Aus inneren Griinden, wie aus Not und Notwendigkeit, da
Fundus und Dekorationen hinschmelzen und nicht neu beschafft
Werden konnen, wird als Biihne der dekorationsarme , freier ge-
steckte Spiel-Raum dienen, das kiinstlerische Theater der Zukunft
wird also ganz auf die Dichtung und den Schauspieler gestellt sein.
Wer wird sich Vorstellungen ansehen wollen , die nichts bieten,
als ein unlustiges, nicht geniigend probiertes Zusammen- (oder
Auseinander-) Spiel zufallig zusammengetrommelter , entarteter
Schauspieler? Man darf sich nicht wundern, wenn viele theater*-
freudige Menschen die Rettung des Theaters von wandernden
Truppen erwarten , die mit abgewogenem Ensemblespiel in den
leerstehenden Theatern, in Salen, Scheunen, Zirkus auftreten. "Wie
das Theater ein Abbild des Zusammenbruchs, der Unkultur, der
Korruption, des Scheinwirtschaftslebens unserer Epoche ist, so
kann es nur wiedererstehen durch die allgemeinen Heilmittel der
Menschheit: durch Anstandigkeit der Gesinnung und Leistung.
IS
H. VON KAHLENBERG DER DEUTSCHE MANN
Wcnn man mir heute die . Gewissensf rage stellte, welches ist
der tiefste Grund der sehr tiefen Spannung und Entfremdung
zwischen Deutschland und der Welt , wiirde ich antworten :
Nicht der verlorene Krieg, auch nicht die aus der geschaftskundigen
Phantasie der Reporter geborenen deutschen Greueltaten wahrend
des Krieges. Obgleich wir leider nicht verkennen diirfen, daf?
unter der Vergewaltigung alles Eigendenkens durch den journalistic
schen Terror neunundneunzig vom Hundert der naiven Leser in
neun Zehnteln des bewohnten Erdgebiets diese Dinge g 1 a u b e n.
Auch dem Uberzeugten konnte ich nicht zustimmen, der im Neid
der Volker , in Eduards Einkreisungspolitik oder in Frankreichs
Revanchegelusten den Grund zum Volkerhasse gegen das eine ge-
achtete und gehetzte Volk sieht. Eine Rassenverschiedenheit,
wo dunkle Triebe des Blutes mithandelhd eingreifen konnten,
existiert nicht. Sicher nicht gegen England, Amerika und Skan-
dinavien, — wenig absperrend den Slaven gegentiber, und fiir die
Romanen, im Falle Italiens oder Spaniens, fast das Gegenteil, nam-
lich starke und dauerhafte Sympathie auswirkend. Eine Sym-
pathie des Blutes , ohne die leidigen politischen Ereignisse der
Jahrhunderte , ware sogar fiir die Franzosen, meines Erachtens,
sicher vorhanden. Der Gegensatz ist und blcibt das grotfte Un~
gliick des kontinentalen Europas. Die charakteristischen Eigen~
schaften beider Nationen wiirden einander in allergliicklichster
Weise erganzen, — sogar korperlich weist die Rassenmischung
romanisch - deutsch die grotften Vorziige auf. Eine gegenseitige
Befruchtung auf geistigem Gebiet war und ist der Menschheit
unentbehrlich. Europa wird nicht eher zu schopferischer Friedens-
arbeit kommen , bis diese Wechselwirkung , so oder so , wieder
eingesetzt hat. Wir Heutigen, hiiben und driiben, mussen trauern,
dal? wir die Auswirkung wahrscheinlich nicht mehr erleben. Im
Leben eines Volkes zahlen die Jahrzehnte wie unsere Monate und
Tage der eigenen kurzen Lebensspanne. Man darf jetzt weder
prophezeien, noch verdammen, noch dozieren. Es steht nichts fest ;
jedes kann eintreten, wahrscheinlich dient auch alles einem Zweck,
fordert irgendeinen ganz gro#en gigantenhaften Gang.
Wir sind Maulwiirfe, halbblind, Geblendete ! Es gibt einen
sehr ausgesprochenen Unterschied zwischen Deutschen und Fran-
zosen, zwischen dem Deutschen und dem Angehorigen jeder anderen
Kulturnation schlechthin, — — — — ich rechne in dieser Be~
ziehung die Deutschschweizer durchaus als deutsch; die Oester-
reicher, obgleich Deutsche, mussen ausgenommen werden. Er liegt
im Verhaltnis der Geschlechter zueinander, in der Beziehung
vom deutschem Manne zur deutschen Frau. Fast mochte
ich sagen, in eiiiem Unterschied des sinnlichen Empfindens, —
jedenfalls in einer Verschiedenheit der Wertschatzung der Frau.
In mohammedanischen Landern oder in Indien hort man wieder
16
und wieder, dal? em freundschaftlicher oder iiberhaupt gesellschaft-
licher Verkehr mit den Eingeborenen , auch den Kultiviertesten
und Hochstgestellten, — und es gibt unter Eingeborenen sowohl
grof?e Herren wie Geistesgrotfe ~ nicht moglich ist, der Purdah,
des Frauengemaches oder des Harems wegen. Wie kann ich, sagt
sich etwa der englische Offizier, mit einem Menscben freundschaft-
lich oder auch nur unbefangen verkehren, der seine Frau vor mir
verschlietft, der mir das selbstverstandliche Vertrauen, dal? ich micb
als Ebrenmann und Ritter gegen seine Damen benebmen wurde,
vorenthalt? Nie und nimmer ist der Mann, der so denkt und
bandelt, meinesgleichen, ein Gleichgestellter.^ Zwischen ihm und
mir stent die grundsatzliche Verscbiedenbeit in der Auffassung
einer grundlegenden Sacbe. Wir in Deutscbland unterscbeiden
dunkel ein anderes Geschlechtsempfinden der Semiten, das sicb,
trotz mancber Harems anlehnung eber dem des ubrigen Abend-
landes nabert; icb glaube, dank der sebr groflen Tatkraft und
Intelligenz der jtidischen Frau, der altgeubte Elternverehrung,
selbst die Eitelkeit der Rasse — (die Frau als Reklame - Objekt,
als lebender Beweis der Kaufkraft) zu Hulfe kommt. Die Fremd-
artigkeit wird sebr ausgepragt gegenuber dem Cbinesen, demjapaner.
Was wir aucb daruber lesen oder scbreiben mogen, in diesen
intimsten, aber docb allerwesentlicbsten Dingen bleibt die Seele
der einen Rasse der anderen stets ein R'atsel, Sittlicb bocbstebende
Menscben empfinden solchem Gebeimnis gegenuber vielleicbt Trauer,
— immer Ehrfurcht; ungebildete und robe Menscben aber ver-
lacben oder bassen.
Die deutscbe Frau bat mit dieser Sondereinstellung durch
den Mann wenig oder gar nicbts zu tun. Sie ist in, vieler Be-
ziebung sicber die beste , weil die am leicbtesten lenkbare, die
fleif?igste und selbstloseste Frau der ganzen Welt, wurde infolge-
dessen von altersber, vom Fiirsten und dem Arbeiter, in England,
Amerika, Italien, in Spanien und in Frankreicb gem und leicbt
gebeiratet. Durcb ibre Heirat wurde sie vollkommene Englanderin,
Amerikanerin , Italienerin , in vereinzelten Fallen der letzten Zeit
sogar Japanerin oder Cbinesin. Aucb scbutzt * das Ausland, das
den deutscben Mann zur Zeit so besonders schroff, voll Racbsucbt
ablebnt, sie gutwillig oder geringschatzig in ibrer Anpassungsfahig-
keit. Die deutscbe Frau war nie eigentlicb — aucb wabrend des
Krieges nicht, unbeliebt. Der deutsche Mann ist es durchaus und
allgemein. Ganz besonders aber — und bier ruhren wir an den
Kern des Problems, in seinem Verhaltnis zur Frau.
Die Deutscben bis 1918 waren eine vorzugsweise mannlicbe
oder besser mannis cbe Nation. Der Mann, sein Wunschen,
Fiihlen, seine Tat und Leistung, stand so sebr im Vordergrunde,
dal? zweifellos dadurch . eine gewisse Einseitigkeit, gesellschaftlicbe
Selbstiiberbebung entstand. Ich glaube,.. dal? sie den standig in
Deutscbland wobnenden Deutscben, Frauen und Mannern, nicht
17
recht fuhlbar wurde, .wenn man nicht eine gewisse Unrast, ein
ziemlich allgemeines Unbehagen bis zur ofifenen Meuterei einzclner
Frauen schon als Symptom bezeichnen mochte. Uns andern aber,
im Ausland lebend, dort schon erzogen, durcb Familienbande ver-
knttpft, war der Unterschied immer sebr augenfallig. Soweit wir
Frauen sind, — das entscbeidend und scblecbtbin Unterscheidende.
Diese Dinge sind aui?erordentlich schwierig auszudriicken ;
man bemerkt es, indem man versucht, das Gestaltlose und Feind-
liche zu f ormulieren. Icb f rage micb auch, ob jetzt der Zeitpunkt
gekommen ist, auch diesen Zwiespalt nocb aufzudecken, wahrend
unserunglucklicbesVolkinParteibaderundWirtschaftsnotverblutet.
Man wird micb — wie gewohnlich — mii?verstehen, wcnn
ich sage, dai? in einem Versagen oder in einer Erkrankung gesunder
Sinnlichkeit die letzten Griinde unseres jetzigen Elends liegen.
Aber vielleicbt konnte es scbon niitzlicb sein, wenn Einzelnen eine
Ahnung wenigstens aufstiege, was es ist, das den Auslander, rein
menschlich, — das Menscblicbe ist viel wichtiger als das Politische !
— in der neudeutscben Wesensart abstotft und beleidigt. Denn
im allgemeinen bat der Inlanddeutsche, — ■ icb sebe das aus zahl-
losen Artikeln, bore es in t'aglichen Aussprachen, — keine Ahn-
ung, warum eigentlich ein Gegensatz iiberbaupt bestebt und worin
er bestebt.
Die Allgemeinbeit trostet sicb weiter mit der Sage vom Neid ;
der ^Deutsche war eben s o tiichtig, s o vortrefflich, dal? alle Un-
sittlichkeit und Unfabigkeit der Welt ihn hassen, sicb gegen ibn
verbinden mutfte. Dabei wird mit grower Selbstgefalligkeit die
Tiichtigkeit. immer vorgeschoben. Das vergangene und zusammen-
gebrochene deutscbe Imperium stand lediglicb auf Leistung gegriindet.
Sittliche oder geistige Eroberung macbte es langst nicbt mehr. Zu
semem Ungluck aber ist die Wabrbeit, dal? im Moment wobl die
Interessen, dauernd aber immer nur die Idee siegt, unerscbiitterlicb.
Das ganz ausschlietflich auf Leistung gestellte deutscbe Reicb folgte
einer einzigen Richtschnur, der Anbetung des Erfolges, der Macbt.
Beider im allerplumpsten, bandgreiflicbsten Sinne, wo Erfolg Reich-
turn, — Bargeld Macbt, das militarische Ubergewicbt die brutale
Gewalt, darstellte.
Eine gewisse Kindlichkeit dieser Formulierung zeigte, dai? die
entsprechende Weltauffassung weder sebr tief sitzen, nocb sebr
schwer erworben sein konnte. Es ist die landlaufige Weltan-
schauung des Protzen, des Subalternen. Typiscbe Sklavenmoral
im letzten und tiefsten Sinne, etwi des viel verlasterten und
grundlich mii?verstandenen Nitzsche. W'ieviele von uns z. B.
wissen, dal? dieser Mann der blonden Bestie, des Ubermenschen,
gesagt hat: JLieber zu Grunde geben als hassen und fiircbten und
zweimal lieber zu Grunde gehen als sich hassen und fiirchten
machen !"
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„Groi?e Knaben" nannte ein greiser spanischer Gelehrter,
der seit vielen Jahren unter uns lebt, die deutschen Manner. „Des
grands gosses !" Ja, etwas schlecht erzogne, eckig-ungeschickte, in
den Flegeljahren befindliche Knaben, mit dem Humor, der an-
ma#lichen Begriffsstiitzigkeit von Knaben, — das sind die Manner,
vorziiglich unserer tonangebenden Oberschicht. Wdin wir Frauen
vom Manne das Gefestigte, Besonnenbeit, Geduld, Mut im Ungluck,
Wiirde, die boben mannlichen Tugenden, erwarteten, — wie oft
f anden wir sie ? ^Vo wurden sie aucb nur angestrebt oder als
vorbildlicb bingestellt ? Im Vergleicb zum Englander berrschte,
immer, gerade in den besseren und besten Klassen eine ersckreckende,
und abstotfende Formlosigkeit. Der Deutsche kannte nur Steifbeit,
nur Zwang oder lasehes Sichgehenlassen ; Uniform oder Schlaf-
rock. Das Mittelding, eine unbefangene Gleichmai?igkeit war $o
gut, wie unbekannt. Fand er sie beim Englander oder Amerikaner,
spracb er gern von angelsachsischer Heucbelei. Micb iiberraschte
infolgedessen kaum, dal? der Zusammenbruch aucb den volligen
N erven- und Haltungszusammenbruch bis in die hochsten und aller-
hochsten Stellen nacb sicb zog. Wo vorber poltrige Renommage
und Drobung an der Tagesordnung gewesen war, konnte nacbber
nur Kleinmut, Klage und ohnmachtige Wut oder sogar krieche-
riscbe Unterwiirfigkeit eintreten. Aucb bleibt beweisend, dal?
die Frau nicbt mitmacbt. Sie zeigt in Deutscblands scbwersten
Zeiten Wiirde und Entscblossenbeit. Nie bat die deutscbe Frau
als Arbeiterin, als Weib und Kameradin so viel geleistet wie
beut. Mochte bei der Miitterlicbkeit gegen den grotfen Sobn, ihren
Mann, — der Sobn selbst, das Kind nicbt zu kurz kommen ! Er
ist schlietflich Hauptsacbe und Zukunftsbiirgschaft.
Viele von uns baben das sehr peinigende und sehr barte Buch
von Heinricb Mann : der Untertan gelesen. Icb mul? gesteben,
dies Buch, in Deutscblands triibster Stunde in unsere Hand ge-
legt, bat micb tagelang aufs tiefste bedriickt und gequalt. Weil
es so viel Wabrbeit entbalt, ist es so unertraglich. ^Venn wir
die Frauen unserer gebildeten Stande, Hand aufs Herz, fragen —
wieviele baben nicbt gelitten unter der bervorragenden Unritter-
licbkeit, der selbstverstandlicben Uberheblichkeit, Roheit und Nicht-
acbtung des Mannes ? Sie baben der deutscbcn Frau das Geprage
der Unsicberbeit und Abhangigkeit aufgedriickt, unter dem sie als
„G r e t c b e n"~ Typus zwiscben den Vertreterinnen der anderen
Nationen stebt. Ist es nicbt eigentlicb seltsam, dal? Gretcben iiber-
haupt fur" die deutscbe Frau typisch geworden ist ? Durcbaus
nicbt in dem Sinne wie ein — aucb typiscber — Nationalist sicb
entrustete, dal? das gefallene Madcben das deutscbe Madcben als
solches gegen die Welt reprasentiert. Ach, lieber Herr Professor,
mit Gretcben finden wir uns beutzutage gern ab ; sie bat die
Tranen, die Zuneigung und Acbtung der ganzen Welt fur sicb !
Es ist das Verhalten des grotfen Doktor Faust gegen die arme
19
Kleine, das viel bezeichnender scheint : Philosophic im Liebes-
moment, Unritterliehkeit und Unbestandigkeit. Uber ihren s.chreck-
lichen Tod im Gefangnis geht er so leicht hinweg, dal? er neu-
geetarkt erwacht und die duftige Zartheit des Regenbogens be-
wundera kann. Er hat gute Nerven. Und erwartet zum Schluf?
— erwartet mit Recht — Verzeihung und Fiirbitte.
Sie soil ihm bleiben — sicherlich! Denn hier scheiden^sich
unsere AiVege von dem des „Untertans". Man mul? lieben. Uber
Verdienst. Gegen Verdienst. Wo keine Liebe ist — auch des
Richters oder sogar des Vernichters, fehlt das Schopferische. Das
Sittliche im hochsten Sinne des "Wortes, In jenem Buche — und
deswegen ist es ein furchtbares Buch, gibt es uns Heinrich Mann nicht.
Oder — vielleicht kann ein Mann bier uberhaupt nicht geben.
Nur urteilen. Das Geben uber alles Mai? hinaus ist heute an
uns '— den Frauen. Nur konnten wir vielleicht dafiir sorgen, da#
es mit Intelligenz und Unterscheidungsvermogen, im Vollbewutft-
sein eines Werts geschieht. Der deutschen Frau fehlt, um voll-
kommen zu sein, nichts als Selbstbewul?tsein, hat mir mal jemand,
ein Franzose, gesagt. Aber das Feblende ist eben sehr viel. Es
meint, dai? sie bewutft in das Volkserleben nunmehr eintreten mul?,
um dem deutschen Volk, was es bisher entbehrt hatte, zu geben —
eine Kultur.
Unsere Manner durfen eben nicht mehr blof? Manner, Unter-
tanen oder Berufstatige sein, sondern sie miissen Menschen werden.
Vielleicht wurde das auch der Doktor Faust, der noch Papiergeld
fabriziert, Feldziige gefuhrt und Siimpfe trocken gelegt hatte, erst
in dem Moment, als Gretchen sich hinabneigte, und er das Hoher-
geartete des weiblichen Prinzips erkannte? Der Priifstein geradezu
fur den aufbauenden "Wert eines Menschen ist seine Stellung zur
Frau. Der Zyniker, der Wustling ist dem Heil nicht ferner als
der Philister, der den Nutzlichkeitswert seiner Hausfrau einschatzt.
Die sehr niedrige, Stellung der Prostituierten — im Vergleich schon
gegen Oesterreich oder Frankreich, ist ein Schandmal. Es gibt da
doch schlechterdings f ur den anstandigen Mann nur zweierlei :
Entwede:* vollige Ablehnung, sich sauber und streng zu. halten,
oder auch in der Dime das Menschliche noch zu ehren, Menschlich-
keit selbst in die rein tierische Beziehung hineinzutragen. Beide
Wege wiirden hochstwahrscheinlich zum gleichen Ergebnis fiihren.
Nebenbei werden wir im Aufstieg an den wir trotz des gegen-
wartigen Tiefstands glauben — und es sind dafiir Anzeichen vor-
lianden, — mehr und mehr auch die Tierseele zu ehren anfangen.
Der deutsch^ Mann hat bankerott gemacht auf der ganzen
Linie. Wir wollen ihn dafiir nicht anklagen oder verhohnen.
^iVir wollen ihm helfen, wieder hocb zu kommen. Stark, froh
und stolz zu wer len. Schneidig, ausfallend und prahlend mochten
wir ihn nicht mehr. Auch auf Sentimentalitat — sie scheint mir
der Kardinalfehlcr der Rasse! — verzichten wir. Carlyle hat
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sie die Zwillingssctrwester der Heucnelei genannt. Mir schemi
sie die schlimmere Schwester — Heuchelei tauscht die Anderen.
Mit Gefuhlsiiberschwang : Deutschland, hoch in Ehren, mit Rhein~
und Wanderliedern, mit dem Brustton und dem Trinkspruch auf
die Damen tauscht man sich selbst. Ein allerdings verbitterier
deutscher Schriftsteller, obgleich der schlechtesten keiner, behauptete
mal, die deutsche Treue wurde soviel erwahnt und gelobt, weil
sie nirgends und zu keiner Zeit existiert hat, — gerade jene
Eigenschaft sei es, die dem Deutschen fehle. Treue ist das natiirliche
Beharrungsvermogen einer starken Personlichkeit. Wo die Per-
sonlichkeit schmachtig, minderwertig und zwiespaltig war, woher
sollte eigentlich die beruhmte Treue kommen? Der Deutsche im
Zusammenbruch hat sich seinem vorherigen Wesen eminent untreu
gezeigt. Irgendetwas war da in tiefster Seele unwahrhaftig. Ent-
weder das vorige System oder die Manner des Systems?
Man sollte alle Fehler immer eher in den Menschen, im Blut,
statt in den Dingen oder Prinzipien, suchen. Letztere sind fast
immer gut, edel, brauchbar. Wenn es trotzdem schabig, toricht
und unehrlich zugeht, so fehlt es eben bei uns an Groi?mut, Ein-'
sicht und Wahrhaftigkeit. Vor allem an Wahrhaftigkeit! Das
auff allendste Merkmal des gegenwartigen Chaos, die Fuhrerlosigkeit,
der Mangel starker, fest umrissener Personlichkeiten im gelobten
Lande der ,,Mannlichkeit", der Mensuren und Uniformen weist
am deutlichsten auf den immer vorhanden gewesenen Fehlbetrag
an echter Mannhaftigkeit, an Mut, Verantwortungsgefiihl und
Selbstbescheidung.
Der deutschen Frau ist der deutsche Knabe in die Hand
gegeben. Sie stent Wunden verbindend, stiitzend neben dem Ge-
fahrten. Aber hell und wach miitfte sie in die Zukunft schauen.
Ein neues Geschlecht wachst heran. Wir brauchen Menschen.
Wir Deutschen sind von gestern. Wir kaben seit einem Jakrhundert
ganz tucktig kultiviert; allem es konnen nock ein paar Jakrkunderttf
kingek^n, eke bei unseren Landsleuten soviel Geist und kokere Kultur
exhdnnge und allgemein werde, dai? sie gleick den Griecken der Sckonkeit
kuldigen, dai? sie sick fur ein kufcsckes Lied kegeistern, und dai? man
von lknen wird sagen konnen, es sei lange ker, dai?* sie Barkaren gewesen,
Goetkc 1827.
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PETER ALTENBERG EMPFEHLUNGSSCHREIBEM
Die beiden vermutlich itn Jafcre 1902 gescnriebenen Brief e sind an den
Direktor ernes Wiener Varietes gerichtet, um diesen fur erne italieniscne
Sangerin au interessieren.
Lieber Herr Direktor,
kenne em wunderscbones, absolut ideal ^ewacKsenes Nea~
politanisches Madcben mit wunderbaren Augen, netter, tiefer
Stimme, die, fur Wien zum erstenmale, Neapolitaniscbe
Canzonetta u. Volkslieder, das scbonste, zarteste, was es iiber~
baupt fiir micb gibt: valse brune, Fill Doro , Marecbiare, La
retirata, Una volta sola, etc. etc. etc., vortragt !
AiViirde ibr ganz exzeptionelles Kostiim (Venetianiscbe Volks-
tracht, sckwarzer seidener Fransen - Scbal, sebwarze Sammt-
pantoffeln u. nackte Beine) selber komponieren, ganz billig !
Ich konnte sie manegen!
Sie ist in Mailand, braucht Reisegeld und sonst etwas !
Vielleicht Billet und 200 Lire!
Keinerlei Reklame und Annonce. Wird fiir sicb selber
sprechen. Einmal etwas Organisches, nicbt brutal in Szene Ge~
setztes. Lassen Sie mich A lies machen!
Gebeimnis! ibr Peter Altenberg.
Lieber Herr Direktor!
2 Kostiime fiir „La Entimia" ! Venetianiscbe Volkstracbt,
schwarzer seidener Scbal mit langen Fransen , nackte Beine,
flchwarze Sammtpantoffeln. Oder dasselbe in Maulwurfgrau !
Dafur hatte icb den Scbal bereits vorratig!
Dann: rostbraune Tiillbluse und ebensolcber plissirter Tiill-
Glockenrock !
Rostbraune Sammtblume in Haar und Giirtel !
Nackte Beine, rostbraune Samtpantoffeln !
Mandolinen -* Begleitung im Orcbester , oder Harfe , oder
Guitarre ! ! !
Sammlung: Pie' digrotta!
Herrlicbste Volkslieder !
Staff age! Der Lido-Strand mit Andeutung der langen Reiben,
der „Kabanen*\ und Meersand.
Cos turn : seidenes blaues Tricot , ganz kurz , nackte Beine,
seidene Mutze, die icb besitze.
22 P. A.
MAX BROD
FEUfcR
Ick kak in mir em MuK,
Das keii?t „Verzekre dicn.
Ick fukTs: Du kist mir gut,
Und clock verzekr ick mick.
Du sprackst : Ick komm zu dir,
Und dock verzekr ick mick.
Die Nackt vergekt ja sckon,
Und dock verzekr ick mick.
Es tagt, es tragt dick ker,
Und dock verzekr ick mick.
Sckon stekst du pelzgekullt
Im Sckwall des Stra#ensterns
Am vorkestimmten Ort,
O leucktendes Gesckenk, —
Und dock verzekr ick mick.
In deinen Armen stark,
Im Drucke demer Brust
Giei?t sick der Himmel auf,
Und dock verzekr ick mick.
Da ist kem Gluck, waldkm
Rukend'in Friedenkreis
Und keine Segelkuckt
Und kernes Wunsckes Scklu£
Von Lieke ukersckwemmt
Liekend verzekr ick mick.
In deinen siitfen Sckoi?
Mundend verzekr ick mick,
Du nie genug, du nie
Gegekne, niemals ganz,
Nack deines letzten Ick
Armen verzekr ick mick.
23
AUS DEM TAGEBUCH
MENTOR FUR NEUE
REICHE
Der Kriegsgewinnler ist durck
keine Irome aus der Welt zu sckaffen.
Besckaftigen wir uns ernstkaft mit
lkm. Er jammert uns. Er kat vor-
laufig nur Geld. Ick will ikm
etwas sckenken.
Es~ gikt Personkckkeiten unter
Euck Kriegsgewinnlern. Denen kake
ick xuckts zu sagen.
Ick wende mick an die Masse
der Kriegsgewinnler, welcke plotz~
lick auf emer Hoke akgesetzt worden
ist, die Andere langsam zu Fui?
erreickt kaken.
Ikr kakt den Nackteil Eurer
ecknellen Ankunft, Ikr kohnt Eure
Lage nickt keurteilen, kennt die
Mittel nickt zum V^eitersckreiten.
Ikr kakt keine Ausrustung, kein
Training, keine Fiikrer, keine Tra-
dition. Ikr seid auf uns angewiesen.
Da stekt Ikr nun und versucnt
es nut Freckkeit und seid uns ein
Dorn im Auge und seid uns erne
widerwartige Bande, denn Eure
Manieren sind uns ekelkaft und
worn Ikr uns nackmackt, so wenden
wir uns von Euck ak wie Goetke
von den Affen.
Ikr kakt den Vorteil, dal? Ikr
unkerangen seid, unverkrauckt und
wir verarmt sind, wakrend Ikr reick
wurdet; dai? wir auf unsere Frei-
keiten verzickten lernten, wakrend
Ikr anfingt ikrc VerwirkKckung zu
aknen.
Was mackt Ikr nun aus dieser
MogKckkeit? He?
Wo seid Ikr kis jetzt?
Die kesten von Euck sind keim
Zweifel angelangt: Zweifel an ikrer
Kleidung, Lekensformen, Woknung,
24
Eingeordnetkeit, Zweifel an ikrer
Aknkckkeit mit uns Gewanderten.
Sckeuen sick vor dem Spiegel,
vor Besuck von ^Vissenden, vor
dem Spotte, dessen Tragweite sie
eken so wemg kemessen konnen, wie
unsere Kntik. Zweifel ok sie wirk-
kck fur Ikr Geld das kekommen,
was sie kraucken.
Da liegt der Punkt.
Ikr konnt allenfalls das keste
kekommen, was wir kraucken
konnten. (Gewoknlick kekommt ikr
was wir nickt kaken wollten), nie
aker konntlkr kaken, was Ikr krauckt.
Wir kauen einen Flu gel an unser
Vaterkaus, vorsicktig und kedingt
und erne Heizung legen wir so an,
dai? sie den Stil der Zimmer nickt
stort, und das elektriscke Lickt in
unsern ererkten Kronleucktern soil
Kerzen gleicken oder sick verstecken.
Ikr aker Traditionslose, Ikr kakt
die Freikeit neu zu kauen, das ganze
Haus und alle Mittel frei zu ver*-
wenden und so zweckvoll, dal? sie
m sick sckon sind.
Irrt Euck nickt — es ist so:
Wir kaken versckiedene Bedurf-
nisse und Ikr krauckt die Fantasie
fur Euer Geld, denn die Deckung
Eurer Bedurfmsse ist als Konfektion
einfack nickt vorkanden.
■ Es gitt das nock nickt. Ikr
mutft es sckaffen und verfluckt
genau aufpassen, dai? es auck das
Ricktige wird. Ikr kakt Aufgaken
in Menge und kein en Ma^stak autfer
Eurem Instinkt.
Ikr solltet keil? sem vor ^Vonne,
was es alles fur Euck zu tun gikt.
Was wollt Ikr anzieken, wenn
Ikr aus Euren Buros kommt?
FeierKckes? Ikr seid nickt feierkck.
Tragt weicke farkige Anzuge mit
Ledergurteln. Keinen Frack, keinen
Gekrock, darm werdet Ikr immer
nur die Geduldeten sein. Ikr aknt
nickt, wie Ikr auf uns wirkt, wenn
wir in Hotels und Tkeatern Euren
AnkKck zu ertragen kaken.
Keine Opposumkragen, kerne
weil?en Handsckuke, keinen Zylinder !
Sckafft Euck erne neue Urn-
gekung. "Was sollen Euck unsere
Bikliotkeken, unsere Musikzimmer.
Sckafft Euren Kraften Spielraume,
wo die Zakigkeit des gewoknten
Arkeiters in der IConkurrenz nut
den Freunden zur Geltung kommt.
Wie ware es mit Gewickten
zu keken, Stangen zu sckwmgen,
Amkoisen zu scklagen?
Da liegt die Moglickkeit Euck
cine eigene Geselligkeit zu schafren.
Besser nock: Fangt kei Euren
Kindern an, denn Ikr selkst kekommt
die neuen Moglickkeiten fast sckon
zu spat in Euer Leken.
^Venn erne unserer Xockter
sick einricktet, findet sie aus der
Tradition keraus eigenen Stil. Ent~
kekrtes wird erreickkar. Der Sofa-
tisck des Elternkauses, das Geruge
des Buffets, die komplizierten Bett-
decken, die ermudende Notwendig-
keit des Scklusselkorkes, dies alles
ergikt automatisck; freiere Wande,
offneren Blick aus Fenstern, grol?ere
Scklafraume, zugangkckere Sitze,
ungesckiitztereBucker, lockerere Be-
wegungsmoglickkeiten. So ist unser
Stil immer im FLui?.
Eine Eurer Tockter? Erne Um-
gekung fur sie, em Ziel fur sie.
Worauf kommt Ikr? Em ge~
klumtes weitfes Madckenzimmer,
fertig gekauft \>ei Gerson. Einen
Flugel, einen Fotoapparat.
Das ist ja alles Unsmn!
Lai?t sie versucken em ganzer
Kerl
zu sein!
im modernes
sckopf, ein sckones, kluges, klares
Ding., Dazu krauckt sic die rick-
tige Umgekung. Gekt ikr vor allem
ein eigenes Badezimmer mit viel
Duscken und stromendem Wasser.
Latft sie Hygiene lernen von einer
Hekamme oder Masseuse und auf
ikre Beine ackten, la#t sie sick um
die Gesundkeit ikres Gesckleckts
kummern. Foknapparte und flussige
Seifen, grelle Elektrizitat, damit sie
ikren Korper kennen und kenutzen
lernt. Latft sie Bilder seken von
nackten Gottern, dai? sie sick ver-
gleicken lernt. Nock kesser Pla-
stiken. Gekt ikr einen grol?en Balkon
fur ikre Luft- und Sonnenkader.
Gewoknt sie Sckamkaftigkeiten in
AkVorten zu verackten, Versteckt~
keiten ale Muffigkeiten aus dem
Koklenkeller akzutun. Sie soil
wissen, wo sie feklerkaft ist und
wo sie sckon ist und soil sick nock
einmal selkst so zusammenstellen,
da# das Ganze Geist kat und Stil
kekommt und sie einen Begriff kat,
welcke Kleider sie tragen kann,
welcke Stoffe welcken Sport sie
treiken will. La#t sie prokieren,
aker nickt am Fertigen. Gekt ikr
Stoffe und erne Sckere, em tezakl-
tes ^Vesen dazu, die Sticke naken
kann. Ikr seid ja reick, latft sie
einiges wieder verwerfen.
Gekt ikr dock die Ckance ernes
fairen Starts. Zwingt! sie immer-
fort zu erfinden. Ikre Hemdcken
und ikre Hiite, ikren Gang und
ikre Sckuke. Mackt ikr nickts
kequem, aker gekt ikr ein Ziel, das
ikr Spa^ mackt, urd tikt Ikr keine
Kritik. Gewoknt Euok daran zu
wissen, dal? Ikr nickts verstekt.
Und wenn Ikn das nickt wollt,
so wende ick mick direkt an die
Jungen ; sie sollen es kei Euck durck-
setzen.
25
Ein Scklafzimmer am Bade—
zimmer, wie soli es sem ? Konnt
Ikr eine Tapete braucken? Ein
Muster ? Verf elilt ! Ick mockte
Euck eine starke Faroe gel) en, einen
Ton, gegen den Inr Eucn gewoknen
muKt aurckzuhalten, oder wenn Ikr
es wagt, so verzicktet auf alles
Far Inge una mackt Eucn eine
Nonnenzelle, in der Ikr Eure Sckon-
keit, Eure Jugend, Euren Korper
wissensckaftlick und genau kekandelt.
Keine weickji. Ken Kotterien fur
Euch. Es gikt da Gefakr, weil
Eure Groi?mutter sick so oft an
unecktem Sckmuck, an kai?licken
Niedlickkeiten kegniigen mui?ten.
Hakt Sckranke aus Glassckeiben,
kinter denen Aie Farken Eurer
Kleider, die Lagen Eurer AkVascke,
Eure Gurtel, Eure Hute leuckten.
>Velcke Dekoration!
EureStiefelsollen sicktkar steken,
daw ikr an mren Formen Euren
Gang kekandeln lernt, und viele
Spiegel krauckt ikr und of f ene Fenster.
Und das Woknzimmer. Begnugt
Ikr Euck nock nut dem ubkcken
Sofa, Buckersckrank und Sckreik-
tisck, Blumentisck? Fotografien an
den Wanden ?
Vergef?t das Ideal Eurer Kind-
keit, das Euck ersckien, \renn ikr
kleinen Scklackter-, Backer- und
Portierskinder uker die Hintertreppe
zu den Herrsckaften kereinseken
durftet.
Es gikt neue Ideale.
Euer Woknzimmer soil aus dem
Material Eurer Besckaftigungen ent-
steken: Hakt einen Tisck, ein aus-
geproktes Quadrat groi?e Flacke, fur
Eure Ark eiten, Ton zum mo del—
lieren, Handwerkszeug, Farken, Ma-
sckinen, ein Stekpult fur Eure kurze
Korrespondenz,eineSckreikmasckine.
An den Wanden Eure Sportgerate.
Euer Teppick sollte meinetwegen
ausseken wie ein kubistisckes Re-
klameplakat. Eure Bibliotkek: Hy-
giene, Spiele, Tiere, Reisekarten,
Flugmasckinen, Aufklarung iiber
Kmderkekommen und -verkuten,
Krankkeiten. •
Ein eigenes Telefon fur Euck,
eigene Zeitung. Einen elektriscken
Kocker, dais ikr unakkangig Makl-
zeiten kaken konnt, die ikr selbst
mackt, wie den Tee oder Kaffee
rur Eure Freunde.
Empfangt keinen Besuck, emp-
fangt nur Menscken; leknt ak, wo
sie Euck mckt mekr wicktig sind,
oder straklt aus, wenn ikr sckon
konnt.
Versckwendet keine Zeit mit
Zeremonien, die ikr erst lernen
mui?tet. Erfmdet eigene Formen.
Arkeitet wenn ikr auck Besuck
kakt. ' Spreckt nur uker Zukunf—
tigesl Kein Klatsck! Gefakr!
Hintertreppe!!
Und Euer Salon! Ein Teppick,
ein paar Ledersitze, einige Spiegel,
ein gutausgedacktes Lickt, dasBlumen
ersetzt, und ein Grammopkon. Dort
konnt ikr tanzen.
\Vas krauckt ikr mekr um
gluckuck zu sem und sckon zu
werden und nack und nack so
ricktig, dal? ikr mckt mekr sckreien
muist, sondern akwarten konnt, dai?
man Euck siekt, und um akleknen
und annekmen zu konnen, wie es
Euck ricktig sckemt und wie wir
es zu tun gewoknt sind.
Himmel welcke Ckance Tockter
ernes Kriegsgewinnlers zu sein!
Helen Grund
Man konnte die Leute wokl
amusieren, wenn sie nur amusabel
waren. Wieland
26
DER VOLKSBtTHNEN-
BETR1EB
Em Mitglied der neuen ireien
Volkskukne sckreikt mir :
Jakrelang kake lck die Redens-
arten nackgeplappert, daK nur das
vom Kapit alis ten beireite Theater
imstande sein werde, rein kunstlerisck
zu arkeiten. Jetzt weils lck s Lesser.
Der Grol&etrieD rur die tkeatra-
lisclie Konsumgenossensckart ist
genau so . kunstwidrig wic der
der Tkeaterwarenkauskesitzers.
Nekmen Sie meine Volkskiiknen :
Erfakrungen in dieser Spielzeit. Es
wurde kein lekender Autor gewagt.
Eine kesckamend sckleckte Vorstel-
lung Von „Kakale und Lieke", erne
kleckerne Inszenierung von„Wallen-
steins Tod", erne immerkin geistig
gemeinte und gelungene Vorstellung
von „Nack Damaskus". Dazu
funfzigmal das „Katcken von Heil-
kronn .
Aker, kitte, seken Sie sick die
Tkeaterzettel der "Wiederkolungen
an ! Nack der vierten oder runiten
Auffiikrung lal?t Herr Kaytfler, der
Direktor, HerrnKayiHer, den Sckau-
spieler, nickt mekr auitreten.
10 000 Mitglieder*kekamen ikn als
Graf Wetter vom Strakl zu seken,
die anderen 100 000 Mitglieder
saken nur emen unnennkaren Ersatz-
mann. Jetzt gak Direktor Kay(?ler
dem Sckauspieler KayKler den Wal—
lenstein. Sckon.'QAker die ersten
Paradevorstellungen sind vorkei, seken
Sie sick morgenXden Tkeaterzettel
an, GottweiR welcker Kaylslerersatz
ukermorgen den gutglaukigen, un-
gesckutzten Volkskuknenmitgliedern
als Wallenstein ~*y vorg>r?etzt ward.
Und nickt nur Herr Kayfler feiert
nack den ersten Auffukrungen, na-
tiirlick kann der Direktor Kaytfler
den Collegen-Sckauspielern das nickt
verwekren, was er selkst aeih Sckau—
spieler Kayffler einraumt. Das ware
ja nickt menscklick. bo kommts,
da# die zwar anstandigen Sckau-
spieler, iiker welcke die Volkskukne
verfugt, a <ick in denWiederkolungen
frei gelassen werden. Stakl—
Nackkaur spielt kaum mekr, der
gute Herzfeld kat auck ein Reckt,
entlastet zu werden und selkst die
Utilitaten werden durck den Kna-
kenckor ersetzt. Seken Sie sick,
kitte, die 62. Auffukrung des
,.Katkcken von Heilkronn" an.
Dies alles wird kegreiflick, wenn
Sie kedenken, das jede Vorstellung
mekr als 50 mal gegeken werden kann
und soil. Der Betriek auf Grund
der Mitgliederzakl, ^iie Automatic
sierung des Spielplans, der Zwang
zum Senenspiel — das alles ist lm
Genossensckaftstkeater ekenso un-
ertraglick wie lm Gesckaitstkeater.
Freilick konnte der AussckuK, der
die Reckte der Mitglieder wakren
soil, emgreiren. Aker der Aus-
sckuf? ist eken Aussckul?. ^Venn
Herr Kayuler den VV alien-
stem nickt 59 mal spielen will, so
miibte daiur. gesorgt sein, dau von
Aniang ein zweiter Wallenstein,
Hartau oder Stemruck, da ist. Un-
wiirdig der Volksbukne ist dieser
klaglicke Ersatz, unwurdig die V er—
lotterung der Aurrukrung nack der
runrten Vorstellung. Dieses gepflegte
Tkeater konnte nur von einem Mann
geleitet werden, der nickt gleick-
zeitig der erste (und allmaklick) der
emzige Darsteller der Volkskukne
ist. Wir 100000 Mitglieder, Aie
nickt m die ersten funf Vorstellungen
kommen, gemetfen allmonatlick —
ein Kaytflertkeater okne Kaytf-
ler. Das ist wirklick nickt viel.
27
FILMKRITIK
Dazu sckreikt mir Alfred Halm,
dem die sckone Inszemerung de s
,,Rosa Brand-Films gelungen ist ;
Filmkritik!? — Gikt es eigentlick
so etwas? - — Die Tagespresse hat
ubersehen, dai? aus dem Jakrmarkts-
zauker der ersten Films keraus das
Liclitspiel eine Volksunterkaltung
groisen Stils geworden ist. Sie krmgt
meist nock Zirkusnotizen liter den
^Kientopp^der die Volkseele intensiv
lockt. — Bald wird man kekaupten
konnen, jedes Volk kake das Lickt-
spiel, das ikm.gekukrt. Diese Kunst~
mdustrie muJ? daker sckarf keok-
acktet, sckarf kritisiert werden, —
naturlick nark ekrlick kunstleriscken
und kulturell'—i Gesicktspunkten und
nickt nack der rloke der Annon^
cengelder, wenn s:e kerne K.ultur'-
gerakr werden soil. — Es gibt sen on
eimge Kritiker, die facktewandert
das keste wollen. AJoer die Annon-
. cengelder etc., das Bedurrnls zu be-
steken ist begrei flicker weise kei den
Fackklattern grower als dasBedurfms
die voile Wakrkeit zu sagen.' Und
so segeln wir nock reickkck 1m
Kitsck. Die Besserung konnte nur
von einer unabkangigen, sick ikrer
groi?en Verantwortung kewutften
Kritik kommen. Wie man sick
auck zum Film stellt, kier mul? em
Wandel gesckaffen werden.
Redaktion des „Tag*buch" : Berlin W 35, Potsdamer Strafe 123 b, Tel : Lutzow 4931 '
Verantwortlich fur den redaktionellen Teil : Stefan Grotfmann, Cbarlottenburg. Verlag :
Ernst Rowoblt Verlag, BcrlinW 35. Potfldamer Strafe 123 b. Druck: R. Abendrotb, Riesa.
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Ik 1. Lustspielouverture, op. 38
2. Konzert fUr Violine mit Orchester, op. 35
3. OrchesterstUcke
_ a) Berceuse elegique, op. 42
|.': : b) Nocturne symphonique, op. 43
4. Conzertino fiir Klarinette u. kleines Orchester, op. 48
5. Orchestersuite aus der Oper „Die Brautwahl»
f;' ; Solisten : EMILTELMANY
CARL ESSBERGER
t>:i
3- ORDENTL1CHES
ORCHESTERKON^ERT
4.
5.
ft;
&
[<."', ., ,.
£&£&
' :VvI,;*.j
C3
?. AQSSERORDENTLICHES
ORCHESTERKON^ERT
fO am Ereitag, den ?. Januar 1921, ?Va &hr abends /*$
in der Philharmonie mit dem
Philhar monischen Orchester
£ ; DIRIGENTt • , *-<U
*> :; FERRQCCIO BQSONI ■'«
DEB ANBBCICH
*'$
'^
am Donnerstag, den 13. Januar 1921, ?V a Clhr abends ^j
in der .Philharmonie mit dem ■/?!
f';. PhilharmonischenOrchester /$
I-* DIRIGENT:
FEBBQCCIO BQSONI. g
K P/?0 GPAMM:
FERRQCCTO BQSONI 3j
1. Orchestersuite aus der Musik zu „Turandot", op. 41 >:
g;*:| 2. Rondo arlecchinesco, op. 46 ;<>■
Tenorsolo ! HERMANN SIMBERG . S
Zwei Studien zu „ Dr. Faust" * i : :
a) Sarabande ^
b) Cortege '.{-,
I Manuskript / '•"•■ n a
Divertimento fiir Flote und Orchester \;i
{ Manuskr^t / f/fl
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Das Tage- Buck / Heft 2 Jan rg. 2 / Berlin, 15. Januar 1921
bernhard bruno EIN BERLINER SCHICKSAL
Berlin, 7. Januar 1921.
Otto Markiewicz, den Viele fur den reichsten Mann Berlins
hielten, ist, erst in der ersten Halfte der Vierziger stehend, an
Uberarbeitung gestorben. Das Herz wollte nicht mehr. Es ist
ein Berliner Schicksal, das sicb so friih vollendete. Ein Arbeits-
besessener biii?te seine Leidenschaft mit dem Tode. Hatte Mar*-
kiewicz sich das Leben bequem und geniei?erisch eingerichtet, dann
saf?e er heute nocb in seiner reizenden Villa in der Mal?enstra(?e.
Aber er verbrannte sicb, er sal? Tag f iir Tag von 9 Ubr friih bis
drei Ubr nachmittag in seinem Buro, dann ging er zum Mittagessen
und zu einer kurzen Ruhepause nacb Hause. Um 5 Ubr sal?
er wieder an seinem Scbreibtiscb und blieb dort bis 11 und
12 Ubr sitzen, Wie viele von seinen intimen Geschaftsfreunden
blieben aber bis in die zweite und dritte Nacbtstunde bei ibm,
beratend, plaudernd, er war dann in jener produktiven Aufge-
scblossenbeit , aus der seine besten Einfalle stammten, Ich weif?
nicbt, ob eine sozialistiscbe Gesellscbaft solcbe Besessenbeit, solches
Effiilltsein von der Arbeit erzeugen wird, hoffentlich; vielleicht
aucb ist diese herzzerstorende Arbeitsleidenschaft gar nicbt
wiinschenswert, vielleicht haben die gelassenen englischen Han dels-
berren recht, die mehr als ein bestimmtes Pensum im Tag nicht
leisten. Jedenf alls konservieren sie ibre Herzen langer, jedenfalls
sterben dort die genialsten Energien nicht mit 45 Jahren ab.
Otto Markiewiczs Vater ist in den Griinderjahren sehr reich
geworden, er wohnte im Bliicher^schen Palais am Brandenburger Tor
und seine vierspannigen Equipagen waren beriihmt. Von ihm
riihrte der Einfall her, leerstehende Wohnungen in Berlin zu
moblieren und zu vermieten. Aber dem Markiewicz ist am Ende
seines Lebens der Ertrag seines ^Virkens aus den Handen ge-
flossen und die Erben batten nicht viel mehr als Schulden uber~
nommen, wenn nicht Otto, der Begabteste, wenn nicht der einzige
Hochbegabte unter den Sohnen, sich in das Geschaft gestiirzt und
es in kurzer Zeit hochgebracht hatte. Damit wiirde sich ein be-
quemer mittelmafiger Geschaftsmann begniigt haben. In Markie-
wicz lebte die Triebkraft einer grof?en kaufmannisehen Phantasie.
Ausruben hat es fur ihn nie gegeben. Eine Angelegenheit
ordnen — das bedeutete fur ihn, Zeit und Aufnahmsfahigkeit fiir
das nachste Projekt gewinnen. So beschaftigte ihn lange Zeit das
Moore-Licht , jene elektrische Beleuchtung in Rohren, die be-
sonders fiir die Reklamebeleuchtung von Wichtigkeit war — in
dem nocb nicht verfinsterten, sondern grell beleuchteten Berlin.
33
Sein erstes grofes Projekt war das Passagekaufhaus in der
Friedrichstrafe. Ungeheuerer Tamtam bei der Eroffnung, Sonder-
ziige aus Essen, Niirnberg, Danzig. Elektrische Reklame auf vielen
Dachern. Und dahinter ein theoretisch vorziiglicher Gedanke:
das Genossenschaftswarenhaus, Markiewicz war nur der Haus~
herr. Die besten Firmen mit ihren Spezialerzeugnissen sollten
eine Genossenschaft bilden. Eine Bank sollte die Firmen einigen.
Das Experiment ist mii?gluckt, weil die einzelnen Teilnehmer sich
in den Haaren lagen , statt sich zu verbinden. Markiewicz sah
rechtzeitig die Situation. Dieser voraussehende ' Blick bat ibn
immer wieder vor Scbaden bewahrt. Er wutfte sich recbtzeitig
loszulosen und Wolf Wertbeim iibernabm das Passagekaufbaus.
Markiewicz, kaum aus einem grofen Engagement heraus, warf
sicbi scbon wieder auf ein anderes Projekt. Ursprunglich wollte
er ,im Zentrum der Stadt einen Zentralbabnhof scbaffen. Aucb
der Plan, einen Tunnel zwiscben Potsdamer Platz und Anhalter
Bahnhof zu graben, hat ibn intensiv beschaftigt. Jedenfalls arbeitete
seine Phantasie in dieser Gegend zwischen Hallescbem Tor und
Potsdamer Platz. Er kaufte Terrains in der alten Friedrichstadt.
Allmahlich verdichtete sich das Alles zu dem Projekt, eine Strafe
zwischen Friedrichstrafe und Koniggratzer Strafe neu zu bauen.
Dazu mutften eine Menge Hauser vorsicbtig aufgekauft werden,
es muften von der Stadtverordnetenversammlung und vom Magistrat
Konzessionen zum Niederreifen und Aufbau errungen -werden.
Eine langsame, zahe Arbeit, durch die Architekten und die Bau-
vorschriften erschwert, weil die Strafe zu enge, die neuen Hauser
ihnen nicht boch genug scbienen. Markiewicz, der sicb in jede
Materie sachlicb vertiefte , durfte sich riibmen , die Plane der
Hademannstrafe, bauteebnisch zuletzt selbst fertiggestellt zu haben.
Und als endlicb alles klappte und die siebzebn grofen Hauser
dreiviertel f ertig dastanden , da — bracb der Krieg aus. Die
Banken zogen sich von ihm zuriick. Er stand zum zweiten Mai
vor einem Zusammenbruch und er wufte sich auch diesmal zu
retten. Mit seinem unvergleichlicben Scbarfblick sab er die Ent-
wicklung der Kriegsgesellschaften voraus, Er wurstelte iiber das
erste Kriegsjahr binweg, dann stellte er die Hademannstrafe dem
Reich zur Verfiigung. Die Hauser konnten zu Ende gebaut
-werden, die Kriegsgesellschaften einziehen. Markiewicz batte
wieder ruhig schlafen konnen, wenn ibn nicht aogleich ein neues
Unternehmen gefangen genommen batte,
Markiewicz sah im Kriege bald voraus, dal? die Gemeinden
fur ihre auferordentlichen Leistungen (Unterstutzungen und vor
Allem Lebensmittelkaufe) auferordentlicbe Kredite brauchen
-werden. (Er sah voraus — mit diesem Satz konnen und mussen
alle «eine Transaktionen eingeleitet werden). Die erste Gemeinde,
der er Anleihen besorgte, war Spandau. ,Jch legte eine Mark
in daf Geschaft fiir die Reise nach Spandau" scherzte er spater.
34
Allmablich blieb es nicbt bei Spandau, er hat im Oktober 1914
(man beacbte das friibe Datum!) der Stadt Berlin ein Anleiben
von '140 Millionen untergebracht und zu Berlin, Charlottenburg,
Schoneberg kamen bald Hamburg, Bremen, Liibeck, Dortmund,
Elberfeld, Posen, Miincben, Fiirth, Hof und viele andere Stadte.
Er lief? sich von den Kommunen Vollmacbt geben und euchte
dann fur sie Gelder. Das Besondere an seiner Methode war,
dal? diese Anleiben, vom Markt genommen, der Offentlichkeit
entzogen und so der Kredit der Stadte nicht geschadigt wurde.
Dieser Arbeit bat er nacb Kriegsschlutf die Krone aufgesetzt,
indem er das Ausland, im Besonderen Amerika, fur diese Anleiben
zu interessieren ,gewu!?t bat. Er sab voraus, dais wir ein Interesse
daran baben werden, das Ausland am Gesundwerden unserer
Gemeinden zu interessieren.
Dies alles gescbab von seinem Scbreibtiscb aus. Er ist nicbt
viel auf Reisen gewesen. Einmal in Holland. Da wollte er ein
Finanzabkommen schlie#en. Es ist spater vom Reicb, ganz in der
Ricbtung seiner Vorscblage, realisiert worden. Im Allgemeinen
blieb er zu Hause. Die Anderen sollten zu ihm kommen. Und
sie kamen. Selbst die Grotfbanken, die sein Wxrken anfangs mit
Mitfbehagen und einem Gefiihl grotfter Unsicberbeit ansahen, ver-
sohnten sich zuletzt mit seiner durcb ibren Ideenreicbtum unbe-
quemen Personlichkeit.
Es war etwas Faszinierendes in dem rubigen, immer giitigen.
Menscben. Kam er auf die Borse, so war er sofort umlagert.
Alles drangte um ibn und zu ibm. Er war aucb kein vorsicbtiger
Scbweiger. Fast vertrauensselig war er, und aucb erlittener Scbadcn
macbte ibn nicbt wortkarg. „Meinen Kopf bab docb riur ich"
pflegte er lachelnd, obne unangenebmes Selbstbewutftsein, zu sagen.
Er ist sebr reicb geworden. Aber wer seine Arbeit ansiebt, vom
Passagekaufbaus bis zu den Kommunalanleiben, wird erkennen, daf?
ibn rein privatwirtscbaftliche Interessen nicbt anregen konnten
Als kranker Mann bat ibn die Finanzlage des Reicbes beschaftigt
und die Moglicbkeiten, der Situation irgendwie Herr zu werden,
durcbfieberten nocb den Sterbenskranken. Ebe er vom Scblag
getroffen war, versenkte er sicb in ein Projekt, im Zentrum Berlins
Wolkenkratzer zu erbauen. Von anderen, gewaltigen Planen mul?
icb bier scbweigen.
Seine kaufmannische Phantasie rubte nicbt. Seine Nuchtern-
beit korrigierte ibn immer. Sein Sinn fur Sacblicbkeit befahigte
ibn, in bundert Materien einzudringen. Er war im Baugewerbe,
in der Bautecbnik wie im Bankgescbaft zu Hause, er war einer
der vorzuglicbsten Juwelenkenner und wuf?te in den Staatsfinanzen
Bescbeid wie wenige. Jede Welle des oflentlichen Lebens scblug
an sein empfindlicbes Obr.
AVas bat er fur sicb von diesem berzzerstorenden Arbeits~
leben gebabt ? Ein schones Haui, in dem er robotete. Ein itillee
35
Leben mit Frau und Kindern. Er las gem. Las gute Biicher,
wenn er Zeit hatte. Schwelgereien, raffinierte Geniisse, gar Aus~
schweifungen kamen ihm nicht in den Sinn. Seine Arbeit besal? und
frai? ihn. Seine Pbantasie trieb ihn an. Sein wilder Drang, zu
wirken und zu schaffen, bat sein Herz zu frub miide gemacbt.
Man lastert so gern uber Berlin. Nun, dieses Neuberliner Scbicksal
ist nicbt obne edlere Tragik.
A. E. hinrichs " AMERIKA UND DAS
DEUTSCHE EIGENTUM
Dcr Newyorker Rechtsanwalt Hinricha, der die nachfolgenden
Auafutrungen in der amerikanischen ,,Nation" veroffentlicht, gilt in
aeinem Heimatlande als Kapazitat in Fragen internationalen R.echtes.
Eine deutscbe Frau lebrte in Newyorker Scbulen 25 Jabre
lang ibre Mutterspracbe ; sie ersparte sicb dabei einige Tausend
Dollars, die sie in amerikanischen Papieren anlegte und einem
amerikanischen Bankier anvertraute. Kurz vor dem Kriege kehrte
sie in ibre deutscbe Heimat zuriick, um bier ibr Leben in Rube
zu beschlietfen. Als die Kriegsgefabr drobend wurde, geriet sie
wegen ibres amerikanischen Eigentums in Angst und befragte einen
Bankier. Er gab ibr zur Antwort, daf? das Geld in Amerika
sicber sei, sie liel? es also in seiner Hand. Ibre AVertpapiere sind
vom Verwalter feindlichen Eigentums bescblagnabmt und verkauft
worden, der Erlos befindet sich im Staatsschatz der Vereinigten
Staaten.
Der amerikanische Agent eines deutscben Hauses kassierte
40 000 Dollars fur seine Firma ein. Der Krieg war scho'n er-
klart, aber es gab nocb kein Gesetz uber den Handel mit dem
Feind. Auf Anwaltsrat wurde das Geld in Bonds der ersten
Freibeitsanleibe angelegt. Der Anwalt sagte, dal? R.egierungsbonds
nacb internationalem Recht unbedingt verpflichtende Obligationen
seien, im Kriege wie im Frieden, in Feindes*- wie in Freundes~
hand, — obwohl natiirlich Zinszahlungen an den Feind wahrend
des Krieges eingestellt werden wiirden. Auch diese Bonds sind
vom Verwalter feindlichen Eigentums beschlagnahmt worden.
Ein sachsischer Fabrikant hatte Jahre hindurch eine Ver-
kaufsstelle in Amerika, Die amerikanische Filiale trug denselben
Namen wie das deutsche Haus, sie wurde, da das Kapital an einen
Amerikaner uberschrieben war, in das Newyorker Handelsregister
eingetragen. Es war ein kleines Geschaft; zwischen ihm und der
deutscben Regierung oder den deutschen Imperialisten bestanden
keinerlei Verbindungen. Im Jahre 1916, als der Verkehr mit
Deutscbland schwierig und ungewii? wurde, horten die Importe auf
und es wurde kein Geld mehr gesandt. Der Anwalt riet, die
Filiale nicht zu liquidieren, es sei nicbt anzunebmen, da(? die Ver-
36
einigten Staaten, wenn sie in den Krieg eintreten, privates iigen-
turn feindlicher Staatsangeboriger konfiszierten. Dieser Rit, der
alien Gesetzen entspracb, wurde befolgt. Als Amerika den Krieg
erklart batte, war jedem Versucb, sich direkt oder indirekt mit
den deutschen Besitzern in Verbindung zu setzen, ein Ende bereitet.
Es war eine Tatsacbe, und die amerikaniscbe Filiale war bereit,
sie zu beweisen, dai? die Fortdauer ihrer Besitzerschaft als
Treuhander der deutscben Eigentiimer weder der deutschen Re-
gierung niitzen, nocb die Vereinigten Staaten im Kriege scbadigen
wiirde : die Gesellscbaft batte sicb bereitwilligst jeder Bewachung
unterworfen, die die amerikaniscbe Regierung fur notwendig ge-
balten, um sicb dagegen zu sicbern, dai? Verkehr mit dem Feinde
getrieben werde. Aber das Gescbaft wurde bescblagnabmt und
vom Verwalter feindlicben Eigentums als „laufender Betrieb"' zu
billigem Preise yerkauft. Der Erlos befindet sich im Staatsscbatz
der Vereinigten Staaten. Der Kaufer betreibt das Gescbaft unter
dem alten Namen, indem er, wenn es ibm gerade gliickt, ameri-
kaniscbe Fabrikate unter den Fabrikzeicben verkauft, die eine Ga-
rantie fiir deutscben Urspriing und deutscbe Qualitat zu sein
pflegten.
Gaben der Bankier und gaben die Anwalte unbegriindete
Ratscblage? Sie griindeten sicb auf das internationale Recbt.
Wilson und seine Gefolgsleute batten wiederbolt versicbert dai?
kein Streit zwiscben uns und dem deutscben Volke sei; dai? wir
einen Krieg fuhrten, um internationales Recbt und internationale
Gerecbtigkeit zu racben; dal? wir keinen materiellen Vorteil dabei
sucbten. Alle juristiscben Autoren stimmen darin iiberein, da/?
die Scbuldverscbreibungen eines Kriegfiibrenden, die sicb in der
Hand eines Feindes befinden, nicbt anulliert werden diirfen, und
dai?, wie immer aucb die friiheren Gepflogenbeiten gewesen sein
mogen, das private feindlicbe Eigentum in einem kriegfiibrenden
Lande scbon seit langem vor jeder KonHskation sicber ist. Wab-
rend der Kriege des 19. Jabrbunderts bat sicb nur ein einziger Fall
von Konfiskation ereignet. Eine daniscbe Ordre versucbte im
Jabre 1807, Scbulden daniscber Staatsangeboriger an britiscbe Burger
zu konfiszieren. Aber dieser Versucb scblug febl. Nacb dem
Kriege liei? ein englischer Glaubiger seinen daniscben Scbuldner in
England -festnebmen und verklagte ibn vpr Lord Ellenborough.
Der Dane fiihrte zu seiner Verteidigung die Kriegsverbrdnung ins
Treffen. Seine Lordscbaft scbob diese Verteidigung aber beiseite
und erklarte, diese Verordnung sei unvereinbar mit den inter-
nationalen Gepflogenbeiten und binde weder die Parteien, nocb
den Gericbtsbof. Dieser Recbtssprucb ist niemals bestritten worden.
Die Ratscblage, die der amerikaniscbe Bankier und die ameri-»
kaniscben Anwalte ibren Klienten gaben, entspracben dem inter-
nationalen Recbt. Sie waren ein Ausdruck unseres nationalen
Ehrgefuhls und unseres Gefiibls fiir moraliscbe Verpflicbtungen.
37
Wabrend das Gesetz im Kongrei? beraten wurde, versicberten
Sekretar Redfield, Sekretar Lansing, Generalstaatsanwaltsassistent
Warren und der Vorsitzende des Beratungsausscbuss«s, Abgeord-
neter Adamsonn aus Georgia, da(? das Gesetz den Handelsverkebr
mit dem Feinde nur wabrend des Krieges unterbinden wolle ; dal?
nichts, was einer Konfiskation abnlich sebe, Replant sei; und daf?
das Gesetz niemand dauernden Scbaden zufiigen werde. Sekretar
Redfield sagte:
,,Eine Person, die keinen Handel mit dem Feinde treikt, wird
durcli diese Bill nickt kerukrt. Wer immer Handel mit dem
Feinde in solcker Weise ketreikt, dal? den Vereinigten Staaten
erweislickerweise kein Sckaden entstekt, oder dem Feinde erweis-
lickerweise kein Vorteil, wird auck unter diesem Gesetz in der
Lage sein, seinen Betriek fortzusetzen. Die grof?ten Anstrengungen
«ind darauf verwandt worden, die Angelegenkeit so unkesckwerlick
wie nur immer moglick zu gestalten. Die Sckarrung ernes Ver-
waiters fiir das feindlicke Eigentum ist em Novum und kenndet
sick im Einklang mit ehen jener Anstrengung, gereckt zu sein, die
uns auck veranlai?t, dem Volke, mit dem wir unglucklickerweise in
Krieg geraten sind, zu versickern, dai? ganz das Gegenteil einer
IConfiskation und ganz das Gegenteil einer Requisition
kier unternommen wird . . . Ick weu? nickt, wer die Idee
aurgekrackt kat, aker wer es auck immer war, er kat etwas in
seiner ^Virkung ekenso Grol?artiges erdackt, wie die Zuriickerstattung
der Boxer-Kriegsentsckadigung gewesen ist ; denn das feindlicke
Eigentum ist so vollig in unserer Hand, dal? es seinen Teil an den
Kosten d es Kampf es sekr wokl tragen konnte ; und trotzdem ist es
aksolut sicker gestellt, sodal? es, wenn der Kongrei? dementspreckend
kescklietft, unter geeigneten Bedingungen, intakt und wakrend der
ganzen Kriegsperiode durck uns selkst| gesckutzt, [zuriickerstattet
werden kann."
Darnach waren Filialen von Gescbaftenjin feindlicbem^Besitz,
die bier Handel trieben, zu konzessionieren ; alle Gescbafte, die
Deutscbland in seiner Kriegfiibrung nicbt]* balfenjlund dieluns in
unserer Kriegfiibrung nicbt scbadigten, waren a ungescboren zu
lassen ; amerikaniscbe Gesellscbaften, die sonet gesetzlicbe Gescbafte
betrieben, durften wegen deutscber Kapitalbeteiligung nicbt belastigt
werden, obwobl natiirlicb wabrend des Krieges keine Dividenden
an den Feind ausgezablt werden durften. Kurz, es gab gewisse
Eigentumsarten, die wir, um etwaiger Hilfeleistung an* den Feind
vorzubeugen, sequestrieren durften; nacb dem Kriege aber mu!?ten
-wir alles zuriickerstatten, und wir verspracben aucb ausdriicklicb,
das zu tun.
Das Gesetz, — so, wie es durcbging, — war vollstandig ver~
einbar mit den edelimitigen Bekenntnissen der Beborden. Es gab
dem Kriegsbandelsamt die Gewalt zu untersucben, zu iiberwacben,
zu lizenzieren oder zu sequestrieren. Es bestimmte, dal?, wenn
38
keine anderslautende Lizenz erteilt werde, daa feindliche Eigentum
dcm Verwalter ausgeliefert werden musse. Diesem Verwalter
waren die iiblichen Recbte eines gesetzlicben Treuhandera verlieben,
nicbt aber das Recbt, das Eigentum zu verkauf en, — ea sei denn,
dal?, wenn es Verderb verbindert, das Eigentum selbst also geachtttzt
werden mui?te.
Die sofortige Folge des Inkrafttretens der Bill war, datf ihre
Bedingungen prompt durcbgefiibrt wurden, — durcbgefiibrt von
alien Personen und Korporationen, die feindlicbes Eigentum in
Handen bielten oder die ein Gescbaft betrieben, das feindlicben
Auslandern ganz oder vorwiegend geborte. Zum mindesten von
solcben Personen und Korporationen, die boffen durften, cine Lizenz
zu erbalten, und das waren eben solcbe Konzerne, die den Krieg
der deutscben Regierung in keiner Weise unterstiitzten, die unserer
Regierung vielmebr beweisen konnten, dai? der Fortbestand des
feindlicben Eigentums oder der Fortbestand des in feindlichem
Besitz befindlicben Gescbaftes weder die Vereinigten Staaten
scbadigen nocb dem Feind niitzen wurde. Aber man mui? nur
den Bericbt des Verwalters feindlicben Eigentums anseben, um
festzustellen, dal? in jedem einzelnen Falle, der dem Kriegsbandels-
amt oder dem Verwalter zu Obren kam, die Lizenz verweigert
und die Auslieferung des Eigentums gefordert wurde. Tatsacblicb
wurde keine andere Untersucbung angestellt als die, ob eine feind-
liche Eigentiimerschaft vorliege. Wenn das Kapital einer Gesell-
scbaft in deutscbem Besitz war, so war keine andere Tatsacbe
mebr von Bedeutung: das Kapital mutfte dem Verwalter ausgeliefert
werden. Wenn ein Gescbaft einen deutscben Partner batte, so
war keine andere Tatsacbe mebr von Bedeutung : die Firma mui?te
liquidiert werden. Es wurden keine Grunde fiir die Verweige-
rung der Lizenz angegeben.
Das Kriegsbandelsamt und der Verwalter batte» sicb eine
eigene Tbeorie zurecbt gemacbt, auf Grund deren sie bandelten.
Diese Tbeorie war, dal? wir einen Wirtscbaftskrieg fiibrten, dal?
feindlicbes Eigentum darum konfisziert werden mtii?te und dal?
feindlicbe Gescbafte in amerikaniscbe Gescbafte umzuwandeln seien.
Hier aber waren die Befugnisse dee Verwalters mit seinen
Wunscben nicbt im Einklang; denn er batte kein Recbt, feind-
licbes Eigentum zu verkaufen, es sei denn, „um Verderb zu ver-
hindern oder das Eigentum selbst zu scbiitzen." Erst am 28. Marz 1918
gestaltete der Kongref?, auf eine Anregung des Verwalters bin,
das Gesetz so um, dal? der Verwalter allgemein die Befugnis erbielt,
alles Eigentum, dal? ibm gemeldet und ausgeliefert worden war,
aucb zu verkaufen. Der Verwalter begann dann eine Vcrkauf s~
kampagne, die aucb nacb dem W^affenstillstand unverandert fort-
dauerte und die, seinem Bericbt vom Februar 1919 zufolge, auf
unbestimmte Zeit binaus weiter betrieben werden soil. Nocb in
diesem Sommer erscbienen Verkaufsanzeigen, in den Newyorker
Zeitungen.
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So stehen die Dinge, wabrend ich dies scbreibe. Die Beborden
sagten, es soil kcine Konfiskation vorgenommen werden ; aber
jeder Fall erzwungenen Verkaufes von Eigentum ist tatsacblicb
cine Konfiskation. Der forzierte Verkauf eines laufenden Gescbaftes,
selbst wenn er zu anstandigem Preise gescbiebt, bedeutet die
Konfiskation all der unsichtbaren aber dennocb bedeutungsvollen
AA^erte, die man als „Vertrauen" als „good wiH" bezeiebnet, sie
scbafft den Unterscbied zwiscben dem AVert eines laufenden und
eines in Liquidation befindlicben Konzernes. Jeder forzierte Ver-
kauf bedeutet ferner Konfiskation in der Hinsicbt, daJ? er die
Neuerricbtung des alten Gescbaftes durcb seinen friiberen Eigen-
turner unmoglicb oder aul?erordentlicb sebwer macbt und dadurch
kiinftige Profite unterbindet.
Dem amerikaniscben Volk war versprocben worden, dai? es
keine Konfiskation geben werde ; trotzdem aber ist die Konfis-
kation vorgenommen worden. Der Verwalter gibt das in seinem
Bericht zu, aber er versucht seine Politik zu recbtf ertigen ;
1) sie sei eine Vergeltung fur die deutscben Verkauf e amerika-
niscben Eigentums ;
2) die feindlicben Gescbafte in den Vereinigten Staaten batten
die feindlicbe Propaganda finanziert ;
3) es sei fiir das amerikaniscbe Gescbaftsleben von Vorteil
gewesen, die Deutscben, durch den Verkauf ibrer Gescbafte
an interessierte amerikaniscbe Burger, von unseren Markten
zu vertreiben.
Der erste Grund scbeint sicb jetzt als irrig zu erweisen.
Deutscbland sequestrierte amerikaniscbes Eigentum, liquidierte oder
konfiszierte es aber nicbt. Der zweite Grund mag bis zu einem
gewissem Grade zutreffen. Aber dasselbe bat sicb aucb in
anderen Kriegen ereignet und trotzdem bat die Welt sicb zu der
Doktrin bekannt, dai? ein Krieg nicbt als Vorwand fiir die Konfis-
kation privaten Eigentums dienen diirfe. Uberdies, ob der Ver-
walter ein Gescbaft deutscben Eigentums verkauf te, bing durcbaus
nicbt davon ab, ob dies Gescbaft dem Feind Hilfe leistete. Das
Gesetz, so wie es urspriinglicb gestaltet war, wollte alle derartigen
Falle durcb ein System von Lizenzen kontrollieren. Was tatsacb-
licb erfolgte, war, dal? iiberbaupt keine Lizenz zum Fortbetrieb
feindeigentiimlicber Konzeasionen erteilt wurde; alles private Eigen-
tum, daf? dem Verwalter bekannt wurde, bescblagnabmte und
verkauf te er,
Der dritte Grund allerdings, der mag fiir diejenigen Amerikaner,
die dadurcb gewonnen baben, sebr iiberzeugend sein. Zweifellos
war es von grotfem Nutzen fiir gewisse amerikaniscbe Gescbafts-
leute, zu billigen Preisen die Aktiva, das Vertrauen und die zu-
kiinftigen Profite deutscber Konzerne verspeist zu baben. Ein
Wertobjekt umsonst zu erbalten, wird wobl immer als gutes Ge-
scbaft betracbtet werden miissen!
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Aber die frage tleibt offen: Was soil mit den im Staats-
scbatz der Vereinigten Staaten befindlichen Erlosen gescheben,
die aus den Verkaufen feindlicben Eigentums und aus dem Inkasso
der Autfenstande feindlicher Staatsangeboriger sich ergeben haben?
Insoweit die Konfiskation bereits gescbeben ist, kann wahrschein-
lich keine Anderung mebr erfolgen. Selbst wenn es wiinschens-*
wert ware, so ware die Riickwandlung der zabllosen Eigentunw*-
veranderungen, die gescheben sind, scbwerlicb durcbfubrbar. Das
Gesetz sagt, daf? diese Erlose nacb dem Krieg so behandelt werden
sollen, wie der Kongrel? es bescblietfen wird. Aber der Vertrag
von Versailles beatimmt, da(? weder die deutscbe Regierung, noch
ein deutscber Burger jemals irgend eine Matfnahme der Vereinigten
Staaten binsicbtlicb des feindlicben Eigentums anfecbten darf.
Dieses Eigentum oder die Erlose daraus sollen als Ausgleicb fur
amerikaniscbe Forderungen gegen die deutscbe Regierung oder
gegen deutscbe Burger, verwandt werden und die deutsche
Regierung ubernimmt es, ibre Staatsangehorigen fur den Verkauf
oder fur die Zuriickbaltung ibres Eigentums in alliierten oder
assoziierten Staaten zu entschadigen. Wird, wenn der Vertrag
jemals von uns ratifiziert werden wird, diese letztere KlaUsel den
Deutscben, die ibr amerikaniscbes Eigentum verloren baben, die
einzige Cbance bieten, es wieder zu gewinnen?
Es bestebt in dem Vertrag gewii? eine baarspalteriscbe Mog-
licbkeit, aucb die Verkaufs-Erlose deutscben Eigentums in den
Vereinigten Staaten einzubebalten und sie zur Befriedigung von
Forderungen amerikanischer Personen gegen die deutscbe Regie-
rung oder gegen deutscbe Burger zu verwenden, indem man den
letzteren iiberlaft, sicb bei Ibrer Regierung selbst um die Riick-
erstattung zu bekummern. Aber diese Auslegung, meine icb, ist
ungerecbt und darum unamerikanisch. Es ist ungerecbt, das Eigen-
tum, von A. zur Bezablung einer Scbuld an B. zu benutzen.
Wir baben die deutscbe Konkurrenz in diesem Lande er~
drosselt wir baben es den Deutscben sebr scbwer gemacbt, sich
bier wieder zu etablieren. Ob der vermeintlicbe Profit fur das
amerikaniscbe Gescbaftsleben von Dauer sein wird, das muf? sicb
erst nocb erweisen, wenn in irgend einem spateren Krieg das
amerikaniscbe Beispiel gegen amerikaniscbe Griindungen in fremden
Landern zitiert werden wird. Was binsicbtlicb der Verkauf e
des Verwalters scbon getan ist, ist getan und kann nicbt mebr
geandert werden. Aber wir baben nocb nicbt unwiderruflicb
die Hunderte Millionen von Dollars konfisziert, die als Erlos der
Verkaufe eingingen und die vom Verwalter feindlicben Eigentums
dem Staatsscbatz der Vereinigten Staaten zugefiibrt worden sind,
Es bandelt sicb um eine grof?e Summe, aber — in Anbetracbt der
beutigen internationalen Finanzverhaltnisse, — um keine erdriickende.
Wir konnten es uns leisten, sie zuriickzuerstatten. Konnen wir
ef una leisten, sie zu bebalten?
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* * *. PRAG UND PARIS
Zu dem Aufsatz „Ruf nach Prag" (Heft Nr. 49 des „TagetucK")
erhalte ich folgende bemerkenswerte Betrachtungen uber die Handels-
politik der Keutigen Prager Herren.
Der Han dels vertrag mit Frankreich verursacht dem Hand els-
minister Hot owe tz viel Kopfzerbrechen. Andere, viel wichtigere
Handelsvertrage miissen warten, urn dem franzosischen Platz zu
machen, und doch ist das Schicksal des franzosischen Abkommens
im Parlamente unsicher. W^hrscheinlich wird Hotowetz keine
Mehrbeit fiir das Abkommen mit Frankreich finden. Aus sach-
lichen und personlichen Griinden. Die Unbeliebtheit des Handels-
ministers wachst taglich. Die ungliickliche Zuckeraffare, bei der
es sich urn Milliarden des Nationalvermogens handelt, ist lange
noch nicht ausgetragen, die Mil?griffe bei der Regelung des Hopfen-,
Holz~, Kaffee- und Baumwollhandels, die in Ziffern ausgedriickt
Hunderte von Millionen Kronen Schaden fiir die tschechische
Volkswirtschaft bedeuten, der vollige Mitferfolg bei der Grgani*-
sierung des Autfenhandelsamtes, das schlechter als je fungiert und
zur Anhaufung von heftigen Beschwerden in alien Lagern Anlaf?
gibt, das Alles diirfte das Parlament gerade gegeniiber dem Minister
Hotowetz kaum gefiigiger gestalten. Der sachliche Inhalt des fran-
zosischen Abkommens ist dazu noch weniger angetan. Die Ga~
rantie der freien Einfuhr einer Unmenge von Luxusgegenstanden
in einer Zeit, in der die Einfuhr von Luxusgegenstanden streng
kontrolliert wird, wird kaum Anklang finden, auch dann nicht,
wenn man das Abgeordnetenhaus damit trosten wird, daf? dies
einen Weg zum freien Au&nhandel bedeutet; denn niemand wird
begreifen konnen, warum gerade dieser Weg betreten werden
mul?te. Es gab andere einfachere und weniger gefahrlichere.
Champagner, Wein, Parfiims, Seifsn, Seidenwaren und eine Reihe
andsrer Luxusartikel diirfen aus Irankrcich frei herein, wahrend
andere wesentlich billigere Bezugsquellen des Auslandes verschlossen
blefben. Was sagt wohl der streng z Dr. Rasin, Prediger einfacher
Lebensart, dazu, dal? man jetzt hohe Einfuhrkontingente von W^aren,
dit keineswegs zum Lcbensunterhalt notwendig sind, einfuhren
-wird, und zwar gegen Edelvaluta, oder tschechoslovakische Kronen,
die in das Ausland wandern werden! Sehr hart wird die metall-
verarbeitende Industrie; insbesondere die Automobilindustrie, durch
die hohen, zur freien Einfuhr bewilligten Kontingente betroffen.
Die Arbeiter und die Unternehmer erhoben einen heftigen und
berechtigten t Protest. Es ist noch in frischer Erinnerung, wie
Minister Hotowetz dem von General-Sekretar Dr. Samek diri-
gierten Ansturm in dem wichtigsten Punkte nachgeben mufc.
Der Not gehorchend, nicht dem eignen Trieb, liel? er den Entwurf
eines Genfers anfertigen und dem Parlament vorlegen, laut welchem
auf die Einfuhr von Automobilen em W^ertzoll von 45 Prozent
42
eingefiibrt wird, ohne Rucksicht darauf, daK damit das ganze
jetzige Zollsystem, welches Zolle ad valorem nicht kennt, umgestiirzt
wird. Damit wurde der erste Ansturm hintangehalten. Die Sache
hat jedoch einen sehr pikanten Beigeschmack. Die Franzosen
warden diesen Seitenhieb vermutlich nicht so leicht hinnehmen,
Es ware ja gar zu schon und auch gar zu leicht, im Handelsver~
trage grof?e Konzessionen zu gswahren, urn sie dann durch ander-
weitige Verfiigungen wieder wettzumachen. Die Franzosen mogen
in der Politik manchmal naiv sein, in wichtigen wirtschaftlichen
Dingen darf ein serioser Unterhandlsr mit ihrer Naivitat nicht
rechnen. Er muf? darauf gefaft sein, daf? eine loyale Handhabung
des ahgeschlossenen Vertrages verlangt werden wird, besonders
wenn Interessen einer verbundeten Grol?macht im Spiele stehen.
Ein Exportland im Herzen Europas erheischt eine besonders vor-
sichtige, allseitig freundliche Politik. Trotzdem hat man die Nach-
barn unter der Aera Hotowetz oft hart briiskiert. Will man
vielleicht die Briiskisrung zum Dogma des tschechoslowakischen
Staates erheben? Die unerschutterliche Uberzeugung des Dr. Hoto~
wetz von seiner Gottesahnlichkeit, die bestandigste, die er je gehabt
hat, hat ihn in arge Klemme getrieben : Entweder den franzbsischen
Kompafiszenten zu briiskieren, oder der einheimischen Aiitomobil-
industrie einen schweren Schlag zu versetzen.
rudolf von delius DAS ENDE DER MATERIE
Die gro#e Alchymistenfrage nach dem einheitlichen UrstofT
der Welt ist nun gelost. Man hat das Atom erforscht. Es ist
ein kleines kreisendes System in sich: um einen Wasserstoffkern
drehen sich auf festen Bahnen die Elektronen. Und die Zusammen-
setzung der Kern-Sonnenmasse ist harmonisch mit der Planetenzahl.
ElektrischeSpannung halt diese winzige leichte Zierlichkeit schwebend
fest. Ordnurig, Klarheit, Leichtigkeit !
Also : die Materie besteht aus lauter elektrischen Spannungs-
welten. Die Materie ist selber durch und durch bewegende Kraft.
Damit ist das, was wir bisher unter Materie verstanden (etwas
Totes, Stumpfes, Hartes), erledigt. Der Urgrund der Dinge ist
beherrschte, um eine Mitte kreisende Bewegung.
'Wir fiihlen es : hier ist die Vorstufe des Lebens. Und eine
gro#e neue Erkenntnis geht auf: das Leben ist kein Gegensatz mehr
zur Materie, das Leben ist nur gesteigerte Materie. Was kommt
hinzu? Leben ist ebenfalls kraftgespanntes Kreisen um einen MitteL-
punkt, stromendes Festhalten einer Einheit. Hinzutritt nur noch:
ein W^ille, ein Entscheidenkonnen, ein Urteilen : ein Ich.
Das Leben wahlt aus. Jbs nimmt, was es braucht und stoI?t
ab, was es nicht braucht. Es zieht in sich hinein und verwandelt
in sich. Gewif? benutzt jedes Organische die Gesetze der Physik
und Chemie, aber als dienende Knechte zu personlichen Bediirf-
43
nissen und Zwecken. Es ist im Lebendigen der gleicbe Robrenbau
wie in einer tecbniscben Anlage. Aber wer reguliert bier die
Habne, wer offnet und scblietft ganz nacb bewutfter Absicbt?
Das Personlicbe des Lebens bleibt das grotfe Gebeimnis.
Aber das Eine ist erreicbt; das Leben erscbeint nicbt mebr
als Fremdling dem Stoff gegeniiber, der Herr ist nicbt mebr aus
ganzlicb anderem Blute wie der Diener. Wieviele Pbilosopben
baben sicb daran miide gedacbt: bier die tote Materie und dort
der leicbte Geist; wie konnen die beiden in Einem sein. Jetzt
wissen wir: es gibt nicbts Totes. Das Materielle lost sicb axxi in
beiteres Spiel. Lieblicbste, tiefste Entdeckung!
Und denken wir einmal weiter: das Letzte mul? zum Ersten
zuruckkebren (wie so oft), der Urgrund ist scbon Symbol des
Gipfels: der freiste Menscbengeist wird wieder wie das Atom
sein: kreisend um die eigene Mitte in klarer Babn, kraftgespannt
und leicbt. Elektrizitat wurde zu Seelenkraft ; die Elektronen-
ordnung zu Sittlicbkeit, der Wasserstoff kern ist unser bliibendes Icb.
Die Priesterverleumdung der Sinne wird nun nocb toricbter,
denn die tiefste luckenlose Einbeit ist erwiesen: die elektriscbe
Kraft des Atoms entfaltet sicb nur. Das Leben bei seinem Hober-
gang verwendet immer klug das Vorbandene zum' Weiterbau, Ist
die erotiscbe Spannung zwiscben Mann und Weib nicbt die alte
Materienspannung von Positiv und Negativ ? Und das Funken-
spruben der Liebe der gleicbe Vorgang wie jede elektriscbe
Spannungslosung ? So wird das Gewitter zum pracbtvoll scbonen
Abbild aller Menscbengefuble. Die elektriscben Spannungsgesetze
sind die tiefsten Urgesetze der "Welt.
Einbeit, Sicberbeit und Ordnung, soweit die Erkenntnis reicbt !
Wir alle sind durcb und' durcb erdbaft. Granit und Kris tall
und Blume und Tier : eine Kette bewegter kreisender Spannungen.
Der Fortscbritt ist nur der: das Freibeitsgefubl wird immer be-
wuf?ter, der Mittelpunkt berrscbt immer souveraner. Bis scbliei?~
licb der Menscb das Ganze ubersiebt, die Zusammenbange erkennt,
das grandiose Schauspiel genie#t.
Aber das briiderlicbe Gefiibl bleibt : aucb in mir sind Millionen
zarter Materie-Atome, genau wie in Fels und Acker dort, aucb in
mir ist Kristall mit seiner elektriscben Zitterung , aucb in mir
kreisender Blumensaft, aucb in mir der Herzscblag eines Tieres.
Das ist mein Leben als Korpermenscb. Aber dann kommt die Tat
des Geistes : die Entf esselung und Losreitfurig und damit die
Fahigkeit, eine zweite neue Welt im Seelenatber scbweben zu lassen.
Kunstwerke entsteben. Aber aucb sie bauen sicb nacb den
alten Gesetzen : es ist wieder in jedem Gedicbt, in jeder Statue,
in jedem Bild eine Mitte, um die alles kreist, eine Gefublsspannung,
die das Ganze zur Einbeit ordnet. Es ist aucb bier das gleicbe
Pulsieren wie im elektriscben Atom.
Den lange gesucbten Zauberscblussel b alten wir in clcr Hand.
44
hansgragOn SPORT-EXH1BITIONISMUS
Man kann alles mogkcke als Sport betreiben, Radrennen, Tennis-
spielen, das Ausspucken. In italieniscken Cabarets -ward das Maccarom—
essen sportlick vorgefukrt, eine m den keutigen Zeiten sicker reckt an-
genekme Besckaftigung. In klemen Dorrern pflegen die Knaken einen
Wettbewerb um den kocksten Bogen sogar anzutreten, wenn sie — ,
em ubngens reicbkcb exkibitiomstiscker Sport ! Daraur aber zxele icn
mckt ab. Ick will mcbt ausfiikren, dai? man den Exkibitionismus sport-
lick betreiben kann, was nacb den aur den Bummelstral?en unserer Groi?-
stadte zu macbenden Beobacbtungen zweifellos moglick ist, sondern ea
kommt mir vielmebr daraur an zu zeigen, wieviel exkibitiomstiscbe Mo-
mente m den keutigen Formen des Leikessp'orts stecken, wie in der
Maske des Sporttreibens tiefer liegende, mancbmal auck erotisck betonte
Triebe zum Durcbbrucb kommen, obne die die ganze Sacke wakrsckein-
lien dem Tuenden wie dem Scbauenden weit weniger Spai? macbte.
In den Kreisen gro#stadtiscker Staatsanwalte und Psycbopaten be-
zeicbnet man als Exbibitiomsmus die Neigung, in den Gescklecktszonen
liegende Korperteile vor Zuscbauern zu entblotfen und damit^offentlickes
Aufseken zu erregen. Amtlicbe Personen pflegen daran Argernis zu
nekmen, andere erst, wenn sie sicb genugend satt geseben baben. Icb
habe mcbt die Absicbt, den Begriff so eng zu fassen, weil der Trieb
in \Virklicbkeit viel weiter wirkt. Man mul? als Exkibitionismus jede
Neigung bezeicknen, etwas von sick zur Scbau zu stellen, -was nack dem
All tags gebrauck mckt zur Sckau gestellt werden kann.
Es gibt also selbstverstandlick einen geistigen Exkibitionismus, ge~
nannt: der I neb zur Selbstdarstellung. Dieser bewegt sick in geistigen
Mitteln. Die Heilsarmee mit lkren offentlicben Beickten ist eine Bc-
fnedigungsanstalt fur solcke Neigungen. Der Sport ist dafur weniger
geeignet, dock spielen gedanklicke Vorbereitungen des korperlicben Ex-
kibitionismus: ,,Ick will lknen sckon zeigen, was ick fur ein K.erl bin!"
in mm auck eine Rolle. Sie smd eine Folge des ^Vunscbes, den korper-
keben Trieb lrgendwie zu rattonalisieren und dem Bewu#tsein „verstand-
lick" zu macken.
In der Hauptsacke aber kandelt es sick keim Sport um korperlicken
Exkibitionismus, d. b. den Trieb, vom Korper mebr zur Scbau zu stellen
als Alltagssitte ist. Das „zur Sckau" ist nickt so aufzufassen, als ob
immer unbeteiligte Zuscbauer vorkanden sein mu#ten, um den Tatbestand
des Exbibitiomsmus zu vervollstandigen. Es genugt vielmebr dazu im Be-
wutftsein des zur Sckau stellenden das prickelnde Gefubl, das die Ent-
blotfung begleitet. Ein abgebrukter Boxkampfer brauckt dazu die 2000
Augen, die ein moderner Circus fatft, der Gymnasiast ist sckon von den
kalben Blicken seiner Mitsckuler und -spieler befriedigt, dem einsam im
Walde badenden Wandervogel genugt der liebe Gott oder der Blick
der Sonne durebs grune Laub, Narkissos scbliefllicb versorgte sick auck
in dieser Beziekung selbst. Sje'n Typ ist nicbt selten. \Vicktig dabei
ist die Feststellung der Erfakrungstatsacke, dai? der Reiz bei der Ent-
kleidung im Augenblick der Entkullung am starksten auftritt.
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Die Sportskleidung kommt diesem Bedurfnis lm weitesten Mai?<
entgegen. Es ware lackerlick, kekaupten zu wolleri: aus Zwcrkmai/ig-
keitsgrunden. Als ok jemals in der \Velt lrgend etwas der Nutzlick—
keit weigen gesckake. Die Welt regelt lkre Sitten nack dem Grundsatz :
,,Erlaubt ist, was gefallt!" und die Nutzlickkeit des Angenekmen wird
immer erst nack dem Einfall kewiesen, um inn zu rattonausieren. \Veil
man sick zeigen und etwas seken will, darum smd die Sportkoscken
so kurz, darum die Hemden so eng anliegend, darum laKt man die Arme
und Beine frei, so weit als nur irgend mogkck.
Sckwimmer tragen nock weniger, daker auck der Andrang zu diesem
Sportsz.weig. Man gene auf unsere grol?en Sportplatze und seke sick an,
wo die meisten Leute zu finden sind, Tuende wie Sckauende. Gewokn-
lick am Sckwimmkad. Dort aker wird der Exkikitionismus auck mit
aller Verfeinerung gepflegt. Der Sckwimmer, der aus den Ankleide-
raumen in Sckwimmkose und Bademantel tritt, sorgt dafur, dai? der
Mantel sick gelegentlick spaltet, damit He wartende Menge die fur
Wassersp ortler kezeicknenden weicken Formen^kurz und akscknxttweise
erkascken. Gewoknlick gesckiekt das okne Ukerlegung ganz selkst-
verstandlick. Dann wird er womoglick offentlick massiert. Der Masseur,
wenn er eckt ist, kat seine wakre Freude daran, den nackten Korper
vor den Augen der dieser Prozedur nock wartenden Sportsleute und den
kockst angeregten Bkcken der Zusckauer so ricktig durckzukneten. Der
exkioitionistisck— sadistiscke Emscklag wird nickt immer okne werteres zu
erkennen sem, vom BewuKtsein totsicker akgeleknt werden, weil die
\Vorte (nickt die Begriffe und nock weniger die Xrieke) durck die
Polizei in Verruf gekommen smd/ ist deswegen aker fur den Psyckologen
dock deutlick vorkanden. Der also Geknetete gekt dann wieder lm
Mantel an der Trikune voriiker. Sollte sicl} das Sprungkrett ungesckickter
Weise in seiner Nake kefmden, nun so wandelt er eken „zur Akkuklung
dort und zeigt mindestens Beine und Nacken. Dann kesteigt er das
Brett, zogert, laj?t die Spannung wacksen, kis sie lkm genugend sckemt,
dann fallt der Mantel. Die Trikune unterdruckt nur kalk em ^Ak!"
Da die Manner, die auf den Sportplatzen zu seken smd, an guter
Bauart die Lekejunglinge der Grol?stadt, die von den dort zusckauenden
Ladenmadcken sonst am Sonnakend Akend nackt geseken werden, um
das zekn~ kis zwanzigfacke ukertreffen, so wollen wir das „Ak" der
Trikune durckaus nickt ukelnekmen, nur als Exkikitionismus festnageln.
Aker nickt etwa klol? kei den Zusckauern. Nein, auck der Mutige,
der sick vom 10 m-Brett in die Tiefe kugelt, iuklt nut GenuJ? die
Augen der Gaffer auf seiner Haut. Seine Miene strafft sick, die Be-
wegungen werden sckneidig und er empfindet mit einem Hockgefukl, dai?
er das Gesundkeitsideal verstaukter Sckeidermnenkerzen und gescnleckts—
kranker Studenten wird. Sckauspielererfolg, Exkikitionismus !
Sollte sick auf dem Sportplatz kem Sckwimmkassin kefinden, so
kitte lck mir zum „Ziel k zu folgen, wo die Radfakrer, Lauier und
Springer ankommen. Man kilde sick dock nickt em, daf? die Sportsleute
und Zusckauer so kesonders dickt der Leistung wegen dort steken. Das
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ist nur der Grund, den sie sick selkst vormacken. Auck gewettet -ward
dort namlick nock wenig, das ist erst der Entwicklung der nacksten zwei
Jakre vorkekalten. In "Wirklickkeit gikt es da cken etwas zu seken.
Da latft sick der von 400m~Lauf Ersckopfte von dem durcknabten DreLf
kefreien. Er weii? ja, dai? kier am Ziel nun emige Hundert bis tausend
Augen seine sckweitffeuckte Haut ketasten werden. Weick rieselt das
Mitleid der Frauenkerzen auf seine sckonen Okersckenkel kerak. Das
tut ikm orfensicktlick gut, sckmeckt kesser als eine Zigarette. Da steigt
der Sieger im 15 OOOm-Radrennen sckwerfallig ak und wird von semem
Sportsfreund mit Handtuckern gerieken. Alles Notwendigkeiten, zu-
gegeken, aker sie gesckeken im Bewu#tsem des Gesekenwerdens. Aui
der gekraunten Haut prickeln tausend Blicke, und das Herz )agt
das Blut durck die Glieder: „Seid rosig und f risen, man siekt euck!
Die Augen wandern die Trikune entlang und fragen, ok auck die Aut-
merksamkeit kergericktet ist auf die Brust, die nock von eilenden Atem-
ziigen emporgestoi?en -wird. A^Vieviel splcker Blicke kann man an emem
einzigen Nackmittage auffangen, die nack Bewunderung sckreien.
Lassen wir den Circussport kei Seite. Wenn sick Boxer dort
fur Geld die Augen ausscklagen, so sind nur die Zusckauer als sadistiscke
Exkikitionisten medrigster Gesmnung zu ketrackten.
Aker widmen wir uns den Vorgangen in den Brause- und An-
kleideraumen. Da feiert der Exkikitionismus in aller Selkstverstandlick-
keit seine Backanalien. Wer wei#, ok die jungen Sportzoglmge sonst
iikerkaupt unter diie kalte Duscke zu treiken waren. So aker wirkt die
Lust zu zeigen und zu seken, wenn der letzte Fetzen luch iallt. Die
Augen werden klank, Aic der Woklgeformtkeit. der feuckt glanzenden
Lenden und W^aden und der sckemkar kukl keokacktenden Bkcke der
Kameraden gewakr werden, deren msgekeime Bewunderung stillsckwei—
gend empfunden oder dock vorausgesetzt wirdl UnkewuKte Jbxkibitio—
nisten, selten wokl auck manckmal kewuKte mit erotiscker Betonung !
^Velcke Fiille der Szenen ersckeint in der Pkantasie des Eriakrenen
nock unter diesem Gesicktswmkel! Da smd die Ringkampie, denen ge—
woknlick eine Entkleidungsszene vorausgekt. „Rmgen muls man nackt,
da gekt es kesser", sagen sie. Die Ringkampie sind darum sekr keliebt
an den mternen Trammgstagen, wo die Bewuistsemssteigerung durck un-
keteiligte Zusckauer reklt. Da sind ferner die Massagen, die gegenseitig
oder vom Masseur vorgenommen werden, ^mekt zu vergessen der ganz
gewoknkeke ICleiderwecksel kei ]edem Ukungskegmn. Das alles smd
ekensoviele Mogkckkeiten, wo der Wunsck, zur Sckau zu stellen, em—
setzen kann und auck tatsackkek keiriedigt wird. bonst trieke nock
weniger als 2°/0 unseres 60Millionenvolkes Leikesukungen. •
Nack allem Gesagten kann nickt zweiielkait scm, dab der Exki-
kitionismus im Sport auitntt. Auck die krimmalistisck gerugten Falle
kommen dem Augensckein nack vor, werden aker nack Aksickt una
Milieu anders gewertet, was reckt kezeicknend Kir die Relativitat der
Sitten- und Recktsansckauungen ist. Ricktige Okscomtaten sind aulserst
selten und iommen kei geregelten V eranstaltungen wokl ukerkaupt nickt
47
vor, denn gelegentlick untcr der Marke Sport reisende Herrenatende
dart man clem wirkkcken Sport nickt zurecknen. Das ist fur die
Wertung des Triekes im Hinklick auf den Sport aul?erst wicktig.
Denn diese Auslassungen smd ja keineswegs gesckrieken, um je~
mandem den Sport zu vergrauen. Im Gegenteil ! Icli tin von dem
koken \Vert der Leikesiitungen fur die Volksgesundlieit so iikerzeugt,
dai? es mir verkreckensck sckiene, ikre freie Entwicklung irgendwie zu
kindern, Ick kalte den Triek der Selkstdarstellung auck durckaus nickt
von vornkerein fur verkreckerisck, krankkaft oder sckadlick. Genau so,
wie es bei dem, was ick geistigen Exkifcitionismus nannte, kei der Beickte,
eine gesunde Seite gikt, so auck keim korperlicken Exkikitionismus. Be-
deutet die Beickte erne Erleickterung des kedrangten Herzens, so kann
das Afcwerfen der Alltags- und Berufskleidung eine Erleickterung des
Korpers sein, dessen Stoffweckselprozel? in freier Lickt und Luft er~
leicktert und kesckleunigt wird. Dadurck entstekt im Bewui?tsein das
Gerukl des Hinter-sick lassens des Arkeitsstaukes, eines korperlicken Festes.
Das macktige Ansckwellen der Sportkewegung im deutscken Volke
ist sickerlick nickt zuletzt auf den exkikitionistiscken Triek zuruckzufiikren,
den keute so ukeraus kedrangten und kesorgten Alltagsmenscken zugleick
mit dem klauen Arkeitskittel akzuwerfen und in Sonne Lickt und Luft
nur Korper und klutdurckpulste Haut zu sein. Den Sportkameraden
beweisen, da# man korperlick sckon ist, durck sie es sick selkst keweisen,
ist letztes Ziel dieses Exkikitionismus. \Ver mit mir an die Mackt des
Korpers glaukt, wcr erfakren kat, wie sekr Skelett und Haut Symkol
des Geistigen smd, wird zugeken, dai? diese Form des Exkikitionismus
ein Ziel aufs innigste zu wiinscken ist.
Darum kake ick mir die Muke genommen, meine Leser kis kierker
zu fukren. Unkewul?t kerrsckt neken anderen Trieken, z. B. der Muskel-
freude, der Exkikitionismus im keutigen Sport. Gerade aker weil er sick
unkewutft auslekt, tritt er auck in Formen auf, die unkultivierkar sind
und Matzcken kleiken. Sie zu vermeiden klare man nickt die Knaken
auf ! Das ware zwecklos und gefakrlick. Die Aufsicktkakenden, die
Sportleiter und Jugendfiikrer sind dazu da, die Auswuckse, das Sckau-
spielertum zu unterdrucken.
Die Formen aes Exkikitionismus unter den Sporttreikenden selkst
okne unketeiKgte Zusckauer sind ziemlick ungefakrlick und vielmekr ein
willkommener Triekkeitrag zur Erkokung der Freude an der Leikes-
ukung ukerkaupt. Nur die Gaffer ziickten das Sckauspielertum. Es
mul?te im Interesse der Kultivierung des deutscken Sportes erwogen
werden, ok Zusckauer nickt ukerkaupt von sportlicken Veranstaltungen
ausgescklossen werden sollten. Die Trikiinen an der Sckwimmkakn und
am Ziel kaken kaufig eine unreme Atmospkare. ^Venn man aker von
der Ukerlegung ausgekt. dal? damit ein Antriek des Ekrgeizes wegfiele,
— denn, was ist em Sieg, um den niemand weil?? — und den Ekr-
geiz nickt entkekren zu konnen glautt, so mag man das Zusckauertum auf
die groi?en Wettkewerke fcesckranken. Zum mindesten sollten alle
Kleidungsveranderungen, die ja das eigentlick anreizende sind, kinter die
48
Scene verlegt werden, Desgleicken natiirlick auck die Massage. Das
Puklikum kekommt des we gen nock genug zu seken, als dais sein Ab**
springen zu kefurckten ware, was auS nnanziellen Grunden unerwunscnt ist.
Von kier aus geseken erkalt die Frage Aes Nacktturnens erne neue
BeleucLtung. Der Bekleidungswecksel fallt fort, damit auck die Matzcken.
Das Halkentkl6#te, Halkversckleierte, das nock Ratsel zu raten aufgikt,
reizt erfakrungsgemai? Tuende und Sckauende. Die einfacke Nacktkeit
verkeiist kerne Ukerrasckungen mekr, man gewoknt sick senr scnneil an
sie. Die Reizung nut lkrer erotiscken Betonungsmoglickkeit rallt iort.
Das Sckauspielertum mui? weicken und die siegkafte, um Zusckauer un-
kesorgte Selkstdarstellung, die Erlosung des Icks in kefreiender Tat kann
\Virklickkeit werden.
Die Gefakr der Grotfstadtatmospkare ist (Lie Lusterrikeit. Viele
Leser werden meinen Ausfukrungen deswegen gefolgt sein, weil sie
unter ExkikitiomSmus sick etwas kesonders Pikantes vorgestellt kaken.
Ick koffe, dal? sie sick anmutig an der Nase kerumgefiikrt finden werden.
Denn gerade die Lusternkeit soil mit den Entkullungsmatzcken aus dem
Sportleken kei Handelnden und Sckauenden versckwmden. Das ist
meine Meinung : Reine Korper in Sonne und freier Luit kannen sie.
Die Sportplatze diirfen nickt zum romiscken Zirkus kmaksinken. Sorgen
wir fur eine reme Atmospkare !
HERMANN essig BRIEF AUS HUNDEKEHLE
An Anne! (27.11.1905)
Du glaubst gar nickt, wie langweilig die Hundekekle ist, wenn du
nickt dakei kist. Du kist eken mem Alles auf der Welt. Wenn du so
warm neken mir sitzst, so merke ick nickts von den kaklen i^anden,
die mick keute kier keangstigen. Ick kake ein unkesckreiklickes Heim-
wek nack den Augcken, die mick so liek im Herzen kitzeln, weil?t du,
so wie in Stettin oder m der Bakn, -wo wir fast vergingen und una
kaum vor den Augen des finsteren Passagiers, des wusten Knoten, kalten
konnten. Ok wei#t du, wenn du jetzt dawarest, es wurde iiker uns
wegflief?en wie keil?e Glut im, Sommer. Ick wurde deine Lippe aksengen,
ack und wenn ick die sul/en Sckmerzen denke, die du mir verursackst,
wenn ick dir mem Alles, meme ganze Mahnlickkeit gegeken kake, wenn
ick wie ip den letzten Zuckungen liege und dick an mick drucke und
dein Xlerz pocken kore, so kann ick nickt mekr auf dem Stukle sit z en
kleiken, ick mui? dem Gekaude entflieken kinaus in den Wald und
Kiiklung memer Gcdanken in dem frisck gefallenen Scknee sucken, der
alles kegrakt. Und laufe ick umker und fakre jetzt iiker meine
krennende Stirne, so stekst du wieder vor mir vnd fragst, mick „du,
liekst du mick?" und ick kann nur mit einem Kusse antworten, der
mekr ist als menscklicke Seligkeit und dann kore ick den koken Bucken-
wald auf der fernen Insel rauscken und ick seke dick und spure dick,
wie du dick zu mir niedersetzst und wir nickts mekr koren als zwei
pockende Herzen und das Rauscken des naken Meeres, der Brandung
die demen Korper wie den Leik emer Meerjungfrau, die mick zu sick
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kinakzieken will, umspult kat. Ick kanns nickt fassen, dai? du nickt
kei mir sein sollst kier in Jem traurigen Gekolz urn die GroisStadt, das
keinak vergessen kat, dal? nock Herzen voll Liebe und Kraft existieren.
Und wie ick kier geke, durckzittert mem Leik ein solck unkandiges
Seknen nack demer Brust, an der lck Ruke finden konnte. \Vas nutzt
mir der glatte Spiegel des kleinen Sees, in den lck mick versenke, urn
dein Bild daraus zu sckopfen, ick finde dick nickt selker, dai? du mick
umscklingen konntest, ick kann nur wieder daran denken zuruck an den
sckwarzen Weiker, auf dem die Herta ikre Nacktfakrt m der Mond-
sickel mackt, die langsam dakingleitet, uingaukelt von den Sckatten des
tiefen dusteren Waldes, der zwei Menscken zur sekgsten Brautfakrt mit
Herta in ikrem guldenen Boot fukrte. Ok Anne, komm dock zu mir
und lai? mick dock nickt in truker Sckwermut vergeken. Siek, nur ein
Zucken deiner Hand in der meinen wurde genugen, urn dick ganz
zu mir zu zieken und dir mein ^Vek zu klagen, das ick kier in die
Einsamkeit kinausseufze. Siek, wei^t du, wcnn ick deme Kraft m die
meine ukerstromen fukle und ick sie dir verdoppelt wiedergeke, dann
kin ick gliicklick und kein Gedanke an die ungewisse Feme, zu der ick
steuere, nickt wissend zu meinem Ungluck oder Gluck, tauckt m mir
im seligen Genu!? deiner glukenden Warme, die mick sckon zu dem
mackt, was man im Himmel zu sem kofft. Kemen anderen Himmel
traume ick mir, als den emer nie aufkorenden ewigen Lieke, wo uns
kein Raum und keine Zeit mekr trennen kann und wo wir uns fassen
und wacksen wie ein- Baum aus der Erde, der eine unvergangkcke
Fruckt zeitigt. Und wenn ick jetzt weiter geke, den See kmter mir
lasse und zurucksckaue, so wird mir, als ok man dick mir mit Gewalt
rauken wollte aus meinen Araicn, aus meinem Herzen, das blolf dir
gekort. Es wird mir, als ok du nickt mit mir geken wolltest, und da
sckaue ick kinauf in' den ^Volkenkimmel, in die \Volken, die unter dem
glanzenden Mond dakinfakren und ick seke dick kommen wie Sturmes-
gewalt, die sick zum sanfteu Luftkauck auflost, ick greife zu und dem
Atem stromt in den meinen iiker und em sckwerer Scklaf, m dem ick
mick in dein Ick kineinwiege, und mick mit dir versckmelze, smkt wie
Blei auf die matten plieder, die den Rest memes Lekens fur dick ge~
geken kaken. Ok Anne, meine Gedanken, die ick dir ganz geweikt
kake, mussen sick von dir , losreitfen, denn ick vergeke, weil ick dick
nickt kake und es klo# ein Trug memer Smne ist. Die Nackt wird
immer sckwarzer und ick mul? aufkrecken. Sckon feke ickf von ierne
die Lickter des scklafenden Riesen im deutscken Norden, der Zug rasselt
kerkei "und nimmt mick kinein in den krausenden Larm aus der stillen
Einsamkeit keraus. Und dock wie gliicklick, ist es wakr, ick fmde
dick dort und kin frok, zwiscken vier ^Wanden das zu finden, von was
ick in Waldesdunkel getraumt kake. Und dann ein Kutf, ein Feuer
und alles senkt sick uns zu vereinen auf unsere Herzen kerak, es regt
sick dann nickts mekr und der Himmel ist offen.
Herzlicken Grui? und tausend Kusse in krennender Umarmung
dein treuer Hermann.
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STEFAN GROSSMANN HANISCHS REIGEN
Eine unsittliche Scenenfolge
/. Scene
Im Zfimmer des Ministers.
Hdnisch : Ich hab einen AiVunsch, aber ich sag ihn nicht. Ich
mochte gera, aber ifch bin ein Mann der Freibeit , . .
Ah, was, wozu babe ich meine Rate ? (Er Idutet)
Ministerialrat Seelig : (tritt ein, wartet submissest)
Hdnisch: Naher, lieber Seelig, nocb naher (Sie setzen
sich in eine Divanecke) icb mul? Ibnen einen Wunscb
anvertrauen, einen ganz geheimen, nocb nie gesagten
^Vunsch, baben Sie einen s Busen, um ibn drin zu
verwahren ?
MinisteriaJrat Seelig : (selig) Aber, Herr von Haniscb .... Aber
Herr von Haniscb,
Hdnisch : (Sich zu ihm neigend)
(Es wird finster, wie in den schlimmsten Z/eiten
der Zensur.)
MinisteriaJrat Seelig : Das werden wir scbon machen.
Hdnisch ; (erlost) Icb verreise. Icb weif? von nichts. Icb bin
fiir die Freibeit.
II. Scene.
Im Zimmer des Ministerialrates.
Seelig : Kestenberg, icb mul? ibnen ein Gebeimnis anvertrauen.
Es bandelt sicb um Schnitzler. Verbieten konnen
wir ibn nicht, wir sind Manner der Freibeit. Aber
es steben unangenebme Debatten mit dem Zentrum
in der Preutfischen Landesversammlung bevor. Nacb
den ^Vablen -wird das Ministerium reconstruiert.
Haniscb, kann geben, Haniscb kann bleiben. Das
Zentrum wird sicb dankbar erweisen. Aber verbieten
ist unmoglicb. Wir sind Manner der Freibeit.
Kestenberg : Macb ein bissel finster, Seelig, und komm ganz nahe
zu mir beran, icb will es Dir ins Obr fliistern,
(Es wird wieder finster, wie in Reaktionszeiten.)
Seelig ; Famos. An den Mietvertrag babe icb gar nicbt mebr
gedacbt. Da lassen wir den Direktor kommen. Wo-
zu beil?t er Scbrecker, wenn er nicbt ein bissel
scbrecken soil ?
III. Szene.
Im Ztimmer Kestenbergs.
Kestenberg : (im Piyama, liegt auf dem Sofa)
Schrecker; (tritt ein, bleibt an der Tiir stehen)
51
Kestenberg : (flustemd) Komm docli naher, Franzl.
Schrecker- (naiv, mit dem Ton des sufien J^dadels) Was willst
denn, Leo ?
Kestenberg : Setz Dich her, Franzl.
Schrecker : (nimmt mit gesfiielter Unschuld auf seinem Sofa
Platz.)
kestenberg: {im Ton des jungen Herrn) Schau Franzl. Du bist
em lieber Kerl, ich hab ein Faible fiir Dich, Du
wei#t, ich hab Dicb herbeigeholt, ich bab Dich zum
Direktor gemacht. Schau mich an: Hast Du mich
auch gern ? Willst einmal mir einen Gefallen tun ?
Nichts Wichtiges ! Nur eine Kleinigkeit. Einen Mo-
ment, und Alles ist voriiber , . . Setz Dicb naher,
Franzl, ich will Dirs leise sagen.
(^Wieder verfinstert sich die Buhne wie in
den Zeiten des Jesuitismus)
Schrecker : (lachend) Wenn's sonst nichts ist, das mach ich gern.
Ich hab mich schon gefurchtet, Gott weil? was, wie
Du, Dickus, in Deinem Piyama mich geheimnisvoll
nahergewinkt hast. Sofort morgen sprech ich mit
ihr ein ernstes Wort, als Herr des Hauses,
IV. Scene.
Im Z/immer der Frau Eysoldt.
Frau Eysoldt i (erregt) Ich bin eine anstandige Frau. Wie kannst
Du mir zumuten, dai? ich eine Schweinerei mache?
Du tust mir Unrecht. Du kennst ja die ganze Sache
nicht. Komm einmal, ein einziges Mai vormittags
zu einer Probe.
Schrecker: Werde doch nicht gleich pathetisch .... Ich sage
Dir in aller Ruhe, gib das Verhaltnis zu Schnitzler
auf oder .....
Frau Eysoldt-. (trotzig) Oder!!
Schrecker I Oder ich werde Dir einen Herrn zeigen. Ich ver-
biete Dir Deinen Schnitzler, ich, der Herr des Hauses.
(Die Buhne wird stockftnster.)
Frau Eysoldt-. (Im Dunkeln bekommt ihre Stimme ganz hellen KJang)
Du wirst mich kennen lernen. Marsch aus dem
Zimmer!
V. Scene.
Hinter der Buhne, im Saale der Hochschule fiir J^Iusik.)
Dr, Alsberg: (tastet sich durch das Kulissengerumfael) Wo ist
Frau Eysoldt?
Frau Eysoldt : Wer sucht mich ?
Dr. Alsberg: Ich, Dr. Alsberg, Vertreter der Hochschule fur Musik
52
Dr. AJsberg: Ich verbiete Ihnen Schnitzler. Hier die einstweilige
Verfugung.
Frau EysoJdt: (nimmt sie, zerreiflt sie.)
Dr. AJsberg: Jede Auffuhrung biitfen Sie mit sechs Wocben Ge~
f angnis !
(Finsterste Finstemis. hn DunkeJ treten die
Gesfaenster der friiheren fireusischen KuJtus-
minister auf.)
Frau Eysoldt: (schiebt ihn beiseite) Dank fur die Nachricht, ich
mui? vor den Vorhang, das muf? ich noch schnell
dem Publikum erzahlen.
V7. Szene.
hn Euro des Ministers.
Dr. AJsberg i Wir glaubten in Ihren Intentionen, Exzellenz, zu
handeln, indem wir im Auftrage der Vermieterin
eine einstweilige Verfugung erwirkten. Trotzdem
gab Frau Eysoldt das Verhaltnis zu Schnitzler
nicht auf.
Hanisch: Ich war verreist. Ich bin womoglich immer verreist . .
"Was sagt die Presse?
Dr. AJsberg-. Die Presse war fur Schnitzler.
Hanisch; Dann war ich noch verreister.
Dr. AJsberg-. Leider ist das Publikum auch gegen uns.
Hanisch-. Dann bin ich noch gar nicht hier. (Lautet, MinisteriaJ-
direktor SeeJig erscheint). A^Vie konnten Sie in meiner
Abwesenheit ein so jesuitisch-reaktionares Manover
unternehmen.
(Es wird einen Moment bei Hanisch heJler).
Sie sehen die Folgen: Die Presse ist gegen uns, die
Bevolkerung ist gegen uns. Sie wisseri doch, wir
sind Manner der Freiheit. Ich jedenfalls stehe diesem
Treiben vollkommen ferae. (Laut) Ich war verreist.
(Noch Jauter) Ich bin entschlossen, wieder zu ver*-
reisen. (Schreiend) Ich werde iiberhaupt immer
verreisen.
max pallenberg UNSER PROMINENTER VEREIN
Zu dem Aufsatz ,,Kapitali3mus der Talente" (Heft 50 dei Tage-
bucke) erhalte ich diese Betrachtungen:
Lieber Stefan Gromnann! Dank meiner klemen Lola kann ich jetzt
vormittag am ScnreiDtiscn sitzen, statt mich in Proten abzuschwitzen, und
kann versucnen, ob ich mcnt allmanlicn die Scnrixtstellerei erlerne. Wenn
die Sache mit Lola, wie ich horre, nocn zwei, drer Janre anhalt, dann
sollen Sie meine gesammelten Vw erke drucken: Seeks Bande, Ernst Rowohlt
Verlag, Berlin 1923. In Pergament gebunden 1800 Mark. Sie werclen
53
staunen — staunen, sag ick lknen, — was ick mit der Zeit fur em Scknft'-
*tellerchen geworden sein werde.
Vorlaufig bin ick nock Sckauspieler und kabe also em angebornes
Reckt, mick uber Zeitungen und Zeitsckriften zu argern. Of fen gesagt:
Uber Ikren Aufsatz „K.apitalismus^der Talente nabe ick kein ungetrubtes
Freudegefukl gekakt, 1m Besonderen, als ich dort memen Namen ent-
deckte. Es kat micb scbon merkwiirdig berukrt, dai? Sie micb ein Talent
nennen, aber wer m aller Welt, frage ick — jawokl, frage ick — gibt
lknen das Recbt, mick als einen Ivapitalisten memes Talentes anzusprecken ?
Ich babe mick auck nock kerne Stunde memes Lebens als Emer von den
„prominenten Leuten" gefiiklt, wie uns Herr Dr, Monty Jacobs in der
„:Vossischen Zeitung" koknvoll nennt. Frau H of lick, Frau Grunmg, Frau
Dux, meine Frau, Bassermann, ^Vegener, Hartau, Sabo — wir fuklen
uns nickt einen Augenblick als Extrawiirste; e? mackt uns Vergnugen,
Anderen Vergnugen zu macken, so viel Anderen als moglick, nur msofern
wollen wir eminente Prominenzen sein. Meine sekr verekrten Geschlechts-*
gegner ■, — so nannte die Gallmeyer die Manner, lck mockte so die Kntiker
nennen — sind zuweilen nut dem lknen angebornen Elan bemukt, die
Lust, den Ajideren Vergnugen zu macken, in uns kerabzumindern, aber
es gelingt den prommenten Emmenzen der Kritik nickt immer. Auch uber
Ikren Aufsatz kabe ick mick allmakhch scbon gefatft.
Wie konnen Sie mick einen Kapitahsten, wenn auck mit Talent,
nennen? Sie kennen mick dock sckon emige Jakrcken, Stefan, be? Sie
wissen, welcke vers ck wen deriscken Gagen ick viele Jakre in Wien be-
zogen kabe. Wissen Sie, dai? ick drei Jakre lang m Mahnsck- Sckon**
berg, zwei Jakre in Jagerndorf in Scklesien und drei Jakre m bayriscpen
Sckutzenkausern in Orten, die auf klemeren Landkarten nickt zu fmden
sind, gespielt kake? \Vissen Sie, prommenter Stefan, dai? ick, sckon sekr
beneidet, bei Reinkardt 2000 Mark Monatsgage katte? Ick kenne das
Tkeater von ganz unten ker, kabe oft in Gesellenkerbergen gescblafen,
nickt selten den Souffleur ersetzt, und wir waren dabei in berrlicber
Laune, nickt einen Augenblick geldsucbtig oder verdrossen. Ick verrate
lknen ein Gekeimnis: Ick kabe gar kein Bedurfnis gekabt, mick ,,durch-
zusetzen". Ads mick Josef Jarno in dem Sommertkeater in Isckl ent-
deckte, gmg ick ganz seelenrukig wieder nack Olmutz zuruck und als ick
— Sie erinnern sick, Stefan — das erste Telegramm von Reinkardt er—
kielt, an dem Sie mitsckuldig waren, da steckte ick die Depescke kock-
erfreut in meine Brieftascke und bKeb nocb viele Jabre in Wien, bei
Josef Jarno und im Volkstbeater und bei der Operette,- unverlockt und
lange, lange wientreu Und wenn ick jetzt Abend fur Abend
tausend Leute m gute Laune versetze, glauben Sie, das ist keine Arbeit?
Es ist Sckwerarbeit, mein Gutester. Wenn icb meinem reinem Herz*-
cken folgte, wurde ick lieber drei, vier grol?e, kunstlerisck bedeutende
Rollen in jeder Spielzeit einstudieren — den Doktor Stockmann, den icb
ein blacken mesckugge spielen mockte, den Tartuffe, zu dem ick bei vielen
ICollegen Vorstudien macke, den Wurm, den ick lcidensckaftlick gern
Bpielen mockte, — das -ware, glauben Sie mir, nock sckoner als die Sacke
54
nut Lola, obwohl ick, urn Gotteswillen, kem unireundkckes Wort ge^eii
meinc kleme Lola uber meine sogenannten Lippen ilielsen lassen mochte.
Una wie mir gent es Frau Massary, die sckon eine leise Aknung hat,
aaQ sie nock eimges konnte. Man nat es ikr, glauke ick, sckon emmal
gesagt. Und meinen Sie, Frau Hoflick, Bassermann, AVegener, wir Alle
mockten nickt ebenso gerne und so viel spielen wie rruker? Reden Sie
jetzt nickt von Kainz, Mitterwurzer und SonnentkaL Ich sage Iknen,
wenn Kainz lekte, wiirde er auck mit Rotters abschliei?en! Und Mitter*-
wurzer erst reckt, und Sonnentkal viel rechterer!! Wit leben eben in
einer anderen Epocke und dieses Zeitalter gibt das Gesetz, fur uns das
Gesetz der Serie. Nickt nur wir sind das Ergetmis dieser Epocke, auck
die Zusckauer sind es und auck die prominenten Emmenzen der Kritik
untersteken mm. Der emzige Vorwuri, den Sie erkeken konnen, ist der:
\Vie konnten Sie sick in dieses Zeitalter venrren? Da mul? ick ke-
sckamt und sckuldergririen sckweigen.
Wenn ims ^Prominenten " in der „ V ossiscken Zeitung der Vorwuri
gemackt wird, wir denken mckt genug gewerksckaftlick, so mockte ick
diesen Vorwuri erstens zuruckweisen und zweitens eine Episode aus der
letzten V ersammlung erzaklen. Da rier uns em kommumstiscker Sckau-
spieler zu : ,.Lernen Sie von den Transportarbeitern". j Auincktig gesagt,
ick katte in meiner Jugend anderswo gelernt, aker ick will es gerne tun,
man kann uberall lernen. Freilick, ick mockte dock mckt nur von den
Transportarkeitern lernen. Es gibt Sckauspielerinteressen, die ick kei
den Transportarkeitern dock mckt vollkommen kefriedigen kann. Ikr
prominenten Kritiker kabt ja auck einen Kritikerverkand, der neken dem
allgememen Presseverein kestekt! Alarum sollten wir fur unsere reinen
Sckauspielennteressen mckt, unkesckadet der Genossensckaft, unsere
Veremigung kaken? Vielleickt wollen wir, zwei oder drei kerrlicke
Sondervorstellungen, uns zur Erkolung, den Anderen zur Erquickung
— wenn sie preiren, ist dies lkre Erquickung — veranstalten. Aker
dazu mussen wir zusammenkommen. V lelleickt wollen wir kei der ke—
vorstekenden V ertrustung der Berliner Tkeater zwei Wortlein mitreden?
V ielleickt wollen wir uns fur die nickt mekr allzuferne Pleite des
Tkeaterketrieks rusten ? Unlangst kesuckten mick russiscke Sckauspieler,
die aus Sowjetrutfland entfloken waren. Mitarbeiter Stanislawskis.
Die Lust am Spiel ist im bolsckewistiscken Russland nickt gerade ge-
stiegen. Vielleickt sollen wir die Erzaklungen aus dem bolsckewistiscken
Paradies mit Andackt ankoren ? Vielleickt wollen wir einen Ruke-
tag in der Woche durchsetzen, wir prominenten Schwerarbeiter. Es
gibt, wie Sie sehen, einige gemeinsame Interessen. Warum sollen wir
gleich ein bisschen verhohnt werden, -wenn wir inmitten von lauter
Organisierten, auch ein kleines, ein ganz kleines Vereinchen bilden?
Es ist das heiligste Recht des Deutschen! Das darf uns nicht
gekiirzt werden, nur weil wir „prominent" gescholten werden. Seit
zweiundsiebzig Jahren 'will audi ich einmal einen Verein griinden.
Jetzt endlich, ha, ist die Gelegenheit da! Kein Kritiker augenrollen
wird uns von dieser reizenden Abendbeschartigung abbringen !
55
FRIEDRICH HEBBEL Unlekannte Briefe
Eingeleitet und mitgeteilt von Julius Scnuster
,, . . . und endlicn — zurnen Sie mir nickt^ besitze icn nicht mehr Ihren
Brief ! Holtei, der ihn liegen sab, rii? ihn mir rait rauberiscber Wut fort,
um die Autographensammlung ernes Verwandten damit zu bereichern.* l
Mit diesem Argument von visioneller Plastik wollte Wilibald
Alexis der argen Verspatung seiner Antwort an Hebbel die Spitze
brechen, Er mocbte wohl einer friiberen Scbuld dabei gedenken:
auf HebbeVs freundlicben ersten Brief, der bier zum ersten Male
mitgeteilt wird, batte Alexis sieben Monate mit der Antwort ge-
wartet.
Dies und die so gar nicht kongeniale Form des Briefes war
nicht nach HebbeFs darin fast mimosenhaftem Sinn: er konnte'es
nicht vergessen „weil in einem solchen Fall gar keine Entschuldi-
gung geniigt, es ist als ob einer, dem man die Hand reicht, die
seinige in der Tasche sitzen lal?t und spater mit einer hoflichen
Verbeugung sagt, er habe gerade sein Geld nachgezahlt, oder was
sonst." Und noch weniger war Hebbel mit der Dreiviertels-An-
erkennung seines Talents durch Alexis zufrieden: „was er uber
mich sagt, mui? jeder sagen, der sich nicht lacherlich machen will/"
Aber es gait jetzt ,.Maria Magdalene" zum Sieg zu verhelfen,
und Auguste Stich-Crelinger, die der ,Judith" so grof?e Teilnahme
geschenkt hatte, sollte jetzt dem biirgerlicben Trauerspiel ihren
Berliner Einfluf? und ihre erprobte Kunst leihen. Der Bedeutung
der historischen Aufgabe, das erste soziale Drama in Deutschland
in ihre Hande gelegt zu sehen, Avar die gefeierte Kiinstlerin sich
bewuf?t — sie zu losen ging iiber ihre Kraft. Die formvollendete
Absage der Crelinger, die den Dichter wie ein Donnerschlag traf,
ist bekannt. "Was im Leben jedes Weib mit einer Art von Stolz
zur Schau tragt; was folgerichtig zur Ehrenrettung des mutterlichen
Weibes hinfiihrt, die werdende Mutterschaft, schien der zimper-
lichen Crelinger, der virtuosen Interpretin Raupach's, sentimentaler
Schemen, und sicher mit ihr dem Durchschnitt des damaligen
Theaterpublikums auf der Biihne eine Unmoglichkeit. Trotzdem
versuchte Hebbel nochmals die Kiinstlerin umzustimmen, und er
erreichte wenigstens eine theoretische Anerkennung, indem ihm
Otto Crelinger, der Gatte der Schauspielerin, das begeisternd zu-
stimmende Urteil eines seiner kritischen Freunde, des Dr. Klein,
mitteilen hiel?.
So oflnete sich fur Hebbel doch noch eine Perspektive, und
er benutzte eine Antwort an Alexis, um nochmals auf die Cre-
linger einzuwirken: Dieses wichtige Hebbel-Dokument wird bier
gleichfalls zum ersten Male mitgeteilt.
Freilich schon sechs ^Vochen spater hatte Hebbel die Ab-
lehnung der Berliner General-Intendenz in Handen. Die Zeit fiir
die dichterische Gestaltung des psychologischen Verhaltnisses der
56
Geschlechter zu einander war nocli nicht gekommen. Die thca-
tralische Behauptung der Crelinger, Hebbel sei ein Morder an
seinem eigenen Genius, hat sich ebcnso wenig erfullt, wie die
resignierte Pariser Prophezeihung des Dichters, dai? die in „Maria
Magdalene" aufdammernden Konsequenzen wohl erst nach Jahr-
hunderten in den Lebenskatechismus Aufnahme finden wiirden:
am 27. April 1848 zog „Maria Magdalene" im Berliner Konig-
stadtischen Theater ein erlesenes Publikum in seinen Bann.
.Hebbel gefiel mir sehr. Seine ernste, knorrige Nordlands-
natur hatte fiir mich etwas durch ihre Eigenart Fesselndes, und
die Genialitat seiner Schriften, die haufig eine gewisse Herbheit
hatten, wurde durch seine Personlichkeit erklart." So beurteilte
Gustav zu Putlitz den Dichter, den er 1854 in Marienbad kennen
gelernt hatte. Aui? dieser Bekanntschaft spann sich auch fur spater
der Faden fort.
1) An Wilibald Alexis.
Hamburg, den 1. Juny 1843.
Geehrtester Herr!
Sie haben in den Brockhausischen Blattern fiir lit. Unter-
haltung ein so freundliches Urtheil iiber meine Gedichte abgegeben,
dai? ich mich gedrungen fiihle, Ihnen bei meiner Zuriickkunft von
Copenhagen meinen herzlichen Dank dafiir auszudriicken. Am
meisten erfreut hat es mich, dai? Sie diese Gedichte im alten guten
Sinne des Worts lyrisch gefunden haben, denn wenn ich auch
selbst, von den Dissonanzen der Gegenwart ergriffen und bedrangt,
mir es nicht habe versagen konnen, manche derselben dichterisch
ausklingen zu lassen, so halte ich doch die ganze rhetorisch^poli-
tische Richtung der neueren lyrischen Poesie fiir eine Verirrung,
die natiirlich seyn mag, die aber ohne alien Zweifel der Literatur
keine dauernden Resultate bringen, vielleicht nicht einmal die
dichtenden Individuen in ihrer aesthetischen und menschlichen
Bildung fordern wird. Das Drama soil die Schlachten der Zu-
kunft auskampfen, es hat keine andere Aufgabe, ich wenigstens
wiitfte nicht, was dem griechischen und ShaketJpear'schen Drama
die Bedeutung fiir alle Zeiten gegeben hatte, wenn es nicht eben
der zitternde Fiihlfaden des sich erweiternden menschlichen Be-
wutftseyns ware, der sich durch den mannigfaltigen Wechsel der
Charaktere und Situtionen hindurch zieht, und die bunte Lebens~
fiille der Letzteren, die ohne ihre Verkniipfung mit den bewegen-
den weltgeschichtlichen Ideen endlich Glanz und Zauber verlieren
wurde, ewig frisch erhalt. Das Lied dagegen soil sich an das
bleibende Element des Lebens, an den von alien autferlichen Krisen
unabhangigen Gehalt der Menschenbrust anklammern, und seine
Neuheit blol? in der Form, in der durch das begabte Individium
unmittelbar gegebenen reizenden Modification der Spiegelung suchen.
57
In Copenhagen habe ich Ihren letzten Roman: der falsche
Waldemar gelesen. Ich gratuliere Ihnen zu diesem Werk. Es ist
tin entscbiedener Schritt Uber Walter Scott hinaus, und das will
viel sagen, denn Scott ist, obgleich er durch seine Epigonen jenseits
der Themse beim Publikum mehr und mehr in den Hintergrund
gedrangt zu werden scheint, nach meiner Oberzeugung nicht blof?
der Dichter, der den beschrankten friiheren Rabmen des Romans
erweitert, sondern auch derjenige, der diesen erweiterten Rahmen
bis jetzt am vollstandigsten und wiirdigsten ausgefiillt hat. Aber
er erzahlte doch mehr Geschichten, als er Gedichte darstellte und
der Mangel an Ideen, an inneren Contralpunkten, ist ihm, wenn
man nur das Richtige darunter versteht, nicht mit Unrecht vor-
geworfen worden. Sie haben diesen Bruch ausgeglichen, Ihre Fi~
guren und Gestalten stehen, wie die Scotfschen, auf festen, markigen
Fiitfen, aber wahrend Sie das verworrene Rathsel ihres eigenen
particken Daseyns herausbuchstabieren, wird zugleich, Ihnen un-
bewutft und unbemerkt, ein hoheres und allgemeines gelost.
Mein Verleger, Herr Lampe, sagte mir, als ich ihn bei seiner
Abreiie zur Messe fliichtig sprach, dai? er Sie um eine Beurthei-
lung meiner Genoveva ersucht habe Eine solche ware mir aus
Ihrer Feder hochst erwiinscht. Fur dieses Werk erwarte ich
keine Berucksichtigung bei den Biihnen, keine Gerechtigkeit bei der
Tagelohner-Kritik ; denn jene konnen sich bei dem Stand der
Dinge auf nichts Innerliches einlassen, und diese wissen, obgleich
sie immer von der Zeit sprechen, doch viel zu wenig von der
Zeit, um einen Gahrungs- und Lauterungsprozel?, wie Ihr Golo
durchmacht, in seiner sittlichen Nothwendigkeit, oder auch nur in
seiner psychologischen Moglichkeit zu begreifen. Dem Dichter
blieb daher keine andere Hoffnung iibrig, als dai? das eine oder
das andere Mitglied der stillen Gemeinde, fur die er schuf, den
Mund zu Lob und Tadel offnen wiirde, und von Wenigen hatte
ich so gern ein Urtheil iiber dieee sehr ernst gemeinte Produktion,
als von Ihnen.
Mit ausgezeichneter Hochachtung
Ihr ergebenster
Fr. Hebbei Dr. phil.
(Weitere Briefc foltfen.)
FEINDSCHAFT DER LIEBE.
Wcnn ich dir half, so hab ich mich bcstohlen.
Man soil sich Gute nicht vom Teufcl holen.
Doch sollt ich tun, wozu mich Gott beflugclt,
Hatt ich schon oft clich weldlich durchgcprugelt..
Au;j dem reichen lyriachen Erntebuch, das Hermann
Stehr soeben unter dem Titel ,,Ein Lebenebuch" hri
S, Fischer herausgegeben hat.
58
AUS DEM TAGEBUCH
BAISSE IN KONSTLICHEN
AUGEN.
In dem Bericbt neuer tbiirin-
gischen Handels- und Gewerbe-
kammern findet derkaufmanniich
interessierte Leser folgende kom-
merzielle Betracbtung:
Das Geacbaftsbild war im ersten
Vierteljabr 1920 infolge der durch
den Krieg und den geringen Wert
der deutscbenMark geechaff enen auffcr-
gewobnlicb guten AbsatzYerhalt-
niflse nach dem Auslandeeinbesonders
gunstiges. Die allgemeine wirt-
achaftlicbe Krise fiihrte jedoch in den
folgenden Monaten zu einem empfind-
licben Ruckscblag. Eret gegen Ende des
Jabres trat eine Wiederbclebung
des Gescbaftes ein.
Die Erzeugung von kiinst-
lichen Menscbenaugen hatte bis
1914keinennennenswertenfinan-
ziellen Erfolg gezeitigt. Erst gegen
Ende des Jabres 1914 bob sicb
die Nacbfrage. Dann gab es
vier Jabre lang eine steigende
Hausse in Glasaugen, der glttck-
licbe Absatz bielt sogar bis zum
Jabre 1919 an, es offnete sicb
der auslandiscbe Augenmarkt,
nacbdem die Fabriken wahrend
der Kriegszeit ausscbliefficb
auf das deutscbe Absatzgebiet
angewiesen waren. Dank dem
steigenden Verbraucb von kiinst-
licben Menscbenaugen arbeiteten
die Fabriken mit groI?em Nutzen.
Diese giinstigen Absatzverbalt-
nisse wurden durcb den uner-
erwarteten Friedensscblui? nocb
nicbt abgebrochen, da nocb viele
Tausende deutscbe Auftrage vor-
lagen. Dann versickerte das
Glasaugengenschaft allmablicb.
Die Revolution bat leider nur
in einzelnen Stadten die Nach-
fragevorubergebendbelebt. Aber
die Industrie sieht der Ent-
wicklung nicbt obne Zuversicbt
entgegen. Sie boftt auf eine
Wiederbelebung des Gescbaftes,
naturlicb im Interesse der in der
Glaiaugenindustrie bescbaftigten
Arbeiter.
ZUR PSYCHOLOGIE DES
RICHTERS
In Bayern batte eine Konto-
nstin ibren Brautigam wegen Brucb
des Verlobmsses auf Scbadenersatz
verklagt. Der Ricbter batte die
Klage abgewiesen. Er gab zwar
die v oraussetzungen des Entscbadi—
gungsansprucbes zu, den sebweren
seebscben Scbmerz der Klagerin
und die Vernngerung ibrer Ver-
sorgungsaussicbten. Aber er lebnte
cine erbobte Entscbadigung ab, weil
die ^Abstanunung der Klagerin, ibr
Mibeu, ibre Ausbildung und ibr
Stand als acbadenmildernd bei Be-
messung der Entscbadigung an-
zuseben seien." Das Oberlandea-
gericbt in Mvincben bob die erst-
nebterbebe Entscbeidung auf, sic
konne vom sozialen Standpunkt
nicbt gebilligt werden. „Ebre und
sittlicnes Emprinden sind nicbt von
Besitz und Bildung abbangig. Die
Klagerin ist Kontonstin, bat die
Handelsscbule besucbt und stebt seit
1911 im Erwerbsleben. Es ist'nicbt
angangig, der Klagerin eine geringere
Femfubligkeit in sitdicben Dingen
zu imputiren und die Verletzung
ibres sittlicben Empfindens geringer
zu werten, weil sie Kontoristin ist
und den Erwerbstanden angebort."
59
Beacktenswert ist nickt das
selbstverstandlicke Urteil des Ober—
landesgericktes. Das benutzt ein—
rack das Abe unseres Emprmdens.
Beacktenswert ist nur der Einzel—
rickter, der in aller Naivitat seiner
bourgeoisen Einstellung einem be-
sckaftigungslosen, lebensfremden
Haustocktercken oder Ganschen
eine kokere sittlicke Empfindlickkeit
und deskalk Entsckadigung zubilligt
als einem Madel, das im Leben
stekt und sick selbst ernakrt. T>Vas
fur eine Denkweise von 1773.
Aker bei der Beurteilung eines
solcken antiquariscken Rickters ist
allerdings als mildernd in Betrackt
zu zieken : Seine Abstammung, sein
Milieu und der Stand, der oft eine
geringere Feinfukligkeit in sittlicken
Dingen zeitigt.
DER HUNGERSTREIKER
LAMP
Der kommumstiscke Reckts-
anwalt Lamp, den die Elberfelder
Gerickte wegen Hockverrats in-
kaftiert katten und der als Protest
dagegen in den Hungerstreik em-
getreten -war, ist nack acktzekn-
tagiger, ngorosester Kasteiung am
zweiten ^Veiknacktsfeiertage ge-
storben. Also kerickten, kurz und
okne Geruklsaufwand, die biirger-
licken und sozialistiscken Zeitungen
Deutscklands.
Diese selben Zeitungen katten
Wo eke urn Wo eke ganze Spalten
dem Martynum Ference Mc Swi-
ney's, des^ Burgermeisters von -Cork,
gewidmet. Es katte gescmenen, als
sei die deutscke Orrentlickkeit tier
empfanglick fur,„ einen rieroismus,
der sick in ubermenscklicker Energie
akzwmgt, auck den letzten Rest
leibkcker Bedingtkeiten demDienate
eines Geisteszieles zu opfern. Wakr-
sckeinlick katte es dem Reckts*-
anwalt Lamp selbst So gesckienen.
Denn was anders konnte er von
seiner Tat erkoffen, als eine Flamme
damit zu entzunden? Und wie katte
er den Entscklul? zu lkr fassen
konnen, wenn Gewilskeit in lkm
gewesen -ware, dal? gar kein Zund—
storr rur eine Flamme vorkanden?
Nun wokl, die Orrentlickkeit,
die den rernen Iren wockenlang
umsorgt und umspeickelt katte, ging
uber den naken Lamp ungeriikrt
zur Tagesordnung uber. Und wenn
kier nackgekolt werden soil, was
anderwarts versaumt wurde, wenn
dem V erkungerten ein Absckieds-*
wort nackgerufen werden soil, so
konnte es nur dies sein:
Armer Lamp, du Sokn eines
norddeutsckenProf essors und Sckwa~
ger eines suddeutscken Oberburger-
meisters, du kanntest das neue
Deutsckland wenig!
Du dacktest, kierzulande sei
Raum fur einen Mc Swiney. Aber
du irrtest. Der Fall Mc Swmey
war nur eine Moglickkeit, sick gegen
England und &le Demokratie in
Gansefui?cken opportumstisck ein
kiscken aufzuspielen. Im tiefsten
Herzen stand Deutsckland bei Lloyd
George. Man verekrt kier Ord—
nung und Autontat, von welcker
Art sie auck immer sein mogen,
und kewundert keimkck, wenn
gegen Rebellen „kraftig durck-
gegriffen wird.
Der Hungerstreik setzt ein
seeksckes Mitkungern der Anderen
voraus. Aber wir sind, AUe nut*-
emander, okne Pkantkasie des Her~
zens und wer kier kungerstreikt,
streikt nur gegen sick selbst und
fur keinen Anderen. L. S.
60
WEINT ASTA GLYZERIN? TILLA ZORNT DER ZEIT
Ein absckeulicker Verrater katte
m einer Zeitung erzaklt, die geist—
reicke, sckarmante Asta Nielsen
weine keiFilmaurnakmen mckt wirk—
licke Tranen, sondern traufle sick
Glycerin in die Augen, das dann
recktzettig, wenn gekurbelt wird,
in dicken Tropien kerunterrolle.
Diese Anklage lieK den ntterlicken
Paul VV egener nickt in Rune, er
gnrr zur Feder und stellte in einer
Zeitung, die sick dazu kergab, rest,
dais Asta Nielsen m dem Film
„Steuermann Hoik eckte Tranen
geweint kabe. Er, Wegener, kabe
sie llir in zwei Szenen von den
AVangen gekuist. die Tranen kaken
salzig gesckmeckt, Glycerin aber
sckmeckt rettig und sui*.
Nun ist Asta Nielsen vor ganz
Niedereuropa rekabiliert. Wer
wird nack Wegeners ritterlicker
Erklarung nock daran zweiieln
wollen, dais sie in dem sentimentalen
Kltsckiilm „Steuermann rlolk
wirklick bitter und nickt fettig*-su#
geweint kake ?
Nur ganz gemutlose Leute wer-
den finden, dau die geistreicke,
sckarmante Asta eigentlick durck
den ntterlicken Paul em wemg
comprommittiert wird. Sie katte
sick des Glycerins im Kltsck gar
nickt zu sckamen ! Aber eckte
Tranen bei uneckten Riikrstucken ?
Asta ist durck Pauls Ritterlickkeit
erst reckt blotfgestellt, vorausgesetzt,
dai? sie nickt, wie viele geubte
Sckauspielerinnen,durck einen leisen
Druck auf eine bestimmte Korper-
stelle eckte Tranen automatisck
erzeugen kann.
Herr Leo Kestenberg, Cassi-
rers junger Mann, Haniscbs junger
Mann, der Volksbiibne eifriger
Arrangeur, kennt Frau Durieux,
Herrn Scbrecker, Herrn Bab und
Herrn Jeftner, die alle — zufal-
lig __? gegen Schnitzlers „Reigen"
Gutacbten abgegeben haben. Frau
Durieux, ibrer Kollegin Gertrud
Eysoldt mit aller Kameradscbaft
ergeben, deren die Genossin
fabig ist, fiiblte das Bediirfnis
ibr sittlicbes Bedenken gegen
den „Reigen" offentlicb zu be*-
griinden. Sie erzablt in einer
Berliner Zeitung, sie babe in den
Vorstellungen der Sudermann-
scben „Freuttdin" bei i Rotter
mancbe „ernstbaften und be~
deutenden Zuborer" gewuft, aber
am Ende baben gerade ibre Er-
fabrungen bei den Auffiibrungen
der „Freundin" sie gelebrt, datf
es noch ein anderes Publikum
gabe, vor dem man „derartige
Stucke" nicbt spielen solle . . .
Wie treffiicb bat es die Natur
gefiigt, dai? Frau Durieux diese
Erfabrungen erst nacb bundert
und so und so viel Auffiibrungen
der „Freundin" aufgegangen sind.
Monatelang bat sie, abnungslos,
von ibrer sfttlicben Mission er-
fullt, diebomosexuelleDame dar-
gestellt. Dann aber, (als die
Kameradin Eysoldt den unver-
gleicblicb feineren Scbnitzler
wagte) kam ibr die Erleucbtung.
Nun runzelte sie die Stirn, weil
Scbnitzler „den sexuellen Akt
selbst auf dieBuhnebringt". Aber
scheltende Tilla, das ist ein Irr-
tum, der freilicb, wie die ganze
Gutacbterei, den Zulauf ins kleine
Scbauspielbaus steigem wird.
61
Nicbt nur, dai? in den entscbeid~
enden Momenten des ,,Reigen"
nur ein biscben Finsternis vor~
gefiibrt wird — bci Frau Eysoldt
fallt aucn noch ein Gazevorbang
und die ganze Vorstellung ist von
einer melancboliscb macbenden
Zucbtigkeit — wicbtiger ist, dal?
uberhaupt Wiederbolung der~
selben Situation gar nicbt un-
sittlicn wirken kann, weil die
Melancbolie des Typiscben des~
illusionierend wirkt. Frau Du-
rieux erzablt, ScKnitzler selbst
babe die Auffubrung jabrelang
verhindert. Gewn?, aber in den
zwanzig Jabren . . , auf welche
Tilla . Durieux sinnend zuriick-
blickt, hat sieb unser Gefubl
fur das offentlicb Zulassige ent-
scbeidend gewandelt. Was ware
einer Tanzerin gescbeben, die in
den acbziger Jabren mit nackten
Fiif?en aufzutreten gewagt batte?
Acb die ziicbtigen Zeiten unserer
Jugend sind unwiderruflicb vor-
bei, es gilt, strenge ^Tilla, sicb
in die Unsittlicbkeit unserer
Kinder und Enkel still zu finden.
Die Frauen sind die Musik dea
Lebens, sic nehmen alles offener
und unbedingter in sick auf, urn
es durck ikr Mitgerukl zu ver~
sckonen. Ricnara Wagner.
*
Mancke Leute glauben ein
gutes Herz zu kaben, und kaben
dock nur sckwacke Nerven.
Mt EbnerJEsckenbach.
AN DIE FREUNDE DES
,/TAGEBUCIT!
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zelne Heft kostet, inklusive Ztu-
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DER KLEINE GRADE-WAGEN
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PROBLEMS / DER WOHLFEILE WAGEN DES
MITTELSTANDES / ZWEISITZER
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BERLIN W 35, POTSDAMERSTRASSE 113
PAVILLON 5
62
DER ANBRCICH
3. ORDENTLICHES
ORCHESTERKON^ERT
Donnersra& 13. Januar 1921, ?V 8 Clhr abends, in der
Philharmome mit dem philharmonischen Orchester
DIRIGENT:
FEPRQCCIO BQSONI
Programme FEBCQCCIO BQSONI
1. Orchestersuite „ Aus der Musik zu „Turandot"
2. Concertino fttr Klarinette und kleines Orchester, op. 48
3. Gesang vom Reigen der Geister op. 47
(Uraufftthrung)
4. Zwei Studien zu „Dr. Faust"
a) Sarabande, b) Cortege (Manuskript)
5. Divertimento fur FlOte und kleines Orchester
(Manuskript)
6. Tanzwalzer (Manuskript)
Solisten:
Klarinette: Carl Essberger
Flote: Alfred Liechtenstein
4. ACISSEROBDENTLICHES
ORCHESTERKON2ERT
Donnerstag, 27. Januar 1021, J x \ % Qhr, abends in dor
Philharmonic mit dem philharmonischen Orchester
DIRIGENT:
QCISTAV B RE C H E R
*
Programm: FERRQCCIO BQSONI
1. Konzertstttck fttr Klavier und Orchester .. .. op. 31
2. Indianische Phantasie fttr Klavier u. Orchester, op. 44
3. Concerto fttr Klavier, Orchester u. Mannerchor, op. 39
*
Solist: Eerruccio Busoni
Karten bei BOTE & BOCK und A. WERTHEIM
S CHALL und RAUCH
GROSSES SCHAUSPIELHAUS DIREKTION : H. v. WOLZOGEN
Guasy Holl / Paul Graetz / Joachim Ringelnatz / Aimemarie Haae / Gregor Ratoff
Am Fliigel: SPOLIANSKI / Konzert 7V 2 / Beginn 8V2 / Kapelie LEONIDOFF
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BERLIN/Ecke Friedricnstratfe und Mittelstrafie
TELEPHON: ZENTRUM 4086
Das Tage-Bucti / Heft 3 Jahrg. 2 / Berlin, 22. Januar 1921
thomas wehrlin ASSESSOR WEHRHAHNS ENDE
Berlin, Mitte Januar
flerr Assessor von Wekrkakn sollte in diesen Tagen akgesckairt
weraen. Er war Amtsvorsteker una. ist kei semen Lekzeiten von Ger—
hart Hauptmann so kesckrieken worden: „AA?ekrkakn ist gegen vierzig
Jakre alt und tragt ein Monokel. Er mackt den Eindruck eines Land-
junkers. Seme Amtstrackt kestekt aus einem sckwarzen, zugeknopiten
Gekrock und koken, uker die Beinkleider gezogenen Sckaftstiefeln. Er
sprickt nakezu im Fistelton und kerleil?t sick militanscker Kurze lm Aus-
drucK . In kunderten preu&scken Amtslokalen kat er gelekt. Jeder von
una kat dieses Monokel geseken, jeder diese Fistelstimme gekort, jeder
die militariscke Kurze knirsckend ertragen. Beilaufig: Das Bemerkens-
werteste an Hauptmanns pragnanter Personalkesckreikung ist nickt das
Monokel, nickt der Jagowscke Telegrammstil, sondern die Fistelstimme.
In diesen scknarrenden Kommandeuren lekte namlick eigentlick ein sekr
remimnes Element, das kam ort nickt nur in der Fistelstimme zum
Durckkruck ....
Der Mann, der den Assessor von Wekrkakn aus der Welt
sckarren wollte, ist der preu&scke Minister des Innern Herr Severing,
lir kat lkn mit einem ErlaK erscklagen wollen, mit emer V errugung gegen
das Emglas :
Xrotz meiner versckiedenen rlmweise ist es mir aurgefallen, dal?
em Teu der okeren Beamten der Sckutzpolizei immer nock Ein—
glaser tragt. Da dies zweiiellos in den weitaus meisten Fallen
aur au(?erlicken Grunden kerukt, nickt aur einseitiger Augensckwacke,
ersucke lck daraur kmzuwirken, dais diese unzeitmal?ige Gewoknkeit
in Zukunit unterkleikt. Gerade ]etzt kat der Polizeikeamte mekr
als je um Dasein und Anerkennung zu rmgen. Dieses Bestreken,
das sick nur aui Pflicktgeiukl, Wissen und Takt stutzen darf, wird
durck Auswucnse der oken erwaknten Art, die auck in der
ernst gesinnten Beamtensckart die gekukrende Beurteilung finden, in
kockst nackteiliger ^Weise keemtracktigt. Soweit sick die ketreffenden
okeren Beamten daraur stutzen, dai? sie tatsacklick mit einem ein-
seitigen Augenleiden kekaftet sind, wird erne sckarfe Nackprufung
ikrer vollen Polizeidienstfakigkeit durck den keamteten Arzt ein-
treten muss en.
Ick uxuS von jedem Beamten erwarten, dal? er in diesen sckweren
Zeiten unter Aussckaltung jeder AutferKckkeit seinem Berufe mackgekt
und demgemal? vom Tragen des Einglases aksiekt.
(fez. Severing.
65
w/aa soil dcr Typus Wekrkakn okne Einglas? Em Gesickt, das
janrzekntelang daran gewoknt -war, den Sckerben in die Augenkokle zu
klemmen, kann sick nickt plotzKck wieder zu seinem naturncken Gesickt
kekekren. . Der Herr Minister des Innern, der das Autfere des preumscken
Beamtcn reformieren will, iibersiekt, dai? das Monokel seinem Trager
weniger als Augenunterstutzung vielmekr als M a s k e notig war. Durck
das Einglas ernielt das Gesickt des kokeren Beamten eine Verzerrung,
eine Erstarrung, die das Gesickt der Beurteilung des Untertanen entzog.
Unmoglicn, in dem nack oken verscbobenen Gesicbt nut aufsteigender
Mepkisto-Augenkraue zu lesen wie in anderen Antlitzen. Eben dies aber
katte der autoritare Beamte notig : den Ansckein der UndurckdringKckkeit.
Indem Herr Severing das Einglas dem Assessor von AiVekrkakn aus der
AkVange scklagt, ist er kemukt, dem preutfiscken Beamten sein naturKckes
Gesickt wiederzugeben. Wekrkakns Anwalte werden einwenden: Der
Typus ^A^ekrkakn musse sick von innen aus wandeln, mckt von aufsen.
Stimmt. Aber ^ic innere Wandlung gekt leickter vonstatten, wenn
die auf?eren Zeicken des Macktdiinkels fortfallen mussen.
Wekrkakns Anwalte finden, der Minister des Innerri ubersckatze
Aui?erkckkeiten. Aker Herr Minister Severing kann sick fur seine Auf~
fassung auf das Gutackten eines grotferen Ministers berufen, der die
seekscken Zusammenkange zwiscken Augenglas und Personlickkeit sekr
sckarf formuliert kat. Am 5. April 1830 sagte Goetke zu Eckermann:
„Es mag eine Wunderlickkeit von mir sein, aber ick kann es emmal
nickt uberwinden. Sowie ein Fremder mit der Brille auf der Nase
zu mir kereintntt, kommt sogleick eine V erstimmung uber mick, aer ick
meat Herr werden kann. Es gemert mien so sekr, daf? es em en groKen
Teil meines Woklwollens sogleick auf der Sckwelle kinwegmmmt und
meine Gedanken so verdirbt, dal? an eine unbefangene naturkeke Ent"
wicklung meines eigenen Innern nicnt mekr zu denken ist. Es mackt
mir immer den Emdruck des Desobkgeanten, ungefakr so als wollte ein
Fremder mir bei der ersten Begegnung sogleick eine Grobkeit sagen. Ick
empfinde dieses nock starker, nackdem ick seit Jakren es kabe drucken
lassen, wie fatal mir die Bnllen sind. Kommt nun ein Fremder mit
der Brille, so denke ick gleick: er kat deme neuesten Gedickte nickt
gelesen! — und das ist sckon ein wenig zu seinem Nackteil; oder er
kat sie gelesen, er kennt deine Eigenkeit und setzt sick daruker kmaus
und das ist nock sckkmmer. Der einzige Mensck, bei dem die Brille
mick nickt gemert, ist Zelter; kei alien Anderen ist sie nur fatal. Es
kommt mir immer vor, als sollte ick den Fremden zum Gegenstand
genauester Untersuckung dienen, und als wollten sie durck lkre gewaffneten
Blicke in mein gekeimstes Innere dringen und jedes Faltcken meines alten
Gesicktes erspaken. Wakrend sie aber so meine Bekanntsckaft zu
mack en sucken, storen sie alle billige Gleickkeit zwiscken uns, indem sie
mick kindern, zu meiner Entsckadigung auck die ikrige zu macken. Denn
was kabe ick von einem Menscken, dem ick kei semen mundlicken
Aufierungen nickt ins Auge seken kann und dessen Seelenspiegel durck
em paar Glaser, die mick klenden, versckleiert ist."
66
Die Brille als Maske — der Goetke"scke Einwand gilt nock viel
mekr vom Einglas, weil die Brille die Zuge dca Geaicktes wenigsten*
nickt verandert, das Monokel aker versckiekt die Proportionen lm Antlitz,
ea verandert die Symmetric des Gesicktes willkurkck, es verhindert dem
Andern, seeliscke Vorgange im Auge und Antlitz des Monokeltrager*
zu lesen. Eckermann, das Ecko, erganzte Goetkes AVorte durck die
„artige Bemerkung \ dais die Brille lkren Xrager dunkelkart maeke. Das
gilt nock mekr vom Einglas, weil ea das Gesickt der personmziertem
Autoritat dem preutfiscken Untertan ganz entruckt. Deakalk kann Herr
von Wekrkakn okne Monokel nickt weiterleken. Herr Severing kat
den Typui Wekrkakn totlick getroffen.
Robert mCller DEUTSCHLAND UND DER MENSCH
1. Die Luge Mensch.
Die Luge Mensch ist natiirlich eine Luge des abstrakten Men-
schen; ihr Gegensatz zwar nickt die Wahrheit Mensch, wohl
aber die Wirklichkeit Mensch. Leonhard Frank hat beteuert
„der Mensch ist gut", Es war die einzige Rettung aus der Ver~
zweiflung des Krieges. Andere haben daraus gelernt, indem sie,
als einzige Rettung aus der Hybris der Revolution, antworteten
„der Mensch ist nicht gut".
Auch das kann man nicht sagen. Man kann hochstens sagen,
der Mensch ist nicht gut. Auch „der Mensch ist gut" scheint mir,
an der Wirklichkeit Mensch gemessen, noch negativ. Der Mensch
ist gut, wirkt wie eine saure Traube. Es will doch nur besagen,
daf? er einfach zu schwach ist, das Bose zu ertragen. Zu schwach
vermoge seines Geistes. Das Tier tut den Schmerz. Es genietft
sein Tun. Der Mensch geniefifc den Schmerz mehr, als er ihn tut.
Und das Tier heult zwar, wenn es selbst Gegenstand des Schmerzes
ist, aber es ertragt ihn. Es rebelliert nicht gegen ihn : durch Geist.
Der Mensch ist, das ist buchstablich alles, was wir von ihm
ethisch behaupten konnen. Denn so klar es ist, dal? der Mensch
auf seiner tieferen Stufe als Masse oder Massenelement nichtgut ist,
so klar ist auch, dal? der Mensch auf seiner hoheren Stufe zwar
nicht gut, aber auch nichtgut ist. Denn er ist jetzt geistig — Giite
ist Geist, jede andere ware Schwache oder Negativitat.
Geist ist allerdings nicht Giite, wenigstens nicht Sentimentali-
tat, sondern guter Geschmack, Reinlichkeitsbedurfnis.
2. Die Rede Mensch.
Das abstrakte Reden ist die Auflosung und Entartung des
politischen Stils und das forensische Reden eine Erscheinung wie
der Journalismus. Der Journalismus wird jetzt endlich eine geistige
Konstruktion bekommen. Man wird Bekenntnishaftigkeit von ihm
verlangen. Er ist also nicht mehr Nachrichtenhandel oder „Gramma~
tik als Geschaft", sondern offentliche Funktioa. Der Journalist
67
sei wie der Deputierte ein Vertreter gewisser Prozesse einer Volks-
seele. Die Sozialisierung des Journalisten bezieht sicK vor allem
auf seine Berufspflicht. Der Druck des Staates auf seinen Unter*-
nehmer oder dessen Beschiankung durch einen Betriebsrat wird
nur soweit gehen, daf? der Journalist seiner personlich gefiihlten
Verpflichtung eher gerecht werden kann als dem Spezialinteresse
des Unternehmers,
Das Ubel des Journalismus, den die eroberische Initiative
des Geistes nach und nacb ergreift, scbeint aber in das Rednertum
auszuwandern. Dieselbe Unbildung, Begabungsmimikry, denselben
Zweckleichtsinn wie nocb dort, begegnen wir schon hier. Die
jungen Leute, die vor zebn Jahren zum Feuilleton oder zum
En t re filet gegangen war en, zum Familienblattroman oder zur
Theaterkritik, suchen heute eine Position als Volksredner. Die
Sozialdemokratie ist das Artefakt einiger starker, schematischer
Geister. Ihr letzter Ritter war Viktor Adler. Nach ihm ist die
Sintflut der Kleinen. Es beginnt die ptolemaische Sozial~
demokratie. Die Partei saugt alle die minorennen unkraftigen
Intelligenzen und gierigen Ehrgeize an und zerfallt.
Die Partei, die unter ibren Grol?en Geist und darum zur
herrschenden Verwaltungspolitik Opposition war, zeigt sicb als
aufbauender Faktor den positiven Aufgaben nicht gewacbsen. Sie
bleibt ein abstraktes Gebilde. Das wird deutlich, wenn man
Aufzuge der sogenannten organisierten Masse neben dieErscheinungs~
formen der bistorisch gewacbsenen Vielbeiten stellt, neben eine
wobldisziplinierte Kompagnie, eine Prozession usw. Der Arbeiter-
haufe, gerade wenn er das Militareske nacbabmt und als „Arbeiter-
bataillon" auftritt, ist unsinnlich, lebensfremd, makaber. In den
Volksformen, die um die Symbole unserer organiscb gewacbsenen
Gesellschaft, Thron und Altar, gesammelt sind, lebt eine natiirlicbe
Rhythmik. Die Skandierung der sozialdemokratisierten Masse ist
beckmesserbaft. Sie ahmt die organiscben Formen nach und es
ist ihre einzige Moglichkeit, vom Abstrakten ins Sinnlicbe zu
gelangen. Auch die Partei ahmt nach. Es hat sich gezeigt, daJ?
die Sozialdemokratie, wo sie nicht geistreich und op position ell,
sondern praktisch arbeiten soil, einfach eine burgerliche Partei ist.
Dabei war die groi?e Enttauschung zu verschmerzen, die wir alle
an der Uberwindung der Burokratie erleben mutften. Besser gesagt,
an der Nicht~Uberwindung, noch besser, an dem Nicht~uberwunden~
werden-konnen der Burokratie, Wir haben alle gehofft, dal? der
Burokratismus des deutschen Volkes gematfigt, fassoniert und urban
gemacht werden kann, und zwar durch den Herrschaftsantritt der
Sozialdemokratie. Die Hoffnung hat sich nicht bewahrt. Unser
Volk kann den Burokratismus nicht entbehren. AkVir sind nicht
in der angenehmen Lage Englands, das von vornherein einen
gematfigten Burokratismus und ein geschultes Rednertum hatte,
weil es seit Jahrhunderten politisiert ist. Wir kennen nur die
63
Extreme, den Burokratismus und, wenn die leere Opposition ihn
ersetzen soil, die Demagogic Die Riickstandigkeit an Schulung,
wobl aucb das Defizit an politischer Energie des einzelnen lassen
sich nicht in wenigen bosen Jahren, auch nicht durch eine geniale
Niederlage wettmachen.
Was aber unser Ungliick besonders zu verlangern scheint,
das ist die Dekadenz der sozialdemokratischen Partei, die wie ein
vertrockneter Geistscbwamm auch die minimalsten Feuchtigkeiten
und geist'ahnlichen Diinste aus den Grenzscbicbten zwischen
Massenmenscbbeit und Schichtungsmenschheit aufsaugt.
Hierzu gehoren die jugendlichen Volksredner.
Und der Mittelpunkt in deren Leistung ist allerdings die
Liige Menscb.
3. Die Abstraktion Menscb.
Wir wollen darum nicbt eine neue und nur andere Rede-
iibung iiber den Menscben aufsetzen, zumal wenn wir den
abstrakten Cbarakter der neueren deutscben Politik eingeseben
baben, urn ibn zu vermeiden.
Die gesamte neuere deutscbe Politik bat es sich mit den Sinnen
der zivilisierten Welt verdorben. Sie erwarb sich, dem Reiche
und dem Volke Veracbtung und Mitfverstandnis. Ibre Ziele waren
mebr strebsam als heroisch, die Anstrengung mehr sklavenhaft
als berkulisch. Das Unansehnliche und Unanschaulicbe, das heif?t
das Abstrakte im Geschmackssinne — das billige Industrieprodukt —
und das Abstrakte im seeliscben Sinne — Pflicht, der soldatisch-
kommerzielle Imperativ, die Betriebspbilosophie — sollten der
Welt aufgezwungen werden. Das Sinnlicbe des deutschen politiscben
Menscben erschopfte sich im Parademarscb und im Industrie-
artikel. Dazu kam, daJ? diese Politik von Menscben gemacbt
wurde, die nicbt „gut ausschauen", und dal? sie ebensolcbe Menscben
wieder erzeugt. Die deutscbe Politik war eben eine abstrakte
Politik, eine Politik der Reste, der menschlicben Reste. Diese
Politik batte die konkreten Auf gaben versaumt : 1. die Durch-
politisierung der Bevolkerung, 2. die grotfe Kolonie, 3. die Schaffung
eines zivilisatoriscben Typs. Alle drei Aufgaben baben sowobl
die engliscbe als franzosiscbe und balbwegs sogar die italieniscbe
Politik gelost. Die deutscbe Politik wollte iiber das von andern
scbon geleistete Sinnlicbe gleich ins Abstrakte binausgeben, indem
sie jenes beleidigte. Das racht*sich.
Darin bat aucb die Revolution keine Anderung gezeitigt.
Titaniscb war scbon der Versucb der vorrevolutionaren ab-
strakten Politik. Muskelstark und im Verbaltnis zum Erreicbten,
ja zum Erreicbbaren ubermafSg war erst recbt die Revolution. Aber
sie bat das Abstrakte vermebrt und bat nur den Rest vom Reste
zu verwerten gesucbt. Scbon der Parademarscb, als Um und Auf
einer Volksastbetik, mutfte im gescbmackvollen Westen abstrakt
69
anmuten. Das Arbeiterbataillon, cine schlechte Kopie ohne Farbe
und Rhythmus, um wie viel mehr. Vom Industrieartikel des
deutschen Unternehmers bis zur angedrohten Massenerzeugung
durch den Massenstaat — war das uberhaupt noch cine Revolution?
Der Deutsche hat, das fiihle ich als Deutscher, eigentlich nur
ein« tragische Schuld: den Mangel an Geschmack, die Unter~
•ch&tzung des Sinnlichen; die Uberschatzung des Miihevollen, der
Anstrengung, der Bekampfung alien Schonheitsdranges, der in
einem Anfalle von Ubermannlichkeit als weibisch gilt, ebenso wie
der natiirlichen poetischen Regungen. Die Deutschen sind in der
grotfen Masse ein geschlechtsloses und sehr unerotisches Volk;
in ihrer OberscKicht sind sie einseitig mannlich. Die Schule lehrt
nicht Schonheit, eondern die monchische Abhartung der normalen
organischen Triebe. Die Erziehung des Couleurstudenten, des
Sold a ten, Offiziers, Beamten und zuletzt des — erzeugenden und
reiscnden — Kaufmannes setzt diese kasteiende Schulung fort.
So hat ein Volk sich selbst den Geschmack wie den leibhaftigen
Gottseibeiuns ausgetrieben. Eine Reminiszenz des Mittelalters ?
Oder die Absurditat des unmatfig Mannlichen, das seine Potenz
abstrahieren will ? — In allem andern, dem Rest, ist der Deutsche
neben dem Russen und Chinesen das begabteste Volk des Erdballs.
Elcganz freilich ist kein BegrifF aus einem ersten Schneider-
salon. Sie ist sinnliche Leichtigkeit und schimmert auch durch
einen schlechten Rock. Der schlechte deutsche Rock aber ist
schon die deutsche Haut. Was hat man nicht in Saint Germain
iiber die Deutschen gelacht! Mit Recht, denn die deutschen
Revolutionare sind garstiger als die deutschen Junker. Welcher
Unterschied etwa zwischen einem der eleganten englischen Arbeiter-
fiihrer und den deutschen SpieJ?biirgergestalten der deutschen
Revolution ! Die amerikanischen Arbeiterfiihrer vollends, sofern
sie sich nicht malerisch aufhauen, um auf die vielen italienischen
Proletarier zu wirken, und auch sie sind malerisch-statuesk —
die amerikanischen Arbeiterfiihrer sehen aus wie smarte Kapitalisten.
In Deutschland glaubt man viel an den Sieg der Proletariervisage
und an das, was aus ihr kommt, vom Kraftausdruck bis zum
Gemeinplatz. Da ist es denn kein AVunder, datf selbst Manner
wie Snowden und Henderson es sich solange uberlegten, die Inter-
nationale anzuerkennen. „Gut ausschauen", das hei#t sinnlich
annehmbar sein, bedeutet jenseits des Rheines konkret sein. Diesen
Mangel verbessert auch nicht, daf? die deutsche Sozialdemokratie
ebenso wie das Burgertum den entsprechenden englischen Gebilden
an abstrakter Intelligenz und an Wiseen um ein Sechsfaches
iiberlegen sind.
Da# ist der Mensch des AiVestens: ein Konkretes. Und das
ist der Men#ch des heutigen Deutschtums ; ein Abstraktes. Er
war abstrakt unter der Monarchic und er ist abstrakter nach der
Revolution. Alles and ere ist nur die Folge solcher Anlage oder
70
Bildung, Militarismus, Spartakismus, die Mensch-Ideologie aus dcm
Kaffeehause, kurz die Luge Mensch — — —
Ich wiirde gerechter sagen : die Abstraktion Mensch, und ihr
die Forderung nach dem sinnlichen Menschen auf dem Futfe folgen
lassen.
Es entspricht wohl auch dem Bilde von der „Messiasidee'\
die sich im deutschen Radikalsozialismus em Ventil schaftte, wenn
ich hinzufiige, dal? durch den starken jiidischen Einschlag ins
deutsche Geistesleben die lasterhafte Abstraktheit noch eine weitere
Vertiefung erfahren hat. Das jiidische Volk, alt, physisch ausge~
sogen, durch Ghetto in seinen Instinkten geblendet, uberreizt, leidet
im allgemeinen an schlechten Nerven. Es zeigt heute eine paranoide
Schiefheit. Die Irrenhauser sind voll mit geistig schonen, schon-
geistigen, oft genialen Juden. Aber man erwischt sie nicht alle.
Uberlegen, wie sie sind, entkommen sie dem Psychiater in die
Literatur oder in die Politik — wenn nicht in die Psychiatric Die
deutsche Revolution wimmelt von diesen gefahrlichen, begabten,
hypochondrischen, aber unzurechnungsfahigen, jungen Juden. Diese
Fuhrerschaft wird nie besser machen konnen, was die alte schlecht
gemacht hat. Entwurzelt und doch fremd* tragisch und doch
nicht voll, wird diese neueuropaische Menschenart zur Fatalitat.
Zur rechten Zeit hat sich dem ermiideten Judentum aus ihm selber
ein Antitoxin gebildet, der judische Nationalgedanke, die Palastina-
idee, die Auf zuchtpolitik, das Hygieneideal aus Amerika. Als
Eugeniker, der ich systemlos bin, bin ich von dieser Erscheinung
begliickt. So sehr ich den weisen jiidischen Kleriker und den
energischen, praktischen Rassepolitiker des Judentums einschatze,
so menschheitlich fruchtbar mir diese Richtung scheint, so ab~
schreckend in ihrer geistigen Entartung, weil Entsinnlichung des
Geistes, diinkt mich die judische Fiihrerschaft der mitteleuropaischen
Massen. Das deutsche Volk hat nichts Gutes eingetauscht, wenn
es an Stelle mannlicher Monomanen ohne Sinnenschwung diese
hybriden Geschopfe derselben abstrakten Manie iiber sich gesetzt
erhalt. Das Pathologische im Deutschtum ist Jdurch sie starker
hervorgetreten. Man konnte hochstens fragen, ob das deutsche
Volk etwas anderes verdient; denn seltsam genug ist dietfe Wieder*-
holung des Gleichen im Gegensatz.
Schon der Marxismus ist pathologisch, weil einseitig, unsinnlich,
unpsychologisch. Zwischen Bernhardi und Marx mochte ich fur
meine Person, aber als Deutscher nicht wahlen, Beide sind einander
ahnlich in ihrem Mangel an Psychologic der sonst gar nicht die Art
des Deutschen ausmacht, wie unsere Literatur beweist! Aber ein-
mal hat auch die deutsche Literatur solche Burschen gehabt,man er-
innere sich an Gottsched und Opitz. Da ging alles uber den Leisten.
Es gibt vielleicht hinter dem menschheitlichen, goetheschen, schopfe-
riscben, deutschen Volk so einen breiten Bodensatz unfrommen,
ameisigen, unsinnlichen Deutschtums. Haben wir aber Anlai?, gerade
71
diesen auf kommen zu lassen ? Sollen wir nicht vielmekr die Politik
des zeugenden, sckopferiscken Deutscktums macken, auck wenn
Reick, Rcpublik und Zentralismus uns so dakingeken wie die
Monarckie ?
4. Die Politik Mensch.
Der JMenscb" unserer mittleren, enttauschten, abermals um die
Geistesherrschaft in Deutschland geprellten Dichtergeneration ist
ein Wunschtraum. Warum sollen die Dichter nicht wunsch~
traumen ? Es war immer ihre Auf gate. Ihr mildernder Einflul?
kann nur niitzen. Aber es ware ein Fehler, sie sicb schon darum
als Politiker betrackten zu lassen.
Auch die moderne und forts chrittliche Politik stellt heute den
Menschen" in die Mitte ihrer Absichtswelt. Aber sie verstebt
darunter ein kenkretes, sinnlicb wabrnebmbares Ideal. Die Politik
Menscb ist nicht eine Luge Menscb. Sie fordert das Ganze vor
den Teilen. Sie denkt im Globus — nicbt einmal mebr in Kon~
tinenten, wie der vorletzte Forts cbrittspolitiker es gefordert batte.
„Mensch" ist ibr weniger ein vom gesellscbaftlicb Formalen ge-
lostes Ideal, sondern ein durcbaus politisches Pflicbten*- und Frei-
heitssubjekt, der Menscb der Erde^ der Erdindianer.
AVann wir Deutscbe, zum Rest und darum immer zum gei-
stigen Rekord verurteilt, beute nocb etwas scbaffen wollen, so
darf es gleicbwobl nicbt ein abstraktes Dogma sein, eine plato~
niscbe Idee vom Menschen, sondern ein politiscb konkretes Werk.
Es sind viele Organisationen supra-staatlicher Art moglich, die den
territorialen Imperialisms iiberfliissig macben. Der deutscbe Im-
perialisms in seiner edleren Form war uiemals gewohnlicher Land-
oder Kapitalhunger, er bat eigentlicb nur in seinen materialistiscben
Metboden und unzulanglichen Charge's d'affaires versagt, in den
sinnlicben Mitteln, im Unanscbaulicben seines Betriebes; seine Er~
regung batte edle, gemeinnutzige Akte. Obne dal? wir von unserm
starken, aller Welt Uberlegenen, eroberiscb berecbtigten Geiste aus
Askese treiben miif&en, konnen wir mit einem vollkommenen Ver-
zicbt auf eine Staatsgeschichte, Reichsidee usw. weltumspannend,
werderi. Ich erinnere an den Plan einer konventmafsigen Zusam-
menfassung des iiber die Welt in fremdspracbige Zivilisationen
diasporierten Deutschtums.
Unsere deutscbe Aufgabe wird immer unserer Anlage ent*-
sprecben mussen und um eine Nuance abstrakter sein als die
anderer Nationen. Heute drobt sie uns zu scbematisieren, uns zu
einer erdfernen, fixsternbewohnenden Karrikatur : Menscb, also zu
einer Luge Menscb fur die ^Virklicbkeitsnaben zu macben. Und
diese bewohnen den Erdball in der Uberzabl. Sie seben die
deutscbe Physiognomie als verschwommen und hatflich, insekten-
baft, marsbewohnerahnlich. Ibre Instinkte sind es, vor denen wir
zu Unrecht besteben.
72
AVir sind starker in der Abstraktion als alle anderen. Aber*
das hat sicb gezeigt, eine Politik obne, man mocbte sagen, kos~
metiscbe Aestbetik, eine rein moralistische Politik wirkt unpolitiscb.
Die Kraftanstrengung des Deutscben war seit je enorm. Aber sie
brachte nicbts Gefalliges bervor, keinerlei Eleganz, keine zivilisierte
Scbonbeit, das beweist, dal? sie nicbt enorm genug war. AVir
miissen uns nocb um einen Atemkniff mebr anstrengen — aber
webe, wenn wir ibn merken lassen, wenn wir wieder vor aller
^Velt zu transpirieren beginnen !
In der abstrakten Ricbtung des Deutscben liegt die Organi-
sationsidee des Geistigen. Icb verweise auf den Aktivismus. Akti-
vismus, was ist das? Genau, was das Wort im pragnanten Aus-
maf?e sagi : Handeln. Tun, was man denkt, und bandeln, wie man
denkt. Das aber ist .aucb der Inbalt aller anderen Parteien ? Ja.
Es kommt also beim Aktivismus docb nicbt darauf an* da!?, was
bebandelt aucb gebandelt werde, sondern darauf, dal? ricbtiger und
scbarfer, ausgreifender und kosmetiscber gedacbt werde als in den
anderen politiscben Medien. Kosmetisch . . . Aktivismus ist : ricbtig
und bescnwingt denken in politicis.
Das Gute und das Scbone sind eine Oekonomiefrage uber die
Anstrengung. Sie wird hier neu beantwortet. Bis jetzt sind nur
Experimente vorbanden in Wien, Berlin, Miincben und einigen
deutscben Mittelstadten. Von den zwei Formen einer anderen
Einteilung der Politik verwirklicbt der Aktivismus mebr die
teleologiscbe als die syntbetiscbe. Teleologen sind die Bolsche-
wiken. Lenin aber ist syntbetiscb. Syntbetiscbe Politik bedeutet
den Sieg einer teleologiscben Minoritat mit alien Mitteln (Rutland)
iiber die Majoritat oder eine Angleicbung der Majoritat an die
scbopferiscbe Minoritat (westlicber Zivilisationskreis). Die Akti-
visten sind naturlich Teleologen. Aus ibnen kann aber eine Gruppe
der Syntbetiker bervorgeben, das beitft praktiscber Politiker mit
den Ideen des Aktivismus. Der Publizist, der scbreibende Poli-
tiker, der (Reform)-Journalist gewinnt um so mebr Einfhu? auf das
politiscbe Leben, je mebr der Parlamentarismus versagt, die balb-
scblacbtigen Naturen und Konner aus dem Journalismus in die
Demagogie eintreten und deren Dekadence bescbleunigen.
Das Ratesystem, von dem an Stelle der dekadenten Abgeord-
netenparlamente die Zukunft zu erwarten ist, macbt ja das Parla-
ment universell; aber an die Stelle der Deputatur, der Abgeord-
netenberrscbaft, tritt die vermebrte psycbiscbe Wirkungsmoglicb-
keit des Publizisten, des ausgewablten, aufgeziicbteten, Organ ge-
wordenen Literatoren (wie ibn Kurt Hiller nennt). Die Aktivisten,
aucb wenn sie keine syntbetiscben Vertreter bervorbringen und
nur Teleologen bleiben, werden vermittels des starken, kunstvoll
gebobenen Wortes durcbdringen, und die politiscbe Klangfarbe des
Jabrbunderts bestimmen. In den Bereicb des Aktivismus fallt die
Bestrebung, alle geistigen Menscben obne Unterschiede der Nation
73
oder Rasse zu elner engeren publizistischen Gemeinscbaft gegen-
uber der planetariscben Gemeinscbaft der materiell bewegten
Massen zu sammeln. Das ist eine 6ebr abstrakte und darum
deutscbe Aufgabe; sie mul? aber sinnlich annebmbar geleistet
werden, von f ormliebenden und beitfen Menscben, Typen einer
scbopferiscben, literariscben Eleganz. Icb versprecbe mir viel davon
fur das ins Graulicbe abstrabierte Deutscbtum.
Die Luge Menscb glaube icb eber an den ^Vestlern wabr-
zunekmen, weil sie so sinnlicb sind, da(? sie das Begrifflicbe schon
schwer erfassen, und wo sie es prarogieren, sicb und andere
tauscken. Sie begreifen nur einen ganz bestimmten bis zur Voll-
kommenbeit ausgeriisteten Menscben, etwa den engliscben Gent-
leman. Die Luge Menscb des Deutscben bingegen ist die tatsacb-
licbe Abstraction Menscb. Er unterscblagt die Form, oder, was
dasselbe ist, pbotograpbiert in ibr unorganised ein abstraktes Ideal.
So entstekt dann aus Kant der Parademarsck, aus Zuckt der Drill.
Das Sckwellende, Pkysiscke, Fleiscklicke, Irdiscke, das der engliscke
Gentleman bei aller Kodexsckwarmerei pflegt, ist vom deutscken
Denken aufgezskrt. Der Gentleman besitzt nock das Bekaglicke,
der deutscke Zuckttyp niemals. Dieser kat keine Spielraume, jener
kat gerade sie kauptsacklick. Der Deutscke kat Tritt, der Englander
Takt. Natiirlick ist der Englander, der die ganze Welt fur sick
kat, iiberlegen. So wenig wie die Pkotograpkie von Ideen Politik
bedeutet, so wenig die Versinnbildlickung einer Abstraktion ein
sinnlickes Ideal.
Ein solcker Mensck wird Liige sein, und alle Welt wird ikn
als Liige empfindsn. Und unser Mensck kat sick durck die Re-
volution nickt geandert. ^Vakren wir also den, den die sinnlick
Gesteigerten unseres Gescklecktes in sicb tragen.
CARL LUDWIG SCHLEICH ARAGO UND LAPLACE
Arago war kei dem Sternpropketen,
Monsieur Laplace, zu Tisck geketen,
Horte staunend den Welt allkez winger,
Wic mm das Vv under so unter dem Finger
In die simpelste rClarkeit zerrann.
^^elck ein gewaltger, groKmack tiger Mann !
Als nun verstummte der gottgleicke Weise
Flustert Madame Laplace ganz leise :
„Gikst Du mir keute den Scklussel zum Zucker?
Arago dackte : „So*n geiziger Mucker !
74
dr. wilhelm fliess DER LETZTE LEBENSBLIT2
,,Wie oft aind Menschen, acbon dea Todea Raub, noch froHlicn worden !
Ihrc Warter nennen's den letzten Lebensblitz . . .'" , (Romeo, V. 3.)
Es geniigt nicht, neue Wahrheiten einmal auszusprechen. Denn
der Verstand allein ist doch ein gar 2u enges Tor fur neuen
Zuzug zum menschlichen Bewutftsein. Unser Gemiit mu# erschiittert
werden, damit wir aufhorchen.
Also bitte;
Da stirbt jetzt Bethmann-Hollweg, der stille Herr von
Hohenfinow. Nach kurzem Leiden mit 64 Jahren. Aber noch
am Weihnachtstage unmittelbar vor seiner letzten Krankbeit bat
der ernste schwermiitige Mann „lustig getanzt". Das menscblicbe
Mitgefubl empfindet solcben Kontrast als tragiscb. Aber es weif?
nicht, was dieser Totentanz bedeutet. Denn man will ja nicbt
glauben, dal? solch innerer Aufschwung notwendiger Teil eines
jeden biologiscben Niederganges ist. Docb so will's die
Natur. Gleich gilt ihr, ob der Aufscbwung Stunden dauert oder
Tage, ob er ein blotfes Uberwohlsein oder Leistungen hervorbringt,
in denen die Nacbwelt einen JSchwanengesang erlauscbt. Nacb
den heitersten Scbnurren an der Mittagstafel starb Luther, mit
der Oberon-Ouverture ging Weber, mit der Polonaise in As-dur
Chopin in den Tod.
Aber nicht vom Tod allein handelt dies Gesetz, denn es besagt :
Wo immer die Natur einen Markstein setzt auf der biolo~
gischen Stratfe, inmitten oder am Ende unseres Lebensweges, den
wir vom inneren Mechanismus getrieben „ablaufen" — da fiibrt
ein Anstieg zu diesem Merkpunkt. Der gehort zu ihm wie der
Berg zum Tal. Und ohne Riicksicht auf die Steilung des Ab-
stiegs. Man kennt dieses trugerische Wohlbefinden nur in einem
einzigen Schulfall. Dort heif?t es Euphoric Und das Neuland
hat von dieser ersten Kiiste den Namen erhalten. Denn Euphorie,
— „le mieux de la fin" nennen sie unsere Nachbarn, — ist heut
um Gewaltiges mehr als dieses letzte Aufflackern subjektiven
AVohlseins im septischen Tode.
„Achtzehnjahriges Madel. Vollkommen bei Bewutftsein, Mochte
aufstehen, spazierengehen, halt sich fiir ganz gesund. Und dabei
der Puis nicht mehr zu zahlen. In einer Stunde kann's aus sein" ,
so schilderts ^Professor Bernhardt" im Drama Schnitzlers, der
selbst Arzt war. Und spricht auf die Frage des Pfarrers: Ich
finde die Kranke wohl noch bei Bewuftsein ? ,Ja. Man konnte
sogar sagen, bei gesteigertem Bewutftsein. Es ist absolute
Euphorie bei ihr eingetreten. Sie befindet sich sozusagen wohl . . .
75
Sie ist verloren. Aber sie glaubt sich genesen." Denn was hier
den Arzt immcr von Neuem erschiittert, ist nur die besondere
Wirkung eines allgemeinen Naturgesetzes. Biologisches Schicksal
trifft nur zu biologischen Terminen ein. Die aber verlaufen in Peri*
oden und zum periodischen Tag gehort die Euphoric Ganz all*
gemein und was immer er bringen mag. Denn wir wissen es langst„
dal? auck die Psyche den Rhythmus des Korpers hat.
Als Davy die Natur der Alkalimetalle festgestellt hatte*
verfiel er in eine schwere Krankheit. Sein Geist und Korper
litten darunter gleichma£ig. Kaum hatte Jul. Rob. Mayer seine
beriihnite Schrift „Uber das mechanische Aequivalent der Warme"
beendigt, als er in ein em Anfall von Delirium aus dem Fenster
seiner 'Wohnung sprang. Eine schwere Verletzung war die Folge*
und bald darauf kam eine Gehirnhautentzundung. Michael Faraday
brach nach Vollendung seiner ersten gewaltigen Arbeit zusammen.
Seitdem ist er nur vorubergehend wieder in die Hohe gekommen.
Fritz Reuter sagte, die Freude sei sein gefahrlicher Feind. Denn
wenn er sich so recht behaglich und lustig fiihlte, so kam der jahe
Um schlag, der „Feind" riickte vor, der periodische Trinkzwang
begann, und damit alle Leiden, die das Quartalssaufertum so
grausam begleiten.
Und die Euphorie ist an keine Lebenszeit gebunden. Sie ist
im Alter nur durch den Gegensatz auffalliger. Auch der Jugend
wachsen die euphorischen Schwingen und Georg Herrmann ist
mit seiner tiefspiirigen Auffassung der Fruhverstorbenen durchaus
im Recht. Ihre ganze fruhe Entwicklung ist in der Tat eine
einzige Euphorie, in der sie restlos alles hergaben, was ihnen ver~
liehen war. Dann kommt der notwendige Schlul?.
Und dieser krasse periodische Tag, der das tiickische Schwert
plotzlichen Todes im Gewande verbirgt, fuhrt oftmals den
Schlag mit dem bezaubemden Lacheln der strahlenden Euphorie.
Fragt man die Sprache, so sagt sie: Eines schonen Tages traf
ihn der Schlag. Nicht eines bosen Tages, wie man eigentlich voraus-
setzen sollte. Der Tag war wirklich schon, ehe das Unheil kam.
Therese Devrient erzahlt in ihren ,Jugenderinnerurigen", wie
wohl ihrem Schwiegervater vor dem Tode war. Und da die Er*
zahlung typisch ist, so darf ich die anschauliche Schilderung hier
*uitteilen :
,,1836 (am 7. Marz) wurde ein neues Stuck, „Die Leib*
rente" von Maltitz, einstudiert und erregte des Vaters hochstes
lnteresse, da „sein Eduard" eine brillante Rolle darin spielen
sollte. Mit wahrhaft jugendlicher Ungeduld konnte er kaum
den Abend der Auffuhrung erwarten, und Eduard sah das
76
gespannte, aufmerksame Gesicht seines Vaters gleich beim
Auftreten hell und vergniigt zu ihm emporschauen. Manchen
Satz sprach er lauter und scharfer, urn sich dem alten Herrn
verstandlicher zu machen. Am nachsten Morgen — wir safen
recht vergniigt am Friihstiick — wurde die Tiir aufgerissen,
und der Stiefelputzer stiirmte mit den Worten herein : „Herr
Devrient, erschrecken Se nich, Ihr Vater is dotT
Wie Eduard sich ankleidete, in die Droschke und in des
Vaters Wohnung kam, ist mir nqch unerklarlich, denn wir
waren alle wie erstarrt. Schluchzend empfing ihn die Haus-
halterin und erzahlte, wie munter und vergniigt ihr Herr aus ,
dem Theater nach Haus gekommen sei, wie er ihr nicht nur
das ehen gesehene Stuck erzahlt, sondern auch vorgespielt
habe und immer dazwischen gerufen: „Das muften Sie von
meinem Eduard sehen f In der Nacht, durch sein Schellen
erweckt, sei sie schnell zu ihm gelaufen. Er hatte das Licht
angeziindet, klagte, er fiihle sicb nicht ganz wohl, und bestellte
Kamillentee. Zitternd und bebend habe sie den Tee bereitet,
ihren lieben Herrn aber nicht mehr lebend gefunden, als sie
ibn ihm bringen wollte . , . Eduard liel? sie laut weinend
und jammernd stehen und ging in des Vaters Zimmer. Da
lag er unverandert, freundlich, als ob er schliefe. Auf dem
Tischchen vor seinem Bette war der Theaterzettel des gest**
rigen Abends ausgebreitet, die Brille lag darauf. Er hatte
vor dem Einschlafen wohl noch einmal den Zettel gelesen.'
So wohl wie dieser „liebe alte Herr"'' mui? sich auch der
Chirurg Dieffenbach befunden haben, als er, auf dem Kutscher-
bock sitzend, mit Peitschengeknall beim Operationssaal in der
Ziegelstral?e vorfuhr, den er lebend nicht mehr verlassen sollte.
Er sank mitten im angeregten Vortrag in die Arme seines Assi-
stenten Langenbeck. Oder Thorwaldsen, der im Theater sein
Haupt auf die Schulter seines Lieblings neigte, um fur immer aus-
zuruhen. Richard W^agner aber hat am Vorabend seines Todcs
dem Arzt in heiterster Laune Anekdoten erzahlt.
Jetzt verstehen wir, warum der Volksglaube davor warnt,
daf? man sein Wohlsein riihmt. Der Neid der Gotter ist nahe.
Und wenn die euphorischen Tage zii Wochen und Monaten
sich summieren, wenn krankliche, schwache, oder greise Menschen
gleichsam noch einen Lenzaufschwung erleben, so stebt auch schon
der Winter vor der Tiir. Ich kann hier ein Erlebnis nicht unter-
driicken, das sich mir in die Seele geschrieben hat. Vor 9 Jahren
traf ich beim Blumenhandler mit Ludwig Pietsch zusammen, der
mich in seiner impulsiven Art umarmte, „Mir gehts iiber Ver~
77
dienst gut, ich bin so frisch und froh wie seit Jahren nicht.
Und wenn ihre Theorie recht hat, lieber Freund, so ist's bald mit
mir zu Ende — es geht mir zu gut!" Meine Einwande balfen
nichts. ,Ja, ja, Sie wollen's nur nicht wabr haben." Die Theorie
hatte wirklich recht, und bald besiegelte der 27. November 1911
ihre Wahrheit mit L. P/s letztem Atemzug.
Im Marz 1910 autferte sich Josef Kainz zu einem vertrauten
Freund : ,Jch fuhle mich so stark wie nur je und so frisch wie der
Fisch im Wasser." Schon nach wenigen Wochen mufee er sich
am Krebs operieren lassen, und im September starb er.
^Vie oft sieht man altere Leute plotzlich auf bluhen, gleichsam
eine zweite Jugend durchleben. Bejahrte Manner verheirateten
sich dann wohl noch einmal, wie z. B. gegen Schluf? des Krieges
der alte Generaloberst von Kessel. Mit welchem Ende, weif? man.
Aber was man gewohnlich nicht wen?, ist, daf? der plotzliche Tod
solcher Leute auch ohne die Heirat gekommen ^vare. Man darf
hier nicht Ursache und Wirkung verwechseln. Sie sterben nicht,
weil sie sich noch verheiratet haben, sondern sie haben sich ver-
heiratet, weil sie spater sterben mufien. Dem Sterben ging die
notwendige Euphorie voraus, die sie zur Heirat trieb.
Gliicklicherweise zerschellt nicht immer gleich die Lebens-
welle nach ihrem machtigen Anstieg. Das Tal heil?t manchmal
Krankheit. die keineswegs die voile Genesung ausschlietft. Und
oft nur Unwohlsein in der mildesten Form des depressiven Tages*
der dem manischen folgt. Jedes Leben fiihlt diesen Wechsel,
manches Schaffen weii? ihn mit plastischen Worten zu kunden.
Max Brod schrieb vor wenigen Wochen im „Tage~Buch" :
,,..'. Fast zwei Jahre lang hatte ich diesen Weltkomplex
in mir umundumgewalzt, immer noch fehlte etwas zur Reife
Nun aber, da es mit dieser Gewalt hervorschol?, fiihlte ich :
Richtige Stunde, Sternenstunde, nun wird es so, dal? ich es
niemals besser zu machen vermochte, ich nicht. — Und nun
die Qual, wenn dieses Gefiihl (unerzwingbar) aussetzt, wenn
ein grauer«Morgen aufwacht, der leer die Hande hinstreckt.
Und die Aufregung, ob der nachste Tag es wenden wird. —
Ja, Leid und Freude genug!"
Ich selbst habe friiher oftmals einen Tag besonderen Schaffens
mit der Migrane des nachsten bezahlt. Besonderen Schaffens,
— denn nicht Wohlbefinden ist Euphorie, sondern Uberwohl-
sein, gesteigertes, unmotiviertes.
Nur bei ihm furchtet der Kundige den Neid der Gotter.
Denn „des Lebens ungemischte Freude" gibt es nur im Elysium,
wo auch die periodischen Tage fehlen und mit ihnen die Euphorie.
78 -
FRIEDRICH HEBBEL Untekannte Briefe
Eingeleitet und mitgeteilt von Julius ScKuater
2) An Wilibald Alexis.
Paris, den 15. Februar 1844.
Geehrtester Herr!
Ihr Brief vom 4. v. M., nach Hamburg adressiert, kam bier in
Paris, wo ich micb seit August aufbalte, in meine Hande. Eigentlich
sollte ich, um gegen das Contre-Tournez, das die moderne Welt in
alien Verbaltnissen beobachtet, nicbt zu verstotfen, mit meiner Ant-
wort aucb ein balbes Jabr und einen Monat warten. Aber ich
gehore zu den Leuten, die scbon desbalb expediert sein miiften,
weil sie das, was sie aufschrieben, ganz vergessen, weil sie sicb
einbilden, es sey zur rechten Zeit abgethan worden, und sie
batten es sicb nur mcht gemerkt, es sey ibnen wieder entfallen.
Wenn Ibnen mein Urtbeil iiber Ibren Waldemar angenehm
gewesen ist, so kann icb Ibnen die Versicherung geben, dal? es aus
meiner tiefsten Uberzeugung heraus gescbrieben wurde. Sie werden
aucb nicbt daran zweifeln. Icb babe gegen den Roman, wie er
sicb gewohnlich zwiscben der Poesie und dem, was man Prusa
nennt, verlegen in der Mitte bait, ein Vorurtbeil und freute micb
desbalb sehr, ibn bei Ibnen zur Selbststandigkeit erboben zu seben.
Icb babe bier in Paris, wie in Deutscbland und in Copenhagen,
wo icb im vorigen Winter Ibr Werk las, scbon Viele auf das-
selbe aufmerksam gemacbt. Gern wurde icb micb aucb offentlich
dariiber autfern, aber icb bin nicbt Recensent, ich stebe mit keinen
einzigen Kritischen Journal in Verbindung und habe im eigent-
lichsten Verstande nicht, „wo ich mein Haupt hinlegeT Dagegen
werde icb meine dritte Tragodie „Maria Magdalena oder: Ein
biirgerliches Trauerspiel" bei der Herausgabe mit einem ausfiihr-
lichen Vorwort begleiten. In diesem Vorwort -werde icb unter
Anderem auf das Verhaltnis, worin das deutscbe Drama zu der
deutscben Geschichte, namentlich zur Kaiser- und Hohenstaufen-
Gescbichte steht, besprecben. Dann werde ich, indem ich diese
Geschichte von vornherein dem Roman vindiciere, ungesuchte Ge~
legenheit finden, Ibres Werks zu gedenken, Es kann freilich nur
in wenigen Worten getchehen, da ich fast die ganze Dramaturgic
abzubandeln habe und meist obnehin sebr kurz autdriicke, aber
wenn die Rede etwas kurzer ausfallt als in einem kritischen Blatt,
ao ist die Kanzel dafur aucb schon.
Uber Siegismund Wiese kann ich mich aber nicht autfern.
Einesteils schon desbalb nicbt, weil mir Christus der Ausgangs-
punkt meiner eigenen dramatiscben Bestrebungen und als solcber
schon in meiner Judith angedeutet ist. Dann bin ich aber auch
uber den Autor anderer Meinung, als Sie zu sein scbeinen. Ich
habe freilich nicht seine letzten, jetzt erst erschienenen, beiden Dich~*
tungen gelesen, wohl aber manche der fruheren, und babe immer
79
einen tiefsinnigen, hin und wieder originellen Denker, selten aber
Spuren eines Dichters gefunden. Namentlich schwebt mir noch
sein Don Juan und Faust vor und icb erinnere mich nocb eines
Gesprachs, das ich mit Weinberg in Campe's Buchladen dariiber
fiihrte. Nacb meiner Ansicht sind aber diese Erscheinungen die-
jenigen, die alles Urtheil, das nicht auf dem in asthetischen Dingen
so seltenen selbstsiichtigen Erkennen berubt, verwirren. Auf sie
deutet die gemeine Kritik, die alle Poesie aus der Poesie heraus-
jagen mochte, bin und fragt, was mit solcben Scbatten und Schemen,
die nicht Ideen geblieben, aber nocb viel weniger Gestalten ge-
worden 'sind, anzustellen sey. Ich kann nur andeuten, was hier
Alles zu sagen ware, und vielleicbt sind wir auch gar nicht ver-
schiedener Meinung, vielleicht hatten Sie nur die Eigenthumlicbkeit,
das selbstandige Ringen und Kampfen dieses Autors im Auge, das
ich allerdings mit Ihnen anerkenne und hoher schatze, als alle Hand-
werker-Geschicklichkeit, wenn ich mir auch fiir die Literatur keinen
Gewinn davon versprechen kann, da die gestaltende Kraft entweder
gleich da ist oder nie.
Dai? ich um Ihren Aufsatz uber meine Genoveva gekommen
bin, thut mir doch sehr leid, da ich eben Sie aus Ihren Abhand-
lungen uber Heine und Immermann, denen sich auch jetzt, nach ge-
schlossener Laufbahn der beiden Dichter, wenig oder Nichts hinzu-
fiigen latft, als poetischen Kritiker hoch schatzen gelernt habe. Doch
bezweifle ich sicher nicht, da(? die Angst um ein geliebtes Leben
Ihnen noch ganz andere Dinge aus dem Kopf bringen mul?te. Ich
befinde mich schon seit Monaten in einem, wenn auch nicht
gleichen, so doch ahnlichen Fall, was mir den Aufenthalt in Paris
sehr verbittert und mich eher nach Deutschland zuriicktreiben
wird, als ich gedacht hatte. Die alten Tragiker mussen Recht
haben, der Mensch mull ein sehr ubermiitiges, erregbares Wesen
eeyn, da mit ihm immer, sobald er sich einmal aufzurichten wagt,
einige Qualen auf die Schulter zerlegt werden. Fiir die Courage
der Gotter zeugt das aber auch nicht, datf sie in jedem Riicken,
der sich nicht mehr krummt, den eines Titanen erblicken!
Ich erwahnte oben einer neuen Tragodie. Erlauben Sie mir
iiber diese, die sich seit Neujahr unter dem Titel „Ein biirgerliches
Trauerspiel" in Berlin und in den Handen der Madame Crelinger
befindet, ein Paar Worte, ein Paar vaterliche, wenn Sie wollen.
Ihr Brief, in dem Sie mich auf das Publikum, auf Gensichen und
Immermann hinweisen, bringt mich drauf; ich wiirde, aber auch,
ehrlich sey es gestanden, von selbst darauf gekommen seyn. Es
ist mir ernst mit dem Drama, so sehr ernst, wie es jemals Einem
gewesen ist, und allerdings mbgte ich mir auch auf der Biihne
neben den Fabrik-Arbeitern (wozu ich Jeden rechne, der nicht
aus tiefstem Bediirfnis, also nicht nach Ideen dichtet, denn nur aus
Ideen geht ein Bediirfnis hervor) meinen bescheidenen Platz er-
obern, Ich habe also meinen Moloch, der eigentlich auf die Ge-
80
tioveva folgen sollte, zuriickgelegt und hier in Paris ein Stiick ge~
schrieben, das sich schon vor der Judith in mir regte, und das dem
Publikum stofflich so nahe liegt, dai? es Nichts tut, wenn es die
Ideen, die freilich auch hier zu Grunde liegen, nicht erfatft, denn
das Bild wird auch den noch erschiittern, der nicht erkennt, dal?
im Hintergrund die grotfen Fragen des Familien~Verbands, der
Ehre aus der wahren und falschen Sittlichkeit entschieden werden.
Die Heldin ist schwanger, auch Gretchen im Faust ist schwanger
und Klarchen ist — ; die Behandlung kann nicht zarter seyn und
das Tragische der Situation mull einen Jeden, ausgenommen den
ausgemachten roue, alles Ubrige vergessen machen. So denke nicht
blof? ich, so denken auch meine Freunde, und es sind sehr compe-
tente Personen darunter; ohnehin habe ich da Goethe's Beispiel
fur mich. Aber die Madame Crelinger schrieb mir, dal? sie jenes
Umstandes wegen die Auffiihrung fur unmoglich halte. Ich
habe ihr ausfiihrlich geantwortet, weif? aber nicht, inwiefern
meine Ansichten die ihrigen je modifiziert haben; inzwischen habe
ich von Herrn Crelinger die Meldung erhalten, dai? Herr Dr. Klein
in Berlin mein Stiick fur durchaus darstellbar erklare, was mich
sehr gefreut hat, da, wenn auch dies Stiick und mein Lustspiel:
der Diamant nicht buhnengerecht sind, ich nichts Biihnengerechtes
schreiben konne, also den Herren Gutzkow, Friedrich, Laube und
der Birchpfeiffer das Feld raumen und nur noch fur die Setzer
dichten mull. Sehr lieb ware es mir, wenn auch Sie das Stiick
einmal ansehen und Ihr Urtheil iiber den Hauptpunkt abgeben
wollten ; ich fiihle doch fast, der Umstand, daf? ich Verf asser der
Judith bin, hat ein wenig auf das Urtheil der Madame Crelinger
eingewirkt, und da es sich hier fur mich um die Lebens-Frage
handelt, indem der Dramatiker nur nothgedrungen auf die Biihne
Verzicht leisten darf, so mul? ich doch wenigstens wiinschen, da£
nur mein jetziges Werk, nichts Fremdartiges, in Betracht gezogen
werde. Kame das Stiick zur Auffiihrung, so konnte ich es viel-
leicht einrichten, da(? ich personlich nach Berlin kame, nur diirfte
sich die Entscheidung nicht zu lange verzogern. Dann wiirde ich
die Freude haben, Sie auch neuerlich zu begriitfen, was dem
Schreiben doch immer sehr vorzuziehen ist. Leben Sie recht wohl!
Mit aufrichtiger Hochachtung
Ihr ergebener
Rue des petites ecuries, 49. Fr. Hebbel.
Nie war gegen das AuslanJ
Ein anderes Land gerecht wie du,
Sei nicht allzugerecht. Sie denken nicht edel genug
Zu sehen, wie schon dein Fehler ist.
Klopstock uber Deutschland.
81
STEFAN GROSSMANN EIN NEUER SCHMIDTBONN
I.
Ausruhetag in Dresden. ^Vanderung durch die glatt-kalten
Sale der Porzellansammlung. Nachmittag im Weitfen Hirsch in
meiner alten Sanatoriumclique, mitten drin in alien Spannungen,
Konfliktchen, Spaf?en einer abgeschlossenen ^Velt. Wohin abends?
Im Alberttheater gibt man ein neues Drama von Schmidtbonn*
II.
^A^ilbelm Schmidtbonn hat das Spielen auf dem Reklame-
klavier nicbt gelernt. Kein ^iVort in den Berliner Zeitungen.
Selbst in den Dresdner Journalen nur ein diirftiger Hinweis. Das
Alberttheater, mil?leitet und immer wieder durch seine Vereins-
gewaltigen falsch vergeben, wird nicht sehr beachtet. Als ich
abends in das sparsam beleuchtete Theater trat, war es nur halb-
voll und dieses birchen Publicum war ohne elektrische Spannung.
Alles kaute Stullen. In alien Banken wurde gesachselt. ^Varum
wirkt dieser Dialekt so meskin? Zu denken, dai? Goethes Sprache.
in Weimar einen Anflug dieser Sachselei bekommen hat ! . , . .
Entsetzlich kalt und gleichgiltig lungern die Leute in den Parkett~
reihen. Wurstig.
in.
Der Vorhang geht in die Hbhe: Die Biihne sieht merkwtirdig
gut aus. (Sollten die Dresdner dem Alberttbeater Unrecht tun ?
Auch Dekorationsentwiirfe, die ich spater im Foyer sah, erfrischen
durch frohe Buntheit). Ein Park, zu einer Villa gehorig.
Nach zwei Minuten horcht man auf.
Eine junge Frau wird von dem Bruder ihres Mannes und dessen
Mutter verstandigt, dai? der Gatte heimkehre. Er war Flieger.
Kommt als Kriegsblinder zurvick. Nun wird er herein gefuhrt.
Ein schoner, schlanker Mensch , mit einer Binde um die Augen,
tappt durch die schwarze Welt. Er ist so hoch wie stolz und
will nicht bemitleidet werden. Das Sehen ist nur einMiUel, die
'Welt in unseren Besitz zu bringen. Die Welt zu betasten, be~
deutet vielleicht noch mehr als sie zu besehen. Ganz anders fuhlt
der Fui? und die Hand des Augenlosen die Erde, jeder Buckel des
Bodens, jedes Steinchen wird erlebt. Der Blinde empfindet die
raumliche, fai?bare Wirklichkeit intensiver als der Sehen de, jedes
Bild ist ja unwirklich. Schliei?lich klingt die vorsatzliche Rede des
Geschlagenen in die Worte aus : Der Blinde ist der Sehende. Aber
hinter dem Triumph des Leidenden verbirgt sich die bitterste Armut.
Er mui? mit seiner jungen Frau allein sprechen. So, Aug" in Aug\
Sehendes gegen Erblindetes, spricht er sich sein Schwerstes von der
Brust: .,lch gebe Dich frei, Elisa, Du hast einen Sehenden ge~
heiratet, warum sollst Du mit einem Blinden leben?"
Hinter dem Paare taucht die Mutter des Fliegers auf. Ihr
gehort der geschlagene Sohn. Der Voll-lebende mochte dem jungen
82
AA^eib zugesellt sein. Der Gebrochene soil zur Mutterhoble zu-
riickkriechen. Deutlicber, doch zart angedeuteter Kampf zwiscben
Mutter und Scbwiegertocbter.
Der Zuborer, auch der Dresdener, borcbte gespannt. Ein
Kriegsdrama? Mebr als das. Erne Tragodie der Korperlicbkeh\
Zur Liebe gebort, wabrbaftig, nicbt nur eine Seele, sondern auch
ein Auge und eine Hand und noch mebreres. Der Korper la#t
sicb nicbt beltigen.
Zweiter Akt: Der Blinde lauert. Da gebt ein Bruder im
Hause umher. Neben Elisa. Waren sie nicbt einmal miteinander
im Wald? Siebt der Bruder nicbt mit seinen Augen auf sie?
Mit seinen, ebemals trinkenden Augen. Sab er sie nicbt in den
Wocben vorber scbon ? Konnte er sie seben und an ibr vorbei-
geben ? Der Blinde wird von Gesicbten verfolgt. Er wittert eine
stumme Verbindung zwiscben den Beiden, er gestebt seinen an-
klagenden Verdacbt der Mutter. Da kundigt ibm die alte Frau
das Biindnis. Nicbts bassen Frauen mebr als den Verdacbt. Gegen
den Verdacbtigen entstebt sofort eine Verscbworung des ganzen
Gescblecbts. Aber der Gedanken-Flieger kreist unbeirrt urn das
Paar. Er spricbt die ungebeuerlicbe Anscbuldigung aus — und
der Zuscbauer erstarrt, denn es gibt eine Entblo(?ung durcb das
nackte ^Vort , in welcber eine Aufforderung steckt. Jede An-
scbuldigung entbalt, mit dem Arzte zu reden, eine Wacbsuggestion.
Nicbt nur das Verbrecben erzeugt die Anklage , oft erzeugt die
Anklage erst das Verbrecben! Der Selbstzerstorer, der Bruder
und Frau anklagt , kuppelt sie durcb die Beschuldigung erst zu-
sammen. Nicbt die physiscbe Blindbeit, sondern die innere Ver-
giftung des Blinden, entfremdet ibm die AVelt. Jetzt sriirzen
Bruder und Frau zu Fiil?en des allzu — Sebenden und gesteben,
daf? er sie zu einander trieb. „Aber icb sab Dicb in ibm," sagt
die Frau. Sie wie der Bruder wissen sicb frei von Scbuld, denn
ibre Herzen sind stumm geblieben. Erst der Verdacbt bat ibre
Seelen aufgerissen. In dem Gesicbt des Blinden, wie scbwer er
aucb gegen sicb gewiitet , lacbelt ein unbeimlicber Triumpb : Icb
war der Sebende . . . Aber er war nur der Kombinierende.
Die Zuscbauer, ganz mauscbenstille, wagten vor Erregung
kaum zu applaudieren.
Im letzten Akt gebt die Aktion auf die junge Frau iiber.
Sie ate bt durcbaus nicbt als Angeklagte vor dem Blinden, sondern
als Anklagerin. Sie rollt die Vergangenbeit auf (icb bin gegen
das Aufrollen, besonders im letzten Akt). Als Du nocb sabst,
so meint sie ungefabr, da sabst Du nur Beruf, Vaterland, Mission,
Flieger, Arbeit; fur micb warst Du selbst nacbts, als icb beh?
neben Dir lag, blind. Jetzt, da Du als Gescblagener zu mir
kommst, jetzt bin icb Dein Beruf, Dein Vaterland, Deine Fliegerei
geworden. (Sie sagt es nicbt so literariscb). Jetzt kann icb Dich
83
in Besitz nehmen. Ich liebe Dich, weil Du blind wurdest.
(Schmidtbonn lal?t sie das mit sanfteren und deshalb iiberzeugen-
deren ^Vorten sagen). Die starken Worte der jungen Frau ent-
waffnen den Blinden. Ergreifend, wie der Entgiftungsprozef? in
der Seele des Blinden vor sich geht. Sein leisestes Wort heii?t:
Liebe ist Glauben, Glauben, Glauben. Es geschieht in dem Schau-
spiel nicht, da I? die Frau den Blinden fiihrend an der Hand nimmt.
Aber der Horer spurt: Diese Frau harrt aus — urn seiner Hilf-
losigkeit willen. Dem Gestiirzten erst stromt das geoffnete Herz zu !
Die Zuschauer. in Tranen und in Stille, applaudierten zuletzt
wie besessen.
Dies ist das neus Drama Schmidtbonns. Ein Kriegsstiick?
Ja und Nein. Wer ist aus diesen sechs Jabren nicbt als Ge-
scblagener und Gestiirzter bervorgegangen? Wie lind klingt Jedem
das Wort dieser jungen Seele: Erst dem Gestiirzten lebe ich.
Dieses Drama, voll Spannung, jede Figur voll innerer Lebendigkeit,
ist zuletzt eine Kirchenmusik.
Verstebt sich, dal? wir es in Berlin nicbt einmal angekiindigt
bekommen. x
ruth goetz FILMDICHTER ODER FILMVERLEIHER?
In der Diskussion iiber die notwendige kunstlerische Entwicklung des
Films verdient der Notschrei -von Frau Ruth Goetz, die in der deutschen
Kino welt zuhause ist, ganz besondere Beacntung.
Der Filmdichter furehtet den Verleiber der Filme.
Wer ist der Verleiher ? AVas hat der Dicbter mit ihm zu tun?
Vernebmt !
Der Verleiber, das Bindeglied zwischen den Fabrikanten, dem
Kunstler und dem Puklikum, bestimmt die Produktion, entweder
klipp und klar, oder weniger offenkundig. Er hat den Vertrieb —
er mui? die Theater versorgen, er bildet sich ein, den Gescbmack
der Menge so weit zu kennen , da(? er genau weil?, was „zieht"
und was nicht. Von dem Bildungsgrad der Verleiher, bei denen
nur wenige Ausnabmen zu konstatieren sind, erzahlen die Anek-
doten. Wer kennt nicht die reizende Geschichte von dem Film-
verleiher, der einst gefragt wurde, ob er nicht „Trojas Fall"
in sein Programm aufnehmen wolle? Er macht ein bedenkliches
Gesicht, er schiittelt abwehrend den Kopf und sagt: „Ach nee,
wieder so ein gefallenes Madchen, die Theaterbesitzer wollen das
nicht mehr haben."
Dieser Filmverleiher arbeitet mit der Masse, dem Geschmack
der Menge, den Forderungen des Publikums. Ehe er seine Reise
zu den Tbeaterbesitzern und den Vertretern antritt, verlangt er
das Programm, Er macht Anspruch auf Betitelungen der Pro-
duktion, die dem Horer oder dem Leser schon das Blut in den
Adern erstarren machen, ehe sie noch den Film selbst gesehen
84
haben. Je grauenhafter die Titel der Filme sind, je mehr Sen-
sation sie versprechen , urn so leichter ist sein Geschaft, urn so
rascher vollziehen sich die Abschliisse.
Folgende Ankiindigungen, die uns in die Zeit der Rauberbilder
auf den Jahrmarkten zuriickzuversetzen scheinen, bejaben diese;
Behauptungen.
„Der fliegende Tod", sensationelles Sittendrama aus dem Leben
einer Artistin.
„In den Klauen eines Abenteurers'"', Kriminalsensationsfilm.
„Das Haus des Grauens", die grol?e Kriminalsensation.
„Der Uberfall im Orientexpref?".
„Das Gebeimnis von Bombay", die Abenteuer einer Nacht etc.
Spalten und Seiten konnte man mit derartigen Ankiindigungen, die
aus dem Inseratenteil der Filmwocbenscbriften entnommen sind*
fullen. So tawaffnet, geht der Filmverleiher ins Land und tatigt
seine Aboc'hliisse. Der Inbalt der einzelnen „Sittenstucke" und
„Kiiminalsensationen" spielt weiter keine bedeutende Rolle. Wie
und in welcher Form er bereits iiber die Leinwand gelaufen ist,
bleibt sicb gleich, es gibt ja zabllose Manuskripttecbniker, die auf
Wunscb und Bestellung fiir wenig Geld die Reibenfolge der ein-
zelnen Szenen aufscbreiben. Sie fertigen ein balbes Hundert von
diesen Dingern in einem Jabre an . . . die Masse mu(? es bringen.
In seiner Einsamkeit sitzt der Dichter und sucbt und forscbt
nach neuen Wegen. Einmal mui? diese Ricbtung sicb doch er-
schopfen, der Hunger nacb dicbteriscben Aufgaben wird wacb
werden, die Losung von Problemen mul? angescbnitten werden.
Er studiert nicht nur sein Werk, sondem die Moglichkeiten und
den Gescbmack.
Es ist nicht wahr, dal? der Film nur mit groben Effekten
arbeitet.
Die Subtilitat der Grotfaufnahme gestattet die feinste Nuance.
Die Groi?e und ErbabenKeit der Geste im Film ist zum asthe-
tiscben Gesetz geworden. Gerade die Masse zittert bei dem
schmerzdurchwuhlten Gesicbt einer Asta Nielsen, bebt bei der
Hilflosigkeit der Bewegung eines Conrad Veidt und lacbt uber
den unmotivierten Einsturz eines Hauses, eines Brandes, des Sturzes
von einem dabinjagenden Pferde oder einer Handlung, die man
gemeinbin als .,Sensation" bezeicbnet.
Es gibt Dichter, die einen naiven Ehrgeiz haben, auch im
Film eigene Wege zu wandeln. Einmal etwas zu bieten, was neu
erscbeint. Er scbreibt eine Tragi) die reifer Menschen, auf Inner-
lichkeit gestellt, obne die ublichen Schlafzimmerszenen, ohne die
verlogene Sentimentalitat. Der Dichter hat den Mut, einen Einfall
auf das Papier zu bringen und voller Hoffnungen begibt er sich
mit dem AkVerk in die Filmfabrik. Direktor und Regisseur sind
entziickt. Nur der Herr Verleiher zieht die Stirn in bedenkliche
Falten „Um Gottes Willen keine Literatur".
85-
„Literatur" heiSt das Wort, mit dem man im Film alles abtut,
was nicht augenf alligs te grobe Handlung ist. Dabei vergitft der
Verleiher, datf heute die Zahl der Menschen , die mit grof?en
Forderungen in das Kino gehen, gro&r ist, als die Masse derjenigen,
die sich nur wohl fiihlen, wenn ihnen die Gansehaut iiber den
Riicken rieselt. Der eogenannte „Gebildete" ist, vielleicht, weil
das Theater unerschwinglich wurde, vielleicht, weil es am Reiz
verloren hat, Kinobesucher geworden. Einla#karten fur sechzig
Pfennige und eine Mark sind verschwunden. Das Kino ist in
dem Sinne nicht mehr das Theater des .,kleinen Mannes". Und
auch der oft zitierte kleine Mann, wenn er in ein Lichtspieltheater
£eht , will er etwas sehen , was ihm Anregung gibt , iiber die
Odigkeit der unausgefiillten Abende hinweghilft. Wie ehedem
die Sprechbiihne, so ist ihm heute das Kino das Ausnahme-
vergmigen, das er sich nicht jeden Tag leisten kann.
„Um so einen Blbdsinn zu sehen, dafiir zahle ich keine fiinf
Mark," das ist das Urteil der Menge , die einen Sensationsfilm
iiber sich ergehen lassen muf?te. Ein Urteil, das dem Verleiher
freilich selten zu Ohren kommt.
Hin und wieder machen einige fiihrende Firmen den Versuch,
wertvolle und literarische Films herzustellen, Sie rufen den einen
oder den anderen Dichter, setzen ihn mit einem Manuskripttechniker
zusammen und verfilmen ein Werk, das bereits die Anerkennung
der Menschen gefunden. Niemals aber rufen sie einen Dichter
und veranlassen ihn, eine bedeutende Idee eigens fiir den Film,
herzustellen. Die Dramen und Romane , die man filmt, sind ja
nur das Surrogat fiir die wahre Filmdichtung , die fiir die Lein-
wand erzeugt worden. Aber der Verleiher kann dem Abnehmer
doch sagen, daf? dieses Werk das Publikum nicht ablehnen kann,
weil es sich seinen Namen schon erworben, und nicht erst die
Anerkennung durch die Fachleute haben mul?. Auch diese Tat~
eache erleichtert ihm das Geschaft.
Die Moglichkeiten durch den Film sind noch lange nicht
erprobt. Nicht einmal der kann sie heute erschopfend beurteilen,
der sich ausgiebig mit der Materie beschaftigt. Die Wandlungen,
die der Film durchgemacht hat, sind aber lediglich von dem Film-
dichter ausgegangen. Als Gaumont zum ersten Male die Dialog-
Titel brachte, d. h. die Schrift in der direkten Rede, da rangen
die Verleiher die Hande. „Das Publikum wird es ablehnen, wird
«s nicht verstehen." Grassi aber, Gaumonts Direktor in Deutsche
land, meinte zuversichtlich ; „Nun, so wird das Publikum es eben
lernen." Dae Publikum hat es gelernt, ja, es ist in der Beziehung
sehr anspruchslos geworden.
Als ich zum ersten Male in eine Filmtragodie einen heiteren
Einschlag brachte, rang der Verleiher die Hande. „Das Publikum
will es nicht haben, in der Tragodie wollen sie weinen." Das
Publikum aber nahm diese Neuerung beifallsfreudig auf, und in-
86
iwischen hat jeder mehr oder minder geschickte Films chrifts teller
diese heitere Episode im schweren Drama beibelialten , sehr zur
Freude des Publikums, das auch in der Tragodie einmal aufatmen
will
Nicht in der Herstellung iippiger Dekorationen, nicht in der
Besetzung des Protagonisten liegt der Erfolg des Films, sondern
in der Handlung, von einem Dichter, von einem Schaffenden
ersonnen.
Der Verleiher aber bestimmt nicht nur die Titel, er hat auch
<Iie Verfiigung iiber die Inserate der Fach- und Tageszeitungen.
Die Spalten werden mit den grotesken marktschreierischen An-
kiindigungen der Films geftillt, die dem Verleiher das Geschaft
machen sollen. Wehe dem Kritiker, der es wagen wiirde, einen
Film zu verreitfen, der bereits vor seinem Erscheinen Tausende von
Mark Inserationsgebiiren eingebracht hat. Aui?er den Millionen-
prunkfilms, bei denen der Reklame-Etat gar keine Rolle mehr
spielt, bekommen nur die Sensationsfilme laute Reklame, Problem-
Filme, literarische Ideenfilme reizen den Verleiher nicht, daher
haben sie auch nicht das Insei at. Die Kritiker besprechen ihn
meistens mit einem kleinen Referat, er steht unter der Liste „£erner
liefen". Den Namen des Autors kiindet weder die Anzeige, falls
eine solche schon einmal eingesetzt wird, noch das Sagenbuch des
Kritiker s.
Resume : Es gibt keinen Film d i c h t e r.
Es kann keinen Filmdichter geben, wenn er nicht wie sein
Kollege im Apoll mit der Leier sitzen und hungern will.
Der Dichter des Films kann bei der geringen Honorierung
seiner Erzeugnisse nur existieren, wenn er durch die Beherrschung
der Technik eine Massenproduktion hervorbringt, die dem Verleiher
das Geschaft erleichtert.
Der Dichter im Film muf? nicht erst geboren werden, er ist
schon da.
A^>er er muf? unabhangig von den Forderungen der Verleiher
arbeiten konnen. Es ist die Schicksalsfrage des deutschen Films:
Wer ist der Starkere, der Film-Dichter oder der Film- Verleiher ?
Euer Lob kann ich schon missen
Lieber 1st mir euer Tadel.
Denn durch ihn kommt mir das Wissen,
Dais ich stamm von tiererm Adel.
Aus Hermann Stehr's eben bei S. Fischer erschienenem
lyriscKen Bande „Ein Lebensbuch'"'.
87
AUS DEM TAGE-BUCH
DIE AUSWENDIGEN UND
DIE INWENDIGEN JUDEN
Im Stuttgarter Landestk eater
soil der Musikscknftsteller Paul
Bekker einen Vortrag kalten. Er
tritt an die erkellte Rampe, da kebt
im Zusckauerraum ein ITollenlarm
an, aus dem sick Rufe losen : „Der
Jude soil sckweigen, wir wollen
keine judiscken Vortrage P Der
Redner zuckt die Ackseln, will sick
verstandigen. V ergebens, das rlollen—
konzert will nickt verstummen. Da
tritt der Vertreter der Intendanz
aus der ICuksse, sckreitet sicker, im
Bewuistsein ckristlick-deutscker Be—
glaubigung kis zum Souffleurkasten
und winkt den Mitkurgern zu, mne-
zubalten. Es wird still. D ann
sprickt der Bote die erlosenden
AVorte : ,,Ick kann die kundige
Versickerung akgeken, dai? Herr
Paul Bekker kein Jude und auck
nickt judiscker Akstammung ist.
Sieke da, die SckreikaLse sind im
Nu besanftigt, jetzt kann Paul
Bekker seinen Vortrag anfangen
und ungestort keenden.
In der Berliner Klosterkircke
katte die evangeliscke V olksmission
einen Vortrag uker ,,Den Sittlick—
keitskampr der deutscken Frauen—
und Madckenwelt". Die Rednerin,
eine Arztin, seit Jakren in der
ckristlicken Jugendkewegung tatig,
kaspelte den uklicken Faden ak,
klagte uker die „dirnenkafte Sckam-
lbsigkeit"* der Grotfstadterinnen und
empfakl die Heimkekr zu dem ge-
kreuzigten und aurerstandenen ilei—
land. A Der diese Rednerin hi el?
Eksaketk Herzfeld und ikr Aus—
seken soil judisck gewesen sein-
Drum wurde die Sittenpredigt von
den Kirckenkesuckern und -be—
suckennnen nickt inDemut angekort,
sondern es wurde ein rieidenspek—
takel arrangiert und „Deutsckland,
Deutsckland uker alles so lange
gesungen, kis die Rednerin aur der
Kanzel in Tranen ausbrack und
mre V ersucke, die Berlinennnen zu
lautern, }akkngs keendete. Die
Sckreier entsckuldigten sick, die
Rednerin kake judisck ausgeseken*
aker der Leiter der Mission Pastor
rlolzel nakm die Sittenpredigenn
unter seine Fittige, sie sei eine be—
wakrte ckristucke Arztin in Leipzig-
An diesen Skandalen ist drollig*
daK der Inkalt der Reden die
Horer gar nickt welter mteressiertc
V ergekens kat dieMissionspredigerm
den landlauiigen treu- deutscken
Sittenkokl zum Best en gegehen*
Name und Nascken wirkten im—
tierend. rlmgegen katte Bekker
ungeniert rur Meyerkeer und Often—
kack, rur alles sogenannte Judiscke
in der Musik emtreten konnen, die
Intendanz katte lkn als remklutig
legitimiert und das war entsckeidend*
Gikt es kemen sacklicken
Deutscken, der gegen diese freck—
scknelle PoKtik derVorurteiledieEnt—
sckeidung der Urteilsiakigen wecken
-will ? Man kannHerzf elder keu?en und
so kanal cknstkck— germamsck denken
wie lrgendein Maurenkrecker. Und
man konnte als unverialsckt cknst—
88
licner Bekker geboren sein una mit
allem, dem geistigen Juden nacn--
gesagten Laster impragniert sein.
Waren diese Vulgarantisemiten
nicbt ebenso unwissend wie larmend,
so mu Ut en sie wissen, dais selbst ibr
rlerr una Meister, Houston
Stewart Chamberlain, in seinen
„Grundlagen" (1. Band, Seite 544)
scbreibt : „Man braucbt nicbt die
autbentiscbeHetbiternase zu besitzen,
um Jude zu sein, vielmenr bezeicbnet
dieses \Vort vor Allem erne be—
sondere Art zu rublen und zu
den ken. Ein Menscb kann sebr
scbnell, onne Israelit zu sein, Jude
werden . . . Andererseits ist es
smnlos, einen Israeliten ecbtester Ab—
stammung, dem es gelungen ist, die
Fessem Esras und Nebemias ab—
zuwerien, in dessen K.opi das Gesetz
Mose und in dessen Herzen die
Vermcbtung Anderer keine Statte
rtiebr rindet, emen,, Juden zu nennen.
„ \Velche Aussicbt ware es \ rurt
Herder aus, „die Juden in ibrer
Denkart rein bumanisiert zu senen .
Ein rein bumanisierter Jude ist aber
kein Jude menr . . . Mit dem
Apostel Paulus muss en wir emseben
lernen : ,,Denn das ist nicbt em
Jude, der auswendig ein Jude ist, son-
dern das ist ein Jude, der inwendig
verborgen ist.
Frenicb, fur eine Pobelbewegung
ware das Cbamberlamscbe Unter-
scbeidungsverrabren zu umstandlicb.
Die sogenannte gute Gesellscbait
erkennt Vorzuge der mannigfaltig-
sten Art an, nur nicbt die geistigen.
Scbopenbauer.
FRANZ BLEI
Irgendwo in einem kohen FacK mciner
Bibliothek steken Franz Bleis gesammelte
Werke. Sieben oder acht dicke und dock
graziose Bande. Am 18. Januar, an dem
Tage, an dem Blei 50 Jahre alt geworden,
ware ick verpflicktet gewesen, sie von der
Hohe des Biichergestelles herunterzuholen.
Aber Blei ist ja dock nock lange nickt
gesammelt, und gerade das ist das Junge,
Erfrisckende und Anregende an ikm. Er
hat, wie eben ein junger Mann von vieler-
lei Talenten scKon allerkand Proben einer
besonderen geistigen Lebendigkeit gegeben,
aber im Grunde hat man Keute wie vor
fiinfundzwanzig Jahren das Gefiibl : Spring-
lustiger Geist, Du dehnst Dick zuweilen
uber Dich selbst hinaus, in Dir sind eine
Anzahl Keime, MogKchkeiten, Ansatze,
Du erfreust durck Dein Sein. Die Zeit, in
der Du Dick sammelst, und durck Dein
konzentriertes Werk erfreust , ist nock
nicht da. Es ist zu viel Lebensdrang in
Blei, als datf er schon die Resignation dea
abgeschlossenen Arbeiters katte. Dieser
junge Mann verwirrt intolerante Zuschauer
aucb beute nock durck einen dauernd
chaotischen Zustand. Er jst ein Genietfer
und ein Monch, ein Stammtischmensch
und ein ganz isolierter Melancholiker, ein
zynisches und zugleich ein frommes Ge-
mut. Er hat eines der amiisantesten und
graziosesten Biicker gescbrieben „Die
Puderquaste", die mancbmal franzosischen
Schliff hat, und ist gelegentlich auck einer
sehr deutschen Derbheit fahig. Er ist in
der Literatur einer • der wenigen Wiener,
von katholischer Herkunft und hat ge-
legentlich sehr katholisch - aristokratiscbe
Anwandlungen. Vor fiinfundzwanzig Jahren
sa(?en wir in demselben sozialistischen
Studentenverein , Veritas" und vor zwei
Jahren fiihlte er sich im Wiener Cafe
Central teils erzkommunistisch, teils grund-
konservativ. Blei wird, wenn er sich
einmal zur Aufraumung der verschiedenen
Weltanschauungen in seinem vollgepfropften
Hirn entschliefft, eine originelle Einbeit auf-
bauen. Aber vorlaufig ist er nock tolerant
gegen die Kontraste in seinem Innern und
latft sich Zeit 2uni Ordnen. Webe aber
dem Spiefibiirger, der seine heilige Un-
89
ordnung itort. Dem kann ca dann er-
gebcn wie dem bci Lebzeiten ao Uber-
scbatzten Paul Scblentber, den Blei einmal
grausam demolicrt hat. Im Grunde aber
ist Blei em friedfertiges, nacbsicbtiges Ge-
mut, von ziemlich liebenswiirdiger Tucke,
die er nur selten, zuletzt in dem bier an-
gezeigten Brevier, ausgelebt bat. Er bat
ein Talent, friscbe Macene und neue Ver-
leger zu wittern, aber es ehrt ibn nocb
mebr, daff er nicbt die Geduld bat, eie
dauernd zu erzieben. Hatten wir so was
wie eine Akademie der bewegenden Geister,
dann miitfte Blei, der Anregungen nacb
alien Seiten verscbenkt und vergessen bat,
mit irgendeinem Adelarang b^dacbt werden.
Er ist einer der wenigen deutscben Scbrift-
steller, die immer wieder des Entbusiasmus
fabig sind. Desbalb war er nicbt einen
Tag langweilig. Man wird in der lite-
rariscben Naturgescbicbte nicbt viele ao
amusante Tiere findcn wie ibn selbflt,
den Blei.
POLITISCHE DISKUSSION
In cmer Deutscben Tageszeitung
vom 26. Dezember scbreibt ein des
Scbreibens nocb nicbt Kundiger, einen
Aufsatz „Hindenburg und GroJ?~
mann" in dem es beii?t:
„Furwabr, esbat besanftigende
Kraft, dal? Hindenburg lebt und
und dal? der deutscben Jugend
ein Herz im Busen scblagt. Herr
Gro&nann aber wird eines Tages
erwacben und feststellen konnen,
datfEinigkeit wirklicb stark macbt.
Er wird sick aber nicbt mebr
die Zeit nebmen konnen, diese
Tatsacbe m s ein em „Tagebucbe"
mitzuteilen.
Der Scbrifts teller, der mit dem
Gewebrkolben scbreibt, bort auf den
Namen Otto Barenfeld. Die Zeiten,
in denen man auf der Flucbt er~
ledigt wurde, sind aber vorlaufig
vorbei. Die literariscbe Wider-
legung mul? sick jetzt mit privatem
Uberfall begnugen. Solcben Sati~
rikern teile icb mit, dai? icb Mit-
glicd des Atkletic-Sport-Club bin,
zweimal in T scbiu-Tscnitsu preis-
gekront wurde, 246 Pfund wiege
und bei demtrefflicbenjoe Edwards
im Boxkampf ausgebildet wurde.
FILMDILETTANTEN
Dies mui/te kommen. Das Tbea-
ter im Tneater , eine stets dank-
bare Emstellung, mxxBte zeitgemai?
abgewandelt werden als „Film-
AteKer auf der Bubne ! Naturlicb
auf einer Vari^tebubne. In der
Bertner Scala. Filmdilettanten
treten auf. Warenbausjunglinge
und Biiromadels.. Sie wollen sicb
einen Jux macben und bringen das
Publikum eine Stunde lang in Raserei.
Man kann Tranen lacben. Die
Vanetebubne batte nocb nie einen
solcben Zulauf. Alle anderen Num-
mern fallen daneben ab : EquiKbristen
und Ballettratten, Rolls cbubkunst-
stucke und Pantomime. Der Clou des
Abends ist das Lacben uber . . . Hier
stockt man. 'Wabrend des Spaces
gebt man einf acb mit und f ragt nicbt
weiter. Der Conferencier erlautert
den Jux. Naturlicb ernstbaft. Es
ist eine bedeutende Pramie ausgesetzt
fur die besten Dilettanten. Ein
ricbtiger Regisseur leitet die Sacbe.
Ricbtige Filmleute baben sicb als
Scbiedsricbter verpflicbtet. IMan siebt
den aufgenommenen Film des vorigen
Abends. Durcbaus kunstlenscber
Unsinn. Auf diese Weise wird
man fur die Aufnabme vorbereitet.
Der Conferencier ladt dazu ein :
Drei Dutzend Junglinge und ein
Dutzend Madels drangen sicb auf die
Bubne. Es wird vom Regisseur eine
Auswabl der Darsteller getroffen,
90
ein Tkema rasck gestellt und nun wird
geprokt. Der Regisseur gerat in
Verzweiflung. Und das Puklikum
Lrullt vor Lacken. — Und dock
ist die Sacke eigentlick gar nickt
so lackerkck, eker traurig : man
kann reststellen, dal? niemand von
den Leuten, die sick so selkstkewutft
auf die Bukne gedrangt kaken, die
einiacksten Gesetze der Bewegung,
des Gekens, des Stekens, des Laufens
errullen, konnen. Und erst die
Mimik der Dilettanten : wer kann
nur ein verkindlickes Lackeln, einen
erstaunten Blick, cine Ukerrasckung
darstellen ? 1st diese Unfakigkeit
wirklick nur auf Dilettantismus zu-
ruckzufukren oder kat sie nickt dock
tietere kulturpsyckologisckeGrunde?
Wie selbstverstandlick sind dem
Romanen und auck dem Slaven
solcke primitive Gesetze der Be-
wegung und der Mimik. Es ist zu
vermuten, datf in Rom oder in
Warsckau eine solcke improvisierte
Dilettantenprobe etwas weniger ulkig
ausfallen wurde. Und dies stimmt
dock etwas nackdenklick.
R. S.
ANEKDOTEN.
Ein junger revolutionarer Litcrat rief:
,Jch braucke zebntausend Bourgeoiakopfe! lv
— ,,Ick wurde mick mit clem Ikrcib be-
gnttgefa", sagte Rudolf Kaaener.
Jemand fragte Arthur Scknitzler, der
aus einer Gesellsckaft kam, wie er sick
unterhalten kabe. ,,Ohne mick", sagte der
Plauderer, „katte ich micb sekr gelangweilt."
*
In Wien wurde einmal der Nacklatf
emer wegen ikrer Licbackaften mekr als
wegen ikrer Kunat beriibmten Sckau-
spielerin offentlick versteigert. Einige be-
jakrte Damen fanden entriistet, dai? die
Preise zu kock gingen. „Diese Damen",
sagte Franz Blei, ,,katten die Sack en am
liebsten zum Selbstkostenpreis."
*
Bei der Auffiikrung eines Stiickea von
Georg Kaiaer sagte jemand: „Das Stuck
ist sekr sckmeicbelkaft fiir Carl Sternheim,""
+
Ea war Sckickele, der einmal die Annette
Kolb le plus konnete komme du monde
nannte. Die selbige Annette nannte jemand
in Bern, als sie grotfe Sympatkien fur den
Kommunismus zeigte, die Precieuse radicale.
Redaktio* dea „Tage-Buck" : Berlin W 35, Potadamer Stratfe 123 b, Tel.: Lutzow4931
Verantwortlick fiir den redaktionellen Teil : Stefan Grotfmann, Ckarlottenburg. Verlag :
Ernst Rowohlt Verlag, BerlinW 35. Potsdamer Strafe 123 b. Druck: R* Abendrotk, Riesa.
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4. ACISSERORDENTL1CHES
ORCHESTERKON^ERT
Donnerstag, den 2?. Januar 1921, J% Clhr abends
in der Philhartnonie tnit dem
Philharmonisehen Orchester
DIRIGENT:
QQSTAV BRECHER
Programtti: FERRQCCIO BQSONT
1. Konzertstiick ftir Klavier und Orchester .. .. op. 31
2. Indianische Phantasie fUr Klavier u. Orchester, op. 44
3. Concerto ftir Klavier, Orchester u. Mannerchor, op. 39
CHORi
DE£ MANNERQESAKQVEUEIN DER
KAISER-WILHELM-QEDACHTNISKIRCHE
. KLAVIER:
FERRQCCTO BQSONT
Karten bei BOTE & BOCK und A. WERTHEIM
Das Tage-Bucn / Heft 4 Jatrg. 2 / Berlin, 29. Jan uar 1921
STEFAN GROSSMANN REVOLUTIONERL GEFALLIG?
Wien, Ende Januar 1921.
lm Zuge, der aus Tsckeckien nack \Vien knattertc, war jeder zweite
A&faggon unkeleucktet. Wir suckten im Finsteren, wir dackten ins
Dunkle, Die letzte Nackrickt aus ^/ien kieK: Poststreik, das letzte
Geriickt: Eisenbaknerstreik, die Aknung im Dunkel: die Auflosung
kegmnt . . . Im Coupe mckts als Grakgespracke auf das unseng ver-
sckiedene Osterreick. Emreisende Reicksdeutscke katten nock ein Funkcben
Hoffnung, keimkekrende Wiener aker katten jene keitere Todesergekenkeit
wie nur naiv apolitiscke V olker sie kaken. „Sollst kmwerden, Wien ,
sagte emer aus der Kaiserstadt, ,,oist en nur mekr fur die Fremden
da. Sie naben uns mit lkrer Valuta schon Alles auigekaurt, unsere
Rings tral?enhaulser, unsere Opernlogen, unsere alten Bilder und unsere
jungen \Veiber. Alles nur menr fur die Fremden da . Dunkler -wars
nock me im Zug nack Vvien.
Am nacksten Morgen in der Hotelkalle. Es wird ungarisck,
italiemsck, englisck, franzosisck, rumanisck, serkisck geredet. Dann und
wann kort man ein sogar deutsckes \Vort, besonders wenn ein kurz*-
kerocktes \Veikcberi keremkusckt und keim Portier nack Herrn Salvatini
oder Herrn Avarescu fragt. Auf der Strafe kaufe ick ein Tagklatt.
Die Nummer 2 Kronen 50 Heller. Steige in die Strai?enkakn. Die
Fakrt 3 Kronen. Im \Vagen, der mick in die V orstadt kringt, Arkeiter-
frauen in Fetzen. Junge Gesckopfe, klutwarm, weii?e Haut, Lockcken
aus dem Kopftuck guckend, jetzt im Januar nur in der zerrissenen
\Vasckkluse, unter der erne zweite zerfetzte Bluse kerausguckt, in drei
ukeremander gehangten gefkckten Kitteln, Holzsckuke, zusammengenahte
Lappen um die Fuf?e. Bitterste, zakneklappernde Armut, aker im runden
Gesickt, im blanken Auge und im woklgerundeten Leike Waldmullerscker
Glanz. Die alten ^Veiker, in Umscklagtucher aus frukeren Zeiten
gemummelt, tratscken uker die Sckwierigkeiten des Einkaufens. Das
verdammte Maitfkrod. Es sckmeckt wie gekackener gelker Sand. Butter
und Sckmalz unersckwin&lick. Mekl ist nur sckwarz und klekrig yzu
kriegen. Die Manner koren dem Klagen der Weiker kopfnickend zu.
Einer, blatternarkig, grunlick im Gesickt, murrt: „Nur Geduld, kis der
Lenm mit seiner roten Armee einruckt!" Uberall, in Ottakring, in
Margareten, in der Leopoldstadt korte ick den Hoffnungsgedanken auf
Lenins Soldaten. „Die werdens unseren KapitaKsten sckon zeigen".
Es ist ein grundosterreickiscker Gedankengang: ^^ir selker, wir dulden
und sckweigen, aker wir warten, es wird scken.einer kommen und uns
aus der Patscke zieken. Immer kat man in Osterreick gewartet, der
Erne auf den Andern, der Kaiser auf die Volker, die sick ausgleicken
sollten, die Volker auf den Kaiser, der sie ausgleicken sollte, die
Fromm en auf das Wunder des Heiligen, die Revolutionsglaukigen,
97
wakrend sie em Baucklein bekamen, auf den Kladdaradatsck. Nur
an sick selbst kat kier me einer geglaukt .... Im Augenbkck
sckwirren die tollsten Geruckte uber den 20. Januar durck die Stadt.
Wer weil?, -was die K omniums ten rur den lag planen. Die Regierung
nat, als die Postkeamten die Arbeit einstellten und die Eisenbakner wieder
zu murren kegannen, sckleunigst eine Enquete zur Beratung uoer den
Preisakkau einberuren. Da drokt )eder dntte Redner dunkel: ,,'S mul?
was gsckekn. Revolutionerl gefaUig?
Der Reisende aus Deutsckland wird langsam in diese abendkcke
Sckicksalsstimmung verstrickt, Als ick in Gmund, an der tsckeckisck-
osterreickiscken Grenze Geld weckselte, erkielt icn rur hundert Mark
neunkundert Kronen, gestern im Hotel bekam icn fur den blauen Sen em
schon elikundert Kronen und keute zahlte man mir in der Kreditanstalt
rur kundert Mark zwolrkundertsecksunddreil?ig Kronen aus. In zwei
1 agen glitt die Krone so widerstandslos kinunter. Deskalb sind nack—
mittags alle Kaufladen uberfullt. Plotzlick sind die Wiener von dem
Schreckgedanken kesessen, da# sie fur ikr Papiergeld keine Nakrungs-*
mittel mekr bekommen konnen. Alles drangt zum Scklackter, zum
Konsumverein, zum Greisler. Am Abend sind Wurst, Kase, Reis
urn emer Viertel des gestrigen Preises kinaufgescknellt. Vor den Laden
eteken glotzend die, denen dies alles versagt ist.
In Hietzmg trat ick in ein Haus em, das sick ^Pension fur
Orrizierswitwen und Waisen nennt. Dort kekommen die Bewoknermnen
zum Frukstuck erne Xasse dunkles, keif?es Wasser, das eine Aknung von
Ersatzkaffee geben soil, dazu eine kleine Scknitte Maisbrot. Mittag:
ein Teller Embrennsuppe, als zweiter und letzter Gmg: gelbe Ruben
oder saure Ruben. Zweimal in der Wocke gikt es Meklspeisen, ver-
stekt sick okne Milck und okne Eier zubereitet Abendessen? Stekt
nickt auf dem Speisezettel. Fleisck gibt es me. Kokl ist sckon zu
teuer. Freilick zaklen die Damen von ikrer Almosenpeasion nur 100
bis 110 Kronen monatlick! (Der Drosckkenkutscker, der mick vom
Baknkof zum Hotel brack te, verlangtc 250 Kronen fur die Fakrt) . . .
Da kocken die alten Frauen in einem truben Speisesaal beisammen, bei
zwci winzigen Petroleumlampcken, die alten Haupter uber lkre Stickereien
gebeugt. Eine kebt den Kopf. Sie tragt eine Brille, deren Bugel
gebrocken und durck Bindiaden ersetzt ist: „Sieben von una Pensionarinnen
sind in diesem Herbst gestorben*\ An der Xur des Hauses sagt der
Portier verdrossen: „Aber das Bild vom Kaiser Karl lassens dock nickt
wegkangen. Na, kis der Lenin mit semen roten Soldaten kommt, da werden
s* aufwacken."" Die Drokung klingt gemutlick. Revolutionerl gerallig?
ii.
Nackmittag in einem Mimstenum, Der Sektionscker telefoniert
gera.de: „Bitte, sagen Sie seiner Exzellenz, wir bekommen von den
Franzosen eine Auleike, ganz bestimmt. ^&/ic gro(?? Jedearalls so grow
dali wir die nacksten drei Monate endlick okne Sorgen sem konnen!
Die Stimme des koken Beatnten ist mit Zuversickt gesattigt. Man denke:
Es kestekt, endlick, eine Aussickt, drei Monate, ganze drei Monate okne
98
Sorge zu leken!!! Feker, Marz, April. Erst vor Jem 1. Mai keginnt
die Scklaflosigkeit wieder . . . Aker nickt cinmal dies en Trost glauken
&e Exzellenzen. Ein sekr gewitzter glatter Mann, der Benckterstatter
des Hauptaussckusses der Nationalversammlung, Dr. Gurtler (der als
Gesandter fur Berlin nickt mekr in Betrackt kommt) sckloi? gestern
«ein Referat mit der geoallten Faust: „Auck das sanftmutigste Volk
kann sckliel?licK die Geduld verlieren". Zwiscken den ^Vorten steckt
die neue Melodie : Revolutionerl gef allig ? . . . Die Anderen, im
Besonderen die Groi?deutscken, krummen dazu im germamscnen Bab das
Anscklutfked. Aker es ist audi eine osterreickiscke Melodie geworden.
Sie sckliei?en sick nickt an, sie scklossen sick nickt an, sie werden si en
auck morgen nickt ansckliei?en, wed ein Volk, das nickt uker drei
M on ate kinaus okne Sorge klicken kann, nickt die Kraft zur nationalen
Erkekung kat und kaken kann. Aker sie brummen lkren Refrain, als
krave, in jedem Betrackt passive Osterreicker. Manckmal, in Stunden
des Klemmutes mockte man glauken, der Anscklub Osterreicks werde
an dem Tage kommen, an dem die Franzosen das Lamento der Oster-
reicker nickt mekr ankoren und auck nickts mekr werden pump en wollen.
„,Es mul? ikneri mieis werden vor mrem Sieg sagte mir ein alter Bank-
direktor. Vorlaufig werden die Wiener MitgKeder der commission des
reparations als Boten des osterreickiscken Jammers ausgiekig kenutzt. Aker
nutzt sick der liekenswurdig drokende Refrain: „Revolutionerl gef allig ?"
nickt allmaklick ak? Und sckadet es dem Ansckhu?, der kommen mul?,
nickt, wenn die lautesten AnsckluKreden immer gerade vor den Anleike-
verkandlungen steigen? Wie, -wenn die Franzosen auf die kurzsicntige
Vermutung kamen, dieser Anscklu&ckrei kame nickt aus dem Herzen,
sondern aus der leeren Brieftascke? Ist es weise, ist es auck nur klug,
seine einzigen Lebensgedanken in finanziellen Opportunitaten aufzukraucken?
m
Zeitungsnotiz ; „Gestern fand in der Hofkurg der Ball der Sckrift-
stellergenossensckaft start". Sckriftstellergenossensckaft, das ist in Wien
eine judenreine, cknstglaukige, zum grotfen Teil kakskurgergekenc Gesell-
sckaft. Sie sckreiken an Kaisers Gekurts- und Namenstag wekmiitige
Aufsatze, aker das kindert sie nickt, am Balltag mit ikren umfangreicken
Patronessen ins Haus des Kaisers einzuzieken und sick auf sckwarzgelb-
seidenen Fauteuils kreitzumacken. Das gute Karl ist nur mekr ein ge-
legentlick im Leitartikel auftauckendes Gespenst, in Aic osterreickiscke
Wirklickkeit ruckt er nickt mekr. Mit viel weniger Gene als die
Preutfen kaken sick die Wiener in die Hakskurgnester gesetzt. Im
Sckonkurger Sckloss ist ein Kinderasyl erstanden. Durck die kallenden
Korndore, weitkellen Sale, warm-engen Gem acker tokt, lauft, singt jetzt
eine Bande "Wiener Buken und Madeln. In dem reizenden Nekentrakt
dem Stockel, wo Akrentkal und Bercktkold sick zur Verfugung der
Majestaten kalten mutften, ist jetzt ein findiger Wirt eingezogen.
Restaurant, Cafe, Bar im Kaiserlicken Sckloi?. In wei#-weiten Salen
mit roten Damastvorkangen kreitet sick die madjarisck-rumanisck-
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italieniscke Sckiebokratie aus, tafelt auf Tellern, die nut Kaisers lA^appeo
gesckmuckt sini una wenn die Geigen sckweigen, dringt durck die
Scklol?sale ein ungewokntes krackzendes AtVort: „Auf die Bilanz gel>
ick gar nickts* . Aus dem Kkrren und Klingen der Xeller und Glaser
dringt eine fettige Stimme: „Soll ick Iknen ein Typ geben? . . .
Tritt eine Dame mit ill rem Gefolge ein, so tut sies unwiUkurkck
mit einem Sckimmer von Hokeit, den diese Raume verleiken, und wenns
auck nur Fraulein Mizzi Pumpfmger ist, deren Vater als Masckinen-
gcklosser tei Sckuckert tatig ist. Nirgendwo in der Welt verwandeln
su#e Madeln sick so leickt in Koniginnen des Let ens. ^Venn Fraulein
Mizzi Pumpfinger durck die damastnen Portieren nakt und nut gnadigem
Kopfnicken Herrn Salvatini oder Herrn Avarescu begrutft, dann aknt
kein AkVienfremder, dal? das Bett der lassig sckreitenden Dame lm
vorigen AkVinter nock in einem sekr en gen kalten Kabmett auf der Land-
strafe stand, wo sie gemeinsam mit der tippenden Sckwester kargkck
kauste. Nur der eingefleisckte MViener wird die sckreitende Sckone
von der Gusti Kinsky oder Franzi Sckonborn, den Grarmnen von
gestern und morgen, bestimmt untersckeiden konnen. Kellner fliegen
lautlos durck die Kaiserlicken Sale. Vorgenckte, Paste ten, Brat en. Sa—
late, Torten, ungariscke und franzosiscke Weme; em zerflieKender Geiger
streickt von Tisck zu Tisck. Und dock kein Larm, kem Krack, kerne
Berliner Turbulenz, es ist, als bandigten die Sale von Sckonbrunn die
wilde Energie der Sckiebokratie.
Aber in den Abendblattern la#t das cknstkck-demokratiscke Mi—
nisterium Mayr den knurrenden . Beamten, Lekrern, Burgersleuten ver-
kiinden, es werde einen Gesetzentwurf einbnngen, der nickt nur den
Verkauf von Sckleickwaren verbieten, der auck den ,,unmaMgen V er—
krauck von Lebensmitteln" unter Strafe stellen wird. Vorzugkck. Nur
mul? den Fremden, urn die kier eine grolse Kaste von Wirten, Hand—
lern, Weibern sckerwenzelt, erne kesondere Prasserkarte ausgestellt werden.
„AVas wollen Sie mit Ikrem katoniscken Gesickt?" sagte mir ein
in kekordKckem Jesuitismus grau gewordener Beamter, „der Balkan kauft
bei uns, weil der Kaufmann aus Jassy, aus Belgrad nack Wien kommeri
will und nickt nack Prag und nickt nack Pretfburg, das jetzt einen
tsckeckiscken Namen tragt, den Keiner kennt. Und wenn die Herren
von der Entente abends im Glanz des kaiserlicken Wien tafeln, so
fukren wir sie am grauen Vormittag vor die grunkcken Gesickter
rkackitiscker Kinder und sie werden den Kontrast dreifack empfinden.
Der gestern Jubelnde wird keute die erkobene Faust des Proleten mit
scklecktem Gewissen sckeu uberseken." War das nickt wieder ein An-
klang an die, Neuwiener Melodie: Revolutionerl gefalKg?
IV
Gektfl am 20. Januar los? Die Frage wird von Mann zu Mann
geflustert. Am 19. Januar wird ein grotfes Cafe neben der Borse plotz-
Kck „wegen Renovierung" gescklossen. Abendkurse konnen nickt fest-
gesetzt werden, weil die V alutabestimmer nickt in lkr Cafe" einzieken
konnen. Der Streik der Postbeamten wird gluckKck beendet, nacbdem der
100
ckristKcke Ministerprasident kei seinen Parteiorganisationen angefragt kat,
ok er nackgeken durfe, wie era von Anfand an gewollt. Die Arkeiter-
zeitung koknt, datf er auck nur einen Moment den starken Mann
markieren wollte. Eine starke Hand am Staatssteuer — scnon die Zu-
mutung erzeugt em durck den Bundesstaat kallendes Gelackter. Wem
aker, sagt sick der Fremde, soil die Entsckeidung uker das Ausmal? der
Forderungen an den stoknenden Klepper Staat ukerlassen werden? Dem
Heer der Beamten und Staatsarkeiter, das aus den Zeiten der K. K.
Monarckie nock in den verkummertem Rest mitgesckleppt wird? Es
gikt in der weiten Welt keinen Staat, in dem so klutwenig Staats-
gerukl lekendig ware. Der Burger der Monarckie war immer Unter-
tan, apolitisck, naiv - anarckistisck, okne *inneren Zusammenkang mit
dem Staat, der lkm immer nur eine Landkartentatsacke war. Zwei
Jakre reduzierten Oesterreickertums, die paar Monate^ der neuen Ver-
fassung kaken das naiv-egozentriscke Wesen des Osterreickers mckt
einmal auf der Okerflacke gewandelt. Der Klepper Staat sckleppt sick
stoknend weiter. Sturzt er morgen auf dem miseraklen Wiener Pflaster
zusammen ? ^iVen kummert's ? Die Leute mit poktisckem Verantwortungs-
gefukl, die sick mit dem neuen Osterreick identifizieren* sind an den
Fingern akzuzaklen. Bis in die Mimsterkanzleien kerrsckt ein dumpfer
Quietismus: \Vas wird mit uns gesckeken? ^Vir Osterreicker sind, wie
Victor Adler einmal knirsckend gesagt kat, passives Material der AA^elt-
gesckickte. Der Staatskeamte, verkungert und verlumpt, fakrt der Re-
gierung an die Gurgel : Revolutionerl gefallig? Der Staatsmann anti-*
«kamkriert beim V orsitzenden der commission des reparations und ke—
sckliei?t seinen ganz ergekenst vorgekrackten Berickt uker die unkeilkare
Hand elskilanz des Staates mit dem Hinweis auf das Anwacksen der
kolsckewistiscken Instinkte der verzweifelnden, im Grunde jedock sanft-
mutigen Bevolkerung. Leise ziekt durck das Gemut des vorsitzenden
Mr. Goode die freundlick geflusterte Drokung: Revolutionerl gefallig?
Aker am 20. Januar ist es rukig, wie immer an angesagten Revo-
lutionstagen. Nur ein Trupp Kommunisten ist am Vorakend uker den
Sckottenrmg, in die Nake der Borse, und uker den Graken gezogen.
Ick kegegnete dem Zug auf der akendlicken Ringstratfei Sie marsckierten,
mckt gerade stramm, und sangen, nickt gerade aufgeregt. Sie trugen
kleme rote Fakncken, der Stoff ist zu teuer, als daJ? man grotfe flatternde
Faknen ansckaffen Lonnte, und dann und wann kok einer im Gedrange
einen kleinen Gegenstand in die Hoke. Es -war zu finster, als dal? man
ikn auf zwanzig Sckntt erkennen konnte. Dann ging immer ein Ge-
lackter durck die Reiken. Ick drangte durck und sak endKck, -was da
kockgekoken wurde. Es war das kleine, zierlicke Modell eines . . , Gal-
gens. Dazu groklte eine Stimme: „Tod den Sckiekern."* Der niedlicke,
kleine Galgen erquickte die Kinder. Sie lackten, wenn das Modell
kockgekoken wurde und im Lack en ging die Todesdrokung unter. Es
war die lustige Ouverture zu einem AiViener Revolutionerl.
Immerkin, es muf? mckt keim Modell kleiken.
101
DAS AMERIKANISCHE
birrell leftwich STAATSDEPARTEMENT
Es wird deutschen Lesern woMtun, aus dieier der „New Republic""
entnommenen BetracHtung zu erfatren, dai? im Auswartigen Amt der
Vereinigten Staaten Vieles neimatlick anmutet.
Die Verwirrung des amerikaniscken Staatsdepartements, verursackt
durck kaufigen ^Vecksel des fukrendcn Kopres una durck die uber~
waltigenden Aufgaken, die ikm des Nackkrieges ungewoknte Probleme
auferlegen — gar nickt zu reden von der kinderlicken Neoentatigkeit
des Kongresses — , diese Verwirrung ist keute so orfensicktlick, dal? sie
Anlai? allgemeiner Belustigung sein konnte, wenn es mckt wakrsckein-
licker wire, dal? sie Ursacke einer international^ Tragodie sein wird*
Auf dem Hokepunkt der mexikaniscken Revolution, im Mai, war
etne Afeteilung des Staatsdepartements gezwungen, beim Nackricktendienst
des Generalstabs anzufragen, um den Namen ernes mexikaniscken Be-
amten i» Erfakrung zu kringen, der zu dieser Zeit das nebensacklicne
Amt eines Ministers des Auswartigen innekatte!
„Es ist fur unsere Epocke ckarakteristisck und darum der Aut-
merksamkeit des Historikers wiirdig," sagt Dr. Dillon in seiner „Internen
Gesckickte der Friedenskonferenz", „dai? nickt nur die Mitglieder der
Konferenz, sondern auck andere leitende Staatsmanner der angelsacksiscken
Lander ikre wirkungssckwangere Tatigkeit mit autferordentkek geringer
Kenntnis von Land und Leuten ausubten. Wakrend ernes Exposes uber
die Situation im Orient korte einer der grotfen Vier, im Verlauf emcr
Erzaklung uber turkiscke Greuel, dai? die Kurden eine Anzakl Frauen,
Kinder und Greise gefangen und getotet katten. Er unterkrack den
Sprecker plotzKck mit der Frage : „Sie nennen sie jetzt Kurden ; vor ein
paar Minuten sagten Sie nock, es seien Turken. Ick nekme an, dais
Kurde und Turke dasselke Volk ist?" Um den Weltrickter nickt in
Verlegenkeit zu bringen, antwortete der Delegierte respektvoll: ,Ja,
Herr, es ist ungef akr dasselke ; nur : die Kurden sind nock scnlunmer.
Diese Anekdote — sckonungslos die Unwissenkeit derjemgen ent-
kullend, die das Sckicksal der Welt in ikren Handen kielten — kann
als typisck darur angeseken werden, was Tag fur Tag aucn in den
Diplomatensitzungen unseres Staatsdepartements vorgekt. Nickt von
seiten eines Mannes, und sicker nickt von seiten Lansings oder, Polks
oder Colbys; Polk kat seine Gesundkeit in leidensckaftlickem Dienst-
eifer aufgeopfert, und Colky, okwokl erst kurze Zeit im Amte, ent-
faltet bereits ein autferordentlickes Talent zur Losung der sckweren
Prokleme, die das Departement konfrontieren. Vielmekr ist es das
Departement selkst, seine Metkode, oder lesser sem. Metkodenmangel,
gegen das diese Kritik sick ncktet.
102
Em neuer mexikaniscker Militarattacke lommt in Rom an, und
die Tatsacke wird dem Staatsdepartement ganz korrekterweise ke~
ricktet. Der Name des Offiziers wird der Abteilung Westeuropa
. iikermittelt, die auck italieniscke Angelegenkeiten kearkeitet. Durck den
aLsoluten Mangel an Kooperation wird naturlick vergessen, aa.8 die Tat-
sacke von eimgem Interesse auck fur die Abteilung Mexiko sein kann.
Nack einiger Zeit aber tropfelt die Information aur anderem A^/ege m
den Nackricktendienst der Armee, und als sie von da aus soiort den
Leiden Offizieren, die mit mexikaniscken und italieniscken Angelegenkeiten
kefatft sind, mitgeteilt wird, zeigt sick, dal?, was der Abteilung Italien
sekr bedeutungslos ersckien, tatsacklick sckon lange AnlaK zu diplomatiscken
Verkandlungen katte sein sollen. Aus der Vorgesckickte des mexikaniscnen
Offiziers wurde namlick klar, daJ? der neue „Militarattacke k \ em rrunerer
Munitionesackverstandiger, von Carranza wakrsckeinlick zu dem Zweck
nacn Italien gesandt worden war, um Munition dort einzukaufen.
Einige Tage vor Aklauf des Protokolls, das am 8. August 1919
zwiscnen den Ententemackten und Deutsckland DezuglicK der Besetzung
deutscben neutralen Gebietes durck deutscke Truppen abgescblossen
worden war, bittet Deutscbland um dreimonatkcke Verlangerung des
ursprunglick festgesetzten Termines. Das Staatsdepartement bescbliel?t, in
Anbetrackt der Unruken im Rubrgebiet und der Notwendigkeit zu-
langlicken Polizeisckutzes, eine Ubersckreitung der Frist zu gestatten.
Es kescblietft, diese Anregung an die Alliierten weiterzugeben. Im Staats-
departement wird nacn einer Kopie des Abkommens vom 8. August ge-
sucbt. Die kann aber nicbt gefunden werden. So ist das Staats-
departement gezwungen, seine Informationen uber ein Protokoll, das durcb
einen seiner eigenen Beamten unterzeicbnet worden ist, den Angaben zu
entnelmen, die em Hauptmann des militariscken Nacbricbtendienstes aus
dem Gedacktnis geben kann.
Adnanopel und Kirkilisse sollen, so verlangt der President in seiner
turkiscben Note vom 24. Mai dringend, an Bulgarien ubergeben werden.
Ein fremder Gesandter besucbt das Departement und mackt koflick
darauf aufmerksam, da]? die Ostgrenzen Bulgariens scbon durck den
Vertrag mit Bulgarien festgesetzt seien^ der am 27. November 1919 von
Unterstaatssekretar Polk unterzeicbnet worden ist. In den Aktensckranken
des Departements keginnt ein kastiges Forscken. Das Repositorium aller
Kenntnisse, die erst kurzlicb gescbaffene Abteilung fur politiscbe Mis-
information, -wird zu Rate gezogen. Erne Abscbrift des bulgariscben
Vertrages, der am 27. November 1919 durcb Frank L. Polk, Unter-
staatssekretar der veremigten Staaten, unterzeicbnet worden ist, ist im
Staatsdepartement der Veremigten Staaten nickt aufzutreiben.
Der nacbste Fall kebt sick aus dem langweiligen Einerlei der tag-
licken Gesckafte msofern keraus, als er sick auf die Einladungen zu
103
einem politiscken Gartenfest beziekt. Die besckeidene Anfrage nack einer
Liste der S.taaten, die den Volkerbundsvertrag ratifiziert kaben, wird
an die Abteilung fur politiscke Misinformation we.tergesandt. Sie ant-
wortet damit, alle Volkernamen aus der gedruckten Aus gab e des Ver-
sailler Vertrages abzusckreiben, unter ganz korrekter Weglassung Chinas
und der Vereinigten Staaten. Auf berecbtigte Emwande kort man, dal?
wegen dieser Liste erst bei der franzosiscken Regierung angerragt werden
mu£ Itn Jakre des Herrn 1920 und 1m 144. Jakre nack der Unab-
kangigkeitserklarung Amerikas ist es orrenbar keine unsere Regierung
interessierende Tatsacke, ob Grieckenland und Rumanien den V ertrag von
Versailles ratifiziert kaben, oder ob Ckile, Peru und Bolivia dem Volker-
bund angekoren.
Solcke Falle erklaren des groKen Sudamerikaners La Prenza J3e-
kauptung, dal? das amerikamseke Staatsdepartement niemals erne diplo-
matiscke Metkode besessen kake, ja, dal? Amenka uberkaupt keine Dip-
lomatic hesitze. Diplomatic kann es ganz sicker dort mckt geben, wo
die Kenntnis elementarster TTatsacke feklt.
Ein fremder Diplomat erzaklt von einem Besuck 1m Staatsdepartement,
bei dem ikm das Ungliick gesckak, (sick mit emem kervorragenden Be-
amten in Diskussionen uber Mazedomen zu verwickeln. „Aber, wo
liegt denn das, Mazedonien?" fragte der amerikamseke Diplomat in aller
Unsckuld- Okne in Verlegenkeit zu kommen, mit unersckutterlicker
Hoflickkeit, antwortete der fremdc Gesandte, dal?, um festzustcllen, wo
der Erisapfel des Balkans, Mazedonien, augenblicklick liege, man tat-
sacklick zuerst wokl 1m Atlas nackseken musse. Nackdem eine voile
Stunde gesuckt warden, wird aus den Kellern des Departements eine
Karte des Balkans keraufgesckleppt. Aber was fur erne Karte! Die
Turkei umscklie#t nock Bulgarien, Sudserbien, Bosnien, die Herzegowina,
Albanien und das Territorium von Salomki! Denn sie stammte aus
dem Jakre 1870, aus einer Zeit, die nock vor dem Berliner Kongrel?
liegt. Wenn man formalistisck sein wollte, konnte man fragen, ob denn
das Staatsdepartement die Entsckeidungen des Berliner Kongresses von
1878 nock nickt anerkannt kabe, keute, wo man dock annekmen sollte,
dal? die wicktigeren internationalen Ereigmsse unserer weltentsckeidenden
Regierung bekannt sein sollten!
Kann man sick wundern, dal? unsere Diplomaten ikre Gesckarte
kauptsacklick nack Art von Kindern betreiben, die an den Knopren
abzaklen, was sie tun sollen?
104
PHILIPP SCHEIDEMANN MIT VICTOR AOLER
Ira Sommer 1917 trat mitten im artftten KriegsgetOK jene innere Pau« ein,
clie Michaelis nicht zu nutzen, Kiihlmann au verderben wutfte. Damalfl ging
Victor Adler ,,auf Horchp oaten" nach Stockholm, mit ihm Scheidemann, Kautsky,
Bernatein. Auch Vandervelde war in Stockholm und rusaische Friedensrreunde.
Efl war das letzte Mai, daS wir alle das Gluck erlebten, neben Victor Adler zu
sitzen und ihm zu lauachen. Ich gebe hier ein Kapitel aus Scheidexnanns. demnachst er-
acheinenden Buch „Der Zuaammenbruch" (Vcrlag fur Sozialwisaenachaft, Berlin) wieder.
Einige osterreichische Sozialdemokraten waren schon gegen
den 20. Mai 1917 in Stockholm eingetroffen, um mit den Mitgliedern
unseres Internationalen Friedensbiiros Vorfuhlung zu nehmen. Der
Doktor, wie Victor Adler in ganz Osterreich genannt wurde,
hatte zu seinem gro#en Bedauern nicht mit seinen Kollegen reisen
konnen, aus den verschiedensten Griinden heraus, wie aus der
Beschreibung unserer gemeinsamen Fahrt hervorgeht. Am 21. Mai
lief ein Telegramm bei uns im Parteivorstand ein, durch das uns
die Ankunft Adlers in Berlin mitgeteilt und die dringende Bitte
vorgetragen wurde, ihn seines kranken Zustandes wegen unter gar
keinen Umstanden allein nach Stockholm reisen zu lassen. Was
sollte Victor Adler jetzt iiberhaupt schon oder noch in Stockholm?
Er sollte sich dort festsetzen, und zwar als Auskiinfter und Horch-
posten fur die deutschen Delegationen aus Wien und Berlin. Das
war sehr verstandig. Der Parteivorstand bestimmte mich zur Be-
gleitung Adlers. Es kam darauf an, Adler in sicherer Begleitung
zu wissen, ohne dai? er selbst merken sollte, fiir wie krank wir
ihn hielten. Im folgenden gebe ich meine Tagebucheintragungen
wieder.
23. Mai 1917, Fahrt mit Victor Adler von Berlin nach
Kopenhagen. Eine vergniigliche Fahrt ist^s nicht gewesen, weil
Viktor sich in einem bedauernswerten Zustande befindet. Ich habe
ihn nie fiir ein en gesunden Menschen g eh alt en, wufste vielmehr,
daf? er herzkrank und Asthmatiker, aber dal? der arme Kerl mit-
unter direkt bilflos ist, wutfte ich nicht. Er bekam, manchmal mit
einer kleinen Pause, Anfalle, bei denen ich befurcbtete, dal? er
seinen AkVohnsitz sofort in Abrahams Schol? nehmen werde. Als
nach Gjedser eine Dame in unserem Coupe kaum Platz genommen,
bekam Adler einen Anfall besonders schlimmer Art. Er sank
dann formlich in sich zusammen, stohnte furchtbar und rang um
ein bischen Luft. Entsetzt floh die Dame in ein Coupe nebenan.
Ich half naturlich, so gut es ging, tat aber so, als ob es sich um
eine Lappalie handle. Meine „Bemutterung", so sagte ich, gefalle
ihm wahrscheinlich so gut. dal? er ab und zu einen Anfall mar-
kiere. Das sei der Dank fiir meine Gutimitigkeit, mit der ich auf
den Schwindel hineingef alien sei.
^Venn er sich wieder erholt hatte, war er sofort Geist und
Lebendigkeit. Seine Gedanken waren immer bei der sozialistischen
105
Sache, dem Inhalt seines ganzen Lebens. So erzahlte er mir von
einer TJnterredung, die er am Tag vorher mit Kautsky gehabt
hatte. Adler sagte : „Bebel wiirde nocli bis zur Stunde auf unserer
Seite stehen !" Kautsky erwiderte : M Nein, am Anfang hatte er
mitgemacht, jetzt nicht mehr!" — Dann kam Adler auf mich zu
sprechen; er war in alien politischen Fragen ganz d'accord mit mir.
Aber einen Vorwurf macbte er mir: mir feble in den Reden die
Bitterkeit; icb hatte keine Galle; ich sei immer Jbesonnen", das
sei ein Fehler. —
Dann sprachen wir iiber s einen Fritz, der ihn immer wieder
und immer inniger beschaftigte. „Er ist der gliicklichste von uns
alien ; er schafft Tag fiir Tag ; er schreibt eine groJ?e Arbeit iiber
Physik. Im Mai werden sic ihn wegen Mord zum Tode durch
den Strang verurteilen. Das Gericht wird aber selbst den Justiz-
minister auffordern, das Urteil zu mildern. Man wird ihm dann
10 oder 15 Jahre Zuchthaus aufhangen. Was weiter wird, werde
man sehen. Ganz Wien habe gesagt: es sei recht gewesen, was
Fritz getan, schon ein Jahr fruher hatte es geschehen miissen !" —
Natiirlich verurteilt Adler die Tat seines Jungen, aber er versteht
sie: Fritz habe ein Beispiel geben wollen von Opfermut.
„Ich habe zwei Sonne, Scheidemann, davon ist der eine, Fritz,
die Karrikatur meiner Tugenden, der Karl ist die Karnkatur meiner
Laster".
„Fritz hat sich doch eigentlich am Gericht sehr mannlich be-
nommen. Ich bitte, er wollte unter alien Umsianden gehenkt
werden. Er war von vornherein der Meinung, dal? er vor ein
Militargericht komme und dal? man dann kurzen Prozei? machen
werde. Als ich ihn das erstemal besuchte, um ihm zu sagen, dai?
ich ihm den ersten Wiener Verteidiger stellen wollte, den Harpner,
da hat er heftig abgewehrt: er wolle sich selbst verteidigen, er
brauche keinen Verteidiger. Er stimmte erst zu, als ich ihm sagte,
dal? er nach dem Gesetz einen Verteidiger haben musse. Ja, ich
bitte, unter alien Umstanden wollte er gehenkt werden."
Dann wieder sprach er so : „Sie glauben ja gar nicht, was ich
an dem Fritz verloren habe. Er wui?te, wo jede Broschure stand,
die ich haben wollte ; ich wufc nicht Bescheid, wo meine Bucher
waren. Ich war der Meinung, dal? es gar nichts zu bedeuten hat,
wenn mich mal der Teufel holt. Dann wiirde der Fritz die
Schubladen aufmachen und alles in Ordnung bringen, und gut —
na j a, so ist's wirklich. Er hat mich genau gekannt und alle meine
Gewohnheiten . . ."
Uber die Konferenz in Stockholm urteilte er mit einem Opti-
mismus, den ich nicht verstehen konnte. „Wer will denn den
Krieg fortsetzen? Wer kann ihn denn noch fortsetzen? Es ist
doch nicht mehr zum Aushalten T Meine Hinweise auf die un-
verstandlichen Redensarten, besonders der englischen und franzo-
sischen Genossen beantwortete er so: „Denen muC man reinen
106
Wein einschenken, wenn die erst erfahren, was wir eigentlich
gemaeht haben, dann miitften sie doch Esel sein, wcnn sie keine
Vernunft annehmen wollten ."
Adler hatte sich schliei?lich so weit erholt, daf? er nach un-
serer Ankunft in Kopenhagen darauf bestand, noch am selben
Abend eine Besprechung mit Stauning zu haben. Ich alarmierte
also schnell einige Genossen.
Erst speiste ich mit Adler zusammen zu Abend. Es war
riibrend, wie schnell mit einer kleinen Besserung seines Zustandes
auch sofort sein Humor und seine gute Laune sich wieder ein-
fanden. Ein Beweis dafiir war mir die kleine Anekdote, die er
mir, mitten in den schweren politischen Bedrangnissen der Gegen-
wart, bei Tisch erzahlte. Er klagte wehmtitig, was er sein Leben-
lang fiir ein kranker Kerl gewesen sei : , Jch bitte : als Kind hatte
ich schon einen Leistenbruch, als Beigabe kriegte ich dann einen
Wasserbruch. Gestottert habe ich schon von Kindesbeinen an."
Dann erzahlte er, wie er kurz nach Ablegung seines Maturitats-
examens eine Stottererkur in Burgsteinfurt bei Minister i. W. ge-
macht habe. Das war im Siebziger Krieg. Als dann in Burg-
steinfurt eine Sedanfeier veranstaltet wurde, bei der als offizielle
Festredner angesehene Burger geredet hatten, habe ihn plotzlich
der Direktor der Stottereranstalt durch einen Trompetentusch als
Redner anktindigen lassen. Es sei ihm nichts iibrig geblie&en, als
auf das Podium zu treten, urn zu reden — und ad oculos zu
demonstrieren, wie schnell man in Burgsteinfurt das Stottern ver-
lernen kann. Er habe dann „im Namen von ftcht Millionen
Osterreichern" das deutsche Volk zu dem Sioge bei Sedan be-
gluckwiinscht.
„Wissens, Scheidemann, mit den Millionen bin ich nie klein-
lich g wesen. Ich nab' mehr als einmal im Namen von ein paar
Millionen g'sprochen, wenn auch bloi? ein paar hundert Leut'
hinter mir g'standen sindT
Nach dem Essen gingen wir in Adlers Zimmer, wo sich zu
der ersten Besprechung eingefunden hatten Borgbjerg, Stauning,
Nina Bang, Janson, Andersen und ich. Wir sprachen iiber
hundertelei. Borgbjerg erzahlte Petersburger Erlebnisse. Dabei
stellte er wiederholt fest, von Stauning unterstiitzt, dai? Rutland
absolut nicht mehr in der Lage sei , den Krieg fortsetzen zu
konnen. Wenn Osterreich und Deutschland den Krieg mit den
Russen nicht fortsetzen wollten, konne der Krieg im Osten als
erledigt angesehen werden.
Adler in grower Erregung: „Wir den Krieg fortsetzen? Ich
bitte, wir konnen ihn gar nicht mehr fortsetzen, und wir wollen
auch gar nicht. Das kann ich wirklich autoritativ fiir ganz Oster-
reich feststellen. Ich weitf ganz genau, dai? der Kaiser und Czernin
unter alien Umstanden Frieden haben wollen."
107
kUDOLF BORCHARDf DAS GROSSE SCHAUSPlELHAUS
Das neue Tkeater Max Reinkardts ist cm Appell an den Mut,
ciner bis zur Aussicktslosigkeit unerkorten Lage mit ekenso unerkorten
Mitteln zu kegegnen una die Entwickelung, auf der sckieien Ekene ge~
packt und kerumgedrekt, wieder zum Gipfel zu walzen. Jeder Appell
an den Mut weckt zuerst den Ckor aller verkundeten Feigkeiten.
^Vakrehd des ganzen ersten Jahres kaken wir nur die Denkfakigkeit,
die Angst umzudenken und die Sckeu vor Klarkeit uker die entstandene
Lage, semen ungekeuren Entwurf keurteilen koren. von alien Seiten
ker ist das Volk vor den Turen des roten Riesenkauses angekalten,
keim Sckopfe genommen, seitak gezogen und taukgesckwatzt worden.
Horte man auf die Stimmen der landlaufigen Urteiler, so -war es fast
ein Verrat an der deutscken Kultur, m dies Tkeater zu geken, den
sckandKcken Verkrecken an der deutscken Vergangenkeit und dem Geiste
des Dramas, die dort perpetriert wurden, die reine Seele zu leiken.
Aker das Volk war auf (lie Dauer nickt zu keirren. Es kat ein ganzes
Jakr lang die ungekeuren Raume mit seinen Beisteuern gefullt und die
gleicken furs nackste Jakr versprocken. Den Argumenten der Retter
seiner Bildung kat es kaum mit Widerlegungen dienen konnen, kesten-
falls sick das Gewissen triiken lassen. Aker, ok nut gutem oder sckleckten
Gewissen, es sitzt in diesem Hause und kat Besitz davon ergnrfen. Mit
oder okne Griinde, mit oder okne rasonniertes Programm, mit oder okne
Bewutftsein von der Tragweite dessen, was sick in der Stille vollzogen
kat, es kalt an dem neuen Hause fest und ist mckt daraus zu vertreiben.
Max Reinkardt kat die Kritiker keiseite geworfen und das Volk ge-
wonnen. Sein Tkeater ist das Heut der Gesckickte, der Kampf gegen
sein Tkeater ist ein sterkender Rest Sentiment und Ressentiment. Aker
das Heut der Gesckickte ist nickt nur diese Biihne, sondern das Ampkie-
tkeater und was auf ikm sitzt, dies neue Volk, dies neue Puklikum.
Dies Puklikum, ein Puklikum in der Bildung, das nock nickt weii?, ok
es aus Sensationslust oder aus Lekensdrang dort sitzt, ok es sick vergnugt
verroken lal?t oder macktig umwandeln, ok diese Biikne, ok diese Sckau-
epieler, dieac Darstellungsart im leeren Raum nur em neuer Nervenkitzel
sind oder em Rettungssckritt ms neue Reckt des Tkeaters, ok em Effekt
vulgarsten Ranges oder "SViedererstattung Acs Dramas von semem Usur~
pator, dem Individuuni, an semen recktma^igen Herrn, die alte groKe
keiUge Menge, — dies Puklikum kat ein Reckt darauf, im einfacksten
Slnne des \Vortes Reckt zu kekommen — mit Grunden zu vernekmen,
dais es Reckt kat, wenn es die Zeitungen zerreil?t und in dies Theater
gekt — mit Grunden zu vernekmen, dal? es reifer und weiser, mutiger
und freier ist als die Kritiker, die es keraten wollen — , ja, dal? es dem
Mute, dem Instinkte, dem Genie, das dies Tkeater im kedrokkeksten
Momente des Dramas erncktet kat, innerlick wesensverwandter ist als
die ganze keleidigte kokere Bildung, die ikn an gekrockenen Mai?en ver~
milit. Denn in diesem neuen Puklikum ist, ekenso wie im Genie, das
Ewige naiver Mensckkeit. In den Wortfukrern der Memung, die das
108
alte Theater nock fur rettkar halt en, und dem neuen sckon darum zu-
wmer sind, ist nur das Besckrankte der Epoclie, das ererbte Vorurteil
von kloi? gekildeten Begriffen olme Bild und Leidensckaft, das die Mittel
fur die Zwecke mmmt, und sie nocn verteidigt, wo alle lebendigen Zwecke
langst verloren sind,
Darum Kate ick mit Zakl und Mai? begonnen; darum kekre ick zu
Zakl und Mai? zuruck. Denn das grotfe Haus ist nickt die alte Bukne
nut einem verzeknfackten Zukorerraume ; weit gefeklt. Aut die Stil-
losigkeit so halber Losungen konnte nur der Irrtum verfallen, der den
sogenannten Wenigkemittelten an der Gnadentur bourgoiser Bildung Teil
geben wollte und die gnadenlosen Zwitter der Volkskiiknen sckuf. Es
ist nickt die Bukne, die vor funftausenden ebenso spielt wie sie, wenn
durcn den kalben Zuscnauerraum Kin cine Zwisckenwand eingesetzt wurde,
vor funfkundert spielen wurde; das ware neuer Most in alte Scklaucke.
Die Menge ist nier nickt zugelassen, sondern sie ist kier Herr: Sie wird
kier nickt von der Bukne ker gebildet, sondern sie gestaltet diese Bukne;
und sie gestaltet damit ikre primarste einfackste Eigensckaft, durck mre
Wesenkaftigkeit; damit jeder von alien Seiten ker in den Buknenvor*-
gang Emblick kaben kann, der xlocksitzende, der Sckiefsitzende, der beit-
sitzende, opfert die Bukne das Flackenbild, das nur dem von vorn drauf-
starrenden Auge als solckes sicktbar wird; es opiert die Koukssen, in
die mneingeguckt werden wurde und den Scknurboden, und sprengt alle
Leisten des alten Kastens. Sie ist nickt mekr Ausscknitt, sondern Raum,
nickt mekr Flacke, sondern dimensioniert wie das Lebenckge. Die Bekelie
der Bildung, mit denen es so leickt war, Buknenstil zu kalten, sind ge-
f alien; die Bukne stekt wieder an ikren Anfangen. Die ist ein Tanz*
raum, ein Spielraum, ein Raum zum Agieren, ein Raum fur Aufzuge
wie beim deutscken Barockdrama.
Das aber ist die alte Position des alten Tkeaters der Mensckkeit
gegenuker. Nur ist sie, ekedem laflick, kier durck die eisernen Sckranken
des Wirtsckartsgefuges unserer Zeit uncrkittkck geworden. Das Tkeater
Max Remkardts ist wie alle grotfen und eckten Revolutionen im Grunde
erne Restauration, Wiederkerstellung einer alten Organizitat an Stelle
cmer uberlebten Systematisierung. Ok diese Wiederkerstellung glucken
kann, das zu entsckeiden liegt beim deutscken Geist und seiner poetiscken
Kraft — Goetkisck zu sprecken kei „des Menscken Kraft im Dicktcr
offenkart . Der Dickter wird zu zeigen kaben, was er mit dieser Kraft
teuen kann, durck welcke alien gememsamen Kraften er sick mit lknen
ma gleicke zu setzen vermag. Alle Voraussetzungen dafur, das Sckuld-
buck der Zeiten zu zerreilsen und frisck wie der Atkener und der Brite
urn das Herz seiner Zeit zu rmgen, smd ikm gegeken; das Haus stent
da, die Banke sind gefullt, cine Bukne davor, wie Goetke sic verlangte,
als er sick m jenem keruktnten Briefc an Kleist. auf zwei Brettern uker
zwei Fasser gelegt, mit Skakespeare und Calderon jedes J->krmarkts-
pukkkum zu bezwmgen getrautc. Dies und nickts anderes, in gigantiscken
Maal?en, ist das GroKe Sckauspielkaus. Es lai?t alles Menscklickc zu, das
AllzumensckKcke und das UbermensckKcke nickt ausgescklossen. Man
109
hat die \Vahl, ob es eine sublime oder gememe Statte wei-den soil. Zu
Dei den wxrd sick die Masse bereithnden lassen, je nacndem man sie liebt
oder veracbtet. Man Kate den Mut dessen, der sie erbaute, und scbaudere
nicht vor dem Worte plebejiscn zuruck. Es ist dem Erbaoensten minder
unverwandt als $ seme Entartungsrorm, das Vulgare, das aurgeputzt und
mit ralschen Steinen staffiert, der Gaunerprunk vor den sterbenden
Bubnen der Emporkommbnge spazieren runrt und sicb 1m xCmo die
Form gescbarren hat, die alles Toaeswerte dieses grol?en und ungliick-
licben Volkes allem verdient, indes sein Lebenswertes nocb einmal die
Frage an des Scnicksal stellt, — kier und bier allein.
Robert mOller MORITZ HEIMANN
Es bedurfte nicht des Erscbeinens cines neuen Bucbes von
Moritz Heimann, um auf diesen Schriftsteller selbst in einer auf
Tagesfragen aggressiv ausgericbteten Zeitscbrift zu spreehen zu
kommen. Es gibt eine latente Aktualitat ganz groi?er gedank-
licher Gefulltbeit, die in jenem Augenblick frisch aufgebrocben ist,
wo man, wie nur aus Unacbtsamkeit, an sie anstoi?t. Aber das neue
Bucb Heimanns, ein Drama, „Armand Carrel" bei S. Fiscber Verlag,
Berlin, ist in der Tat so eigentumlich fiir den Autor, daf? man ibn
ungeacbtet seiner cbroniscben Wicbtigkeit nocb einmal auf den Fall
bin wichtig nebmen muf?. Dieses Drama scbildert die Entstebung
der heutigen industrialisierten Presse aus der Verkniipfung person-
licber Scbicksale. Kampf um die Idee der Zeitung, die als demo-
kratiscb erziebendes Mittel zugleicb aucb ein nivellierender, aus-
walzender Faktor werden mui?, aber moderner grol?stadtiscber
Spracbgeist und etwas patriziscb formale Redeweise, dem Fran-
zosischen entlebnt und vermablt mit einer preu(?iscben Leidenscbaft
zu Regelmafftgkeit . . . geistreiche Formulierung, die aus der Glas-
baustreibluft des Salons dennocb geistige Pflanzen ziebt, die aucb
in der rauhesten Praxis gedeiben konnen : kennen wir diese Art, die
bier r einen Triumpf feiert, verstarkt durcb die Bedeutung des Vor-
wurfes, der uns durcbaus so erscbiittert wie Otbello, Hamlet oder
Clavigo, weil wir nicbts starker erleben als die sozialen Probleme
vor ibrem weitesten Hintergrund der Menscbbeitsentwicklung und
kennen wir diese scbriftstelleriscben Zucbte nicbt aus den gesammel-
ten Werken, die vor einigen Monaten, aucb im S. Fiscber- Verlag,
erscbienen sind und das Lebenswerk Heimahns gesammelt urn-
fasten ? Dieses Lebenswerk teilt sicb in ein redaktionelles und ein
publizistiscbes, und vielleicbt ist der grol?e Schatten , den beide
werfen, daran scbuld, da/? keins so recbt ins Licbt treten konnte.
Es eriibrigt sicb wobl, zu singen und zu sagen, welcbe arcbitek-
toniscbe Kraft diesem Heimann gegeben, da er in 25 Jabren die
deutscbe Literatur aufgebaut bat. Denn Heimann ist der literariscbe
110
Leiter des bis auf die allerjiingsten Ricbtungen und ibre verlegeriscben
Vertreter scbopferiscbsten Verlages gewcsen. Das bucblicbe Werk
konnte, zerstreut wie es in Zeitscbriften und in Pausen erschien, vor
dieser tektoniscben Leistung unbeacbtet bleiben ; jetzt drangt es sich
macbtig Kervor, und wir gewahren, dal? wir wabrend der letzten
Jabre einen Autor unbeacbtet lassen muften, weil er selbst die
Personal - Union mit seinem eigenen Forderer dargestellt baben
wiirde, einen Forderer, der sicb an jeder anderen Personlicbkeit
mit unerscbopflicber Giite, mit V erstandnis und sacblicber Ge~
bildetbeit ohnegleicben auswies. Die gesamten Scliriften Heimanns
beitfen „Prosaiscbe Scbriften" und umfassen drei Bande. Im ersten
Band, dem Politischen, sind scbon in friiberen Jabren in Stellung
und Bebandlung Fragen vorweggenommen, wie sie vielleicbt ge-
sammelter und seiner Ricbtung bewu(?ter beute der Aktivismus
bearbeitet. In Fubrung und Ausdruck, Reinbeit der Gesinnung,
Scbmelz der deutscben Spracbe erbeben sicb diese prosaiscben
Scbriften neben dem Tbomas Mannscben Sammelbucb liber Politik,
das viel spater als der erste Abdruck der Heimannscben Publi-
kationen erscbien. Heimann ist wohl aucb zu spitzfindigem Geist-
reicbsein geneigt und scblagt mit lateinischer Scbmiegsamkeit eine
gedanklicbe oder scbreiberiscbe Volte; aber in seinen Satzen ist
Geist zwiscben Fingerspitzen zu nebmen, so substanziell, so klar,
so strukturbaft, wie es nur dem grotften Autor gelingt zu scbrei-
ben: man denkt an Voltaire, an Lessing. Es gibt wenige unter
uns, und da rede icb scbon gar nicbt von den Jungeren, die sicb
so sehr um einen geringen Ausdruck katzbalgen, die diese straffe
Federfiibrung erreicben. Am bezeicbnendsten fur Heimann er~
scbeint mir, dais er Psycbologe von Scbarfsinn, ja von Scblaubeit
und Gerissenbeit ist. Er bat mancbmal eine geradezu verscbmitzte
Art, Proportionen den Teilstricb zu entzieben, so dal? sie nackt
zutage liegen; aber seine Psycbologie ist niemals Manie, wie bei
den um einige Jabre Spiiteren , die er vielleicbt selbst in die
Literaturgescbicbte gegangelt bat, sondern sie ist gutes Benebmen
zu Hause ; eine sebr weise und nette Gastfreundlicbkeit f iir die
menscblicben Scbwacben offentlicber Typen und ibrer Akte. Icb
wage es nicbt, Heimann zu loben, weil es sicb kaum ziemen kann,
wo man so anerkannt und verebrt, einen Vergleicb zu zieben.
AA/enn icb sage : Voltaire und Lessing , so setze icb den Ver~
glicbenen nicbt im geringsten der taktlosen Zumutung aus, einer
graduellen Gleicbsetzung unterworfen worden zu sein , obwobl
diese nicbt einmal falscb sein mutfte, sondern icb vergleicbe dann
den Ernst der scbriftstelleriscben Mission und sowobl den Willen
als die Kraft sie durcbzufubren. Wie sebr Heimann sicb mit
dieser Mission des Scbriftstellers in unserer Gesellscbaft befatft
bat, bezeigt die dialogiscb geradezu verbliiffend aufgebaute Dar~
stellung der im Zeitungs~ und Scbreibebetrieb wirksamen polaren
Krafte, die das Drama des „Armand Carrel" gescblungen bat.
Ill
JOACHIM RINGELNATZ GROSSTADTISCHE SACHEN
Der Matrose" Joachim Ringelnatz verbliifft und erfreut alle Zunorer in
„Seball und Raucn'\ Wer ist Ringelnatz? ,,Mein Leben*\ scbreibt er mir,
,,zog bisher in den narriscbsten Kurven, ich war Seemann, Bibliotkekar,
Zeitungsjunge, Kaufmann, Jahrmarkta artist, Schaufensterdekorateur, cin grower
Esel und vicles anderc."" Diese bunte Vielbeit lebt auch in seinen Gedichten.
feierabendklAnge eines einhAndigen METALLDREHERS an seine
FRAU MIT PREISGEKRONTEN BEINEN
Ick katte clem Hinz em Ohr akgebissen ? !
Wie kann der Oswald das wissen,
Dieser Speickellecker \
Der war dock damals mit die Dachdecker
Bei \Vasmann in A.kkord.
Hermine ! Ekrenwort !
Ick kake den Hmz nur rausgesckmissen
lA^eil er gesagt kat : du kattest die Konkurrenz besckummeit,
Und ick kake mm das verketen
Und nur ganz leise in den Rucken getreten.
Mir 1st dock \Vursckt, ok ikr zusamnien poussiert
Und in die Wirtskauser laurt.
Ick will nur nickt, dais mr das Geld versaurt,
Wo eigentkck mir zugekukrt.
Hinz und Hillkreckt kaken die J3reidkantieue und den V orscklag—
hammer an Messmer verkaurt
Und mick kaken sie ausgesckmiert.
Hinz ist ukerkaupt garment organisiert.
Und *der soil mick klos nickt reizen,
Und deswegen konntest du immerkin die Stuoe keizen;
Denn wenn wir auck arm seln — —
Ick kake nur erne Hand, aker weke, wenn aie sick kallt.
v or den Feuern ist s kelis und der Heimweg ist kalt.
Und wenn man nack Hause kommt, soil es dann wemgstens warm sein.
Aker ikr treikt alle Sckwmdel und Betrug
Und der Oswald ist ekenso sckleckt,
Und Hinz kat an einem Okr nock ukergenug.
Und ick pocke aut mem ekrlickes Reckt
Und lasse mick nickt von denen verkoklen.
— Sckweine smds ! —
Und den Hammer und die Feile kaken nickt Hillkreckt und Hinz,
Den kake ick ganz alleine gestoklen ! !
112
WAS DER LIFTBOY AUSSERT,
Fabrstubl ahol!
Icb Din der Boy
An Silberstems Lift.
Bin icb mal nicbt dabei,
ReiKen die Stricke entzwei
Una zermalmt oder zerquetscht wens gerade trirrt*
Aber wenn icn bediene,
Saust die Mascmne
Im Nu
Aus dem Hocnpaterre bis zum dritten.
Urn ein Trinkgeld dari lcb nicbt bitten,
Aber feme Herrscbten drucken ein Auge zu.
Am Zabltage sagt der Herr Silberstein
lcb durfte stolz auf den Posten sem,
Wo lch immerfort stiege,
Und icb bekame nur klemes Salar,
AkVeil icb furs Lift so geeignet -war,
Weil icb so sebr wenig wiege.
Da lernt man so allerlei,
Und da ist viel Verantwortung bei.
Aber icb kenne scKon mcmc Kunden.
Da bats erne auf micb abgesebn.
So erne dicke nut runden
Busen, die will mir den Kopf verdrekn.
Und da blieb der Fabrstubl im Dacbstubl stebn.
Und da memte sie, mu#te -was gescbebn,
Und da hat sie plotzlich entbunden.
Das gebt so ungefabr :
Bitte sebr ! Immer berein !
Wer will nocb mal von unten geliftet sein ?
So % 4, 6 Halt! Nicbt mehr!
RRRRR;!
Unsereins leidet am Nervenscbock.
Das kann aucb nicht jeder.
Halt!!!!
Meine Damen, bitte scbon ! Zwiscbenstock !
Abteilung Knocben und Leder !
113
karl capek DAS TRIBUNAL
In Jem kleinen Stations gek aude wur de Gerickt gekalten. Man
fukrte emen Menscken kerein, tier in Jem Augenblick, da er einem Ver-
wundeten den Rest gab, festgenommen worden war. Er war nock jung,
leickenfakLrmit^Entsetzenssckweii? bedeckt. Von semen durck einen Hieb
mit dem Gewekrsckaft verwundeten Lippen floi? Blut, das er mit den
furckterlick befleckten, bis auf den Knocken zersckundenen Handen uber
das Gesickt sckmierte. Er war zum Erbrecken sckrecklick ; er zitterte
am ganzen Korper, elend und armselig bis zur Unmenscklickkeit.
Der vorsitzende Offizier stellte ikm Fragen ; der Mensck antwortete
nickt. [Er^nannte nickt einmal eeinen Namen. Er Kei? nur seine Blicke
voll waknsinnigem Hal? und Entsetzen kerumirren. Dann sagten die
Soldaten aus, laut, mit racksucktiger Lust. Der Fall war ubrigens klar :
Er katte einem verwundeten Soldaten den Garaus gemackt und ikm ein
Armband samt Ukr vom Handgelenk gezogen. Der Vorsitzende trom-
melte mit den Fingern auf dem Tisck, auf dem nock gestern der Morse-
apparat geklappert katte; es gab nickts mekr zu erfragen. ,,Auf Grund
des Standrecktes", sagte er also, „verurteile ick diesen Menscken zum
Tode durck Ereckietfen. Fukrt ikn ab." — Der Mensck begriff kein
Wort; 4 er liei? sicK davonsckleppen und wisckte sick die Lippe mit den
klutigen Handen. Das Gerickt war keendet.
Der vorsitzende Offizier scknallte den Sabel ab und ging kinaua
vor die Station, um Atem zu sckopfen. Es war eine Mondnackt. Alles
wie in marmornem Lickt erstarrt. Weitfe Landstratfe, weitfe Baume,
kelle Wiesen unaksekbar. Durcksicktiges Weil?, kristallnes Bangen,
grenzenlose und starre Spannung. Unabsekbar Kcktes Sckweigen. Helle,
tote, froststille Nackt. Kein Stern straklt, nickts winkt dir zu; nickts
gibt es ; nickts als frostige Blendung.
Der Offizier senkte das Haupt. Aus dem Baknkofswartesaal kort
man das Scknarcken scklafender Soldaten. So verwakrt sick die Fin-
sternis selbst durck gesundes und warmes Scknarcken gegen die Erkaben-
keit der Mondnackt; sie meldet sick, um die Beklommenkeit zu uber-
winden. Aber dort ruckwarts, irgenplwo kinter dem Gleise, ist ein
Hauecken, dort kat man den Verurteilten eingesperrt, dort ist es finster
und still; nur durck eine Ritze dringt dort das sckreckKcke Lickt des
Mondes kinein.
Wie er gesckwitzt katte, wie er vor Angst gesckwitzt katte ! Jetzt
entsinnt sick der Offizier, dai? er die Augen nickt von seiner Stirn ge-
wendet katte. Von ungefakr drangt, epritzt ein Sckweitftropfen kervor
114
und nnnt nieder, und immer wieder einer. Es war, als weinte diese
Stirn.
Act, ist denn alles akgestorben lm kuklen Raukreir des Lickts?
Regt sick nirgendwo ein Tier, wuklt sick kein Maulwuri den Weg lm
Gras, piept kem Voglein zum Beweis, dal? es lett ? Smd die Dinge nur
Pkantome und gikt es mckts als dies umrdiscke Dammern und den em-
samen Menscken, der lm Licktglanz rrostelt?
Und plotzkck ertonte erne starke kallende Stimme, wie wenn das
Mondkckt zu sprecken keganne : „Es gikt ein Gesetz.
Der Offizier erstarrte. AA^er sprickt da, wer darf sagen, es geke
ein Gesetz ? Horck, -war alle steken unter dem Gesetz ; wir sind von
Gesetz umscklossen wie vom Strick des rlorizonts. V ermockten wir dem
etwas zu tun, wenn wir nickt mu#ten ? Wie kielte ick meine dreilsig
Soldaten zusammen, wie konnte ick lknen keieklen, wenn es kein Gesetz
gate? ^Vokin ginge ick jetzt, wenn es kem Gesetz gake ? Es gake kerne
Gerecktigkeit; es gake keinen Menscnen okne das Gesetz ; es gake nickts,
und die \Velt wurde emsturzen !
Da erwiderte die rukige Stimme, die lm Mondkckt sprack : „Es
gikt ketne Gerecktigkeit !
Wie denn, wendete der Orrizier erkittert cm, wie kannst du
sagen, ea geke kerne Gerechtigkeit ! Ick kake ikn verurteilt, weil er
einen V erwundetcn erscklagen kat; ick kake lm ISJamen des Gesetzes
gekandelt, Und gake es kem Gesetz, so katte ick nack meinem Ge-
wissen gekandelt. ick katte ikn aui der Stelle niedergestocken ; ick katte
lkm nut der Pistole denn Sckadel einscklagen konnen und mein Ge—
wissen 'ware rukig.
Da sprack die unendkcke Stimme : „Es gikt kein Gewissen."
Der V orsitzende des Tnkunals ricktete sick auf, um der furckt-
karen Stimme die Stirn zu kieten. Siek auf den Perron, wendete
er leidensckattlick ein, dort Hegen drei erscklagene Soldaten. Drei
junge Manner, die am Morgen gelekt kaken. Sic lackten morgens
und redeten mit rauken lustigen Stimmen, wie wenn sic spielten. Da
mutft du wemen und rasen, wutend und waknsinnig wirst du vor Ge-
recktigkeit und Gewissen; da scklagst und urteilst du aus Zorn und
Grimm, und so du Gott kist, wirst du nickt anders konnnen, -wirst
nickt anders konnen, als dem Menscken Reckt widerfakren zu lassen.
Die Stimme, die lm MondKckt sprack, sckwieg. Der einsame
Mensck wandte sick gen Himmel, der wie eine milckige Kuppel voll
115
stassen Licktes war. Und da sprack die Stimme: „Es gikt keinen
Gott."
Der Mensck erkekte und entsetzte sick. Vielleickt wird jetzt der
klemste Graskalm, der Staut auf dem Wege, vielleickt ein wei!?er Stein
vielleickt die Blutstropfen des Verurteilten seller, die kier vor der Sckwelle
trocknen, sick ]ak kimmerwarts keken und Protest rufen; sic werden Gott
verteidigen, lkn lei dens ekaftkek kestatigen, zumindest werden sie sick
melden, zumindest sick entsctzcnl Stille, todlicke Stille; nur einer der
scklafenden Soldaten dort kmten spnckt aus dem Scklaf ; nickts regt sick.
Okn Ende starrt weitkm die Landsckaft un Sckweigen des Alls.
Und ick?! entsetzt sick der Mensck. Meldet sick nickt einmal
m nur eine Stimme, die Antwort gake ? Nickts gikt mir ein Zeicken?!
Nickts, niemand kilrt mir ? !
Da larmt jemand unter den Soldaten, jemand erwackt sckwer; es
ist Mitternackt, vv ackaklosung ; krummend, kiistend, riemenrasselnd gekt
em Soldat auf die Wacke kinaus.
Der Offizier raffte sick auf und wandte sick ak ; im Gang griitfte
das klmzemde Lickt einer Laterne, warm, feist, vertrauKck, und er fai?te
die Laterne wie erne Gefakrtin und gmg mit ikr auf den Perron. Hier,
gleick beim Gleis, drei tote Leiker; drei erscklagene Soldaten; nickts.
Das Mondlickt kedeckte sie mit dem Reif unirdiscker Gleick gultigkeit.
Vor dem Brettertor des Sckuppens gekt ein Soldat auf und ak
Zekn Sckritte, zekn Sckritte ; kei der Wendung Llinkt sckarf das Ba~
jonett auf. Der Sand auf dem Perron, das Gleis, der wettfe ^vVurfel
des Sckuppens, alles wei#, klendend, unirdisck, gespenstisck. Es gikt nickts.
Es gikt ukerkaupt nickts. Es gikt nur das Weltall.
Der Offizier kekrt langsam in ^ie Kanzlei zuruck, wo er Gerickt
gekalten, legt sick auf das Sofa und stellt zu semen Haupten das arm-*
selige Baknkofslaterncken auf den Tisck : das gelbe Olflammcken zittert.
duckt sick, warmt sick an sick selker, und der Mensck auf dem Sofa
wendet den Blick nickt davon ak, bis seme Augen zu tranen kegmnen,
kis er vor Tranen und Mudigkeit emscklaft.
HELEN GRUND POLYGAME FRAU
Wer? — Bist e$ Du? — Ein Vergessener? — Dcr in cter Zukunft? —
Alle — . Es naht mir der Gott in imracr Trechselndcr Form.
116
$. WIRTSCHAFTLICHES TAGEBUCH
ZUSAMMENBRUCH DES ENGLISCHEN AUSSENHANDELS
Die engliscbe Handelsstatistik des Jabres 1920, von der jetzt
auch die letzten MonatszifFern vorliegen, zeigt, dai? die Krise, tiber
die driiben alles stobnt, keine Oberflacbenerscbeinung ist. In der
ersten Jabresbalfte scbien man auf der Babn der Konsolidierung
riistig vorwartszuscbreiten; aber dann glitt man jab berab. Es ist
kein Trost, dai? selbst die Dezemberausfubrziffern nocb ein wenig —
sebr wenig — hober sind als die von 1919; denn 1919 war ein
Ubergangsjabr, ein Jabr der Umstellung, des Neuanfangens. Was
im Friibjabr und Friibsommer .1920 erreicbt wurde, war keine
Forcierung des Gescbafts, keine Uberspannung der Krafte, sondern
bestenfalls der Status, bei dem und mit dem die britiscbe Industrie*-
und Handelswirtscbaft gesund werden und gesund bleiben konnte.
Der Abstieg von dieser Hobe bedeutete Stockung, Scbrumpfen und
Verscbwinden der Unternebmerprofite, Bescbaftigungslosigkeit, ge-
waltsame Senkung des Lebensstandards der Arbeiter.
Seit Juli mindert sicb die Einfubr, seit August die Ausfubr.
Der Riickgang der Einfubr summiert sicb aus zwei entgegengesetzten
Bewegungen: einer forts cbreiten den und in den letzten Monaten
eebr starken Abnabme der Robstoffimporte und einer (im ganzen
bedeutend scbwacberen) Zunabme der Fabrikateinfubr. Die Ein~
scbniirung der Ausfubr, die, von Juli bis Dezember dem Werte
nacb fast um ein Drittel gefallen ist, bezeicbnet naturlicb die Ab-
satzkrise, mit der das engliscbe Industrieerzeugnis in der Welt
und vornebmlicb in Europa zu kampfen bat. Allein im Dezember
ist der Export von Fertigwaren um rund 25 Millionen Pfund ge~
sunken. Desbalb ja aucb der steile Abfall bei den Ziflern der
Robstoffimporte; wenn man das Fertigfabrikat nicbt verkaufen
kann, bestellt man kein Robmaterial.
Einige der Wirtscbaftspolitiker, die iiber die Tberapie der
Krankbeit debattieren, geben von der Einfubrstatistik aus. Sie
weisen auf die Steigerung der Fabrikatimporte bin und folgern,
daf? die britiscbe Industrie durcb Scbutzzolle vor fremdem Wett~
bewerb bebiitet werden musse. Aber ibre Metbode ist offensicbtlicb
scbon rein quantitativ ganz unzulanglicb. Denn die Zunabme der
Fertigfabrikat einfubr fallt bei weitem nicbt so stark ins Gewicbt
wie der Ausfubrverlust Im Dezember beispielsweise ist wie bereits
erwabnt, der Export von fertigen Erzeugnissen um. etwa 25 Millionen
Pfund gesunken ; dagegen bat sicb die Einfubr solcber Waren nur
um 3Va Millionen Pfund vermebrt. In den letzten drei Jabres-
monaten war das Minus der Einfubr von Robstoffen zur industriellen
Verarbeitung alles in allem sebr viel gro&r als das Plus der
Fabrikatimporte. Gelange es also, die letzteren zu drosseln, so
117
Ware das Problem damit noch lange nicht gelost. Zudem wiirde
•ich ja in diesem Falle der Ausfukrverlust noch weiter erhohen.
Denn die Lander, denen man das Verkaufen erschwerte oder
verwehrte, miitften sich natiirlich auch im Kaufen beschranken.
Die Englander, die aus ihrer neuen Handelsstatistik protek-
tionistische Schliisse ziehen, haben sie sehr oberflachlich oder mit
vorgefa(?ter Meinung studiert.
DER SINKENDE DOLLARKURS
Wenn der Dollar fallt — und neuerdings tut er das wieder —
stecken die Handelspolitiker in Deutschland immer sehr erregt die
Kopfe zusammen. ^^as ist der Grund, fragen sie; was beabsich-
tigen diese scblauen und allmachtigen Yankees? Stiitzung der
Mark, Kreditorganisation grotfen Stils, wirtscbaftlicbes Zusammen~
arbeiten mit Europa und Deutschland? Man weif? es nie ganz
genau; aber man hat stets das Gefiihl, daf? etwas Bedeutsames in
der Luft liegt.
Nun kann ja schlief?lich der Dollar auch einmal fallen, weil
die Zahlungsbilanz fur Amerika ungiinstiger wird. Die November-
statistik, die jiingste, die wir kennen, zeigt, dai? die Ausfuhr der
Union gegen den Oktober um 77 Millionen Dollars abgenommen
hat, die Einfuhr nur um 13 Millionen. Wahrscheinlich hat sich
diese Entwicklungstendenz seither noch betrachtlich verscharft. Im
Herbs t ist sehr viel Korn aus den Hafen Nordamerikas nach
Europa verschifft worden; neuerdings ist dieser Export, wie -wir
aus der englischen Einfuhrstatistik wissen, wesentlich zuriickgegangen.
Auch das Kohlengeschaft der Vereinigten Staaten ist flauer ge-
worden. England, das jetzt viel mehr fordert als vor dem Streik,
bietet Kohle zu sinkenden Preisen an, und die Franzosen weisen
die amerikanischen Offerten zuriick, weil sie die im Vergleich zu
jeder anderen lacherlich billige deutsche Tributkohle im Uberfluf?
haben und bekommen.
Vermutlich ist also jetzt weniger Nachfrage nach Dollars in
der 'Welt als noch vor wenigen Wochen ; und weniger Nachfrage
bedeutet auch ohne ^Manipulation" niedrigeren Preis. Zweifellos
haben die Amerikaner so viel Forderungen, Guthaben und An-
lagen im Auslande, dal? sie trotzdem den Dollarkurs halten oder
sogar steigern konnten, wenn sie wollten. Aber selbstverstandlich
wollen sie nicht. Denn sie wissen, dal? sie mit dem billigeren Dollar
viel eher wieder ins Internationale Geschaft kommen als mit dem
teureren. Sie verringern ihre fremden Anlagen und Guthaben nicht
(sofern sie nicht voriibergehend autfergewohnliche Bedurfnisse innerer
Finanzierung dazu zwingen) sondern vermehren sie, soweit sie
konnen. Wahrend sie iiber die grof?en offentlichen, halboffentlichen
oder trustma/?ig organisierten Kredite noch hin und her beraten, geben
sie schon fleifiig Privatkredit. Denn ihre Speicher sind ja so voll . . .
U8
WlRTSCrlAFTLICHE FRANZ&SIERUNG DES SAARGEBIETS
In der Handelspresse las man des ofteren, dai? Aktien oder
Aktienmehrheiten saarlandischer Groi?industrieunternehmungen an
franzosische Konzerne Ubergegangen seien. Aber da wir von diesen
Transaktionen nur gelegentlich erfuhren, haben wir sie mcht summiert.
Der letzte Jahresbericht der franzosisch-saarlandischen Handels-
kammer hat sie summiert. Und nun wird una plotzlich klar, daf?
die ganze Schwerindustrie des, wie wir h off en, immer noch
deutschen S aargebiets zum iiberwiegenden Teile f ranzosischem
Kapital gehort. Zwar sind deutsche Betefligungen noch da. Aber
wo die Franzosen die Unternehmungen nicht vollstandig erwarben,
haben sie sich meist so grof?e Teile des Aktienkapitals abtreten
lassen, dal? sie die Herren sind und die Deutschen bestenfalls
Juniorpartners.
Die deutschen Indus triellen, die sich gefugt und verkauft haben,
sind natiirlich nicht zu tadeln; unter dem gegenwartigen „inter~
nationalen" Saarregime ist gegen franzosischen Willen kein Betrieb
zu fuhren. Aber wenn das Saarland zu Deutschland zuruckkehrt —
vielleicht friiher, als der Versailler Vertrag annimmt und zulaf?t —
wird man im deutschen Industriegebiet eine franzosische Kapitals-
enklave haben. Keine ganz einfache Situation. Wird man dann
dem Beispiel von heute f olgen und die nunmehr wieder deutsche
Saarlandsverwaltung so handhaben, dal? die Franzosen gern ver~
kaufen? Oder wird die Frage uberhaupt keine Frage sein, weil
sich bis dahin franzdsisches und deutsches Schwerkapital zu ge*-
meinsamer Trustherrlichkeit eng verbrudert haben ?
NACHKRIEGSSTIMMUNG
Im Jahre 1797 achrieb Goethe:
„In Frankfurt ist alles tatig und lebhaft, und das vielfache Ungluck
scheint nur einen allgememen Leicntsinn bewirkt zu haben. Die Million en
Kriegs contribution, die man im vorigen Jahre den vorgedrungenen Franzosen
ningeben musste, sind, sowie die Not jener AugenbKcke vergessen, und
Jedermann findet es aui?erst unbequem, dai? er nun zu den Interessen
und Abzahlungen auch das Seimge beitragen soil. Ein Jeder beklagt
sich uber die au&rste Teuerung und fahrt dock fort, Geld auszugeben
und den Luxus zu vermehren, uber den er sich beschwert. Dock babe
ich auch schon einige wunderhche und unerwartete Ausnahmen be~
merken konnen. *" —
119
MJS DEM TAGE-BUCH
STREIK DER KRITIKER
Der Tkeaterzettel der drei Hol-
landerkuknen ersckemt in cinem acnt-
seiti gen Heft, das sick „Blatter des
deutscken Theaters nennt. Eincs
Tages muff jemand dieses Heft ge-
lesen kaken. Denn es kegak sick,
daf? der „ V erkand der Berliner
Tkeater-Kritiker" einen Brief an
Felix Hollander ricktete, wdrin die
Zunft der Herren, deren Beruf es
ist, wakrend vierzig, funfzig oder
seckzig Jakren dreimal woekentkek
\m Parkett der Tkeater zu sitzen,
fur eine Beleidigung Genugtuung
verlangten, Ale in einem Aufsatz des
Dickters Rudolf B o r c k a r dt (Heft 7
der „Blatter des Deutscken Tkea-
ters") entkalten gewesen sein soil.
Fekx Hollander entsckloi? sick, den
Aufsatz zu lesen. Ick drucke
Borckardts Betracktungen in diesem
Heft ak. Da anzunekmen ist, dal?
selbst in Majestatskeleidigungen ge~
ukte Staatsanwalte in dem „Sckmak~
artikel," (so nannte lkn Okerstaats-
anwalt Faktor im „Borsencouner )
die autontatsverletzende Stelle nickt
leickt finden werden, kabe ick sie
kerausgefisckt. Sie lautet:
Dies Puklikum (aes groisen
Sckauspielkauses), ein Pukkkum
in der Bildung, das nock nickt
weii? n ok es aus Sensationslust
oder aus Lekensdrang dort sitzt,
ok es sick vergnugt verroken laut
oder macktig umwandeln, ok diese
Bukne, diese Sckauspieler, diese
Darstellungsart im leeren Raum
nur ein neuer Nervenkitzel oder
ein Rettungssckritt ins neue Reckt
de* Tkeaters, ok em Effekt vul-
garsten Ranges oder ^Vieder-
eratattung dei Dramas Ton seinem
Usurp ator, dem Individuum, an
semen recktmamgen Herrn, die
alte groue kemge Menge — dies
Pukkkum kat ein Reckt darauf,
im einfacksten Sinne des Wortes
Reckt zu kekommen, nut Grun-
den zu vernekmen, dais es Reckt
kat, wenn es die Zeitungen zer~
reitft und in dies Tkeater gekt,
mit Grunden zu vernekmen, dai?
es reifer und weiser, freier und
mutiger ist als die Kritiker, die
es keraten wollen — ja, dai? es
dem Mute, dem Instinkte, dem
Genie, das dies Tkeater im ke-
drokKcksten Momente Aes Dramas
erricktet kat, innerKck wesens-
verwandter ist als die ganze ke-
leidigte kokere Bildung, die ikn
an gekrockenen Matfstaken ver-
mis.
Man kann Borckardts Glauken
an ,,die kedige Menge verneinen.
AtVie aker muf* es in dem Kopfe
ernes sonst verstandigen Mannes
ausseken, der in diesem Hymnus auf
die anonyme Masse einen „gegen
den Normalverkekr zwiscken Tke-
ater und Kritik sckwer versto^en-
den Ausfall an einer zum Takt
verpfKckteten Stelle erkkckt ? (An-
klagesckrift des Okerstaatsanwaltes
Faktor im Borsencouner vom
22. Januar 1921). Ick kin mir nickt
ganz im Klaren, was die Anklage
sick unter dem „Normalverkekr
zwiscken Tkeater und Kritik" vor-
stellt und wei# auck nickt, warum
der Dickter Rudolf Borckardt eine -
zum Takt kesonders verpflicktete
Stelle sein solL Aker das weii? ick,
dal? ein Sckrifts teller, der fur seine
Meinung offen mit seinem Namen
eintritt, unkeirrt durck die MogKck-
kcit grau»amer Racke kei seiner
120
nachsten Erstaufiukrung,von Sckrif t—
stellern una Journaksten verlangen
darr, day sie sick an lkn una nur
an inn kalten. Was wurde der
Fackverein der Tkeaterkritiker dazu
sagen, wenn Besckwerden uker ikr
Votum an die Verlagsdirektoren
gericktet wurden? Auck an den
verantwortlicken Redakteur der
„Blatter des Deutscken Tkeaters"
durrten sie sick wenden, wenn sie
wirkKck eine Majestatskeleidigung
vorzufinden glaukten. Aker FeKx
Hollander wakrte nur das Reckt
des Pubkzisten auf eigene Verant—
wortung, wenn er die Tkeater-
kritiker an den Verfasser und an
den Redakteur der Zeitsckrift wies!
Aur diese untadelkafte Erklarung
Hollanders erwiderten die orgam-
sierten Kritiker, mdem sie die Re-
ferentenkarten zurucksandten und
sowokl uber Carl Rollers neues
Lustspiel, wie iiker Reinkardts
Neumszenierung von ,,Kabale und
Liebe kem Wort der Kritik ver—
ofrentnckten. Das ist tollster Groi?en—
wakn. Man lese die^karmlose Stelle
in Borckardts Aufsatz nock einmal
nack und vergleicke sie mit den
ekrverletzenden , lek en smut raub en-
den, arkeitzerstorenden Kiritiken, die
sick Tkeaterleute allmorgentlick ge-
iallen lass en mussen, okne mit der
^Vimper zucken zu diirfen. Dal?
dock die Scklackter immer die
empfindlicksten Gemuter kesitzen.
Hollander verweigerte dem Fack-
verein der Kritiker erne Genugtuung,
die er mckt sckuldig war. Die
Sckauspieler, denen er semen Kon-
ilikt und seine Antwort vortrug,
jukelten lkm zu. Es ist anzunekmen,
daf? die Buknengenossensckaft ebenso
wie der V erkand der Berliner
Tneaterdirektoren dem tollen Ma-
jestatskeleidigungsprozels mit gleicker
Entsckiedenkeit begegnen werden.
Ha, eine Grenze kat Tyrannen-
mackt!!!
Im Ernst geredet: Ick begreire
nickt, wie ein kumorvoller und auck
der Gute fakiger Geist wie Alfred
Kerr an einer so saudummen Hatz
teilnekmen kann. Eine taktiscke
Uberlegung katte auck die kleineren
Geister des kritiscken Fackvereins
vor diesem Feldzug bewakren mussen,
denn sie werden lkn verlieren.
Hollander brauckt nickts zu f urckten,
er brauckt nur ausgiebig zu plaka-
tieren und zu mseneren.
Nun konnten freikck die Ver-
leger solcke Annoncen zuruckweisen.
Aber das mackt iknen kein beson-
-deres V ergnugen. Uberdies ist an-
zunekmen, dal?. die V erleger Bor-
ckardts Majestatsbeleidigung nickt
mit so unerbittucken Blicken an-
seken wie die verletzten Kritiker—
Pot en tat en selbst.
Dies alleS sckreibt Einer, der
selber viele Jakre den Bakel des
Kritikers gesckwungen. Ick weii?,
wie viel Unproduktivitat, innere
V erdorrtkeit, -wie viel vergiftete
Gesmnung, Impotenz und Neid sick
oft kinter der starren Maske un-
nakbaren Ricktertums versteckt. Nie
konnt icks bei der orgamsierten
Mediocntat auskalten. Aus dem
Berliner Fackverein sckied ick aus,
nackdem der Antrag auf Erncktung
von Fortbildungskursen fur Kri-
tiker unter den Tisck gefallen war.
Ick wei#, ick selbst kab viel ge~
sundigt, manckem armen Kerl von
Sckauspieler wek getan, manckes
Dickterwerk vorscknell zerf etzt.
Ick weiis es wenigstens ! Erkannte
bald, daK Tagesketze, Zwangs—
eindruck, Nackreferat die innere
Emdruc*:sfakigkeit unerkort rasck
aknutzen, datfWitzigkeit allmaklick
121
das seeliscke Erleken ersetzt una
aaS man jeden ICritiker spatestens
nack runx Jakren Zeitungsxrokn ak~
oder wenigstens aussetzen lassen
muJttte, urn inn wieder zur Samm-
lung oder Erneuerung zu verkelfen.
Nie aber tin lck mnerlick so un—
sicker gewesen, daw lck ICritik der
JCritik als Majestatsbeleidigung emp-
runden und grimmig verfolgt katte.
WEDER VERSTOCKT
NOCH ZERKNIRSCHT.
Die sckleckte J ournalistik , zu
der die Berliner Journakstik gekort,
ist eine IConrektionsbrancke. Sie
produziert nickt, sondern sie kandelt
mit Fertigware. Wer kennt nickt
den Berkner Zeitungs "Jargon, welcker
typiscne , koniektiomerte Pkrasen
liebt, die sonst nirgendwo zu linden
sind!? . . ^Nackgerade" oder „das
Parteisuppcken kocken" etc. Wie
die Spracke der Berliner Journa-
listen, sind aucn lkre psyckologiscken
Vorstellungen Fertigware. Es gikt
eine Anzakl vonModellen, kKsckierten
Sckemen, — -was jenseits des Sckemas
stekt, wird ignoriert. Solcke Mo-
delle sind zum Beispiel: .JdeaKstiscker
Fanatiker" „Edler Mensck, dock
weltfremder AkVirrkopf\ ,,Ver-
korperte Energie" . . Fur Verkrecker
una Gencktssaal besteken zwei Mog-
lickkeiten: zerknirsckt oder ver-
stockt. Tertium non datur. Und
dal? Emil Straui? weder das eine
nock das andere -war, recknet Ull-
fltem ikm iikel an. Die Rede dieses
Verkreckers vor den Gesckworenen
-war das Dokument eines Lekens,
das emen Mensck en zum Verkrecken
fukren mutfte. Der Vater Saufer;
die Mutter — Zeitungsaustragerin —
erkangt sick, weil sie ein paar Mark,
dem Verk aufserlos entnommen, nickt
ruckerstatten kann ; der Sokn als
Siebenjaknger sckon kungernd in
grausame Arbeitsfolter gespannt, mit
zekn Jakren von emer Prostituierten
praktisck aurgeklart, geprugelt, ge—
zwungen,vonKindergrakernWacks-~
klumen zu steklen; — und dann
keinake zwei Drittel des Lekens 1m
Zucktkaus. Nack emer Jugend, die
alle Argumente des Milieu-Tkeore—
tikers in dramatiscker Steigerung
konzentriert, - — iunrzekn Jakre
Einzelkart. Und der Mann ist
erst 32 . . Was konnte ergreirender
sein ? ^A^elcke Sckilderung konnte
dazu anregen, versteken, den
Menscken in diesem V erbrecker
seken zu wollen!? Dock daiur sind
Berliner Reporter nickt zu kaken-
Ein em soziakstiscken Journaksten
stunde kier das Kksckee „Anklage
gegen die Gesellsckart zu Gekote, —
und es -ware nickt ukel angewandt*
Ullstem aker xragt nur: yerstockt
oder zerknirsckt? Und da Emil
Straui nickt nur k eines von keiden
war, — mekr nock: da seine
Spracke kesser, von groCerer Kultur
tst, als alle Leitartikel von Georg
Bernkard; da ferner dieser Ver-
krecker ungewoknlick ukerzeugend
sprack ; da er grunducker denkt
und grundKcker gekildet ist, als es
sick furKlisckee-Morder ziemt und
als es bei BerKner Reportern Brauck
ist: — aus all diesen Grunden katte
Straui? die Ungnade des Journalisten
ei-wirkt, nock kevor er im Sckluf?-
satz an die Gnade der Gesckworenen
appelKerte.
. . . Die Studie uker meine
Person, ^iie ick Iknen vor Augen
fukren wollte, ist vollendet. Mag
sie kewirken, dai? mancke Hand,
die sckon im Begrifr 'war, einen
Stein gegen mick zu sckleudern,
sick schamkait wieder senkt. lck
122
ukerlasse Ihnen das Urteil, wer
die groKere Sckuld kat, m ein
sogenannter verkrecke-
riscker Wille oder die
Mackt der Verkaltnisse.
Sckon als er diese aufreizend
guten VV orte stenograpkierte, -war
sick der Reporter daruker klar,
dais der K.lisckee~Widrigkeit des
Verkreckers nickt anders zu ke-
gegnen sei, als mit Ironie, dieser
kockst kequemen journaKstiscken
Akwekrmai?nakme. ZudiesemZweck
sind die Kurzungspassagen ge—
eignet: „ . . . Meine Mutter war
eine unendlick gute, Kekevolle,
flei#ige Frau. Hier wird der An-
geklagte sehr kewegt und k a 1 1
einen Hymnus auf die guten
Eigensckaften seiner Mutter."
Oder, anlaiZlick der Erzaklung, von
der pflegemiitter lichen Kupplerin,
die den Knaken ketteln und auf
den Friedkof steklen sckickte:
v,. . Der Angeklagte sckildert dann
weiter immer in derselkeh patke—
tiscken Retkonk die Verkalt-
nisse 1m Hause seiner Stief-
mutter, an der er kein gutes
Jlaar laJ?t. Ferner: v,Die weiteren
Ausfukrungen des Angeklagten sind
reickjick durctsetzt mit Zitaten
vonKlassucern undBibelsprucken.. . "
ZumUkerflui?keging EmilStraui?
auKer dem Faux-pas eines nickt zu
registnerenden Mensckeeins nock die
UngesckickKckkeit, zu sagen, er ver-
danke seme „wakrkaft traurige Be-
rukmtkeit nickt seiner Tatigkeit,
sondern der Tatigkeit gewisser
Sensationsartikel - Fakrikanten, die
sick nickt sckeuen, aus der Haut
lkrer Mitmenscken Riemen zu
sckneiden."
Das Urteil lautete demnack:
Ironisierung okne Zuerkennung mil-*
dernder Umstande. Franz Scbulz.
PROVINZJOURNALISTEN
Aus Scbleaien schictt mir cin junger.
nocK nicbt abgestumpfter Journalist
dieae Herzenserleicbterung. Der Jammer
iat in ganz Deutschland deraelbe. Der
Journaliamus iat am Probiematiacbaten
dort, wo er kleinlicb-dilletantiacb be-
tneben wird :
Ikr wollt, meine kepen Freunde,
wissen, wie es kommt, dai? Deutsck-
land unaufkaltsam sick zuriick-
wandelt zur Form der Monarckie.
Die Provinz zeigt anklagend auf
BerKn, BerKn kesckuldigt umgekekrt
das Land. Und keide kungern sick
gegenseitig geistig aus, kis sie unter-
ernakrten Hirnes den Scklagwort-
demagogen verf alien. Als BerKn er,
frei von j'edem sentimental-rustikalen
Idyllentum jetzt in den fins t erst en
Grunden der deutscken Geistes-
provinzen lebend, erkeke ick die
Stimme und klage den Hauptsckad-
ling und Urkeker aller Krekske—
wegungen an: den Provtnzjournans—
mus.
GewiK, in BerKn ist der pukk-
zistiscke Unilat groi? und iiker-
sckwemmt ekenfalls die geringen
Damme des Anstands, aie wexuge
erncktet kaken. Aker der Durck-
scknittsleser, wofern sick Kopf Und
Bauck nock nickt volKg hei ikm
decken, kat die MogKckkeit, aus den
Dissonanzen des tagncken Orckesters
die Zeitkarmome und das wakre
Zeitgesckeken kerauszukoren oder
wenigstens kerauszurecknen. In der
tiefen Provinz (das Dutzend grower
deutscker Provinzzeitungen der Lan-
deskauptstadte sei ausdruckKck aus-
genommen) gikts nur eine Sorte Ge-
wasck, das den geringen Textteil
der diversen Inseratenklatter fullt;
amtKckes oder im gunstigsten Falle
Korrespondenzmaterial.
123
Nenmen wir emmal als Beispiel
das Gekiet, das notonsck die zu—
ruckge kkekenste Presse sein eigen
nennt : Scnlesien und besonders Oker—
scnlesien. In letzterer Provinz gikt
es so gut wie keine auck nur kalk-
wegs unakkangigc Zeitung, in der
mckt die kleinste selkststandige Reg-
ung eines Redakteurs mit dem
Hinauswurf quittiert wurde. Der
Ink alt, una dieser sogar aucn bei
den meisten Blattern Breslaus, ist
gleichwertig. Besinnungslos wird
jede Notiz von „zustandiger Seite
samt rvommentar gedruckt, mag
Darstellung und Meinung nock so
unwakr oder unlogisck sein. Die
Privattelegramme der groisen Zeit-
ungen Berlins, von lrgendwelcken
kleinen po litis cnen Sckarfmackern,
die sick mit dieser geistigen Zu-
kalterei Geld verdienen, nack der
Provinz okne Zitat gegeken, ver~
lieren unterwegs Sinn und Xendenz
und werden als Weiskeit vom Xage
gebrackt. Das Feuilleton kringt
S chun dgesckick ten von Courts-
Makler oder Anny Wotke, dazu
Fullsel, meist „entnommen dem
Unterkaltungsted der scklecktesten
Berliner Blatter. J a, dieUnbenolren—
heit gent so gar so weit, dais sie die
Nackrickten der eigenen Provinz
erst durck Xeleionate lkres Berliner
V ertreters erfakren und drucken,
die dieser aus Zeitungen der Reicks-
kauptstadt nut einem eigenen Jvorre-
spondenten in der Provinz abscnrieb.
(Und die Kritik? Mein Gott, wenn
der ,Gastwirt em Lokal auimackt,
ladt er die FeuilletoncKers zum
FrLinstuck. Sie trinken Wein und
plempern \Vasser lm Akendklatt.)
Zwisckendurck als Eigenprodukt ein
Sckimprartikel aui Berlin. Alles
zusammen aber ist em Brei, ange—
rukrt von Leuten, die kein V er-
kaltnis zu einer Idee kaken, sondern
nur in einera Gekaltsverkaltms
steken. So kommt es z. B. in Oker-
scklesien in der Regel vor, daJ? in
kurzen Fnsten die oft vertragslos
angestellten Redakteure von einem
Parteiklatt zum andern weeks em,
okne dal? es aurrallt, oder dais sie
keute fur Deutsckland, mo r gen fur
Polen sckreioen. \Vakrend das
W. X. B. erne rwar tecknisck und
geistig ma&ges, mukselig gekaltenes
Niveau zeigt, kat sick der sogenannte
Dammertdienst m Ooerscklesien,
augenkKcknckerweise kier vom Staat
aus Propaganda ausgekalten, zu einer
Nackrcckt en - Plan tage lei ck tier ttgster
Art ausgewacksen, der nickt nur
MilKonen sckerrelt, sondern auck in
der Politik, die von den unreiisten
JournaKstenelementen des ganzen
Reickes gemackt wird, moralischen
und tatsackkcken Sckaden anncktet.
Unter dem Druck all dieser
Momente steken die Zeitungsleser
einer ganzen Provinz. Die Folge
ist rettungslose V erdummung. Wenn
aker diese Rexre, die dem Scklag—
■wort die Bakn irei gemacnt kat,
erreickt ist, kommt em Xeuxel und
steckt es als Stern an den dusteren
Geisteskonzont. Mag es denn Reac-
tion oder Revolution keiuen, aur—
stekt der SpieKer, greirt zum Oeda-
knuppel und xolgt dem Rut. Die
Pr.ovmzzeitung wird mm immer
reckt geben. Denn sie ist eine K.o-
kotte : wer sie kezaklt, mit dem
scklart sie. Oder wie es so sckon
im Akonnentenwerkejargon keibt :
sie kegruKt lkn morgens am Fruk—
stuckstisck.
124
ANMERKUNGEN
Auf Jem Preutfentag der Deut-
sen en Volkspartei erklarte der Got—
tinger Kunstkistonker Dr Brandi,
der preuisiscke Parademarseh eei die
Iiervorragendste , Erziekung zur
Staatsgesmnung gewesen, die es je
gegepen hate.
*
von Zeit zu Zeit stoi?t man
auf kesonders aparte Beweise der
Jvuknkeit, mit der die sogenannte
antikolsckewistiscke Propaganda ke-
tneken wird. Vor einigen \Vocken
smd uns die Rutland Den en te H. G.
Well's als antisowjetistisck serviert
worden, Sie waren aker ganz das
Gegenteil davon, — so senr, dais
die „New York Times , die sie
pranumerando erworken katte, die
spateren Fortsetzungen nur nocn
nut gleickzeitigen Gegenartikeln zu
verorrentlicnen wagte. Emer dieser
Gegenartikel, von rierrn J okn Spargo
in Stockholm kerrukrend, maclite
seine Sacke ganz besonders gut:
er fukrte als antikommunistische
Literatur sogar Alfons Goldsckmidts
„Moskau 1920" gegen Wells ins
Treffen. Aus einigen kundert Seiten
waren etwa zekn Satze extrakiert,
die in inrer Zusammenstellung den
armen Wells emfack totscklugen.
Auf diese Manier kann man nun
freilick auck keweisen, dal? Herr
Adolf Hoffmann em Zentrumsmann
ist. Lincoln sagt: „You can fool
all of tke people some of tke time
and some of tke people all of tke
time, kut you can " not fool all of
tke people all of tke time." Dieser
Satz ist keineswegs — um diesem
nakeliegenden Dreh sofort zu ke-
gegnen — nur etwa auf Lenin und
Trotzki anwendkar.
Die Leipziger Knegscnvudigen—
prozesse kaken nun docn ikven An—
fang genommen und die ersten Zuckt-
kaus — und Gefangnisstraien smd
verkangt wprden, Das scnwienge
an diesen Prozessen war kekannt-
Kck, daw es der nationalen Ekre
zuwiderlief, V erkrecken. die nut
dem Kneg lrgendwie zusammen-
kangen, in gerecktem und offenem
V erfakren zu untersucken. Gluck—
lickerweise kat man emen Ausweg
gefunden. Man stellte kerne Gene-
rale, Ortskommandanten und Etap-
penmspekteure vor Gerickt, sondern
emen Zimmermann, einen Scklosser
und einen Sckiffer. Da lief es der
nationalen Hbre mcht zuwider .'
ider?
lsck.
NEUE BUCHER
K o n r a d H a n i s c b : StaatundHocti-
scbule (Verlag fur Politik und Wirt-
scbaft. Berlin 1920).
Im Obriffkeitsstaate war ea nicbt iiblicb,
dai? Miniater Biicber scbrieben, und es
ware kaum moglicn gewesen, datf ein
leibbaftiger Kultusminister zu den Studen-
ten berabgestiegen ware, um sick mit ihnen
uber aktuelle Hocbscbulfragen auseinander
zusetzen. Konrad Haniscb bat aucb in
dieser Beziebung loblicber Weise mit den
alten Br aucb en gebrocben, als er zu Miinster
auf Einladung von studentiscber Seite uber
die Stellung der StudentenscHaft im und
zum neuen Deutscbland spracb und dann
aus seiner Rede ein kleines Buck macbte.
Er scheint gar keine Angst zu baben, datf
seine Autoritat dabei floten gebt, wie er
denn iiberbaupt, nacb seinem ganzen Ge-
baren zu scblietfen* der Ansicbt ist, dai?
es besser ist durck Uberreden und Ober-
zeugen, durch Auseinandersetzung und
Klarstellung zum Ziele zu kommen, als
durcb den bureaukraten - militariscken
Gummiknuppel. Die Steifleinenen, die mebr
in der scbonen Ebrfurcbt, ala in der Liebe
125
zur hohen Obrigkeit erzogen waren,
spottelten oder grollten. Schliefilich mutften
sic doch, wie sicks gezeigt tat, zugeben
dal? auch die neue Methode im neuen
Deutschland gewisse Erfolge aufweisen
konne.
Dabei hat der Mann nickts Himmel-
sturaaerisches und gar nichts Kraftgeniali-
aches, wie sein grower Meister Lassalle ;
er sucht fremden Meinungen gcrecht zu
werden und gent in seinem halb gutmUtigen,
halb berechnenden Entgegenkommen mit-
unter so weit, dafi der klassenkampferiscke
Sozialdemokrat kinter dem freundlicken
Menacken zuriicktritt. Das soil nickt etwa
keitfen, daff er keine fcsten Uberzeugungen
katte. Im Gegenteile. Er packt ernate
Prokleme mit Ernst, wenn auck — wie
bei einem Gelegenkeitavortrage, wie diesem,
natiirlich — nickt mit besonderer Ori-
ginalitat an, so vor allem das Verhaltnis
der Universitaten und insbesondere der
Studenten zura neuen Deutsckland. Vor
100 Jakren gait der Kampf der Erringung
der biirgerlichen Ideale ; heute, da es urn
die aozialen Ideale der Arbeiterklasse gent,
eind infolge der kunatlicken Auslese durck
den Klassenstaat keine Arkeiterkinder an
den Hockschulen. Es wird anders -werden,
•wenn die Einkeitssckule und iikerhaupt
*ine aozial gericktete Scbulpolitik durck-
gefiihrt ist. Auck sckeint nock der na-
tionale Gedanke, dessen alleiniger Trager
lange Zeit kindurck das Burgertum war,
Arheitersckaft und Intelligenzkerufe von-
cinander zu sckeiden. Aker in Wirklickkeit
ist der nation ale Gedanke hci den kerrscken-
den Sckickten zuiu imperialistischen ge wor-
sen, wakrend der Arbeitersckaft in die Nation
kineingewachsen ist und ikr Internationalis-
mus, ricktig vorkanden, auf dem Zu-
sammenarbeiten der organisierten Nationen
berukt. Auck das Vorurteil, daf? der
Handarbeiter und die Sozialdemokratie
banausisck dem Geisteaarbeiter nickt geben
wollen, was lkm ^ebiihrt, ist falsck.
Xlanisch kann fur das intensive Interesse
der Sozialdemokratie an Kultur und
^^issenschaft all das anfiihren, was in
seinem Miniaterium von der Volkssckule
und Volkskocksckule kis zur Universitat,
kier mekr Leitung seines engsten selb-
standigen Mitarbeiters Becker, sckon ge-
leiatet ist und nock geplant wird. Taten
sind die besten Beweise, und es wird jetzt
in dem von Sozialdemokraten regierten
Preuffen gearbeitet auf dem Gebiete des
Scbulwesens. Hanisck kat ein Reckt dar-
auf, gekort zu -werden, wenn er am
Scklusae seines Biickleins ackreibt : ,,Mir
kat vom Beginn meiner politiscken Wirk-
samkeit an als sckonstes Hockziel immer
vor der Seele gesckwebt das Ideal Ferd.
Lassalles, dea grotfen Sozialisten, der
von dem Zweibund der Wissensckaft und
der Arbeiter das Heil der deutscken Zu-
kunft erkoffte. Arbeiten wir alle mit
kiihlem Kopf, aker mit keitfem Herzen,
feder an seiner Stelle, jeder in seiner Art,
daran, dai? dieser grotfe Zweibund endlick
zur Tat und zur Wakrkeit werde, auf
datf er unser geliebtes Deutsche Volk aus
der tiefen Nacht der Gegenwart dem
Morgen einer lichten und scnonen Zukunft
entgegenfiibren moge ! "
Ludo M. Hartmann
ANEKDOTEN.
Auf den ekrgeizigen Carl Sternheim
hat man folgendes Epitaph verfatft: ,,Hier
ruht Carl Sternheim. Es ist der einzige
Platz, nach dem er nickt gestrebt hat."
+
In Berlin trat ein sekr mageres Tanz-
paar auf. Wedekind eagte : „Es ist, als
ok zwei Hunde urn einen Knocken rauften."
'*
Oscar Wilde wollte einen Roman iiber
die Blutschande sckreiben und ihn Jean
Lorrain -widmen als „Dem Einzigen, der
mick versteken kann ". „ Aker *\ sagt et-
was konsterniert Lorrain, „ick habe gar
keine Schwester." — „Mein Lieber, haben
Sie nicht Ihre alte Mutter?' 1,
Redaktion dea „Tage-Bucn" : Berlin W 35, Potsdamer Stratfe 123 b, Tel: Lutzow 4931
Verantwortlich fur den redaktionellen Teil : Stefan Grofimann, Ckarlottenburg. Verlag :
Ernst Rowohlt Verlag, BerlinW 35. Potsdamer Stratfe 123 b. Druck: R. Abendrotk, Riesa.
126
FERRUCCIO BUSONIS
MUSIKALISCHE KOMPOSITIONEN
Opern
Turandot. — Arlecchino
Fiir Pianoforte
Sechs Etiiden, op. 16
Daraus einzeln: Etude Nr. 3, Etude Nr.5
(Fu tfe ) ^ .
Etude in Form von Variationen, op. 17
Zweite Balletszene, op. 20
Variationen und Fuge uber Chopins
G mol-Praludium, op, 22
Zwei Tanzstiicke. op. 30 a
Vierte Ballettszene(Walzerund Galopp),
neuc veranderte Ausgabe. op. 33
Erweiterte Kadenz zum 4. Satze des
Concerto
Elegien. Sechs neue Klavierstiicke. - -
Berceuse
Fantasia, nach Joh. Seb. Bach (Auf den
Tod meines Vaters)
Fantasia contrappuntistica (Preltfdio at
Gorale e Fuga a 4 Soggetti obbligati)
Drei Klavier iibun gen und Praludien (der
Klavieriibung zweiter Teil).
Sonatina
Sonatina brevis. In Signo Joannis Se-
bastiani Magni In freter Nacbdicbtung
von Backs kleiner Fantasie und Fuge
D moll
Sonatina Seconda
Choralvorspiel, nebst Fuge uber ein
Fragment von Bacb (der Fantasia
contrappuntistica kleine Ausgabe)
Sonatina ad usum infantis
Indian. Tagebucb, I. Bucb (4 Klavier-
studien uber Motive der Rothaute
Nordamerikas)
An die Jugend
Nr. 1. Preludiatto, Fuffketta und Esercizio.
— Nr, 2. Preludio. Futfa ffgurata. Studie
nach J. S. Backs wohltemperiertem Klavier.
— Nr. 3. Giga, Bolero u. Variationen.
Studie nacn Mozart. — Nr. 4. Introdu2ion«,
Capriccio und Epilogo
Albumblatt. Secbs Klavieriibungen und
Praludien. Drei Sonatinen. (G e-
samt- Ausgabe)
Fiir zwei Pianoforte
Konzertstuck, op. 31
Concerto, op. 39
Indianische Fantasie, op. 44
Improvisation iiber ein Bacbscbes Choral-
lied
Fiir Orgel
Fantasia contrappuntistica
Bearbeitet von Wilhelm Middelscnulte
Fiir und mit Orcnester
Sinfonische Suite fur Orch ester, op. 25.
Konzertstuck fiir Pianoforte und Or-
cbester, op. 31
Sinfonisches Tongedicht, op. 32#
Zweite Orcnester-Suite (geharnischte),
op. 34
Konzert fiir Violine und Orchester,
op. 35
Lustspiel-OuvertUre, op. 38
Concerto fiir Pianoforte, Orchester u.
Mannerchor, op. 39
Orchester - Suite aus der Musik zu
Gozzis Marchendrama ,,Turandot",
op. 41
Verzweiflung und Ergehung (Supple-
ment zu „Turandot'*) ,
Berceuse elegiaque, op. 42
Nocturne symphonique, op. 43
Indianische Fantasie (Fantasia- Canzona
c Finale) fiir Klavier mit Orchester
op. 44
Orchester-Suite. Fiinf Stiicke aus der
Musik zur Oper „Die Brautwahl"
op. 45
Rondo arlecchinesco, op. 46
Gesang vom Reigen der Geister (des
indianischen Tagebucbes II. Buch),
fur Streichorch ester, 6 B laser und
1 Pauke, op. 47
Concertino fiir Klarinette und kleines
Orchester
Kammermusik
Kleine Suite fiir Violoncell und Kla-
vier, op. 23
Zweites Streichquartett, op. 26
Sonate fiir Violine und Klavier, op. 29
Zweite Violin-Sonate, op. 36
Albumblatt fiir Flote (oder Violine mit
Sordine) fiir Viola oder Violoncell
und Klavier
Fur erne Singstimme mit Begleitung
Zwei Gesange fiir erne tiefe Stimme u.
Klavier, op. 24
£wei Lieder fiir eine Singstimme und
Klavier, op. 31
Zwei Gesange fiir eine Manneratimme
mit kleinem Orchester, op. 49
Zwei Gedichte von Goethe fiir eine
Bariton stimme und Klavier
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Das Tage-BucL / Heft 5 Jakrg. 2 / Berlin, 5. Februar 1921
STEFAN GROSSMANN PETER KRAPOTKIN
I.
Der Tod.des Fursten Peter Krapotkin ist nicnt sebr beacbtet worden.
Zeitungen, die jede AVocbe andere Bolscbewistengreuel servieren, baben
erzablt, er sei allmabbcli verbiingert, aber das -war Gerede. . Die Ant-
wort aus Moskau blieb nicbt aus : Der sterbende Krapotkin sei von Amts—
wegen gebegt unci gepflegt, von den beaten Arzten beraten, mit den
besten Mitteln genabrt worden. Diese generose Fassadenpolitik siekt
den klugen, auf bumane ReprasentatiOn bedacbten Kommissaren viel
abnlicber. Krapotkin war me Bolscbewist, aber er -war neunundsiebzig
Jabre alt und gegen Sterbende sind aucb die Trotzkis gutig.
Der arme Peter Krapotkin war seit dreil?ig Jabren ein berzlick
unscbadbcber Mann. Icb borte lbn 1899 in Brussel, da "war er neben
den beiden Reclus Lebrer an der University nouvelle. Er war ein
lebensabgewandter, etwas linkiacber Mann mit Rubezablbart, ein Ge-
lebrter, gewobnt seine Tage in den dammngen Lesesalen der Londoner
Bibliotbeken zuzubringen. In Brussel trug er Geograpbie vor oder eigent-
licb: Weltkunde. Es war eine Miscbung von Erdbescbreibung, Natur-
gescbicbte und Soziologie, die er, ein Poly List or ersten Ranges, leise zum
Besten gab, und die wicbtigste Rolle spielte aucb in eeinen Vorlesungen
das asiatiscbe Rutland.
Der Refrain seiner Vorlesungen war : Die "Welt ist reicb ! Niemand
bat fester als Krapotkin an die Fulle der Natur geglaubt und nie-
mand war erbitterter gegen das kapitabstiscb-militaristiscbe System, das
den naturlicben Reicbtum der !Welt nicbt zu nutzen verstand. So war
seine Tatigkeit eine zwiefacbe: als Gelebrter arbeitete er jabraus, jabr-
ein an seinem System der „Gegenseitigen Hilfe", in welcbem er, den
Darwinisten zum Trotz, nacbweisen wollte, da#in der Tier- und Menscben-
welt nicbt nur Kampf berrscbe, sondern innerbalb jeder Art gegenseitige
Hilfe und Unterstutzung. Er erinnerte mit besonderer Vorliebe an
ein Gespracb Goetbes mit Eckermann, lm Jabre 1827 gefubrt, uber zwei
kleine, flugge gewordene Zaunkonige, die lm Neste eines Rotkeblcbens
gefunden wurden. Goetbe geriet uber die Tatsacbe, dal? das Rotkeblcben
die beiden kleinen Zaunkonige zusammen nut den eignen Jungen auf-
129
futierte, in grol?te Erregung. Er sak darin erne Bestatigung seiner
pantkeistiscken Ansckauungen und sagte: „Wenn dieses Futtern ernes
Fremden als etwas Allgemeingesetzltckes in der Natur anzusehen ist,
dann ist damit manckes Ratsel gelost*. Er forderte Eckermann zu
bpezialstudien uber dieses ,Tneina auf, so wsrde er zu „unsckatzkaren
Resultaten gelangen".
Die Spezialstudien, die Goethe von Eckermann gewunsckt, kat Peter
Krapotkin ein kalkes Jakrkundert spater ketrieken. Landauer kat dieses
Hauptwerk Krapotkins ins Deutscke ukertragen. Krapotkin kat mit
ungekeurem FleiK emen Berg von Tatsacken zusammengetragen, die den
naturKeken sozialen Instmkt der Tiere und Menscken ksweisen sollen.
hr kat sick nickt etwa auf den Ameisen- und Bienenstaat kesckrankt, er
kat auck die Xiervereinigungen studtert, mskesondere die Gsmeinsckaft der
V ogel, lkre Jagd- und Fisckvereinigungen. (Beilaufig sei kter erwaknt, daf?
der Naturforscker Krapotkin familienglaukig war, sein Familienglauke
spielte kis in den Gipfel seines anarckistiscken . Systems). Er sammelte
wundervolle Details iiker die Flug- und Brut genossensckaf ten der Vogel.
Es tat ikm wokl, auf die sozialen Gemeinsckaften der Raubtiere zu ver~
weisen. Mit merkwurdiger Genugtuung sckilderte er die Raukgenossen-
sckaften der ^/"olfe, die nur in Rudeln angreifen, dann aker so als ok
ein Regisseur sie im Umkreis aufgestellt katte. Besonderen Spai? mackte
ikm die GeselKgkeit der Nagetiere. Ikre Hamstermagazine werden oft
gemeinsam geftikrt. Mit Begeisterung erzaklte er von den Kolonien der
Prariekunde in Amerika. „Soweit das Auge die Prarie uterseken kann,
gewakrt es Erdkaufen. Auf jedem Hiigel stekt ein Prariekund, der mit
kurzem Gekell lekkafte Unterkaltung mit seinen Nackkarn fukrt. Wird
das rierannaken eines Menscken signaKsiert, so versckwinden alle in ikren
Woknungen, wie durck Zaukermittel versckwunden. Ist die Gefakr
voruber, so kommen ganze FamiKen wieder zum Vorsckein und geken
sick dem Spiel kin. Die Alten kalten Wacke. Sie macken einander
Besucke, sie kaknen Wege zu einander, sie leken in Ruke und Eintrackt."
Dolcke Beokacktungen kat Krapotkin auck iiker die Renntiere zusammen
getragen und iiker die FamiKenverkande der Elefanten. Das sckonste
Material kat er uker Affen gesammelt. So erzaklte er die Gesckickte
emer ersckossenen Affm, deren Leicknam von den ukerlekenden Affen
mit solcker BekarrKckkeit zuruckgefordert wurde, dai? die Zeugen dieser
aul/erordentKcken Szene kescklossen, nie wieder auf emen Affen zu sckiel?en.
Zur Naturge3ckickte gekorte ikm auck der Mensck. Das Scklag-
wort „Der Mensch ist gut"", im Munde eines Russen plausikler als kei
130
einem Deutscken, wurde in seinem Lebenswerk kundertfack varuert.
EigentKck ging er in seinem Seelenutopisnius so weit zu sagen : „Das Tier
ist gut". Krapotkin war von Rousseau fur Lebenszeit mfiziert. Im
Kampf der Wilden gegen die Zivilisation stand er naturlick auf Seiten
der primitiven Volker. Es studierte die Gesetze der Sozialitat bei den
Papuas und bei den Kapylen, er erkannte ikre Gemeindearbeit und ikr
Gencktswesen, Er erquickte sick an der Entstekung der Dorrgenossen-
fickaften, die sick in den russis^ken Mirs bis keute erkalten kaben. Kra-
potkin erganzte seine naturgesckicktlicken Erkenntnisse durck eine durck-
aus selostandige Auffassung des Mittelalters, das nur dem LiberaKsmus
als stockfinsteres Zeitalter ersckeint. Seine Neigung gekorte den Gilden,
die er als Konsum- und Produktivgenossensckaften kock einsckatzte. Der
mittelalterlicken Stadt sang er Lol)lieder, ikre tragiscke Sckuld war die
Entfremdung von den Bauern. Von diesen Organisationen ,Jzu gegen-
eeitiger Hilfe" war nur ein Sckritt zu seinen soziaKstiscken Idealen. Ein
Kenner der modernen Okonomie ist Krapotkin me gewesen. Dazu
durckmai? er die A^Veltgesckickte mit zu gro#en Sckntten.
IL
Der stille Gelekrte^ der geketzt jakrelang in Londoner Bibliotkeken
Material uber die Sozialitat der Tiere und Menscken sammelte, war
Russe und viel menr Russe, als ein ideologiscker Jude wie Landauer
wutfte. In seinen M Erinnerungen\ einem wundervollen Buck, erzaklt er
einen Ausspruck Turgenjews: ,,Sie mussen bei Ikrem Aufentkalt unter
Franzosen, Deutscken und anderen Volkern viele Erfakrungen gesammelt
kaben, Haben Sie nickt bemerkt, dai? zwiscken Ikren Ansckauungen
und unseren russiscken Ansickten uber denselben Gegenstand kaufig eine
unuberbruckbare Kluft gaknt, so dai? eine Einigung unmogkck ersckeint?"
K.rap®tkin widersprack zuerst, aber spater gab er selbst zu, dai? Turgenjew
reckt katte. Er kat die russiscke A^/elt, die russiscke Seele nie verloren
Russisck ist auck dieser uns Deutscken oft unverstandKcke Gegen-
satz zwiscken mensckkcker Milde und unerbittkcker Grausamkeit. Vor
funfundzwanzig Jakren wurden in ganz Europa Krapotkins „Paroles
d'un Revolte" verbreitet, fulmmante blutvolle Aufrufe, ^ie zum Militar-
streik, zur revolutionaren Gekeimorgamsation , zur Expropriierung der
Kapitalisten, zum ^blutigen Auf stand nefen. In diesen journalistiscken
Betatigungen ersckeiat der sanftmutige Tier- und Mensckenfreund als
unerbittlicker Blanquist, erfullt von einem mystiscken Glauben an die
keilige Masse. Nie kat er, wie die deutscken Oberlekrer des Sozialis~
131
mus, aussckliei?lick an die Organisation geglaubt, immer tat er nut Vor—
liebe den alten Blanqui zitiert, der sagte: „In Paris gitt es funfzigtausend
Menscken, die sick nie zu einer Versammlung oder zu einer Demon-
stration einiinden. Aber m dem Augenblick, wo sie fuklen, man konnte
in den Str alien seiner Meinung unzweideutigcn Ausdruck geken, sind sie
zur Stelle und nekmen die Position 1m Sturme.
An diesen revolution aren Zustand aller Volker tat Krapotkin bis
in sein Greisenalter geglaubt — vielleickt, well er die letzten dreibig
Jakre eigentlick nur vor der grim en Lampe in Londoner Bibliotkeks—
salen gesessen ist. Er konservierte sick seinen Revolutionarismus durck
ein ziemlick abgescklossenes, anstokratisck isokertes Leo en. Er ist, wie
man aus seinen Sckriften nackweisen konnte, dem Naturwesen der
russiscken^Bauern immer viel naker gestanden, als der verarmteren ^latur
des gro#stadtiscken Proletariers. "Weil lkm die Epocke des Industrie-
aKsmus eigentlick fremd war, deskalk kat er auck me em Verkaltnis
zum neuen Deutsckland gefunden.
Die . Anma#ung, die Sckulmeisterstrenge, durck die Kautsky die
Deutscken in der Internationale isolierte, kat Krapotkin auck in wilden
Gegensatz zu den deutscken Sozialisten getrieken. Vor allem aber, Furst
Peter Krapotkin, akstammend von einem Enkel Kostislaws Mistislawitscn*
der im "Wappen eine Krone mit dem Hermelinmantel trug — der
' Revolutionar erwaknt das Familienwappen in seinen Erinnerungen —
war Ruese und ist es geblieben. Als 1914 vierzenn Staaten Deutsck-
\? .J den Krieg erklarten, da sckleuderte auck Krapotkin einen feurigen
l luck nack Berlin, Er durfte nack funfzig Jakren des Exils nack Rub—
and zuruck und er erlekte die Revolution, die er vor zwei Gene—
rationen erseknt. Aker es ist anzunekmen, dai? lbm das Jauckzen der
Wiederkunft rasck in der Kekle stecken gefclieben ist. Er kat die
franzosiscke Revolution zu genau studiert, um nickt zu wissen: Das
Sckicksal aller Groi?stadtrevolutionen ist kesiegelt, wenn es kerne natur-
licken Kommunikationen mit Aen Bauern gikt. Es wird sckon stimmen,
was engliscke Berickters tatter erzaklen. dal? eine furcktbare Melanckolie
seinen Abend sckwarz gemackt kat.
Der Glauke an die Revolution beseligte und starkte den wissen-
sck'aftlicken Arbeiter bei der grunen Lampe Londoner Bibkotkekssale
In dieser Gelekrtenstille kann man funfzig Jakre an die Revolution
glauben. Aber sie dann erleben mussen — daran kann man zerbrecken..
132
M. G. OFFENE BETRACHTUNGEN OBER
DAS OBERSCHLESISCHE PROBLEM
Blutdamtf.
In keinem deutscben Bezirk ist der unter der wilhelminischen
Epoche den amerikanischen Verbaltnissen ahnelnde wirtschaftliche
Aufstieg von frappanterer transozeanischer Farbung gewesen, als
in der kleinen deutschen Siid-Ost-Provinz Oberscblesien. Dies
Land, von dessen Schicksal sowobl das des Reiches wie das eines
guten Teiles europaischer Staatlichkeit abhangt, bietet den Anblick
«iner ganz merkwttrdigen organischen Buntbeit. Wenngleich beute
die sozialen Rangklassen und die Kulturen unter dem Druck der
allgemeinen Entwicklung schon etwas mebr sicb ausgeglicben liaben,
ist doch noch selbst im autferen Bild des dortigen Lebens der
Widerschein seiner Wirtscbaft und seines historiscben Werdens
deutlicb zu erkennen. Diese Stadte mit den vielen reichen Villen
an ibrer Grenze, die kostbare Bibliotbeken und Kunstsammlungen
bergen, mit ibrer Unzabl von Vergniigungs-Etablissements, breiten
Boulevards, auf denen deutscbe Kasernenkorrektbeit der Miets-
hauser gemildert wird durcb einen polnisch-pariseriscben Madcben-
einscblag auf der Strafe, diese Stadte, in denen man, wenn man
xim die Ecke biegt, plotzlicb in einer licbtlosen lebmigen Gasse
steht, in deren verfallenden Hausern iibelstes Spelunkentum sicb
breit macbt, sie sind mitsamt ibrer Arbeitsamkeit und Geschaftig-
keit typiscbe Abbilder einer Grenz- und Kolonistenwelt. Viele
Bankinstitute, noch mebr Kinos, zabllose Wirtschaften und in den
kleinen Geschaften und bei den Scbneidern beste Ware und Modelle
verraten den starken Geldstrom, der alle Kanale dieses ostlichen
Lebens speist und erbalt. Dazu kommt die Landschaft, wild durch-
donnert vom Larm der Gruben und Hiitten, zahllos iiberflaggt
von den Raucbfabnen und der glubenden Illumination der Hoch-»
ofen, oder eintbnig, eben, in schwachen Hiigelwellen das Gewoge
der billigen roten Bergmannsbauser und die Heere der spitzen,
kablen Scbornsteine tragend, Es bleibt der Eindruck: Alaska,
Goldgraberland, Kampfzone, Geld, ScbweiR Gasexplosionen, starkes
K-lappmesser in der Hosentascbe. Wasserpolniscbes dolce far niente
und scblesiscbe Idylle wurden zerstort von preutfiscber Emsigkeit.
Rassen miscbten sicb, verscbmolzen unloslicb miteinander. Ein-
beitlicb band sie der katboliscbe Glaube. Docb war Maria in
Czenstocbau nur willkommener Reiseausflug obne nationale Be~
deutung. Um das Leben wird bart gekampft. Taglicbe Gefabr
unter Tag stablt, spannt die Muskeln, nimmt pbysiscben Einsatz
leicbt und veracbtet fast psycbiscben. Solide wird die Arbeit ge-
tan. Das Sonntagsvergniigen ist primitiv, docb ebrlicb erlebt und
'Werte der Freude scbaffend.
Aus Arbeitsland ist Kampfland geworden. Bitterste Feind-
scbaft klafft aller Orten zwiscben den Nacbbarn. Tief. Der Hal?
133
ist aufgestanden und liegt mit Mordaugen an Kreuzwegen und
Buschen. Die apokalyptischen Reiter sind voriiber gebraust und
ihr Atem hat die Herzen ausgedorrt. Die Gericbte sind uber~
lastet. Mord, Diebstahl, Verstiimmelung , Einbrueh, als Tages-
ereignis kaum nocli beachtet, erschrecken nur, wenn sie, woebentlich
zusammengestellt, immer hobere statistiscbe Kurven bescbreiben.
Das letzte Oppelner Amtsblatt entbielt Verhaftungsbelohnungen in
der Gesamthohe von 80000 Mark und 50 Steckbriefe. Die Land-
wege sind unsicher, Banditentum, erbarmungslos und brutal, arbeitet
fieberbaft, und die Nacbte sind von Schussen durcbballt. Aus
einer rubig'en und fleitfigen Provinz wurde Statte wiistesten Tumult 3,
wurde Kampfplatz zwiscben Deutscben und Polen, wurde Tummel-
platz jeder Verblendung. Blutdampf iiberwolkt alles. Hitzt die.
Hirne und Herzen und blendet die Augen. Daf? sie nicht die
Hand des Nachsten sehen, die sich ibnen entgegenstreckt.,
HistoHsche Tatsachen.
ftoweit man sagen kann, dai? Dinge feststehen, ist folgendes
richtig :
Der Versailler Friedensvertrag iiberantwortet den wesent-
lichsten Teil Oberscblesiens Volkerbunds-Protektorat. Die Ab~
stimniung, die spatestens im August 1921 beendet sein mutf, soil
daruber entscheiden, wem das Land zufallt. Nacb diesem Volks-
spruch, dessen Resultate gemeindeweise festgestellt werden solien*
wird der Oberste Rat zu Paris nacb wirtscbaftlicben und ethno~
grapbischen Gesicbtspunkten die Grenze zieben.
Diese Paragrapben sind Kautscbuk in den Handen von Macbt-
habern. Insbesonders, was die Bestimmung des gemeindeweisen
Vo turns und seiner naebberigen Verwertung bei allgemeinen Er-
wagungen anlangt. ^ Sofort taucben Fragen auf. Was geschielit,
wenn der Landkreis Beutben polnisch und der Stadtkreis Beutben
deutsch wahlt?
Den Volkerbund vertreten die Macbte England, Italien und
Frankreich. Letzteres stellte den Prasidenten der Interallierten
Kommission, den aui?erordentlicb klugen General le Rond und den
iiberwiegenden Teil der Besatzungstruppen. Zwar werden alle
Beschlusse des Oppelner Triumvirats, das nocb aus dem Englander
Percival und dem Italiener de Marinis bestebt, einstimmig gefatft.
Doch kann kein Zweifel sein, dal? Frankreicb bier Scbutzmacbt
ist, Frankreich allein Deutscbland gegeniiber Kontrabent und In-
stanz fur alle Verhandlungen. Grofter Febler von einer gewissen
Seite war es, von Anfang an dies nicbt zu sehen, kleinlicbe Ran-
kune des Ausspielens der verscbiedenen Staatsvertreter gegeneinander
zu versucben. Spater wurde es besser. Davon wird nocb zu
reden sein.
134
Oberscblesien ist ein Zweispracbenland. Es ist nie polnisch
gewesen, aber aucb nie preu#iscb. Die Leute, die das einmal be-
baupteten und nocb bebaupten, sind die verantwcrtlicben dafiir,
dai? jetzt die deutscbe Sacbe da unten einen bitterscbweren Stand
bat. Oberscblesien ist ein Land von starkstem katboliscben Ein-
ecblag. Jene Preutfen, die nicbt soviel politiscben Verstand be-
wiesen baben, diesem katboliscben Land Lebrer und Beamte dieses
Glaubens berunterzusenden , sie sind dafiir verantwortlicb , wenn
es jetzt das letzte Ringen aucb gegen jenen unwagbar furcbtbaren
Femd zu kampfen bat, der nicbt in einem Jabr zu besiegen ist:
das Mitftrauen. Oberscblesien ist eine bistoriscb-rorganiscbe Einbeit.
Jene Leute, die das nicbt erkannt baben und das nun endlicb zu
Stande gekcmmene Autonomies Gesetz zu verzogern verstanden
baben, sind verantwortlicb dafiir, wenn der Warscbauer Gedanke
dort je-Fui? fassen konnte.~
Obne Oberscblesien ist Deutscbland nicbt fabig, die Leistungen
aus dem Friedensvertrag zu erfullen. Infolge der Valuta nicbt
mebr in der Lage, die Ausbeute des Rubrgebietes durcb engliscbe
Koblen zu erganzen und doppelt auf die Oberschlesiens angewiesen,
gebt es unweigerlicb verstiimmelt zu Grunde, wenn ibm das Glied
Oberscblesien amputiert wird.
Polen braucbt Oberscblesien nicbt. Es sei denn als Spekulations-
objekt. Die Gruben von Sosnovice, Drombrowa und die nordlicher
gelegenen geniigen zur Versorgung des Landes. Folgende Fest-
stellung ist zwar alt, aber immer nocb Unbestecblicb ricbtig. So
paradox es klingt: Frankreicb bat von Oberscblesien nur etwas
wenn dies bei Deutscbland bleibt und es lebensfabig macbt. Nicbt
als ob polniscbe Unfabigkeit nun etwa sofortigen Verfall der
blubenden Provinz Lerbeifubren wiirde. Das ist cbauvinistiscber
Unsinn. Sondern weil erstens der notige Hocbstleistungsrekord
aus tecbniscben Griinden obne Verscbulden ausbleiben miifte,
zweitens, weil die Erbaltung des Scbuldners Deutscbland fur
Frankreicb bedeutend wicbtiger ist, als die Luxussanierung eiries
obnebin bei ebrlicber Arbeit lebenskraftigen Staates. Obne Polen
aucb nur im geringsten befreundet zu sein, kann man die ewige
Anwendung des Wortes „ polniscbe Wirtscbaft" billig und taktlos'
finden.
Das engliscbe und italieniscbe Interesse ist bocbst mai?ig.
Besonders ersteres bescbrankt sicb auf Gesten und Zwiscbenspiel
obne wirklicbe Bedeutung. Gegen die Haltung der engliscben
Kreiskontrolleure ist nicbts zu sagen. Sie sind bemiibt, ibres
Volkerbundamtes wiirdig zu sein. Sie tun also ibre Pflicbt. Die
Posten sind Sprungbretter. So fur den sympatbiscbenKreiskontrolleur
von Beutben, Ottley, einem Privatsekretar des engliscben Konigs.
Oberscblesien ist eine europaische Frage, denn es ist zum
grol?en Teil eine Koblenfrage. Eine europaiscbe insofern, wenn
135
man England und die Gebiete ostlich der Weicbsel aus dem Be-
griff Europa (Abendland) ausschaltet (Merkwiirdig, wie Wirt-
schaftundKultur aucb bei der kontinentalen Struktur-Verschiebung
sick geographiscb decken.)
Von Amerika konnen hier nur politiscbe Kinder reden. Denn
nacbweisbar gebt die Regierung in Washiagton in jeder Weise
mit der engliscben Politik in Europa konform. Und ein Mann
wie Emerson bat eben driiben nicht viel Kredit. Man siebt das
Land driiben immer nocb falscb. Dafiir siebt es uns aber kaum.
Dies sind bistoriscbe Tatsacben, die bei alien Bstracbtuagen
als grundlegend im Gedacbtnis zu bebalten sind.
Kam£f und KdmJ>fer.
Nacbdem sie scbon lange vor Krieg und Revolution die durcb
ein unverniinftiges Preutfentum frucbtbar gemachte polniscbe
Irredenta untersttttzt batte, bat nacb begonnenem Abstimmungs-
kampf die Warschauer Regierung ibre gesamten politiscben Stabe
und Truppen nacb Oberschlesien geworfen. Grofsziigig berechnend,
und wo sie es fur, notig bait, mit au(?erster Brutalitat wirkt sicb
polniscbe Propaganda fast bemmungslos aus. Ibr Name Korfanty,
ibr GeistWolny, ibre Hand der SokoL Ein Netz von Organisationen,
Vereinen, Spitzelzentralen und straff organisierten Abstimmungs-
Comitees iiberziebt Stadt und Land. Mit dem Zeitungsaufkauf
ist man matfig und bescbeiden vorgegangen. Im Wesentlichen
steckte man sicb nur die f ruber demokratiscbe oberscblesisehe
Grenzzeitung ein, die als Propaganda-Organ dotiert , wirksam
arbeitet. Auf jeden Fall bat man es verstanden, den scbon
pradestinierten polniscben Teil der Geistlicbkeit JEiir sicb zu ge-
winnen und aucb hierin einen unschatzbaren * Heifer gefunden.
Bei der geschickten polniscben Minierarbeit werden alle Register
gezogen. "
Die Uberredungschore sind gut abgestimmt, auf allerlei
Feinheiten Bedacbt genommen, und eines Jeden Gescbmack findet
seine Befriedigung. Aucb ist vOr alien Dingen das wicbtige
Kapitel der Auslands - Propaganda nicbt auf?er Acbt gelassen
worden. Und wer die auslandische Presse aufmerksam verfolgt,
wird vielfacb Artikel finden, die in barmloser Verkleidung das
aussprechen, was im Hotel Lomnitz gedacbt worden ist.
Ein viel verworreneres Bild bietet demgegeniiber die deutscbe
Seite. Wahrend weitsicbtige Kreise seit Langem begriffen hatten,
da(? Oberscblesien infolge seiner bistoriscben Ehtwicklung trotz
seiner Gemengelage der Nationalitaten ein einheitlicher Organismus
ist, der nocb dazu durch starkes wirtscbaftlicbes und religioses
Band jzusammengebalten wird, baben engstirnige Preutfea-Naturen
ad majorem gloriam Borussiae diese Tatsacbe einfacb weggeleugnet.
Sie sehen weder die durch keine Krone mebr gebemmte unauf-
136
baltsame Auflosung des weder geistig nock politisch irgendwie
mehr berecbtigen Preuf?enstaates , noch die Gefahr des Verlustes
wichtiger Provinzen bei weiterera Unterlassen, sie kulturell und
wirtschaftlich neu gegliedert in das umformende und zwar natur-
gesetzmaf?ig umformende Reicb einzufiigen. Sogar die dadurch in
ihrer Machtstellung ziemlich scbarf bedrobte Sozialdemokratie
hat dies eingeseben und erst ktirzlicb bat ibr tiichtigstes schlesiscbes
Mitglied, der Reichstagsprasident Lobe, in einer leider zu unbe-
acbtet gebliebenen niederscblesiscben Bezirlbkonferenz in Breslau
gesagt: .,Als Sozialdemokraten baben wir aucb kein Interesse
daran, das von den Hobenzollern zusammengeraubte, zusammenge-
beiratete und zusammengestoblene Preutfen in seinem Bestande zu
erbalten, selbst daraufbin nicht, datf wir einige preutfiscbe Minister
stellen konnen. Mit der Reaktion der Zukunft werden wir besser
fertig werden, wenn sie sicb nicbt auf das gescbicbtlicb gewordene
Preutfen stutzen kann. Die Revolution bat es versaumt, die
deutscbe Einheits-Republik zu schaffen. Heute konnen wir keinen
Teil Deutscblands mit Gewalt bindern, sicb diejenige Lebensform
zu sucben, die er wiinscbt. Wir miissen unserseits in. der Neu-
gliederung des Reicbes nacb kulturellen Gesich'tspunkten voran*
geben, die zu einer freiwilligen Einbeit fiibrt. In Oberscblesien
ist die Entscbeidung in die, Hand Oberscblesiens selbst gelegt, wo
80 v. H. der Bevolkerung Arbeiter sind. Ob Scblesien elne be-
sondere oberscblesiscbe oder eine gesamt - scblesiscbe Autonomic
wiinscbt , werden die Scblesier in den 'zwei Monaten nacb der
Abstimmung fur Deutscbland selbst zum Ausdruck bringen."
Hannover, die Rbeinlande und nicbt zuletzt Oberscblesien sind
eben warnende Signale. Das weif? und beacbtet autfer dem Ge~
beimrat im preutfiscben Ministerium jeder einsichtige Politiker.
Aucb die oberscblesiscbe Autonomic d. b. ibre Verzogerung, bat
der preutfiscbe Gebeimrat auf dem Gewissen. Die Bestrebungen,
dem oberscblesischen Willen nach einem Bundesstaat entgegen zu
kommen, und somit fur Deutscbland das grotfartigste Propaganda-
Mittel zu ^sichern, liegen weit zuriick. Als damals die ersten
Anordnungen aus Beutben und Kattowitz mit maf?geblicben Indu-
striellen an der Spitz e in Berlin eintrafen, bebandelte man diese
Herren geradezu wie Hocbverrater. Die sozialistiscbe Regierung,
Heine und Hirsch, die nie mit oberscblesiscben Verbaltnissen Be-
scbeid gewutft batten, lebnte sie in verletzender Form ab. Vor-
scblagen, scbon damals in Oberscblesien mit einer kulturellen
Versobnungspolitik zu beginnen, begegnete der Minister Landsberg
mit dem gleicben Einwand. Und in der Provinz selbst sorgte
Horsing daf iir , daf? mdglichst viel Wasser auf die Miiblen der
polniscben Agitation kam. Spater sucbte man nacb autfen bin ein
freundlicbes Gesicbt zu bewabrcn, indem man aus Oberscblesien
Herren als vortragende Rate in das Ministerium berief, um Ver-
standnis fiir die Wunsche der Industrie-Provinz zu zeigen, Nur
137
daf? leider die betrefrenden Geheimrate, die heute nock an ent~
scheidender Stelle in "unheilvollem Amt \ sind , gerade zu jenen
Beamten gehorten, die jedem bundesstaatlichen Begehren in Ober~
schlesien aufs Scharfste entgegengearbeitet haben. Selbst als man
in der Reichsregierung den bekannten und durch das Posener
Beispiel von vornherein zur Farce degradierten Schachzug Kor~
fantys erkannt hatte, der durch den Warschauer Sejm der kiinftigen
Wojewodschaft Scblesien weitgehendste Selbstandigkeits-Garantien
versprechen lie!?, sprang immer wieder irgendwo an preutfischer
Stelle ein Widerstand auf. Erst als das Zentrum und der kluge,
nur zu sehr abhangige Zentrumsftihrer Ulitzka, zweifellos eine
Personlichkeit boben Grades, klipp und klar mit seiner Partei sicb
zum Autonomie-Gedanken bekannte , war die Gegenseite labm~
gelegt. Aber nun war es scbon reicblicb spat geworden. Der
Oberschlesier sah mit Mitftrauen plotzlich auf die verscbiedenen
Organisationen , die sich plotzlicb mit mannbafter Geste auf den
Boden der neuen gegebenen Tatsacben stellte. Dazu war die
Disziplin oft so gering, dal? es passieren konnte, daf? polniscbe
Zeitungen uber eine Kundgebung der Miinchener Sektion der
beimattreuen Verbande bericbten konnten, in der diese sicb gegen
die Autonomic aussprach. Der deutschnationale Pferdeful? tritt
eben immer, wo er durcbkommt, das eigene Volk gegen die Brust.
Die deutscbe Propaganda, die zumeist an dem unpolitiscben
Sinn der unteren Executivorgane leidet, ist in der letzten Zeit in
ibren schadlichsten, geistigen Auswiichsen bescbnitten worden, auf
die naher einzugeben sicb in diesem Stadium der Abstimmungs-
frage eriibrigt. Nur soweit sie uber den Termin des Tages hinaus-
geht, bat sie eins vergessen, das was aucb die deutscbe Politik in
Oberschlesien bisber vollkommen iiberseben bat. Die Tatsacbe
namlich, dal? selbst nach einer fur Deutschland sebr gunstigen
Abstimmung immer damit gerechnet werden mul?, im Gebietsteil
Oberscblesien eine polniscbe Minderbeit zu baben, mit der man
auskommen mul?. Eine polniscbe Minderbeit, die aucb die Entente
nie ohne einen vom Volkerbund garantierten Majoritatenscbutz bei
Deutscbland lassen wiirde. Deutscbe und Polen werden eben
stets in Oberscblesien zusammen leben. Um den polniscben Ober-
scblesier bat man sicb auf deutscber Seite viel zu wenig gekummert.
Es ist namlich nicht so, dal? er immer nationalpolniscb gesinnt
gewesen ist. Nocb heute, kann man sagen, ist ein grower Teil
der polniscben Bevolkerung Oberscblesiens durcbaus nicbt der
Fabne Korfantys zugescbworen , da zwiscben ibm und seinem
kongresspolniscben Bruder recbt erbeblicbe Kulturunterscbiede
(und das ist nicbt zum wenigsten deutscbes Verdienst) besteben.
Nach den Wiinschen der polnischen Oberschlesier hat man viel
zu wenig in Deutschland gefragt, uber die Garantien, die fiir eine
polnische Minderheit im kommenden Autonomiegesetz gescbaffen
werden miitften, ware e* doch notwendig geweeen, einmal mit
138
obergchlesisch ~ polnischen Kreisen .Fuhlung zu nehmen. Es gab
eine ganze Anzabl einflui?reicher Polen im Industriebezirk, die
geradezu darauf warteten. Aber natiirlich mufte dies durch un-
belastete Personlichkeiten gescbehen. Die polnische Propaganda
war der Deutschen bierin iiberlegen. AA^er das Gescheben der
Zeit beobaclnete, hatte in dieser Beziehung manches lernen konnen,
So erscbeint seit einiger Zeit in Gleiwitz die Zeitung ,,Most\
(Brucke). Sie wird von einem Krakauer Gelebrtcn berausgegeben
und ist ein zweispracbiges Blatt, das inhaltlich etbiscbe und all-
gemein menscblicbe Fragen behandelt, Brucbstiicke aus der Welt-
literatur abdruckt und zugleicb ein Mittel ist , polniscb und
deutscb zu lernen. Der Erfolg dieses Organs ist iiberraschend
gewesen. Es ist praktiscb, die Kracbartikel in den andern Blattern
liest sowieso kein Mensch mebr, und inbaltlicb ist es der beste
Gegensatz zu einer gewissen Seite der deutscben Propaganda und
ein ausgezeicbneter polniscber Scbacbzug. Dafiir aber bat man
auf deutscber Seite den guten Eicbendorff fur den Polen beinahe
zum Hakatisten gemacht, indem man ibn so viel und so anziiglicb
druckt und um ibn berum Vereine und Vortrage veranstaltet,
dal? er den polniscben Laien scbon gar nicbt mebr als Dichter,
sondern fast wie ein Angestellter der deutscben Regierung an~
mutet. Dafiir bat das Dammertbiiro es verstanden, sicb mit
riesenbaften Staatsgeldern ausstatten zu lassen, die ibm Gelegen-
heit geben, in Oberscblesien ein Ensemble journalistiscber und
politiscber Mittelmatfigkeiten zusammen zu stellen. Zum Ausgleich
dafiir batte man aber beinahe die einzige von oberscblesischen
Gelebrten und Pfarrern berausgegebene wissenschaftliche Zeit-
scbrift ,.Oberschlesien" eingehen lassen. Diese Gefahr bestand
namlich fiir sie, weil ibr 1500 Mark Druckkosten feblten. Erst
durcb das Eingreifen der eine wirklich gerecbte Entscheidung t in
Oberscblesien fordernde Zeitscbrift „Der Oberschlesier \ an deren
Spitze der ausgezeicbnete Kulturpolitiker Georg Werizel stebt,
wurde dies Werk des Deutscbtums vom Untergang gerettet. Die
von Korfanty fiir die Zeit kurz vor dem Wabltermin beabsicb*-
tigte Versohnungspolitik, deren Falscbbeit durcb ein psychisches
Uberrumpelungsmoment nach aufsen bin ausgeglicben werden soil,
scbatzt die Stimmung nicbt unricbtig ein. Die Atmosphare des
Friedens wird zweifellos ersebnt. Denn man bat aucb in den
oberschlesischen Kreisen, die sich nicbt mit den Warschauer, .
aber audi, wenngleich deutscb, nicbt mit den Berliner decken,
genug vom Hader, genug von dem Verb re chert um, das infblge der
politiscben Unruben una der zersetzten Abstimmungspolizei, mit
deren Einricbtung die Entente-Kommission ibr Anseben gerade nicbt
gefordert hat, das Land zu einem einzigenRaubereldorado gemacbt bat.
* Abstimmung und Z/iel.
Seit einiger Zeit stebt der Termin der Abstimmung fiir Ober~
scblesien ungefahr fest. Es ist das Ende Februar oder der Anfang
139
Marz. Obwohl nun der eigentliche Start jetzt beginnt, steht das
Ziel keineswegs fest. Denn welches sind die Aussichten, welckes
die Absichten der Abstimmung? Nack dem Wortlaut der Ver-
sailler Akte hatte sie nur einen Zweck, wenn es einer der strei-
tenden Parteien gelange, mit seinem Resultat in die uberwiegende
Mebrheit zu kommen, also ungefakr 90 °/° , der abzugebenden
Stimmen zu erhalten. Dies wird nicbt der Fall sein. Auf
deutscher Seite dtirfte man, en bloc gerechnet, bei guter Beteili-
gung der im Reiche lebenden Oberschlesier mit etwa 70 °/o rechnen.
Da ja aber nicht die absolute Majoritat ausscblaggebend ist, son~
dern die jeweilige Gemeindemajoritat fiir diesen Bezirk entscheidet,
wird man aus den oben angefiikrten Griinden am Scblusse der Ab-
stimmung gehau so klug sein. Es mul? die Auf gabe der deutscben
Regierung sein, diese nacb Lage der Verkaltnisse den Polen alle
Ghikanen ermoglicbende Matfnakme zu verbindern. Die polniscbe
Regierung stand scbon seit Monaten dariiber mit leitenden Stellen
der Oppelner Regierung in Verbindung, die deutscben Kreise,
weder Fiirst Hatzfeld, nock der Plebiszit-Kommissar, sind im
Gegensatz hierzu irgendwie von Le Rond aus angegangen worden.
Ein weiterer bcabsichtigter Trick der polniscken Seite wird es
vermutlich sein, nacbdem ibnen die Aussperrung der Heimattreuen
aus dem Reich mitfgluckt ist, in letzter Stunde die Zweizonen-
teilung mit nacbeinander folgender Abstimmung durchzudriicken.
Letztere Einteilung wird, wie f olgt, von ihnen berecbnet : die West-
zone mit Lublinitz, Kreuzburg, Rosenberg, Oppeln, Grof?~Strehlitz,
Gosel, Leobschutz und Ratibor und die Ostzone mit Gleiwitz,
Zabrze, Tarnowitz, Beuthen, Kattowitz, Plef? und Rybnik. Die
Absicht dieser Einteilung ist sehr durchsichtig. Die Westzone
wiirde zu 80°/o deutsch stimmen und also Deutschland zugesprochen
werden. Sie besitzt zwar urn Oppeln herum eine starke polniscbe
Bevolkerung, ist aber meist landwirtschaftliches, fiir Oppeln un-
wichtiges Gebiet und hat im evangelischen Kreis Kreuzburg einen
starken Damm gegen das polniscbe Gebiet, sodaf? die Westzone
von vornherein sckwere Irredenta-Keime bergen wiirde. Die Ost-
zone dagegen mit der starken polnischen Grubenbevolkerung und
den stark polniscb ' durcbsetzten Kreisen Plef?, Rybnik und den
Siedlungs-Ringen um Beuthen und Kattowitz wiirde vermutlich
nur zu 50% deutsche Stimmen abgeben. Daraufhin wiirde man
also mit der Miene wohlwollender Teilung dieses Gebiet an Poleh
zu schlagen versuchen. Was den Verlust des gesamten, alle er~
bohrten und alle noch nicht erbobrten Schatze von unsagbarem
^Verte enthaltenden Industrie-Gebiete zur Folge hatte und dem
Verlust der ganzen Provinz gleichkame. Dieser saubere Plan kat
noch eine verscharfte Tendenz, wenn, wie Korfanty vorschlagt, in
der Ostzone zuerst abgestimmt Wiirde. Wiirden docb dann die
psychologischen Wirkungen bei schwankenden Gemiitern in der
Westzone nicht ausbleiben. Hiergegen hat die Deutsche Regie-
140
rung nur cin Mittel: die Berufung auf die Versailler Akte. Sie
sind in dieser Hinsicht eindeutig. Oder aber wenigstens den
Gegenvorschlag : die Teilung der Zonen langs der Eisenbahn
Oppeln-Myslowitz vorzunehmen.
Wer beute durcb Oberscblesien fabrt, und das Land niicht
aus seinem inneren Wer den beraus kennt, wird iiberkaupt zu
keiner Abwagung der Cbancen kommen konnen. Die Industrie
schweigt vollkommen, weil sie ikr Eisen grotftenteils in drei Feuera
hat, im deutschen, im polnischen und im freistaatlicben. Der
Kaufmann wagt keine Autferung, weil er weder dem Recbt nocb
der Entente-Gunst mebr traut und bis zum Autfersten verscbiichtert
ist. Fiir die starke jiidiscbe Bevolkerung trifft das Gleicbe zu.
Der Bauer stent vielfacb unter dem Druck des zu Polen neigeri-
den Landklerus, und so liegt alle Hoffnung und Entscbeidung,
giebt man vom geistigen, deutschfiiblenden Mittelstand ab, beim
Arbeiter, d. b. bei der bier weniger ein Programm als eine Lobn~
skala verfecbtenden U. S. P. D. und bei dem Abstimmungsberecb-
tigten aus dem Reicb.
Man siebt also, dai? mit der Abstimmung in Oberscblesien
kaum etwas getan sein wird. Das wicbtigste Bucb des Deutschen,
der Friedensvertrag, ist immer nocb von der Offentlichkeit zu
wenig gelesen und durchstudiert, fast ebenso wenig, wie ibn seine
deutscben Verfasser in der Tragweite je erkannt baben. So ist
Oberscblesien drauf und dran, Brandberd langer Kampfe zu
werden. Das Gespenst der Tescbener Losung taucbt neben dem
Gedanken des Volkerbundprotektorats immer wieder am Horizon t
auf und sclion munkelt man von allerband gewaltsamen Vor~
bereitungen. Jedenfalls diirfte an eine Raumung des Landes,
dessen Scbicksal so ungewil? ist, von der Entente-Seite aus vor-
laufig kaum gedacbt werden. Hier erweist sicb der scbon im
Vorigen getane Aussprucb als erwiesen : da(? Oberscblesien als
mitteleuropaiscbe Frage diplomatiscne Losung verlangt. Es darf
von deutscber Seite nicbt zugelassen werden, daf? bier mit scbein-
baren Recbten Komodie gespielt wird. Eine Komodie, deren
tragischer Narr Micbel ist. Es gibt nur einen Weg: Deutscblands
Autfenpolitik muf? beweisen, dai? Deutscbland mit Oberscblesien
fiir Europa notig ist. Daf? der Kontinent, wenn das Reicb obn-
macbtig ist und es ist obne Oberscblesien obnmacbtig, zum
Balkan herabsinkt. Die europaische gesamte Festland-Wirtscbaft
ist die Frage einer neuen staatlicben Gemein -Wirtschaft.
Obne Deutscbland kein weltgesundes Mittel -Europa. Keine Ge-
sundung der kontinental-europaiscben Koblenwirtscbaft obne ein
rubiges Oberscblesien. Kein rubiges Oberscblesien obne sicbere
Verankerung bei Deutscbland. Kein aufbau-fabiges Deutscbland
obne Oberscblesien, kein zukunftsreicbes Europa obne ein gesundes
Deutscbland und obne eine gesunde Koblenwirtscbaft kein Europa.
141
anton kuh DER JUDE ALS SOZIALDEMOKRAT
Anton Kuh, ein junger Schriftsteller aus Osterreich, der an einem
in Deutschland scltenen Laster laborieft: Er ist zu geistreich, hat soeben
ein Buch geschrieben ,Juden und Deutsche" (Verlag Erich Reiff),
in dem er zum ersten Mai mit diaziplinierter Kraft, gesammelt und ge-
festigt, auftritt. Ea ist seit Langem kein freieres, kein mutigeres, kein
anregenderes Buch liber die deutsche Judenfrage geschrieben w or den. Ich
gebe hier ein Kapitel des Werkes wieder :
Das likerale Zeitalter katte dakin gefukrt, wo es frtiker oder spater
landen muJ?te: zur Verwandlung des Oppositionskiirgers in einen Vor-
kekaltskurger Und endKck in den NationalLurger. Durck die judiscke
Hilfe gestarkt, sckuttelte er den lastigen Mitstreiter von den ScKultern.
Konnte er sick auf die Dauer in einer Gesinnung kesckranken, die ikren
Sckutzzweck fur den Besitz sckon erfullt katte? Er ging also nickt klol?
uker ikre Grenzen kmaus, auf eigener Gewaltkakn weiter, sondern er-
offnete den Krieg gegen die Juden, die, der Gefakr solcker Entwicklung
fur die Vorkedingungen ikrer Freikeit kewutft, an jenen Grenzen steken-
klieken. Dadurck entstand, mockte ick sagen, eine Vakanz in der Uker-
nakme der Ideen, die als Zeitwiderstand iin Likeralismus tatig waren.
Hier sprang die Sozialdemokratie ein. Sie sog die jiidiscke Hoffnung auf,
die der dntte Stand enttausckt katte. Eine unverdorkene, unterdriickte
Klasse sollte unter dem Waklspruck: „Wir kennen keine Konfessionen
und Rassen — nur Besitzer und Besitzlose" die Sacke jener Juden ins
Scklepptau nekmen, denen die friikerere Gesinnung keine Zukunftsgewakr
mekr bot.
Aker, wird man sagen, nun waren sie dock auf dem reckten Weg?
Naker konnten sie der Sendung, den Geist des Besitzes an der Umwelt
zu suknen, kaum nock kommen?
Darauf ware zunackst zu erwidern, dal? es auck dem Sozialismus
im Grunde nickt auf eke menscklicke Beziekung, sondern auf die Existenz-
gleickkeit ankommt, und dai? er wieder nur in einer Metapker des Frei-
keitssinnes steckenkleikt, den Irrweg falscklick als Vorstufe ketracktend.
Darin aker:
Dai? in der Recknung ein Lock war. Und dieses Lock ungluck-
scligerweise die Stelle des weggelassenen Ick. Sie glaukten von sick und
lkrem Judentum akseken zu konnen — ja, zu mussen — , um Soziaksten
zu sein. Das war die Lugenwurzel. Was ging sie der Entrecktete, Mifi-
acktete an, der es aus ganz anderen Grunden war als sie, wenn sie nickt
zuvor lkr Sckicksal in ein Verkaltnis zu dem seinen setzten ? Und wie-
vjel war die MerisckenKeke wert, die erst ikres Ursprungs Und ikrer
korperlicken Bedingtkeit vergessen mutfte, um sick in die Welt zu cr-
gie#en? (Ganz nekenkei sei kier nock kemerkt, dai? die Juden, kei denen
sick die ZakHder Besitzenden und Besitzlosen wesentlick giinstiger ver-
teilt als kei den anderen Volkern, den sozialen Ereckeinungen, die der
Besitztnek des Gescklecktes zeitigt, naturgemai? empfindungslos gegenuker~
steken mussen, solange sie von dem Urmotiv nickts wissen. Dal? einer
ausgekeutet, ukervorteilt wird, rukrt sie wenig; es war nickt ikr Er-
142
lebnis. Dieses hie!?: bespieen zu werden. Gabe es eine Partei, die sick
der Bespieenen, mit Puffen und Tritten Bedacbten annanme, und mr
traten die Juden bei — es 'ware die naturbcbste Sacbe der Welt.)
Die Selbstausscbaltung, als Quellpunkt ibres sozialistiscben Elf era,
mul?te aber fur sie uberdies zur Folge baben, dais sie, so weit von si en
entfernt, die Erscbemung* des Besitzes mebt m ibrem tieren gescblecnts-
pbilosopbiscben Zusammenbang erfal?ten, sondern ganz oberrlacklicn und
wirtscbaftlicb nabmen. Dal? sie gegen Wirkungen kampften, obne die Ur-
sacben vollig zu seben. Daber war und ist bei lbnen etwa der rial? gegen
Muckertum sebr wobl mit einem Hobnlacbeln liber aufrubreriscne Geister
vereinbar, die die ^Velt aus dem bewutften Punkt kurieren wollen, oder
ibr Drmgen auf Losbarkeit der Ebe mit pui-itaniscbem Dirnenabscbeu.
Nicbt die Kraft, sondern Aie Barmberzigkeit ist der pbilantropiscbe
Quell dessen, der auf sicb selbst verzicbtet; der judiscbe Soziabsmus
miindet also, boebstf olgericbtig fur Scbopenbauerscbe Begnffe und ebenso ver-
kebrt ira Sinne ibres Scbicksals und ibrer Vorbestiramtbeit, ins Cbnstentum.
Icb nebme als Reprasentanten dieses Zeitabscbnittes Ferdinand Lassalle
beraus. Nicbt, weil das bier Gesagte etwa besonders auf sem,Wesen
zutnfft; aucb nicbt, weil er, von dem franzosiscb veranderten Namen
angefangen bis zu dem Aussprucb : „Zwei Dinge in meinem Leben babe
icb nur .gebatft : Die Juden und die Literaten ; leider bin icb beides "\
als kolossaliscbster Ausdruck jenes Ebrgeizes gelten darf, der in den
Rbytbmus und Wellenscblag des grotfen Lebens verliebt, an der Statuen-
starre der Gescbicbte berausc^t, zu aristokratiscber Hobe binanstrebt und
den judiscben Advokatentalar als romiscbe Xoga tragt . . .
. . . sondern urn emer emzigen X agebuebnotiz willen, die der Knabe
Lassalle, vierzebnjabrig, lange Zeit, bevor er der Gesinnungsbeau war
und das V orbild fur alle, die seitber ibren Stadtpelz m aufrecbter,
demokratiscber Haltung tragen oder" lm S chat ten Mirabeaus eine Km d ea-
rn ord en n verteidigen, emtrug. Sie lautete:
„Icb konnte mem Leben wagen, die Juden aus ibrer jetzigen druckenden
Lage zu reiuen. Icb wurde selbst das Schafott nicbt scbeuen, konnte icb
sie zu cinem geacbteten V olke macben. O, wenn icb memen kindiscben
Traumen nacbbange, so ist es immer meme Lieblingsidee, an der Spitze
der Juden, nut den AkVaffen in der Hand, sie selbstandig zu macben . . .**
Er, dessen Lieblingsidee solcbes zu emer Zeit war, da nocb das
Unbewuute, von keinem I rug V erralscbte und Irregeleitete lm Menscben
spricbt, wurde dann zu cinem Fubrer und Hauptbegrunder der deutscben
Sozialdemokratie! Gibt es em besseres Leitwort nicbt blol? zu seinem
Leben, sondern zur Europagescbicbte der Juden uberhaupt, die eine Kette
falscber Anwaltscbaften war? Man sage nicbt, da# sie ibre Dialektik,
ibr Talmud- Atavismus in den Advokatenberuf drange! Es ist vielmebr
die bistoriscbe Gewobnbeit, sicb der fremden, ibnen im letztcn Ende
femdKcben Sacbe als der eigenen anzunebmen. Und nennt man ibre innere
Tragik den "Weg, der sie von der Scbuld zur Sendung fubrt, so muf?
jener Irrweg ale ibre autfere Tragik bezeiebnet werden.
143
FRIEDRICH HEBBEL Unbekannte Briefe
Eingeleitet und mitgeteilt von Julius Schuster
3) An Gustav zu Putlitz.
Wien, den 6. Dec. 1857.
Verehrtester Freund!
Fiir den verlorenen Sohn wurde ein Kalb geschlachtet, als er
sich endlich wieder einstellte ; wie es einem verlorenen Freunde
ergeht, wenn er wieder kommt, weii? ich nicht! Es ist nimmel-
schreiend. es ist unverzeihlich, auf einen so liebenswiirdigen Brief,
wie Ihr letzter war, erst jetzt zu antworten, und keine Arbeiten,
keine Vorfalle konnen den Sunder rechtfertigen, nicht einmal die
Gewohnheit, sich den besten Bissen bis zuletzt aufzuheben und ihn
daruber oft kalt werden zu lassen. Ich ergebe mich daher ohne
den kleinsten Ve'rteidigungs -Versuch Ihrer Grotfmuth, und erst
jetzt, nachdem ich Ihrer Begnadigung gewii? zu seyn glaube, komme
ich zu dem, was allenfalls fiir mich anzufuhren ware.
Nie habe ich so anhaltend und so glucklich gearbeitet, wie
vorigen Herbst und Winter, aber auch nie habe ich es mit so
ganzlicher Erschlaffung, so ganzlicher Lebens-Unfiihigkeit, bezahlt,
wie diesen Sommer, Ich habe die Gesammt~Ausgabe meiner Ge-
dichte zusammengestellt und fast kein einziges unberuhrt gelassen,
ich habe weiter die vier letzten Gesange eines epischen Versuchs
geschrieben und das erste Stuck meiner Nibelungen, aus fiinf Akten
und einem Prolog bestehend ausgefuhrt. Daruber mutfte ich dann
Alles liegen lassen, sogar meine Wiener Geld-Angelegenheiten,
was mir durch das Umspringen der Course einen Verlust von
wenigstens drei Tausend Gulden zugezogen hat, den die Honorare,
wenn mein Verleger anders nicht zu meinem Heil von einem
stillen Wahnsinn befallen wird, sicher nicht decken werden. Als
der furor dann endlich nachlietf, lag ich da, wie eine Person, die
Krampfe gehabt hat und wie ich mich in Gmunden ein wenig zu
erholen anfing, hatte ich im Bade einen Unfall, der mir das Leben
hatte kosten konnen und eigentlich, zu Ehren der Wissenschaft,
auch hatte kosten sollen. Mir sprang namlich von einer hohen
Briicke herunter, als ich gerade durchschwamm, ein Verruckter
auf den Riicken und schlug mir mit seinen Zahnen ein Loch in
den Kopf. Die Wirbelsaule; die bei solchen Gelegenheiten ge~
wohnlich, nebst den Rippen, zu brechen pflegt, blieb ganz, aber
ich verlor viel Blut und habe Monate lang an den Folgen der
Erschiitterung gelitten, ohne jedoch fiir die Zukuhft etwas besorgen
zu miissen. So blieb ich Ihnen denn auch in Gmunden, von wo
aus ich Ihnen ausfxihrlich hatte schreiben wollen, die Antwort
schuldig, denn ich konnte kaum lesen. Doch genug davon, Sie
hadern nicht mehr mit mir.
Sie werden jetzt wohl wieder so gemuthlich in Ihrem Tu-
sculum sitzen, wie Sie es mir zu Anfang des vorigen Winters
schilderten, aber einen kleinen Engel mehr im Hause und ein Drama
144
mebr auf dem Scbreibtiscb baben, wenn Sie mit Ibrem Stiick aus
der Brandenburg'scben Gescbicbte anders bereits zum Abscblui?
gekommen sind. Das kleine feine Lustspiel, was bier kurzlich von
Ibnen zur Auffiibrung kam, batte sicb bei den Gebildeten, wie
icb Sie versicbern kann, des auf ricbtigsten Beif alls zu erfreuen,
aber die Gebildeten, denen das Burgtbeater frftber allein geborte,
bilden jetzt nur nocb einen sebr kleinen Tbeil des sicb dort ver-
sammelnden Publikums und der grotfe Haufe sabe es natiirlicb liebe*,
wenn die Pulver-Explosion von Mainz dramatisiert wiirde, wozu
allenfalls aucb Ratb werden konnte, Man mul? die Kunst jetzt
wirklicb nur um Gottes willen treiben, der das Talent nur emmal
verlieben bat und fordera darf, dal? man es nicbt bracb liegen
la#t; gliicklicberweise belobnt sie aucb durcb sicb selbst. Mir
macbt die Gesamtausgabe meiner Gedicbte, in scboner Ausstattung
bei Cotta erscbienen, Freude und Freunde; icb balte es fur mein
bestes Bucb. Einige Nacbtrage entsteben nocb immer; gestern z. B.
macbte icb eine Ballade, zu der icb die Idee ein voiles Viertel-
Jabrbundert mit mir berumgetragen batte. Ein voiles Viertel-
. Jabrbundert ! Graut Ibnen nicbt? „Wacbet auf, ruft uns die
Stimme." Das klingt mir, aus weiter erster Kinderzeit beriiber
oft in den Obren und , macbt micb gegen Lorbeeren und Kronen
gleicbgiiltig.
Aucb wir fin den unser bocbstes Gliick in der Hauslicbkeit
und verlassen den kleinen Zirkel, den wir selbst bilden und in
dem nur nocb fiir einen Vierten oder Fiinften Platz ist, nur selten
und ungern. Die Muscbel im Ozean! war von jeber mein ^A^abl^
spruch und ist aucb der meiner Frau. Diese bat sicb kiirzlicb ein
Verdienst um das Burgtbeater erworben, was aucb allgemein an*-
erkannt wurde, indem sie durcb die tiefste, seelenvollste Darstel-
lung die abgeschmackte Fiammina*) iiber W^asser bielt. Sie griitft
Sie und Ibre Frau Gemablin, welcbe kennen gelernt zu baben,
wenn aucb nur fliicbtig, uns eine grotfe Freude war, auf das Herz~
licbste; ebenso icb und Titi, die jetzt zu einem Grul? aucb scbon
verniinf tig genug ist. Die froblicbsten Feiertage und — keine Rache !
Treulicbst Ibr Fr. Hebbel.
-4) An Gustav zu Putlitz.
Verebrtester Freund!
Das nenne ich undankbare Leute! Icb scbreibe Ibnen einen
berzlicben Brief, icb scbicke Ibnen meine Dicbtungen, icb scbenke
Ihnen einen Psycbograpben**) und sie sind stumm, als ob sie nicbt an
der Donau, sondern in der Donau baus'ten und keines Lautes
macbtig waren.
Nicbt wabr, so baben Sie gedacbt, mebr als einmal gedacbt,
vielleicbt gar gesprocben, und wer wird es Ibnen yerargen? Aber
freilicb, und das baben Sie sicb docb aucb scbon selbst gesagt,
*) Von Nehard.
**} Ein Apparat, durch den die Geister der Spiritiaten angeblich ihre Meinung
3chriftlicK oitenharen,
145
konnen wir von unscrer Seite Manches erwidern. Zunachst ging
uns der Psychograph mit einem sehr bosen Beispiel voran, denn
obgleich wir ihn nicht bloi? fragten, sondern succesive inquirierten
und qualten, ja zuletzt sogar ohne Erbartnen folterten, so gelang es
uns doch nicht, ihm aucb nur den kleinsten Laut zu entlocken.
Entweder wohnt kein Geist in ihm, oder wir sind ihm zu gering
uns einer Offenbarung zu wiirdigen. So steht die Sacbe olme alien
Zweifel und gehort nicbt mehr als Alltagsmuth dazu, Ihnen eine
so beschamende Alternative mitzuteilen ? Nebmen Sie nocb hinzu,
datf icb meiner Frau aus GesundKeitsriicksicbten das Eintreffen des
unheimlicben Gastes voile acbt Tage verhehlte, so konnen Sie sicb
gewii? vollstandig in unseren Zustand versetzen! Doch, Scherz bei
Seite, der Wmter und der Friihling gingen bei uns nicht so vor-
iiber, wie wir wobl gewiinscht hatten! Die Grippe ging, wie ein
Abendmahlikelch des Teufels, im Kreise bei uns herum und ent-
zog mein Haus dem Theater, mein Tochterlein ihren Lehrern, und
mich, was vielleicht kein Ungliick war, mein em Schreibtisch. Kaum
jetzt geht Alles wieder, wie es soil, doch hoffen wir uns in Ober-
osterreich, Steiermark und Salzburg, wohin wir in den nachsten
Tagen absegeln, wieder herzustellen.
Ihre Dichtungen haben uns wohlgethan, nicht bloi? meiner
Frau, sondern auch mir, doch sehe ich Sie, wean Sie mir ein auf-
richtiges Wort gestatten wollen, lieber im dramatischen Gebiet,
als im epischen, wobei freilich meinerseits die Griinde des Genres
vorwalten mogen. Ihre Ines sowohl, wie Ihre friiheren Stucke,
haben mich durch Zartheit der Ideen und Feinheit der Behandliing
innig und warm angesprochen, und Sie thun mir unrecht, wenn
Sie das bezweifeln. Ich fasse das Drama anders, aber das macht
mich fur fremde Arbeiten durchaus nicht unempf anglich, im Gegen-
theil sind mir meine eigenen Schiiler gerade am meisten zuwider.
Das Thcater-Schicksal der Ines in Wien konnte uns ubrigens nicht
im Mindesten uberraschen; wir haben eine Buhne gehabt, der es
um Wahrheit und Natur zu tun war, und treiben jetzt Feuer-
werkerei. Ich habe mit der Wirtschaft absolut Nichts zu schaffen
und meine Frau nur so weit, als ihr Hof-Decret es mit sich bringt.
Von mir ist im Herbst eine Tragodie „Gyges und sein Ring"
vollendet worden; erschienen sind Agnes Bernauer und Michel
Angelo, denen Gyges zu Weihnacht folgen wird. Vielleicht kommt
Ihnen etwas davon unter die Augen; die Poesie entschadigt mich
fur die Buhne, eben jetzt tritt eine Gesamtausgabe meiner Arbeiten
hervor, aber nicht in Deutschland, sondern zum grof?eh Verdruf?
meihes Verlegers, der es mir gestern anzeigte, in New- York, wo
ich die Ehre habe, Goethe, Schiller und Heine auf dem Fu(? zu folgen.
Und nun unter den herzlichsten Grii#en und Empf ehlungen
von meiner Frau in alter Freundschaft
Ihr
Wien, den 1. July 1855. Fr. Hebbel.
146
™> r.AMh LOEWENTHAL EMIL STRAUSS
Dcr Verteidiger des eben verurteilten Einbrechers Emil Strauf? hat fiirs
T.-B. diese Darstellung seiner Eindriicke' von der Personlichkeit des Ver-
brechers geschrieben, der jedenf alls — seine Straftaten beurteilte der Ricbter —
als Energie und Geist nacb vielen Jabren Einzelhaft eine psycbologische
Merkwiirdigkeit besonderer Art darstellt,
Vor Jahren sak ick inn zum ersten Male, in meiner Spreckstunde. . . .
Ein eleganter, kock auigesckossener Kavalier; tadelloser Gekpelz una
modernster Zylmder, den gesckmackvollen Spazierstock in der wilaieder-
kekleideten Hand, Er oat mick in rukigem, vornekmen Tone, seinen
Namen versckweigen zu durf en : nur eines Freundes wegen komme er,
der sick infolge ernes Konfliktes mit dem Gesetze verkergen musse. —
Ok ick ikm uker gewisse Auskeferungsvertrage Auskunft geken konne.
Ick mul?te die Antwort als „Reckts* -Anwalt akleknen. Aker dann
spracken wir welter, uker allerlei Fragen aus dem Straireckt, und ick
kewunderte seine Kenntmsse. Einer vom Fack, dackte ick mir, . . .
vielleickt ein gesckeiterter Referendar oder ausgeglittener Assessor. Dem
widersprack ein Etwas, liter das ick mir im Augentlick mckt klar
wurde. — Das Gesprack und sein Absckied sekr korrekt; nur alles
sonderkar zogernd. ...
Bald darauf korte ick von einem der Sckwer^Klienten, dau es
Emil StrauK war; . . . wieder einmal nack dem Auskruck una eiing
gesuckt. . . .
ii.
Dann, mckt lange darauf, -war's in einer kleinen Kneipe m N.-O. . .
Einer, der die ICasckemmen und das Gruseln kennen lernen wollte, katte
mick kineingesckleppt. An einem im Halkdunkel stekenden Tiscke sal?
Emil Straul?, in einem groi?eren Kreise gleickaltriger Leute. \Vieder
nel mir sein tadelloses Auifere aut und die Ruke seines \Vesens; ein
autfallender Kontrast zu der unsteten, wiisten Umgekung. Nickts storte
die gediegene Note der Ersckemung, — keine unmogkcke ICravatte und
kem greller, sckreiender V elour-Hut, wie ikn sonst die Manner vom
Breckeisen und Dietrick tragen, wenn sie in Zivil geken. '• — Er sckien
mick sofort zu erkennen. Nur ein kurzes, unmerklickes Nicken sagte
mir, dal? er auf meme Versckwiegenkeit recknete. Stumm saK er, okne
an den Gespracken und Zoten der Gefakrten teilzunekmen. Allein die
keweglicken Augen spracken und durckforsckten jeden der Anwesenden
und Kommenden. Sein Glas mit sckalem Bier stand unkerukrt die
kalke Nackt; er nippte mckt einmal daran. Die um ikn kekandelten
ikn mit eigenartiger Sckeu, wie einen Ekrengast, den man acktet. —
Spater sammelten |sie fur einen der „alle" geworden 'war,, und dessen
147
kungernde Famine. Jeder von den Mannern und mren Brauten gak
etwas. Er aker lekrte okne Besinnen die ganze Briertascke aur den
xlaufen und eke sie nock etwas dazu sagen konnten und wollten, ver~
sckwand er scknell kinaus in die Nackt. —
in
Nack Monaten traf lck lkn lm Gencktssaal wieder, in Moakit,
vor der Strafkammer. Er und sein Bruder Erick, der Mltlaufer und
das Gesckdpf des angeketeten Bruders, unter der Anklage des kuknen
Emkrucks im groi?en Seidenkause auf der Leipzigerstraise. Ueker ein
Baugerust, em ganzes StraKenviertel entfernt, waren sie auf die Dacker
gestiegen und dann iiker viele Hauser kinweg geklettert und geturnt.
Mlttels eines langen Sells gelangten sie sckKeI?kck in lebensgefakrkckem
Ableiten durck em zertrummertes Fenster zu den beidenscnatzen, last
vor den Augen der Hauswachter. Von Sonnakend abend bis Montag
in frukester Friike, wo die Hekler im Lastwagen unter jenem Baugerust
die reicke Beute der Bruder erwarteten, bkeken sie im Gesckaftskause.
Auiser nut der kostkaren ,,Sore * katten sie den gefakrvollen, scnwiengen
AA/eg im Klettern und Klimmen mekrfack zuruckgelegt, um mit den
Helferskelfern drauKen in Verbmdung zu bleiben. Auck zu Kempinski
waren sie, klois zum Essen, km ab gestiegen. — Diesmal, im Gencktssaal,
sak er weniger gesellsckaftsfakig aus, m der Gefangnisjacke und den
rlandfesseln. Aker er benakm sick ekenso gelassen und bescheiden,
immer mit der langsamen, gewaklten Spreckweise, als lese er aus emem
Bucke. Nur als er von seiner gesckandeten rvmdkeit und Jugend er—
zaklte, und wenn es gait, den Bruder zu verteidigen und zu entsckul-
digen, Avar seme Spracke alltaglicker und naturkck. . . . Ick katte nur
einen der Hehler zu verteidigen und Mul?e, die keiden zu keobackten
Em Streken nur in den Brudern. sick gegenseitig zu entlasten und den
andern vor der Strafe zu sckutzen. Dock auck kierm war Enul der
Starkere und Mai?gebende. Er nakm die voile Sckuld auf sick und
a em nack auck die sckwere Strafe von 12 Jakren Zucktkaus. Gleick-
mutig und keinake uberlegen nakm er' das Urteu auf. Dock dais sie
den Bruder ekenfalls kart bestraften, entrang dem immer Rukigen einen
Sckmerzenslaut. Und beim Verlassen der Anklagebank raurite er vor
sick kin, da!? er kald wieder frei sein musse, um den Bruder keraus-
zukolen. — Man weil?, dai? er dieses Versprecken emgelost kat. Die
Befreiung Erick Straul?ens aus dem Zucktkaus zu Stargard, m ciner
versckneiten Winternackt, nackdem Emil Straui? Tur auf Tur aufzu-
sprengen gewui?t, kort sick wie em Kapitel aus dem Casanova an. Dem
Bruder kat er nickt nur die Treue gekalten, er kat Leken und Freikeit
mit unvergleicUickem A^agemut fur lkn riskiert.
148
IV
Und nun das letzte Mai, vor dem Sckwurgenckt wegen der
Sckie#erei auf die Polizeik earn ten in der Woknung der Gekekten. -Mord
sollte es sein und Mordversuck) Aker kemer der Zeugen, der inn naker
kannte, konnte ikm nacksagen, da(? er jemals einem Menschen auck nur
ein Haar gekrummt katte. Alle, audi die Kollegen des Ersckossenen,
stellten ikm das Zeugnis des Besonhenen, Gutmutigen, ja Weickkerzigen
aus. Auck aus seiner gro#en Verteidigungsrede, die er gleink am An-
fange der Verkandlung kielt, klang dies keraus, wenn man gut kmkorckte.
Es war wie eine Klage, als er in seiner gedreckselten Bucker-Spracke
erklarte, wie er zu seinen Verbrecken und Strafen gekommen war und
kommen mutfte. Der Patkos der Worte konnte verwirren, den Ein-
druck erwecken, als ware es eingelernt. Der Staatsanwalt griff dies
auck spater gegen ikn auf. Aker es war trotzdem ein Seelensckrei, als
er erklarte, dal? mit dem friiken Tode der Mutter nie Mensckenlieke
und eine Mensckenkand ikm mekr gegonnt war. Und am ersckutternd-
sten war wokl sein Berickt, dai? er von den letzten 15 Jakren vierzekn
voile, unermetfKck lange Jakre in Einzelkaft verkrackt kat* Die kurtigen
Kritiker, die uker die kilderreicke. uberpatketiscke Verteidigungsrede
spottelten und sie fur „gemackt" erklarten, ubersaken, da(? dieser Mann
langst nur mekr an den Umgang mit Biackern und Zeitungen gewoknt
war. Mit lekendig'en Menscken kat Emil Straul? nur in den ganz kurzen
Pausen seiner Freikeit verkekrt. Er sprack, wie ein Buckerwurm redet,
ein gewun denes Buckdeutsck, die kunos gedreckselte Spracke eines ewig
isolierten, des Umgangs mit Menscken entwpknten Sonderlings. Die
endlosen Jakre der Einzelkaft, waren 1 nickt zu tragen gewesen, katte er
sie nickt zur Starkung seiner InteUigenz kenutzt. Zum Erlernen fremder
Sp rack en, Matkematik und Kurzsckrift. Aker diese in der Akge-
sckiedenkeit seiner Zelle gestakite Intelkgenz, losgelost von jedem mensck-
ncken V erkekr, muKte anders werden wie keim Normalen. 1 astend
und langsam, einsiedlerisck und wcltfremd. Daker sprickt er und denkt
er so zogernd und ungeukt. Daker wulste er auck nickt, was er lm
Augenkkck dem Beamten gegenuker tun sollte und wollte. Der lang
vorkereitete Einkruck ist seme Domane, nicht aker die Tat, die plotz-
licken Entscnlui? und Zugriff keisckt und kedingt.
Was er tat, ist nickt zu kesckonigen, aker es ist verstandlick und
erklart sick folgericktig aus diesem Leken und diesem Sckicksal. Die
lange Einsamkeit kat ikn zum Ideologen seines Verkreckens gemackt.
149
HAKS Adlbr AFFENTHEATER
In Wien, im Verlage von Ernst Peter Thai 6? Co., iat ein ganz
kleines, auch im Gewande graziosea Biicblein „ Af i ent^eater"' er-
achienen, das 45 kleine Gedichte enthalt. Keine Welterlosungen, gott-
seidank, wir sind allmahlicb genttgend erldst, auch keine Tyrtausgeaange,
uberhaupt keine lauten oder geschrieenen Verse, sondern sehr liebens-
wiirdige, mit angenehm leiser Stimme vorgebrachte, anmutig geformte
Gedichte einea nicht mekr ganz jungen Mannea, der aich in bewegteren
Jahren ein Recht auf ironiache Lebensbetrachtung erworben ' bat. Die
Gedichte, nicbt ganz frei von Heinelei, baben so viel Delikatesae und
liebenswiirdige Bitterkeit, datf icb mich freue, hierauf den dffentlichkeita-
fremden, all em literarischen Rummel entriicktsn Dicbter binzuweisen.
EHEIDYLL
rleute ist es spat geworden. Beinak zekn.
Siek, die riangelampe flackert gelker,
Dem Verloscken nake, und wir selber
\Vollen nun scklafen gekn,
Ack, das Bier war dunn. Die Pfeife ziekt nickt mekr.
Quietsckt das Kind nickt in der Sckaulteltruke ?
Herrgott! Sckenke mir die ewige Ruke!
Leben ist zu sckwer.
In der alten Wandukr tickt die Ungeduld.
Und dein Bild, als Braut im weitfen Kleide,
Lackelt kilflos nieder auf uns beide ...
Wo beginnt die Sckuld?
Tief in deinen Augen zuckt verdeckte Glut . . .
Whilst du, okne gute Nacht zu sagen,
Mir die Zakne in die Kekle scklagen?
Hattest du dock den Mut!
150
DAS STADTCHEN
Hier musseh satte Menscken ineduck woknen
Mit runaen xCopien, denen man vertraut.
Es neckt nack saurem Bier una kraunem Kraut,
Nack rett und iromm gewordenen Marronen.
Zierblumen sonnen sick aur den Balkonen
Der engen Hole, wmkelig verbaut,
Una bittern me 1m rrevelkarten Laut
Von allzu kompnzierten Passionen.
Die Madcken kaken eine helle Haut
Una" scklagen irritiert die Augen meder,
^Venn man nacn ikren Formen ilucktig sckaut.
Una greirt man untertags nacn einem Mieder,
Erroten sie: Pardon, ick Din sckon Braut!
Una: rCommen Sie dock gegen Abend wieder.
SONETT
Wie glucklicn smd die Tiere auf der Weide!
Ein Stier siekt erne ]unge blonde K.uk,
Sie sckwenkt kokett den Sckweir, er spnngt kinzu
Und sekg durck die Lie be werden beide.
Denn kein Bedenken stort ikr Rendezvous.
Der Mens en jedock in seinem Liekesleide
Durckrorsckt betrofren Hirn und Einge weide
Nacn dem Rezept zu dem Gefukls ragout.
Er zwangt sick muksam durck ein dicktes Netz
Beacktenswerter Gegenargumente,
Pkilosopkiert bis an den Rand des Betts
Und denkt im pkysiologiscken Momente
Nock an den Arzt und an das Strafgesetz
Und an die etwaigen Alimente.
151
S.: WIRTSCHAFTLICHES TAGEBUCH
GLEITEN WIR IN DIE WELTKRISE?
Deutscke und fremde Beokackter unserer Wirtsckaft kaken in den
letzten Monaten des ofteren erklart, wir seien kislang von der Weltkrise
versckont gekKeken. Das ist in gewisser Hinsickt ricktig. Es kedeutet
naturlick nickt, dal? unsere wirtsckaftlicke Lage so rosig ist, wie sie etwa
Herr Briand darzustellen keliekt. Es kedeutet nur, dai? wir unsere eigene,
kesondere Krise kaken, die ein wenig anders ist als die Weltkrise. Nickt
wemger scklimm — nur weniger eruptiv. Es sind nock Wellenkrecker
zwiscken uns und der Welt. Drautfen iikersturzen sick die Wogen.
Dnnnen ist der Tumpel verkaltnismaf?ig rukig. Aker leider fault er
ziemlick.
Die Wellenkrecker kennt nackgerade jeder : kunstKck (gemessen an
Weltmarktsatzen und Valuta) niedrig gekaltene Kosten des wicktigsten
Lek ens auf wands — Brot, ^Voknung — , im Zusammenkange damit relativ
kesckeidene Lokne, planma&g gedriickte Preise fiir etlicke inlandiscke
Rokstoffe, vor allem fur Kokle. Diese Wellenbrecker kalten nickt nur
die teurer produzierten, fremden Fertigwaren fern; sie sind gleickzeitig
auck Pumpapparate, die die in der Herstellung killigeren deutscken Er-
zeugmsse auf den Weltmarkt kefordern. (Aus dem auslandiscken Ge-
sicktswinkel ketracktet, keii?t das ^Dumping".) So wird in dem sta-
gnierenden Tumpel dock eine gewisse Bewegung sick e r gest ell t, die wenig-
stens volliges Verfaulen kindert.
Nun kestekt kein Zweifcl, da# die Wirksamkeit dieses ^Vellen-
kreckersckutzes stark kedrokt ist und itnmer starker kedrokt wird. Von
autfen wird sie kedrokt durck den Fall der Preise auf den Weltmarktcn,
durck erne naturkcke oder aksicktlick kerkeigefiikrte Steigerung unserer
Valuta und durck die Erricktung von Gegenwellenkreckern m Gestalt
von Antidumpmgmaimakmen. Zwar mindern sick die Preise der fremden
Rokstoffe, die wir zur Verarkeitung importieren mussen, fur uns kei
veranderter Valuta ekenso, kei steigernder sogar nock mekr als fur die
auslandiscke Produktion. Acer andere, wicktige Akstande werden zu
unsern Ungunsten klemer. Der Vorteil unserer niedrigen Koklenpreise
war vergleicksweise sekr kock, als die Tonne Kokle auf dem Weltmarkte
nock zwolfkundert Papiermark oder mekr kostete; er ist wesentkck ge-
ringer, wenn sie funf oder seckskundert Mark kostet. Seit die Franzosen
sick lkre teure engkscke und amerikamscke Kokle reicklick mit killigcr
deutscker miscken konnen, spuren wir lkren Wettkewerk ungleick starker
152
;als vorker. Es ist gar nickt ausgescklossen, daf? wir (weirn die rranzo-
siscken Lieferungsforderungen nickt ermatfigt werden), unsere killige
deutscke Kokle kald in zunekmendem und ketracktlickem Umrange mit
teurerer, fremder miscken -werden. ^Vir werden dann wieder kessere
Qualitaten kaken und nickt Betrieke wegen Koklenmangels Tage oder
Wocken stilkegen lassen mussen. Aker die Koklenkosten der mdu-
striellen Produktion -werden kaum medriger sein als die gewqknkcken
auslandiscken (und wakrsckeinKck merkKck koker als die franzosiscken) ;
dieser Teil des Wellenkreckersckutzes wird also so gut wie vollstandig
versckwunden sein.
In Amerika und auck in England kat man kegonnen, an Lokne
akzukauen. Der Arkeiter kutft den Standart der Lekenskaltung, den er
1m ICriege erreickt und nack dem Kriege nock eine Zeitlang kekauptet
katte, zum Teil wieder ein, Aker er fiigt sick in dies ukle Gesckick
etwas leickter, weil gleickzeitig die Senkung der Preise jeden Hauskalt
emigermaisen entlastet. Bei uns sprickt man dauernd von neuen Er-
kokungen der Lokne, niemals von lkrem Akkau. Nickt nur, weil wir
nock immer em wemg in nackzitternder Revolutionsfurckt lekea, sondern
vor all em, weil in der Tat das his zum auuerstcn angespannte Budget
des kleinen Mannes keine Erleickterung spurt, \Vas nutzt es lkm, dal?
Seidenblusen und Ledertascken in Inventurausverkauren ,,ver3ckleuderfc
werden und dal? vielleickt auck Rocke und Stiefel etwas killiger sind
(etwas killiger namkck als in der „Hockkonj*unktur"zeit des letzten
Sommers)? Woknung und Nakrung, Kokle und Gas werden nickt
killiger, eker kostspiekger. Und wenn Lebensmittel, deren Rokstoffe vom
Auslande kommen [wie Margarine) urn eine Kleinigkeit fallen, so wird
das reicklick aufgewogen durck andere Verteuerungen des taglicken
Lebens. In der Grotfstadt ist Ale Fakrt zur Arbeitsstatte eine taglicke
Ausgake, die fur sckmale Budgets betracbtlick ins Gewlckt fallt Sie
steigt von Monat zu Monat.
DrauKen also allgememe Senkung der Produktionskosten einsckliel?-
kck der Loknausgaben ; Dei uns nur Ruckgang gewisser Rokstoffpreise,
sonst kestenfalls Gleickbleiken, zum Teil Erkokung des Erzeugungsaufwands.
Das ^Vellenbreckersystem wankt. Wenn die Valuta einen kraftigen
Sprung mackt oder wenn die Gegenwellenkrecker energisck zu arkeiten
kegmnen, kann es leickt ganz zusammensturzen.
Und dann? Dann kei!?t es zunackst, die Zakne zusammenbeitfen,
und weiter, sick in neuer wirtschaftlicker Arbeitsteilung, okne Wellen-
brecker, emporzukampfen sucken. Dazu wird freilick auck ein biscken
153
vernunft und guter A^/ille der anderen geboren, Das Wort von der
internationalen lnteressensolidantat ist fa scbon abscbeulicb abgegriffen.
Aber diese Banalitat bleibt eben docb die unentbebrlicbe Grundlage
jedes positiven Krisenubei-windunge- nnd Aufbaviprogramms.
EIN DEUTSCHER „ VOTING TRUST'.
Die ,,Neue Dampferkompauie" in Stettin bat, wie die Handelspresse
teils bewundernd, teils entriistet mitteilt, ein neues Mittel des „Uber-
fremdungsscnut2es" erfunden. Das beiik, — erfunden bat sie es nicbt,
so wenig -wie die fruberen Uberfremdungskampfer die Mebrstimmenakte
erfunden naben. Erfmder waren jene famosen amerikaniscben Gescbafts'-
leute, die die Kunst, zebn oder aucb fiinfzig Millionen Kapital mit
emer oder einer balben zu ., k o nt r oilier en *\ scbon lange vor dem Kriege
bis zur- V ollendung ausgebildet batten.
Bei uns bat dies Zaubermittel nocb kemen Namen ; in Amerika
heibt es „votmg trust." Es bestebt darin, dai? man Aktien ausgibt, aber
Jas Stimmrecbt dieser Aktien mcbt dem Erwerber, sondern (fur eine
langere, 1m voraus bestimmte Dauer) einem Treubanderkonsortium {iber—
tragt. Dieses Treubanderkonsdrtnim ist naturlicn mcbt sebr weit von der
die Aktien ges ell scb aft zur Zeit der Transakhon beberrscbenden Ver—
waltungsgruppe zu sucben. AVenn man mebrstimmige Vorzugsaktien
emittiert, muj? man lmmerbm etwas (wenn aucb vergleicbsweise sebr
wemg) Geld anlegen und etwas Risiko in Kauf nebmen. Der voting
trust ist praktiscber. Die anderen geben das Geld ber und ubernebmen
das Risiko; das Stirom- und Herrscbaftsrecbt aber, das an die Kapital-
mvestition dieser andern geknupft ist, bekommt, ganz umsonst, die regie—
rende Gruppe. Nicbt gerade ^demokratiecn \ aber obne Zweifel sebr
smart ...
man braucbt sicn im Aktienwesen gewij? mcbt an die leere Fiktion
aer Demokratie zu klammern. Inues mui?ten wir dock anfangen, uns zu
uberlegen, wie wir uns zu der rascb fortscbreitenden Yankeeisierung
dieses Wirtscbafts- und Recbtsgebiets zu stellen gedenken.
CARL LUDWIG SCHLEICH SCHOLLENBESTANDIG
Zwei Allergrofte : Bacb und Kant
Verlie^en niemals ibr Vaterland.
/Wie denn der, der immer auf der Reis\
Bald nicbts mebr von sicb selber weif?!
154
AUS DEM TAGE-BUCH
reichsprAsident
hauptmann
In der„Zukuntterzahlt Harden:
„Gerhart Hauptmann scheint nun,
nach kurzem Zaudern, bereit, von
semen Freunden sich den ^A^erbern
ums Reich sprasidium anreihen zu
lassen, Er wird sicn huten.
Nirgendwo ist Hauptmann als
Kandidat und Eberts Nachfolger
aurgestellt oder angereiht worden.
Richtig ist, daw Thomas Wehrlm
in Heft Nr. 1 des T.-B. die Frage
aufgeworien hat, ob es der jungen
Repubhk mcht nutzhcher ware, an
lhre hochste Spitze kemen Partei—
mann zu stellen, sondern emen
geistigen Deutschen, den seme Unab-
hangigkeit mit hoherer geis tiger und
moralischer Autoritat ausstaltet.
lA'ehrhn ermnerte da ran, dai? die
einzige innerlich gefestigte der jungen
Repubhken, sicn Thomas Masaryk,
den hesten Kopf der Tschechen,
zum Oherhaupt auserwahlt hat und
dab auch die Repuhhk der gewitz-
teren Deutschosterreicher m Michael
Haimsch eine Figur erwahlt hat,
die das Parteimaii um Kopreshohe
uberragt. \Vie viele Leute kommen
in Deutschlsnd fur diese Wurde
in Betracht? Der Deutsche ist
noch immer ein apohtisches Tier
und seine iuhrenden Kopre huten
sich, ins politische Gedrange zu
kommen. Wo leht der Eine, der
als representative man in Betracht
kame ? Ist doch sogar der abge-
nutzte Furst Bulow aus dem Panop—
tikum der wilhelmmischen Epoche
hervorgezerrt -worden, der Errinder
des Blocks, der Deutschland gegen
Zentrum und Sozialdemokratie
regieren wollte, der typische Mann
des Treppenwitzes, der immer, wenn
ein Anderer handelte oder schwieg,
nachtraglich das Bessere gewul?t
oder geheimgehalten hat. DieRuhrig—
keit dies unermudlichen Fursten, der
hei judischen Cherredakteuren so
willig zu Mittag speist wie hei
judenverachtenden Hakenkreuzlern,
der um Scheidemann so mmg wie
um AVestarp warb, ist reizend,
aher die Figur, die der Repuhhk
zu starkerem inneren Zusammen—
hang verhulre, ist der allzeit Ge-
schaitige nicht. Thomas Wehrhn
hat hier, ganz aus eigener Uber—
legung und mit emem deutlichen
Fragezeichen, den Em rail hmge-
worien, oh nicht Gerhart Haupt-
mann, dieser eimgende und repra-
sentierende Kopi des neuen Deutsch-
land ware. Die Frage ergab sich
in den Tagen der Aurerstehung
des „Florian Geyer von selbst,
denn das Deutschland von 1921
ist noch immer dasselhe zernssene
Reich wie das der Bauernknege
und der starkste Dolchstoi? muis
heute, wie in. Flo nan Geyers Tagen,
der deutschen Zwietracht mitten
ins Herz gefiihrt werden.
Aher rreihch, Gerhart Haupt-
mann wird sich huten, , auf den
deutschen Markt zu treten, um dort
bedreckt und hespieen zu werden.
Zur Repuhlik gehort auch eine emiger-
mal/en testgelegte Distanz zum Prasi-
denten. Nie ware in den V ereimgten
Dtaaten, me in Frankreich, me in
der jungen tschechischen Repuhlik
moglich gewesen, das Staatsoherhaupt
m Badehosen durch die Zeitungen
zu schleppen. Nie batten dort Ge~
nchte die Verhreiter alhernster
Lugengeschichten iiber den ehemahgen
Sat tier gehilten und seiner Frau mit
155
so autferordentkcker Milde gefukrt
wie dies vor unversekrt wilkelmi-
niscken Ricktern gesckeken ist. Nie
natten Repuklikaner , die an der
freien Staatsform Gefallen finden,
jeden Pfennig nackgerecknet, jede
AVeinflascke ukerpruft, die das
Okerkaupt verkraucken muute. Immer
wieder kann die tscneckiscke Repu-
klik uns darin V orkild sein. In
Prag kat man, urn den uk els ten
und giitigen Klatecn monarckistiscker
Pampkletisten zu ershcken, ein Ge—
setz kescklossen, das denErwakltendes
V olkes vor der argsten Besckmutzung
sckutzt. Herr Ekert aker ist, wenn
er die sckmaklicksten Legenden von
seinem Namen fernkalten will, aur
die unsickere Einsickt einer knirsck-
enden und gelegentlick koskaften,
kaisertreuen Ricktersckaft ange-
wiesen.
Der Prasident der deutscken
Repuklik ist vogelfrei. JxeinWunder,
wenn es ira weiten Reick keine
rCandidaten fur die kockste Stelle
gikt. Akgekartet smd nur die routi-
nierten Poktiker, die lm Wirts—
nausstreit akgestumpften Praktiker.
Kein Gelekrter, kein Wirtsckaft~
leiter, kein Kunstler wird gewillt
sein, zu erdulden, dab jeder ver~
drossener Pkilister sick an lkm die
Sckuke putzt. Gesckweige denn
Gerkart Hauptmann, dem die Natur
eine kesonders emp find lie he Haut
gegeken kat . . Herr Harden kann
kerakigt scklaien. Es gikt keinen
Rivalen rur Fritz Ekert.
Das Vaterland kann einen jeden
von una entkekren, aker keiner von
uns das Vaterland,
Turgenjew.
DER STREIK DER
KRITIKER
In aller Stille ist der Streik
der Berliner Kntiker gegen die
Hollanderkuknen keendet worden.
Man erinnert sick: Hollander sollte
eine Genugtuung fur den Aufsatz
von Rudolt Borckardt geken, der
im letzten T.-*B. nackgedruckt war,
Von dieser Genugtuung kat man
in den Zeitungen nickts gelesen.
Auck kein kleines ^Vortcken uker
das Ergeknis der Verkandlungen
zwiscken Tkeaterleitung, Verlegern
und Kritikern. Auck nickt eine
Silke daruker, wo diese Verkand-
lungen und uker wessen Initiative
sie gefukrt wurden. Ein sogenannter
Sieg ware mit kellen Trompeten
verkundet, eine zitternd vorge-
krackte Entsckuldigung Hollanders
mit Genugtuung veroffentkcht
worden. Es ist also anzunekmen,
daf? der Feldzug gegen den
Tkeaterdirektor, der sick durck
einen Majestatskeleidigungsprozei?
der Kritiker nickt emsckucktern
lie!?, mit einer vollkommenen, kier
vorausgesagten Niederlage der K.ri~
tiker geendet kat. Haken sie das
notig gekakt?
Der Vorfall verdient immerkm
ein Nackwort. Es darf gefragt
werden, wozu diese ICritikeran-
sammlung ukerkaupt gut ist? Als
im Krieg ein Mitglied den ke-
sckeidenen Antrag stellte, es moge
das Nacktreferat wenigstens nack
solcken Erstauffiikrungen, die uker
kalk elf Ukr nackts dauern, auf
den nacksten Tag versckoken werden,
da gelang es nickt einmal, diese
primitivste Forderung im Fack-
verein durckzusetzen. Das Beduri-
nis, dem Verleger zu keweisen,
wie eifrig, wie kurtig und wie
156
talentvoll man am AVerk sei, siegte
uker das selkstverstandKckste Ver-
langen des uterlegenden Sckrift-
stellers. In Wakrkeit dienen diese
Ansammlunden tier Kritiker zu
gar mckts als zu Zettelungen unci
Versckworungen, zu mekr oder
minder offenen Feldziigen und
sckKei?lick zur allmakkcken Sckaffung
eines zu mlick gemeinsamen NormaL-
urteils. Gerade der Kritiker soil
in splendide isolation wirken. Sckon
das Foyergesprack sollte als un-
sckickkck empfunden werden, well
es dazu verleitet, gemeinsame Parolen
auszugeken. Ein Augenzwinkern,
ein kmgeworfenes Wort, gesckweige
denn das Pausengesckmuse dient
sckon zur Starkung der innerlick
Unsickeren. Die Gefestigten konnen
und wollen allein sein.
Deskalk sollten die kesten Kopfe
dee Kntikervereins aus der ke-
sckamenden Blamage die Koneequenz
zieken, den uberflussigsten Verein
der Welt aufzulosen. Eine
Dankadresse an FeKx Hollander
sei dann die letzte Tat der von
der Organisation kefreiten Kritiker.
DER PHANTASTISCHE
FILM
Dieser Tage ist ein pkanta-
stiscker Film, den Rudolf Leon-
kardt gesckrieken, Karl Heinz
Martin inszeniert kat „Das Haus
zumMond" in Berlin zum ersten
T^lal vorgefukrt worden. An dem
Akend, da ick ikn sak, rekellierte
das Puklikum. Einer der Vortetle
des Films kestekt darm, dal? der
Hausscklussel die Leinwand nickt
irritieren kann. Aker der Larm
der Zusckauer war an diesem Akend
dock so gro#, daf? der Besitzer des
Licktspielkauses eine Tafel zur Be-
sanftigung und Warnung der ein-
tretenden Besucker auskangen lie£
Ist es das Neue, das Pkantastiscke,
das die Burger ersckreckt kat ?
Ware man nickt verpflicktet, den
Versuck, den Film onginell zu ge~
stalten, mit alien Kraf ten zu stutzen ?
Gewi£ und deskalk sei kier Rudolf
Neppack, dem es wirklick geKngt,
pkantastiscke Bauten, kuriose Innen-
raume okne Anstrengung zu erfinden,
mit Dank genannt. Ick wutfte im
Augenklick keinen deutscken Maler,
der unzweif elkafter seine Befakigung
zum pkantastiscken Film nack-
gewiesen katte. Aker damit sind
die Vorzuge dieses Films beinake
ersckopft. Die Fakel von Rudolf
Leonkardt ist traurig, durftig, ganz
kumor- und leider auck ziemkck
pkantasielos. Immer wieder die alten
Motive : Eine Mondsucktige, ein in
den Sternen lekender Astronom, ein
diirrer Aktuarius, ein tienscker
Damon fur Herrn Kortner. Die
einzige Figur, die em kiscken Leken-
digkeit in den Film kringt, ist ein
Sckauspieler, der sick fortwakrend.
maskiert und seine Mast en wieder
vom Gesickt reii?t. An einen Autor
von naturKcker, frei fliel?ender Pkan-
tasiekraft darf man nickt denken.
Die Figuren, im Film nock immer
wicktiger als die Bilder der Urn-
■welt, zeicknen sick durck aul/er-
ordentlicke Haarwiickse aus. Herr
Kortner markiert Damonie durck
steile, unterkrockene Mepkistoaugen-
krauen und durck sonstige Haarig-
\ieiU die aker dock nur auf einen
kleinen Teil der Zusckauerinnen
wirkt. Auck alle anderen Personen
treiken einen auf?erordentlicken Auf-
wand an langkaarigen Periicken,
Aker mit diesen alten Requisiten
157
ist der neue pkantastiscke Film
nickt zu sckaffen.
Der Radau, den die Vorfunrung
neuartiger pkantastiscker Filme ker~
vorruxt, ware nickt tragisck zu
nekmen, wenn wenigstens gleicn*-
zeitig eine Minontat uLerzeugt und
gewonnen wurde. Aker dem AkVider*-
fitand" der an den platten Natu~
raKsmus gewoknten Majoritat stand
erne kleme Gruppe interessierter
und kitter gelangweilter Freunde
gegenuker. Solcke Experimente
sckreeken at. Der pkantastiscke
Film wird kommen, aker er krauckt
Filmdickter und Verfasser mit
Pkantasie.
ANEKDOTEN.
Jemand traf Carl Sternheim allein in
den Isarauen spazieren. „^Jas machen Sie
da, Herr Sternheim ?" — „Ich unterhalte
mich mit mir selbst." — „Dann eeien Sic
auf der Hut, Herr Sternheim, Sie unter-
halten sich mit einem grofien Schmeichler.'"'
Hermann Bahr wollte vor Jahren eine
Reise nach Rutland machen, hatte aber
nicnt genug Geld. „Ich schreib halt ersl
die russische Reise und fahr fur das
Honorar hin, nachschaun, ob'a stimmt.^
Damit ist H. Bahr auch, wie alles sonstigen
Modernen, der Stammvater des Expressio-
nismus geworden.
*
Vom Nebenzimmer aus vernaKm man
Gerausch eines lebhaft gefuhrten Gespraches,
das Carl Sternheim und ein sachsischer
Diplomat miteinander fiihrten. Und zwar
iiber Marx, Erst nach eineinhalb Stunden
kamen die beiden Herren darauf, daf?
Sternheim den Marx, der Diplomat den
Max von Baden gemeint batte.
Max Halbe wurden in einem Berliner
Hotel die Stiefel gestohlen. Er depeachiert
seiner Frau : ,, Stiefel geatohlen, kann nicht
reisen." Antwort von Frau Halbe: ,,Un-
begreiflich. Nimm sofort besten Anwalt."
*
Am deutschen Theater in Berlin sollte
der Britannicus gespielt werden, und Frau
Durieux wollte den „Nero*' spielen. „In
dem Falle," sagte Moissi, „reserviere mir
die Rolle der ,Klytemnestra\ Tilla."
Redaktion des „Tag«-Buch" : Berlin W 35, Potsdamer Stratfe 123 b, Tel.: Lutzow 4931
Verantwortlich fur den redaktionellen Teil : Stefan Grofimann, Charlottenburg. Verlag
Ernst Rowohlt Verlag, BerlinW 35. Potsdamer Strafe 123 b. Druck: R. Abendroth, Riesa
DER KLEINE GRADE-WAGEN
ORIGINELLSTE LOSUNG DES KLEINWAGEN-
PROBLEMS / DER WOHLFEILE WAGEN DES
MITTELSTANDES / ZWEISITZER
HANS-GRADE-WERK
BERLIN W 35, POTSDAMERSTRASSE 113
PAVILLON 5
158
DERANBRCICH
4. KAMMERMCISIKABEND
Sonnabend / den 5. Februar 1921 / ? l /. 2 ^^r abends
111 der Singakademie
*
PROGRAMM:
ERNST KRENEK . . . Serenade fur Violine,
Bratfche, Klarinette u. Cello
QRETE ZIERITZ . . .' Lieder
FRITZ LISSACIER . . ; . Septett fur Flote,
Klartnette u. Streiehquartett, op. 88
(SAM1LICH URAUFFUHRUNGEN)
AUFFVHRENDE: '
GRETE ZIERITZ / BORIS KROYT / ERNA SCHULZ / HEIN- .
RICH DROBATSCHEVSKY / EWEL. STEGMANN / ALFRED
LICHTENSTEIN / ALFRFD RICHTER / MAX SCHALLWEIN
4. ORDENTLICHES
ORCHESTERKONZERT
Freitag / den 11. Februar 1921 / f l \ % Qhr abends
in der Philharmonic mit detn
Philharmonischen Orchester
DIRIGENT:
DR. HEINZ QNQER
PROGRAMM:
QUSTAV MAHLER
VII. SI'NFO NI E
K^rten bei BOTE & BOCK unci A. WERTHEIM
Em Such, auf das Tausende warten !
Soeben erscbemt:
Die \Virkungen von
Versailles neute una morgen
*Wo stehen wir? — VC^ie helfen wir uns?
Mat erialieninVortragen/EinHandbucbiur Poll tike r,
\Virt scnaitspolitiker, Vortragsredner una Laien
Herausgegeben fur die ,* Gesellscbaft vom 16. November 1918" von
^Wirkl. Legationsrat Oskar Trautmann und Dipl.-Ing. zAir Neddcn
Inlinlf • ^ er ^etrug von Versailles / Die Verstummelung
nilclJX • Deutscblands /Wirtacbaftlicbe Entrecbtung und wirt-
scbaftlicbe Verelendung Deutscblands durcb den Vertrag von Ver-
sailles / Die finanzielle Belastung Deutscblands durcb den Friedens-
vertrag / Die Entrecbtung der Deutscben im Ausland / Zeittafel
Die Wirkungen des Friedens sind, trotz aller Lasten, die unser Volk
acbon jetzt iu tragen bat, den meisten Deutscben nocb inimer nicbt
in v oil em Urofange klar geworden. Darura ist es eine der wicbtigsten Auf-
gaben des Tages, alien Betroffenen, d. b. alien Deutscben, die Folgen des
Versailler Friedens bekanntzuxnacben und ibnen vor Augen zu fiibren, was
die nacbste Zukunft Deutscbland und jedem einzelnen Deutscben bringen mu8.
Auf den Ernst der Stunde binzuweisen, ist namentlicb die Aufgabe der
Parteien und der Berufsverbande. Jeder im politiscben oder wirtscbaftlicben
. Leben Stebende mu£ aicb selbst genau dariiber unterricbten ; er muff zugleicb
fiir Aufklarung, fiir weitestverbreitete Kenntnis dessen sorgen; was der
Fricdensvertrag fiir uns im ganxen Gewicht seiner Furcbtbarkeit bedeutet.
Es gibt kein anderes Mittel, seine Wirkungen abxuwebren und eu milder n.
Allen Kreisen der Bevolkerung mussen diese Kenntnisse vermittelt werden.
Um aucb denjenigen, denen mangelnde Kenntnis der Materie voiles Ein-
dringen in das Paragrapbendickicbt des Fried ensvertr ages verwebrt, eine solcbe
Emwirkung auf die ibnen nabestebenden Kreise zu ermoglicben, ist das vor-
liegende Bucb verf atft worden. Es ist so abgef atft, datf es, zugleicb mit einer t)ber-
eicbt iiber die wicbtigsten Fragen, das Material fiir ftinf verscbiedene
Vortrage entbalt, die vor jedem Horerkreise gebalten werden konnen. Als
erstes Bucb seinef Art entspricbt es einem allseitig exnpfundenen Bedurfnis.
Kaufer sind vor allem die Fubrer und Berater grotferer Volks-
gemeinscbaften : die Abgeordneten , Partei - und Fraktionsfiibrer , Ge-
wcrkscbaftssekretare, Verbands- und Vereinsvorsitzenden , Volksredner
usw., ist jeder politiscb Interessierte, letzten Endes uberbaupt jeder Deutscbe.
Ein Buch wie dieses fehlte bisber in der gesamten
Literatur iiber den Frieden von Versailles
Lad
enpreis:
8 Mark / Kein Teuerungszuscblag!
Deutscbe Verlagsgesellscbaft fiir Politik und Gescbicbte
m. b. H. / Berlin W 8 / Unter den Linden 17-18
Das Tage-Bucb / Heft 6 Jabr g. 2 / BerKn, 12. Februar 1921
thomas wehrlin WEDER jtJDISCHES, NOCH
FARBIGES WEIB
Das Bier fiiefft wieder. Die Burschenschafter tagen. Das
Bier ist wieder alkoholhaltig. Die Burschenschafter fassen Be-
echluC. Auf ihrer letzten, aus alien deutschen Gauen beschickten
Tagung haben sie den Beschlul? gefafft, nur volkisch-lobliche Ge-
scblechtsverbindungen einzugelen. Wortlich: ,.Keine Heirat mit
einem judischen oder farbigen Weibe"
II
Der Entschlui? ist zu billigen.
Aus prinzipiellen Grunden. Endlicb ringt sich das Prinzip
durch, da I? Ehe- und Liebesgemeinschaften nacb festen politischen
Grundsatzen geregelt werden: Ebedem spielte das Moment des
personlichen Gefallens, der individuellen Neigung, des erotiscben
Instinkts eine grotfe, ja entscbeidende Rolle. Das kann furderhin
nicbt langcr statthaft sein. Fiir die geschlechtliche Auswahl. mul?
von nun ab ausschlietflich der volkische Standpunkt entscheidend
sein. Ausgeschaltet in dieser wicbtigen Frage sei die jiidische
Lust-Betonung, an ihre Stelle trete deutscbes Pflichtgefjihl. Zu
tief bat sicb jiidische Denk- und Fiiblart schon in deutscbes
Wesen eingefressen, orientalische Sinnenlust war vielfach, selbst
auf dem Lande ins deutscbe Empfindungsleben gedrungen und
mancbe Verbindung zwiscben Mann und Frau ist die Folge sinn-
licber Leidenscbaft gewesen. Dieser Orient alisierung des deut-
schen Sinnenlebens scbiebt der Beschlul? der deutschen Burschen-
scbafter einen Riegel vor. Das politische Interesse mul? fiir das
erotiscbe Woblgefiihl mai?gebend sein! Die deutscbe Ebe muff
ausschliefflich auf fester Gesinnungsgrundlage beruben. Es trifft
sich gut, daff der Beschlul? der Burschenschafter ungefahr in die-
selbe Zeit fiel, in der alle illustrierten Zeitungen das Bild des
neu vermahlten Staatsminister a. D. Helfferich und seiner wiir-
digen Gemahlin veroffentlichten. Ein Blick auf das ernste Paar
geniigt, um festzustellen, daff bier nur sittliche und politische
Uebereinstimmung zu einem Lebensbunde gefiihrt haben mul?.
161
Selbst der fauniscbe Orientale muf? vor diesem gedankendurcb-
furchten Paar jede Abnung niedriger Sinnenlust entschieden zu-
riickweisen. Das traute Bildnis dieses zwar nicbt mebr jugend-
licben, aber in jeder Kleiderfalte von nationaler Wiirde erfullten
Paares mag den deutschen Burscbenscbaftern bei ibrer Tagung
vorgescbwebt baben. Nicbt die Lockungen der Sinnenlust, nicbt
der gleitfende Glanz entblof?ter Leiber, nicbt der Taumel ge~
scblecbtlicber Verziicktbeit soil den Burscbenscbafter beim Ab-
scbluf? eines Lebensbundes leiten, sondern allein das Gefiibl tief-
innigerer Uebereinstimmung in den volkiscben Grundtragen, die
Uebereinstimmung der politiscben Auffassungen, das Gefiihl der
Ebenbttrtigkeit und Gleicbwertigkeit in der politiscben Disku33ion
in
Vielfacb ist die Meinung aufgetaucbt, der Bescblul? der
Burscbenscbaften, der nur die Heirat mit einem farbigen
oder jiidiscben Weibe verbiete, braucbte nocb eine Erweitemng
in dem Sinne, daf? nicbt nur die Ebe, sondern jede Verbindung
mit einem fremdstammigen Weibe untersagt wird. Fiir einen
Augenblick sei bier die Beziebung zur Jiidin ausgescbaltet und
einem besorsderen Abscbnitt vorbebalten. Hatte in dem erwabn-
ten, bocbanzuerkennenden Bescblul nicbt wenigstens jede Ver-
bindung mit einem farbigen Weibe verboten werden konnen?
Darauf erwidern Kenner der Burscbenscbafterpsycbe, dal? dieser
Wortlaut des Bescblusses mit vollem Bedacbt gewablt worden
sel Vor allem bat die Praxis wiederbolt ergeben, daf? der
deutscbe Burscbenscbafter zwar meistens die Verantwortung da-
fiir ubernebmen konne, mit wem er vor den Traualtar trete,
keineswegs aber in alien Fallen dafiir, mit wem er den Beiscblaf
Ube, denn oft genug vollziebt sicb dieses Ereignis in einem Zu-
stande, in welcbem aucb der Burscbenscbafter, und gerade er, die
voile recbtlicbe und sittlicbe Verantwortung fiir sein Tun nicbt
zu ubernebmen im Stande ist. Es mul? aucb festgebalten werden,
dai? der scbwarzen Scbmacb, unter der im besetzten Gebiet
deutscbe Frauen zu leiden baben, praktiscb am besten durcb die
weitfe Scbmacb begegnet wird, d. b. durcb die Klassifizierung des
farbigen Weibes auf der untersten Stufe des Menscbentums. Im
Interesse der nationalen Wiirde kann gelegentlicb dieses Aufs~
kniezwingen des farbigen Weibes gelegen sein. Andererseits bat
162
diese vblkische Demonstration auch ihre Schattenseite, weil die
afrikanische Syphilis besonders verheerende Formen annimmt.
Der deutsche Student, von dem leider anzunehmen ist, dai? jeder
dritte an Geschlechtskrankheiten leidet, sollte sich mit den heimi-
schen Krankheitsformen begniigen. Aus diesem rassehygienischen
Grund hatte man gewiinscht, dai? der Beschlui? der' Burschen-
schaften sicb nicbt nur auf die Heirat, sondern auf jede Bezieh-
ung zu einem farbigen Weibe beziehe.
IV
Untersagt der Beschlui? der Burschenschaften aucb jede Be-
ziehung zu einem judischen Weibe ? Blof? die Heirat. Leider
mui? festgestellt werden, dai? das jiidische Madchen, infolge der
Erziebung ibrer Sippe, in auJ?erordentlicb starkem Grade am Ehe~
prinzip festhalt. Mag sein, dai? die kaufmannischen Traditionen
in judischen Kreisen zu dieser Ueberwertung der gesellschaf tlicben
Zeremonie gefiihrt baben. Es bedeutet daber der Beschluf?, keine
Heirat mit einem judischen Weibe einzugehen, in der Wirklich-
keit vielfacb die Unmoglicbkeit von Beziebungen zu judischen
Weibern. Unzweifelbaft werden mancbe Volksgenossen diesen
Abbruch nicht als wiinschenswert empfinden. Bei aller politi-
scben Abgeneigtbeit der Judcn ist, wie wahrheitentsprechend fest-
gestellt werden mul?, die Anziehungskraft des jungen jiidiscben
Weibes — und zwar auf rassereine Deutsche — keine geringe.
Es kann aucb nicbt geleugnet werden, dai? gerade diese instink-
tive Spannung; man mocbte sagen, diese Neugier der fernstehen-
den Rassen auf einander, ihre psychologischen Reize hat. Nur
so ist es ja erklarlich, dai? oftmals eingefleischte Antisemiten im
nicbtoffentlichen Leben sich zu rassereinen Jiidinnen besonders
hingezogen fuhlen, wie ja aucb umgekehrt blondeste W^eiber zu
semitiscben *Typen hingedrangt sind. Es hat sich aber gezeigt
dal? diese Verbindungen vielfacb zu Erscbiitterungen volkiscber
Zuverlassigkeit fiihren. Die jiidische Frau betont geistige Interesse
mit grof?erem Nachdrucke und der Umgang, im Besonderen die
Werbezeit deutscber Manner bei judischen Weibern, fiihrt oft-
mals zu den schmerzlichsten Weltanschauungskonflikten bisher
fest gesinnter Arier, Unter dem Einflusse intellektueller Jiidinnen
tritt das geistige Element in bisher deutschbewutften Mannera
starker als wiinschenswert Lervor, eine Sensibilit'at, die dem natio-
163
nalen Manne nicht austeht, wird ihm eigen und feminine Ziige
verandern Ziige und Gefiihl des ehedem durchaus mann lichen
Typus. Ueberschatzung des Geistigen, Neigung zu Literatur und
Psychologic, Gefuhleweichheit, im Besonderen im Umgang mit
Kindern, sind die Folgen dieser weiblich-judischen Beeinflussung.
Dieser Entwicklung zu einem, alien preui?ischen Traditionen
widersprechenden Europaertum wird durch den Beschlul? der
Burschenschaften ein Riegel vcrgeschoben, Der Deutsche bleibt
Krieger. Das Verbot der Beziebung zu einem jiidischen Weibe
verhindert die Entart'ung des Deuschen zu einem geistigen Typus.
Bleibt nur die Frage often, wie das jiidiscne Weib sich zu
dem Beschlul? der Burschenschaften stellt ? Es ist denkbar, dal?
es sich dem erhobenen Prinzip anscblietft und jede entfernteste
Beziehung zu einem Burchenschafter unbedingt zuriickweist. Es
ist aber auch denkbar, da£ der Beschlul? erst recht die gefahrlichen
Herrschaftsgeluste der *jungen Jiidin anreizt, mit den Mitteln
einer vergeistigten Erotik konnte sie dann dem jungen Deutschen
doppelt gefahrlich werden. Die dritte Wahrscheinlichkeit be~
steht darin, daf? die junge Jiidin von alien Beschliissen des Bur-
echaftortages nichts weiJ? und ihre blitzenden schwarzen Augen
auch fernerhin spielen laf?t . . . Die Natur ist imstande, sich urn
die Beschlusse der Burschenschaften nicbt im geringsten zu
kummern.
DER SIEGER
Ein junger Mann, der einen von Frauen umworbenen Fibnregisseur
Leobacbtete, sagte: „Vor meinem Tode mocbte ich einmal acbt Tage
Fdmregisseur sein".
Der Umworbene : „Acn, len mocbte urn meiner eelbst willen ge-
hebt werden".
Der junge Mann ; „Ist man Fdmregisseur, so wird man sogar um
seiner eelbst willen geliebt".
164
# * . EIN MISSGLtfCKTES AUSNAHMEGESETZ
AUS DER SAMMELMAPPEEINESHOHEREN
BEAMTEN DER ^VILHELMINISCHEN ZEIT.
Durch die Freundlicbkeit eines gelegentlicben Mitarbeiters bin ich in der
Lage, im Folgenden eine aui genauester Kenntnia berubende Daratellung einea
Vorganga zu geben, der fur das alte Preutfen iiberaus cbarakteristiscb ist.
Der Verfasaer bat sicb jabrelang alle ibm unterlaufenden Materialien in
einer biibscben Mappe von Scbaustiicken der wilbelminiscben Zeit aua amt-
lichen Quellen gesammelt und einen ibrer biibacbeaten Scbatze uns freundlicbat
2ur Veroffentlicbung zur Verfiigung gestellt. Die Sacbe kommt zum 20.
Februar gerade recbt.
Am 28. Dezember 1905 ricktete der damalige preutfiscke Kriegs-
minister v. RotWaler gen. v. Einem an das preufiiscke Staatsministerium
■einen Antrag, in dem es kief?:
„Die Verbandlungen und Bescbluaae dea sozialdemokratiscben Parteitags zu
Jena . . . macben es mir zur unabweisbaren Pflicbt, erneute Beratungen fiber
die zur Abwebr der revolutionaren Bestrebungen erforderlichen Maffnabmen
anzuregen . . . Auf dem Jenaer Parteitage ... iat eine auagedebnte „Aut-
klarung uber das BeScbwerderecht ,,, bescblosaen worden. Die . . . Beratungen
lasflcn klar erkennen, da£ es sicb . . . lediglicb urn eine planmafige Verbetzung
der Militarpflicbtigen mit dem Endzweck der Erregung des Abscbeus vor dem
Militarismus bandelt . . . Icb aebe angeaicbts der dauernd steigenden Zabl der
aozialiatiscb verseucbten Elemente unter Rekruten aowobl wie im Beurlaubten-
stand in der antimilitariscben Agitation eine derartige Bedrobung und Gefabrdung
der dem Heere . . . obliegenden Auf gab e, daff . . . unter alien Umatanden
energiscb dagegen angekampft werden muff/''
Wetter wurden vom Kriegsmuuster Beratungen im Staatsministerium
uoer neue Malmakmen angeregt, ebenso uber die Frage, ob
„auf dem Gebiet der Fortbildungaacbulen sowie der national geainnten
Jugend-Vereine pp. nicbt in auagedebnterem Matfe -wie (!) bisber auf vaterlands-
liebende, konigstreue Geainnung der ktinftigen Soldaten bingewirkt werden konnte. 11
Besckleunigte Bekandlung der Sacke wurae erbeten. Herr v. Einem
katte es eilig. Darauf ergmg erne Anzakl sckriftKcker Voten preuffiscker
Minister. So sckrieb z. B. der J us tiz minister Beseler am 3. Januar 1906:
,,Von einem Veraucb, die geaetzlicben Machtmittel dea Staatea durck Ver-
scbarfung von Strafvoracbriften zu starken, kann icb mir aber einen Erfolg
nicbt versprecben."
Ein feklscklagender derartiger Versuck wurde nur der sozialdemokratiscken
Agitation Stoff zufakrert; dagegen versprecke er sick Erfolg von ver-
sckarfter Anwendung der kestekenden Straf gesetze. Daruber
seien jedock komimss arts eke Verkandlungen der Ministerien vor der
Beratung im Staatsministerium norwendig.
Am 10. Januar 1906 erklarte Kriegs minister v. Einem sein Emver-
standms nut den kommissariscken V erkandlungen, desgleicken der damalige
Minister der offentlicken Arbetten v. Budde, der Minister fur Handel
165
una Gewerke Delbruck, der Staatsmmister Dr. Graf v. Posadowski, der
Minister fur Landwirtsckaft, Domanen una Forsten v. Podbielski, der
Staatsmimster v. Tirpitz, der Minister der geietkcken, Unternckts- und
Medizmalangelegenkeiten Studt usw.
Am 8. Januar wurde lm Staatsministerium daruber verkandeit.
Ministerprasident Dr. Furst v. Bulow referierte iiker den Stand der
Sacke und stellte sick auf den Standpunkt Beselers. Staatsmmister Graf
v. Posadowsky wunsckte erne wirksame Bekampfung dieser Mitfstande
lm Wege der Revision des allgememen Strafreckts kerbeizufukren. Die
Vorsckriften des Reicks-Straf-Gesetzbuckes reickten mckt aus. Auf
denselben Standpunkt stellte sick der Minister des Innern Dr. v. Betkmann*-
Hollweg und der Staatssekretar des . Reicksjustizamts Niekerding. Vor-
bereitungen fur die Revision des Reicks-Straf-Gesetzkuckes seien in
semem Ressort bereits seit 4 Jakren im Gange. Man durfe davon
.aber nlckts laut werden lassen,
,,weil , . . der Verdacbt entsteben werde, daf? die neuen Vorscbriften eine Ver-
scbarfung der Strafbestimmungen wegen politiscber Vergehen bringen wiirden
Es sei erwunscbt, etille Arbeit zu macben und die orfentlicbe Meinung
nicht vorzeitig zu erregen."'
Erne Spezlalgesetzgekung gegen die sozialdemokratiscken Bestrebungeu
kalte er fur vollig aussicktslos, der Abscklui? der Vorarbeiten fur die
Revision des Strafgesetzbuckes wurde nock mekrere Jakre auf sick
warten lassen. Das Ministerium bescklo# darauf die angeregten
kommissariscken V erkandlungen.
Interessant 1st auck das Votum des Staatssekretars des Reicks—
]ustizamts Niekerding vom 20. Januar 1906; darin keil?t es:
,, Vorscbriften der fraglicben Art wiirden sicb in das System des Straf-Gesetz-
bucbes nur scWcr eingliedern lasse, da sie sicb mit einer Materie befassen, die
in dem Straf-Gesetzbucb bisher nicbt geregelt ist. Sie liegen aui dem Gebiet
des Arbeiterrecbts . . . Es scbeint mir. vom jurietiscben Standpunkt nicbt ratsam
zu ' sein, Bestimmungen, die vornebmlich solcbe Verbaltnisse zu beriicksicbtigen
baben, in den Rabmen des. Straf-Gesetzbucbes einzuzwangen . . . Fur den
Reicbstag wurde leicbt dag Verlangen sicb ergeben, nunmebr gerade die . . .
^^iinscbe zur Strafbarkeit des Zweikampfes und des Diebstabies in die
Revision (des Strafgesetzbucbes) „einzubezieben'\
Gegen dies en Versuck, den Gegenstand in der Form einer neuen
besonderen Umsturzvorlage zu regeln, wandte sick ein V otum des
Dtaatsministers Grafen v. Pos adowsky-Wekner vom 12. Fekruar. Er
erinnerte an das Sckicksal der ersten Umsturzvorlage und wunsckte eine
,, Aktion, welcbe den Generalstreikals Aufrubr bebandeln mut?
und deabalb uber das Gebiet des Arbeiterrecbts weit binausgreift. Dem Anlaff
und dem Zweck der etwa zu erlassenden Strafvorscbrirten diirfte es daber nur
entsprecben, sie in der Form einer Erganzung des Straf-Gesetzbucbes zu erlassen.* k
166
Dieser Auffassung sckloi? sick am 28. Fekruar 1906 der Minister
des Innern Dr. v. Betkmarm-Hollweg an. Es wurde sick nack seiner
Meimmg Jarum kandeln, ,,d e n B e g r i f f des Landesverrats zu
erweitern .
Am 5. Fekruar kegannen die kommissariscken V erkandlungen. Unter
ikren Teilnekmern waren kemerkenswert: der spatere Kriegsminister
Major Sckeuck, der spatere kappistische Minister Freikerr v. Falken-
kausen; der ursprunglick als Vertreter des Landwirtsckaftsministers
genannte Gek. Rat Kapp, der spatere Aufrukrfukrer, sckeint nickt an
den Verksndlungen teilgenommen zu kaken. Er katte gut kineingepai?t.
Den Beratungen wurde ein Entwurf aus dem Kriegsministerium zugrunde
gelegt, der zunachst die vorkandenen Bestimmungen auffukrte und in
iolgende Antrage auslief:
,,1. dem § 112 des Reichs-Straf-Gesetzbucnes anzufiigen;
a) wer in der Absicht, die re ilit arisen e Zucht und Ordnung zu untergraben,
durch Wort, Schrift, Druck oder Bild das Heer oder . die Marine oder
Einricntungen derselben oder der Handhabung verachtlich macbt oder zur
Verletzung der auf die Verwendung der bewaffneten Macht und im Frieden
oder Kriege sich beziehenden militarischen Dienstpflichten auffordert oder
aufreizt, wird mit Gefangnis bis zu iwei Jahren bestraft.
b) Dieselbe Strafe trifft denjenigen, der es unternimmt, unter Militarpflichtigen
oder Angenorigen der bewaffneten MacKt MiJJvergniigen in Beziebung auf
den Dienst zu erregen.
2. Durch Reicbs-Gesetz zu bestimmen:
An Versammlungen, in denen politische Angelegenbeiten erortert oder beraten
werden, diirfen Minderjahrige nicht teilnehmen."
Reg.- Ass. Dr. v, Brandt kielt die Hockststrafe von zwei
Jakren Gefangnis fur unzureickend.
Ober-Justizrat Dr. Franken wandte sick gegen den Antra g 1:
„Die Bestimmung gebe fur die Allgemeinbeit viel zu weit und babe keine
Aussicht auf Annahme im Reichstag/*
Mit kleineren Anderungen wurde der Antrag 1 dennock angenommen.
Aus den weiteren Verkaridlungen ist kemerkenswert: Reg.- Ass.
Dr. v. Brandt:
„Die Gewinnung der Jugend fur die Sozialdemokratie sei besonders bedrohlich,
weil hier der Sozialdemokratie Elemente zugeriihrt wiirden, die besondera zu
Gewalttatigkeiten neigen, und weil die Zuverlassigkeit des Heeresersatzes ge-
fahrdet werde."
Gek. Oker-Reg.-Rat Neumann:
„Bei der Verwaltung des Fortbildungsschulwesens finde schon jetzt der Gesichts-
punkt voile Beachtung, inwieweit es moglich sei, der Verhetzung der Jugend
entgegenzuarbeiten.
Gek. Oker-Finanzrat Conze;
,,Ebenso wenig sei es zu empfehlen, in den Fortbildungsschulen
ausgesprochenermatfen Patrioten zucbten zu wollen oder an die Fortbildungs-
schulen antisozialdemokratische Vereine anzuschlietfen/*
167
Get. Ober Reg.-Rat Martini:
,,Der Herr Miniater der offentlichen Arbeiten kabe wicdcrbolt offentlich
erklart, da(? er Beamte und Arbciter, die sozialderaokratiacbe Bestrebungen
betatigen, in seiner Verwaltung nicbt d u I d c , aondern solcbe
Leute entlasae. Demgemaf? werde seit vielen Jahren konsequent verfabren . . .
Es konne nur erwUnacbt aein, wenn der Ausstand im Eiaenbabnbetriebe und
insbesondere die Aufrcizung und Aufforderung dazu unter Strafe geatellt wurde.
Die Eisenbabn verwaltung wunscbe keinesfalls ein Streikgesetz fur sicb allein . , .
Fur die Zulassung von Veremen von Eisenbabnern wiirden zur Zeit im Arbeita-
miniaterium Ricbtlinien erwogen, durcb welcbe zur Bedingung gemacbt wird, dafi:
1. als Mitglieder keine Personen aufgenommen werden diirfen, die aufferbalb der
betreffenden Beamtenklassen steben, z. B. Abgeordnete, pensionierte Beamte usw.
2. Der Zusammenscnluf? der Vereine verschiedener Beamtenklassen, unstatthaft ist.
3. . . .
4. Den Beborden die Teilnabme an Versammlungen, in denen Berufsangelegenbeitsn
erortert werden, frei stent.
Vereine, die sicb nicbt fugen, so lien aufgelost werden.
Gen. Admiralitatsrat Harms stellte sick auf den Standpunkt der
Erklarung des frukeren Handelsministers v. Berlepsck vom 3. Marz 1903
n der e$ hieQ:
M Die koniglicbe Staatsrcgierung bait . . . daran feat, daff sie an s}cb den
Arbeiter auf aein politiscbes Glaubensbskenntnis nicbt unteraucbt; wean
er aicb aber an aozialdemokratiscben Agitationen beteiligt, an Agitationen,
die darauf gericbtet aind, den Frieden zwiacben derVerwaltung
und den Arbeitern zu zeratorqn, dann wird er aus der Arbeit
der fiskaliscben Betriebe entlasae n."
Gek. Ober Reg.-Rat Dr. Herrmann;
,,Es sei zu erwagen, ob man die iateUektuellen Urbeber eines Streiks nicbt
treffen und daa Aufreizen zum Kontraktbrucb mit Strafe bedroben konnte."'
Gek. Ober Reg.-Rat Neumann:
„ Aucb die 'W iedergabe der Parlamentaverbandlungen
im ,,V or warts'* gebe zu den groi'ten Bedenken Anlatf.
Einzelne Worte, die. aus dem Zusammenbang genommen, sinnentstellend und
unter Umstanden beleidigend wirken, werden durcb den Druck und durcb Ein-
atellung in einc besondere Reibe bervorgeboben. Es sei erwiinscbt, aucb bier-
gegen vorzugeben."
Gek. Reg.-Rat Dr. Tull:
„Bei einer Anderung des Strafgesetzjsucbes aei ins Auge zu fasaen, da<? man
Pretforgane, die obne sicb anderweitig atrafbar zu
macben, systematiscb zum Ausatand betzen, treffen konas."
Major Sckeuck :
„Der Rekrutenoffizier sei in der Regel zu -Jung und zu unerfabren, um auf
die zu Hause verdorbenen Leute in poKtiscber Hinsicbt mit Erfolg einwirken
zu konnen. Es aei uberbaupt im boben Grade bedenkticb,
auf dieses Gebiet den militariscben Dienst auszu-
d e b n e n. tk (Das bitte man 19J.4 — 1918 beberzigen sollen,)
Die V erkandlungen zogen sick in die Lange. Sckliefflick wurden
drei Entwurre (vom rCriegs minister, vom Minister des Inner n und vom
Justizmimster) am 30. Qktober 1906 im Staats minis terium berateti.
Graf v. Posadowsky deknte die Besckuldigung des Forts ckreitens zer-
setzender Gesinnung audi aur das Burgertum aus :
168
,Jn dem Kopenicker Fall verde ein alter Zucbtbausler von der
bUrgerlichen Presse in alien Tonarten gefeiert, eg sei ein Zustand der
Perversitati der nicbt nur auf der sozialdemokratiscben Agitation, sondern
aucb auf dem Verbalten anderer Kreise berube."
Fmanzmimster Freikerr v. Rkeinkaken:
„Er wisse wobl, daf? dem Herrn Justizminister kein Emfluff auf die Recbt~
sprecbung der Gerichte zustande, aber er sei in der Lage, eine Einwirkung
auf die Zusammensetzung der Strafkammern a u s z u~
u b e n . . . Er ricbte an den Herrn Justizminister die Frage, ob es sich nicbt
ermoglichen lasse, f 1 i n k e und energiscbe Krafte in die Straf-
kammern zu bringen/*
Justizminister Dr. Beseler antwortete:
„Ein direktes Eingreifen des Justizministers bei der Zusammensetzung:
der Kammern sei nacb Lage der gesetzlicben Bestimmungen unzulassig,.
und eine Einwirkung konne nur unter der Hand geu b t
werden. Dies gescbebe so weit a 1 s angangig* und es musse
anerkannt werden, dai? die Strafkammern . . . es an Energie
und Strenge nicbt fehlen 1 i e £ e n." (Wer die Deklamationen
preutfiscber Justizminister uber die Unabbangigkeit der politiscben Ricbter kennt,
wird diese Einblicke in die Tecbnik der Korrumpierung der Gericbte besonders
aufmerksam wiirdigen).
Scnlielmcn einigte sick das Staatsmmisterium auf die Einkringung
rolgender V orlage :
„G eset zesvorsclilag betreffend Abwebr der beeres-
feindlichen B e s t r e b u n g e nt
Einzigcr Paragraph:]
,.Wer in der Aasicbt. die militariscbe Zucbt und Ordnung zu erscbuttern,
das Heer, die Marine, deren Einricbtungen oder militarbebordlicben Anord-
nungen offentlicb oder durcb Verbreitung von Scbriften, Darstellungen oder
Abbildungen herabwiirdigt oder in Bezug auf sie unwabre Tatsacben, die geeignet
sind, bei Webrpflicbtigea Widerwillen gegen die Erfiillung der militariscben
Pflicbten zu erregen, offentlicb bebauptet oder verbreitet, wird mit Gefangnis
bestraft."
Es war also ein T e i 1 des Gesetzgekungsplanes fallen gelassen,
die zeitlicke Begrenzung der Gefangnisstrafe keseitigt warden. Dann
kamen die Auflosung Aes Reickstags von 1906, die Hottentottenwaklen,
bei denen Bulows Block siegte und die Sozialdemokraten einen grofien
Teil lkrer Mandate einkutften. In der Thronrede zur Eroffnung des
Reickstags am 19. Fetruar 1907 wurde der Gesetzentwurf nickt er-
waknt, efceneowenig in der grol?en politiscken Rede Aes Reickskanzlers
Furst v. Bulow vcm 26. Feoruar 1907. Er war ekrenvoll kestattet
Billow, der Vielgewandte, regierte jetzt ein kiscken likeral.
169
BRUNO FRANK DASHAAR
NOVELLE
I.
Die Veranda des Hotels war vol! besetzt von den speisenden
Gasten. Alexander Ruge katte seinen Platz unmittelbar an der glasernen
Wand und kkckte unterm Makle, das Haupt aufgestutzt, uber See und
Vorberge zu den Felsengipfeln kin, uber denen sick straklend und gleitfend
der Sommerkimmel spannte. Es war seine erste Maklzeit am Fenenorte.
Er kannte niemand unter den Gasten oder 'katte dock nock niemand
erkannt, und Ale kommenden Wocken lagen frei vor lkm da, pfkckten-
los und ungegKedert. Es gibt nickt einmal jemanden, dackte er, der
giiltigen Anspruck auf meine Brief e katte. Im gleicken Augenbkck aber
fiel lkm irgend ein Frauenname em, und unbewutft neigte er ein wenig
das Haupt.
Er kob es wieder. Ein Paar von Gasten sckntt an lkm yorbei
und nakm in seiner Bkckricktung Platz, der Mann in grauem Anzug
mit dem Riicken ikm zugewandt. Mit ciner sonderbaren Selbstver-
standKckkeit aber trafen sick die Blicke der Frau mit den Blicken
Alexanders, es war, als katte diese kKtzgleicke Verstandigung auck mckt
eine Minute Aufsckuk geduldet. Einen langen, ernsten, ganz unverkullten
Bkck sandten diese Frauenaugen nack ikm aus und Alexander fuklte,
wie sick das leickte Fieber seiner kemacktigte, okne das kem Mann der
Erde, und sei er der vom AVeike verwoknte, der genulskundigste, das
Herannaken eihes Abenteuers erlebt.
Die Frau vor ikm war sckon. Von koker Gestalt, wie er keim
Vorbeisckreiten meckanisck wakrgenommen, trug sie frei und kock lkr
Haupt auf reifem dock zarten Halse. Frauenkaft voll und weick waren
auck die Flacken lkres Gesickts, ein wenig zu sekr sogar ins Groft
modeUiert. Ikre dunklen, breit gelagerten Augen blickten auck jetzt in
der Anspannung sanft und ein wenig traurig. Uber allem aber rukte
und straklte lkr Haar, eine Last, eine Krone, ein Helm von goldenem
Haar, eine Freude dem Auge, eine macktige Lockung, ein fast ergreifen-
der Reiz: Mit Bktzen und Farkenspielen durckzuckte die Juksonne
dieses lebendigste Sckone.-
Alexander erkob sick bald, sckritt nickt okne ein Bewutftsein der
eigenen Stattkckkeit zwiscken den Tisckreiken kindurck und begann oben
auf 3 em em Zimmer die Habe fur einen langeren Aufentkalt auszubreiten
Auf em Tisckcken nake am Fenster sckicktete er in wokliiberdackten
Stapem seine Bucker auf, meist Lekrure von allgemeiner und moderner
Art. Ein paar Hefte mediziniscker Zeitsckriften, auf deren Titelblatt
gewisse Artikel ausdriickKck angemerkt waren, erkielten ikren Platz zu
170
xinterst, una so semen wenig Aussicbt dafur, dais diese Arbeiten gelebrter
ICollegen bald scbon zu ibrer Geltung kamen. Dies gescbeben, verweilte
Alexander erst eine Weile an seinem Fenster, tat sodann emen Gang
^lurcb die Dorfgassen, die von woblgenabrten Herren in blauen baye-
riscnen rvitteln und von bocbfnsierten, boebbescbubten Damen im Dirndl-
kostum em wenig absurd belebt waren, kebrte scblieflicb, immer langsam
und planlos spazierend zum Hotel zurvick und scblug den Pfad ein, der
als eine sanft ansteigende Promenade uberm Ufer des Sees emporfubrte.
Er gelangte auf mm bis zu jener alten, weitbin sicbtbaren Bucbe, die
vom naungen \Vestwind gezucbtigt, nut einer binf alngen. wie f lebenden
Cebarde sicb zum 1 Wasser Spiegel binunterbeugt.
II.
Nacb der Abendmablzeit bielt er sicb wartend in der Vorballe
;aut. Nacb wenigen Minuten sab er sie kommen. Am Tiscb mit den
Zeitungen macbte sie Halt und nakm irgend ein Blatt in die Hand.
JNiemand scbien in der Nabe zu sein. Er trat neben sie und spracb
murmelnd, obne sie anzublicken: „Es ist eine Keckbeit von mir, .icb weiQ
es. Aber icb mul? das Wort an sie ricbten."
bie blickte aur, sab mm frei ins Gesicbt und sagte, obne die Stimme
:zu dampten: „Nem, es ist keine Keckbeit. Icb babe Sie erwartet. Icb
liabe den Tag verbracbt in Gedanken an Ibr Gesicbt!" Und sie reicbte
lbm beide Hande, die ziemKcb groi? waren, weicb und kubL Er beugte
-sicb daruber, kusste die recbte und sagte: „Icb bin gluckbcb, dai? Sie so
zu mir sprecben. Sie sind so scbon, icb sollte Ibre Kniee kussen und
mebt Ibre Hande ! Und wabrend er das sagte, geubt und sicber, fublte
*r eine eigentumKcbe Erscbutterung, fast ein Bangen vor der freimvitigen
Art, mit der die Frau dies Erlebnis begann.
„Wann sebe icb Sie?" fragte er und Kei? nun erst ibre Hande
los. Sie betracbtete ibn eituge AugenbKcke stumm, errotete mit einemmale
sodal? ibr die dunkle Woge uber Hals und Wange und Scblafe scblug
wandte sicb ab und sagte mit verandertem beiseren Tone: „Bald finden
■Sie Nacbricbt in Ibrem Brieffacb!"
„Aber Sie wissen m ein en Namen nicbtP
,Jcb weil? ibn." Und sie wandte sicb fort.
Er gmg, steckte extra spater den Brief zu sicb, der ibr Zusammen-
tretf en bestimmte, nabm seinen Mantel und scbaute unter den Eingang
gelebnt binaus in die belle warme Nacbt. Der Vorgarten und weiter
drauKen die Spazierstratfe waren beiter belebt, man borte Lacben und
Gespracbe und, abgerissen, von irgendwober, sentimentales Geton einer
Zitber. Alexander zundete sicb eine Zigarre an und verbarrte obne
Erregung.
171
Ein tiefe Frauenstimme sprack kinter mm : M Es ist eine Keckkeit
von mir, aber ick mul? das ^Vort an Sie rickten !
Er wandte sick um.
./Was", rief er, „Sie sind kier, Frau Helene ! Und Sie kaben nur
ein biscken nackspioniert?
Frau Hofacker lackte. Sie war eine Dame nahe den Funtzig,
sell on ergraut, solid gewacksen und von rnscken Farken. Die war okne
Hut und katte den Kragen ikres Jacketts nack mannkeker Art in die
Hoke geotellt.
„Es war reiner Zufall, Alexander"' eagte sie. „Verfiikren Sie nur
rukig weiter. Oder kaken Sie vor Nackt nock em bitfeken Zeit fur
mick? Ein Stundcken?"
„AlIe Stunden kis zur Morgenroter
„Ack seien Sie still! Ukrigens ist sie eine wunderkare Person
das ist zugegeken."
Als sie dann miteinander im Garten sal?en, betracktete Frau Hof-
acker im Sckeine der Bogenlampe aufmerksam seine Zuge und sagte nut
ikrer ungenierten Stimme: „Was kaben die Weiber eigentkck an Iknen*
Alexander? Ick finde Sie nickt so ungewoknK ch"
„Das wei# der Himmel", kestatigte er lackend.
,,Gute, feste Stirn, sckone freie kegende Augen, nun ja. Em an-
standig gezeickneter Mund, bravo. Aker sckon das Kinn! Mir ware
es zu weick, ikr Kinn, entsckuldigen Sie nur.
„Wir konrten ja das Xkema vielleickt weckseln? Aker das ist
nur so em Vorscklag.
„Gut, gut. Aker auf alle Falle ist es em dromges Leken, das Sie
so fukren, Alexander/
Ruges Lider zuckten, vielleickt unter dem Einxlul? aes kellen Licktes*
das sie kei einer Kopfwendung traf und ,er antwortete : „Mein Leben,
Frau Helene? Ick mockte untertanig ketnerken, dal? ick in Berlin jeden
Morgen von 8 Ukr an in meiner ICknik steke.
„Daran wird nickt gezweifeltv
„Zu dem, was Sie so mein drolliges Leken nennen, ist es am Ende
nickt immer Zeit/
Sie antwortete: „Woker stammt die Verlockung, die von Iknen.
ausgekt, Alexander? ^A/er nickt verlocken will, verlockt nickt."
„Sie sprecken reckt kart zu mir.
„Sie aknen den Grund? Nein? Nun, es ist Iknen vielleickt er~
innerKck; dal? ick eine erwacksene Tockter kesitze?*
,/Mekr als ermnerkek."
172
„Das glauke ick nickt. Sie werden sick mit Muke kesinnen, wie
mem Kind aussiekt. Mem Kind aber krennt und kat Sckmerzen um &ie*
„i^ie "ware das moglick!
„Ick geke Iknen kier keine Sckuld. Sie kennen das. Maocken ja
kaum, Sie kommt auck daruber kinweg mit ikren neunzekn. Ick meine
nur: Wer so das Akenteuer Kekt, fur den kann der Mensck mckts
bedeuten. Aker -was kaken Sie sckKel?lick in den Armen gekakt, wenn
Sie die Summe all Ikrer Tage und Nackte zieken?
Alexander erwiderte nickts und kkckte vor sick kin auf die.glukende
Spitze seiner Zigarre. Einen Augenklick katte er Lust zu lacken uker
das s el t same Verkor, das mit ikm angestellt wurde. Eine Minute ver-
ging. Ein paar kanale und suKe Akkorde kamen von der Zitker keruker,
„Aker Sie sind naturkck ganz zufrieden mit Ikrer Lekensform,"
sagte Frau Hoiacker wieder.
„Zufneden? Nun . . . Seken Sie, Frau rlelene, ick kin ja kein
grower Mensck, es ist wakr, ick freue nuck am lekendigen Blut und an
der lekendigen Stunde und kin lmmer nock neugieng und manckmal ver-
gnugt. Aker so gar zufrieden, so gar einverstanden mit mir . . .
Er sckwieg wieder und rugte dann trocken kinzu : „Vielleickt 30 lite
man wirknck fakig sein zu lieken.
,Ja. Und man sollte als Arzt und als Mann vielletckt auck ein
wenig mekr wissen von denv, was auf Erden das ^iVicktigste ist!" Sie
stockte.
,/Wovon denn?" fragte er koflick und ernst.
„Vom Leid der Kreatur."
Dann ncktete sie sick auf und sagte in einem anderen Tone : „Und
nun muss en Sie geken!" Sie ivies ikm im Sckein der Bogenlampe die
kleine Ukr, die sie am Handgelenk trug.
,Ja," sagte er, es wird auck kukl."
,,Sie geken also wirklick kin?" fragte sie und ketracktete ikn mit
unglaukigem Interesse.
Alexander mockte nickts sagen, er keugte sick uker ikre Hande
und sckied.
III.
Es war Aie Stunde. Er offnete die Tur. Durck das kell er-
leucktete Zimmer kam sie ikm entgegen in ikrem sckwarzen leickten
Hausgewand und lag ikm an der Brust, das Haupt an seiner
Sckulter. Er kielt sie umscklossen und neigte das Gesickt auf ikr Haar,
aus dem ein kukler, stronger Hauck kam. Er sagte murmelnd: „Dal?
man es es kerukren darf, da£ man es kussen darf, dieses Haar, das keute
nock so fern war!"
173
Ikre Sckultern zuckten wie unter em em Sckmerz. ,,rv<ickt, nickt*
sagte sie stammelnd, „Nickt so sprecken!
Ein wenig erstaunt not cr mr Gesickt zwiscken semen Handei*
empor und sak lkr rreundlick in die Augen. Da versckwand aus inn en
der verstorte Ausdruck und sie lackelte.
„Komm, setz Dick," sagte sie, „lal? Dick ansckauen. Sag mir, Dn
findest wokl mein Betragen sekr scklimm, sekr unmogkck ? Aber Dvt
wirst es rreikck nickt zugeken.
Er antwortete lackelnd : „So etwas solltest Du nickt fragen. fc&
ist vielleickt ganz gut, wenn lrgend ein klemes Madcken die Jlande vors
Gesickt scklagt und seufzt : /Was werden Sie jetzt von mir denken!
Aber fur eine so grolse, scnone, stolze Frau ist das nickts.
„Ack mein lieker Freund, das mit der groi?en stolzen Frau ist woki
ganz auiserkck kei mir!
M Nun, w sagte Alexander, „wie es auck ist, jedentalls „denke ick
nickts und finde nickts scklimm, sondern bin frok und gluckuck, daK
ick kier sein darf.
Dies sagte er rasck und gelaufig und ganz m dem Toniall, der
eben der ricktige war. Aber wakrend er so sprack, korte er auck
sckon Frau Helenens tadelnde Stimme. Er kam sick em wenig vor
wie ein Automat und began n sick zu sckamen. Ja, dackte er, nun
werde ick zwa Stun a en lang das Ricktige sagen und das Ricktige tun*
jeder Augenklick wird mick bereit und wack finden, und ick werde die
Frau da vor mir nickt durck Taktfekler enttauscken. Ubrigens ist sie
3a wundersckon, kerrlick ist sie. Aber 1st das em zureickender Grund
fur das Ganze? Sckwerlick. Wie erleicktert werde ick dock 1m Ge*-
keimen sein^ wenn sich die Tur da k inter mir scklieKt, nacn ein em
letzten gerukrten Kui? auf das Gelenk ikrer Hande, die sie mir vom.
Bett aus reickt!
„Wo bist Du ?"" sagte die Frau. „Du korst mir nickt zu, ick
seke es an Deinen Augen.
„Wenn ick nickt bei unsern ^^orten bin, so bin ick dock gewitf
nickt weit."
,,Du . . ! Aker wie nenne ick -Dick denn? Nickt einmal Deinen.
v ornamen weifs ick neck.
^Alexander keiiue len sagte er mit emem grundiosen Lackeln.
„ Alexander . . . Und was tust Du? Was bist Du? Ein Gelekrter?
„lck bin em Arzt," sagte Alexander. „Aber warum fragst Du
mick 7 1st es nickt gerade sckon, so gar nickts zu -wis sen, so okne all?
Beziekungen zu sein zum Leken, zum Tag ? *
Und auck wakrend er dies sagte, sckamte er sick wieder, denn es
war freiKck nickt das erste Mai, dab er diese Worte verwendete. Er
174
fukr fort: „Auck ick frage ja nickt und ware Jock neugierig genug.
Ick seke Dick an, ick kore Deine Stimme, mekr krauck lck nickt."
Sie blickte ikm in die Augen und sagte flusternd: „Hast Du meinen
Mann geseken ?"
Alexander nickte, ein wenig erstaunt.
„Hast Du ikn ricktig geseken, kast Du ikn angeseken, meine ick?'
„Das konnte ick nickt," antwortete Alexander und zog em wenig
die Brauen zusammen. „Er wandte mir den Rucken zu. Aber warum
rragst Du das?'
Sie sckwieg, starrte vor sick meder und sagte endliek leise mit
eckmerzvoll verzogenem Munde : „Ick kin reckt unglucklick, Lieber !
Das kommt 3a scknell, aackte Alexander. Und er nakm mit einer
zartkck trostenden Geberde ikre Hand,
IV.
,,0 Dein Haar, Dein Haar!"
,,S prick mckt da von !
„Nickt davon sprecken? Es ist so kerrlick. Ick glaube, ick kabe
mckts Sckoneree geseken.*
„0 sckweig ! *
„AkVarum wills t Du das nickt koren ? Lai? mick gesteken : dies
Haar mul?t ick immerfort ansckauen, keute am Mittag, war es wirklick
erst keute? Die Sonne wuklte darin, es flammte und straklte. Man
mul?te denken, es -ware nock Glut darin, aber es ist kukl, wundervoll kukl.
„Ja, es 1st kalt."
„"Wie sagst Du das seltsam! Ja, es ist so kukl wie ein sckoner
Morgen, wie ein Garten am Morgen. Lai? mick mein Gesickt darin
kaden, Liebe. Oefrne es. Gib es mir ganz!"
.Jck kann nickt!"
„Du kannst mckt? Er ricktete sick auf und lackelte. ,/Wie denn?
Du gekorst dock nickt zu den Frauen, die glauken, okne ikre Fneur
seien sie nickt mekr sckon. Koniglick mull es ausseken. Du. Komm,
erfulle mir den Wunsck. Aber -was 1st Dir denn, Liebe, -was 1st
denn ? Du kast ja Tranen in Deinen Augen."
Ja, sie wemte. Okne einen Laut, okne ein Sckluckzen lag sie und
die Tranen flossen lkr uber die A^/angen. Mit weit offenen Augen
lag sie und sak durck das stromende Nai? koffnungslos traurig ins Leere.
Er umfatfte ikre Sckultern, er kok sie em wenig empor und sprack ikr
zu- wie einem Kinde, das leidet Aker eigentKck wufie er nickts zu
sagen, er kannte ja die Ursacke lkres Kummers mckt. So verstummte
er kald, ratios, etrick ikr nur mitunter uber die Stirn, die keif? dalag
175
unter Jer kuklen Krone, unJ wartete. Unter Jem leickten Erleknis,
unter Jem kequemen Akenteuer tat sick erne unkekannte Tiere aur, em
ratselkaftes VVek, aua Jem Jiese Tranen emporquollen, Tranen, Tranen,
Tranen : sie na&en lkre weicken Wangenflacken, lkr Kinn, sie stromten
uker Jen klukenJen Frauenkals. Er nakm sein Tuck unJ trocknete sie
*ort. UnJ wakrenJJem ukerJackte er, wie sonJerkar Jock alles Jas
war: Jiese Frau, Jiese Dame, Jiese Gatttn, Jte ikn mit solcker GeraJ-
keit, solcker Freikeit zu sick kesckieJ aur lhr Zimmer, dieser Gatte, Jer
versckwunJen war, Jer nickts zu keJeuten semen, von Jem er nickts
kannte als ein paar steife, peJantiscke Falten an Semem rials, — unJ
wie sonJerkar nur lkre Tranen, Jenen nickts vorkergegangen war als
em paar Worte uker lkr sckones Haar.
„>A^enn lck Jas nickt katte, rragte sie, mitten aus Sckweigea^unJ
Trauer keraus, „Jann wur Jest Ju mick nickt mogen, nickt wakr ? "
„Wenn Du was nickt kattest?" rragte er zartkek,
„Mein Haar."'
„Aker lie tea Herz, Ju kast es Jock.
„Nein.
„Nein T
Sie ricktete sick aur, umscklang ikn unJ rlusterte lkm ins Okr:
,,Es gekort nur nickt mekr. Es ist tot.
„Tot?" rragte AlexanJer unJ Jackte kei sick: An wen kin let Ja
nur Ja geraten! Aber sckon kamen ikr wieJer Jie Tranen una Jiesmal
nickt lautlos, sonJern unter Sckluckzen and Klagen. Sie scklug Jie
rlanJe vors Geaickt unJ lkr ganzer Korper b a unite sick vor \Vek,
Plotzlick sckwieg sie. Ikre Reckte tastete uker Jie WanJ, sie
ran J Jen Hekel. unJ Jas elektriscke Lickt erlosck.
Was rust Du Jenn, Lieke?"
„Fukle! sagte sie keiser.
Sie f a#te im Dunkeln nack seiner Han J un J legte sie aur ikr
Haupt. Alexander zuckte zusammen. Der koke teste Bau Jer kuklen
Fleckten war versckwunJen, unJ seine Finger kerukrten Jie Koprkaut.
Nur ein wenig Junner Flaum war zu spurea wie aur Jem Koprcken
elnes kleinen Klnaes,
„Fuklst Du es nun?" fragte sie leise.
- AlexanJcr sckluckte kinuntcr: ,Jst Jas so scklimm?" sagte er Jaan
mit rukiger, freunJlicker Stimme. „So war es eken nickt Deines. MuK
man J arum so traurig sein?"
176
Sie flusterte: „Es war einmal meines, es war. let trags auf meinem
ICopf wie einen Leicknam. So katflick ist das und so traurlg.
Er umscklang sie fest mit seinen Armen, kettete ikren sckmalen,
nackten Kopf an seine Brust unci sckwieg. Er wartete, denn er wuute
wokl, dal? sie erzaklen wurde.
,;Du kast ikn ja geseken," kegann sie endkek mit einem Flustern,
das ansckwoll. „Du kast ikn ja geseken. Er ist sckon alt oder fast
sckon alt. Aker das mackte mir nickts, als ick ikn keiratete. Icn war
so frok, dai? er mick nakm. Vier Jakre ist das ker. Ick lekte mit
meiner Mutter in einer ldeinen Stadt, allein, und war keinake schon
ein spates Madcken geworden. Mein Vater war ein Beamter, wir katten
nickts als die kleine Pension und lekten so zwiscken Auskommen und
Durftigkeit. Da kam er, sekr reick, auck elegant und verkekte sick
rasend. Weitft du, es war so das Sckicksal, das uker einen Mann
kommt und das alle Bedenken forts ckwemmt. Er katte mick auck ge-
keiratet, wenn ick die Letzte von alien gewesen ware. Am Akend sak
er mick, am nacksten Morgen mackte er seinen Antrag, nack vier Wocken
war Hockzeit.
Aker sckon auf der Reise dort kinunter an die Riviera fing das
an mit seiner Eifersuckt. Sckon im Zuge fing das an. \Venn einer
den Blick auf mick ricktete, auf mein Gesickt, auf meine Sckultern und
vor allem auf mein Haar, wurde er grau im Gesickt und verlor fast
den Atem. Ick kekam Angst und sak nickt mekr von meinem Bucke
auf. Aker in den Hotels wurde es nock sckkmmer. Jeden Tag. alle
paar Stunden die furcktkarsten Scenen. Mit aufgekokenen Handen Kef
er im Zimmer vor mir kerum und verfluckte sein Sckicksal, dann fiel
er vor mir niedsr, zerkii? mir fast die Sckuke mtt semen Kussen,
wimmerte wie ein Tier, das gequalt wird. Ick sal? ganz ratios, ver-
suckte ikn zu trosten, ikn aufzuklaren, Kekkoste ikn sckucktern. Aker
er korte und spurte nickts. Es sckien, als ware er ganz isokert, ganz
fern von mir in seiner Raserei, in seiner Qual. Aker das Sckkmmste
war: diese Scenen, die immer wieder kamen und die immer kettiger
wurden, sie endeten auck immer auf dieselke \Veise, sie endeten in
^^ollust und Brunst. Es war, als katte sick in lknen all das Begekren
angesammelt, das er den Anderen andicktete und er zerstorte mick fast
mit seiner Leidensckaft, die keiner Zartlickkeit mekr aknkck war sondera
einer kalten ^^ut. Er nakm mick stumm in Besitz mit gescklossenen
Augen, seine mageren karten Arme umscknurten mick wie Stricke und
er. Ktt in der Wonne, das sak ick wokL Aker auck ick litt, ok wie
furcktkar, und fuklte mick gesckandet, fuklte mick angefatft wie eine
verruckte Sacke. von der einer dock nickt lassen kann. So muf? ein
Geizkals im Golde wuklen, kineinkeitfen in das Gold, im unfrucktkaren
177
Muken, semen Glanz una seinen \Vert in sick bineinzuscklingen. Sie
war es. Una es wurde scnlimmer. Er fing an, in allem Ernste zit.
nassen, was er meine Sckonkeit nannte. Ick glaube, es gibt an meinem
Lei be kein Gked, das er mcbt verwunscbt batte als Quell seiner Qualen..
Una was er verwunscbte, das eben kui?te er im gleicben Atem, sckreiend,
mit 1 ranen. Das Sen limine te, das Sckkmmste aber war narurlicb mein
xlaar. „Es macnt mien ja nock rasend, dieses Haar, " sckrie er, „dieses
in tame, dieses verruckte ! Alle macbt es waknsinnig, alle Manneraugen
nangen sick dran an dieses Hexenkaar. Alle sitzen sie da mit offenen
Maulern und wuklen sick ninein vor mein en Augen. Jeder legt seinen
Kopf, jeder grakt seine Hande ninein, jeder trinkt seinen Duft, jeder
betrinkt sicn an seinem Duft, icb sebs ibnen ja an, alien, alien, starre
Augen bekommen sie. Icb gebe nocb dran zu Grunde, icb kann das
mcnt mebr, icb kann das mebt mebr! Und dann sturzte er selbst da~
ruber- ker mit all den matflosen barbariscben Liebkosungen, die er sick
an jenen anderen vorstellte.
Icb ktt sebr, aber er tat mir aucb leid. icb spurte ja all seine
Sckmerzen so nake. Und icb suckte nack Abbilfe. Eines Tages, wir
waren narurlicb langst wieder zu Hause und lebten in seiner Stadt v
ging lck in Gesellscbaft mit einem Scbleier auf dera Kopf. Es war ein
dicktes, sckwarzes S p it zenge web e, das aucb den letzten Scbimmer ver-
steckte. Er wurde blatf, als er micb ins Lickt treten sab, spracb aber
mcbts. Er sal? mir bei Tiscbe gegenuber und liel? micb nickt los mit
seinen Augen. Icb konnte es fast korperlick spuren, wie seine Augen
an dem Gewebe zerrten, volkg wie gierige Tiere. Und dann zu Hause . . *.
Ja, zu Hause. Icb war nock im Mantel, da rii? er mir sckon den
Scbleier ab, seine, Hande krampften sick kinein in Aie Strabnen, er katte
Sckaum auf den Lippen. Er sckrie, er lallte: „Meinst du, ick lasse mir
das verstecken, mein en Sckatz, meine Kostbarkeit, meine Lust! Meinst
du, ick lasse mir das nock vor den" Augen wegsteklen von den lusternen.
Sckuften ! Nein, komm ! Icb will dicb seben, icb darf dick seken, ick
bin dein Herr, mir gekorst du : dein Leib, deine Sckonkeit, jeder Hauck,
jeder Duft ... , Und aufbeulend sturzte er sicb iiber micb, sein Muncl
verbil? sick uker meiner Stirn, er sog und trank und malmte — und
plotzkck spurte ick mit einem todlicken Entsetzen, dai? er zusammenfiel*
dais er leblos, erstarrt zusammensank, verbissen in mein Haar bing er
ackwer an mir nieder, uberfallen von einem Krampf, einer Oknmackt.
Icn glaube, ick kabe gesebnen wie eine AA^abnsmnige, mir war auck ganz
als muKte ick gleick, auf der Stelle, vor Grauen den Verstand verlieren.
Icn ral/te nack einer Scbere, ick bog micb binuber nack dem Tisckcken
wo eine Sckere lag, immer den leblosen Mann uber mir bangend, und
ick scknitt zu, icb sebnitt lbm mit fliegenden Handen meine Strabnen
178
vor dem Munde fort. Da lag er denn mit verdrebten Augcn una die
Spitzen memes Haares zwiscben den Zabnen. Aber icb kummerte mien
nicbt um inn, icb legte inn nicbt einmal zurecbt auf aen Diwan, sonaern
icb st elite nucb vor den Spiegel und sennit t weiter zu, In meiner
Raserei sebnitt icb mein ganzes Haar ab, rings um den Kopr, alles,
alles, ganz kurz, in einem Taumel von Wut und Ekel und Grauen und,
Racbe und Verzweiflung. Und icn baufte alles zu einander und warf
em Tuck daruber und dann erst rief icn um Hilfe fur den Mann. Das
Madcben lief scbreiend davon wie vor einer Bebexten, als sie micb sab.
Aber der Mann braucbte aucb gar keine Hilfe. Er kam aucb so wieder
zu sick. Er ricbtete sicb auf und starrte micb an. Und dann sagte
er — in einem ganz furcbtbaren, leer en, toten Tone, aber erlost, erlost
sagte er ; „Ja. Das ist gut."
Icb bracb zusammen. Icn wurde sebr krank und lag viele Wocben.
, Und er pflegte micb und war sebr gut zu mir, das mul? icb sagen.
Denn auf seine \Veise liebte er micb 3 a, acb nur zu sebr. Aber wie
icb so lag und allmablicb wieder zu Kxaften anstieg, da weitete sicb
etwas m mir, icb uberblickte mein Leben und sagte mir, daK, was icb
bisber als mein Leben bingenommen batte, a a I? das mebt alles bleiben
durfe. In mir entstand ein Trotz, und icb nabm mir vor, das Dasein,
das scbone reicbe Dasein mit beiden Handen zu fassen und zu genietfen.
Und icb ^var entscblossen, da!? dieser traurige graue Mann mit seiner
bosen Leidenscbaft nicbt alles bleiben durfe, was mir als Frau geborte.
Und das sagte icb lbm aucb ganz offen, denn seit jenem wilden Tag
fublte icb micb ibm iiberlegen untl wui?te ibn sebr in meiner Scbuld.
Er sab micb nur an und blickte dann nacb meinem Haar, das icb scbon
dam als mir wieder aufs Haupt gelegt batte, und ein unbescbreiblicbes
Lacbeln ging uber sem Gesicbt : wissend und traurig und bobniscb. Icb.
sagte mit Zittern : „Du meinst wobl, keiner wird micb mebr wollen —
deswegen? Aber keiner wird es ja merken." -"- „Doch,* sagte er nut
seiner erstorbenen Stimme, „du wirst es sagen mussen. Icb bindere dicb
an nicbts. du bist frei. Aber icb weii?, dai? du es jedem sagen muJ/t.
Du kannst das nicbt vergessen, nicbt auf eine Stunde, und du -wirst
aucb wollen, dab jeder es weifs, du wirst es wollen mussen/* Icb ver—
sucbte ibn auszulacben, aber mir war es, als bekame icb Eis in metne
lebendigen Adern. Und er bat recbt bebalten."
,,Unsmn, Unsinn!'" sagte Alexander, Er wollte das freundlicb und
iiberlegen sagen wie zu einem Kinde. Aber ^ic Stimme blieb ibm aus.
179
Er rausperte sick una widerkolte das Wort una streickelte sie trostencL
Aker es -war ikm selker deutlick, dai? sein 1 Wort und seine Liekkosung
keine Kraft kesai?en.
,Ja er kat reckt kekalten. Ok denke nickt, ick katte das nun so
und so oft erprokt. Ick km ja keine so leicktsmnige Frau. okgleick lck
es sein wollte. Aber emmal kak ick es dock erprokt. Es war em
j unger Musiker, der zu uns ins Haus kam. Er liekte mick, das wufc
ick wokl, ganz krank war„ er nack mir. Aker denke dir, als es so weit
Avar, da mul?te ick lkm es sagen. J a es war wie ein Zwang, em Fluck,
wie ems Bekexung -war es. Es war wie erne kittere, kittere Wollust,
zu d. es mick ukermacktig triek, oowokl ick dock wuiste, dai? dann
alles a us war. Ja, im kocksten Moment mui?te ick es mm sag en. Und
da erstarrte er. Und so wird es immer sein. Ick kin gezeicknet und
.ausgestotfen. Und auck du wirst dick von nur ak wen den, gleick, jetzt
gleick, ick xukle es sckon, ick merk es sckon an deiner Hand, daran,
-wie deine Hand die meine kalt. Du kist sckon fort, du kist sckon
gefloken, ick weii? es gut.""
„Aker das ist ja alles nickt wakr," sagte Alexander. „Gar nickts
da von ist wakr. Und es wird ja auck wieder wacksen, sicker, trotz
deiner langen Krankkeit, ganz sicker. Und das alles ist ja nur ein
Grund, dick do p pelt kek zu kak en, Arme, Gute, Sckone."
Dock er mui?te sick zwingen, das zu sagen. AA^ie durck zerrissene
Wolken sak er in eine jenseitige ^Velt, in traurige Gekeimnisse, die
kinter den sckonen Dingen lagen. Er war erstarrt. Er spannte
seine Seele an, seine Nerven. Er wollte sick das nickt merken lassen.
£r wollte den Bann zerkrecken, in dem die Armste gefangen war. Sie
muJ?te ikn zuruck kaken, den Glauken an ikre Frauenmackt, an ikre
Jugendmackt !
Er zwang sick zu ikr, und er kesai? sie. Aker es war verge Dens,
der Eisenreir urn ikre arme, verstorte Seele war nickt zu sprengen. Er
jedenfalls, der selbst sick nickt kefreien konnte von dem traungen Zauker,
er konnte ikn nickt sprengen. Sie lag da nut weitorfenen Augen, die
ins Leere saken, und sprack mit scklaffer Stimme, in der keine H off-
nun g , war :
„Gek nur, gek. Ick weii? ja dock, dai? du geken willst."
Und kald ging er wirkkck.
180
VI.
Es war gegen Morgen. Aber er konnte nicbt daran denken, die
Rube aufzusucben. Er stieg die Treppe binunter, den Blick auf die
Stufen vor semen Fui?en gesenkt, land eine unverscblossene Nebentur und
trat ins Freie.
Ein katfbcber Wind schlug ibm entgegen, der Himmel war niedng*
zerrissen und bewegt, der FrunscLein fabl und freudlos. Die Front des
Hotels entlang, den Rucken inm zugewendet, gmg em Mann dahin, mit
dem gleicbmatfigen Scnritt eines Harrenden, der Zeit bat. Eine Ver~
mutung stieg in Alexander auf. Er wartete, bis das Licbt der Laterne
am Haupteingang auf den Nacken des Fremden fiele. Aber Jener natte
den Kragen seines Mantels gegen den peitscbenden ^iVind in die Hone
gestellt. Dennocb, er -war es. Alexander zweifelte nickt. Und er-
scbauernd vor dem Geheimnis dieser Seele wartete er ; es semen inm
unwurdig und feige, sicn einem Zusammentreffen zu entzieben. Nun
sab er lbn wenden 1m unsicberen Licbt, dort, wo das lange Gebaude
em Ende batte. Er trat ein wemg hervor aus dem Mauerscbatten und
blickte dem sicb Nabernden entgegen. Der kam. hob das Haupt und
oak Alexander mit semen truben alten Augen aurmerksam ins Gesicht
Dann verzog sicb sem Mund zu emer Art von Lachem, zu emem
sauren, traurigen und kobnvollen Grinsen. Er nickte einmal vor sicb
bin, senkte den Kopf und ging voruber.
Alexander stellte wie Jener semen Mantelkragen auf, vergrub die
Hande in die Tascben und scbritt in der anderen Ricbtung davon, ver-
wirrt und mit sebwerer Brust. Er ging rascb und bog um die Ecke
des Gebaudes. Da sab er vor einer der binteren Turen, durcb die ein
odes Liebt scbimmerte, ein kleines Milchfuhrwerk steben mit einem,
sebwarzen Hund davor als Zugtier. Gesenkten Kopfs stand das Tier
da, die ubersebwere Mube des Tages erwartend, und der ode Licbt-
scbein brack sicti in seinem kleinen Brustgesckirr. Alexander blieb
neben ihm steken und wollte seinen ICopf streickeln. Aber der Hund,
im Glauben, ein Dieb bedroll e seine Burde, heulte wutend auf und
schnappte nack der hebkosenden Hand.
Nocb lange horte Alexander das aufgeregte Bellen kinter sick,
wakrend er welter ging und den Promenadenweg einscklug, der iiberm
Ufer des Sees emporfukrt. Die Luft sauste, unten scklugen die Wellen.
Alexander gelangte bis zu der alten, weitkin sicktbaren Bucke, die
vom Sturm gepeitsckt mit flekendei* Geberde sick zur Wasserflacke
kinunterbog.
181
S.s WIRTSCHAFTLICHES TAGEBUCH
DUMPING -ANTIDUMPING,
Sir Robert Home, der englische Handelsminister, soil von semen
Antidumpingplanen akgekommen sein. Er kake sick, kei& es, uker zeugt
dais das gegenwartige Dumping eine V alutaersckeinung sei, die nack
Ruckkekr eini germ alien normaler Zustande aur den- internationalen Zak-
lungsmittelmarkten ganz von selkst versckwinden werde. Das ricktige
Heilmittel sei also Valutamsierung und freier Verkekr — mckt Pro-
tektiomsmus. Nur die jungen, sckwacken „Scklussel mdustrien krauckten
einen Erziekungs~ und Sickerungssckutz, der aker nut Dumping und
Dumpmgakwekr 1m Grunde nickts zu tun Lake.
Der engkscke Minister nat reckt, wenn er nock ein kitfcken
wartete und wenn der naturkcke Laur der Dmge nickt durck Pariser
X)escklussc und Londoner Konrerenzen gestort wurde, konnte er ziem-'
lick kald restellen, dais es ukerkaupt kein deutsckes Dumping mekr gikt.
Sckon jetzt gikt es viel wemger als vor em par Monaten.
Aker neken und uker Sir Rokert Home mackt ja Mr. David
Lloyd George kritiscke und Weltwirtsckaftspolitik. Und Mr. Lloyd
George wunsckt orrenkar, darur zu sorgen, dais das deutscke Dumping
wieder auflekt und zu Jakren komme, Zu zweiundvierzig Jakren.
^^as war kisker die Wurzel des deutscken Dumping? Produk-
tionskosten, Lokne vor allem, die in Papiermark kock, in Weltvaluta
aker niedrig waren und deskalk Unterkietung gestatteten, wenn der
Preis der Ware in Weltgeld gefordert oder bezaklt wurde. Wenn
die Valuta steigt, die AiVeltmarktpreise sxnken, die Verkekrssckranken
akgekaut werden, kessert. sick, wie Sir Rokert ricktig kerausgefunden
tat, das Uekel xon Tag zu Tag, Nun kommt aker der Zollkontrollor
der Entente und verlangt von jeder Ware, die uker die deutscke Grenze
gent, em Acktel lkres Werts. K.ann man einen Gegenstand, der eigent—
Kck 100 M. kosten soil, fur 112 M. exportieren? In mancken Fallen
kann. man es, wenn der Gegenstand ukerkaupt . oder in solcker Qualitat
anderswo gar nickt zu kaken ist, oder wenn man dank lrgend einer
naturlicken oder teckniscken Uekerlegenkeit kilKger produziert als alle
fremdeh Konkurrenten. Das fc sind Ausnakmen. Im "allgemeinen kann
man es nickt; wenn man dennock exportieren will (oder mui?), kleikt
nickts anderes ukrig, als den Gegenstand weiter urn 100 M, zu ver~
kaufen. Da man dann aker nur 87 oder 88 M. erlost, (wakrend der
auslandiscke Mitkewerker die vollen 100 kekalt) mul? man 3iie Produk-
tionskosten kerakdrucken. Man mul? sick im teckmsck-organisatonscken
\Vettlaur an der Spitze kalten (was in einem verarmten und darkenden
Lande leickter gesagt als getan ist) und man mutf jeden Aufwand der
182
Produktion kunstkck und gewaltsant verkleinern. Man mul? alar* lrgend*
wie den an sick vorubergekenden Zustand, den das deutscke Dumping
ausgelost kat, verewigen. Man mub ikn auuerdem auck nock versckarren ;
denn da em grower und mit jeder Anstrengung wacksender Teil des
Ausiukrerloses in Trikuten verloren gekt, mui? man durek weitere Fro*
duktionskostenminderung den Export immer wieder und kis zum autfers-
ten forcieren, um wenigstens die notwendigste Einrukr bezaklen zu
konnen. Die Ausfukrakgabe begrundet nickt blol? (im Verein mit den
ubrigen Tributen) ein neues Dumping, sie peitsckt auck rortgesetzt zu
neuer Verstarkung, neuer verzweifelter AufdringKckkeit dieser Kuk-
konkurrenz.
Vielleickt kalt Sir Robert Home seinem Premier einmal uber diese
Dinge Vortrag.
UNSERE „GROSSE" AUSFUHR.
Im Ententelager tut man so, als batten wir unseren alten Platz im
\Veltkandel beinake -wieder eingenommen. Herr Doumer ist nickt der
Emzige, der seme Glaukigerrecknung aut deutscke Fnedensausfukr zirrern
stutzt. Dabei werden immer die Handelsstatistiken einiger unserer kon-
tinentaler Nackbarlander angerukrt, die im Warenverkekr mit Deutsck—
land in der Tat stark passiv smd. Aber all diese Lander nakmen vor
dem Kriege nur emen sekr besckeidenen Teil der deutscken Ausfukr
auf. ^Vas auf den fruker gro#ten Absatzmarkten — in Rutland,
England, Amerika, in den Gebieten der osterreickisck-ungar^cken Mo-
narckie — einstweilen verloren gegangen ist, davon beliebt man keine
Notitz zu nekmen.
Die irrefukrenden Ziffern einer aurgeblakten und sckwankenden
Weltstatistik fukren auck unser eigenes Urteil leickt zu Uebersckatzungen.
Wie sckkmm es in Wirkkckkeit nock vor kurzem um unsere Ausfukr
stand, zeigt eine neuerdings veroffentlickte Mengenstatistik, Aie die Ex-
portquantitaten des ersten Halbjakres 1920 mit denen der ersten seeks
Monate von 1914 vergleickt. Es gibt nur drei ^Varengruppen, kei
denen der 1920er Export mengenmalSg grower war als der 1914er:
rlolzwaren, Waren aus Steinen und anderen mineraKscken Stoffen und
Fakrzeuge. Man siekt auf den ersten BLck, datf es sick nickt um ent-
sckeidende Posten unserer Ausrukrbilanz bandelt. Bei den entsckeiden-
den Posten sind wir sekr, sekr weit zuruck. Nur die wicktigsten
Zirrern seien erwaknt: Eisen, Eisenlegierungen und 1 Waren daraus 1914
3 U MiUionen, 1920 nock nickt /* Millionen Tonnen, ckemiscke (da-
runter Kali) pkarmazeutiscke Erzeugnisse, Farben, Farbwaren (also Spe~
ziaktaten deutscker Produktionswirtsckaft) 2V2 und IV2 Millionen Tonnen.
Masckinen 278.000 und 158.000 Tonnen, elektroteckniscke Erzeugnisse
183
65.000 und 25.000 Tonnen, Waren der Textilindustrie 209.000 un<l
28.000 Tonnen, Leder- und Lederwaren 20.000 und 3.000 Tonnen.
Fur einen Dumpmgexport mit Valutaecbutz eigentlicb keine glan*-
z en den xvesultate. Mr. Tbelwall, der britiscbe xlandelssacbverstandige
in Berlin bat ricbtig beobacbtet: unsere „gutei; Profitergebnisse" sinct
,,bei sebr gennger Produktion erzielt worden.
DER UNBEWEGLICHE KOHLENPREIS.
Icn babe kein Mitleid mit den Koblengrubenbesitzern, die angeblicb
(vielleicbt sogar wirklicb) bei jeder Tonne ein paar Mark vemeren.
Icn Dm naturbcb, als Konsument, fur billige Koble. Trotzdem muK lcb
fragen ob es nicbt, wenn die Weltmarktkoblenpreise so sinken, wie sie
es bisber getan baben, ganz nutzbcb ware, lbnen die mlandiscben em
bil?cben naber zu rucken.
Herr Simons bat neulicb gesagt, unsere Industrie babe sich uber—
rascbend auf Braunkoble umgestellt. Wenn das der Fall ist, sollte man
meinen, dal? die Braunkoble {^ie im Verbraucb obnedies kostspieliger ist)
billig gebalten wird. Aber der Braunkoblenpreis wird erbobt. Nur
an die Steinkoble darf nicbt geriibrt werden.
Unsere gute Steinkoble bekommen (gegen Gutscbrift des Inland-
preises) Aie Franzosen. Die scblecbte Koble bekommen wir. Infolge-
dessen beizen wir teurer als die Franzosen. Wenn die AkVeltkoblen-
preise nocb weiter sink en und die Valuta nicbt welter fallt, -werden
wir moglicberweise dazu kommen, den Abfall der uns bleibt, liegen zu
lassen und tins anstandige engliscbe oder amerikaniscbe Koble zu besorgen*
Sie wird in der Anscbaffung teurer, im Verbraucb vielleicbt bilKger sein.
Solange unsere Koblenpreise niedriger smd als die Weltpreise,.
werden wir die Verfugung uber unsere gute Koble me zuruckerbalten.
Man wird im Gegenteil immer gro^ere Koblentribute von uns fordern
und erzwingen. Selbst wenn man fur die Koble gar keine Verwen-
dung bat und sie wieder ausfubren mufi, Sicbere Profite gibt man
nicbt aus der Hand. AiVelcber Finanzminister wird auf eine AVieder-
gutmacbungsware verziebten, die nut 100 berecbnet und gebucbt wircL
aber 150 oder 200 ^Vert ist und aucb so verautfert werden kann.
Es ist nie daran zu denken, dai? die Vernunft popular werde. Leidenachaften unct
GcfuMe mo gen popular werden, aber die Vernunft -wird immer nur im Besitz ein-
zelner Vorziiglicher sein. Goethe 1829.
Konnte man nur den Deutschen, nach dem Vorbildt der Englander, weniger
Philosophic und mehr Tatkraft, weniger Tbeorie und mehr Praxis, beibringen.
Goethe 1828.
184
AUS DEM TAGE-BUCH
DIE PRASIDENTENFRAGE
Ein Leser des Tagefcucb, Herr Dr.
E. Saagert, acKreibt m£r aus Lugano.
Ich drucke seinen Brief als Korcns-
werte Auslandsatimme ab, ohne an
seinem VorscMag Gefallen zu Hnden.
Dr. Saager scbreibt:
\Venn lck mir gestatte, zu Tkomas
Wekrk'ns Brief an Fritz Ekert einiges
zu kemerken, so Din ick nur wokl-
bewutft, daf? es sick um eine tnncr-
deutscke Angelegenkeit kandelt, aker
vielleickt ist gerade ein Auslander,
als unkcteuigter Beokackter, in der
Lage. in das Proklem kineinzu-
Icuckten.
Wekrlin kennzeicknet den ide-
alen deutscken Reicksprasidenten so :
geistig-moraliscke Autoritat . . . die
inneren Krafte des Reickes kon-
xentrieren sick in einem fukrenden
Kopf . . . Blut von unserem Blut,
Hirn von unserem Hirn . . . uker-
parteikcker Fukrer, der Kredit auf
alien Seiten kat . . . Freier religioser
Deutscker. Nickt minder treffend
ist Ikre Forderung: Die Repuklik
krauckt ein Gesicktund eine Fakne . . .
es kandelt sick darum, eine Figur
zu linden, die geeignet ist, die Lust
an der Republik zu steigern oder
vielmekr zu wecken, denn dieses
Reick sei instinktiv monarckisck, die
Repuklik widerwilkg . . . und kis
auf weiteres seien die Parteiinstanzen
Deutsckland. Die wakre Repuklik
solle iiker den Parteien steken und
sick grundlick kefreien wollen von
lkrer dynastisck-nulitanscken Ver-
gangenkeit.
All dais entspnekt auck den
Vorstellungen, die sick das Ausland
von einem idealen deutscken Prasi-
denten und einer idealen deutscken-
Repukkk mackt. Nock mekr: geken
Sie in die Sckweiz, nack Frank-
reick, nack Amenka, geken Sie,
wokin Sie wollen uker die deutscke
Grenze, man wird Iknen uberall
sagen : Sie kaken ja einen solcken
Mann, der genau lkrer Definition
entspnekt! — Sie werden entgegnen:
der Mann, den Ikr meint, kesitzt
nickt den K re ait. er kat in Deutsck-
land nickt die geistig - moraliscke
Autoritat! Undenkkar, er, der un-
kenekte Professor F o r s t e r , aui
dem deutscken Prasident instukl !
Ick glauke, da nut kaken Sie des
ganzen Fekler selkst aufgedeckt, der
in Ikren Forderungen liegt, den
Zwiespalt, der zwiscken lkrer Tkese
und ikrer Realisierkarkeit klafft.
Warum kann Forster nickt deutscker
Prasident werden? Weil ein Wider-
wille gegen die grundkeke Befrei-
ung von der miktarisck-dynastiscken
Vergangenkeit im deutscken Volke
vorkanden ist, werden wir ent-
gegnen. Diese Vergangenkeit druckt
sick aus in der Bejakung des Krieges;
Forster verneinte ikn. Heute Kegt
der Gegensatz in der Stellung zur
Sckuldfrage: okwokl Aic deutscken
Dokumente selkst die Wakrkeit
daruber. namKck dal? die oster-
reickisck - ungariscke und deutscke
Regierung diesen Krieg — mindestens
gesagt als Praventivkrieg — der
Welt aufgezwungen kaken, in alle
Welt kinauskrulUa, wollen die
185
Deutscben in ibrer ungebeuren Mebr-
zabl eie mcbt wabrbaben; Forster
aber latft einfacb die \Vabrbeit
W abrbeit sein. Leugnen kann nur,
wer eben den Kxieg innerlicb nicht
uberwunden bat, wer inn fur ein
diskutables mittel bait, wer inn aucb
a em anderen zutraut oder vielmelir
uberzeugt davon ist, dais die anaeren
ebenso knegslustig, ja neugieng
waren, wie die eigene Regierung es
'war. Wer aber so denkt und
fublt, bat eben mit der militariscb-
dynastiscben Vergangenbeit nicbt
innerlicb gebrocben und der einzige
LJnterscbied gegen fruber ist fur inn
die Marke „Republik" statt ,,K.aiser~
reicb". Herr Wenrlin sagt wonl,
man musse die Figur finden, die
geeignet ist, die Lust an der Re-
publik zu steigern oder vielmebr zu
wecken. Sie konnen einen Delbruck
oder einen Hauptmann zum Prasi-
denten macben: dam it werden Sie
nur die Lust an Nebensacblicbkeiten,
nicbt an der Republik -wecken,
denn das Wesentlicne an dieser
Republik ist die grundlegende pazi—
ristiscbe Frage oder wenn Sie wollen,
die Scbuldfrage, in der nur der uber—
zeugte Nicbtpazifist seine Uber-
zeugung uber die klar am Tage
liegenden Tatsacben s tell en wird,
wie es eben die groue Mebrbeit
der Deutscben tut.
Der einzige Vertreter, der Ibrer
Definition vom idealen Prasidenten
entspncbt — bis auf die Einscbrank-
ung, daf? er in Deutscbland keinen
Kredit besitzt — und der zugleicb
Ibrer Definition von der idealen
Republik gerecbt wird, -ware Pro-
fessor Forster. Den aber will das
deutscbe Volk unter keinen Um—
standen. Darum durfen Sie nicnt
rlerrn Ebert, sondern mussen Sie
dem deutscben V oik einen v or—
wurf macnen! So, wie. das deutscbe
Volk die Republik auffaKt, wird
es mit Recbt rlerrn Ebert wieder
wablen: er ist, "was man sicb in -
Deutscbland, im Gregensatz zum.
feudalen fruberen Regiment, als Re-
publikaner vorstellt und er bat zu-
gleicb ^ie militaristiscb-dynastiscbe
Politik mitgemacbt, er reprasentiert
die Tatsacbe der Republik und
zugleicb deren Widerwilligkeit.
Deutscbland bat sein en Masaryk,
der einzige LJnterscbied mit Tscbecben
ist, dal? Deutscbland ibn mcbt baben
will Die deutscbe Republik konnte
ein Gesicbt und eine Fabne baben r
aber sie wendet ^ie Augen davon
ab, denn sie ist nocb uberzeugt
nicntpazmstiscn. Daran muJ? Inr
kluger V orscblag scbeitern !
Tbomas ^/ebrlin erwidert
rlerrn Dr. Saager :
Es gibt ein Besserwissen des
Auslandsdeutscben, gegen das Keiner
ankann. Forster ist als Prasident—
scbaftskandidat unmoglicb, vor allem,
weil er sicb in erster Lime als
Katbolik fublt. w^ir konnen wedcr
einen betont protestantiscben, nocb
einen betont katboliscben Prasidenten
braucben. ^/ir braucben einen
Deutscben, indem sicb das Deutscb-
land von beute conzentnert wieder-
findet. Ein solcber Deutscber. in
dessen Kopf Widersprucbe zur
Syntbese drangten, -war Naumann.
Forster . . ist ein bedeutender Pro-
186
feasor der Moral. Er ist ein Mann,
der sick immer wieder isoliert. Er
saJ?e aui dem Prasidentenstukl em—
sam in koker Stule. Nie ist ein
poktiscker Funrer der strenge Zensor
seines Volkes gewesen. In ein em
Augenkkck, da Frankreick und Eng-
land sick entsckliei?en, 42 Jakre
lang die Faust an unserer Gurgel
zu kalten, wird man es den Deutscken
mckt verukeln konnen, wenn sie
tkeoretisck mckt unbedmgt pazifistisck
gesmnt sind. In dem Verteidigungs-
tneb des keutigen Deutscnen lekt
ein senr gesunder Instinkt. AiVir
sind unkewaffnet, wir kleiken ent-
waffnet, aker die Wakl des Prof.
Forster -ware erne Entwaffnungs-
Reicksaufgake, zu der mem and Lust
kat. Au#er den Deutscnen, die in
der Sckweizer Loge sitzen und zu-
seken . . . Ukngens kinkt der Ver-
gleick mit Masaryk, Forster ist.
das ekrt den Kopf, uoernational.
Masaryk erwucns aus nationaler
Blvite. Er ist erst Tscneche, dann
Europaer. Forster ist erst Katnolik,
dann Europaer und scnlielZlicn auck
Deutscker. Er ist uns zu . . . an-
gesckweizert.
DIE FIXE IDEE = PRESSEBALL
Ein Besucker dieses Festes
sckreikt mir:
^Wissen Sie, dai? in dem Buro
des Berliner Pressekalls Fraucn
oknmacktig wurden, weii sie keine
Eintrittskarten mekr erkalten konn-
ten? Wissen Sie, dal? es Narren
gak, die am Tag vor dem Ball
Tausende fur eine Eintrittskarte
kezaklten ?
Und was an Genussen erwartete
die Glucklicken, die eingelassen
wurden ? Ick will die Seligkeit,
von Georg Bernkard dem Allgegen-
wartigen, empfangen zu werden,
nickt untersckatzen. Aker dieses
Gluck kann dem Sterklicken sowokl
im Reickswirtsckaftsrat wie in der
Pressekonferenz, in der Handels-
kocksckule wie in der Deutscken
Gesellsckaft passieren. Gibt .'es
denn eine grol?ere Vereinigung in
Berlin, wo Bernkard nickt Presi-
dent, Referent oder engeres Aus-
sckutfmitglied ist?
Man sollte nur im Frack,Damen
nur in Ballroke den Saal ketreten.
Zur Vorsickt wurde den Besuckern.
durck alle Akendklatter die weitfe
Binde nockmals eingesckarft. Aker
es gikt keine deutscken Gesellsckafts-
gesetze, wird keine geken. Es gak
Besucker im Smoking mit weij?em
rlemd und Damen in ganz aksurden
Toiletten aus dem vorigen Jakr—
kundert. \Venn Besucker sprack—
los steken klieken und vor einer
Roke Spalier standen, dann -war
es immer eine drollige Novitat aus
Prenzlau Jakrgang 1882/' Urn
die sckonen Frauen, die auf dem
Presskall gewesen sein sollen, und
um die sckonen Kleider war es
sckade, weil ein unertraglickes Ge-
drange jeden verweilenden Blick*
jede genietfende Betracktung un-
moglick mackten. Die Herren, die
derlei elegante Feste arrangieren,
glauken immer nock : die, Masse
tut es. Aker schone Akendgesell-
187
set a ft en kommen nur durck eine
asthetische Zensur zustande, Wie
aker sckien eine so grotfe Affen-
ausstellung, wie es tier Pressekall
ist, auck nur mit der kesckeidensten
Gesckmackszensur denkkar?
Ungl auk lick, unverkessert, ist
die gemeine Gafferlust der Zusckauer
gewesen. Alles sckok und 'drangte*
sick vor Fekrenkacks und Simons
Loge ganz ebenso wie eked em vor
der Kaiserloge und vor Bulows
Tisck. Die Herren, ukrigens er~
sckienen die meisten mit ganzen
Wagenladungen wilkelminiscker
Orden t gesckmuckt, genau so ge-
dankenlos ~pokelkaft neugierig wie
die Damen. Der repuklikaniscke
Deutscke (der kesitzenden Klassen)
ist eken mckt um ein Grad wurde-
voller als der gekorsame Untertan
der Kaiserzeit. Das war der ganze
Ak end : Gedrange, Sckweitfgeruck.
Begaffen. Und wer wurde sckon
kegafft? Wer ein kitfeken Ge-
sckmack kat, wer ein wenig auf
sick kalt, der kleikt diesem ack !
so demokratiscken Aufwasck fern.
Nickt einmal die kesseren Tkeater-
leute waren nock in Ballfreude.
Von Sckriftstellern ersckienen, wie
die Zeitungen am nacksten Tag
stolz kerickteten, nur die Sterne
von gestern oder yon vorgestern,
Ludwig Fulda, Rudolf Presker
Heinz Tovotc und Max Kretzer*
Man mutfte, wenn man diese Liste
las, zugeken, daf? das hokere deutscke
Sckrifttum sick an diesem Akend
selbstkewutft und mutig kenommen
kat. Kein Autor, der sick fuklt
kat sick dem Pressekallzwang unter-
worfen. Dagcgen sind die Maler,
die ja auck durck Spend en. zur
Tomkola Gekorsam erwiesen,piinkt-
Kck angetreten. Die revolutionar-
sten Maler waren stark vertreten.
Durfen wir von George Groi? em
Erinnerungsklatt „Pressekall 1921"
erkoff en ?
Redaktion des M Tag«-Bucb" : Berlin W 35. Potadamer Strafe 123 V, Tel: Lutsow 4931
Veranfrwortlich f iir den redaktionellen Tcil : Stefan Grofrnann, Cnariottcnburg. Verlag : ^
Ernst Rowohlt Verlag, BerlinW 35. Potadamer Stratfe 123 b. Druck: R. Abendrotn, Ri«a.
DER KLEINE GRADE-WAGEN
ORIGINELLSTE LOSUNG DES KLEINWAGEN-
PROBLEMS / DER WOHLFEILE WAGEN DES
MITTELSTANDES / ZWEISITZER
HANS-GRADE-WERK
BERLIN W 35, POTSDA MERSTRASSE 113
PAVILLON 5
188
Rudolf Borckardt
DER DURANT
Ein Gedicht aus dem mannlichen Zeitalter
Einmalige Autlage von 680 numerierten Exemplar en. Der Druck erfolgte
in der Moris-Gotiscn in tier Offizin VS. Drugulin in Leipzig.
Exemplar 1 — 45 auf Van Geldern Butten abgezogen und von
Rudolf Borchardt bandschriftlich aigniert, in Ganx-
pergament M. 650. —
Exemplar 46— 500 auf Deutschem Butten in Halbpergament M. 85. —
Exemplar 501 —680 auf Deutschen Butten in Pappband . . M. 50. —
„DIE GREHZB07EH" BERLIN
Dieses Gedicbt erneuert Form
und Ethos dea grotfen mittelhoch deutschen Vers -Epos in
seiner durcb den Personlichkeitsgchalt der Deutschen Meister
Uber die hofischc Konvention zu einem Ewigkeitswcrt
emporgebobcnen Geetalt. Es 2wingt die Leidenschaft des
eigenen, zwischen Unseligkeit und Seligkeit bewegten Lebens
in die SchKchtheit und gleichmatfig flieffende Bewegung der
knappen, dreibebigen Reimpaare, die zu einer Dicbtheit und
Spannung zwingcn, wie kein anderer episcber Vers. Eine
tiefste Wesensverwandtschaft Borchardts eigener geistigen
Welt, vertieft und erfullt durcb otreng erarbeitete Einsicht in
das V/tBcn und die gematfe dichterische Form dea .,mannlichen
Zeitaltera", ermoglichte ibm diese Neuschopfung und Er-
fullung 'einer vorgerundenen Form Ein besonderes
gescbicbtlicb kunstlerischcs Bewu£tsein autfert sicb bier,
das den Historiatnue uberwindet, indem es in der geschicht-
lichen Anacnauung selber Gestalt gewinnt."
Zu beziehen durch alle Bucbbandlungen
oder direkt durch den
ERNST ROWOHLT VERLAG BERLIN W 35
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Senfeifs
m 14.— ©ebunben m 20.—
SSerliner Sageblatt: QUir fd>etnf ,.3enfeifs" einen
SIterkffein geiffiger Umkebr ju bebeufen. Ser ©tester
ber ^eoolutton fc^eint tie £inberfd)ube ausge3ogen' 3u
baben. <£r fiebf mit bem 3toeifen ©eficbf, bab bte Sofen
immer nocb mebr finb als bie, fo fid) 3U S^ern bes
Cebens erkoren biinken ♦ . .
Sranj 6eroaes im ^Berliner 80ftal=2tn3eiger: 3n
biefem „3enfeifs"=<Drama toirb ein bicbterifd) neuer
SBeg einge[d)Iagen. <2Gie bie feelifdje 6pannung aufs
auberffe fieigt unb 3u febridem 3erreifcen fityrf, has
ifi Don bem jungen ©ic&fer in rafeben, burd)leud)tenben
6<5enen meifferlid) enftoickelf toorben unb toirb fur ben
gublenben 3um (Srlebnis,
Berliner <85rfsn*Sourur : £>ie beutfe^e llrauffub*
rung Don £afencleoers „3enfeits" b^ bem ©tester unb
bem faebfifeben ©faafstyeater einen grofjen, bebeut=
famen (Srfolg gebraebf. Wan erlebte ettoas Weues,
(irffmaliges, befraf unerfcbloffenen Q3e3irk, (Sin 6d)ich=
falsbrama, ein 6eelen= unb ©etfierbrama, mif hampfe*
rifeber (Snffcbloffenbeif unb inbrunffiger 93et[enkung ge=
ffciltef, ooll 3arfer, fcbioebenber Cprik unb aufeerorbents
licber ^}ragnan3 im (Mfiigen. SJoU erffaunttcber fielt
fid)figkeiten unb mafcooller (Snergie. 3ung unb kiibn.
^Ooll (grlebnis unb 6c^au.
<8. 3. am tmiffag: 3n biefem neueften £afencleoer
3eigt ficb blubenbffer 6KI mii [cbarfffem Snfetlekf unb
befonter (Srofik.
2ctp3igcr Sageblaff: tfafencleoers ©ebicbf iff ein
fu&es unb febtoermiifiges <Mrd)en aus bem 6er3en b'er
fflten[cfcen oon ber Wot ibrer 3meil)eif, bie nie 3ur
ginbeit roerben kann, unb oon ber Wtol tbres 3d)be©u&U
feins, bas nie ins Mberoufoffein ttbergeben kann, fein
febonftes ©ebid)t bister unb fein fraurigffes. <£s iff
ein <Drama Doller QSeroegung, ein Wavfym cotter
^dtfel unb ein pbantaffif d)es 6piet 3toifcben 3tr»ei 9Itenfd)en*
©rcsbner <Had)rtcbfcn : &uf biefem <I8ege toirb toirklicb
Steues uub^ei3ool(es oon ber ^3iif>ne ber geboten.
3u be3ieben burcb otle S3ud)bcmblungen ober birekt burd) bm
6mff 3ton>of)n 'Serlag, 23erltn W 35.
ALBERT EHRENSTEIN
DIE GEDICHTE
ERSTE GESAMTAUSGHBE
Brosdiicrt M. 30.—, Halbleinen M. 38.—
Vorzugsausgabc: 100 num. Exemplare.
Jedes Exemplar mit eincm vom Diditer
handschriftlidi eingeschriGbenen Gcdidit in
Ganzleder gebunden M. 500.—. 200 num.
ExemDl., signiert in Halbleder M. 150.—
Leipziger Neueste Nachrichten: In Ehren-
stein steckt vielleicht der starkste, phantastischste
Dichter unserer Zeit . . . Ehrensteins Befahigung
ist nicht mehr Talent, sondern wahrhaft genialisch,
er hat eine Sinnlichkeit der plastischen Darstellung,
eine Glut der Farbe und einen Reichtum der
Erfindung, urn den ihn die besten deutschen Dichter
herzhaft beneiden kiJnneri. Stefan Zweig.
Berliner Tageblatt: Albert Ehrenstein ist eine
der starksten Begabungen des jungen Osterreich . . .
Sprecher einer ganzen Altersschicht . . . Urlebensleid
drangt sich zusammen zu einer Beichte von er-
schtitternder Kraft . . . und der Zeichner spitzer
Grotesken verktindet johanneisch Menschenliebe :
„Seid sanft, o ihr Starken!* Soil das alles heute
ungehort verhallen? Prof. Oskar Walzel.
V.EBLAQ ED.
WIEN * PRAQ
ST5ACHE
* LEIP?IQ
Das Tage-Buct / Heft 7 Jakrg. 2 / Berlin, 19. Fetruar 1921
thomas wehrlin STARB DIE INTERNATIONALE?
Wir mocbten so gerne international sem.
Aber wo sind jetzt die Stimmen der Volker?
Im August 1914 gab es optiscbe Tauscbungen, tragiscb fur alle
Nationen? Die Deutscben bangten vor der Slawenflut untef Zaren-
befem, die Fran zo sen zitterten vor den deutscben Soldaten unter \Vxl-
belms Kommando, die Sudslawen batten ibr Lebensrecbt gegen Franz
Ferdinands Habsburgerwacbe zu bebaupten, Belgien war scbon nieder-
getreten, die Englander konnten sicb moraliscb erbitzen und dabmter
gescbaftlicb spekukeren. Unmoglicb, im August 1914 nucbtern, klar*-
scbauend, okonomiscb denkend zu bleiben.
Welcbe Blendung aber kann die Volker 1921 recbtf ertigen ? ^Ver
bindert die franzosiscben Arbeiter, gegen yierzigjabrige Sklavenarbeit
deutecber Proletarier zu protestieren ? \Ver erstickt die Stimmen
engliscber Arbeiter, die durcb Uberarbeit und Unterentlobnung deutscber
Genossen vierzig Jabre im Scbacb gebalten werden sollen ? ^Vo sind die
bo entrustungsbereiten Neutralen?
Wo ist Marcel Sembat, der als Jaures Erbe gait? ^vVarum
scbweigt Henderson jetzt ? AVeii? Namec nicbt, dai? Deutscblands Ruinen
auf das rieue kleine Tscbecbenbaus sturzen werden?
AiVo ist die zweite Internationale? Wo die Internationale Nummer 2 1 / 3 ?
Im August 1914 waren alle Telegrapbendrabte zerscbnitten. Im
Februar 1921 eind die Drabte wieder straff gespannt. AA^enn je ein
Augenbbck zwingend ein Manifest an alle Volker gebot, denn diese
Stunde, in der — obne Rauscb, mit grafflicber Nucbternbeit — die
Demolierung der deutscben Industrie bescblossen ward. Verglicben mit
dieser Zerstampfung ist die Verwustung Belgiens cine kleine Episode.
^Vo aber sind beute alle Klagenden und anklagenden Propbeten ? Von
der guten Mens cbbeitst ante Ellen Key bis zu der Gelebrtenstimme
Tbomas Masaryks. ^Var der Aufscbrei in Belgien obne stillen eng~
liscben Regisseur nicbt denkbar ? Sind wir Deutscben nocb immer das
Volk obne politiscbe Tecbnik ? Scbweigt die Internationale nur, weil
wir kein Talent zum unsicbtbaren Kapellmeister baben? - '
Der August 1914 war der erste scbwere Scblaganfall, den die
Internationale erlitt. Kommt sie nicbt mebr zu Kraften? Bedeutet
der Februar 1921 ibr definitives Erloscben?
Die Scbeidemann, Otto Bauer, Camill Huysmans mutften den
Versuch macben, die Lebensgeister der alten Dame nocb einmal wacbzurufen.
Kann die Internationale jetzt kein lautes Wort mebr uber den
Erdenrund rufen, dann begrabt sie als cine scbone Illusion. — Die Inter-
nationale, die beute scbweigen kann, wird nie mebr sprecben konnen!
193
Pjerrepont b. noyes UNTER DEM FRIEDENS-
VERTRAG IM BESETZTEN
DEUTSCHLAND
Pierrepont B. Noyes war bis zum Juni 1920 amerikanischer Ver-
trcter in der Hoken I n t e r a 1 1 i i e r t e n Rh e i n 1 a n d k o m -
minion und Chef der amerikanischen Zivilverwaltung im besetzten Gebiet.
Er trat dann von aeinen Amtern zuruck, weil er sich mit der Besetzung und
ihren Methoden nicbt mehr identifizieren wollte. Die folgenden Ausfiihrungen
•ind einem im New Yorker Verlage der Macmillan Company aus seiner Feder
demnachst erscbeinenden Bucb „Dcrweilen Europa auf Frieden
wartet! " entnommen, von dem icb Teile vorab zu veroffentlichen in der
Lage bin. Die allgemeine Tendenz des hochverdienstlichen, den gesamten Kreis
der Friedensfragen erorternden Werkes charakterisieren vielleicbt am besten die
folgenden, gerade in diesen triiben Tagen wieder besonders aktuellen Satze aus
einem anderen Kapitel : „Es ist meine feste "Oberzeugung, dai? Deutschland, einst
das industrielle Rtickgrat des kontinentalen Europa, immer tiefer in eine soziale
und wirtachaftliche Zerriittung binab^leitet, die hochst gefahrlich fiir den Frieden
der ganzen Welt ist. Es wird gewii? schwer aein, die Deutschen in Bolscnewiki
zu verwandeln, — aber die Gefabr ist nur dann nicht sehr brennend, wenn die
AUiicrten sic nicht allzulange hilf- und hoffnungelos la§sen."
DIE militArische okkupation
Die Besetzung der deutscben Westprovinzen durch die Alli~
ierten, — ursprunglicb nur fiir die Dauer von fiinfzebn Jabren
geplant, durcb Herrn Millerands Note an Deutscbland vom letzten
Marz aber auf unbegrenzte Zeit ausgedebnt — ist fiir die Zukunft
Europas unverkennbar ein Faktor von so bervorragender Wicbtig-
keit und bedrobt so unmittelbar den Weltfrieden, da(? es zu
wirklicbem Verstandnis der europaiscben Situation unerla#licb ist,
ibre Gescbicbte und ibren Cbarakter genau kennen zu lernen,
Die Gescbicbte des Artikels 428 des Friedensvertrages und des
„Rbeinlandabkommens", das in Ubereinstimmung mit dem die
Okkupationsbestimmungen regelnden Artikel 432 gescbaffen wurde,
ist typiscb fiir den ganzen Kampf, der auf der Friedenskonferenz
zwiscben Wilsons und Lloyd Georges „Friedens -* Illusionen",
(„Peace Delusions"), wie man es heute bezeicbnet, und der „Kon~
tinentalpolitik" ausgefocbten wurde, die Herr Millerand wabrend
der letzten secbs Monate triumpbierend wieder etabliert bat. Ent~
sprecbendermaf?en erwecken aucb Cbarakter und Gescbicbte der
Okkupation selbst den Eindruck, als ob man einen Sandgrund ber-
gericbtet babe, und dai? auf diesem der gegenwartige europaiscbe
Frieden aufgericbtet sd.
Der ganze westlicb des Rbeins gelegene Teil Deutscblands
nebst insgesamt etwa 2000 Quadratmeilen auf dem Ostufer, sind
beute, unter den im „Abkommen" ni^dergelegten Bedingungen, von
alliierten Truppen okkupiert. Zeitweise Okkupation war absolut
notwendig. Diese Okkupation aber, die nun scbon langer wahrt
als die Okkupation Frankreicbs durcb Deutscbland in den Jabren 1871
bis 1872, muf? dem Friedensvertrage zufolge, mbglicberweise mit
ge wis sen Reduktionen ibrer Ausdebnung, fiinfzebn Jabre bindurcb
194
fortgesetzt werden ; und Herr Millerand ktindigte Deutscbland 1m
vergangenen April an, dai? das Datum, das als Beginn dieser
fiinfzebn Jabre anzuseben sei, solange binausgescboben werde, bis
Deutscbland alien Vertragsbestimmungen entsprochen habe. Da
einige dieser Bestimmungen gegenwartig gar nicht erfiillt werden
kbnnen, wird die Besetzungsdauer dadurcb automatiscb ins Un-
endliche verlangert.
Urn zu versteben, was das fur den Weltfrieden bedeutet,
mu(? sicb der Amerikaner ein Gebiet von der ungefabren Aus-
debnung New En glands, mit grotferer Bevolkerung als derjenigen
dieser secbs Staaten und mit einer fur Deutscbland nocb ausscblag-
gebenderen industriellen Wicbtigkeit vorstellen, als New England
fur die Vereinigten Staaten beikommt; und er mui? sicb dieses
Gebiet von 120 000 Mann feindlicber Soldaten besetzt, seine Be-
volkerung und Regierung den peinlicbsten Priifungen und Eingriffen
von Vertretern ibrer traditionellen Feinde unterworfen vorstellen.
Alle Stadte des Rbeinlandes sind iiberfullt mit Offizieren der
Alliierten, die in den scbonsten Privatbausern wobnen. Man bat
die Hauser den Eigentumern wegrequiriert ; man gestattet ibnen
fur gewobnlicb nur, einige Hinter- oder Dacbstuben ibrer friiberen
Heime zu bewobnen. Die Vertreter der Okkupationsmachte er-
lassen ortliche Regulative, die sicb bis auf den Stratfenverkebr er-
strecken, oder bis auf die Warenpreise, oder bis auf viele der
kleineren Bescbrankungen, die wahrend des Krieges aucb in
Amerika Vorscbrift waren. Jedes deutscbe Gesetz und jede
deutscbe Verordnung mul? diesen Vertretern erst unterbreitet
werden. Versagen sie ibnen ihre Zustimmung, so werden sie im
ganzen besetzten Deutscbland reebtsunwirksam.
Die Zeitungen werden zensiert, die Privatpost kann jederzeit
bescblagnabmt und die Ortsbestimmungen von Personen beliebigen
Paf?bestimmungen unterworfen werden. Das Recbt, fur die Ver-
sorgung der alliierten Heere und Bebbrden Requisitionen vor-
zunebmen, kann zu jedem Zeitpunkt den sebr knifflicben Ratio-
nierungsplan des deutscben Ernabrungsministers iiber den Haufen
werfen. Sogar die Ernennung rein ortlicber Beamter bedarf einer
Billigung und das Recbt zu summariscben Amtsentbebungen aus
Grtinden, die allein dem Gutdiinken der Kommission anbeimgestellt
sind, bedeutet eine fortgesetzte Drohung fur alle Landrate, Biirger-
meister und Prasidenten. Nocb viele andere stbrende Eingriffe in
das taglicbe Leben der Bevolkerung sind notwendige Begleiterscbei-
nungen der feindlicben Besetzung. Dies sind Zustande, wobl-
gemerkt, die unter einem Regime im besetzten Deutscbland berrscben,
dem ein ziviler Cbarakter gegeben wurde, einem Regime, das von
den gematfigten Elementen der Friedenskonferenz, gegen den beftigen
Wideritand der militariscben Gruppe, so liberal gestaltet wurde,
wie nur immer moglicb war.
195
Herr Tardieu gab in einem kttrzlicb erscbienenen Zeitscbrift-
artikel eine Darstellung des iiber diese Frage lange wabrend der
Okkupation ausgetragenen Meinungsstreites. Es zeigte, dai? Lloyd
George und Prasident Wilson ibr monatelang unerschiitterlich
AA^iderstand leisteten. Er bestatigte, daJ? diese beiden Staatsmanner
ala Kompensation fiir die Aufgabe ihrer Okkupationsplane, den
Franzosen eine besondere Defensivallianz angeboten batten. Er
entbiillte Schritt fiir Scbritt, wie Clemenceaua Beharrlicbkeit den
AkViderstand bracb, und wie er im Mai 1919 endlicb, durcb das
Zugestandnis ziviler Verwaltung, die fiinfzebnjabrige Okkupation
z\x einem Teile des Vertrages mit Deutscbland zu machen wu#te.
Ein erster Entwurf fiir das „Rbeinlandabkommen" wurde,
unter dem Einfluf? Marscball Fochs, vom Obersten Heeresrat aus~
gearbeitet, und es war das ein aul?erordentlicb brut ales Dokument
(extremely brutal). Es verfiigte, dal? wabrend der ganzen fiinfzehn
Jahre „das Kriegsrecbt mit all seinen Konsequenzen" im Rbeinland
Geltung bebalten sollte; und es legte die Kontrolle der deutscben
Polizei und die Oberleitung der Okkupation in die Hand des
franzosiscben Militarbefeblshabers.
Icb war damals bei der zeitweiligen Rbeinlandkommission
beamtet und erliel? zusammen mit Sir Harold Stuart, dem britiscben
Kommissar, einen beftigen Protest gegen diesen Plan des Obersten
Heeresrates. Es wurden mehrere Abanderungen versucbt, bei
deren Ausarbeitung ich assistierte; aber da icb micb iiberzeugte,
datf ein Plan durcb Abanderungen all ein nicbt durcbfiibrbar zu
macben sei, scbrieb icb am 27. Mai einen Brief an Prasident
^Vilson, in dem icb meine Einwande darlegte und einen Plan fiir
civile Verwaltung umrii?.
Dieser Brief scbeint den Prasidenten in einem psycbologiscben
Moment erreicbt zu baben, denn er legte ibn dem Obersten Rat
vor und erreichte dessen einmiitige Zustimmung zur Einsetzung
eines Ausacbusses, der beauftragt wurde, einen Plan auf der Basis
meiner allgemeinen Anregungen auszuai-beiten. Dieser Ausscbuf?
iibergab der Friedenskonferenz nacb einwocbiger ununterbrocbener
Tagung das JRbeinlandabkommen", das von Deutscbland und den
Alliierten, zusammen mit dem Versailler Vertrag, scblief?licb
unterschrieben •wurde. Das franzosiscbe Weii?bucb, das die Dis~
kussionen dieses Spezialkomitees entbalt, erklart in § 1 :
„Es soil eine Kommission eingesetzt werden, bestebend aus je
einem Vertreter der Vereinigten Staaten, ernannt von Prasident
^Vilson, Grotfbritanniens, ernannt von Lord Robert Cecil, Frank-
reichs, ernannt von Monsieur Loucbeur, und Italiens, ernannt von
Marquis Imperiali. Diese Kommission soil den Plan eines Ab-
kommens fiir die Besetzung der Rbeinland-Provinzen ausarbeiten,
und zwar in Ubereinstimmung mit einem Scbema (Plangerippe),
das in einem vom 27. Mai 1919 datierten Brief e des Mr. Noyes,
196
am«rikaniachen Delegierten in der Interalliierten Rheinlandkom-
mission, an President Wilson angeregt wurde.
Es enthalt auch eine Abschrift meines Briefes, den ich hier
wiedergeben will, da er meine damalige Auffassung darlegt, — eine
Auffassung, die abzuandern ich bisber keinen Grund gefunden habe.
Amerikaniscbe Kommission zur Friedensverhandlung.
An den Ebrenwerten Woodrow Wilson,
Prasidenten der Vereinigten Staaten von Amerika,
11, Place des Etats-Unis, Paris.
Paris, 27. Mai 1919.
Geebrter Herr! Nachdem ich als amerikanischer Kommissar
einen Monat im Rbeinland verbracbt babe, finde icb, dal? wir
Gefahr laufen, einen unglticksvollen Fehler zu begehen. Die von
den militariscben Vertretern des obersten Heeresrats am 11. Mai
entworfejae „Konvention" iiber die Regierung dieser Gebiete ist
meiner Uberzeugung nacb brutaler, als bei nochmaliger^ Uber-
legung sogar ibre Autoren wunschen werden, Sie stipuliert em
Jabr lang ausgeubte, unertragliche Unterdriickung von secbs MiL-
lionen Menscben.
Diese ,.Konvention" wird schwerlich obne erbeblicbe Ab~
anderungen angenommen werden. Was micb aber alarmxert, ist
die Tatsacbe, da(? keine mir zu Gesicbt gekommenen Abanderung
des Dokumentes darauf hinweist, dal? scbon seine prinzipielle
Grundlage scblecbt ist, — da/? es zu Hal? und schlietflichem Un~
gluck fiihren muR in Friedenszeiten eine feindlicbe, mit Herrscher^
gewalt ausgestattete Armee in ein em Lande zu unterbalten und
die Truppen bei der Zivilbevolkerung einzuquartieren.
Icb babe micb iiber diese Frage eingebend mit den amerika-
niscben Befeblsbabern der Okkupationsarmee besprocben, mit
Mannern, die secbs Monate lang und aus nachsterNahe die mili*-
tariscbe Okkupation beobacbten konnten. Diese Offiziere besta-
tigen die obigen Darlegungen empbatiscb, Sie sagen, daf? sicb selbst
eine von besten Absicbten erfiillte Okkupationsarmee gewisser
Ausscbreitungen scbuldig macht, und dai? die gegenseitige Verstim-
mung, ungeachtet der gegenteiligen Anstrengungen, scbnell anwachst.
Gewalt und immer nocb mebr Gewalt mui? unvermeidlicb die Ge-
scbicbte einer langwabrenden Okkupation dieser Art sein. .
Die offenbaren Ambitionen der Franzosen au(?erachtlassend,
und vielleicbt aucb gewisse politiscbe Begrenzungen vernachlassi~
gend, babe icb bierunter einen Plan skizziert, der mir als Maximum
dessen erscbeint, was nacb Friedensschlul? an militariscber Herr*-
scbaft im Rbeinland moglicb sein wird. Unsere Armeekomman-
danten, wie auch Andere, die das Problem an Ort und Stelle
studiert haben, stimmten diesem Programm zu.
197
Plangerippe.
I. So wenig Truppen wie nur immer moglich, konzentriert in
Kasernen oder reservierten Zoien, mit keinerlei Einquartierung,
ausgenommen vielleicht von Offizieren.
II. Vollkommene Selbstverwaltung des Gebietes, mit unten
spezifizierten Ausnabmen.
III. Eine Zivilkommission mit der Befugnis
a) neue Verordnungen zu erlassen oder alte zu andern, wenn
immer deutsche Gesetze und Handlungen
1. die Durchfuhrung der Friedensbedingungen bedrohen
oder
2. das Wohlbefinden oder die Sicherheit der Truppen
bedrohen,
b) die Armee zu ermachtigen, an besonders gefahrdeten Punkten
oder (wenn die Verhaltnisse das der Kommission notwendig
erscbeinen lassen) im ganzen Gebiet die Kontrolle unter
KriegsrecKt ihrerseits zu iibernebmen.
Ganz ergeben Ibr
(gez.) Pierrepont B, Noyes
Amerikanischer Delegierter in der
Interalliierten Rbeinlandkommission.
Die Verhandlungen, die zur Annabme dieses Scbemas fuhrten
sind fur jeden, der die internationale Psychologic der letzten zwei
Jahre studieren will, von besonderem Interesse. Es gehort heute
scbon der Gescbicbte an, da/? Clemenceau sich den liberalen
Okkupationsplan, den President Wilson einreichte, am 29. Mai zu
dem Zwecke zu eigen macbte, um die schlietfliche Einwilligung der
amerikanischen und englischen Delegationsfuhrer in das Prinzip
der Okkupation uberbaupt dadurch um so gewisser zu machen.
Als Beobachter den Zusammenkunften am Quai d'Orsay bei-
wohnend, war ich Zeuge der iiberaus hejftigen und zahen Feind-
seligkeit mit der Marschall Foch und seine Assistenten dem „Zivi-
listenplan" gegeniiberstanden. Wahrend der vergangenen Monate
haben fuhrende franzosische Staatsmanner und bat die franzosische
Presse die Schwache, die dem angelsachsischen Libcralismus nach-
gab, heftig beklagt. Es wird laut behauptet, dai? — da der Kom-
promil? im Hinblick auf aktive amerikaniscbe Teilnabme und auf
ein Defensivbundnis eingegangen worden sei — nun ein Riickweg
zu jener strengeren, txrsprunglicb geplanten Verwaltungsmethode
gefunden werden miisse, um durch Ausscbaltung von Eingriffen
der Hoben Interallierten Kommissionen, die ,;den franzosischen
Interessen fortgesetzt Widerstand geleistet" babe, der neuen
franzoeiaehen Politik Erfolg zu sicbern.
198
DIE SEPARATIONSBEWEGUNG UND DIE FRANZOSENf,
Nach dem Kriege war man in Frankreich und in den anderen
alliierten Landern iiberzeugt, dai? eine politische Abtrennung der
Rheinprovinz von Preutfen im Interesse des kiinftigen Friedens
liege. Von Preutfen beherrscht, hatte das Deutsche Reich die
Welt in den Krieg gestiirzt. Es schien daher wahrscheinlich, dai?
eine Machtstarkung der anderen deutschen Staaten und eine
Schwachung des preu&schen Einflusses im Reich die Ausmerzung
Hohenzollernscher Welteroberungsplane fordem wurde. Ungliick-
licherweise f undierte dies Schema politischer Neuordnung , das
auch von vielen Deutschen giinstig beurteilt wurde, in Frankreich
willkommenermai?en den radikaleren Plan eines als Pufferstaat
wirkenden, unabhangigen Rheinlands. Und in der oberen Hier-
archie des franzosischen Nationalismus und Militarismus wurde
aus der kaum verhullten Hoffnung, dai? dieser Pufferstaat unter
franzosischem Einfluf? stehen werde, der feste Entschlui?, das
Rheinland schlie(?lich iiberhaupt zu franzosischem Territorium zu
machen. Die im Rheinland wahrend einiger Okkupationsmonate
gesammelte Erfahrung und die unbegrenzteMacht einer Okkupations~
armee liel?en diesen Annektionsplan durchfiihrbar erscheinen,
Schlietflich wurden sogar gema(?igtere Geister versucht, Frankreichs
Streben nach der Rheingrenze zu billigen, Geister, die einer Politik,
mit der wahrscheinlich ein neues Elsass-Lothringen geschaffen
wurde, vorher misstrauisch gegeniibergestanden hatten.
Eine kurze Darstellung der separatistischen Komplotte, die
wahrend der letzten 18 Monate von den Franzosen im Rheinland
angezettelt worden sind, werden schliissig meine Behauptung be-
legen, dai? eine'funfzehnjahrige feindliche Besetzung sich mit Sicher-
heit als ein Fluch fiir die ganze 'Welt erweisen wird. Sie wird
auch ganz allgemein dariiber aufklaren, welche Rolle Amerika
iibernehmen mui?, wenn Europa im 20. Jahrhundert etwas anderea
als ein Pulvermagazin gefahrlicher Moglichkeiten werden «oll.
Wahrend ich im Rheinland war, wurden vier offene Ab-
trennungsversuche unternommen. Sie waren von doppelter Natur.
Drei von ihnen ahnelten im Prinzip ungefahr dem Verlangen nach
»Staatsrechten«, das unsere siidlichen Staaten wahrend der fiinf-
ziger Jahre erhoben hatten. Der vierte Versuch war auf dreiste
Sezessionen gerichtet.
Es ist besonders interessant, dai? die beiden ehrgeizigsten dieser
Versuche einen Konflikt zwischen zwei in Frankreich gegeneinander
ankampfenden politischen Richtungen enthiillten, Richtungen, die
unter der Fiihrung rivalisierender franzosischer Generale *sich gegen-
seitig auszustechen trachteten. Die am 21. Marz 1919 erfolgte
Erklarung der Pfalz zur unabhangigen neutralen Republik war ein
keckes Unterfangen des Generals Gerard, Kommandanten der
8. franzbschen Armce, seine auf Zeriplitterung Deutschlandi ab~
199
zielende extreme Politik zum Erfolg zu fUhren. Das offizielle
Frankreich wandts sich damals der bediichtigeren und subtileren
Politik des Generals Mangin, Kommandanten der franzosischen
10. Armee, zu, und man deutete zu jener Zeit an, daf? General
Gerard bereits von seiner bevorstehenden Abberufung Kenntnis
erhalten habe und dai? er diesem Zusammenbruch durch ein letztes
Wiirfelspiel zuvorkommen wolle. Jedenfalls unternahm er die
Aktion scharf und gierig und wurde kurze Zeit nach dem Fehl-
schlag seines Versuches abberufen. Seine Armee wurde dann dem
Kommando des Generals Mangin unterstellt.
Die Proklamation dieser neuen Pfalzrepublik, die vollkommen
unabhangig von Deutsohland sein sollte, wurde in der Nacht des
21. Mai offsntlich angeschlagen und am 22. erlief? General Ge'rard
ein Manifest, von dem jch eine Kopie in Handen gehabt habe.
Das Folgende ist ein Zitat aus diesem Dokument:
«Es kam zur Kenntnis des kommandierenden Generals der
franzosischen Armee, dal? die Landauer Bevblkerung infolge
ihrer freuJdschaftlichen Gefiible fiir Frankreich gewisse Be-
lastigungen durch die deutschen Behorden ertragen mui?te,
Solche Handlungen dieser Behorden stellen einen Mii?brauch
der Amtsgewalt und -befugnis dar und sind sowohl ein Bruch
' der Befehle Marschall Fochs, als auch eine inkorrekte Hand-
lung gegen das siegreiche und wohlwollende Frankreich.*
Das Manifest enthielt auch eine Erklarung, dal? der fran-
zosische Kommandeur der pfalzischen Besatzungstruppen alle Ver-
suche zur Schaffung einer mit Frankreich verbundenen Pfalzrepublik
auf jede Weise unterstutzen werde.
Wahrend der nachsten Tage fanden in Speyer, Landau und
Zweibriicken Tumulte statt. Regierungsprasident Winterstein
wurde von den Franzosen seines Amtes enthoben und des Landes
verwiesen. Andere Beamte, die sich den Separatisten widersetzt
hatten, wurden verhaftet. Diese « Revolution » war aber zu kiinstlich
und zu verfriiht, als dai? sie irgendwelche Aussicht auf Erfolg
hatte haben konnen. Sie konnte nicht mit dem maf?volleren und
sorgfaltiger iiberlegten Unternehmen zur Grundung einer groi?eren
Rheinlandrepublik innerhalb des Deutschen Reiches konkurrieren,
die sich zur selben Zeit unter Fiihrung des Dr. Dorten und des
Generals Mangin entwickelte.
Diese letztere Bewegung fiir gewohnlich als „Dorten-Rebellion"
bezeichnet, -war in territorialer Beziehung ehrgeiziger als alle
anderen. In die neue Republik sollte nicht nur die Rhein-
provinz einbezogen werden , sondern man hoffte, auch den
gro(?ten Teil Hessen-Nassaus, Hessens, der bayrischen Pfalz und
der reichen rechtsreinischen Provinz Westfalen, in der die grol?en
Industrieen Essens und die Ruhrkohlengruben liegen, gewinnen zu
konnen. Endgiiltige Plane fiir diese Revolution wurden in einer
zu Mainz abgehaltenen Konferenz festgelegt, der General Mangin,
200
der franzosische Kommandant, Dr. Dorten, ein Herr Kuckhoff
aus Koln, der Redakteur Froberger und verschiedene andere
Deutsche beiwohnten.
Am 22. Mai, morgens gegen 2 Uhr, kam ein franzosischer
Oberstleutnant vom Hauptquartier des Generals Mangin in Koblenz
an. Es gelang ihm, den amerikaniscnen Stabscbef telefonisch zu
erreichen. Er drang auf ein sofortiges Interview mit dem ameri-
kanischen kommandierenden General und hatte es aui?erordentlich
eilig. Die Konferenz wurde aber bis zum Morgen verschoben
und in dieser Konferenz informierte der franzosische Offizier die
Amerikaner, dai? am Samstag den 24. eine Republik mit Koblenz
als Hauptstadt proklamiert werden wurde. Er teilte die Namen
der Herren mit, die das Kabinett bilden sollten und erklarte, da/?
bereits 50 Beamte der neuen Verwaltung sicb auf dem Wege
nacb Koblenz befanden, urn die Regierung zu organisieren. Der
neue Staat solle fur den Augenblick Glied des Deutschen Reicbes
bleiben, werde aber spater vollkommen unabhangig gemacbt werden.
Er erklarte, dai? er von General Mangin abgesandt worden sei,
um zur Forderung dieser Bewegung die Hilfe des amerikaniscnen
Generals zu erbitten.
Unser kommandierender General erwiderte, dal? die Okku-
pation den Bedingungen des Waffenstillstandes unterliege, dai? eine
ehrenbafte Durchfuhrung dieser Bedingungen den Okkupations-
behorden nicbt gestatte, revolutionare Bewegungen anzuerkennen,
dal? dies die Politik aller Alliierten gewesen sei und dai? jedenfalls
seine vom General Pershing stammenden Instruktionen keinen
Zweifel gestatteten. Er lehnte es hoflich ab, die Durchfuhrung
des auf Koblenz beziiglichen Programmteiles auf irgendwelchem
Wege zu gestatten.
Wir fanden, dai? die Koblenzer franzosische Mission tatsachlich
50 Quartierzettel fiir die Dorten-Beamten ausgefertigt hatte und
es kam heraus, dai? Wagenladungen von Proklamationen gedruckt
worden waren und zur Verteilung bereitlagen.
Da seine vermeintliche ^Hauptstadt" somit in den Handen
des Oberprasidenten und der Beamten des alten Regimes blieb
und da die verbotene amerikanische Zone wie ein Keil zwischen
Mainz und den reichen Nordprovinzen lag, blieb die Morten-
Revolution" fiir eine "Woche in der Schwebe. Die Verschworung
war aber schon zuweit gediehen , als dai? man sie hatte bremsen
konnen. Am 1. Juli wurde die Republik endgiiltig erklart; Pro-
klamationen wurden im ganzen besetzten Gebiet mit alleiniger
Ausnahme der amerikanischen Zone angeschlagen. Wiesbaden
wurde als zeitweilige Hauptstadt verkiindet; Dr. Dorten ernannte
sich selbst zum Chef der provisorischen Regierung und appellierte
an die Friedenskonferenz in Paris, den neuen Staat anzuerkennen
und die Urheber der Bewegung vor Bestrafung wegen Hochverrats
zu schutzen.
201
Beweise dafiir, datf die ^Revolution" von der Oirentlicbkeit
nicbt unterstiitzt werde, begannen sich aus alien Ricbtungen ein-
zustellen. Nocb vor dem 1. Juni waren die Revolutionsabsichten
durcbgesickert ; scbon damals wurden von der Bevolkerung ver-
schiedener Stadte Streiks und andere Protestdemonstrationen
organisiert. Als das Dorten-Kabinett angekundigt wurde, st elite
sich heraus, dal? die Liste eine ganz andere war als diejenige, die
in den friihen Morgenstunden des 22. Mai nacb Koblenz gebracht
worden war. Kein einziges prominentes Mitglied der Zentrums-
partei, der ein grower Brucbteil der Rbeinlander angehort, befand
sicb in dem neuen Kabinett. In vielen Stadten ward die Pro-
klamation von den Ein wo ba era abgeriasen. Am 3. Juni erschien
in den deutschen Zsitungen eine Cegenproklamation; sie beklagte
bitter „die Zwietracht, die sicb in dieser scbwersten Stunde der
deutscben Republik in den Reiben der Rbeinlander selbst gezeigt
hat"; und sie war unterzeichnet von den rheinlandischen Ver-
tretern sechs grower nationaler Parteien, gefiibrt vom Zentrum.
Am 4. Juni wurde Dorten aus den Regierungsgebauden in
Wiesbaden weg„eskortiert*" ; die anderen Minister wurden hinaus-
geworfen und von der draul?en wartenden Bevolkerung sebr un-
sanft bebandelt. Dies war das praktiscbe Ende der ,.ersten Dorten-
Rebellion'". Sic batte niemals Aussicbt auf Erfolg, es sei denn
durcb den Riickhalt der alliierten Bajonette.
Der Feblscblag der dem General Mangin anvertrauten Politik
und die Notwendigkeit eines neuen Verhaltens, das die Befurcb-
tungen der deutscben Bevolkerung zerstreuen konnte, wurde so
offensichtlich, dal? General Mangin kurz darauf abberufen wurde ;
das Komraando uber die franzosischen Okkupationstruppen erbielt
General Degoutte, ein Mann, der jedem Amerikaner, mit dem er
zu tun bat, Vertrauen ein£Lol?t. Es ist bezeichnend, dal? spaterhin,
wabrend der durcb die Besetzung Frankfurts erweckten Periode
des Enthusiasmus, die Pariser Journalisten darauf drangen, General
Mangin solle General Degoutte in Mainz wieder ersetzen, Einige
Blatter verofifentlichten sogar Geriichte, dal? die Regierung sicb
bereits entscblossen babe, diesen Wechsel vorzunebmen.
Dr. Dorten konspiriert nocb immer und wurde vor amtlicber
und nichtamtlicber Verfolgung wiederholt geschutzt. Er kann
seine Zeit abwarten, denn die franzosiscben Truppen werden dem
Vertrag zufolge mindestens 15 Jabre lang im Rbeinland bleiben
und Herr Millerand bat Frankreicbs Unabbangigkeit von der angel-
sachsischen Politik deklariert. Das Verlangen nacb Besetzung des
Rubrgebiets (das durcb Lloyd George's auf die Invasion Frank-
furts beziiglicbe Note vom letzten April vorubergebend zuriick-
gewiesen worden war) wird in Frankreicb immer lauter und
lauter erhoben.
Keine Macbt aul?er den Vereinigten Staaten kann den bereit*
begonnenen Marscb der Ereignisse aufbalten.
202
emil strauss MEINE VERTEIDIGUNGSREDE
Atw dem Gefangnia sendet mir Emil Strauff die Verteidigungarede, die
er vor den Geachworencn gehalten tat. Sie acheint mir aua soaaologiacKen
und paychologiachen Grunden bemerkenflwert genug, urn so verofientlicht
:aai werden, wie der Verurteilte sie eraonnen und gehalten, auch ein Gedicht,
-daa Straul? beigelegt nat, scheint mir durchaua veroffentlicnungswurdig :
SCHACHERBITTE
Du ewiger Rickter, den clie Pnester maien,
Gereckt und gnadig aem, der an Dick glaubt :
Auf mein verrucktes, sckuldkeladnes Haupt
Entleere restlos Denies Zornes Sckalen !
Strat kier und dort mick mit der Holle Qualen !
Tlorrnung und Trost kleibt ewig mir geraubt!
Nur eine Bitte, Eine sei erlaukt:
Erbarmungsreick laK Deine Gnade straklen
Aur ■ — ack! mein Oprer, dieses teure Wesen,
Das kier erduldet Sckmack und Pein und Grauen,
Nur, well es aknungslos und voll V ertrauen,
Mick, den V errekmten, zum Gespons erlesen.
Rein ist lkr Herz, und sckuldlos mre Seele:
Dal? sie mien liebte, lkre emzige Fekle!
Meine Herren Rickter und Gesckworenen ! Es soil kier nack
Reckt und Gerecktigkeit uber Tod und Leken eines Menscken ent-
«ckieden werden.
Da ist es wokl ganz selkstverstandkck, daf? man sick nickt nur
<eingekend mit der Sacke des Angeklagten, sondern zumindest ekenso ein—
^ekend auck mit seiner Person d. k. mit den ausscklaggekenden Momenten
seines Vorlekens besckaftigt; dies umsomekr, als es sick kier kei der
Person des Hauptangeklagten — also bei mir — um einen Menscken
kandelt, der seit Jakren kei der offentkeken Meinung in dem Geruckt
fltekt, scklecktweg der gefakrlickste Sckwerverkrecker Grof?~Berlins zu sein.
Diese, 1m wakrsten Sinne des AVortes traurige Berukmtkeit yer-
danke lck aker keineswegs mir selkst oder meinen Taten, sondern einzig
und allein der Gesckaftstucktigkeit gewisser Sensationsartikelfakrikanten,
Leu ten, die nun einmal nickt anders konnen, als aus der Haut selbst
-der Unglucklicksten ikrer Mitmenscken nock Riemen fur sick zu sckneiden.
Ick kake diesen falscken Nimbus eines ,,Ein- und Auskreckerkonigs",
•mit dem geistesarme Zeilenjager mick umgeben kaken, aker bereits zu
teuer bezaklen mussen, um diese Art von kostspieliger Glorifizierung
tmeiner Person nock langer rukig kinzunekmen und so sckKetfKck Gefabr
203
zu laufen, nickt etwa der okjektiven Wurdigung bewiesener Tatsachen^
sondern der suggestiven Mackt der Druckersckwarze zu erliegen.
Die Leute, Ale mien nur aus den tendenzios gesckminkten sensationell
autgedonnerten Hoklspiegelkildern der „ckromque scandaleuse kennen,
xnussen mick geradezu fur den Abscnaum des Absckaums der Mensck—
keit halten und alle meine rlandlungen fur solcke Unika an Gemem-*
gerakrlichkeit, wie sie eben nur die „Firma Gebr. StrauK zu keiern
vermag. Alle diejemgen Personen dagegen, welch e mick personnch etwas
genauer kennen, kaben woklkegriindeter \Veise eine ganz andere, erne
entscbieden kessere Meinung von mir.
Und um aucn Iknen, meine rierren, die sie keute bier uber muck
zu Gerickt sitzen so 11 en, die errorderlicken Unterlagen zu bieten zur
Bildung ernes gereckteren Urteils uber meine Person, als es sick aur
Grund jener, im Nick- Carter- Stile iabrizierter Elaborate bilden lai?t v
will lck versucben, Iknen so eine Art curruculum vitae von mir zu geben.
Zu dies em Zweck bitte lck Sie, mick nur nock emige Mmuten
lang rukig anzukoren. Denn das, woraur es kier kauptsackkek ankommt,
wes mem em ganzen biskeriges. Leben die Ricktung gegeben kat, das laist:
sick wirkuck mcnt, wie man so zu sagen prlegt, in einer Nuusckale darbieten..
Mit einigen, bloK andeutenden Koklestncken laiit sick solck einem Lebens—
bilde weder Form nock Ink alt nock Farbe verleiben. AA'ollte lck
andererseits aber das ganze krasse Elend memer Kmdkeit und Jugend—
zeit in ausTukrlickerer Weise wakrkeitsgetreu sckildern, so wurde lck
kockstwakrsckeinlick bei Iknen in den V erdackt geraten, anstatt Portrat—
malerei — Stimmungsmalerei zu treiben. , Desbalb sckeint mir die goldene
Mittelstraf?e des reckten Mawkaltens nack beiden Seiten kin kier der
elnzig ricktige Weg, das mir vorsckwebende Ziel zu erreicken. — ^Vas
katte es denn sckliel/lick auck xur einen Zweck, wenn lck keispielsweise
in Bezug auf meinen Bildungsgang Iknen einrack die nackte Xatsacke
mitteilte, dal? lck 8 Jakre lang die volkssckule besuckt kake? Damit
-ware so gut wie nickts gesagt. Der Begrirr „ V olkssckulkildung ist
trotz seiner sckeinbaren Begrenztkeit dock ein reckt deknbarer und seine
ricktige Werteinsckatzung durckaus abkangig von der genaueren Kennt-
nis der kesonderen Lebensumstande und Lebensbedmgungen innerer und-
autferer Art, unter denen der gebotene Bildungsstorr geistig aufgenommen
und verarbeitet worden ist.
Es ist dock unbestreitbar ein gewaltiger Untersckied, ob von zwei
sonst gleickbegabten, gleicblernbegierigen Scbulern der Eine das wokl~
geprlegte, sorgsam gekutete Kind gesunder, geistig wie sittkek kocksteken-
der, in geordneten Verkaltmssen lebender Eltern ist; em Kind, das da-
keim und in der Sckule alle seine lkm von der Natur verKekenen Gaken
und Fakigkeiten nack jeder Ricktung kin unbekmdert entialten und zur:
204
ackonsten, kocksten Blute entwickeln tann: — der andere Sckuler da-
-gegen, der an Leik und Seele unterernakrte, erblicn vielleickt scnwer-
kelastete SproiiliDg emeu Saufers ist; so em erkarmungswurdiges Geschopf,
das, am fruken Morgen sckon vom Zeitungstragen akgeketzt, nun unge-
wascken, kungrig und zerlumpt zur Sckule eilt, dort vor brsckopfung
dem Unterrickt selten mit der notigen Aufmerksamkeit zu folgen ver-
mag und mfolgedessen in der Entwickelung sein Geistes- und Getnuts-
leken auf das Sckwerste keeintracktigt, in der Ausbildung seiner natur-
licken Gaken und Fakigkeiten auf das Starkste gekemmt und kekmdert
wird. Dai? das Niveau Aes Bildungsstandes dieser Leiden Typen von
Sckulern am Ende ikrer Sckulzeit ein von einander sekr versckie denes
sein mul?, wird wokl memand kezweifeln.
Ick kake von meinem 7. Lekensjakre an tagtagkck in aller Herr-
gottsfruke kmausgenui{?t, um memer vielgeplagten Mutter keim Zeitungs—
tragen zu kelfen. Vom 10. Jakre an hatte ick dann auferdem nock
des Nackmittags erne Stelle als Laufjunge, von der ick des Abends meist
totmude nack Hause kam, um dann nock das Xagespensum meiner Sckul-
aufgaken zu erledlgen.
Die Sckuld an diesen unsagkar traurigen, total zerrutteten Faimlieri-
verkaltmssen, die mick zu so unnaturlick frukzeitigem Broterwerk
zwangen, trifft in erster Lime memen V ater. Dieser, von Beruf Stuken-
maler und keute ein nuckterner, solider Greis vbn 70 Jakren, ist in
aeinem mittleren Lekensalter ein notoriscker Trinker gewesen. der seine
zaklreicke Familie zeitweise in Not und Elend fast verkommen Ke£
Meine Mutter dagegen -war eine kreuzkrave, fleil?ige, unendKck liekevolle,
gute Frau, die sick vom frukesten Morgen kis spat in die Nackt kinein
nickt Rast nock Ruke gonnte, um Brot zu sckaffen fur die ewig kung-
rigen Scknakel ikrer zaklreicken Strau#enkrut, und deren ganzes 20jakriges
Ekeleken ein emziges, fast ununterkrockenes Martynum von so tiefer
Seelenqual darstellt, wie man es selkst seinem argsten Widersacker
nickt wunsckt. —
Als ick etwa 10 Jakre zaklte, triek es mem V ater gerade wieder
besonders arg. \Vir Kinder samt unserer Mutter katten sckon mekrere
Tage lang fast so gut wie nickts gegessen und waren mfolgedessen kuck-
s tab lick dem V erkungern nake. In dieser kocksten Not nakm meine
Mutter einige Mark von dem kassierten Zeitungsgelde, um dafur Speise
-und Trank zu kesckaffen und unseren wvitenden Hunger zu stillen.
Als sie den aufgewendeten Betrag dann nickt recktzeitig wieder kerkei-
jzusckaffen vermochte, griff sie, dieses hoffnungslosen, } amine rvollen Daseins
mude, in ikrer tiefsten Verzweiflung zum Strick und — erkangte sick. —
Wir woknten damals — 1897 — in Weitfensee. Auf Kosten
der Gememde wurden wir Kinder nun einzeln zu fremden Leuten in
205
Pflege gegeben, wobei ick das Ungluck katte, sozusagen aus einem Woiken—
truck m die nock arger stromende Traufe zu geraten. Meine Pflege-
mutter nam lick war erne nut zwar reckt engem Herzen, dafur aker mifc
desto weiterem Gewissen begabte Frau, die sick recnt und schleckt da—
aurck ernakrte, dai? sie einzelnen Zo gun gen des Magdalen en -St if tea m
Wcii?ensee gelegentkck zur Fluckt vcrkalf und iknen kei ikr bekanntea.
Kupplerinnen Unterscklupf und eomit Gelegenkeit zu einem „gewissen""
Gelderwerb versckaffte, von dem sie dann mre Tantieme kezog. Der-
Mann dieser Frau war ein in einer Molkerei kesckaftigter, mit Respekt
zu sagen: versoffener Kukkneckt, der, da er kei seinem Brotkerrn voile*
rvost erkielt, nur zum Scklafen und zum — Krakeklen nack Hausc
kam, sonst aker urn mckts und Niemand sick kummerte. JDie erwack—
flene einzige X ockter dieses edlen Elternpaares war eine „keimlicke , d. k*
mckt unter sittenpolizeikcker Kontrolle stekende, Stratfendirne.
In dieser ukeraus ekrenwerten Famike nun fand ick Aufnakme uni
wurde dort von den kei den Frauen system atisck zum Steklen angeleitet..
Eine Speziak'tat der kei den „Damen" war es, ^ie ^Veii?enseer Friedkofer
keimzusucken und dort die auf den Grakern niedergelegten ^Vacksrosen.
zu r auk en, die dann in einer Kranzkinderei, wo ick seinerzeit als Lauf~
]unge angestellt -war, weiterverkauft wurden. Bei einem dieser Kirck*-
kofskesucke zwangen die kei den Megaren mick, ein auf einem Kinder—
grake stekendes Weiknacktskaumcken, das mit niedlicken Glassackea
allerliekst ausgesckmuckt war, kis auf das letzte Stuck zu plundern. —
Welcke verkeerende Wirkung diese fast taglicken Vorkommnisse-
auf mein empfanglickes Kindergemut, auf mein moralisckes £mpfinden v
ukerhaupt auf mein garizes Innenleken ausuken mul?ten, kann ein Jeder-
sick -wokl denken. Andeutungsweise will ick nur nock nekenbei ^be~-
merken, dai? meine 20 Jakre alte Pf leges ckwester mick lljakrigen Jungea
auck auf sexuellem Gekiet tkeoretisck und praktisck auf das Grund—
lickste aufgeklart kat. — — —
Ungefakr 2 Jakre nack dem fur uns Kinder so verkangnisvollea
lode unserer guten Mutter keiratete mein V ater zum 2. Male und wir
jungeren Gesckwister erkielten nun eine Stiefmuttcr, die zwar wedeir
Lesen nock Sckreiken konnte, dafur aker lm Lugen und Steklen una
Sckuldenmacnen ganz Erklecklickes leistete. Dieser Frau nun, einer-
wakren Perle von Stiefmutter, kliek es vorkekalten, memer kereits e<y
weit gediekenen Jugend-„Erziekung v * den fimsking touck — wie der
Englander sagt — , den letzten Sckliff zu geken.
Sie unterzog sick dieser Aufgabe mit edler Selkstverleugnung :
Durck einen unglauklick niedertracktigen Streick brackte sie es
fertig, dai? ick unsckuldigerweise in den Verdackt genet* von einer mir-
206
anvertrauten Geldsuir.me 20 Mark unterscklagen zu taken. Die Folge
davon war, datf icL nicLt njr eckimpflick aus meiner Stellung fortgejagt,
eondern auck okendrein nock von meinem eigenen V ater verstoisen wurac.
Arteits-, mittel- und obdacklos lag ick nun auf der Stral?e; ein
Junge von 15 Jakren, mir seltst unci meinem Sckicksal ukerlassen!
Dal? die Gedanken und Gefukle, die mick damals durektocten, denen
ones „K.arl Moor* verzweifelt aknkck waren, wird ein jeder Menechen-
kenner wokl begreifen. Tateacklitk Late ick in der Folge dann auch
raonatelang em wakres Rauber- und Zigeunerleben gefukrt; kis end lick
die Sekneuckt, wieder einmal unter Dack und Facn und in geordnete
Verlaltnisse zxn kemmen, micL vcranlatfte, als Kneclt auf vorlaufig ein
Jakr lang zu ein em Bauer in Dienst zu get en.
Ick erkielt dort 25 Taler Jakreslokn. Die M korrende fc " Summe
reickte mckt einmal zur Erganzung meiner volkg akgerissenen Garderoke,
und aus diesem Grunde kekrte ick nack Aklauf meines Dienstjakres
nack der Grotfstadt zuruck.
In den folgenden 2wei Jakren war ick dann in Berkn kier und
da einige Monate lang als Gelegenkeitearbeiter in Fakriken besckaftigt;
kis ick 1905 — eei es durck Zufall, sei es durcn Sckicksalsfugung —
einen Scklosser kennen lernte, der auf dem Gekiete des EinkruckcKek-
etakls bereits praktiscke Erfakrungen gesammelt katte. Dieeem verkand
ick mick nun zu „lobkckem Tun, und er reickte dadurck, dais ick in
ungeaknt kurzer Zeit kinter Scklou und Riegel sa£{
Das war sozusagen der Anfang vom Ende! Denn nun folgte eine
langjaknge Freikeitsstrafe der anderen fast unroittelbar auf dem Fu#e,
sodali ick von den letztverflossenen 15 Jakren keinake 14 Jakre (!) im
Gefangms und Zucktkaus zugekrackt, und zwar, was ick doppelt und
dreifack unterstreicken will, ausscklieukck in strengster Einzelkaft zuge~
trackt kake. Freilick, -was das Letztere kesagen will, wird nur Der-
jenige voll und ganz versteken, der einmal an sick selbst verspurt kat,
welcke lakmende AA^irkung die jakrelange Freikeitsentziekung auf einen
Menscken auszuuken vermag. In dieser Beziekung mockte ick ^ie Frei-
keitsstrafe vergleicken mit emem starken Narkotikum, wie etwa Opium,
Kokain oder Morpkium. Von einem sackverstandigen Arzte nack ge-
wissenkafter .Diagnose nur im autfersten Falle und auck dann nur in
vorsicktig kemessener Dosis verakreickt, ist es eine keilsame Medizin, ein
wirksam vorkeugendes Sckutzmittel, ein Segen fur die Mensckkeit; —
zum sckwersten Flucke aker wird es, wenn allzu freigekige und unter-
ackiedslose Verordnung des Giftes zur Gewoknung an dasselke fukrt,
wenn Aie Gewoknkeit zum Laster wird und das Laster sckkeflick in
eine Volksseucke ausartet. Der so entstekende Sckaden ist unukersek-
207
bar. Die korperlicken, geistigen unci seekscken Kraft e und Fakigkeiten
der Verseuckten werden durck das Gift gelakmt, lkre Kampfkraft urns
Das ein wird in erkekkckem Mal?e gesckwackt, und aie weitere natur-
licke Folge? Von Stufe zu Stufe! Das traurige Los fast aller Derer,
die nut dem Kerker einmal nakere Bekanntsckaft gemackt. Tausend-
und akertausendfacke Erfakrung kestatiyt die vernicktende Wakrkeit
meiner Worte. — —
Ick weii? und tck rukle es, dais es ein volug frucktloses Bemuken
ware, Iknen sckildern zu wollen, wie oft und' wie ernstkck ick ver-
sucnt kake, zu emem geordneten, ekroaren Leken zuruckzukekren ; —
sckildern zu wollen, woran und warum alle diese V ersucke so klaglicn
gesckeitert sind. „Wenn Ikrs nickt fuklt, Ikr werdets nie er]agen !
— Dergleicken komplizierte psyckopatkiscke V organge und Drsckemungen
exnem Dntten erklaren zu sollen, das kieKe furwakr, einem Bund-
geborenen das Farkenspiel des Regenkogens besckreiben. Wer einmal
so tief in den Sumpf kmemgestoiien worden ist, der vermag es eben
nickt wie Munckkausen an seinetn Sckopfe, aus eigener K.raft sick wieder
kmauszuzieken. Erne rettende, kelfende, stutzende Bruderkand ist rair
kisker nock von kemer Sette gereicnt worden; am allerwemgsten aber
von jener Seite, auf der stets am lautesten uber die V erderbtkeit der
Menscken geklagt wird.
Und dock — wer weiK? Vieileickt, daw auck mir nock einmal
m meinem Leben ein Mensck kegegnet von dem Geistesgeprage und der
Gesinnungsart jenes Sankt Jokannes, den Herder in seinem tiefempfundenen,
ergreifendsckonen Gedickt: „Der gerettete JungUng" — verewigt kat.
Hoffnung lal?t ja kekanntkck nickt zusckanden werden. Es kofft der
Mensck, solang er lebt. Ick aker koffe, nem, ick weil?, dal? m diesen
Tagen unter das kier aufgescklagene Blatt meines Lekensbuckes durck-
aus nock keui ^Finis", sondern ganz bestimmt zu setzen sem wird ein
„Vice versa ^ ! ! !
Hiermit lege ick Pinsel und Palette bis auf weiteres aus der Hand;
denn die Studie meines Lebensbildes ist vollendet. Sie ist mit ungeubter
Hand entworfen; aber bis ins Kleinste kinein erfiillt von dem Heikgen
Geiste strengster Wakrkaftigkeit. Und einzig und allein- aus cUesem
Grunde glaube ick, dai? kein fuklender Mensck — er sei mir personkck
wokl- oder ukelgesinnt — das Bild aufmerksam ketrackten kann, okne
in der tiefsten Tiefe seiner Seele ersckuttert zu werden, dal? er die
Hand mit dem Steine, die er vieileickt sckon, zum Wurfe bereit, er-
koben kat, tiefbesckamt wieder sinken lal?t und er m der Stille seines
Herzenskammerleins sick einmal fragt, von welcker Seite kier wokl am
sckwersten gesundigt worden ist, von dem Angeklagten wider die Gesell-
sckaft oder — umgekekrt!?!
208
<carl hauptmann DAS WORT IN DEN NEUEN
HAUSERN DES SCHWEIGENS
Hier veroffentliche ich die letzte Arbeit, die mir der krankc Dichter-
Denker geschiekt hat. Sie war angeregt durch die nach der Revolution
erstarkte Stromung, die zu interkonfessionellen Gotteshausern
fuhrea will. Auch der scKon vom Tode gestreifte Dichter hat sich als
Freireligioser gefiihlt.
Erquickend die AuSsickt, einmal in unserer Vater Lande Bauwerke
ragen zu Seken, gekaut, die Feindsckaft unter den Bekennern kokerer
Bestimmungen auszuloscken, Und die Bekenner eines kokeren Menscken-
tums in Emigkeit zu sammeln, gegenuker den erstarrten und veriallenen
Sonderungen,
v,Auck die, welcke Gotzenkilder anketen, keten mick an!" sagte
sckon der kockste indiscke Gott,
Durck alle Bekenntmsse der Menscken gekt lmraer aerselke Grund-
kunger.
Und was soil m den neuen Hausern das Wort kedeuten?
Z/unackst nicnts,
Der -Markt und das Gedrange der Seelen urn die Zwecke des
1 ages und der iNotdurit, die lauten, larmenden Forderungen des Staates
und der Gesellsckart ketzen den Menscken mit Worten wund und ke-
tauken sein Okr.
Wir smd umklammert von Schrift und Rede.
Wir geken an den Leitstricken der Worte alle unsere Wege des
Herkommens,
Wir kraucken Statten des Sckweigens,
Der Mensck mu^ lrgendwo in sick selker einsinken, sckweigend
sick selker einmal koren,
Entrkeken dem Wortlarm einmal in stille Stunden, der ofient-
licken, lkn mit \Vorten umtosenden, einklammernden, ikn in alle
Sckicktungen und Ricktungcn ewig mitreii?enden, sozialen Verkettung.
„Hauser des Sckweigens!"
Wie das Erkakene, das vom sckweigenden Sternenkimmel nacktlick
wie Musik tierster Beireiung zum Sckauen keraktropft, wie Balsam in
die von Zweck und Willen geketzten und verwundeten Notdurfts-
menscken, so sollen in diesen Bauten vorerst nur He Steine reden.
Die Mauern und Wande.
Der gewaltige Aufkau.
Die Erkakenkeit der akgesckiedenen Raume.
209.
Der Wortlarm der zwecksucktig kampfenden Mensckkeit soli
drauKen Legen. Vergessen und fern.
„rlaueer des SckweigensF in dencn der Mensck einmal mit sick
und seiner Seknsuckt allein sei.
*
Jakrkunderte ragten Katkedralen, Dome und Tempel.
AVer, der nickt in gewaltige Erscnutterung, in andacktigen Traum.
einsank in dem tiefen Sckweigen.
Und der sick nickt oft gefragt kat, welcke Mensckenworte wurdig.
war en, in solck erkakenen Raumen zu red en.
Der Baumeister kewegte aus erkabener Sckau das inn erst e An-
ketungswesen und Andacktswesen des Menscken.
Aker wenn die kestallten Gottesgelekrten auf ikre Kanzeln traten*
redeten sie sckwacke, nerkommucne, kleme Dogmen und Lekrsatze aus
aurftiger, epintisierender, rick tender Intelligenz.
Dinge, die alltaglick und lekrkaft und form elk art wurden und ver—
Uangen.
Sie spracken als Staatsdiener.
Eingepferckt wie jeder kezaklte Beamte in <3le Lokpreisung
nerrsckender Zustande.
Feige dem lrdiscken Kolol? zufalLger Gewalten kingegeken.
Nickt frei mflammiert fur die kockste Aknung der Mensck-*
kestimmung.
ricimlick und of fen dem V orteil, den kundert Feindsckaften von
Parteien und Volkern, dem Reckten und Rick ten und Markten im
Geist versklavt.
Zum Zweckdienen wurde der Mensck ewig mit AA^orten kelekrt*
Wurde lkm sein Wille zwangkaft gekogen.
Formeln, Dogmen, Starres: das ^var das Ergeknis wacksenden
Verfalles.
Unsere Religionen verfielen.
Sind langst zur erstarrten InteUigenzgrimasse geworden.
Zu spin tisier end er Lekre und Leere, die man mit gewoknten
AV orten und autontativer Macktgekarde kinauspredigt.
Auck unsere Spracke ist formelkaft . Dogmatisck . Starr , In
spintisierender KleinKckkeit fur den Alltag verflackt.
Es ist von den Kanzeln und vor des unkekannten Gottes Angesickt
iv eolckem Smne nur ewig geredet worden,
210
Verwakre der Himmel die neuen Hauser des Sckweigens vor-
solcker Rede.
*
Der Wunsck wird durck Flammen. und Feuer der Kunst auf
zaklreicken Sinnenwegen ergraken und emporgefukrt.
AVas er ansckaut, und wie er kinauf und kinaussckaut, wird seuv
wakrer Besitz, wird sein AA^esen.
Nickt im Zwang seines Willens und seiner annen Zielstrekigkat,.,
in dem vollen Gefukl und aus seiner Seelenfreikeit keraus, muK seine
Kraft sick erkeken aus seiner Rauktierkeit.
Lekren, Maknen, Reden ist mckts.
„Hauser des Sckweigens!"*
A^enn A^/orte, dann AA^orte als Lied gesungen.
A^orte in tonendem Weckselspiel.
Worte als ' kegeisternde Texte der Dicktkunst, die der Musik:
innig vermaklt sind.
Vor den Toren der Hauser des Sckweigens latft alle Formeln,
Dogmen, alles in Notdurft und Zweck und Vorteil und Feindsckaft
Erstarrte zuruck.
Keine Worte!.
Musik!
Aker freikck: ufcerall und in jedem von uns regt sick in der
stillen Stunde das tiefe Verlangen* einer gutigen Mackt uker den.
Mensckenkauptern sick anzunakern.
Aus dexn Ckaos der Mensckennot in eine kokere Klarkeit sick
zu retten*
In die Vision einer kelleren Zukunft des mensckKcken Lekens wie
in eine Erlosung vom Ukel kinemzuwacksen.
Und in manckem, dem das Meer der Gieren tiefer sckauend sick
volkg auftut, das keute nock Mensckkeit keitft, wird auck die Vision
der Erlosung vom Ukel in w/orte stromen und in AVorten vor Andern
leikkaftig werden.
Soweit, und nur soweit soil auck in den Hausern des Sckweigens
geredet, der Mensck in den Hausern des Sckweigens kegeisterter Rufer
werden.
+
Was soil er reden?
AA^ie soil er reden?
211
Allein von dem em ze In en Menscken gent die bestimmende Kraft aus.
Allein von der X lere seines Erleknis gran des gent der Licktgrad aus
und das Maf? seines Dunkels.
Es darr kein Feiger reden.
Ivein Nackbeter.
ICeiner* der Demut kat vor den lrdiscken, angemauten Gewalten.
ICeiner, dem tausend V orteile, Ekren, Wurden, Zwecke mekr
Freund sind, als seine letzte, unersckrockene W akrkeitskestimmung und
Mensckbestimmung.
rvein kestallter Beamter des Staates.
Die Mauern der neuen Hauser des Sckweigens wollen nur all—
rucksiektsloses Bekenntms zum Mensckentum koren.
Und es werden lm Lauie der Mensckenzukunrt auck Seker wieaer—
kommen wie die unzakkgen Buddkas.
Es werden Menscken wiederkomtnen, denen der Ausklick in kokeres
Menscktura aus dem innersten Eigendunkel aufquillt zu Musik der ^Vorte
aut den eigenen Lippen.
Lal?t xn den rlausern des Sckweigens me Sckwatzer, Banausen, die
Ewig-Alltaglicjien reden.
La fit Leute reden, selten und einmal, die ikre Gesickte kinmalen
wie Bilder aus der Hoke, dal? sie sick den Mauern und Wanden und
der Erkakenkeit tiersckweigender Raume als etwas Verwandtes und Er~
kabenes zugesellen.
Lalit die \V o r t e ausgestreckt sein wie Arme, die die Menscke n
noker ins Lickte zieken.
Aber: wenn sick der Seker und Bekenner nickt findet, dann
„Hauser des Sckweigens^'.
Nickt : weder V orlesen nock Predigen !
Die ICatkedralen, Dome und Temp el kat man durck Predigen urn
lkren tiersten Sinn betrogen.
M rlauser des Sckweigens !*
Erkaken wie eine sckweigende Sternennackt.
Balsam m die von Zweck und Wilien und Worten geketzten und
verwundeten Notduritsmenscken !
212
WILHELM SCHMIDTBONN DAS GEOFFNETE HEMD
EINEM KAUKASISCHEN MARCHEN NACHERZAHLT
Drei Konigssokne korten, dal? em lerner Konig eine Tockter von
nie gesekener Sckonkeit katte. Diese Tockter wollte aker nur den
Mann keiraten, der vorker im Zweikampf uker sie Sieger wurde.
Der alteste kescklotf, sick gleick auf den ^A^eg zu macken und die
Werkung aufzunekmen. Er zog sein sckonstes Gewand an, Lei? sem
edelstes Rol? vcrfukren, nakm Aksckied von Vater, Mutter und Brudern
und ritt davon.
Lange, lange mutfte er reiten. Durck weite Taler mufie er, uker
kesckneite Gekirge, durck Steppen und Sturme.
Bis er auf emer ^7iese einen uralten Mann trar, der nut Kork
und Stab dakerkam. Der Alte bliek stekn, kok die Hand an die
Augen, sak zu dem Konigssonn aux und iragte: „\A/omn. der Weg?
Der Komgssokn erzaklte lkm ireundlick alles.
„\Vas ist dir Leker? iragte der Alte, „das Madcken oder der
Rat ernes alten Mannes?
,,Das Madcken, lackte der Junglmg und ritt davon.
,,Gott mit dir*\ nef der Alte lkm nack.
Der Komgssokn kam zur Stadt, in der das Madcken woknte.
Sckon vor dem Tor ritten lkm die Ritter und Diener des IConigs
entgegen. Er wurde in ein Gastzimmer geleitet, der Tisck wurde ikm
mit Braten und AA^ein gedeckt. Am Akend kam der GyoKvezier selkst,
unterkielt sich mit ikm in angenekmem Gesprack und iragte endlick:
„Was, mem Gast, suckst du kei uns?
Der Jungling gak kekannt, warum er kergekommen war.
Da -wurde der Grof?vezier traurig. „Siek zum Fenster kmaus",
sagte er, „kmten siekst du erne lange Reike von Stangen und auf den.
Stangen aufgesteckt lauter akgescknittene Kopfe. So gekt es jedero*
der im Kampi mit unserer Pnnzessm verliert. Darum laf? ak, darum
kekr um.
Aker der Ivonigssokn 'war mckt zu ersckrecken, okwokl ikm das
Herz still stand. „iA'ann soil lck zur Stelle sein?" iragte er.
„Wenn du also durckaus willst , sagte der GroJ?vezier, „so set
morgen mit der aurgekenden Sonne aui diesem Platz unten. Da wirst
du die Pnnzessm rinden.
Die ganze Nackt sckkef der Jungling nickt. Aker am Morgen
■war er sckon vor der kestimmten Zeit mit seinen Waffen zur Stelle.
Sein Pferd wiekerte. Er sprengte damit im Ukermut nock ein paar
Mai uker den grof?en Platz.
21£
Als die Sonne uber den Berg kam, trat auck zugleick die Prin-
:zeasin aus dem Palast. Ikre Rushing straklte. Sie ritt zu dem JungKng
tun, sie stand en nut den Pferden einander gegenuber.
Da ritt die Prmzessin nock naker keran, offnete ikren Panzer, tat
>das lie ma ausemander und zeigte ikre Brust.
AIs der Jungung die Sckonkeit der Brust sak, wurde er von einer
Oknmackt ukerkommen und sank an die Erde. Sofort Kefen die Diener
nerbei und kieken ikm den Kopf ak.
Zu Hause wartete man vergebens auf die Ruckkekr des Soknes.
Als er nack em em Jakr immer nock nickt wiederkanu mackte sick der
zweite Konigssokn auf den Weg. Kein Akraten der Eltern kalf.
Auck er traf den alten Mann. Auck er verlackte den Rat dieses
Alten. Kurz: auck er fiel vor der Brust der Prinzessin in Oknmackt,
auck er verlor seinen Kopf.
Lange wartete der Jungste auf die Heimkekr der Bruder. Endkck
war er mckt mekr zu kalten, okwokl die Eltern weinten und mit
ikren Tranen seine Hande ganz kenetzten,
Er ritt denselken Weg und auck er traf am Rand der Wiese
den Alten, dem er ekenso freundKck wie die Bruder Antwort gak.
«Waa ist dir lieker," fragte der Alte, „mein Rat oder daa
Madcken?"
Der Komgssokn antwortete: „Das Madcken kegekre ick sekr, aber
auck dein Rat ist mir wertvoll."
„Dann kore", sagte der Alte, „dai? dieses Madcken nickt durck
ikre Kraft ikre Gegner kesiegt. Sondern sie offnet ikr Hemd und
zeigt ikre Brust. Das nimmt dem starksten Mann die Kraft. Darum,
sowie du siekst, daU sie nack lkrem Kleid greift, um es zu offnen, scklag
cue Augen meder und gek auf sie an."
Der Jungling war voll Freude uker den Rat, kedankte sick sekr
und ritt nock sckneller davon.
Jbr kam in die Stadt und wurde eoenso gastkck aufgenommen wie
eeine Bruder. Am naoksten 1 ag war er vor Sonnenaufgang auf dem
Platz. Zugleick mit der Sonne kam auck die Konigstockter aus dem Haus.
Die trat vor den Jungung, offnete ikr Hemd und zeigte ikre Brust.
Aker der Jungkng scklol? recktzeitig die Augen und sturzte sofort vor.
Er warf sein Sckwert fort und griff gleick mit den Armen zu.
Okne Muke krackte er die Jungfrau zur Erde. Er nakm ikr das
Sckwert aus der Hand und fragte: „Soll ick dir jetzt tun, wie du
meinen Brudern getan kast?"
„Sckenk mir das Leken", flekte sie.
Da nakm er sie aufs Pferd und fukrte sie zu semen Eltern nack Haus.
214
AUS DEM TAGE-BUCH
CARL HAUPTMANN, DER BRUDER
In Sckreikerkau, in dem sckonen
weitraumigen una winkeligen Xlause
der Eltern, ist Carl Hauptmann
gestorten. Er wird nickt mekr
etundenlangdurck sein Ark eits2immer
marsckieren, wird mcnt menr mitten
in der Nackt sick erkeken, urn zu
dickten, wird nickt menr alia d end-
lick, mit der Freude des ganz naiv
Produzierenden, das Gesckarrene sick
\ind den in seiner Nake Berindkcken
zu Gekor knngen. Der mit Gott
Ringende ward nun rukn.
Er war ein kedeutender iCopi.
Er gak sexn Bestes lm Gesprack, lm
V ortrag, Er war ein Denker —
Di enter. Das Sckonste, das er ge-
a ck neb en kat, waren Monologe eines
Tkeisten ungekundenster Art. Aker
«r entwickelte sick von der exakten
Naturwissensckart rort, well mm
<die V ision wertvoller war als die
Beokacktung. Und zwar die dickte-
riscke V ision. Er wollte sie er-
ringen, erzwingen, mit einer m-
l»runstigenEntscklossenkeit,mitnarko~
tiscken Mitteln, mit einer unge-
Leuren Eingegekenkeit an die Arkeit.
Aker pie V ision, frauenzimmerkaft,
stellt sick am lieksten ira Spiel ein.
Die sckonsten Bucker Carl
Hauptmanns, seine lynscken Re-
xlexionen smd seine „Tagekucker ,
sein „Einkart der Lackler und
dann nock seine Dienstkotenerzak-
lung ^Matkilde"". Unter den Dramen
ast sein ,,Moses , der nirgendwo
gegeken, nirgendwo ordentkek ge-
lesen wurde, das gescklossenste^f erk.
Ikm feklte der eigentlicke sckopfe-*
riscke, der plastiscke Triek. Er katte
den Naturalismus mitgemackt und sicn
dann zu ein em etwas konstruierenden.
Stilismus gezwungen. Von den
Volkssckullekrern des „Kunstwart~
wurde er nut einiger Abpicntlicn-'
keit, von den rekellierenden Jungen
mit voller Ostentation seinem Bruder
Gerkart entgegen ges tellt. So wnrde
er der Autor von Kurt A^olff
oder, wie ick ikn vor Jakren nannte,
der Onkel des Expressionismus.
Er war Gerkart Hauptmanns
Bruder. Er fuklte sick als Bruder,
er fuklte sick zuweilen lm Sckatteiu
weil er Bruder war. Das Let en
der Beiden, die ikre Zuricker Jugend
in innerer Gemeinsamkeit verkrackt,
die zwei . Sck western gekeiratet
kaken, verlief sekr lange parallel.
Die Grazien, die me gereckt sind,
zogen den jungeren Gerkart vor.
Carl aker wnrde das Vorreckts—
gefukl des Erstgekornen me los, er
kaderte in seinem Inner n wider
die Entsckeidung der Musen una
sein gutes, scklesisckes Rukezakl—
gesickt wurde zuweilen gramvoll
gerurckt, seine kleinen Augen klickten
manckmal steckend. Er litt an
seinem BrudersckicksaL
Aker er war ein gutiger Menscn
und em ringender. Die Erlosungen,
die ikm als Dickter versagt waren,
kat er in seinem sittkeken ^fi/esen
gefunden, und so entdeckte er viel-
leickt sein Bestes wieder: Er war
ein Bruder.
2L5
JAN ALTENBURG
HISTORIE EINER
KUNSTLERKNEIPE
Es war unertraglieb geworden:
im sogenannten Kunstlercafe borte
man nur nocn uber ostasiatiscbe
Kunst und absolute Malerei, uber
Dadaismus oder uber Richard StrauK
sprecben. Ein sicberes Zeicnen, dais
si en das Garebauspubnkum aus
Recbtsanwalten, Arzten und Borse—
anergattinnen zusammensetzte. Die
Gespracbe der Maler, Scbauspieler
una Dicbter CKognakmarken",
„Ura . „Zebnfacbes Geld* , ,.Breiten~
strater ,,Spalla * etcetera) wurden
vom Kunstgescbwatz der zablreicben
Burger ubertont.
Ernes Tages verhelsen einScbrift-
steller und zwei Maler ebenso beim*-
Jicn wie entrustet die solcberart
entweibte Statte und gingen in
eine benaebbarte Kutscberkneipe,
Hier war es berrlicb. Von Kunst-
gespracben keine Spur. Drei Feuer-
wenrmanner spielten stumm und
xeierlicn Skat und ein paar Heine
Handwerker aus der Nacbbarscbaft
saben lbnen ebenso stumm mit
beroiscber Ausdauer Abend fur
Abend dabei zu. Die dunkle Kucbe
war idylliscb neben den Toiletten
gelegen; es rocb allentbalben nacb
kaltem Tabaksraucb und scbalen
Bierresten, kurz, es atmete alles
die Bebaglicbkeit jener kleinburger-
Kcben WeiJ?bierladen, deren es in
Berlin bunderte gibt. Nacb einer
Stunde scbon dutzten sicb die drei
Kunstler mit dem dicken Wirte
AVilKbald. Sie batten sicb aucb
bereits mit der Psycbe des greisen
Kellners Karl vertraut gemacbt, der
nuscbelndineinemuraltenscbmierigen
Quadrillengebrock berumscblurrte.
Urn mn mebt zu belastigen, scbankten
sie sicb ibr Glas am Bierapparat
selbst ein. In der Kucbe batten
sie erne sebr grundlicbe Unterredung
uber Rmder*- oder Kalbsbraten und
wablten sicb ibr Fleiscbstuck scblieK-'
licb selber aus. Als sie mit dem
Essen beginnen wollten, fehlten
Messer, Gabeln.BrotundKartoffeln,
aber nacb emer balben Stunde batte
Kellner Karl — nun ja, er war
ein wemg vergeislicb — die Sacben
Stuck fur Stuck berbeigescbafft.
Daiur entscbadigte er die Essenden
durcbseineUnterbaltung. Erwickelte
aus Zeitungspapier einen mit Speicbel
verklebten Zigarrenrest aus und legte
mit groKter Exaktbeit sein kompli-
ziertes System dar, die Stummel
zu trocknen und fur sicb wieder
brauebbar zu macben. Als es ans
Bezablen gmg, war die Zecbe ziem-
licb erbeblicb; aber dafur war es
aucb gediegen gewesen und man
batte sicb mit dem AkVirte boebst-
personlicb vorber besprecben konnen.
Das war etwas anderes als der
Massenbetrieb der ungemutlicben
eleganten Restaurants!
Die entzuckten Kunstler legten
emander einen Scbwur ab, den
Namen Aes Lokales gebeimzubalten.
Nacb ein paar Tagen saben sic
sicb aber gezwungen, einen vierten
Bekannten in ibre grotfartige Ent~
deckung einzuweiben* der seiner-
seits die Adresse einem Fiinften
unterm Siegel grower Verscbwiegen-
beit zuraimte. Immerbin : nacb.
216
14 Tagen war das Lokal von
Leuten aus Kunatkreisen volk von
denen jeder fur sick das Gekeim~
nis dieses Fundes angstvoll kutete.
Es kamen Maler, Musiker, Sekau-
spieler, sowie die Herren von der
Presse. Und es kamen aucn die
Madcken vom Film. Dem dicken
Wirte Willikald stieg der Erfolg
zu Kopf. Wer etwas in der Kiicke
zukereitet kaken wollte, mu#te ihn
sekr koflick darum kitten. Willi-
kald war ein feinfiikliger Stimmungs-
mensck (auck keziiglick der Preis-
fixierung) ; wenn er nickt auf gelegt
war, muf?ten sick mancke Gaste mit
trockenen Stullen kegniigen. Kem
Wunder, dai? ein allgemeines Buklen
um seine Gunst kegann. Der Kellner
Karl aker wurde von alien Gasten
mit rukrender Fiirsorge ketreut.
Er katte zum Bedienen allerdings
auck keine Zeit gekakt, da ^r stan-
dig gemalt, mpdelkert oder von
kinten und von vorne gezeicknet
wurde. Seine Portrats sckmuckten
Kaminvorsprunge und Simse, und
an den Wanden kingen unter Glas
und Rakmen von samtlicken Stamm-
gasten Karnkaturen, die nickt immer
leickt zu erkennen waten, die aker
alle sekr markant und leserkck die
Untersckrift des Autors trugen.
Ukerkaupt entwickelte sick jene
Vereinszimmer - Stimmung, die in
deutscken Landen, mag es sick nun
um den Kegelkluk „Gut Holz \\
oder um den Kiinstler ~ Verein
„Alkreckt Durer" kandeln, ukerall
die gleicke ist. Ein Untersckied
kestand kockstens darin, dai? im
altmodiscken Kunstverem zu Mun^
cken oder Diisseldorf an den
Wanden Papptafeln mit Sprucken
wie JDer Mensckkeit Wiirde ist
in Eure Hand gegeken, kewakret
sie. Sckiller", kangen, wakrend
kier dadaistiscke Leitsatze zu lesen
sind. Aker auck das ist fast das-
selke, denn seiner Aneckauung und
seiner Lekensfiikrung nack ist der
Kunstzigeuner oft nur em Spiel?-
kurger mit umgekekrten Vorzeicken.
Allmaklick wurde das Lokal,
von dem jeder Gast sick einkildete,
da(? es nur kesonders Begunstigten
und Eingeweikten zugangKck aei,
und der infolgedessen He koken
Preise, die mangelnde Bedienung
und den engen, rauckrigen Raum
gern kinnakm, popular. Es wurde
der Sckauplatz von Romankapiteln,
es . wurde in Zeitscknften akgekildet
und Kellner Karl, der langst nur
nock vollstandige Qualitatszigarren
rauckte, wurde in der Literatur
eine kekannte Figur: Durckreisende
Sommersacksen erledigten die
„Kunstlerkrieipe zum Gastwirt
Willikald" gleick nack dem Besuck
von Castans Panoptikum. Akends
kielten Autos vor der Tur, denen
Recktsanwalte,ArzteundBorseaner-
gattinnen entstiegen. Von alien
Tiscken fing man Gespracksfetzen,
wie „Expressiomsmus , „Poelzig
,,Fortgesckrittene Lyrik" oder
„Moissi" auf.
Da verketfen eines Tages zwei
Maler und ein Sckriftsteller ent-
rustet die solckerart entweikte Statte
und gingen in eine andere Kutscker-
kneipe. Hier war es kerrlick.
Drei Feuerwekrmanner spielten
stumm und feierLck Skat.
21Z
FILM-ERNUCHTERUNG
Die sen on en X age von Aranjuez
sind nun voruker. Illusionen uker
die Erokerung des ^Veltmarktes zer-
stieben. Die Betrieke folgen dera
Gesetze der Konzentration. Es wird
nickt mekr aus dem Vollen gewirt-'
sckaftet, strenge kaufmanniscke Kal-
kulation wird angesetzt. Das werden
vor Allem die Filmdarsteller spuren.
Kurzlick nock kat Conrad Veidt
ein Tageskonorar von 5000 Mark
verlangt und zuweilen erkalten, auck
Jannings ist mit 4000 Mark fur
den Tag kezaklt worden. Henny
Porten kezog (nack dem gut infor-
mierenden „Filra- Courier") fur vier
Filme im Jakr 600 000 Mark Pola
Negri wird nock viel koker ent-
loknt. Bassermann, Kaiser— Tietz,
Sckunzel, Kastner erkalten fur einen
Filmtag mekr als ein Universitats-
professor fur einen Monat keziekt.
Eme nickt mekr als gut gewacksene
und akrokatisck gesckulte Tanzerin,
Anita Berker, empfangt fur den
Arkeitstag 2000 Mark. Mittlere
Darsteller kekamen 600 kis 1000,
Episodisten 250 kis 500 Mark
Tageskonorar. Gute aker auck
ordlnare Regisseure standen mit
20 000 kis 30 000 Mark Monats-
gageim Kurs, ein tiicktigerOperateur
kezog kis zu 3000 Mark im Tage.
Diese Bliitezeit gekt nun zu Ende.
Die Sorgen sollen kleiner werden.
Es soil ein Tarif gesckaffen werden,
den keinc Gesellsckaft iikersckreiten
darf und 2000 Mark sollen als tag-
licke Hockstgage festgesetzt werden.
Von einer solcken Regelung ver-
sprecken lick &e Filmgesellsckaften
eimges — die Tkeaterdirektoren viel.
Entscklossen sick die Tkeaterleiter
endlick, den kier so oft vorge-
scklagenen Weg einer V erstandig-
ung mit den Filmfabriken zu geken,
kame es endkek zu einer Organi-
sierung und Aufteilung der Arkeit,
so konnte diese keginnende Ein-
ricktung zu einer Gesundung nickt
nur der Filmmdustrie, sondern auck
des Tkeaters fukren.
BUCHER
LUDWIG HATVANY:
Das verwundete Land.
E. P. Tal & Co. Verlag,
Wien 1921.
Dies Buck ist die Enzyklopadie des
Ungarntuma, die einzigartige Kulturge-
schichte eines dem Europaer ao gut wie
unbekannten Landes. Nach Hatvanya
Buch kann Europa seine Interesaeloaigkeit
am S chicks al Ungarns nicht mehr mit
Unkenntnis entschuldigen. Gabe es Dank-
barkeit, so miitfte Ungarn, ganz gleich, ob
gerade die Roten oder die Weitfen am
Ruder sind, aeinen Verteidiger, seinen
Lobpreiaer, aeinen Dicbter Hatvany zum
Ehrcnbiirger ernennen Wird ein ungliick-
lichea Land mehr geliebt, denn ein gluck-
liches? Oder ist Hatvanya Talent ao
auggestiv, daff die ungarischen Schicksale
in unseren Hirnen und Herzen wiihlen,
als waren sie Leid und Qual des eigenen
Landea ? Die Spezialiaten der oaterreichisch-
ungarischen Geschichte mogen wegen man-
cher Einzelheiten mit Hatvany polemisieren;
ea mag fraglich aein, ob wahrend
der ungliicklichen Ehe zwiachen Oaterreich
und Ungarn imtner nur Ungarn der
leidende Teil war. Heuts aind wir er-
schuttert von dem gellenden M J'accuse",
von dem Todearuf einea wahrhaften Patri-
oten. Diea Buch ist Wi«sen und Geist,
iat Temperament und Ethos.
218
HERBERT IHERING:
Regiaseure und Buhnenroaler.
Mit Zeichnungen von Ludwig Weidner.
(Bibliophiler Verlag O. Goldschmidt-
GabrielK, Berlin- Wilmersdorf 1921.
Herr Ihering — der strengste Ana-
lytiker dea deutschen Theaters von heute,
gibt hier Sektionen der wichtigsten Regi-
saeure.-^Erschreckend richtige, erachreckend
atrengeTJefunde. Wcr Iherings unbarm-
herzig«£ Auge und die Scharfe seines
Measera bewundern will, der lese aeinen
Essay iiber Friedrich Keyasler. Es ist
kein durchdringenderea, kein todlicherea
Urteil iiber Keyasler je gefallt worden-
In einem einzigen Aufsatz des Buchea wird
innere Warme dem Leaer iibertragen, in
der Betrachtung iiber Ludwig Beier,
Im Ganzen irritiert die barte Beatimmtbeit
Ibering. Er scheint nie von akeptiacben
Anwandlungen, vor allem nie von Skepsin
gegen sich selbat, beimgesucbt. Er will
nicht giitig, er will gerecbt aein. Er will
weniger fordern als feststellen. Er ist
ein Analytiker ersten Ranges, aber dieaer
Seelenanatom braucbt Leichen. Seine
Jugend und aein Element iat : Kalte. Ibm
fehlt zur acbopferiscben Wirkung ein
Klein ea : Liebe.
WOLFGANG GOTZ:
Die Reise ins Blaue
Eine Erzahlung.
Miincben. Hyperion verlag.
Um den Caaar obne Hoheit, um den
Schauspieler der eigenen Grosse, um den
in St. Helena gelangweilten und schikanier-
ten Napoleon kreiaen die Geschehnisae
dieaer erfindungsreicben Novelle. Einer
Zeit, die der beroiacben Geste, d* h. des
geateigerten Feldwebeltums, uberdriissig
geworden iat, iat der purpurloae, magen-
kranke Exkaiser interessanter ala der Held
von Arcole oder Austerlitz. Um aeinen
Folterer, Sir Hudson Lowe zu argern,
verschrexbt der Imperator fur die Herren
seiner Umgebung weiblichen Umgang-.
Einer gefeierten Scbauapielerin, die fur
Napoleon achwarmt, gclingt es, die eng-
liachsa Moralbegriffe zu demolieren und
nacb St, Helena zu gelangen. Der Kaiser,
immer mit Intriguen beschaftigt, immer
nocb grol? in seiner plebejiacben Zielbe-
wufitbeit, versucbt, die edle Britin ala
Spionin zu verwenden. Mit einigen
zyniscben Bemerkungen erledigt er den
Selbstmord der enttauachten Idealiatin, —
Wolfgang Gotz qualt sich und una nicht
mit Stil-Experimenten : er bat die natiir-
licbe Sicberbeit dea geborenen Erzahlers.
LEGENDE VOM LIEBLING
UND VOM SCHLECHTEN
HUND
In einen Krcis achongeiatiger Damen,
Die wochentlich zusammenkamen
Um ibren Liebling anzubeten
Und seiner Seele nahzutreten.
So zwar, daf? jedes Augenpaar
Ibm buldigend flammte: Waldemar!,
Brach als ein scblechtgesinnter Hund
P. S. ein, lauachte gierig und ...
Und aagte : brrr . , . micb bonselte ao . . .
Ist hier kein Kognak irgendwo?
Griff da wohl eine in ibr Taschchen?
Bot eine Nachbarin ibr Flaacbcben?
O nein, vielmebr sie riefen stark:
Pfui Menacb ! Una acbaudert bis ina Mark !
Verlassen Sie daa Haua, Sie Bestie,
Datf ibr Geruch IHN nicht belastige.
Sie lietfen friacbe Luft herein
Und bonaelten aicb selig ein.
Peter Scher.
DIE THEATERFABRIK
Symptom des Theaterbetriebs von heute,'
In den Wiener „Kammer spiel en" der
Dependance des (geschaftlicb) angesehenen
Deutschen Volkatheaters wurden am Sonn-
tag, den 30. Januar 1921 vier Vor-
stellungen an einem Tage veranataltet. Um
einhalbll vormittag die Generalprob*
„Reigen" (Eintrittspr eis 1000 Ki
um einbalb3 Ubr Wedekinda „Musik k \
um 6 Ubr Mullers „Flamme" und um
10 Ubr begann eine Nachtvorstcllung, drei
Einakter.
Ebedem war daa Schauapicl — ein Spiel.
ie zum
.ronen),
219
THORSCHLUSS IN WIEN
Nach Peter All enbergs Tod scbrieb
Carl Roller an Alfred Popper! ,,Jetzt
ist der gute P. A, tot. Girardi ist fort,
Lueger ist nicht mebr da, der alte Franz
Josef weg. Das ganze alte ^Afien ist aus.
Nehmen Sie eincn Schliissel, sperren Sie
die Winterstadt zu, bangen Sie den Scblttssel
am AVestbabnbof auf und kommen Sie
nach Berlin."
ANEKDOTEN.
Flake aagt, dal? ihm ein Manuskript
gestohlen worden sci. Schickel e bemerkt :
,,Der Dieb kann nur einer sein, der nie
cine Zeilc von Dir gelesen bat."
^Verfel war im Kriegsprcaseamt damit
beauftragt worden, "Worte und Ausapriicbe
zu erfinden, die der Kaiser Karl bei offent-
licben Anlassen von sicb geben konne.
Mit Huife von Freunden wurde cine Menge
erfunden. Das beste Wort raachte der
mebr als witzige Kub : ,,In Meincm Reicbe
gebt die Sonne nie auf. 4 *
Kaeimir Edscbmid las an einem Morgen
seines acbttagigen Pariser Aufentbaltes der
Ubung im Franzosiscben wegen im ,, Petit
Journal" , datf nacbts vorber in dor rue
Frecbet eine Rauferei gewesen und dabei
ein persiscber Untertan verbaftet worden
sei. Edachmiden -war es so, als ware er
vor zwei Tagen durcb eine rue Frecbet
gegangen. Er pflegt scitdem gern seine
Rede mit den Wortcn einzuleiten : ,,Icb,
der icb micb in Paris mit Persern stacb . . .*'
*
Reger liebte keine ungiinstigen Kri-
tiken. Dem Verfasser einer solcben scbrieb
er das Folgende * „Icb sitze in dem kleinsten
Ort meines Hauses und babe Ibren Ar-
tikel vor mir. In einer balben Minute
werde icb ibn bint'er mir haben."
Wedekind lag mit einem gebrocbenen
Bein zu Bett und Halbe bescblotf, trotz-
dem man ,bos' war, deh Kranken zu be-
suchen. Man sobnte sich dabei aus. Als
Wedekind wieder auageht, begegnet ibm
Halbe, der grutft, Wedekind scbaut in die
Luft. Max : „Aber wir baben una docb
ausgesdbnt, Frank!" — ,.Das war nur fur
den Sterbefall, Herr Doktor Halbe."
^^ilbelm II hatte seine Tafclrunde .
nach Sanaspuci geladen: Lauff, Gangbofer,
Herzog, den Dicbter von Cbarleys Tante
und Leoncavallo. Clcving spielte die Gux-
tarre. Wesbalb Majestat nicbt die Flote
bliesen. Sonat aber war alles fridericianiacb.
Redaktion dea ^Tage-Bucb" : Berlin W 35, Potsdamer Strafe 123b, Tel: Liitzow 4931
Verantwortlicb fiir den redaktionellen Teil : Stefan GroI?mann, Gbarlottenburg. Verlag :
Ernst Rowoblt Verlag, BerlinW 35. Potsdamer Straffe 123 b. Druck: R. Abendroth, Riesa.
DER KLEINE GRADE-WAGEN
ORIGINELLSTE LOSUNG DES KLEINWAGEN-
PROBLEMS / DER WOHLFEILE WAGEN DES
MITTELSTANDES / ZWEISITZER
HANS-GRADE-WERK
BERLIN W 35, POTSDAMERSTRASSE 113
PAVILLON 5
220
BRUNO FRANK
DIE F0RSTIN
Roman, geb. M. 10.—
GESICHTER
Novellen, broach. M. 20. — , geb. M. 25.—
DIE KELTER
Gedichte, jjeb. M. 15,—
r " m ii WMwun t M iiiii M Trrrmtii n iiiii u ifn ui rr m riniiii tn ii n tiiirrrn u i
Zu fordern ist von dem Gedankendichter, wie von jedem
Dichter nur eins: dal? er das erlebte Fiihlen wirklich
auf uns iibertrage. Bruno Frank besitzt diese Kunst,
er ist ein Dichter echtester Art. Er ist ein Todfeind
der Phrase, wie jeder gesuchten unredlichen Ausdrucks-
weise. Sein Werk ist beherrscht von jerier edlen Not-
wendigkeit, die es wie ein Naturprodukt erscheinen latft.
Die Zukunft - Berlin
Ii h j* i *i»»m h i iiiiiiiii iiiiii i .^.m... . JJ m».. T ||) 1 |||)| 1 t i n 1-1
MUSARION VERLAG/MONCHEN
3B a 1 f e r £>ajencJeDer
„3enfetfs"
©el). <m. 14— ©ebunben <m. 20.—
„S8ertiner Sageblatt": SRir fdEjeint „3enfelt3" nnen HKerfftein
geiftlger llmle^r ju bebeuten. ©er &id^ter ber devolution fdjeint
bie $tnberfd>ufj* auggejogen ju §aben. @r ftefjt mit bein jrae'tcn
©efidjt, bafj bie £oten immer nodj mefjr firtb alg ble, fo fief) 5U
^ii^rern beg Sebeng erforen biinfen ...
$ran8©er»ae§im „©erliner Sofa^Slngetger": 3n biefem
„3enfeitg"*'£)rama tnirb ein bicfytertfdj ncuer 2&eg eiuge*
fcEjlagen. 38te bie feettfd&e ©pannung oufS aufjerfte fteigt imb
}U fdjvtttem 3eweijjen fttyct, bag Ift won bem jungctt SDtdjter
in tafaen, burd)teutf}tenben ©genen metfierUdE) enttoitfelt roorben
unb rairb fur ben $ii£)lenben $um ©riebnig.
f ,$8 e r I i n e r SSdrfen^ourier": £>ie beutfdEje Uvauf f ii^rung
oon £afenctet>erg „3enfeitg" f)at bem 3)id)ter unb bem facfyfifcljen
©taatgtfjeater einen grofjen, bebeutfamen ©rfolg gebradEjt.
9flan erfebt etraag 9teueg, ©rftmaligeg, betrat unerftf)loffenen
99ejirf. ©in ©d£)tdifatgbrama, ein 6eelen- unb ©eifterbratna,
wit Jampferift^er ©ntftfjloffenfjett unb tnbriiuftiger SBerfenhmg
geftaltet, doU jartet% ftffmebenber Snrtf unb aufeerorbentlidEier
sprttgnanj im ©eiftigen. $oft erftaunlidEjer £>ettftd)tig?etten unb
mafjvoller ©nergte. Sung unb tu|n. SBoU ©rtebntg unb ©d)nu,
„S8. 3- am -JKittag": 3n biefem neueften §afencleoer $etgt
fief) biii&enbfter ©tit mit fcprfftem SntettcVt unb betonter ©cottf.
„Seipjiger £agebfatt": £>afencte»erg ©ebtd^t ift ein fiifjeg
imb fdjroermutlgeg SJlardjen aug bem §evgen ber 9Jienftf)en non
ber Sftot if)rer Broetfjett,, bie nie jur ©InEjett roerben Jann, .unb
con ber Wot iijreg Sdjbettmfjtfeing, bag nie ing StHbenmjjtfetn
iibergeijen fann, [ein fdE)bnfteg ©ebirfit bigger unb fetu traurigfteg.
©g ift ein ©ratna woHer SBeroegung, ein-SRftrd&en volter
SRatfet unb tin pljantaftifcf)eg ©piet &n)ifd()en jmei 9(ftenfd£)en.
„$regbner 9Gaa)rtcIjten": Sluf biefem Sffi^ge rairb uitrJHd)
Sfteueg unb SftetjtioUeS von ber SQiiEjne ()er geboten.
„£>re§bner -Jteuefte 3fla ct)ric^ten": 2Benn § a feu clever
proptjejett, roir ftiinbeu an *er © d> tv e ( I e ber i e r t e u
$Hmenfion, fo werben nur fie boct) nie uberftfjreiten. 2lber
ben 3auber beg ©efut>lg, an btefer ©djraeHe %u
fte^en — ^afencteucr wermng i^n. 2)te ©prac^e ift gelonnt
unb a[g ^orm eing nnb eintg mit ber 3)trf)tung, eine bid^terifc^e
©prad^e, mie fie ^afencteoer nodE) nidjt gefproc^en ^at.
3u be3iet)en burd) atle ^ucf)f)anb(ungen ober btrekt burd) ben
Verlag „Der neue Merkur *
Miinchen
MAXIM GORKI
ERINNERUNGEN AN
TOLSTOI
M. 6—
eina der wiehtiffeten Dokumente zur
Erkenntnis dea Tolatoiscben Wueot. Gorkia
A»f«icbnungen oind Wiedergabe momen-
taner Eindriicke, die eicb aber rait keinerlei
auflerlicber Beachreibung begnugen, acmdern
die Etemente dea Tolstoiacben Charaktera
tlofilegcn ; eine unbeabsicbtigte, aber dafur
In die tiefaten aeeliacben Zonen vordringende
Psycbologie. Sie aind nicbt nur daa Bild
etnee umfaaaenden Cbaraktcrs. eines Welt-
weiaen mlt kUincm listigen Lacheln —
• onder n daruber hinaus der ewige , ua-
keimliohe Mytboa vom groUen Menscben
Bcblecbtbin.'*
Rudolf Kayser tm ,,Berh'ner TagtbJatt"
©oefcen erfdjlen:
ADOLF BARTELS
93vofd&iert : 9ft. 18.—
3n $alfiletnen: S». 23.—
5Da3
Unenfbe^rlid)ffe
9tad)fd)tageroerh unb £anb*
bud) fiber bie beutfdje Ciferafur
bis 3um (£nbe bes 3af)res 1920
£>. fiaeffd / 3ferlag / 2eip3tg
BUCH- UND VERLAGS - DRUCKEREI
R. ABENDROTH, RIESA / ELBE
WERKDRUGK/KUNSTDRUCK/ZEITSCHRIFTEN
K
R
Z I W
A N E K
die beriihrnte Wienei
EGHTEWIENEE
■ Gaststatte
I KtJCHE
BERLIN/Ecke FriedricLstratfe und Mittelstratfe
TELEPHON: ZENTRUM 4086
Rudolf Borchardt
DER DURANT
Ein Gcdicht aus dem mannlichen Zeitalter
Einmalige Auflage von 680 numerierten Exemplarcn, Der Druck erfolgtc
in der Mqris-Gotisch in der Offizin W. Drugulin in Leipzig.
Exemplar 1 — 45 auf Van Geldcrn Biitten abgezogen unci ron
Rudolf Borchardt handschriftlich signiert, in Ganz-
pergament M. 650- —
Exemplar 46- 500 auf Deutschem Biitten in Halbpergament M. 85. —
Exemplar 501 -680 auf Deutschen Biitten in Pappband . . M. 50.—
„DIE GRENZB07EN" BERLIN
Dieses Gedicht erneuert Form
und Ethos dea grotfen xnittelhoch deutschen Vers - Epos in
seiner durch den Per so nlichkeitagehalt der Deutschen Meister
iiber die hofische Konvention zu einem Ewigkeitswcrt
•mporgehobcnen Gestalt. Es zwingt die Leidenschaft de«
eigenen, zwischen Unseligkeit und Seligkeit bewegten Lebens
in die Schlichtheit und gleichmaffig flietfende Bewegung der
knappen, dreihebigen Reimpaare, die zu einer Dichtheit und
Spannung zwingen, wie kein anderer epischer Vers. Eine
ticfste "Wesensverwandtschaft Borchardts eigener geistigen
Welt, vertieft und erfiillt durch streng erarbeitete Einsicht in
daa Wesen und die gematfe dichterische Form des ,,mannlichen
Zeitalters", ermoglichte ihm diese Neuschopfung und Er-
rullung einer vorgefundenen Form Ein besonderes
geschichtlich kiinstlerisches Bewufitsein autfert sich hxer,
das den Historismus Ubcrwindet, indem es in der geschicht-
lichen Anschauung selher Gestalt gewinnt,"
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen
oder direkt durch den
ERNST ROWOHLT VERLAG BERLIN W 35
Das Tagte-Buck / Heft 8 Jakr£ 2 / Berlin, 26. Fctruar 1921
■ ■ ■■ • — - ■ — ■ - — ' "~
tmomas wehrlin DER PRINZENBRIEF
Sat dinger Zeit gekt in Berlin die Aksckrift ernes Briefea von
Hand zu Hand, in welckem e? neiut:
DieBe scamacHvolle Regterung will die Oberfiihrung meinet* arraen Mutter
bei Tag verbindern, Groner sagt, seine Leute wiirden streiken, Alle Stratfan
aollen durcb Reicbswehr abgesperrt werden, damit die Bevolkerung nicKt tefil—
nehitten fcanit. Weitfmann sagt, friiher hatte man Liabkftecht uhd katfemburg
aucli niche mat alien; Ehren beiflctzen laesen. Dies muff scknell verttee'itet werdea.
Bitte, belien Sic una dabei, damit i& weiten Kreisen diese Schdmlosigkeit be-
kannt wird. Ebert erklart : Sie iat eine preuffische Person und gent mien
nichts an. Wie es mtr als Sohn dabei umi rTerz iat. konncn Ke sidi detoVen.
Stets Ihr dankbarer
August Wilhelm,
Prinz van Preuffcn.
Der Brief ist in der dritten Wocke des Fekruar in alien Berliner
Zeitungen veroffentlickt wo r den. Keine versaumte kinzuzufugen, dalt es
sick vermutlick urn eine Falsckung handle. Die Mutter August N^ruheims
lent nock, ea sei nickt anzunekmen, dai? der Sohn sick offentlick titer
die wirksamste Form der Leickenkestattung unterkalten und Andere zu
aknlicken Konversationen kewegen wolle. Aker seit dem Tagie, an
welckem der gemutvolle Brief pukhziert wurde, sind zekn Tage veiV
flossen. Eine offentKcke Erklarung^ dal? der Brief nickt von August
v/ilkelm gesckrieken worden sei, ist kis keute nickt erfolgt. Ist sie
nickt fur notig kefunden worden? Aker es kandelt sick urn ein so
fatales Dokument von Herzensroheit, dal? die Freunde der ekemal*
regierenden Famiken den Prinzen dock zu einer kurzen, unzweideutigen
Feststellung kewegen sollten.
Der Gedanke, dai? es sick vielleiekt urn gar keihe Falsckung handle,
ist nock immer akzuweisen. Aker dann kandelt es sick urn eine nickt
ganz plumpe Erfindung. und deskalk auck um keine ganz unwirksame.
Dai? dazu August Wilkelm ausgcsuckt wurde, ist sckon ein pfiffiger
Zug. Dieser sanfte junge Mann tritt seit einiger Zeit offentKck auf.
Er kat fur den i^aklfond der Deutscknationalen Volkspartei gegeigt.
Die Zeiten der mensckenfreundlicken Versickerung „Ick kenne keine
Parteien mekr" sind wokl als weit vergangen anzuseken, Sekonr scksiuckt
sick die Kreuzzeitung wieder mit dem alten Emkl'eme „Fur Tkron und
Altar", warum sollten sick die Tkronleute nickt wieder zur Kreuzzeitung
kekennen ?
225
Der EinfalL, einem Sonne Wilhelm II, erne ziemkck kerzenskalte
Kundgekung uber die tterbende Mutter nackzusagen, wt nickt okne Tucke
ersonnen. Es 1st bekannt, wie eiskalt das Verkaltnis AVilkelms V II, zu
semen Extern, lm Besonderen zu seiner Mutter gewesen. Wer es nicht
wnfifce* lese die Aufsatze nack, die Maria von Bunscn lm „Tagebuck"
veroffentlickte und das dort Erzaklte uber die ersckreckend kiikle Be-
ziekung V:ctonas zu lkrem altesten Sokne. AVie ersckreckend klar der
kranke Fnednck seinen Sokn iikersak, das wird man lm dritten Bande
der Bismarckscken Erinnerungen finden. Wie teufksck, nun dem Sokne
Wilkelms dieselke unsentimentale Auffassung des Verkaltmsses vom
Sokne zur Mutter nackzusagen!
Am Ende konnte der Brief auck deskalk Glaukiger finden, weil e»
ja zum \Vesen der monarckiscken Denkmetkode gekort, die aller-
privatesten Beziekungen fast ausscklieiZkck nack poktiscken Notwendig-
keiten zu regulieren. Die Stimme der Natur kat zu sckweigen, wenn
aie Interessen aes regierenden Hauses zu sprecken keginnen. So geseken
ware der Brief, der fur die Leicke der nock lekenden Mutter eine
mbglickst pompose Totenfeier wunsckt, mckt unkedmgt unglaubwiirdig.
Ack, es kerrsckt ukerkaupt viel weniger Respekt vor dem Tode als
der zeitunglesende Burger anzunekmen geneigt ist. Unlangst sak lck
nackts in der Lmien straife emen Gassenjungen, dei sick auf einen Leicken-
wagen *ckwang und als blinder Passagier, nut dem Hint era auf dem
Sarge, seine 'Stulle kauend mitfukr. Ick rnockte kundert gegen eins
wetten, dal? in den allernationalsten Zeitungen der Nackruf auf die
kranke Kaiserin, mit alien Tkranen plotzlicker Ergriffenkeit, langst vor-
kereitet und gesetzt ist, Allerdings ist so kaltklutige Voraussickt nickt
gerade Soknestugend. Aker desgleicken ereignet sick zuweilen und gerade
in den weitraumigen, kalten Scklossern regierender Familien nistet
sick simple burgerlicke Herzlickkeit selten ein.
Deskalk sind die zekn Tage, in denen August Wilkelm den Brief
nickt dementiert kat, eine sckadenknngende Frist, woklgemerkt : eine 1 k m
sckadenknngende Frist. \Venn es eines Tages zu den angekundigten
und verlangten Xrauerfestkck keiten kommt, dann wird es etlicke ver-
kissene Abseitsstekende geken, die sagen wer den: Man soil die Regie zu
solcken lrauerfeiern nickt allzu offentkck ketreiben!
Und dann mutf man das A^ahre immcr wiederholen, weil auck der Irrtum urn
uns her immer wieder gepredigt -wird, und zwar nicht von einzelnen, sondern von der
Maaae. In Zeitungen und Enzyclopadicn, auf Schulen und Universitaten, uberall ist
der Irrtum otenauf, und ea ist ihm wohl und behaglich im Geflihl der Majoritat, die
auf seiner Seite ift. Goethe 1829.
22f
RUDOLF VON DELIUS RELATIVITAT
Der harmlose kindliche Mensch halt alles fur fest, starr,
absolut. Die Erde ist wie eine Spielzeugschachtel, von einem
giitigen Vater und Handwerksmann im Himmel geschnitzt und
aufgestellt. Zwischen all den hubschen, objektiven, soliden Sachen
gehen wir nun spazieren.
Mit dem ersten wirklichen Denken zerschmilzt dies Idyll :
Protagoras wuffte es zuerst: der Mensch selber ist das Mai? der
Dinge. Kant schlietflich gab 1781 die philosophische Begriindung,
die Naturwissenschaft stimmte ihm zu und endlich hat Einsteiu 1915
nun auch den Tatbestand mathematisch - physikalisch festgestellt.
Es ist das der grof?te und entscheidendste Gedanke: absolute
\Verte existieren nicht. ,.Die Bewegung selber schafft sich erst
ihren eigenen Raum un d ihre eigene Zeit" sagt Einstein. Und
weiter: „Alle Bewegungen sind gleichwertig.*" Fiihlt ihr, wie es
bebt und zittert?
Dem Philister wird sehr bange. W"oran soil er sich nun
halten? Es war ja so bequem und behaglich, immer sanft in den
ausgefahrenen objektiven Gleisen zu laufen. Man konnte ruhig
faul sein, das Absolute hatte schon alles besorgt.
Der Gedanke des Relativen schleudert den Menschen in sich
selber zuriick. Deine Tatigkeit erschafft dir erst Raum und Zeit
Hebe den eigenen Raum, sei schopferisch, erlebe die eigene Zeit !
Ungeheure Seligkeit bricht aus dieser Erkenntnis. Uber dem
bloden starren Absoluten flattert die losgeloste Ich-Heiterkeit.
Freilich: Wehe dem, der jetzt keine Fliigel hat!
Es wird ja lange dauern, bis das ^Publikum" diesen Gedanken
kapiert. Er andert alles. Mit der Religion ist es aus. Denn Reli-
gion ist das Reich des Absoluten. Die starren Gotzenbilder liegen
zerschmettert am Boden. Aber die Spannkrafte des Menschengeistes
leuchten.
Vielen wird schwindlig werden. Es hilft nichts. Alles dreht
sich, jede Bewegung ist gleichwertig, iiberall sind Seelen-Mittel-
punkte. Das seelische Fliegen beginnt. Herrlich, herrlich, herrlich!
Das Absolute wai die Liige selber. Das unverschamte Wert*-
Schema, an dem jeder gemessen wurde. Die Priester-Anmatfung
des Aburteilens. Nun gibt es tausenderlei Moglichkeiten.
227
Was wird die Kirche tun? Und die „Freireligiosen ? Zu~
nachst versuchen sie wohl, wiederum mit Taschenspieler ~Wort~
kunsten den Einsturz zu umgehen. Aber ein relativer Gott? Das ist
doch \yohl selbst fur den nebligsten deutschen Nebelkopf zu viel.
Freuen wir una! Durch die Menschheitsgeschichte geht ein
Schnitt- Es fangt eine neue Epocbe an. Der mythologische Kinder~
traum iet ausgetraumt. Das Leben eelber braust naher. Leben ist
Bewegung, Verwandlung, Formung, Vollendung. Immer Neues ist
moglich Zerreitft nur erst das Gangelband de« Absoluten.
Heil Protagoras, Heil Kant, Hefl. Einstein ! Griechen und
Deutsche! Nun seid tapfer. Noch nie lacbte die Erde so frei.
Die alte feste Tauschungswelt wurde zerschlagen, tausend neue
Welte» keknen. Wie bunt wird alles. Wie leicht.
Schwebende Kraft, spielende Seligkeit. Schopfertum. Das
Kettenrasseln ist vorbei, das Gefangnis des Unbedingten, der
Grdwenwahn absoluter Erkenntnis. Die alten aufgebauschten
Worte haben alle keinen Sinn mebr. Jetzt erst fuhlen wir das
Herz der Dinge. Dies zuck'ende pulsende souverane Herz.
Es ist die gewaltigste Wende seit den Jahrtausenden ! Wacht
auf! GenieKt! — Die erlogene fremde Zwangswelt, in die man
eucb einpressen wollte, ist zersprungen zu Staub. Jetzt reift euch
in der Seele die Aufgabe : SchafFt die eigene neue Welt.
Die Faultiere baben es schleckt; den festen Krautacker, auf
dem man so behaglich weidete, verscblang das Erdbeben. Weh
dem, der jetzt kerne Flugel hat! — Aber wir Freien fuhlen es:
Nun beginnt endlich das langersehnte Reich unserer Heimat.
Menschenhals und Menschenhebe smd stimmungsmafuge Autferungen
desselben unveraui/er lichen Gerunles: des Glauoens an den nocnsten
moglichen Wert des Menscnen.
Der Mystiker stent, was den gewtigen V erkenr anlangt, 1m Genusse
des Vorzuga, nickt kommentiert werden zu kcmnen. Den Stolz der
Ration a Wen mache es aus, dai? er nickt kommentiert zu werden braucne.
Aus Rudolf Leonhards Aphoriomenband ,, Alles
o d e r NicKts" (Ernat RowoMt-Verlag Berlin W. 35)
228
georg brandes BERLINER ERINNERUNGEN
n.
Auck einen daniscken Diplomaten traf ick in Berlin an: es war
Danemarks vieljakriger Gesandter daselkst, Herr von Quaade. 'Ick
katte mn sell on 1m Jakre 1873 1c en n en gelernt, als ick in Berlin studlerte
una em Zeugnis der daniscken Legation krauckte, urn Bucker aus der
Koniglicken Bikliotkek zu entlcknen. Ick wurde jamais in em Gemack
dee Tier gart en-Hotels gefukrt; denn der Gesandte katte dazumal nock
kerne ieste Woknung. Ein kleiner Mann mit Brille empring mick. Ick
nannte meinen Namen. — Smd Sie Dr. B„ der kekannte Dr. fl. ? —
Ick antwortete, wenn er damit nickt etwa meinen OnkeL, den Arzt,
meine, so sei ick es. — J a, dann kenne ick Sie ja gut: ick kake zwar
nickts gelesen . . . nickt so viel von Ihnen gelesen, aker ick kake viel
uker Sie gelesen. — Mein Gesicktsausdruck mockte ikm sagen, dafi ick
mir denken konnte, von welck mindergunstiger Besckaffenkeit dies wokl
gewesen war. Aker er mitfverstand mick, indem er mir Mifinut ok
seines Mangels an Bekanntsckaft mit meinen Produkten anzUmerken
meinte, und setzte naiv, jedock aufierst ko flick kinzu: Sie versteken,
wenn man Familie kat, grofie Kinder, so Meikt ja nickt viel Zeit irur
Lekture.
So katte ick denn dit Erihnerung an ikn ah einen fait ukertrieken
koflicken Mann kewakrt. Ick wufte nickt, daJ? er, dftr kunen-
kaftcste aller Menscken, kestandig zwiscken ukermafcger H<>flickkeit und
der extremsten Grokkeit kin und ker sckwankte.
Ick war gleick nack meiner Ankunft in BerKn kesteuert worden
und da der Betrag sick zumeist nack der Hausmtete ricktete und ick
im Verkaltnis zu meinem Einkommen zi em lick teuer woknte, war die
Steuer reckt kock. Ick katte aie okne Einwande kezaklt, erfukr aker
in emer Gesellsckait, als die Einkommensteuer zur Spracke kam, dftl?
ick als Fremder im ersten Jakre meines Berliner Aufefttkaltes van aller
Steuer kerreit sei und sickerlick die Summe zuruckerstattet kekommen
konne. Es klang mir etwas unwakrsckeinlick in den Okrcn, dal? das
deutscke Reick mir Geld zuruckgeken sollte; als ick mick aker an das
Stcueramt wandte, erklarte man sogleick, nackdem man mick angekoft
katte, es liege kier ein Irrrum vor. Man kake nickt gewutft, dai? ick
kier fremd sei und sei kereit, mir den erlegten Betrag suruckxugeken,
konne es aker nickt aut mein Wort all ein tun. Ick braucke mir jed«ck
Hoi? von der daniscken Gesandtsckaft ein Attest meiner Nationalist
zu versckarren, so liege das Geld fur mick kereit.
229
Ict sctlug lm Berliner Adressentuct nact, um welcte Zeit der
Gesandte empfange, land aber keine Angabe; so futr ict denn um
zwolr Utr zu itm und utergat dem Diener meine Visitenkarte. Er
tat mict, in emcm sctmalen Zimmer mit Biicterregalen zu warten. Es
verging fast erne Stunde, dann kam der Gesandte, sail mict nictt an,
nanm era JBucn und wollte das Zimmer oline ein Wort verlassen, als
ict Guten Tag! sagte. — Was wollen Sie? — let moctte gerne mit
Exzellenz sprecten. — let empfange jetzt niemanden. — Das wutfte
icn nictt; ict sat lm Adressentuct nact, um Euer Exzellenz' Empfangs~
stunde zu erfatren, es stand ater nictts darin- — Advokaten taten
Empfangsstunden, Arzte taten Empfangsstunden; ein koniglict daniscter
Gesandter tat keine Empfangsstunde. — Gleictviel, wie es genannt
wird, wann kann ict vorgelassen werden? — Sie konnen morgen um
12 Utr kommen. — Merkwurdigerweise war also der Gesandte um
eben die Dtunde zuganglict, zu welcker ict abgewiesen wurde.
Am nactsten Tage natm ict cine Drosctke und futr atermals
den langen \Veg datin. Diesmal trauctte ict nictt zu -warten. Der
Gesandte kam sofort, ater setr erregt: „Sie taben die Stunde, die ict
Innen an gab, versaumt, Ict sat auf meine Utr; es war fiinf Minuten
uter zwolf. Ict antwortete also : Moglict, dal? einige Minuten uter
die Zeit verstricten sind; es ist tei den grotfen Entfernungen in Berlin
und, wenn man fatrt, sctwer, die Stunde so genau einzutalten. — Sie
laft: sict ausgezeictnet eintalten. Tate ict Itnen Itr Rectt, wurde ict
Sie gar nictt empfangen. — Na, so tun Sie mir tloi? mein Rectt!
Meine Geduld ist nictt unersckopflict. — W^elct ein Ton! Was
wollen Sie utertaupt von mir? — - Alles was ict will, ist ein Zeugnis
dafur, dab ict Dane tin. — Dal? Sie damsct sprecten, tore ict ; ater
ob Sie daniscter Untertan sind und was oder wer Sie etgentlict sind,
daruter weitf ict nictts, kann also nictts attestieren. — Ict glautte, ict
sei tekannt. Ict tate meine Visitenkarte atgegeten,
Da ater kam ict sctlectt weg; denn mit einer unvergleictlicten
K.opTDewegung, die die ganze Genngsctatzung der Vornetmteit aus-
druckte, gab der Gesandte mir die Antwort: Ict lese niemals Visiten-
karten. — Nun wurde Herr von Quaade mir aber tatsactlict zu gro#;
ict stand auf und sagte teftig: Ja, ja gut, nun gete ict, Adieu! —
Uberrasctt tract der Gesandte aus : „Ater wenn Sie jetzt get en, taten
Sie ja in Itrer Sacte nictts getan. — Natiirlict nictt. Durct das
Attest hatte ict einige tundert Mark ersparen konnen. Ater wenn
Die glauten, dal? ict mict dieser Summe zuliebe so betandeln lasse, wie
230
Sic mick kekandelt kaken, so tauscken Sie filch. grundlick. — Verklufft
fragte Herr von Quaade: Aker Tver smd Die denn ? — lck nannte
meinen Namen und laum katte ick ikn ausgesprocken, als dcr Gesandte
wie verwandelt war; — Aker dann kennen wir emander ja, nickt
wakr? Bitte, kommen Sie kerein. Ick glaukte, Sie seien ein Hand*-
werkskurscke. Es laufen kier ja so viele kerum, die mick seckieren.
Ick erfukr kieraus, welcken Empfang ein Handwerker kei dem
damscken Gesandten zu linden pilegte.
Herr von Quaade fukrte mick in seine ^Voknstuke, sckrieb mir
das Attest, setzte das Siegel darunter und als * ein paar Tropf en Lack
daneken auf das Papier fielen, rif? er trotz meines Protested das Doku-
ment entzwei und sckriek mit nock gro#erer Sorgfalt ein zweites, das
nock zierlicker mit dem gro#en Legationssiegel gesckmuckt wurde.
*
Nickt die politiscken Personlickkeiten waren es, die in der Zeit,
da ick mick in Berlin einlekte, das meiste fur mick kedeuteten. Nur
der Oeffentlickkeit kedeuteten sie am meisten.
Weit starker stand mir der Sinn nack den Mannern des Gedankens
und der Kunst und nack jenen Privatleuten, die mir rreundsckartnek
entgegenkamen.
Ein vornekmer russiscker Gutskesitzer, Herr von Leeden, der
Offizier gewesen, aker aus dem Heere ausgetreten war, da er sick mit
seinen radikalen Ansckauungen in die Diszipkn nickt rinden konnto
nakm mick zu einer Reike von Vorlesungen mit, welcke der Pkilosopk
Eugen Diikring kielt. Das Tkema, das kekandelt wurde, war die Ver-
folgung, die professionelle Wissensckaftspfleger zu alien Zeiten den selk-
standigen Denkern gegenuker geukt katten. Herr von Leeden kannte
Diikring personlick und kewunderte ikn. Aker trotz der Auskeute,
die ick aus versckiedenen Arkeiten dieses Pkilosopken gezogen, trotz des
Mitgefiikls, welckes seine Blindkeit und kurzlick stattgekakte Entrernung
von der Universitat erregte und der sympatkiscken Geistesstarke, die
sick in seiner dem personlicken Mii?gesckick trotzenden starken Betonung
des Lekenawertes verriet, waren diese Vortrage dock allzu durckzogen
von krankkafter Bitterkeit und personlickem Groll, um Eindruck aur
mick macken zu konnen. Woruker Diikring auck sprack, ok uker
Sokrates oder Giordano Bruno, uker Auguste Comte oder Rokert von
Mayer, stets sak er, was diesen Mannern gesckeken war, im Lickte seines
eigenen Sckicksali, Selkst an Sokrates* Tode trugen die Professoren
[„dazumal Sopkiite» kenamnt'*) die •igantlieke V«rantwortung.
231
^far die A a Mage, sicb Robert v. Mayer* Entdeckung zu eigen
g*macbt ru baben, audi gegen Helmboltz gencbtet, 00 war es dock Frau
Ajugusie Helmboltz, der Dubring eigentlicb zu Leibe wo lite, der er zur
Last legte, ibn hub seiner Stellung als Lebrer am Vikton a- Lyceum ver-
trieben zu babtn. In seiner Bxssigkeit war etwas, wo ran viele Jabre
danacb August Strindberg erinxLerte, wenn er glaubte, dait man ibm
enigegenarbeitctc oder lLn verfolgte.
Dubring war ein originaler und hocbentwickelter Cast, vernet ~
aber nicbtsdestoweniger in seiner Polemik einen fast wabnwitzigea Un~
verotaad (00 in seinen Angriffen auf Leasing und Goetbe) und zugletcb
(um Grundsumme von Robert, die erscbrecken mui/te. Es gelang denn
aucb Herrn von Leeden nicbt, micb zu inm zu bckebren.
Es war em anderer Pbilosopb in Berlin, der micb anzof£ und dessen
Bekanntscbait icb zu macben wunscbte. Das Zeugma, das er von Dun ring
amgestellt bekommen batte, war just Item vorteilbartes ; batte dieter ibn
docb offentlieb mit dem Mordpaderasten Jastrow verglicben, der einige
Jabre zuvor bingericbtet worden war, Es war Eduard von Hart-
maun, der Verfaaser der JPbilosopbie des Unbewutften , eines
Wcrkes* da* trotz seiner scbwierigen Form derart durcbgescblagen batte*
dai? es in zebn Jabren acbt Auflagen erlebte ins Russiscbe und Fran-
zosiscbe ubersetzt wurde.
Hartmann stand dam a la aur der Hone seines Rubmes. Sein Name
leucbtete bereits uber das deutscbe Geistesleben. Es klang nicbt besonders
Gbertrieben, wenn in einem der Spielbagenscben Romane jener Zeit von
ejncr jungen Dame der Aussprucb getan wurde, rlartmann, Bismarck
und AA^agn«r seien die drei Personen, die die Pbysiognomie des neuen
D«uUcbland bezeicbneten. Er wurde mit Leidenscbait bekamprt, a Der
wie kein anderer Denker gelesen ; man verfolgte mit Aufmerksamkeit,
-was von seiner Feder kam.
Es erging inm entgegengesetzt, wie seinem ein wenig jungeren Zeit*-
genossen Nietzscbe. Wabrend Nietzscbes erste Scbriften kein Aufseben
trregten, ja wabrend er bei Lebzeiten ganz uberseben wurde, so dai?
erst sein Tod das Signal zu seinem Weltrubm gab, batten Hartmanns
erste Werke einen unerborten Erfolg und macbten ibn mit ein em Scblage
berubmt. Sparer entwickelte er sicb allmablicb weiter. Nicbtsdestoweniger
sank sein Ruf bestandig und bei seinem Tode war er fast vergessen.
Icb vcrdankte ibm personlicb eben nicbt viel, vielleicbt alles in allem
mdne Vertrautbeit mit der Idee von dem Unbewulsten als Grundmacbt;
aber seine Personlicbkeit batte micb von weitem geiesselt, zuletzt sein
232
Buck uker die Selbstauflosung des Ckristentums. Dagegen katten
emzelne seiner klemeren Arkeiten mien stark akgestoKen, so der pnili—
strose Angriff auf Skakespeare in der Sckrift uker Romeo una Juke.
Auck sein Sckicksal flo&e Teilnakme ein. Das Knegsleiden, das
ikn gezwungen. seine Stellung als Artilleneoffizier aufzugeben, kinderte
ikn sick zu kewegen und zwang ikn zu einer einsamen und emiormigen
Lekensweise. Ick suckte ikn denn auf.
Er lag aur dem Bette ausgestreckt in seinem auKerkalb der btadt
in der Sckonkauser-Allee gelegenen "Woknung. Ein dickter krauner
Bart floi? auf die kreite Brust kinak — ; die Augen waren sckon.
Wakrend sein Geist ein metkapkysisckes Geprage katte und eines pkan-
tastiscken Sckwunges mckt entkekrte, war seine Stimme ein wemg trocken
und unpoetisck. Er empfmg mick ireundkck, kels sick aucn nut mir in
ein Gesprack uker seine Lekre ein. Ick katte seine Pkantaslen uker die
endllcke Erlosung der lA'elt und Gottes endlicke ^Erlosung von der
AVelt mckt reckt ernst n en men konnen, diese ganze Geistespkilosopkie,
die sick in lauter ckristkeken ICunstworten kewegte — kei einem
Pkilosophen, welcker entsckieden ckristentumsfern war. Aui meine
Fragen erwiderte er, es sei lkm frukzeitig klar geworden, dai? der Welt~
prozel? sem Ziel kaken musse; dieses Ziel konne mckt positiv, mckt all*-
gemeine Glucksekgkeit sein, die unmogkek und wertlos $ei, es musse
negativ sem. Die allgememe Erlosung musse mit dem ^Veltuntergang
zusammenfallen. Und diese Erlosung sei ekenso sekr Gottes Ziel [wie
Welt-Ziel ; denn auck Gott, der in den einzelnen Menscken durck alle
Zeiten das Leiden der ganzen Welt getragen, streke nack Erlosung und
erreicke sie zuletzt. In der AA^elt sei ja das Bose uberwiegend, aker
sei die AVelt endkek, so wurde Gottes UnseKgkeit nickt ewig sein,
Ick korte dies an wie ein Gediokt; es interessierte mick nickt
anders. Die Grundlage dieses Gedicktes -war Aie Lekre, dal? das Leken
ein Ukel und die AVelt, die wir kennen, in Grund und Boden sckleckt
sei. Allem ick katfe in den Sckriften deutscker Pessimisten den Sum-
mierungen der Lust- und Unlustempfindungen im Mensckenleken gefolgt
und sie ganz willkvirlick gefunden, da ja ein Mafistak fur den "Wert
der Lust oder Unlust des Einzelnen feklt. Und was das Weltall ke-
traf, so war es meine Ansckauung, dal? die ^vVelt ekenso wenig gut oder
sckleckt ist, -wie sie klau oder gelk ist ; diese AA^orte sind eken gar nickt
auf sie anwendkar.
233
In den spateren Gespracken, die ick nut Eduard von Hartmann
fukrte, rielen mir zwei Dinge auf.
V orerst die Art seines Patnotismus. Dieser war derb, selbstgefalKg,
meat sonderkek versckieden von dem des gewoknkeken deutscken Spiels-
burgers, von der Ukerzeugung getragen, die Deutscken seien okne weiteres
das nochststekende Volk der Erde, deutscke Wissensckaft und Kunst in
]eder Hinsickt die ersten u. s, w. Dies ersckien mir kei emem Pkilo-
sopken sonderkar.
Sodann die Art seines Ekrgeizes. ^kVieder und wteder kam er
darauf zuruck, dal? seme Zeitgenossen ikn nickt anerkennten, wie er es
verdiente. In Zeitsckriften und Zeitungen werde er aus purem Neid —
er sprack das Wort Neid mit einer ganz kesonderen Betonung aus —
totgesckwiegen, ernte nie das Lok, das ikm zukame.
Gak es nun etwas. woran lck in meinem Umgang mit den Hunderten
'von Verfassern, die ick gekannt katte. gewoknt war, so waren es diese
Klagen. Niemand kort sie ofter als ein Kritiker, der es ja kis.zu einem
gewissen Grade in der Mackt kat, dem so sekr bejammerten Ungluck
abzukelfen. Er fuklt sick gar kaufig als Doktor an dem Hospital fur
die kranken und verwundeten Eitelkeiten. Aker es war mir in Berlin
vorbekalten, diese Klagen zum ersten Male von Sckriftstellern in einer
\Veltspracke zu koren und, wie in diesem Falle, von einem Verfasser,
dessen Ruf uber die Erde ging, einem mystiscken N aturp kilos opken,
dessen Gedanken das All umspannten.
Eduard von Hartmann katte damals sein Buck Pkanomenologie
des sittlicken Bewutftseins unter Druck und es war ikm voti
Wicktigkeit, es von mir offentKck besprocken zu seken. Falls ick be-
reit ware, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, sollte ick es vor seiner
Herausgabe zugestellt kekommen. Ick weigerte mick, solang es anging*
unter dem Hinweis, dal? ick nur auf dem rein literariscken Gekiet voile
Sackkundigkeit besa^e. Inzwiscken jedock katte Hartmann erfakren, dai?
ick Mitarbeiter der grol?en englxscken Wockensckrift ^Academy" ge-
worden war und von dem Augenkkck an, da dies in Berlin verlautete,
gestaltete sick das freundsckaftKcke Verkaltnis versckiedener notakler
Sckrifts teller zu mir ungemein eindringlick. Es passierte mir, dal? ick
zu einer grof?en und uppigen Akendgesellsckaft geladen wurde, die Haus-
irau als Tisckdame katte, obwokl ick nickt zum ersten Male in dem
Hause und beiweitem nickt der angesekenste Gast war, dal? die Dame
kierauf nack vielen Umsckweifen und Artigkeiten die Rede darauf brackte,
wie nutzkek eine Bespreckung in der ,, Academy* dem neuen Bucke
234
tkres Gatten ware, ja es gesckak, dab nack diesem freundkcken Finger—
seig aer Gnadigen der Gemakl selkst, der aen mit seiner Frau ke-
sprockenen Feldzugsplan nickt immer genau in Ennnerung Katte, mir
nack Xiscn eine V an at ion desselken Tkemas gab.
Ick versuckte mick Hartmann gegenuter um die keikle Sacke, auf
Bestellung zu loken, kerumzudrucken, indem ick mm eines Abends eine
kurzere Notiz versprack: aber sckon am nackaten Morgen empfing ick
^ in en Brier von lkm des Inkalts, daf? ikm nut einer kurzeren Notiz
nickt gedient sei, er musse sick einen ausfukrkcken Artikel erkitten. Ick
katte lkn geketen, seinem neuen Bucke dock nickt einen so langen und
aksckreckenden Titel zu geken, der auf dem unverstandlicken Fremdwort
Pkanomenologie kerukte; ick mutfte lackeln, als er in demselken Brief e,
in welckem er auf seiner Forderung eines langeren Artikela bestekend,
mick kelekrte, er jage nickt nack Popularitat, wakle seine Titel nickt
mit dem kalkgekildeten Leser vor Augen u. a. w. gerade, als gesckake
«s meinetkalken, daw ick ikm eine Anderung des Bucknamens vorge-
scklagen katte. Spater gelangte er offensicktlick zu einer kesseren Er-
Icenntnis, denn sckon in der zweiten Auflage strick er das fremde Wort
von dem Titel.
In seinem grouen A^erke uber Ediiard von Hartmanna pkilosopkisckes
Syatem nimmt Dr. Artkur Drews Jen kervorragenJen Denker mit
cinem gewisaen Reckt in Sckutz vor dem Sckmakwort Reklamepkilosopk,
<!as seine Gegner ikm ankefteten, — eine Folge der von Hartmanns
verleger veroffentKckten Prospekte, in welcken alle mogkcken jemals
und jeorts uker den Verfasser und seine A^erke gefallten Urteile Jem
Pukkkum vorgelegt wurden, Aber so ganz unketeiKgt an der Ent~
stekung di eser Prospekte, wie Dr. Drewa Hartmann kinstellt, war er
Tvokl nickt, sie besckaftigten lkn stark.
Ick erlekte in Berkn einen drolngen Beweis dafur. Im Jakre 1877
kam (wokl aus Amertka, aker vielleickt auck aus einer Provinzstadt)
ein alter feiner una kluger. aker in der Hauptstadt unkundiger Mann,
namens Ernst Kapp, nack Berlin, welcker ein kockst wertvolles Buck
Grurdlinien einer Pkilosopkie der Tecknik gesckrieken katte,
«ine Darstellung der Entwickelungsgeackickte der menscklicken Werk-
zeuge von Keil, Hammer und Axt angefangen kis zu den sinnreicksten
Masckinen, eine Idee, die spater von-Remy de Gourmont in Une Loi
Je Constance intellectuelle bekandelt wurde. Ernst Kapp ging, um die
Aurmerksamkeit auf sein Lekenswerk zu lenken* zu versckiedenen
Mannern, deren Namen er kannte, und bat sie, womoglick etwaa fur
235
ikn zu tun, kam kierkei auck zu mir, der ick nickt vieL, una zu Hart—
maun, der kedeutend mekr vermockte. Hartmann aker verstand ale
Saclie umgekebrt, Er stellte furs erste den alten Kapp nn Dienste
seines eigenen Rukmes an. Gerade damals sollte ein ausrunrlicner Pro-
spekt mit Auszugen aus Bespreckungen aus Deutsckland und dem Aus-
lande, aus der neuen und alten Welt, versendet und aus diesen Be-
spreckungen der gro#tmoglicke Nutzen gezogen werden, Es kiel? sie in
Gruppen ordnen, in aie rukmenden, die neutralen, die tadelnden und
kerakreiiZenden. Einige Ke#en sick zweimal verwenden ; man sckriek z. B,
ttker einen und denselken Auszug: „Prof. Dr. Lasson sagt*\ und iiker
ein en anderen ; „In der Deutscken Rundsckau keiKt es , obwokl es sick urn
denselken Artikel kandelte, Eine wicktige Frage war ferner die der
Reikenfolge. Sollte man zuerst Aie Bedeutung des Verfassers durck die
starksten Lokpreisungen seiner ukerwaltigenden Gemantat feststellen und
mit Verkoknungen sckliei?en, die sick verloren wie die Sckmakweisert
der Soldaten kinter dem AA^agen des Triumpkators oder "war die um-
gekekrte Ordming vorzuzieken? Der alte Ernst Kapp katte viel Kopf-
zerkrecken damit. Endlick wurde die Sacke so geordnet, da# man mit
dem Mordpaderasten Jastrow (in Diikrings Angriff auf Hartmann) be-
gan n, um mit den starksten und durckdringendsten Posaunenstotfen fur
dieses Genie, das epockemackend alle Nekenkukler ukerstrakle, zu enden.
Nickts liegt oder lag mir ferner, als einen ukenegenen Geist —
so selkstandig und lekrreick wirkend, wie den Eduard von Hartmanns —
nack kleinen menscklicken Sckwacken zu keurteilen, welcke sick kei einem
durck einen Sckicksalsscklag Mitfkandelten, von wirksamer Teilnakme am
geselligen Let en Ausgescklossenen und auf sick selbst und sem Eigenes
Angewiesenen so naturkck entwickeln mujtften.
Ick kake auck weiterkin Hartmanns Bucker jederzeit auimerksam
gelesen und mir von iknen angeeignet, was meinen eigenen Gedanken
Nakrung geken konnte ; aker ick zog, mick damals von seiner Persom
zuruck, da ick mick durck den personkcken Verkekr weniger kereickert
als kenutzt fuklte.
236
stefan grossmann BERLINER CARNEVAL
I.
Wann hat er begonnen? Ich glaube im Dezember 1918 und
neither hat er noch nicht aufgehort. Aber es ware falsch, nun
aus dieser Festsucht etwa auf eine geminderte Arbeitsfahigkeit des
Berliners zu schlietfen. Das Madchen, das ich Sonntag nachts,
so gegen 4 Uhr, auf dem Ball der Kunstschule Reimann getroffen
habe, lauft Montag vormittag hurtig und frisch durch die Corridore
*des Warenhauses Tietz, und der Rechtsanwalt, der sich allnacht-
lich im Schweii?e seines Angesichts durch die Festlichkeiten im
Zoo tanzt, begniigt sich mit einem Minimum von Schlaf. Es sind
andere, robustere Nervensysteme, als sie ^Wiener, Miinchener oder
Rheinlander haben. • Freilich, wer die. Gesichter und Figuren dieser
tanzsiichtigen Gesellschaft ansieht, wird finden, dal? die, Magerkeit
dieser Frauen und Madchen oft unter das aesthetisch zulassige
Gesichtsminimum sinkt, und die Manner haben einen Ausdruck
von Gehetztheit, der riihren konnte, wenn es sich nicht um ziem-
lich ausgewachsene Typen handelte. Auch das Vergniigen ist in
Berlin eine Arbeit und auch die Freu ie freut hier besonders,
wenn sie einen Rekord darstellt.
II.
Freilich ist das Gros der Berliner Ballbesucher nicht aktiv
tatig, sondern wirkt passiv mit. In Wien, in Miinchen, in Frank-
furt tanzen die Leute, die auf einen Ball gehen. In Berlin sehen
sie merschdendeels zu, wie Andere tanzen. Sonst ware es ja auch
nicht moglich, daf? zu den grotfen, gesuchten Ballfesten dreimal so
viel Karten ausgegeben werden, als die Sale eigentlich fassen. Es
-gibt Balle, deren Hauptvergnugen darin besteht, daf? man sich
stundenlang in einem furchterlichen Gedrange befindet, und es gibt
gewitzte Festarrangeure, die aus diesem Trieb des Berliners zum
Gedrange drollige Situationswirkungen ziehen. Bei alien Berliner
Carnevalsvergniigen geht es am Tollsten in den kleinen und
kleinsten Nebenraumen, auf den schmalsten und dunkelsten Treppen
zu. Die Gesinde~ und die Bosen Buben-Balle, die in Berlin un-
moglich wurden, weil die Buben sich allzu bubenhaft, das Gesinde
sich allzu gesindehaft benahmen, zeichneten sich besonders durch
dieses Corridor- und Treppengedrange aus. Das Gekreisch, das
Aufschreien und die Verwirrung auf diesen moglichst schlecht be-
237
leucbteten Wendeltreppen, auf denen die aufwartsstrebenden Maskem
den tiefhinuntersteigenden begegneten — die tief binunter steigen-
den gaben den Ton an! — sollte phonographisch festgebalten
werden. Dieses halb emporte, balb belustigte Getue, dieses angst-
voile und vergniigte Quietschen, dieses Zugreifen und Gepackt-
werden, stellt das eigentliche Berliner Carnevalsvergniigen dar.
Womoglich mul? sich in dem Durcheinander nocb ein Mann mit
einer Knarre oder einer Signalpfeife befinden. Solche Dissonanzen
geboren zur Berliner Seligkeit. Der Berliner Carneval hat dada-
istiscbe Elemente, lang vor dem Auftauchen des Dadaismus.
III.
Auf einem Ballfest, das vor einigen Sonntagen in dem giotfea
Saal der Hochschule fiir Musik stattfand, erschien spat abends ein
Herr in einem blau-weii? gestreiften Badetrikot. Sandalen, bis
iibers Knie nackte Beine, gelbe, diirre Arme, ein nackter, zienw
lich faltiger Hals, ein zimmerblasses Gesicht mit einem Kneifer auf
der Nase und im ubrigen ein kleiner Hangebauch, iiber 'welchem
sich das gestreifte Badetrikot spannte. Der Mann durfte die Ein-
gangstiir passieren. Der Mann durfte durch das Gedrange. Der
Mann fand Tanzerinnen. Und da sage nocb Einer, die Berliner
sind nicbt tolerant. Sie sind es fiir mein Gefiibl viel zu sehr-
Auf einem anderen Fest, das von der Redaktion einer soziali-
stiscben Monatsschrift veranstaltet wird und das als eines der
schonsten Feste Berlins gilt, weil an Recbtsanwalte und Kaufleute
nur in besonders beriicksicbtigenswerten Fallen Eintrittskarten ge-
geben werden, babe icb eine Anzabl jungerer und alterer Herren.
gefunden, die ibre Beine, ibren Riicken und die Brust mit Indianer-
farben und Ornamenten bemalt batten. Icb beneidete diese selbst-
eicberen Jiinglinge und Greise, die sich von der Ausstellung ibrer
farbig bescbmierten Heldenbriiste, Riicken und Waden besonders?
frohlicbe Festwirkungen verspracben. Aber scblieflicb bandelt es
sicb bei Berliner Carnevalsvergniigen meistens um die feste Ent-~
scblossenbeit, urvergniigt zu werden und diese unrein bescbmierten
Toren treten eben in den Ballsaal, vom ersten Augenblick an mit
einem beneidenswerten Vorsatz, absolut fidel zu sein und diesen
energiscben Willen zum Ubermut unbedingt zu betatigen. Es ist
das alte preuiiiscbe Motto: Nur immer feste urufi, das sieb in
dieser unbeirrbaren Fidelitatsenergie kundgibt. Diese Durcbbruchs-
238
taktiker baben sicb meistens, ebe sie zum Frontangriff losscbwarmen,
nut den bekannten Hilfsmitteln in etwas gebobene Stimmung ver-
setzt, ja, icb babe einmal ein Privatfest in Berlin mitgemacbt, wo,
urn von Anfang an ausgelassene Laune zu erzeugen, jeder Gast,
nacbdem er seine Garderobe abgegeben batte, eine Sektzone passieren
mutfte, in der die jeweils vorderste Linie der Ankommenden durcb
drei, vier, funf Glaser Sekt zum Durcbbrucb in den Balls a al pra-
patiert wurde. Nicbt ilberall natiirlicb wird das Vergniigen so
bandfest organisiert, aber wer um die dritte und vierte Nacbt~
stunde durcb einen Berliner Ballsaal und seine Nebenraume wan-
dert, wird finden, dai? bier die Tecbnik der Froblicbkeit docb in
einem sebr einfacben Rezept bestebt. In Wien und aucb in Miincben
ist man niicbterner und eben desbalb berauscbter. Was der Sekt
mcbt erreicbt, das mufs der korperlicben Nake gelingen. Kein Haus-
ball obne balb- oder ganzdunkle Opiumboble, obne teppicbbelegte,
ampelbeleucbtete Zelte, obne ziemlicb ausgedebnte, aber garnicbt
melancboliscbe Matratzengrtifte. Das Bediirfnis naeb borizontalen
Situationen war in friiberen Jabren — aucb bei biirgerlicben Privat-
veranstaltungen — nocb grof?er als beute. Ein Maskenfest, auf
dem nur getanzt und nicbt aucb im Halbdunkeln gelagert und ge-
knutscbt wurde, gait als berzlicb langweilig. Acb, der Berliner
ist immer zielbewutft! Die Holdbeit und der Reiz des Daseins
bestebt aber gerade in den Umwegen, in dem Augenscbliel?en vor
dem Endziel, im Spiel mit dem Ziel. Allmablicb beginnt auch der
Berliner spielen zu lernen. Er ist so belle, nun endlicb das vul-
gare Dunkel zu meiden. Man stolpert jetzt, wenn man in ein
scblecbter beleucbtetes Seitenlokal tritt, iiber weniger Paare als im
Fascbing 1914. lmmerbin sind, namentlicb nacb Haus- und Kiinst-
lerfesten, die Kostume der Damen ziemlicb zerknittert.
IV.
Wir unberliniscben Gaste sind durcb drei oder vier solcber
bocbst anstrengenden Ballfeste ziemlicb erscbopft. Aber was die
ricbtige Berlinerin und ibr Partner ist, das kann dreimal in der
Wocbe die Nacbt durcbtanzen, tagsiiber mit preuj?iscber Prazision
seine Arbeit tun und an den ballfreien Abenden, um auszuruhen,
im Tbeater und Konzertsaal sitzen. Nirgendwo in der Welt habe
icb so viel entscblossene Feinde des eigenen Heims gefunden wie
in Berlin. Icb kenne Dutzende junge Frauen, die bei dem blo&n
239
Gedanken, einen Abend still zubause, gar obne Gaste, zu ver-
bringen, nervos werden. Durcbaus nicht nur unglucklicb verbeirate
Frauen. Aber es lebt eine uniiberwindlicbe Unrube und Abnei-
gung gegen bauslicbe Stille in diesen vergniigungstrainierten Frauen.
Wenn sie im Sommer nacb Heringsdorf geben, so verwandeln sie
das Ufer der Ostsee in den Kurfurstendamm und wenn sie im
Winter in den Scbnee der Tburinger Berge zieben, so wird das
Gebirgsbotel zur Neuberliner Tanzdiele. Altvaterische Gemiiter
sagen, es lebe keine Frommbeit in diesen Frauen, wobei unter
Frommbeit weniger ein religioser, als vielmebr ein innerer Friede
iiberbaupt gemeint ist. Obne diese nihilistiscbe Leerbeit in den
Herzen ware die betaubende Tollbeit des Berliner Fascbings nicbt
zu erklaren. Sie flieben in den tobenden Unsinn dieser gerauscb-
vollen Nacbte, weil sie in keiner Stunde ibrer im Grunde bitter-
armen Tage irgendeinen Sinn gefunden baben.
V.
Nacbt der Frauen im Groi?en Scbauspielbaus. Die scbonste
Inszenierung, die der Riesenraum je sab. Herrlicb auf der Mitte
der ungebeuren Biibne zu steben und mit einem Blick dies bunte,
rot, griin, blau beleucbtete Gewoge des Zirkus zu iiberseben.
Aber um vier Ubr nacbts bing sicb eine junge Dame, die vor-
nebmlicb mit einem an der Acbselspange befestigten Luftballon be-
kleidet war, an meinem Arm und sagte: „Du blickst ja so ernst
wie Lenin*\
Icb erscbrak dock, als icb den Namen borte.
JOACHIM RINGELNATZ ' DAS TERRBARIUM
Das -war meine Errindung :
V or alien Dingen muK man die I lere lebendig pressen.
Anrangs kostet ea Uoerwinaung,
Aber scbneimck wird mcnts so neil? gekoebt wie gegessen.
Die Presse mul? mindestens seeks Quadratmeter messen.
Meine Anlage war ein teebmscnes Wunder;
Xiesensale, um die getrockneten Bestien
Ubersicbtlicb bubscb an der AiVand zu befestigen.
240
Denn ein geplattetes Naskorn ist kerne Flunder.
^Vegen der Dickkauter una etcetera
Brauckte ick selbstverstandlick elektnscke JCrart. —
Dock ick speiste nut dem kerausrkeisenden Salt
Samtlicke Waisenkinder von Centralamenka.
Ganz akgeseken von der Naturwissensckart.
Manckes lal?t sick nickt keim ersten mal sckaffen.
Oftmals zappelt und lebt nock der Hals,
AkVenn der Unterkorper sckon platt ist, so kei den Girafien.
Und ick kesinne mick eines nock sckwereren Falls.
Urn meme Sammlung zu komplettieren,
Wollte ick auck einen Menscken so prapaneren.
Jene Mil? Hamsy, die ick dazu erkor,
"War eine ernste, woklgekaute Mulattm,
Leicktkin sommersprossig und Zollwackters Gattin.
Und der setzte ick Arac nut Blumenkokl vor,
Sagte, das sei Barkarossas Liekkngsgenckt,
Las ikr zwei Novellen von Freikerrn v. Scklickt.
Bis sie langsam das Bewuiitsein verlor,
Als ick sie dann im Dunkeln entkleidet katte,
Legte ick sie kekutsam tastend aui die untere Platte,
Kurkelte an. Dock sie erwackte dakei.
Aker ick suckte sie taktvoll besckeiden zu trosten:
TA^ieviel scklimmer es ware, lekendig zu rosten,
Und dal? die Presse mckt zu umgeken sei.
IMickts stimmt traunger als ein menscklicker lodessckrei.
Aker was kedeutet solck kurzer ion
Gegen die iurcktkaren Greuel der V lvisektion !
Und wie Mils Hamsy dann an der Wand die vierte
Halle fur Saugetiere und Eidecksen zierte.
Hat ikr Ankkck jcden Besucker gekannt.
Die Kritiken korten nickt aur sie zu ioben.
Bis sick sckliebkck die Popolaca erkoben.
Diese Indianer kaken das ganze Museum medergebrannt
Alles kaben mir diese Sckweme gestoklen.
Aus Mils Hamsy sckmtten sie Mokassinsoklen.
AVas ein Barkar ist, kat weder Kultur nock Gesckmack.
Aber einen von lknen crwisckte ick spater,
K.ockte mn lebend nut Kiennarz und Wasserstoff -Atker.
Und den Kerl verbraucke ick keute als Siegellack.
241
WILHELM E. BARTON
PARABEL VOM MANNE, DER
ZEIT UBER ZEIT HATTE
' In dem amerikaniscben Pastorenblatt ,.,The Congregationalism* veroffent-
licht W. E. Barton unter den Pseudonym ,,Safed the Sage" jede Woche
cine Parabel, die nicht nur fur amerikanische Ohren gehort. Ich veroffentliche
bier cine in Max Hayeks Obertragung,
Ein Mann versuckte einst, nacn New-Orleans zu gelangen. Denn
er sagte: ,,Es ist nun AA^inter und ick vergnuge mick heker mit der
Angclrute oder im Golf-Kluk als mit der Sckneesckaufel.
Er ordnete also seine Gesckafte, die damals mckt sekr kedeutend
waren, kaufte sicn eine Fakrkarte und einen Liegeplatz im Scklarwagen
und sagte zu semen Freunden :
„Es ziekt mick nack den kalsamiscken Brisen des Golis — ick
-will den Tarpon fiscken und die Magnolie kluken seken ! Dann mack*
ick einen kleinen Akstecker nack Cuka kinuker und vielleicht tu ick
einen Blick in die groise Rinne von Panama. Das \Vinterklima kier
kei euck soil mick mckt vor der Fastnackt seken — lck -will mit den
Blum en des Frukkngs wiederkekren ! Tra-la!
Und am kestimmten lage kam er, die Fakrkarte in der Tascke,
frukzeitig aur den Baknkof. Denn er sagte : „Ick liebe es, Zeit uoer
Zeit zu kabenP
Und sein Zug, der sogenannte Panama Limited, war nock mckt
einmal in der Halle. Denn es war mekr als eine kalle Stunde vor
der Akfakrt,
Und der Mann sagte : „Ick will mir was zum Lesen kauren und
mick niedersetzen und lesen! Denn es ist eine kerrkeke Sacke, Zeit uter
Zeit zu kakenP
^Vakrend er also kinging, um sick etwas zum Lesen zu kaufen,
sckrie ein Mann durck eine Art Sckallrokr :
,;E-c-e-e-kncis ExpreK- Zug nack Panama, Cairo, Paducak, Mem-
pkis, Vicskurg und New-Orleans — emsteigen — Geleise 6 ! ! ! ! ! ! **
Und der Mann, der sick inzwiscken etwas zum Lesen gekaurt
Latte, sak auf die Ukr und sagte sick : ,Jck kaV einen reservierten
Sitz, lck kak' meine Fakrkarte und meinen Scklafplatz — und das Lickt
kier ist sekr gut und die Gesckickte rakelkait spannend — lck kraucke
mick ]a mckt zu keeuen — lck kabe Zeit uker Zeit!
Und der Mann mit dem Sckallrokr rief ein zweites Mai die
^1„*.L„ X\7 l-
Dock der Mann, der sick was zum Lesen gekauft katte, sagte sick :
242
„Es ist erne weite Reise nack New- Orleans una ick werde mick
im Zuge langweilen — ick warte Keber . nock ein w^eilcnen kier —
ick kabe ja Zeit uber Zeit!"
Und der Mann mit dem Sckallrokr rief nock ein drittes Mai :
„E~e-e-e~lincis Exprei? nack Panama, Cairo, Paducak, Mempkis,
Vicsburg und New-Orleans — emsteigen — Geleise 6 ! ! ! ! [
Aker der Mann, der sick was zum Lesen gekauft katte, war gerade
zu emer interessanten Stelle der Gesckickte gekommen, auck katte er
sick sckon an den Larm des Bahnkofsgetummels gewoknt — und
so sak er weder auf, nock korte er etwas vom „E-e-e-e-kncis
Exprei?, ,,..,,."
Und der groJ?e Zeiger an der gewaltigen Ukr in der Halle ruckte
langsam, aker sicker vor.
Und der Mann, der sick was zum Lesen gekauft katte, war nun
ans Ende der Gesckickte gekommen — er rolltc das Buckel zusammen,
sckok es in die Xascke seines Ukerrocks und sagte :
„Jetzt konnte lck sckon langsam emsteigen !"
Und er kok semen Reisekofrer und steuerte dem Durcklal? zu.
Und wie er so kinging, riel sein Bkck auf die gewaltige Ukr in der
Baknkofskalle, Und der kalte Sckweil? track lkm aus. Und er
sturzte wie besessen dem Durcklal? zu — aber nur, um die kintersten
Lickter des letzten Wagens des Panama Limited zu sckauen, der so—
eben in dammernder Feme versckwand.
Und er kesckwor den Mann beim Durcklal? und flekte:
„Herr, lassen Sie mien em, lck mui? den Panama Limited erreicken! "
Aker der Mann keim Durcklal? antwortete lkm und sagte:
„Sie konnen den Panama Limited morgen oder ubcrmorgen er-
reicken — besckworen Sie nickt, denn Sie kaken Zeit uker Zeit!"
Als lck nun dieses Begeknis betracktete, erwog lck den Fall ge-
wisser Menscken, mit denen icn auf meiner Lekenstagereise zusammen-
traf. Denn sie merkten wokl das Gebot und den Eingang einer
Gelegenkeit, lieSen sick aker nickt storen. Und es katte freundkeke
\Vorte gegeben, die sie katten sprecken sollen, und Taten der Lie be, die
sie katten tun sollen, und edle Gewoknkeiten, die sie katten annekmen
sollen. Und der Engel der Zeit sckrie iknen durck's Sckallrokr
fkekender Jakre zu. Und sie sagten sick: „Dies sollte ick zwar tun
— aber ich kabe ja Zeit uber Zeit!"
Nun furckte ick fur einige von iknen, dal? iknen plotzlich der
Tag aufgeke, da sie nut dem Hammer an die Pforte des Himmels
pocken und piaucken und sckworen,* well sic sie verscklossen finden.
Und manckmal ist mir, als korte ick den Engel iknen Antwort sagen:
„Vergeudet eure Spracke nickt so sekr, damit sie euck in der Zu-
kunft nickt f ekle ! Denn, sekt, ikr kakt Zeit uber Zeit !'*
243
s.
WIRTSCHAFTLICHES TAGEBUCH
„KARTELLIERUNG UND KONTINGENTIERUNG^
Vor vieleu Monaten ist an dieser S telle einigemale darauf kin-
gewiesen worden, dal? die wirklicke ^iViedergutmackung, die kein me-
ckanisckes Hin- und Hersckieben von Geldanweisungen und Zaklungs-
versprecken sein kann, sondern nur der Wiederaufkau der europaiscken
und der AA^eltwirtsckaft durck rasckeste, klugste und wirksamste Aus-
nutzung der vorkandenen, neu zu sckaffenden und weiter zu entwickelnden
Krafte — daf? also diese wakre AiViedergutmackung lediglick mit Hilfe
einer verstandigen und planma&gen internationalen Arbeitsteilung zu er-
reicken sel. Die Zerruttung, wurde damals gesagt, ist so stark, die Un-
ordnung so grol? geworden, dai? ein System nottut ; ein grundlick durck-
dacktes, mit ekrlickem Solidaritatskewul?tsein durckgefukrtes System gegen-
sei tiger Anpassung, gegensei tiger Unterstutzung, weeks elseitigen Ineinander-
greifens der Produktionen und Markte.
Der Gedanke, den zu jener Zeit nock mancker andere in Deutsck-
land, dann und wann sogar irgendein europaisck fuklender, neutraler
Wirtsckaftspoktiker predigte, konnte keine befrucktende Kraft gewinnen.
Auf der Brusseler Finanzkonferenz riefen nur die armen und sckwacken
Lander des ^Continents nack SoKdaritat und Planmai£gkeit des Zusammen-
arkeitens; die Reicken saken in diesem Begekren eine zudrmgucke und
lastige Bettelei, die man sick vom Halse kalten miisse, und keantworteten
es mit kilKgen Sckulweiskeiten aus dem Kateckismus des Cobdenclubs.
Fur oder vielmekr gegen das kesondere, femdnackbarlicke Verkaltnis von
Deutsckland und Frankreick wurde ^ie Kooperationsidee 3ies ofteren
empfoklen und erortert; am praktisck kandgreiflicksten wokl, als Hugo
Stinnes Herrn Millerand seine Trustplane vortrug, denen politiscke
Grenzen nur Zwirnsfaden sind. Aber das franzosiscke Siegergemut
stiel? auch reckt lukrative Entwurfe ak, wenn sick kmter lknen ge-
nossensckaftlicke Intimitat oder ricktige Gesckaftspartnersckaft mit den
kockes verkarg. Man meinte, dai? nur eine Art von Beziekung des
Siegers zum Besiegten angemessen und wurdig sei: die der Ausbeutung.
Seitker war von Solidaritat nickt mekr die Rede ; nur von Annui-
taten. Man recknet sick aus, wie viel Geld man von Deutsckland zu
erkalten wunsckt, und konstruiert die unwakrsckemltcksten Hypotkesen,
um zu ,,keweisen k \ dai? es — spater — so viel^aklen kann. Hinterker
entdeckt man, dai? mckts fTircbterlicber ware als die Rlcktigkeit dieser
Hypotkesen. Wenn Deutsckland in ein paar Jakren fur funfunddreifiig
244
Goldmilliarden Waren exportiert, wie Herr Brian d mit rukiger Kenner-
miene propkezeit, — wozu katte denn dann England seinen Krieg ge~
fukrt und gewonnen ?
Sarckgasse. Aker man kann nickt zuruck, denn das lie be Pubhkum
latft mit den Milliard en nickt spal?en, die man ikm versprocken kat. Da
greift Herr Simons, der deutscke Autfenminister, (leider vorlaufig nur er)
nack dem alten Rettungsgedanken der produktiven Arkeitsteilung und
Kooperation. Die Ziffern, sagt er, macken Euck und uns verriickt und
kesitzen doch nickt mekr realen ^Vert als der Million entraum des
Bettlers. Besckaftigen wir uns etwas weniger mit den goldenen Fruckten,
aie nur eine "Wundersonne zum Reifen krachte, und ein wemg mekr mit
den Wurzeln, die leickt verdorren konnten. Sckickt uns nickt immer
Baurecknungen (mit eimgen kundert oder tausend Prozent Profitzuscklag),
sondern laftt uns kauen. Ikr wollt, dal? wir produzieren, und exportieren,
und Tnkute zaklen konnen; aker nickt alles und nickt so viel, dal? kei
Euck die Rader stillsteken. Gut; die Industrie kann das regeln, sie kat
Ubung im Jxartellieren und K.ontingentieren. Setzen wir uns zusammen
und macken wir ein Programm mit ausreickender Arkeitsmoglickkeit fur
uns und Vorzugsgewinnketeikgung rur Euck. Wenn wir uns geeinigt
kaken, wird wokl auck die Sokdaratatsanleike zu haken sein, die Eure
und unsere nacksten Fmanzkedurfnisse deckt,
Das ist ja wieder Stinnes, rufen Aie Franzosen. Sie kaken nickt
ganz unreckt; da wir in einer kockkapitalistiscken Aera leken, werden
planmaKige Arkeitsteuung und Kooperation, wenn es zu iknen kommt, em
nocnkapi tails ttsckes Gesickt zeigen, und Manner, wie Hugo Stinnes werden
dakei lkre Rolle spielen. Davor krauchten die Franzosen eigentKck nickt
mehr Angst zu kaken als wir selkst. Denn Herr Stinnes, der in seinem
^Virtsckaftsreicke ein sekr unkequemer Macktkaker werden kann, wird
sicker em Gesckaftspartner sein, an dessen Seite sick uppige Profite
macken lassen.
RATHENAUS VERTIKALTRUST
Leute, die Entwicklungen gern sckematisieren, kaken Ratkenau als
Vertreter der Jionzontalen" Konzentration dem grotfen Vorkampfer der
„vertikalen", Hugo Stinnes, gegenukergestellt. Ratkenaus Reickswirtsckafts-
ratsrede &egen die „industriellen Herzogtumer^ sckien iknen reckt zu
geken. Aker das Sckema stimmt nickt mekr. Ratkenau reprasentiert
freikck die Verfeinerungsmdustrie, die sick von der Kokle nickt scklucken
lassen, den Koklenmagnaten nickt unterwerfen will. Diese Akneigung
245
(der Siemens bekanntlick entsagt kat), setzt der Vertikalkonzentration nach
unten Sckranken und drangt mekr zur Breitenentwicklung. Allein der
tecknisck—wirtsckartlicke Triek zur V ertikale sckeint dock sekr stark zu
sein ; die neue Verkindung A. E. G.-Linke~Hof£mann siekt ganz wie dine
verkleinerte Nackakmung der Stinnes - Siemens -Transaktion aus. Die
A. E. G.-Vertikale stoft (durck Lauckkammer, der zum Linke-Horrmann-
konzern gekort), kis in die Koklengruke kinak. Allerdings ist die Koklen-
basis sekr sckmal und der Sckwerpunkt kegt nock ganz eindeutig oken, in
der Verkleinerung. Aker ist das nickt kloi? ein Ukergang? Wird die
Logik der Vertikalkonzentration nickt scklielZlick dazu zwingen, die
Grundlage so kreit zu macken wie den Ukerkau? Das krauckt ja gar
keine Unterjockung der Verreinerung durck die Kokle kedeuten ; denn
die Sckwerpunktsfrage ist scklietflick im wesentlicken eine Frage der
Kapitalmacht und (auf die Dauer noch mekr) der Fukrerpersonkckkeit.
DESOZIALISIERUNG
Die wicktigsten stadtiscken Werke Grotf-Berkns sollen entkommu-
naksiert, gemiscktwirtsckartlicken Unternekmungen zum Betrieke uberlassen
werden. Oder vielmekr: Ale paar Fackleute. die nock nut den An-
gelegenkeiten der Berliner Stadtwirtsckaft zu tun kaken, erklaren dies
fur notig. Den S. P. D.~Stadtvatern wird der Entsckluf? sauer werden.
Denn wenn man sick naturlick auck alle moglicken Reckte und Einrlusse
vorkekalten will — das Kernmotiv der angestrekten Desozialisierung ist
die Seknsuckt nack der Arbeitsdiszipkn der straffen Verwaltung und
Kontrolle, der sauberen / Buckfukrung des Privatke triek s. Nickt nur das
Kapital wird zukilfe gerufen, sondern auck der Unternekmer; der ok
seines rucksicbtslosen Profitegoismus und seiner parasitaren Uberflussigkeit
tkeoretisck geacktete Unternekmer.
Die Arkeiter dieser Berkner Kommunalketrieke kaken in den zwei
Jakren seit der Revolution den ortkodoxen Gegnern jeder Lockerung
der Unternekmerautoritat, jeder Beteiligung des Proletariats an der Unter-
nekmungsfukrung kostkares Material geliefert. Sie kaken sick vollkommen
unfakig gezeigt, die Interessen der Allgemeinkeit, der sie dienen sollten —
einer just in Berkn zum guten Teile proletariscken Allgemeinkeit —
gegen ikren eigenen Egoismus und ikren eigenen Faulkeitstnek zu sckutzen.
t)ker den sckwacken Widerstand kinweg, den iknen die von der Stadt-
verwaltung im Stick gelassenen Betriebsleitungen entgegenStellten, sind sie
ckns V eran ^n /or tuB ri s rf efukl loflgeflturmt. urn das Prinzip der Wirtsckait—
lickkeit — kockster Ertrag kei geringster Anstrengung — nack lkrer
246
eigenen Facon, mckt fur das Ganze, aondern fur jeden Einzelncn zu ver-
wirkkcken. Bei der groisen Berliner S tr alien oahn ist nack dem Sack-'
verstandigenberickt der Acktstundentag „durcluockert ; es gibt V ergutun-
gen xur Erkolung und Fernbleiben von der Arbeit, die in keinem Prtvat-
Detneoe vorkommen. Der Betriebsrat „regiert"; das keitft, er durck-
kreuzt jeden Versuck, die WirtsckaftKckkeit der Unternehmungsrukrung
aur rvosten der Bequemlickkeit und Lassigkett der Arbeiter zu bessern.
Im Ostkaien streift die Tatigkeit des Betriebsrats das kriminelle Gebiet;
«r deckt Diebstakle, die zum allgemeinen Brauck gewordeo smd und
kindert wirksame Gegenma&iakmen.
Da sick in der Privatindustrie mit den Betriebsraten im allgemeinen
sckon ganz gut leben la&, sckeinen die Berkner Beispiele zu beweisen,
dai? der Einflul? der Arbeiter auf die Unternekmungsfukrung vorlauftg
nock das Gegengewickt der durck das Eigeninteresse gestrafften Unter-
nekmerenergie brauckt. Feklt dieser Widerstand, so kann der primitive
Faulkeitsdrang und das fessellose Loknsteigerungsstreben allzu leickt die
Produktivitat kemmen und die Rentabiktat, nickt blol? He privatwirt-
scbaftlicke, sondern auck die volkswirtsckaMicke Rentabilitat, zerstoren.
Die Energie und Autoritat des Unternekmers lief?e sick tkeoretisck
ireihck durck eine biirokratisck-diktatoriscke ersetzen, wie in Rutland.
Aber der Vortexl solcken Tausckes ist einigermaf?en zweifelkaft.
Verfolgungswakn ist — sein wir vorsicktig: meistens — zugleick
Grouenwakn.
*
,,Zur Kultur der Seele" — ist zu bemerken, dai? das vornekmate
Zeicken ibres wahrkaften Gesckekens Sckweigsamkeit vor allem auck
uber sick selbst ist.
Die Kunstsckutzen und was iknen in Wissensckaft, Kunst, Politik
und sonst unter den Polemikern nakestekt — kaben es leickt, die
Sckeibe ins Herz zu treffen: sie kaben sie ja nur zu dem Zwecke
gebaut und selber aufgestellt.
■K
Der Dieb kat am starksten Gefukl und Begriff des Eigentums in
sick entwickelt: er will es, wakrend der Burger nur daran gew3knt
ist: erst der Bestoklene erfaft sie wieder.
Aus Rudolf Leonharda Aphorfsmenfeand „A 11 c a
o d e r N i c h t a" (Ernat Rowohlt-Verlag, Berlin W. 35)
247
AUS DEM TAGE-BUCH
SIE, MULLER?
A. ugust Muller, Staatssekretar
a. D. una Sozialdemokrat i. R. ver-
orrentlicnt in einigen Slattern exne
Unterkaltung, der er lm Oktober
1916 allerkockst gewurdigt wurde.
Die Geekrtkeit A. M/s von S. M.
in ein Gesprack zu gezogen weraen,
stranlt nock keute aus dem er-
mnerungsbeglanzten Antutz des eke—
mailmen Gartnerjungen. Der Kaiser
nannte die inn kewackenden Land-
sturmer — fast alle waren Sozial—
demokraten — .,pracktige Manner,
die nnr viel Freude gemackt nab en
und aul?erordentlick zuverlassig
waren." A. M. druckt S. M."s
Ausruf okne Randbemerkung ab,
3 a, in seinen begleitenden Satzen
scneint erne besckeidene Zustimmung
zart angedeutet. Als ob Millionen
Deutsche zu keinem anderen End-
zweck - gezeugt und groKgezogen
wurden, als urn S. M. viel Freude
zu macken. Und was die gepnesene
Zuverlassigkeit der Sozialdemokrat en
anlangt, so kat sie diese Tugend
spater mit bitterster Spaltung und
wird sie mit jakrzeknt danger Okn-
mackt bul?en mussen. S. M. gab
dann dem A. M. erne Anregung
die lck kier wortkck nack den Auf-
zeicknungen von A. M. wiedergebe :
„Wi3sen Sie, Mull er, wenn
man nur das ^vVort ,,Sozialdemo-
kratie" beseitigen konnte. ,,Arbeiter-
stand"' oder ,,Arbeiterpartei"' -ware
docK eine viel bessere Bezeicbnung/*
I 1^ a -morf rta-mAo nm GIC ^£lt
gewesen sein, in der ein Geneimrat
248
Scneidemann umsckwenzelte, wie
dieser in seinem mckt nur wicktigen,
sondern audi sekr leskaren Er*
innerungsbuck erzaklt. Eine Rede,
die der Geneimrat Herrn Scneide-
mann nakelegte, nat dieser lackend
in die Hosentascne gesteckt und
begraben. Dock, wurde der Ge-
neimrat gewagtkaben,den SoziaKsten
..Sie Scneidemann anzureden? Der
gute A. M. aber scneint selbst am
Tage der Veroffentlicnung der kuld-
vollen Beredung durck S. M. nocn
nickt gefuklt zu kaken, wie viel
kocknasige Anmai?ung in der An-
rede: „Wissen Sie. Muller . . ."
gelegen kat. Nie katte der Konig
von England, nie der Kaiser von
Osterreick, nie der Sckwedenkonig
gewagt, einen Staatskurger, der
selkst peinlickstes Zeremoniell em-
kalten mutfte, einfack mit „Sie„
Muller", anzusprecken. A. M. spurt
die beleidigende Vertraulickkeit S.
M/s offenbar keute nock mckt.
Die pracktigen Leute, die begluckt
waren, wenn mnen S. M. derb aui
Aie Sckenkel klopfte oder wenn er
iknen gar das Salzfaisinden Suppen-
teller sckuttete, waren Futter fur
den unersattlicken Grolsenwakn des
Kaisers. 'Wissen Sie was, Muller?
Okne die A. M. ware S. M. gar
nickt entstanden.
Das wakre Mittel, betrogen zu
werden, ist: sick fur scklauer zu
kalten al? die anderen.
De la Rockefoucauld.
RAUBBAU AN MAHLER
Gustav Mahlera Witwe, Frau Alma
Maria Mahler, schreibt mir unter Bei-
fiigung einea Zeitungsausachnitts : ,,lch bitte
Sic dringend, dies zu publizieren. Die
Menschen, die glauben. dafi ich an den
Wcrken Mahlers ,reich* werde, s oil en
einen Beg rut da von bekommen, wie
schmahlich KiinstUr behandelt werden."
Die gauze Tragik die sea Notschreis reitft
die beiliegendc Notiz selber auf . Hier ist sie :
,,Die Zeiten aind fur die Erben grower
SympKoniker schlecht, Selbat dann, wenn
fie endlich aufgcfiihrt werden. Bruckners
Autorenrechte wurden beim Tode seine*
B ruder* und Erben mit 20 000 (zwanzig-
tausend) Kronen (also 2000 Mark) be-
wertet ; und dabei "ware zu sagen, was
ntcnt allgemcin bekaant ist, dafl G usta v
Mahler d*n fur Bruckners Hinterbliebenen
gunatigen Vertrag mit der Universal-
Edition durcb eine fur seine Zeit be-
deutende Aufwendung (als alter Verehrer
Bruckners) erst moglieh gemachthat. Wenn
jemand eine Oper anbringt, orhalt cr 7 %
der Thcatereinnahmen. Wer so unvor-
sicbtig ist, Sympbonien zu produzieren,
muS sicb mit den etwa 100 Mark be-
gniigen, die die Genosaenschaft deutscber
Tonaetxer, wenn sic sebr unbescbeiden ist,
fur Aufiiihrungen, und nicbt immer nur
fur eine, sclbst dann verlangt, wenn dieae
Auffiihrungen in Landern einer beaseren
Valuta vor sich geben. Der ubrige Ge-
winn (aus dem Verkauf des Materials)
fallt grotftenteils dem Verleger zu.
Vielleicbt gewinnt der Lcaer ein Bild
von alledem, wenn icb ihm mitteile, datf
die Witwe Gustav Mablers als Erbin fiir
a 1 1 c Auffiihrungen a 1 1 e r Werke Mablers
wiihrend des letzten Jahres 3655 Mark
erbalten bat."
Herr Hofrat Rosen, der Sie so ener-
gisch fiir die Autorenrecbte lebender Ton-
setzcr, freilicb unter starker Bevorzugung
der dramatischen, eintreten, fiiblcn Sic bier
nicbt die Verpflichtung, einzugreifen ? Viel-
leicbt sind Ihnen dabei die Herren um
Haeniscb behilflicb ? Ist aucb die Universal-
Edition cine in Wien setfhafte Untcr-
nchmung, so mui? docb an einem Ein-
scbreiten, da Deutscbland fiir die meuten
Auffiibrungen in Betracht kommt, die durcb
Sie vertretene Genossenschaft ein el#men-
tares Interease baben. Denn was dem
lebenden Ricbard Straul? oder jedem leben-
den Tondicbter recht, miiMen wir dem
leidcr nicbt mebr unter uns weilendcn
M abler, das ist in diesem Falle seiner noca
lebenden Familie,billig seinlassen. 365 4 Mark
fur hundcrte von Auffiibrungen in einem
Jabr, — in einem Jabr, das allein in
Holland etwa funfaig Auffiibrungen bracJitc
— — das flcbreit, wenn nicbt nacb an<W«n
Inatanzen . . . mindestens nacb den Schutz-
vereinigungen.
Hier baben diese ein Betatigungsfeld
fur ibren Scbutz! Man darf nicbt fruner
ruben, ebe diescr Fall geklart, gerichtet
und bcreinigt ist. Das gilt nicbt allein
fur Mablers Werke und Mablers Erben,
nicbt der an sicb sebr verdienstvollen
Universal - Edition, — ea gebt allc
Scbaffende, alle Verleger, alle Gesetc-
Kaum dal? icb das gescbrieben, gerat mir
folgende lakoniacbe Meldung in die Hande:
Durcb den Valutaaufscblag auf deuttcbe
Biicber und . Musikalien bat der Handel
im letzten Jabr 7 5MillionenMehrerldf
crzielt. — Von samtlichen Uberscbussen
baben die Organisationen der Schriftsteller
und Komponisten 100 000 Mark erbalten.
O, Ibr armen Musikverleger !
Rudolf Kastner.
BARNOVSKY
Probe im Lessingtbeater. Die Schau-
spieler murren. Bassermann ist entfloben.
Die Lossen ging zu Hollander. T^ic blonde
Charlotte Scbultz Kef in die Volksbiihne.
Max Adalbert, Berlins drolligster Komiker,
wird ein Jahr lang in einem dummen
Singspiel abgenutzt. Ob, dieaer Erbe
Brahms !
Da mengt sich ein begiitigender Batf
in das Geschimpfe: ,,'Was wollt Ibr von
ihm ? . , . . Er glaubt zu leiten und er
wird gelitten".
249
BRIEF AUS DER ZELLE
Mifitrauiscte Leser hahen mir
geschriehen : Glauben Sie denn, dab
die Verteidigungsrede (lm Heft 7
des T.-B.) von ihm seltst verfatft
wurde ? Ja, das glaute ich aller-
dings. Ich hate nun einen Stoi? Ge-
dichte und Briefe des im Zuchthaus
Gealterten durchgelesen und weii?,
was an ungewohnlichen Geistes-
gaben in diesem Zwangsverbrecher
steckt. Die Einzelhaft von drei-
zehn Jahren hat ihn nicht erstickt,
wenngleict sic ihn menschenfremd
gemacht hat, und diese Menschen-
fremdheit und Buchexistenz erklart
semen zuweilen gewundenen, papier—
nen Stil. ^iVie schwer es war, in
diesem Jahrzehnt ahsoluter Einsam-
keit nicht zu Grunde zu gehen,
mo gen menschliche Leser aus dem
tier folgenden Briefe ermessen, den
ich vor einigen 1 agen, aus der Zelle
von Emu StrauU erhielt*.
„Aus Ihren Unterredungen nut
Herrn Dr. Loewenthal sowohl als
auch aus der Lekture memes ,.Letens-
laufes" Tver den Sie b ere its soweit
informiert sein,-dai?von einem eigent-
lichen Bildungsgang seltst im ge-
wohnlichen Sinn eines Autodidakten
tei mir gar keine Rede sem kann.
Denn dazu fehlten mir alle unhe-
dingt notwendigen Voraussetzungen,
vor allem: Zeit und Lehrmittel!
Der Mangel an Zeit wird Ihuen
im Hinhlick auf meine mehr als
10 J ah re langen Strafen zunachst
etwas tefremdlich erscheinen. Tat—
sachhch lagen aher die V erhaltmsse
im Zuchthaus so, da£ ich mir die
Mmuten zu meiner Forthudung
buchstathch von der Tagesarbeit
heimhch abstehlen mul/te, weil es
hausordnungsmamg streng vertoten
ist und disziplinansch testraft wird,
am AkVerktage vor Arteitsschluf?
ein Buch in die Hand zu nehmen.
Im Winter fehlte es nun des Abends
auf?crdem noch an Licht, sodai? nur
die Sonntage zum Lernen iitrig
hlieben und im Sommer die Zeit
vor Auf- und nach Emschliu?, so-
lange es eben hell genug war, um
lesen oder schreiben zu konnen. So-
viet iiber den Mangel an Zeit.
Betreffs der Lehrmittel will
ich Ihnen ungescheut gestehen, dal?
ich oft heii?e Tranen vergossen habe
in dem bitteren Gefuhl, memen heils-
giengen Bildungshunger nut der in
der Anstalt ge do ten en, meist schon
recht abgestandenen und zudem noch
hochst sparlich zugemessenen geistigen
Kost auch nicht annahernd aus-
reichend stulen zu konnen. Des
Beispiels we gen erwahne ich nur
f olgende Tatsache : Um das fur
meine enghschen und franzosischen
Sprachstudien zu Ubersetzungs-
zwecken tenotigte Schreibmaterial
zu erlangen, hatte ich etwa ein
halbesDutzend meiner Mitgefangenen
gebeten, von lhrer Wochenration
an — Klosettpapier, das uns genau
abgezahlt in 16 Blattern „klein Ok-
tavformat" an jedem Sonntag zu-
geteilt wurde, soviel wie nur lrgend-
moglich zu ersparen und es mir tei
Gelegenheit heimhch zuzustecken.
Auf diesem traunen, groben Pack-
papier habe ich }ahrelang T ausende
von V okabeln und auch Druckseiten
lange Ubersetzungen medergeschne-
ten.(Straul? teherrscht teideSpracten)
250
Dieses erne Beispiel wird ge~
niigen, urn Iknen zu zeigen, unter
welcken ersckwerenden Umstanden
ick mir das Wemge, was ick an
Kenntnissen kesitze, angeeignet kake.
In dieser Beziekung wurde ick in
Jen Anstalten stets als Unikum
teils kewundert, teils als verrucltt
Delackelt.
Una nun zuruck zu meiner Bitte,
von der ick sprecken wollte. Wenn
Sie, geekrter Herr Grotfmann, das
Vorstekende und alles damit Zu-
sammenkangende sick vergegenwar-
tigen, werden Sie keim Priifen
meiner Poeme sickerlick zu dem
Ergekms kommen, da# der Mangel
an tieferen Gedankcn, an treffcn^.en
Bildern und an sckonen Sprack-
iormen eken zuruckzufukren ist auf
die so ukeraus mangelkafte Vor~
und Auskildung dieses mir ange-
borenen „Talentes" zur Versifizie-
rung aller moglicken und unmog-
licken Stoffe.
Niemand, auck das grotfte Genie
mckt, vermag mekr auszugeken, als
es ursprungkck auf die erne oder
andere Art und Weise einmal ein-
genommen kat. Mem Leken ist so
unsagkar arm an freudigen und er~
kekenden Eindrucken, dal? es auck
eincm Dickter, einem wirklick ke-
gakten und kegnadeten Lyriker oder
Epiker mckt Stoff genug zu mekr
als 2 — 3 kurzen Gedicktcken zu
kieten vermockte. Diese Tatsacke
erst riikrt zum vollen Verstandnis
des Wertes oder Unwertes meiner
poetiscken Versucke ; und urn nun
den Lesern Ikrer gesckatzten Zeit-
sckrift dieses unentbekrkeke Ver-
standnis zu erleicktern, kitte ick Sie
reckt kerzkek, die Gedickte, falls
sie sick ukerkaupt zum Akdruck
eignen sollten — mit einigen er-
klarenden ^tVorten 1m Smne des
vorstekend Gesagten zu kommen-
tieren !
FILMKRITIK:
Die Bestie im Menschen
Vfie macht man einen Film ? Man
liest einen weltberiibmten Autor, nimmt
ihm einen bekannten Romantitel, engagiert
die Orska, die Hoflicb, die Straub, Klopfer,
Winterstein, Wafimann, Korff, zerschneidet
den Roman, und . . . vertrautdemOpcrateur.
In dem Film ,,Die Beatie im Menscnen",
der vor ein paar Tagen unter eiaiger Teil-
nabmslosigkeit imUfapalast begrab en wurde,
ward ein grower Auf wand scbmanlicb
vertan. Ob, es gab Reformen in diesem
Film. Die einzelnen Akte wurden nicbt
mit trockenen Worten angekiindigt, aon-
dern mit Zeicbnungen von L. Boris, auf
denen man aber die eigcntliche Aufacbrift
in der kurzen Sekunde des Erscbeinens
erst sucben mu(?te.
Den Darstelfern waren aebwere Rollen
anvertraut. Frau Hoflicb batte vier- oder
fiinfmal, in scblecbtem Kattunrock, auf
freiem Felde zu ateben und der Wind
batte mit ibrem Rock zu spielen. Sie stand
unentwegt, der Wind webte, der Rock
flog. Frau Orska Katte eine Arbeiter-
gattin zu verkorpern, die kleine Frau eines
Lokomotivfiibrers. Man weitf, wie ecbt
aie daa Proletariate darzustellen wei(?. Ea
war erataunKch, mit welcbem Minimum
an Pelzmanteln und Seidenblusen aie das
Auslangen fand. Der biedere, grundbrave
Herr von Winteratein batte die Zola'acbe
Bestie, den Lokomotivfiibrer, darzuatellen,
der seinen Rivalen im Coupe erdrosselt
und die Leicbe aus dem sausenden Zug
wirft. Selten bat es eine gutigere, ebenso
biedere Bestie gegeben.
251
In dem Film soil cin Eisenbaknunglttck
dargestellt werden. Man a ah statt des
Zusaromenstosscs das Bild der sckon demo-
licrtcn Wagen, daa mtn auo der „Wocke"
kennt. Am Scklusse aoll die waknsinnig
gewordenc Lokomotivc, die ohne Fiikrer
durch't Land raat, $czci$t warden. Der
Registenr katte eine liebenawurdige, nette,
kleine Lokomotive ausgesucht und statt des
phantaatiaeh geateigerten Hinauf-, Hinab-
und Heranrasens war daa normale, recht
gemutlicke Nahen einer immerkin mit
brennenden Licbtern versekenen Masckine
gezeigt.
Dock gibt e$ einige unzuaammenkangende
Mord* in dieiem Film. Einige Personen
laufen zu dtcsem Zwecke durck cine Geg-nd
an der Stettiner Vorortstrecke.
VPer kennt Shakespeare?
Herr Erwin Gepard, der Verfasser
dee Hamlet-Filmea, eckreibt mir : Ick babe
zwar Asia Nielsen versprochen, keine
Zeile mekr iiber den Hamlet- Film zu
achreiben, aber nickt der Deutscnen Shake-
spcare-Gesellschaft. Und ich sckreibe auck
nicnts, iondern widme die folgende Zu-
sammenatellung von fremdem Eigentum dem
oben genannten Inqtitut. Ala Autor dea
Hamlet-Filma wollte ick wissen, ob ick
mick einea Shakespeare-Plagiats schuldig
gemackt kabe und blatterte in den Presse-
kritiken :
,,Tatsacklick bringt nun das Manuskript
Erwin Gepards keineswega einen Stoff,
der sick an das Drama des grotfen Briten
kalten wiirde. (8 Ukr Abendblatt.)
Im wescntlicken ist daa Rokstorflicke
des Sbakeapeare- Dramas weidlick auj-
genutzt. (Vossiscke Zeitung.)
Mit Sbakeapeare kat dieser Film-Hamlet
so gut wie garnickta zu tun.
(Berliner Lokalanzeiger.)
Daa Manuskript Erwin Gepards weickt
nur im ersten. Akt von Shakespeare
ab. (Neue Berliner 12 Uhr Mittagsztg.)
Der Film kat tataacklich fast nickts
mit Sbakeapeare zu tun.
(B. Z. am Mittag.)
Daa Manuskript Erwin Geparda weickt
rein autferlick nur im letzten Akt von
der Shakespeare-Dichtung ab. (Der Tag.)
Ea bcotcht •uberkaupt kein Be-
riihrungspunkt zwischen Shakespeares
Hamlet und dem Film-Hamlet.
(Die Post.)
Eine derartige Zufalla-Dublizitat sckrift-
atellerischer Produktionen, die aick Geate
fur Geste aui a'amtiicke Hauptszenen, Strich
fur Strich aui die psyckologiscke Zeich-
nung samtlicher Nebenfiguren Shakes-
p e a r e s erstreckt, kann wirklich nicht
anders, ala ala weltgefchicktliches Wunder
angesprocken werden. (Film-Kurier.)"
Ick bin mir nur nicbt ganx klar, ob der
groife Brite fetzt die Berecbtigung hat, sick
im Grabe umdreken zu durfen, aber wenn
nur recbt viele Kritiker ihre Schulausgabe
des Hamlet noch einmal aufgeschlagen
haben, dann hat der Hamlet-Film wenig-
atena eine Kulturmission erfUllt.
DER REIGEN DER GASSENJUNGEN
In Wien ist Schnitzlers ,,Reigen"
durch Demonstranten aus einem Katholischen
Gesellenverein gestort worden. Daraufhin
wurde die Auffiihrung verboten. Arthur
Schnitzler schreibt mir dariiber:
,,Sie haben wohl meine Karte er-
balten, in der ick Iknen sagte, wie sekr
mick Ikr parodistiscker Dialog amusiert
kat. (Heft 2 des T.-B.) Ick habe vor-
laufig keine Absicht, mich uber den
„Reigen k und die sogenannnte Reigen-
Affaire in der Offentlichkeit weiter zu
autfern. Von den kiesigen Skandalen.
insbesbndere von dem geatrigen, werden
Sie wohl indel? gelesen haben. Was
soil man dazu sagen? Ich kame mir
unsaglich komisch vor, wollte ich mit
den Abgeordneten Kunacbak oder Seipel
oder mit dem Schuster lehrling polemi-
aieren, der das Theater stiirmt, mit
dem begeistcrten Ruf : ,,Nieder mit dem
Reigen \ Man schandet unsere Frauen •
Nieder mit den Sozialdemokraten l' 4
(E# kann ubrigens auck ein Stud, med,
gewesen sein oder ein Tapezierergehilfe,
252
wobei meine Sympatbie [immerbin
nocb mebr bei dem Tapezierergebilfen
ist als bei den Herren Seipel und Kun-
scbak.) Icb babe fa acbon einige abn-
licbe Sacben erlebt, wenn aucb in be-
scbeideneren Dimension en. Erinnern
Sie sicb nur an den ,,Leutnant Gustl"
und den , , Professor Bernbardi". NacK
einigen Jahren bleibt von all dem Larm
nicbta weiter ubrig ala die Biicber, die
icb gcscbrieben, und eine dunkle Er-
innerung an die Blamage meiner Gegner.
In diesera Fall wird es niebt anders
sein. Mit herzlicbem Gruff
Ibr sebr ergebener
Artbur Scbnitzler.
D^R MELO.
Es gibt sebr intelligente, gutberzige
und gescbmackvolle Menscben, die aicb
unricbtig ernabren und — wie sag icb's
nur ? — ibre unricbtige Er nab rung von
Zeit zu Zeit ibren Mitmenscben zu Ge-
rucb und Gebbr bringen. Beliebtbeit aber
ist nur moglicb bei tadel- und vor allem
lautlosem Stoffwecbsel. Wie mancbe
wert voile Unterbaltung ist scbon durcb
unvorbergesebene Nebengerauscbe gestort,
welcber berzliche und innige Kontakt
durcb jab aufgetauchte Atmospbaren unter-
brocben worden.
Da wird es denn Tausende Neben-
menecben interessieren, dafi eine Stutt-
garter Firma, deren Namen icb scbambaft
verschweige, obwobl falacbe Scbambaftig-
keit bier nicbt am Platze ist, einen Appa-
rat erfunden bat, der die plb'tzlicbe — -wie
sagte man im Kriege? — Vergasung zu
verbindern imatande sein soil. Die Firma
bat zuerst eine trefflicbe Broscbure her-
ausgegeben : „Blabungen und ibre Bedeu-
tung fur die Ge3undbeit" (nicbt der Firma,
sondern des Blabenden). Darin tritt die
Firma fur eine unbedingte Darmfreibeit,
vor allem fur absolute Entgasungsfreibeit
ein. Dieses natiirlicbe Menscbenrecht
widerstrebt aber dem Gesellscbaftsgesetz
der Scbicklicbkeit. Und so entstand . . .
der Melo. In einem illustrierten Proapekt,
an alle Deutacben gericbtet, wird das
wicbtige Instrument gescbildert. Es ist
ein M sinnreicb geformtcs Robrcben k \ wiegt
nur 6 Gramm, entspricbt der Kriimmung
d«s Darms und kann mit Parfum gefullt
werden, jawobl, mit Parfiim. Es -wird
Tag und Nacbt getragen. Dank ibm gibt
es keine gerauacbvollen Uberrascbungen
mebr, aucb keine atmospbarisaben Trii-
bungen, Er sorgt fur lautlosei Auatreten
kleiner Gasmengen, die durcb das im Melo
aufbewabrte bocbkonzeatrierte Parfiim aruis
Angenebmste prapariert warden. Jcder
Melo-Trager ist als Nacbbar erwiinscbt !
Freilicb mabnt der Prospekt, den Melo
nie obne Deckel zu tragen.
Eine Ftille von AncrkennungMcbretbeB
wird in einem zweiten Prospekt vorgelegt.
Man, lcse?
Ein Kommerzienrat G. in O. tele-
grapbiert: ,,Melo verloren. Erbitte sofort
Ersatz !"
Frau S. in D. scbreibt: „Tag und
Nacbt litt icb unter AngstgefiiMen, Durcb
den Melo ist es besser geworden."
Frau F. C. in J. scbreibt : „A\^ir sind
aufferordentlicb zufrieden mit der Wirkung,
meine Mutter und icb.'* (Hier scbeint
das Instrument den Familienfrieden geboben
zu baben).
Prinzessin N. N. scbreibt: .,Icb bore
Gutes von Ibrem Melo" (eigentlicb sollte
man vom Melo garnicbts bbren) „und er-
sucbe um Zusendung."
Frau Rektor B. in A. scbreibt: ,,Mein
Mann ist nicbt mebr vcrstimmt," (Offen-
bar seit dir Gattin sicb der Erfindung
bedient.)
Reallebrer Dr. E. in P. scbreibt :
,,Icb mag den Melo nicbt mebr entbebren,
weder im Unterricbt, noch daheim. Icb
balte ibn fiir Lebrer wirklicb unentbebr-
licb/' (Melo starkt und sichert zweifellas
das Ebrfurcbtsverbaltnia von Scbiiler zu
Lebrer) .
Das letzte Gutacbten gibt Frau Dr. R.
in H. ab: ,,Der Melo ist eine Erlosung
fiir Scbambafte. Fiir die Familiensitte ist
es geradezu unentbebrlicb."
Das Familien- und das Geaellscbafts-
leben bat unter dem Kriege sebr gelitten,
Solcbe unscbeinbare Erfindungen sind im-
253
sta-nde, die alte Trautheit im Familien- unci
Frcundcskreise auf eine remere und stillere
Grundlagc zu bringen. Die hausliche Ge-r
miitlicnkeit, ehedetn zuweilen aufs Pein"
licnste unterbrochen, ist nun auf eine,
darf man sagen: melodischere Basis gestellt.
ANEKDOTEN
Es war der neue Roman von Gangnofer
„Das Herz auf dem Brustfleck 1 '' erschienen
und der Poet wurde von Majestat im
Hauptquartier empfangen mit den ^^orten:
,,Das war wieder mal'n Blattschui?, lieber
Ganghofer 1 "*. Der aber sagte nur in seiner
schlickten volkstumlichen Art : „Wir tun
alle nur unsere gutdeutsche Pflicht,, Maje-
stat". Der gerade anwesenden Kaiaerin
kamen die Tranen.
Wedekind betrat ein Speiselokal, dessen
samtlicbe Tische besetzt waren bis auf einen,
an dera nur Halbe satf, mit dem er aber
gerade wieder „bos" war, Er ging trotz-
dem auf den Tisch zu. ,,Ist hier ein Platz
frei? L ' — ,J cn pflege allein zu essen",
knurrte Max Wedekind zeigte auf den
Kalbskopf, den der beriibmte Dramatist
verspeiste und sagte: ,,Aber Sie sind doch
bereits zwei, Herr Doktor?"
Redaktion des „Tage-Bucb" : Berlin W 35, Potsdamer Strafe 123 b, Tel: Liitzow 4931
Verantwortlich fiir den redaktionellen Teil : Stefan Grotfmann, Cbarlottenburg. Verlag .
Ernst Rowohlt Verlag, BerlinW 35. Potsdamer Stratfe 123 b. Druck: R. Abendroth, Riesa'
©oeben I ct*fd>tcn:
ADOLF BARTEXS
23rofd>terti ttl. J$.—
3n ^albletiuo: ttt. 23.—
uncntbe^rttd>jle
bud> fiber bit fc>eutfc^e JiiteratiM
bis jum^nbe bes 3a^>res 192C
*
*5. ^<veffel / Vtvlag / ildp.;icj
Qrapbifcbes ^abineti
tyucbbandlung und S%niiquariat
Berlin 9l). 50, ^urfarftendamm 232.
(^Meijlermerke
der ^ucbmalQrei
des IX.— XVII. gabrbunderis.
liillililllllillllllillliiiiliiiiiiilllilllllliililllllililllltiliiilliiiiiiliil
Sintritt frei,
aucb donntags 11—2 ^Ibr.
254
DAS NEUE
EUROPA
INTERNATIONALE MON ATS SCHRIFT :
ZtJRICH/ WIEN /BERLIN
Die vielfaltigen Prohhtne unserer
Zeit werden in den Shaken dieser
Revue von berufenen Federal in ge-
diegen sachlicher Form behandelt.
Dem VoJkerfrieden, dent geistigen
V(?iederaufbau dienendjst dasBlatt
stdndig bestrebt, im Sinne dieser
vomehmen Richtlinien zu wirken.
Auslieferung fur den Buchhandel
VERLAG CARL KONEGEN
j . W^ i en I. Of> ernri ng x 3 /
Jahres - Abonnement Mk. 36. — ,
Preis des Einzelheftes Mk. 3. — .
^rf|0Wpwt^
R Ed I E V N D ft E K<? HAT 1 6 N E N
% M fl ■•' . ffimtt "Cent: S3^
i I H FO N 1 $ CH E JM jft j K y N
^AM25. FEBRUAit
IMUFA-PALA*T
In der
HauptroQti
Das Tage- Buck / Heft 9 Jakrg. 2 / Berlin, 5. Marz 1921
WALTHER FEDERN, WIEN A MERE ROBBERY
Der von der Reparationskommission zum Liquidator ernannte
Mr. Henry ^Vkitman, kat dieser Tage seine Demission gegeben una ist
sofort nacn Amerika zuruckgereist. Die Liquidation wird dadurcb,
nickt aufgekalten* denn es bleiben nock zwei Liquidatoren zuruck una
es ist mrgenas vorgesckneben, dai? es drei sein mussen. Aber rlerr
Wbitman bat in em em Interview in der „Neuen Freien Presse die
Grunde fur semen EntscnluK bekanntgegeben und diese sind mteressant
genug, um Aufseben zu erregen. Er sagte etwa, dal? er einer Stellung
no ens t uberdrussig sei, bei welcker eine erspneKlicke Arbeit nicbt moglicb
sei, und zwar einerseits, well die Reparationskommission unianig set, sicn
uber die bei der Liquidation der osterreickiscb - unganscnen Bank zu
befolgenden Grundsatze zu eimgen, sodau diese mckt mit der von lkm
angestrebten Rascbneit durcngerunrt werden konne, andererseits, weil
Europa — d. k. weil die Siegerstaaten — in vielen Beziehungen nock
immer so kandeln, wie wenn der ICneg nock iortdauere, und weil die
in vielen Beziekungen unrairen, ja so gar undurckfubrbaren Bestimmungen
des Friedensvertrages das Gefubl des Friedens nickt aufkommen lassen
konnen. Solcke Ansckauungen sind nickt neu. DaJ? sie in den besiegten
Landern allgemein geteilt werden, ware nock kein Beweis fur ikre
Ricbtigkeit. Sie sind auck aus neutralen Landern und den Siegerstaaten
selbst scnon vielfack geautfert worden. Aber zum ersten Mai gescbiekt
es meines AA^issens, dal? eine Vertrauensperson der Bekerrscker der Erde,
welcke von iknen mit der Ausfukrung des Friedensvertrages in einer
seiner wicktigsten wirtscbaftKcken Bestimmungen beauftragt war, sick
ikres Amtes uberdrussig erklart, weil der Friedensvertrag unfair und
undurebfubrbar ist und weil die Reparationskommission durck ikre Un~
fakigkeit zu Bescklussen zu gelangen, eine ersprie^Kcke Tatigkeit un-
mogkek mackt. Dieses Zeugma kann auck in den Ententestaaten nickt
obne Eindruck bleiben und verdient es darum festgekalten zu -werden,
Herr Wkitman war allerdings ganz besonders in der Lage, zu
dieser Erkenntms zu gelangen, denn es gibt kaum eine andere Bestimmung
der in den Vororten von Paris diktierten Friedens vertrage, welcke so
unfair und gleickzeitig so undurckfukrbar ist wie die des Artikels 206
uber die Liquidation der osterreickisck-ungariscken Bank Herr AVkit-
man kat sick trotzdem eifrig bemukt, der ikm durck die Vorsckriften
des Artikels gegebenen Ricktscknur gereckt zu werden. Er war alles
eker als em bequemer und entgegenkommender Liquidator der Bank,
257
obwobl er sckon lange die Unfairbeit dieser Vorscbriften erkannte.
,It is a mere robbery \ sagte er zu einem boben Funktionar der deutscb~
osterreicbiscben Finanzver warning, als dieser inn rragte, od er wirklicb
glaube un<l beabsicbtige, die Aktionare der Bank emfacb vollig leer
ausgeben zu lassen, aber er fugte binzu, dal? sicb daran mcbts andern
lasse, denn die Vorscnrirt best eke einmal. Aber aucb fur mn batte die
„robbery" ibre Grenzen, und als die Frage zur Verbandlung stand, ob
fur die Ruckzablung eines von einer boliandiscbeu Bank der oster-
reicbiscb— unganscben Regierung 1m -Krxege gewabrten Kredites, d eg sen
Falligkeit eingetreten war und fur den die osterreicbiscb-ungariscbe Bank
als Burge mitverpflicbtet war, Bankmittel zur V erfugung gestellt werden
durften, da gab er seine Zustimmung, und als er von der Reparations*-
kommission desavouiert worden war, gab er seine Demission.
Vielleicbt darf nacb diesem Zwiscbenfall aucb bei den Lesern
dieser Zeitscbrift einiges Interesse fur eine finanzielle Facbfrage erwartet
werden, welcbe fur una in Deutscbosterreicb geradezu zum AnstoK der
Katastropbe werden konnte, or der das dabinsiecbende Wirtscbarts-
leben dieses Staates bisber mv sam bewabrt wurde.
Der Artikel 206 des Fnedensvertrages von St. Germain bestimmt
namlicb in seinem entscbeidenden Punkte, dal? die Regierungen der
einzelnen Nation als taa ten fur die auf dem Gebiete der ebemaligen
Monarcbie von ibnen eingelosten Noten der osterreicbiscb-unganscben
Bank einen verbaltnisma&gen Ansprucb auf samtlicbe Aktiven der oster-
reicbiscb~ungariscben Bank baben, mit Ausnabme der von der fruberen
osterreicbiscben und ungariscben Regierung binterlegten Scbuldtitres.
Diese sollen zum Teil vernicbtet werden, zum Ted fur die nacb
dem Zerfalle der Monarcbie ausgegebenen Banknoten verpflicbtet
bleiben, d. b. den Regierungen des beutigen Deutscbosterreicbs
und Ungarns zur Last fallen. Mit anderen "Worten: aus den
Aktiven der osterreicbiscb~ungariscben Bank wird ein Ted entfernt
und annulbert, die diesem Teil gegenuberstebenden Banknoten bleiben
aber als Scbuld der [Bank besteben, welcbe sie aus ibren samtlicben
ubrigen Aktiven abzuzablen bat. Dal? diese anderen Aktiven zur
Deckung anderer Passiven bestimmt sind und mit dem Rest das
Vermogen der Aktionare darstellen, darum baben sicb die V erfasser
des Fnedensvertrages nicbt gekummert; sie baben uberbaupt mcbt gewutft,
dal? tile osterreicbiscb-ungariscbe Bank Aktionare bat, sie baben, wie
inzwiscben zugegeben worden ist, gememt, dal? sie erne, reine Staatsbank
set. Sie baben es ja nicbt fur notig eracbtet,. sicb vor der Festsetzung
S.ea Fnedensvertrages mit den Vertretern der Besiegten an einen Tiscb
zu setzen, um sicb informieren zu lassen. Sie baben den Fnedensvertrag
nacb ibrer geringen ^Weisbeit festgesetzt und die Unterscbnften erzwungen.
Dal? sie sicb der Tragweite, besonders dieser Bestimmung gar nicbt
258
l>ewuJ?t waren, gebt daraus bervor, daf? es der einzige Fall in dea
Friedensvertragen ist, wo das sonst uberall formell als unantastbar
bebandelte Privateigentum einfack wegeskamotiert wird, okne An sp ruck
auf Entsckadigung. Wo sonst Privateigentum liquidiert oder konfisziert
wird, ist immer der Regierung des betreffenden Staates die Prkcbt des
Sckadenersatzes auferlegt. Zugunsten der gesckadigten Glaubiger und
Aktionare der osterreicbiscb-unganscben Bank ist eine soicne Ersatz-*
leistung nicbt vorgeseben. „It is a mere robbery , sagt Mr. Wbitman
und er muJ? es wissen.
Aber von deutscb-osterreickiscker Seite waren die Unterkandler der
Entente recbtzeitig vor Unterzeicbnung des Friedensvertrages auf diesen
Umstand aufmerksam gemacbt , werden, sie bielten es aber nicbt der
Mube wert, eine Revision vorzunekmen. Der Artikel 206 -war mnen
von ikren Freunden, den assoziierten Nacbfolgestaaten der osterreickisck**
ungariscken Monarcnie so prasentiert worden und so mui?te er bleiben.
Aber sie^fanden es dock fur notwendig, die deutscb-osterreicbiscben Ver-
treter zu berubigen und in der Begleitnote, mit der unseren Unterbandlern
der endgiltige Text des Friedensvertrages ubermittelt wurde, beitft es:
„Die alliierten und assoziierten Regierungen sind vom lebbaften Wunsck
beseelt, den Bankerott und Ale Verwirrung der Finanzen der oster-
reickiscken Repukuk zu verkuten. Die erwabnten Regierungen zweifeln
nicbt, dai? die Wiedergutmackungskommission bei Anwendung der Ver<-
xugungen des Artikels 206 alles, was m ibrer Macbt stent, tun wird»
urn den Zusammenkruck des osterreickiscken Kxedites zu vermeiden, und
da I? sie ikr Mogucbstes tun wird, um die unermeukeben, in der Lage
der Dinge begrundeten Sckwiengkeiten zu ukerwmden, welcke auck
auftaucken wurden, wenn man lrgend eine andere Metkode angewendet
natte, um die versckiedenen in dies em Artikel *aufgeworfenen Fragen
zu losen.
Aker das waren \Vorte, wie sie j'a auck Deutsckland vielfack zur
Besckwicktigung zu lesen bekommen bat, als es gewisse Bestimmungen
des Friedensvertrages trotz der Zwangslage zu akzeptieren sicb nicbt
entsckkeJuen konnte. Die Entente fuklt sicb 3 a nicbt einmal an den Xext
der Friedensvertrage gebunden, gesebweige denn an solcb unverbind-
licke V erspreckungen,
Man muK sick die Konsequenzen einmal vorstellen: Die Aktionare
werden vollstandig beraubt, dabei darf man sicb darunter nicbt Gro&-
kapitausten vorstellen, es mogen auck solcke darunter sein, aber der
groute X eil 1st in den Handen von Spark as 3 en, die die Ersparnisse der
kleinen Leute verwalten, oder 1m Besitz der vorsicb tigs ten kleinen
Kapi tabs ten, denn die Aktien einer Bank, die seit einem Jjabrbundert in
guten und sebwersten Zeiten des y Staates sick als unantastbar erwiesen
259
batte, galten als die besteKapitalsanlage zurSicberung von \Vaisengeldern usw„
Beraubt werden aucli die Giroeinleger der Bank. Das gauze Kredit-
eystem moderner Staaten berubt bekanntlicb auf der sofortigen Greifbar*-
leit und Ubertragbarkeit dieser Girogutbaben, welcbe die Bank en und
grotfen Firmen bei der Notenbank unterbalten, um nicbt das bare Geld
m ibren Kassen liegen lass en zu muss en. Beraubt werden die Ban ken
und Firmen, welcbe vor und wabrend des Krieges fremde Valuten von
der osterreicbiscb-ungariscben Bank gekauft Lab en, die f ruber und starker
als anderwarts die Versorgung des Marktes mit fremden Zablungsmitteln
monopolisiert bat.
Beraubt werden die auswartigen Glaubiger der Bank, wie eben
jene bollandiscbe Gruppe, deren Bebandlung den AnlaJ? zum Rucktritt
des amerikaniscben Liquidationskommissars gegeben bat, well sein Recbts~
gefubl sicb docb gegen dieee Handlungsweise emporte. Mocbte man
immer die deutscb-osterreicbiscben Glaubiger entrecbten, — ibre Vertreter
batten ja den Fried ens vert rag unterscbrieben und sie mussen He Konse—
quenzen tragen, — aber er wollte nicbt mittun, als die Reparations*-
kommission eine auslandiscbe Gruppe, die nur das Verbrecben begangen
batte, uns im Kriege Geld fur A^arenimporte — selbstverstandlicb kein
Knegsmaterial — im Vertrauen auf unsere Redbcbkeit und die Solvenz
der osterreicbiscb-ungariscben Bank zu leiben, ibrer Ansprucbe berauben
wollte — und dann nacb einwocbentbcben Verbandlungen in ^Vien
scblielZlicb zu einem Ausgleicb auf folgender Basis bereit gewesen -ware:
Die Hollander mussen von der ursprunglicben Forderung von 24 Milbonen
bollandiscben Gulden, von welcbem 8 Millionen scbon gezablt sind*
9 Milbonen nacb lass en und dann darf die osterreicbiscb-ungariscbe Bank
ein Drittel von dem ubrigbleibenden Rest zablen. Fur solcbe Scbabig—
keiten mu#ten in Wien fast drei Dutzend Herren aus balb Europa und
den Vereinigten Staaten ibre Zeit opfern, um scbbeKhcb ergebmslos aus~
einanderzugeten, weil die Hollander sicb dies en Nacblal? nicbt obne
Ruckspracbe mit ibren Auftraggebern aufzwingen lassen wollten.
Nacbdem die Liquid at or en von der Reparationskomnussion ernannfc
worden waren, batte man sicb in AkVien, gestutzt auf die erwabnte, vor
Unterzeicbnung des Friedensvertrages gemacbte Zusagen, bemubt, deit
Herren begreiflicb zu macben, dal? sie den Artikel 206 nicbt wortlicb
anwenden konnten, da es ja nicbt die Absicbt gewesen sein konnte, die
Glaubiger und Aktionare derart zu berauben. Freilicb, fur die Aktionare-
war von Anf ang an nicbt viel Hoffnung. Der AkVortlaut des Artikels 206
lie!? bei keinerlei Auslegung Raum fur die Befriedigung ibrer Rechte.
Aber die Glaubigerrecbte konnten gewabrt werden, obne dem Friedens-
vertrag Gewalt anzutun. Es bedurfte nur emer vernunftigen Inter-
pretation, dai? unter den ubrig gebliebenen Aktiven die reinen Aktiven.
260
ein neuer
sonderes
nack Akzug der sonstigen Sckulden gemeint seien, urn den pnmitivsten
Recktsgrundsatzen Recknung zu tragen, die es nirgends zulassen, dab sick
Glaubiger vor die alten drangt, es sei denn, dais er ein be-
deres Pfand sick kat geken lassen. Die Liquidatoren, die Beauftragten
der Reparationskommission, waren zu solcker Auslegung geneigt. Die
Reparationskommission selkst aker lief? mit sick mckt reden. Und dock
fiind das die Herren, denen der besondere Auftrag im Fnedensvertrag
erteilt worden ist, kei Sickerung der Wiedergutmackungssckuld sckonend
vorzugeken und zunackst fur unseren Wiederauf bau uns Hilre zu leisten.
Das sind die Herren, denen seitker die vollstandige Vormundsckart
uker unsere Finanzen und ^A^irtsckaft ubertragen worden ist. Aker
das Veto gegen die milde Auffassung der Liquidatoren legten sie kald
ein, und als die Funktionare der osterreickisck-ungariscken Bank zu
mundUcker Aufklarung nack Paris fukren, da katten sie keinen Errolg,
denn da war ein Mitglied der Reparationskommission, welckes die jedem
XCenner nur lacker lick ersckeinende Tkeorie aurgestellt katte, daK die
Noten der osterreickisck-ungariscken Bank, wie jede Banknote, aur Geld
lauteten und dal? erst die Banknoten in Gold eingelost werden mulsten,
eke irgend ein anderer Glaukiger kefnedigt werden durre. Das -word
von den Noten der osterreickisck-ungariscken Bank kekauptet, von denen
jedes Kind weif?, dai? sie aeit kundert Jakren menials aur Gold lauteten,
niemals einlosbar waren, weil der Einlosungsparagrapk im Bankstatut zu
alien Zeiten guspendiert war. Urn die Groteske voll zu mack en, ist der
Entdecker dieser Tkeorie der Englander Bradkurry, der zu Begmn des
Krieges die engliscken Currencynotes erfunden kat, die bekanntlick nur
eine geringfugige Golddeckung kaken und daker nickt in Gold eingelost
•werden konnen und nack dem diese Noten Bradkurrynoten keii?en.
So kommen BoswiUigkeit und Eigensinn zusammen, um uns zu
Grunde zu rickten. Aker im Hintergrund stekt naturlick die Hakgier
der Nationalstaaten, welcke nickt genug daran kaken, dai? sie aus dem
Fleisck der osterreickisck-ungariscken Monarckie alle fetten Bissen an
sick gerissen kaben, sondern nock den kargen Rest des Goldsckatzes der
osterreickisck-ungariscken Bank als Entsckadigung dafur, dai? sie die aur
ikrem Gebiet umlaufenden Noten der Bank mit anderem Papiergeld
eingelost kaben, erkascken wollen. Deskalb sollen alle anderen Glaukiger
der Bank und lkre Aktionare beraubt 'werden. Deskalb sollen die
Wiener und Budapester Banken in Wien etlicke Milliarden Kassen-
kestande, die sie der Bank zur Verwakrung als Giroeinlagen ukergeken
katten, emkul?en, deskalb soil die ganze Kreditorganisation, die auf Ver-
trauen berukt, ersckiittert werden und damit eines der wicktigsten Fun-
damente eines moglicken ^Viederaufbaues der von der Entente als Reckts-
nackfolger der Monarckie erklarten Staaten abgegraben werden. So
kiift uns die Entente. Mr. Wkitman sagt: „It is a mere robbery \
261
DR. FRIEDRJCH WOLF HYGIENE DER OFFENT-
LICHEN MORAL
Der Zufall trieb mir vor kurzem ein Buchlein in die Hand:
„Ernahrung und Pflege des alteren Kindes"; sein Verfasser ist
Prof, Langstein. Direktor des Augusta Viktoria Hauses zur
Bekampfung der Siiuglings-Sterblichkeit im Deutschen Reich. Das
Buch erschien wahrend des Krieges. Im letzten Kapitel stehen
folgende Satze:
,,Unter den Noten, die der Krieg iiber das deutsche Volk gebrachtjhat,
leidet abcr audi die Kinderwclt, und manche Mutter schwebt in banker
Sorge, ob es ihr gelingen wird, ihre Kinder gesund und widerstandsfahig
zu erhalten, da die Nahrungsmittel und manches andere, was fur das Leben
des Kindes notwendig ist, aufs Au5erste beschrankt wurden. Diese Be-
( sorgnis iat glucklicherweise nicbt g erechtf ertigt. Auchheute
gelingt es im Allgemeinen, den Kindern all das zu geben, was
sie zum Leben brauchen."
So in der II. Auflage vom September 1918. Diesem Leitfaden
ist noch ein besonderes ,,Kriegsmerkblatt zur Ernahrung und Pflege
des Sauglings und Kleinkindes" angefiigt, indem sich folgende zu~
meist fettgedruckten Lapidarsatze befinden:
„Die vom Staat zur Verfttgung gestellten Nabrungsmittel reichen audi
fur die kiinstliche Ernahrung des Sauglings unter Kriegsverhaltnissen
aus." „Eine milchlose Beikostmablzeit vom 7. Monat an fur Brust- und
Flaschenkind latft sicb stets bescbaffen." Und zwar derart :,,... aucb
Erbsen und Bobnen, Teltower Riibchen und Koblriiben (Steckriiben)
werden gut vcrtragen." (vom 7. Monat alten Saugling!) Fur die Er-
nabrung des Kleinkindes findet sich dort u. a. folgende Aufklarung:
,,Marmelade ist fast so nahrhaftwie Butter/'
Also der Direktor des Augusta Viktoria Hauses des Central-
Instituts zur Bekampfung der Sauglingssterblichkeit im Deutschen
Reiche !
In der „Zeitschrift fur Sauglings- und Kleinkinderschutz" vom
Juli 1920 berichtet Geheimer Ober-Medizinalrat Dr. Krohne,
Vortragender Rat im Ministerium fiir Volkswohlfahrt, dai? „iiber
800000 Angehorige der Heimatbevolkerung durch die Folgen der
Hungerblockade zu Grunde gegangen sind. Anlatflich des letzten
Kinderhilfstages vom 5. Dezember 1920 gibt Dr. Krohne folgende
Zahlen bekannt :
,,1916 star ben in Berlin bereits 100 Kinder monatlicb mebr als friiber.
Im Dezember 1918 ergab sicb, datf sich die Sterblichkeit der deutscben
Grotfstadtkinder von 1 — 15 Jabren vcrdoppclt, ja z. T. verdreifaeht batte. — -
Der Grund (der Sterblichkeit) ist nicht in den epidemiscben Kinderkrank-
beiten zu sucn'en, sondern rein im Hunger, in der \Jn terernabrun g.
Der Nahrungsbedarf ist in den letzten Kriegsjahren
eineinhalb Mai w e n i g e r gedeckt worden — dem Nahr-
wert der S pei sen nach — als er batte sein muss en!"
262
Doch der Director unseres Centralinstituts zur Bekampfung
der Sauglingssterblichkeit, der noch heute iiber Sauglingsschutz
und somit Bevblkerungspolitik im Deutschen Reiche an erster
Stelle wacht, er klarte noch im September 1918 die Mutter auf,
dai? die Besorgnis der Mutter wegenNahrungsmittelnot „glucklicher-
weise nicht gerechtfertigt sei" dai? als milchlose Beikost vom 7. Monat
an fur Brust- und Flaschenkinder auch „Kohlruben gut vertragen"
wiirden, und dai? Marmelade „fast so nahrhaft" wie Butter sei.
Bedarf es noch eines Kommentars ? Von keiner Sophistik
der Welt wird dieser (gelinde gesagt) innere Widerspruch weg-
geleugnet, wegretouchiert werden konnen, dai? einer unserer ersten
Wissenschaftler, dai? der verantwortlichste Hiiter des Sauglings-
schutzes sich hergab, ein Durchhaltebuchlein von so grauenbafter
Mentalitat zu schreiben, dai? wir uns an den Kopf greifen vor
Ratlosigkeit und Schaudern; ein Durchhaltebuchlein mit „Auf~
klarungen \ die so sehr alien simpelsten und auch wissenschaftlichen
Erfahrungen zuwiderlaufen, dai? nach einer Beratung eine Mutter
zu mir kam und mich fragte: ob denn Kohlriiben vom 7monat-
lichen Saugling wirklich gut vertragen wiirden und Marmelade
fast so nahrhaft wie Butter sei.
Wenn Fritz v. Unruh in seinem Drama „Ein Geschlecht"
nicht die Heerfuhrer so sehr des Mordens anklagt als die Mutter,
die es geschehen liei?en, so greift er den Dingen ans Herz. Wenn
nun aber die zur Erhaltung des Lebens Berufenen solch geradezu
gefahrlichen Durchhaltebucher zur „ Auf klarung" der Mutter
schreiben, wo ist da in unseren Landen noch Heil, Gesundung
und innere Wahrhaftigkeit zu erwarten? — Es mui? manchem
wahrlich ein derbes Gewissen verliehen sein, wenn er nach soviel
stahlernen Durchhalteworten nun wieder die Stirn hat, mit
Worten der Caritas zur Kinderhilfe aufzurufen!
Dies alles aber ist blol? ein Symptom. Eins fur viele. Ich
greife keine Person als solche an. Sie sind alle ehrenwerte Manner.
Jedoch wird in unserem Zeitalter der Hygiene soviel fur Sauber-
keit getan. Man tue es an der rechten Stelle !
Auch weii? ich sehr wohl, dai? nun ein groi? Kesseltreiben
gegen mich anheben wird. Was hilfts; es gibt eine Grenze dee
Schweigens. Und diese Sache forderts ! Denn nicht schreibe ich
gegen jenes verflossene, sondern gegen das . . . kommende Kriegs-
und Durcbhaltemerkblatt fiir Weltkriegssauglinge.
263
GEORG kaiser BRIEF OBER SICH SELBST
Aufl dem Muncbener Gefangnia hat Georg Kaiaer diesen Brief an
einen Berliner Freund gescbrieben — einige Tage vor seiner Verurteilung.
Der Brief ist -weniger als Kaisers Verteicligung in der Verkandlung fiir
die Of f entlicnkeit beatimmt und eben desbalb sympatiacber . Jedenf alls
zeigt er, abgeseben von den fiircbterlicben Alltaglicbkeiten dea unverandertcn
Polizeistaates, daa Problem, fiir das Georg Kaiser sicb allein intereasiert.
namlicb fur Georg Kaiser.
Lieber Herr Schach,
Kiirzlich erfuhr ich, dai? Sie in einer Berliner Zeitung Uber
mich publizierten. Ich kenne den Artikel nicht — vermute je—
doch, wie Sie sich mit gutigem Verstehn um mich bemiihten.
Ubrigens las ich nichts, was mich seit dem 13. Oktober betrifft.
Ich will Ihnen hier danken und kann es nicht besser tun, als
daf? ich die Scheu zerbreche und mich Ihnen einigermatfen mit-
teile. Nichts ist auch natiirlicher als an Sie die ersten Zeilen
uber mich selbst zu richten, der Sie das Manuskript von „Gas IV
besitzen.
Was die Dinge selbst angeht, die Delikte sind, so liegen sie
in zu entfernter Provinz, um von mir noch gesehen zu werden
Dazu wurden sie von den Konsequenzen, die die Ereignisse dieser
Zeit schufen, erdriickt und verschiittet. Nur, wie sie wurden
weil? ich mit vollkommener Deutlichkeit Sie mutten nam-
lich geschehn. Diese Notwendigkeit darzustellen, ist nicht
leicht. Doch ich will es versuchen.
Schon in den letzten Jahren tauchte dies auf; Das ist das
Leben nicht! Was — : die Schreibung von Werk und Werk,
das mitfverstandlich dann an das Theater geriet Sie wissen. dal?
ich schlietflich zu Auffuhrungen meiner „Stiicke" kaura mehr ins
Theater zu bringen war. Mich machte das selbst stutzig, dieser
Widerstand gegen diese Art von Wirkung. Uberhaupt konnte
ich ja meinen Widerwillen gegen meine dramatische Form von
Mitteilung, nur mit Hinweis auf Platon zum Schweigen bringen.
Aber auch dies Hilfsmittel versagte zuletzt. Keinem Erlebnis
wird irgend ein Werk gerecht. Noch grauenhafter ist die Um-
kehrung : das Werk — oder die Werke verkummern das Er-
lebnis. das ich selbst bin. Begreifen Sie so meine Weigerung mich
irgendwie mit meinem Werk zu identifizieren — mein gleich-
264
miitiges Hinweggleiten iiber Unterbaltungen, die meinem Scbaffen
galten. Icb lebne es ab: nicbt mehr zu sein als mein Werk.
Ich dulde nicbt die Verstiimmelung meines Erlebnisses, indem ieb
auf die vorliegenden Werke festgenagelt werde. Diese zufalligen
*Werke sind — eben sebr zufallig: Anekdoten des ungeheuren
Erlebnisses, das icb bin; Produkte aus Epocben der Ermudun^
in denen man nacb einem Halt greift, sind ^Verke. Die Inter-
mezzi zwiscben Erregungen; feiges Verzweifeln.
^Vie sollte icb mit dieser Erkenntnis „Literat" sein konnen ?
Icb hatte bedeutend talentloser sein miissen, um micb nicbt gegen
meinen ,,Rubm" zu strauben.
Icb wurde nun sebr neugierig — nacb mir. Das trieb mit
dunklem Strom durcb micb — docb mit der AiVarme des Golf-
stromes. ,Jst das das Leben?" — es drobnte zu vernebmlicb:
ich konnte die klopfende Frage nicbt uberhoren. Es -war ganz
unmoglicK ein Leben zu ertragen, das zur Bestimmung erstarrte
— micb verkriippelte in eine Form des Daseins, die bier literarisch
war. Abscbreckend wirkten auf micb die gealterten Dicbter, die,
langst mit sich fertig, weiter produzierten, weil sie einmal zu
scbreiben angefangen und ibren Leumund als Literaten nicbt mebr
entkraften konnten, Es ist nicbt reinlicb Treber zu essen, zumal
wenn sie aus der eignen Kiicbe stammen.
Dem Ausbrucb aus meinem Werke JDichter * entnabm icb
jene seltsame Weise, die micb jetzt in den Kerker gefiibrt bat.
Selbstverstandlicb tat icb das nicbt mit dem Vorsatz, der die
Handlungen kontrolliert — es war ein unausbleiblicber Zwang
da, der micb mit sicb trug. Diesen Zwang in mir gebabt
zu baben, betracbte icb als die bocbste Gnade, die
mir zuteil werden konnte. Mit einer bis in Entziickung
sicb treibenden Neugier geborcbte icb jenem dunklen, schlietflich
ja unaussprecbbaren Befebl. Es mui?te andere gewaltigere Er-
schutterungen geben als AVerk und Rubm und Dicbter — die
das Erlebnis ,,Icb" ganz anders groJ? freimacbten, micb in mir
selbst breiter und tiefer blofftegten. Wie dies Erlebnis vermittelt
wurde, wufc icb damals nicbt; dal? es aber im Zusammenbang
mit meinen JDelikten" steben mutfte, dacbte icb.
AiVas erlebte icb nun autferlich?
Icb wurde verbaftet — ins Gefangnis in Berlin eingeliefert
und da zebn Tage festgebalten. In der elften Nacbt wurde icb
2G5
im Sammelwagen zum Lehrter Bahnhof gebracht und in den
Transportwagen gestotfen; er war uberfullt. Mittags Ankunft in
Hannover — dann Fesselung und auf einen andern AVaggon
gehoben. An diesem Tage ging die Fahrt bis Cassel. Dort drei
Tage im Gefangnis mit Kalte und Ungeziefer und Hunger, der
mich fast verriickt machte. Es waren die ersten kalten Tage
und icb hatte meine Striimpfe bis auf Reste des Scbaftes vernutzt,
Wieder nach drei Tagen Aufbruch ; ich wurde an einen Strafling
gefesselt und durcb die Straf?en zum Bahnhof eskortiert Bis
Aschaffenburg an diesem Tage und wieder gefesselt der Marsch
in das entlegene Gefangnis ; am andern Morgen unter gleicben
VorsichtsmaJ®eln zum Bahnbof zuriick und weiter nach Wurz-
burg. Ein Gendarm scbenkte mir Brot, das er nicht mehr ver-
zehren konnte ; er war satt. In Wurzburg drei Tage in Massen~
zelle — und Hunger, Hunger! Hier las ich zum ersten Male
von meiner Verhaftung — auf einem Abortpapierstiick ! „Der
Dramatiker Georg Kaiser als Dieb verhaftet.'"' Aus dem Wurz-
burger Gefangnis mit einem Landstreicher zusammengefesselt zum
Bahnhof — nach Gunzenhausen ins Gefangnis. Am nachsten
Mittag weiter nach Ingolstadt — von Ingolstadt nach Miinchen
ins Gefangnis — in die psychiatrische Klinik (?!) — und nun
wieder ins Gefangnis. Die Haftentlassung wird abgelehnt: „ wegen
Fluchtgefahr, wegen Verdunklungsgefahr und wegen der Hohe
der zu erwartenden Strafe. —
Ich habe Ihnen diese Auf?erlichkeiten mit fast komischer
Peinlichkeit aufgeschrieben. Aber es war wichtig vor der Frage-
stellung : besitzen diese Vorgange Krafte, die erschiittern? Ich be-
jahe. Es ist eine auCerordentliche Gewalt zu spiiren. Ich ver-
gaJ? zu sagen : dal? ich in Miinchen erst von der Verhaftung
meiner Frau erfuhr und die Nachricht von der Unterbringung
meiner Kinder in Armenasyle erlitt.
Die Erschiitterung war also gewaltig. Einigermatfen erinnerte
ich mich meiner Leistung, die ich in den Biicbern niedergelegt
hatte. Doch war diese Auflehnung nur momentan. Ich zerblies
sie sehr rasch und vollstandig. Ich hatte meinen kleinsten Augen-
blick iiberwunden.
Was ereignete sich nun? — was entstand aus der Leere ?
— womit fiillte ich das Vakuum? — wie kann ein Mensch ohne
Erinnerung leben ? ! Es geschah dies, was selten — fast nie einem
266
Menschen in der Mitte seines Lebens verlieben wird: ^Vieder-
geburt — zweites Werden — und nicbt aus dunklem Mutter-
scbotfe unbewuffc : sondern gleicb in erster Sekunde mit aller
Klarbeit begabt. Es stellte sicb einem Menscben ein zweites
Leben ein ! ! —
Icb weif? heute nicbt, was icb in diesem neuen Leben be-
ginnen werde; dazu ist das Ereignis zu neu. Enorme Anstrengung
kostet micb die Gegenwebr gegen „Produktion", die micb un~
heimlicb vcrsucbt. Icb unterlasse sic aucb aus Anstand, urn
meinen Mitliteraten das Brot nicbt zu verkleinern. Allerdings
verlange icb von meinen Kollegen, daf? sie dies Gescbenk mit
ertraglicberen Leistungen als bisber vergelten. Vielleicbt ist da-
mit zuviel verlangt — aber icb war von je ansprucbsvoll,
Icb babe dies erste Vierteljabr meiner Absonderung von der
menscblicben Gesellscbaft nicbt gut ertragen, Icb kann nicbts
dafur — icb babe mir die beste Miibe gegeben. Obne autfere
Entspannung — Blick iiber Seeflacbe und Griin — arbeitete
mein Kopf bemmungslos. Dabei muf? icb micb gegen diese Arbeit,
die immer nocb ,,Werke" scbafft, strauben. Icb babe also die
doppelte Leistung zu bewaltigent produzieren und das Produkt
2U regieren. Das balte ein Menscb aus!
Leben Sie wobl, lieber Herr Scbacb — es war scbon, daf? icb
Sie und Ibre Frau kennen lernen konnte. Einmal wollten Sie ein
Bucb iiber Georg Kaiser scbreiben^ — beute muf? icb Ibnen ab~
raten : der Gegenstand ist anriicbig. Aus Grunden. die selbst-
verstandlicb jenseits des Gericbtsverfabrens liegen : das ist j a nur
ein Wiiblen in meinen wirtscbaftlicben Exkrementen — an den
Untersinn riibrte nocb nicbt eines Engels Finger.
Der Ibre Georg Kaiser.
paul mayer MELANCHOLIE
Einmal ist alles Dir fern : Dem Selbst, das Antlit2 der Mutter,
Starrt wie ein Oldruck Dich an, leer »nd aus anderer Zeit.
Einmal ist alles Dir fern: aus Hauch und Haar der Geliebten
Weht Dir der heilende Duft ewiger Heimat nicht mehr.
Einmal ist alles Dir fern: das Lied, das dem Jiingling erbluhte,
Wird' Dir so fremd wie der Gott, den Du als Knabe geglaubt.
Aucb Dein Leid wird Dir fern: Du fcannst Dich nicht mehr erinnern,
Was dem Weinenden einst Welt und Wille zerbrach.
267
ernO szep DIE GOLDENE UHR
Em em kauptstadtiscken Burger, einem ge wis sen Eczkipeczki katte mart
auf der Elektnscken die goldene Ulir aus der Westentascke gezogen.
Auf der Lime zwiscken dem ^VestLaknkof und der Andrassy~ut. Hier
um die Aradi-utca kerum mockte man inm die goldene Ukr und die
goldene Kette gestoklen kaben. Die Ukr king namkck an einer Kette,
die war durck das dritte Knopflock der \Veste gezogen. Vor der
goldenen Kette king ein aunnes Goldstakcken und daneoen nock eine
Goldmunze, aur der in reiner Reherarbeit eine Spkmx zu seken 'war und
kinter ikr die Pyramiden, und auck em kleiner Smaragd war in Aie
Goldmunze gefai?t. Die ICette war eine acktzeknkaratige, sckwere, ge—
flocktene Goldkette. Vor der Andrassy-ut kamprte sick Herr Eczkipeczki
vom ukerfullten Peiron kerak, und kaum katte er den Burgersteig ke—
treten, als er auck sckon steken kkeb. Es riel mm ein, nack seiner gol-
denen Ukr zu tasten, ok man sie mm wokl mckt gestoklen katte? Es
war eine gottlicke Eingekung oder weil? Gott was. Ein rarnmerter Instinkt,
eine gekeinmis voile Disposition, eine ukenrdiscke Fakigkeit, erne okkulte
Gake, etwas, womit man 1m Orpkeum auftreten kann. Dai? es Herrn
Eczkipeczki gerade keute in den Sinn kommen muKte, nack seiner >A^esten—
tascke zu greiren, nackdem es lkm gelungen war, von der Elektriscken
kerunterzuklettern und gleick nackdem er den Burgersteig ketreten katte . . •
Die Ukr war tatsacklick gestoklen.
Herr Eczkipeczki riK die Hand von der weicken Vvesten tascke fort.,
als katte er eine elektriscke Leitung kerukrt, dann griff er wieder kin,
um sick zu ukerzeugen, denn die VVakrkeit vermockte sem Hirn nickt
sofort aufzunekmen. Ein paarmal scklug er mit der Handflacke an seme
^A^estentascke. Er okrieigte sie rormlich. Und stnck mit der Hand
uker jene Linie aur s ein em Bauck, die sick von der \Vestentascke hie
zum dritten Knopflock ziekt. Wo die goldene Kette fruker lag. So
vorsicktig und zartkck stnck Herr Eczkipeczki uber den Stoff seiner
Weste, wie man uker die Stirn eines Kranken streickt. Der Strai?en—
kaknwagen, von dem Herr Eczkipeczki sick keraogerungen katte, war
sckon vorkeigefakren. Er stand sckon an der anderen Ecke des Okto—
gons. Herr Eczkipeczki ril? den Kopf in die Hoke, sprang drei, vier
Sckritte vorwarts und stockte. Die Elektriscke katte auck die nackste
Haltestelle sckon verlassen und kmrsckte : kuyj . . . , als wollte sie lm
Lauf Herrn Eczkipeczki verspotten. Herr Eczkipeczki starrte der Elek-
triscken nack. Sein mund stand orren, denn er katte An aufgetan unx
zu sckreien : „Haltet den Diek, ke, kalt dort vorn — oder etwas
Aknlickes, ick weii? mckt was. Dock nur in seinem Kopf krummte es,
sein Mund, wie der Xnckter eines sckleckten Grammopkons, gak keinen
Laut. Herr Eczkipeczki sckok mit dem Zeigennger semen Hut aus der
Stirn, kinter der er dackte. Dann grift er plotzkck wieder in die
West en tascke, er wollte nackseken, wieviel Ukr es, punktlick, gewesen
iet, als man ikm die Ukr gestoklen katte. Die Hand sank von der Tascke
kerak. Dann kKckte er auf die Ukr uker der Plakatsaule. In funf
268
Minuten sieken, merkte sick Herr Eczkipeczki. Also abends zwiscken
Viertel vor sieben una sieken kat man mir die Ukr aus der 1 as eke ge-
zogen, und zwar auf der Strecke vom Westkaknkof bis zuin Oktogon,
oder vielmekr zwiscken der Aradi- und Podmaniczky-utca, genauer vor
der Haltestelle Aradi-utca. Herr Eczkipeczki ketracktete mit durck-
dringendem Slick die Anscklagsaule, auf der lila, grune, gelbe Plakate in
grol?en Buckstaken die lustigen Scklager der Tanzlokale und Kinos krullten,
und vot Herrn Eczkipeczkis inner em Auge spielte sick die dramatise he
Dzene ab, wie man ikm aus der \Vestentascke die golden e Ukr mit Kette
ziekt. Er versetzte sick auf die Strai?enkaknplattform zuruck, in das
stumme, kittere Gedrange, in den unbeweglicken Stellungskampf, wo Ell—
oog^, Knie, Sckultern, Ruckenmuskeln finster um das Halten der er-
kamprten Position ringen, um einen Millimeter wemger Unkequemlickkeit,
um den Genu!? der Freikeit von einem Zentimeter mekr m der Runde.
Arkeitskraft, seeliscke Energie, Leidensckaften wirken in dies em Nak-
k amp re, der okne Faknen, okne Scklag wort's und sckwarmenscke Ideale
ausgetragen wird, mit Wut, Besckamung und kindiscker Praklerei, be—
gleitet von gekeimem Zabnekrurscben, empfindkcbem Ziscken, argerncken
Ausrufen, Stoknen der Nervositat und Wekleidigkeit und ge qua It em
Lackeln und leisem Kickern des Humors. lA'ie Kranzfeigen smd die
Korper aneinandergepreut und die Kopfe nekenemander sind wie die
Spitzen der Spargel lm Bunde. Herr Eczkipeczki versetzte sick voll
Selkstkewutftsem auf die Plattform. Er wucktet mit acktundacktzig
Kilogramm auf seinem Platz und spreitzet die Beine auseinander, wie ein
Seemann auf Deck. Mit seiner Linken erfal?t er sofort einen der kangen-
den Riemen und lalst lkn mckt los, kevor er nickt aussteigt. Seine reckte
Hand steckt in der I ascke seines Pelzes. lA^okl ware es ikm angenekm,
mit seiner f reien Reckten die sick drangenden und kin und ker taumeln-
den Frauen zufallig zu streifen, zu streickeln, anzutasten, dock als Aus-
sckuwmitglied, als Teilkaber einer ebrsamen Verwandtsckaft und als eine
m der Geselisckaft gekannte und geacktete Personlickkeit versagt er sick
dieses V ergnugen und begnugt sick damit, seinen Okerarm an weikKcke
Arme und Busen drucken zu lassen. So stekt er, so nimmt er Stellung
auf der Plattform und bebalt seinen Platz in dem von den Aksteigenden
aufgerukrten Wirbel und im Wellenscblag der Einsteigenden.
Inaem Herr Eczkipeczki mit steckenden Augen dem Wagen nack-
biickt, brmgt er ins reine, *wie der Tasckendiebstakl gesckeken sein mockte.
Der Tasckendieb katte sick an lkn kerangedrangt, einen Knopf seines
Pelzes aufgeknopft, ekenso einen Knopf seines Rockes, die Hand uber
die \Veste gleiten lassen und die Ukr gezogen. ^/ie aker konnte er
die Kette so leickt kerausnebmen ? Die Kette war durck ein Knopf-
lock der Weste gezogen. Die mu#te er dock tvicbtig zieben, um sie
kerauszukekommen, nickt? Herr Eczkipeczki klickte auf seinen Pelz
binab. Ein Knopf stand tatsacklick off en. Auck ein Knopf seines
Rockes war aufgeknopft, dort, wo man gewoknlick die Kette durck das
Knopf lock ziekt. Diesen Knopf pflegte Herr Eczkipeczki auck eigentlick
me zuzuknopfen. Es war gar keine kesondere Aufgake fur den Tascken-
269
dieb, auck die Kette kerauszuzieken. Herr Eczkipeczki katte auck eine
Krawattennadel : Adlerkrallen aus kleinen Brillanten, die eine Perle
kielten. Diese Nad el trug am goldenen Sen art eine Sickerkeitssckrauke*
die verkinderte die Nadel, heraufzurutscken und kinauszufallen. Diese
Nadel konnte man nickt einmal neraus Ziehen, wenn man nickt die Sckraube
drekte. Herr Eczkipeczki kustelte woklgerallig und uberlegen, nun, da
ikm Aie Nadel ein gef alien -war, und blmzelte nut vorgesckokener Unter-*
lippe auf seine graue Seidenkra watte kinab, m der die Adlerkrallen trotzig
sckimmerten. Dock seine Einbildung, seine ganze Seele sank soiort wieder
auf die golden e Unr kinab, He man ikm samt der Kette aus der Westen-
tasche gestoklen katte. AtVie konnte sie nur der Langfmger so keraus-
zieken, daf? er vom ganzen nickts verspurt und nickts Verdacktiges be*
merkt katte? Diese Halunken kaben ikre eigenen Kniffe. Gutgesckulte
Hande. Es ist ein Kunststuck, was sie leisten, das mul? man zugeben.,
Der Reckten des Herrn Eczkipeczld gab es einen Riss, seme Finger
zuckten. Ein Paar Augenbncke lang pkantasierte er davon, ob er eine*
goldene Ukr so kerauszieken konnte. Nein. Vielleickt. K.aum. Nein,
nein. Das Risiko ist ungekeuer. Teufkscke Kaltblutigkeit, erstaunkene
Ukung gekorten dazu. Unmogkck. Herrn Eczkipeczki durckzitterte erne
sonderbare Stimmung, er sak sick feierkck als Objekt und Mitteipun--ct
einer solcken Bravour, emer so ratelkaften Episode und ernes so wicti—
tigen Akenteuers wie es ein Tasckendiebstakl ist. Die Anscklagsaule^
an der sick seme Gedanken festkielten, katte sick nickt vom Fleck gc~
rukrt, mit ikren unveranderten Farben und der macktigen und glatten
Ruke ihres Korpers stand sie vor ikm fest und sckirmend, dienstfertig
und voll stummer Aufmerksamkeit, wie eine ungekeure Sklavm. Herr
Eczkipeczki suckte den sogenannten Titer. Seine Augen zielten auf ein
gelkes Plakat, bkekten aber nack mnen ruckwarts in den Nebel des Ge*
kirns, in dem die Plattform und die ganze ^Velt vorkanden waren. Em
langer Mann katte sick auf der Plattform nake zu ikm kmgeneigt. Er
war unrasiert. Er trug einen steifen Hut, aber keinen neuen. Mekr als
einmal war auf der Plattform der Blick des Herrn Eczkipeczki dem
dieses Mannes begegnet. War es ein junger Mensck, oder emer mitt-
leren Alters? Dies MeS sick sckwer sagen, bei Leu ten, die nickt m
AA^oklleken aufwacksen und keine sorglose Existenz nock solide Lebeus-*
stellung kakec, kann man das Alter nickt so okne weiteres feststellen,
Mit funfundzwanzig seken sie manckmal aus wie nut vierzig. Ein Menscb,
der Elend in der Kindkeit, Kampfe, allerlei Krankkeiten und Entbekrun-
gen, regelrecktes Hungern und vielleickt selbst Gefangensckait kmtcr sick
kat, tausckt die Augen der Anderen leickt iiber sem Leb ens alter. Jener
war mager und unrasiert und kockgewacksen, so viel war gewiis. Auck
er mockte beim Westbaknkof emgestiegen sein, denn bei der Podmamcz'-'
ky-utca katte er sick kinter sem em, Herrn Eczkipeczkis, Ruck en vor-
gedrangt, katte ikn auck gesto!?en, er katte jenen zornig angebkekt, worauf
der Mensck etwas wie : Pardon ! sagte. Dann reckte er sick und lungerte
reckts neb en ikm und blickte auf die 3traf?e kinaus, in anderer Ricktung
als der Kopf ^es Herrn Eczkipeczki. Aka. Er langte auck nack einem
270
Riemen kmauf, dock jemand anderes ergriff ikn vor lkm. Mit der
anderen Hand tastete er sick immerfort vorwarts, mit seltsamen bcnwimm-
kewegungen, als -ware sie erne Flosse. Ja, 3a, ja, 3a — nocnstwanrscnein—
lick war es dieser. Einmal katte Herrn Eczkipeczki gesckienen, als ware
eine Hand uker seinen Leik gefakren. Das mag dieser Kerl gewesen sein.
Damals hatte er die Ukr mit der Kette kerausgezogen. Auf seinem Halse,
okerhalo des Kragens, war erne Narke, die Spur ernes bcnnittes. Ja,
Herr Eczkipeczki hatte die Narbe auf dem Halse des Menschen sogar
ein paar Sekunden lang ketrachtet, weii? Gott weskalb. Er war beim
^Vestkaknkof eingestiegen. Vielleickt war er ein reisender Tasckendiek
und war mit dem Zuge aus der Provinz angekommen von einer Gesckarts-
reise. Vielleickt katte er sogar sckon eine gestoklene Ukr oder em
Sckmuckstuck kei sick. Oder es war lkm nickt gelungen, 1m Zuge
lrgendwelcke Operation auszufuhren. Vielleickt war er gerade semet-
wegen, Herrn Eczkipeczkis wegen, in die Elektnscke eingestiegen, vielleickt
katte er ikn sckon kei der Haltestelle als Opfer auserseken, als er ikn,
Herrn' Eczkipeczki, erklickt katte. Vielleickt katte er ukerkaupt nur
deskalk die Elektriscke kenutzt, um 1m Gedrange seme, des Herrn Eczki-
peczki, Ukr zu steklen.
Plotzlick war es Herrn Eczkipeczki, als katte em sckwarzer Flugel
sein Herz gestreift. Und dann wurde lkm das Herz sckwerer als vor-
kin, 3a, vorkin katte Herr Eczkipeczki gar nickt dergleicken in semer Brust
gespurt, als ok dort em Herz 'ware. Jetzt war das Herz lkm sckwer,
es lag etwa so viel an Sckwere darauf, wie viel eine goldene Ukr mit
einer dicken goldenen Kette wiegt. Erne goldene Ukr mit doppelter
Decke und glanzendem, mit runi Rukmen versekenem Werk, die feinste
und solideste Arkeit, ein leucktendes, stolzes, gesundes Kind der Ukren-
stadt Genf. Nie gmg sie eine Minute vor oder zuruek, sie zeigte Bakn-
zeit, und wenn Herr Eczkipeczki zu jemend sagte: Bitte, kei mir 1st m
sieken Mmuten neun, — so konnte der Betreifende Girt darauf nekmen,
dais m sieken Minuten neun war. Dieser Betreifende aker kertete auck
nock, wakrend Herr Eczkipeczki die Ukr aus der Westeritascke zog, den
Bkck auf sie und konnte sick nickt entkalten, zu sagen : ack, was kaken
Sie fur eine sckone Ukr, Herr Eczkipeczki, zeigen Sie dock! Und Herr
Eczkipeczki zeigte die goldene Ukr, offnete den Ruckendeckel und liei?
das Firmenzeicken seken und die Nummer der Ukr und die Punzierung
und sagte dann: warten Sie mail und kereitete wie eine Gekurtstags-
ukerrasckung das Kkngeln der Ukr vor. Er sckok den klemen Zei^er.
sagen wir, kis aur neun, melt die Ukr dem Betreffenden ans Okr und
sak mm mit Freude, SelkstkewuKtsem und ^Voklwollen ins Auge. Der
Betreifende aker korte das liekLcke Summen des goldenen Werkes und
die milden goldenen bcklage: em, zwei, drei, vier, funf, seeks, sieken, ackt,
neun wun der voile Klange. Und er mackte: aaak . . . und dann nickte
er mit dem Kopfe, erfrisckt und erkeitert von den goldenen Scklagen,
und erwiderte den Blick des Herrn Eczkipeczki mit sckmeicklerisckem
Lackeln. Diese Ukr stammte nock aus Fnedenszeiten, ein Pracktstuck,
das okne Kette dreikundert Kronen gekostet katte. "Was mockte ein
271
solckes Stuck keutigen Tages wokl wert sein, — so rasck lietf sick das
gar nickt sagen. Herr Eczkipeczki sckuttelte den Kopf und seufzte. Er
begann sick ganz verwaist zu fuklen, wie jemand, den man verlassen, der
sick in allem getausckt katte, der weder im Himmel nock auf Erden je-
mals sem Gluck finden kann. Er fuklte sick leer und nicktig. Die Ukr
-war nickt mekr in der Westentascke, fort ist sie, saint der Kette. Ein
Herr, der keine Ukr in der ^Vestentascke kat. Ein Herr, der, sollte
man ikn jetzt fragen: kitte, -wie spat ist es? — in Verlegenkeit kommt
und nickt antworten kann. Ein Herr, der die Stadtukr anseken mul?,
wenn er die Zeit wissen will, oder durck das Fenster eines Kaffeekauses
gucken und He Ukr an der Wand sucken, oder durck die eines Zigarren-
ladens spaken, um mit einem BKck die genaue Stunde einzufangen. Als
korgte man von anderen oder als kettelte man um einen Bissen Brot,
weil man kungng ist.
Herr Eczkipeczki fuklte einen keitfen Ansturm gegen sein Herz. Die
Sckam und der Hal?, diese keiden Verkundeten, sturmten das Herz des
Herrn Eczkipeczki. Aus seiner Tascke die Ukr zu steklen! ^iVas ist
das fur eine A^elt! Diese Ukr war sein, Herrn Eczkipeczkis, gekorte
zu seiner Person, wie sein Gewickt, das die ^^Vage im Dampfbad zeigte,
zu seinem Leken und seiner Personlickkeit gekorte diese goldeae Ukr mit
der goldenen Kette. Die Ukr aus seiner Tascke zieken! ^A^ie durfte
man das?! AA^ie war das nur mogkck? A^ie, wie, wie . . . ick, der
lck diese Zeilen sckreibe, begreife es selbst nickt.
— Na warte! so sprack Herr Eczkipeczki fur sick, dock so laut,
als redete er zu jemand. Sein Gesickt rotete sick von dem Gedanken,
der lkm in den Sinn kam, und davon, wie er dieses: na warte! sagte.
Er dackte an den Tasckendieb, der seine Ukr gestoklen katte, dem sagte
er: na warte! Und er warf den Kopf zuruck, kustete zweimal vor
lauter Entscklossenkcit und Energie und bog auf die Adrassy-ut stadt-
warts ein. Die Anscklagsaule starrte ikm mit ikren ungekeuren Buck-
staben nack, und wenn die Saule einen Mund gekabt katte, so katte sie
ikn geoffnet und Herrn Eczkipeczki gegriitft: Ergebenster Diener, kabe
die Ekre gnadiger Herr, ick gratuliere, viel Gluck!
Herr Eczkipeczki katte namkck in sick ausgemackt, kerne Anzeige
kei der Polizei zu erstatten. Diese Sacke brauckte nickt in den Zeitungen
zu steken. Er wollte nickt kaben, dai? seine Bekannten sick entrusteten
oder ikn verlackten. Er krauckte die Hilfe der Polizei nickt. Er ver-
zicktete darauf, dal? man seine Ukr einmal, zufalKg, in der Pfandleikanstalt
fand. Er verzicktete darauf dal? man in irgendeinem sckabigen Kaffee-
kaus den Tater erwisckte und gefesselt vor ikn kinkrackte. Er ver-
zicktete. Er selbst wolite kier Racke uben. Er fand sick nickt darein,
dal? man ikm die Ukr einfack aus der Tascke zieken konnte. Er selbst
wird sick seine Ukr wiedererkampfen. Jener Tater, der die Ukr aus
seiner Tascke gezogen kat, konnte nur ein notoriscker Tasckendieb sein.
Der war sickerkck darauf gekommen, dai? so gegen Abend die Stral?en-
kaknwagen kier am vollsten sind !und dal? man auf dieser Strecke um
diese Zeit am leicktesten und mit der besten Aussickt openeren kann.
272
Dieser Mensck wird nack einer solcken Beute, wie aeine goldene Ukr
es ist, diese Strecke sicker lien mckt vernacklassigen. Dieser Mensck
mufste nock in diese Gegend kommen. So urn sieken Ukr kerum wird
er kier vorkeigeken, dort auf der kinteren Plattform der Elektriscken
wird der Halunke sick drangen. Dort wird er arkeiten. Er aker, Herr
Eczkipeczki, wird etwa eln Viertel vor sieken kei dieser H alt es telle
Posten fassen und mm auflauern. Er erkennt ikn, sicker, er erkennt
lkn. Er siekt daz ganze Gesickt genau vor sick. Er wird lkn wieder-
erkennen. Und dann springt er auf die Plattform, dringt kis zu ikm
durck und packt lkn am Kragen. Elender Sckurke, ker mit meiner Ukr !
Du kast meine goldene Ukr gestoklen! Und er versetzt ikm einen Scklag
ins Gesickt, den der nickt so Laid vergil?t. Und dann zerrt er ikn von
der Elektriscken und sckreit: Sckutzmann! Das -wird eine Racke! Das
wird em Kniff! Das wird ein Triumpk! Herr Eczkipeczki kielt die
Hand zur Faust geballt in der Tascke des Pelzes und auf seinem Arm
spielten die Seknen und Muskeln und unter dem Hute glukte sein Kopf
und er atmete tief vor Talent und Ekrgeiz. Herr Eczkipeczki katte
immer Neigung und Pkantasie fur das UngewoknKcke gekakt. Auffallen:
der Welt etwas zeigen konnen: das kin ick! Dieser Traum war in der
Seele des Herrn Eczkipeczki sein ganzes Leken lang oft aufgetauckt Er
versckloi? sick, okgletck er ein vermogender und geackteter Burger war,
mckt starr vor den Vorteilen der Ekre und Berukmtkeit. Herr Eczki-
peczki pflegte im gekeimen zu traumen, und traumte von Dingen, wie,
dai? ei* emmal auf der Strafe einen Toksucktigen kandigen wurde. Oder
<lal? er auf dem Baknkof oder dem Wettrennplatz einen steckbrieflick
verfolgten Defraudanten erkennt, aber einen Verkrecker grotfen KaKkers,
wie Viktor Keeskemetky. Oder er zeicknet sick als Lekensretter aus,
anlaukek einer Panik im Theater oder auf einem Luxusdampfer zur See.
Oder er kelausckt einmal zufalkg erne gefakrKcke Versckworung und
gekt zur Stadtkauptmannsckaft, urn die Anzeige zu erstatten. Oder auf
irgendeinen Souveran wird wakrend eines Spazierganges ein Attentat be-
^angen, und er spnngt kin und packt den Arm des Angreifers . . .
*
Am andern Abend stand Herr Eczkipeczki zekn Minuten vor sieken
Ukr auf dem Terez-korut, an der Haltestelle Aradi-utca. Er katte die
Hande auf dem Rucken versckrankt und wartete auf den Tasckendiek.
Ein Stratfenkaknwagen kam, kliek steken. Die Leute drangten sick kerak
und kinauf. Herr Eczkipeczki tat einen Sckritt vom Burgersteig kinak,
kok den Kopf nack reckts und nack links und betracktete die Reisenden
auf der Plattform. Dann sckritt er kinter die Elektriscke, dann auf die
andere Seite und nakm die Fakrgaste auck von dort aus in Augensckein.
Dann fukr die Elektriscke weiter. Herr Eczkipeczki trat wieder unter
die Eisentafel der Haltestelle, klickte in die Ricktung des Westkaknkofes,
wartete auf den nacksten Wagen. Ein kekannter Herr ging auf dem
Burgersteig vorkei. Er griitfte :
Habe die Ekre, Herr Eczkipeczki. Sic warten auf die Elektriscke ?
Ja. Habe die Ekre — wokm, wokin?
273
Die Strai?enbaknwagen kamen und fukren weiter unci Herr Eczkipeczki
prufte grundkck die Bemannung jeaes einzelnen. Funi Minuten nack ackt*
als er die Haltestelle verneis, gmg er ruing nack Hause : er konnte sick
mckt vorwerfen, da!? er auck nur aui eincm einzigen Wagen mckt jedes
Gesickt aurmerksam angeseken katte.
Aucn am nacksten Abend stand Herr Eczkipeczki vor sieben Ukr
an der Haltestelle. Funf Viertelstunden stand er da, wie den Akend
vorker, und aucn am dritten I age verlieis er um ackt Unr semen Platz*
den er punktlick em V lertel vor sieben eingenommen katte. Herr Eczki-
peczki war em Mann der Ordnung und Regel, und melt Tag um Tag
und Wocne fur AA^ocke korrekt seine Zeit fur Kommen und Geken bei
aer Haltestelle em. Er ware mit semem Cnarakter unzurneden gewesen
und natte mcnt rukig einscklaien konnen, wenn er emmal spater an der
Haltestelle angelangt ware und sie aucn nur um erne Mmute fruker als
sonst, vor acht Unr, verlassen natte.
Ernes Abends, wakrend er so dort stand, etwa um kalb 8 Unr,
wanderte eine Marsckkompagme aui der StraKe an inm vorbei, dem West-
baknkoie zu, Herr Eczkipeczki starrte m seiner Langeweile zwiscken
zwei Elektriscnen auf den Fakrdamm, vor semem zerstreuten Blick gingen
und gingen und gingen einrormig die emiormig grauen Soldaten nacn der
an der Spitze rauscnenden, fremden und unkekannten Musik, lm Duster
der karg keleuckteten RmgstraKe, tonlos und iarblos, vorgekeugt, als
trugen sie aur dem Rucken eine ubergroJ/e Last oder emeu iurcntbaren
Hocker. Die Gewekre ragten wie dunkle Aste neken mren Sckultern
empor und aur lkrer Brust erglanzten kie und da die Glaser der La—
ternen wie blinde Fenster, und uber ikren Hauptern reckten und be—
wegten sick alleriei Latten und Stangen, und darunter die Kopfe knickten
bei )edem Sckritt vor warts, wie die Kopfe der Alten, den en das Genen
mcnt mekr taugt, und -wie die Kopre von Wanderern, die mit sckwerer
Last aur der LandstrajZe dakmzieken und entsckwmden. Neben dem
Zuge marsckierten zu keiden Seiten aucn nock andere Menscken, Frauen
und Kinder, die eilten, um Sckritt kalten zu konnen, und lkre Gesickter
den Reiken der Soldaten zuwandten. Herr Eczkipeczki reckte sckon
seinen Hals, um uber die Mitziekenden die Gesickter der Soldaten besser
seken zu konnen. Plotzlick kam es mm m den Smnr wie, wenn sein
Mann zuialkg unter diesen -war? Wie, wenn man seitker auck diesen
emgezogen katte und er geijade jetzt ins Feld marsckierte? Herr Eczki-
peczki sckirmte die Augen mit der bekandsckukten Reckten und knirr
die Augenbrauen zusammen, denn die Straf?e w r ar dunkel und man konnte
die Zuge der Soldaten kaum ausnekmen. \Venn man sie blols so von
fern betracktete, waren die Gesickter aller Soldaten gleick, Herr Eczki-
peczki prufte gewissenkait die Soldaten, wakrend sie dakerkamen, eine
Reike nack der anderen und in 3eder'Reike jedes emzelne Gesickt, so~
lange Gesickter und Reiken nock kamen und bis die letzte vorbei war.
Und dann sckaute er der Koropagnie nock erne \Veue mit unrukigen
und erwartungsvollen Bkcken nack, als wunsckte er, daj? sie Kekrteuck
mache und kalte, da mit er nock emmal jedes Antlitz betrackten konne.
274
STEFAN GROSSMANN LIEBESERKLARUNG
ANS THEATER
I.
Nie war die Lage des deutschen Theaters diisterer. Es ist
arm geworden, arm an Geldern, arm an Dichtern, arm an bchau-
spielern. Wenn Herr Loucheur als Sachverstandiger der fran-
zosischen Wiederherstellungskommission mit aller notwendigen
Unwissenheit ausgestattet, unlangst erklart hat, solange Deutsch-
land viele Millionen zur Subventionierung seiner Theater auswerfe,
sei es noch finanziell in hohem Grade leistungsfahig, so beweist
er nur, dai? er von Deutschland so viel weif? wie vom Theater.
Die Comedie francaise verschlingt zehnmal so viel als das Berliner
staatliche Schauspielhaus, aber wahrend das franzosische Theater
sich auf Paris konzentriert, bedeutet es den kiinstlerischen Reich-
turn des deutschen Theaters, daf? es sich nicht auf Berlin beschrankt,
sondern da!? Wien und Frankfurt, Dresden und Konigsberg, Ham-
burg und Weimar um die Forderung des deutschen Theaters wett-
eifern. Wehe dem Theaterdirektor in Bremen, der die Bremer
Theaterkunst auf das Niveau der Hafenstadt Marseille senken
wollte . . . Trotz aller dieser leidenschaftlichen Anstrengungen
steht das deutsche Theater nicht nur vor seinem Niedergang, es
steht vor seinem Niedersturz. Das Beste, was auf deutschen
Theatern in den letzten dreil?ig Jahren geleistet wurde, kam von
Privatbuhnen. Otto Brahm hat nicht einen Pfennig Subvention
empfangen und Max Reinhardt auch nicht. Wer heute Einblick
in die Gagen und Lohnlisten der Kiinstler und Arbeiter bekommt,
weil?, da(? die subventionslosen Theater, fast alle, mit dem Defizit-
teufel ringen. Eine furchtbare Sparsamkeit lahmt den Arm des
Regisseurs. Um jedes Stuck Leinwand mui? der Regisseur mit dem
Administrator kampfen, um jedes Stiick Samt, um jede Stunde
Beleuchtung. Namentlich dieser Kampf urns Licht hemmt die
kiinstlerische Arbeit des Regisseurs aufs Bitterste. Es ist jedem
Theater nur ein bestimmtes Quantum elektrischen Stromes zu-
gemessen. Das bedeutet, dafs man auf zwei, hochstens drei Proben
die Lichtwirkungen wirklich ausprobieren kann. Das deutsche
Theater ist arm an Licht geworden — noch armer an Talenten.
Ich spreche garnicht von dem Heute, ich spreche vom Morgen.
Um Schauspieler zu werden, ist eine Atmosphare von Sorglosig-
keit, Lebensvertrauen, innerem Uberschuss notig. Der Schauspieler
275
muf? sein Leben verspielen. Spieltrieb im Schillerschen Sinne ist
die Quelle natiirlichen Komodiantentums. Wie aber soil eine
seufzende, entbehrende Kindheit spielerische Menschen schaffen?
Erst in zehn Jahren werden wir spiiren, wie seelenarin wir ge~
worden sind. Wer heute einen Blick tun will in das Theater
von morgen, der sehe sich die griibelnden Jiinglinge, die blassen
Madeln an, die jetzt in den Theaterschulen uben. Fast nirgends
ein rotbackiges Kind, kaum je ein ausgelassener, lebenstrotzender
Jiingling, nirgendwo eine iiberstromend frische Madchenseele. Das
Theater von morgen wird, fiirchte ich, einem etwas vergramten
Schauspielergeschlecht gehoren. Die bitterste Armut aber wird die
Not an Dichtern sein. Aus der Schaumwelle des Expressionismus
ist keine dichterische Gestalt von Kraft und Gr6J?e entstiegen, weit
und breit kein Naturtalent, auf dessen innere Entwicklung Deutsch-
land begierig sein miiCte. Die Generation zwischen 25 und 30 Jahren
hat nur fragmentarische Talente, fragmentarische Charaktere ge-
zeitigt.
II.
Und doch wird das Theater immer wieder Liebe erzwingen,
und doch werden die Millionen des Films kein tieferes Theater-
talent der Biihne zu entziehen vermogen, und doch gibt es fur die
geborene Theaternatur keine grotfere Seeligkeit, als den Moment,
in dem sie vormittags im leeren Hause zwischen die kahlen
Mauern der zur Probe notdiirftig beleuchteten Biihne tritt. Ich
liebe dieses Winkelwerk der Biihne mit den sinnlos an die Wand
gestellten Kulissen, mit den iibereinander gehauften Mobeln, mit
den markierten Dekorationsstiicken mehr noch als die geordnete,
richtig belichtete Abendbiihne. Es ist, als waren diese grauen
Mauern impragniert mit der zerstaubten Materie unzahliger
Trauer- und Lustspiele, die hier erstanden sind. Vielleicht sind
deshalb neue Theater regelinatfig Enttauschungen fur Schauspieler
und Publikum, weil diese kuriose Atmosphare, dieses Geschwangert-
sein mit Theatererlebnissen noch fehlt. Die Schauspieler haben
schon den richtigen Instinkt, wenn sie am liebsten in alten, ab-
genutzten Theatern spielen, Es geistert auf der viereckigen grauen
Biihne des Theaters ah der Wien, es weht Komodienduft zwischen
den steinernen Wanden des Miinchener Residenztheaters und es
gehorte viel Talentlosigkeit dazu, diese Atmosphare aus den Biihne
des Dresdner Alberttheaters zu vertreiben.
276
III.
Kein Jubel des Publikums, gescbweige denn irgendeine Rezen-
sentenbuldigung kanrt der Beseeligung verglicben werden, die der
Schauspieler von Natur beim Wacbsen einer Figur wabrend der
Proben empfindet, und von alien AVonnen des Scbaffenden ist,
glaube icb, keine der steigenden Freude zu vergleicben, die der
scbopferiscbe Regisseur empfindet, wenn die Gestalt, die er gestern
in seinem Kopfe trug, beute, morgen und ubermorgen in immer
starkerer Leibbaftigkeit, reicber nocb, als er sie gedacbt, weil das
Leben immer nocb vielfaltiger ist als die Vision, ibm entgegen-
wacbst. Zwiscben dem scbopferischen Regisseur und dem scbop-
feriscben Scbauspieler bestebt nicbt das Verbaltnis eines Gebenden
zu einem Nebmenden, sondern der Gebende nimmt und der Neb-
mende gibt wieder. Icb babe es immer fur ein Zeicben einer
trockenen Begabung gebalten, wenn Regisseure sicb allzu strenge
an ibr auf dem Scbreibtiscb ausgearbeitetes Regiebucb bielten. Jeder
Spielleiter, der mit der Natur der Scbauspieler recbnet, mu# in
einem bestimmten Momente sein Regiebucb zuklappen und es ver-
gessen konnen. So gut wie er den Scbauspieler iiberwaltigen mul?,
so sicber muf? aucb er von einer starken scbauspieleriscben Natur
iiberwaltigt werden konnen. Der Regisseur ist nicht nur der
Spielleiter des Scbauspielers, der starke Scbauspieler wird in einem
bestimmten Augenblick aucb der Spielleiter des ' Regisseurs. Icb
babe es von jeber begriffen, dai? Reinbardt, wenn Pallenberg bei
der vierten Probe auf die Biibne trat, sicb in eine bintere Parkett-
reibe setzte und wie irgendein naiver Zuscbauer andacbtig wurde
oder nicbt aus dem Lacben kam.
Zum ABC der Liehe
Jede Frau, die Du umarmst, nimmt einen Funken D einer Kraft, ohne Dir cinen
dafiir zu geben. Du erschopfst Dich an Phanthomen.
Alfred de Musaet.
Die Frauen inapirieren uns zu grotfen Taten und verhindern uns, flie auazufunren.
Felicien Rops
277
S.: WIRTSCHAFTLICHES TAGEBUCH
DEUTSCHLANDS GROSSTE AKTIENGESELLSCHAFT
Die Allgemeine Elektrizitatsgesellsckaft kringt (lurch Neuemissionen
ikr Aktienkapital auf acktkundertfunfzig Millionen Mark: dreikundert-
iunfzig Millionen Stammaktien und funfkundert Million en Vorzugsaktien.
Der grol?ere Teil dieser Millionen — seckskundertftinfzig von acktkundert-
funfzig — ist freilick deutsckes Papiergeld Marke 1920 und 1921, also
wenn man inre iCauf*- und Finanzierungskraft kestimtnen will, durck
tunfzekn, zwanzig und teilweise nock mekr zu dividieren. Immerkin :
die Dimensionen kleiken stattlick ; selbst aus dem auslandiscken Gesickts-
winkel. Aus diesem GesicktswinkeL, nicLt aus dem kesckeideneren
deutscker Papiergeldrecknung mul? man die Transaktion offenkar in der
H'auptsacke ketrachten. Der Kommunique der A. E. G. teilt iiber den
Zweck der Geldkesckaffung nur mit, dad sie zur Deckung des aus der
Verkmdung nut Linke-Hoffmann erwacksenden Finanzkedarfs und „zur
Starkung der Betneksmittel, inskesondere zur Kraftigung des Auslands-
gesckafts dienen solle. Die Kommentare der Finanzpreese wissen dieser
kargen Andeutung kaum etwas kinzuzufugen : sie verweisen auf das ke-
kannte Bundnis mit dem nordamerikaniscken Elektrotrust und auf Bakn-
elekrifizierungsprojekte, die zu Hause und drautfen in der Luft Kegen.
Die Elektrogroiftndustrie katte von jeker einen starken finanz-
politiscken Einscklag ; sie mul?te, um als Fakrikationsgewerke kluken zu
konnen, gleickzeitig Finanzierungsgewerke sein. Sie katte keine oder
jedenfalls nickt genug Aknekmer, die mit dem Portemonnaie in der Hand
aur lkre Erzeugmsse warteten. Die Uberlandzentralen, die sie kaute,
mutfte sie selkst errickten; an den Stral?enDaknen, die sie elektrisieren
wollte, mutfte sie sick keteiKgen. Das autfere Resultat dieser kesonderen
Vereinigung industrieller und finanzieller Tatigkeit waren die tekannten
Finanzierungskanken und „kolding companies" der Elektrokrancke. Das
mnere war die enge Liaison nut gewissen Zentren der Hockfinanz.
Auck das kunrtige Auslandsgesckaft wird zweifellos okne eine
gewisse finanzpolitische Bewegungsfreikeit und Macktstellung nickt zu
erlangen und zu kekaupten sein. Deutscke Papiergeldkraft kann freilick
wie die Dinge lie gen, auck kei starkster Anspannung nur die unent-
kekrKckste Basis solcker Macktstellung kilden; ikre ungekemmte Ent-
faltung, sickere Ukerlegenkeit gewakrleisten kann sie nickt. Aker sie
kann dock verkindern, dal? die deutscke Industrie allzusekr in fremde
Finanzkorigkeit gerat, dal? sie zum aokangigen Loknwerker kerakgedruckt
wird. Selkststandigkeitserkaltung innerhalk der durck die Reste unserer
Kraft gezogenen Grenzen ist der letzte Sinn solcker finanzieller An-
strengungen wie die eken angekundigte der A. E. G.
278
BORSENSTEUERN
Ein Regierungsentwurf zur Erbobung der Borsensteuern ist
kurzlicb von dem zur Begutacbtung berufenen Sacbverstandigen
abgelebnt worden, Das Finanzministerium will ihn griindlicb um-
arbeiteti und es lohnt desbalb nicbt, iiber seine Einzelbeiten und
seine Satze zu sprecben. Aber iiber das Grundsatzlicbe ist, un-
abbangig vom Tecbniscben, einiges zu sagen.
Seit der Revolution ist das allzu billige Generalrezept der
deutscben Steuerpolitik die Multiplikation der Steuersatze. Man
liat diese Metbode bei der Einkommensteuer angewandt, bat sie
vortrefflicb gefunden, solange diese Steuer bloi? auf dem Papier
stand, und muS jetzt notgedrungen anfangen sie (zunacbst durch
die sogenannte Lobnsteuer) zu liquidieren, weil die Einkommen-
steuer nicbt mebr ganz auf dem Papier stebt. Man bat sie beim
Reicbsnotopfer versucbt und dadurcb redlicb mitgebolfen, diese
angeblicb unverfalscbte Besitzabgabe in eine indirekte Steuer zu
verwandeln. Man konnte also allmablicb einseben, dai? die
Wirtscbaft sicb an die Multiplikation nicbt „gewobnt", sondern
da(?, sovveit es nicbt gelingt, sie durcb Hinterziebung unwirksam
zu macben, entweder iiber kurz oder lang der „Abbau" er-
zwungen wird, oder da# Folgen eintreten, an die man nicbt ge-
dacht und die man nicbt gewiinscbt bat.
Kein Zweifel, daf? ein Borsenzustand, wie er in den letzten
Monaten berrscbte, fast jede Steigerung der Efifektenumsatzbesteue-
rung vertragt und recbtfertigt. Eine Spekulation, die mit Valuta-
entwertungsbaussen recbnet, laf?t sicb durcb ein paar Prozent
Stempelabzug nicbt scbrecken und es ist ebenso moraliscb wie niitz-
licb, einen nicbt zu kleinen Teil ibrer Papiergewinne in die Kassen
des Fiskus zu leiten. Aber in der Bliitezeit der Katastropben-
konjunktur war das Finanzministerium offenbar nocb beim Er-
wiigen, und Steuern werden nicbt fur gestern gemacbt, sondern,
fur morgen. Zwar wissen wir nicbt wie weit uns London und
das Nacbspiel von London zuriickwerfen werden; aber wir boffen
immer noch, da(? wir scblief?licb nicbt nacb Wien oder Moskau
kommen, sondern zu neuer Konsolidierung. Das beitft natiirlicb aucb
zu normaleren Borsenverbaltnissen als die von 1920 waren.
Man braucbt die Gefabr der „Immobilisierung der Mobilien"
durcb eine stark erbobte Umsatzsteuer nicbt zu iibertreiben. Aber
man mul? sicb von vornherein klar macben, wie weit man eine
Verengung des Marktes in Kauf zu nebmen bereit ist. Die Tages-
spekulation, die (in rubigen Zeiten) blo# ein paar Prozent Kurs-
differenz berausscblagen will, kann nicbt arbeiten, wenn ibr diese
279
Differenz mebr oder minder vollstandig durcb Steuern auf gezebrt
wird. Die Tagesspekulation, hieS es friiber immer, ist fur den
Effektenbandel und fiir die anlagesucbenden Kapitalisten notwendig,
weil sie den Markt erweitert und die Kursbewegung glattet, ohne
sie ware der Markt enger, die Scbwankungen der Kurse waren
erheblieh grower und plotzlicber und die Neigung des Kapitalisten-
publikums, Effekten zu erwerben, wurde durcb die Unsicherbeit
und Unregelmatfigkeit der Preisbildung beim Kauf und Verkauf
veringert. Man kann diese Folgen mebr oder weniger tragiscb
nebmen. Aber man muff sie sicb jed en falls vorber iiberlegen.
Weiter: wenn man irgend eine Art von legitimem Handel
mit besonders boben Abgaben belegt, mui? man stets die Moglicb-
keiten der Scbleicbbandelsentwicklung erwagen. Diese Moglicb-
keiten sind nacb der Bescbaffenbeit und Eigenart der ^Vare und
der Tecbnik des Handels sehr verscbieden. Beim Effektenbandel
scbeinen sie nicbt gering zu sein.
Endlicb : wir kbnnen die Grenzen des Reicbs nicbt dauernd
mit Stacbeldrabtzaunen sperren, die iiberall Locber aufweisen.
Es latft sicb auf die Dauer nicbt vermeiden, dai? wir wieder an-
nabernd so ungehemmt wie vor dem Kriege ins Ausland reisen,
scnreiben, telegrafieren und telefonieren. Nun kann der Berliner,
aucb wenn dieser Zustand erreicbt ist, nicbt gut sein Pfund Butter
oder sein balbes Pfund Scbinken in Danzig, Kopenbagen oder
Amsterdam kaufen. Aber er kann dort sebr gut seine Wertpapiere
erwerben und abstotfen und seine grotfen oder kleinen Spekulations-
geschafte macben.
Wabrscbeinlicb ware eine Wirtscbaftsordnung viel scboner
in der man all diese Erwagungen nicbt anzustellen, all diese Riick-
sicbten nicbt zu nebmen braucbte. Aber die berrlicbe trust-,
kapitalisten- und borsenlose Zeit ist ja leider aucb nacb der grotfen
Revolution nicbt angebrocben.
J^ "Wir (d. h. die Deutschen) sind PartikuKers, an Obereinstimmung ist nicht zu
denken ; jeder hat die Meinungen seiner Provinz, seiner Stadt, ja seines eigenen Indiyi-
duums, und wir kbnnen noch lange warten, bis wir zu einer Art von allgememer
Durchbildung kommcn. Goethe 1828.
Sowie ein Dichter politisch wirken will, mull er sich einer Partei hingeben, und
sowie er dieses tut, ist er als Poet verloren ; er m\xQ seinem freien Geist, seinem unbe-
fangenen Oberblick lcbewohl sagen und dagegen die Kappe der Borniertheit und des
blinden Hasses iiber die Ohren Ziehen. Goethe 1832.
280
AUS DEM TAGE-BUCH
PAUL CASSIRER.
Vor ein paar Tagen ist Paul
Cassirer funfzig Jalire alt geworden.
Viele Leute, Maler, Sckauspieler,
Politiker kaben ikn gefeiert. Er
•war und ist, wie lmmer man zu
ikmsteke, eine der lebendigsten Ener-
gien Berlins. Er treibt, was er
anfafit, mit brennendem Sckwung.
Er kann nie lau sein. ^Ver in
sein immer, gerotetes, kleinaugiges
Gesickt sckaut, dem fallt vor allem
der genie#erisck gesckwungene, etwas
uppige Mund auf. Es sind die
Lippen ernes nervosen Scklemmers.
Die Berliner AA^eltansckauung, deren
Problem es ist, aus seckzig scknell
verfkegenden Jakren das moglickst
groise Lustquantum kerauszukolen,
kat in mm einen reinen Reprasen—
tanten gefunden. Er kat, glauke
lck, keinen Tag okne Lust verkrackt,
nickt nur, weil er den Genu is ge~
suckt, sondern weil er lkn auck
uberall zu finden gewul?t kat. Dieser
Berliner Gemeuertypus untersckeidet
sick vom Wiener Flatteur oder
vom Pariser Lebenskunstler vor
allem dadurck, dai? er fortwakrend
etwas planen, unternekmen, auf rickten
mu£ Pariser Genul?menscken ver-
tun ikr Leben fur Frauen, Wiener
Scknitzlermenscken sind durck eine
gewisse Zusckauer~Passivitat geadelt,
der Typus Cassirer sckwelgt in
Energien. Er liebt einen Maler,
d. k. er mul? ikn durcksetzen, er
sckwarmt fur eine Frau, d. k. er
muu sie kockbringen. \Venig ge-
sckiekt okne offentlicke Memung
und Niemand bekerrsckt die Tecknik
der offentkcken Memung so souveran
wie Paul Cassirer. Jeder neue Tag
ist Hokepunkt. Eine kerrKcke Kraft,
das Gestern zu vergessen, starkt fur
das Heute. Mit welckem Elan
ist Paul Cassirer 1915 fur den
deutscken Krieg eingetreten. Wie
kat er alle Maler semes Kreises in
vaterlandiscke Bildpropaganda ge-
trieben. Ein Sckweinekund, wer
damals nickt lm Ckorus mitsang.
Das kat ikn nickt im Geringsten
gekindert, zwei Jakre spater der
feurigste der Pazifisten, die rlerkerge
der U.S.P.—Leute zu werden, Kurt
Eisners gesammelte Sckriften keraus-
zugeken und zu V ater Kautskys
FuKen zu sitzen. — Freillck okne
die Geduld zu kaben, lkm zuzukoren.
Ein abgesckmackter Pedant, wer
diesem Don Juan der Memungen
jeweils Inkonsequenz nacksagen
wollte, er ist kem ausgeklugelt
Buck, er ist ein Mensck mit 3 ein em
^iViderspruck. Man kann sick diesen
Fanatiker des Augenblicks, diesen
genietferiscken Mund gar nickt anders
als jung vorstellen. Auck durck
Bankette und Geburtstagsredenwird
er sick nickt zum Altwerden be-
wegen lassen. Ein Komet kann
nickt stillsteken, nickt besanftigt
werden. Solcke Energien straklen
und krecken jaklings ab. Und die
Plotzlickkeit kleibt ikre sckonste
Tugend. St. Gr.
281
DER HEROISCHETROTTEL
Vor den Wiener Gescbworenen
ist eben em ProzeK beendet worden,
der neben einem menscblicben Schick-
sal eine merkwurdige Tragikomodie
aufrollte. Der traurige Held des
Dramas, ein Pnvatbeamter, der drei
Jabre 1m Krieg gewesen, ist zu
sckwerer Kerkerstrafe verurteilt
worden, weil er seine gewesene
Braut, ein junges "Wiener Klein~
burgermadcben, durcli mebrere Re~
volverscbusse ge'totet bat. Diese
emiacne latsacbenreibe konnte ein
wirklicbes Drama entbalten; die
Othellos und Ferdinande sind nicbt
ausgestorben, das furcbtbare Gift
der Eifersucbt bat sicb nicbt ver-
andert, es wirkt beute wie vor
hundert Jabren. \Vars das alte
Trauerspiel der irre gewordenen
Lie be, dann konnte sicb menscblicbe
Xeilnanme dem Manne zu wen den,
der uber die Lei en e eines Ma deb ens
in den Kerker gebt.
Aber der Fall des Franz Nedar
liegt anders. Das Mitleid bat nicbts
ubng fur ein Scbicksal, dessen 1 ragik
nicbt menscbKcber, sondern politiscb-
patbologiscber Natur ist. Dieser
Franz Nedar, der die zwanzig-
janrige Jonanna Scnultbeif? erscbossen
nat, ist kein Romeo, kem Ferdinand,
sondern die Fleiscb gewordene Pbrase.
Wanrbaftig, es ist keine Uber~
treibung: Am 21. und 22. Februar
stand die Knegspbraee leibbaftig
vor den Wiener Gescbworenen —
dieselbe Pbrase, welcbe die unge-
beure ^vVeltkatastropbe entzundet
bat, war bier . in einem emfacben
Menscbenexemplar verdicbtet. Das
arme Made! aber, das sein Leben
verlor, ist gestorben, obne vielleicbt
geabnt zu baben, dai? es ein em Ge-
spenst zum Opfer gef alien. Und
das Unbeimlicbste an der Gescbicbte
282
ist die Abnungslosigkeit des M orders,
der selbst nicbt zu wissen scbeint,
dais er kein Menscb, sondern nur
eine Pbrase ist.
Franz Nedar, ein gewobnlicb
aussebender , sebr selbstbewuister
Mann, der in der Spracbe ernes
Kommersredners die Gescbicbte
semes Lebens vor den Ricbtern
ausbreitet, erzablt selbst, wie er die
Jobanna Scbultbeii? kennen gelernt
bat : „Die Sehnsucnt nacb einem
trauten Heim," sagt er, „bewog
micb, auf dem nicbt mebr unge-
wobnlicben AtVege des Zeitungs-
mserats eine Lebens gef abr tin zu
sucben . . . Und weiter: „Seit
jeber ideal veranlagt, erfullt von
den bebren Idealen unsres Volkes*
war es mein Bestreben, em ebren—
festes Madcben zwecks Ebelicbung
zu gewinnen . . .
Man ersebnekt; ist das mog-
licb? Vsfie mag das Hirn bescbaffen
sein, das diese \Vorte mecbamscb
weitergibt? Es scbeint bosbafte Er~
findung und ist docb traurigeWabr—
beit. Es existieren also Wesen,
Exemplar e der Gattung Menscb.
nut Augen und Herzen begabt, die
der Natur entfloben sind, urn sicb
aus leeren \Vortbulsen eine \Velt
zu bauen? Die wenigen emleitenden
Worte dieser Biograpbie wiirden
genugen, den ganzen Mann zu
entkleiden. „Trautes Heim" und
„Lebensgefabrtin", „seit jeber ideal
veranlagt", „bebre Ideal e" und
„ebrenfestes Madcben" — man siebt*
nem, man riecbt ibn vor sicb, diesen
von Bierdunst und Felix Dabn
gezeugten , an ,,Entscblieimngen
(nicbt Resolutionen) genabrten, zum
,,Durcbbalten bestimmten Jungling.
Und dieses Gespenst griff mit
feucbt-kalter Hand nacb einem
lebens warmen Gescbopf.
Vorsitzender (em Wiener,
em wirklicker Mensck): Sagen Sie
uns einmal, was war denn eigentkck
der Anlai? der ersten Verstimmung
zwiscnen Iknen una der Jokanna?
Angeklagtei: Ick gab ikr zu
vers ten en, dal? sie vor der Heir at
erne Pruning zu besteken kaben wurde,
Vorsitzender: Sagen Sie uns,
katten Sie denn gar nickt die
Empfindung, das Zartgefukl des
Madckens sckwer verletzt zu kaken?
Das angeklagte Gespenst:
ISJein. Fur mick kam nur in Be~
tracbt, auf meinem idealen Stand-
punkt zu bekarren.
Das Wiener Madel, das sick
in dem Irrtum kefand, cm en Men-
scken kennen gelernt zu kaben,
sckrieb an das Gespenst mekrere,
zum Teil rukrende Briefe, worin
es die eigene sckwere Enttausckung
sckildert. Das Gespenst antwortet,
es komme nickt auf die Liebe, es
komme auf die „streng ideale Treue"
und „Reinkeit' v an; darum konne
er aui die „Feuerprobe " nickt ver-
zickten. „Wir wollen nickt Marz-
gefallene sein, sondern Marzsieger . . ,
Der Bruck deines Verspreckens
wurdedick allerEkre karmacken . ,. ifc
■ Vorsitzender: AtVarum diese
Drokung?
Angeklagter: EinVer^precken
ist kockkeilig.
Vorsitzender: Ja, aker das
Vertrauen des Madckens zu Iknen
war eken ersckuttert ...
Angeklagter: Ein gegebenes
^Vort mui? man kalten, das ist ein
alter deutscker Spruck.
Vorsitzender: Ick werde
Iknen etwas sagen: Es ist dock
nickt das erstemal im Leben, dal?
sick Zwei etwas versprecken und
nackber emseken, dal? sie nickt zu~
emander passen. Selbst wenn die
Jokanna einen Fekler kegangen katte,
'ware das dock nock kein Grund
gewesen, sie offentlick zu geiJ?eln!
Angeklagter: Ick kin cm
Idealist, ick kann von meinen An-
sickten nickt akgeken.
Der Fortgang der Gesckickte
ist dieser: Das Madcken weist dem
Gespenst die Ture. Das Gespenst
aber drangt weiter . auf sie ein.
Nack neuerlicken Drokungen lai?t
der Vater des Madckens dem
Ideaksten sagen, er werde ikn „keim
K rag en nekmen und zum Fenster
kinauswerfen." Der Zudringling
nimmt Tmte und Feder und sckreibt
besckimpfende Briefe. Es kkngt
wieder wie boskafte Erfindung,
wenn man die Sckimpfworte dieses
Idealisten liest; ^Bukldirne", „Ge~
meine Treuebreckerin", „Ekrver-
gessene Metze".
Da keine Antwort mekr kommt,
ukerfallt der Idealist das Madcken
und verletzt sie durck mekrere
Scklage auf den Kopf. Zwei Tage
darauf lauert er ikr aui und sckietft
sie auf der Strafe nieder.
Vorsitzender: Zeugen gaben
an, dai? Sie aui die am Boden
Liegende nock viermal gesckossen
kaben. Davon kat ein SckuK den
Kopf durckbokrt, dai? das Gekirn
kerausgetreten 1st.
Das Gespenst will sick an nickts
erinnern. Aus frukeren Aussagen
wird ikm vorgekalten, er kabe nack
der Tat erklart, die Tat nickt zu
kereuen, da er dem Madcken die
„Gro!?e des Treukrucks" zum Be-
wuKtsein kabe bringen wollen.
Der Gericktspsyckiater Dozent
Dr. Wieg erklarte: Der Ange-
klagte zeigt sekr viel W'idersprucke
283
auf und aucb die Tat stent zu
seinem sonstigenVerbalten m krassem
Gegensatz. Die Untersucnung, ob
der Angeklagte geistig krank sei,
hat ein vollstandig negatives Result at
ergeben. Nedar 1st bereditar be-
last et. Er 1st emp finds am und
rurcbtsam in seinem Gerublsleben.
Seit jeber Desalt er elne uber—
wucberade Pbantasie. Er ist einer
der Menscben, die man vulgar
pbantastiscb nennt. Er mocbte die
^Velt nacb seinem Ideal umformen,
und bierbei spielt seine RecbtbabereL
sein Eigensinn, seine Hartnackigkeit
eine grol?e Rolle. Bei ibm bandelt
eg eich um eine egozentrische Be-
wui?tseinsstellung. Er kann sicb an
seine Umgebung nicbt anpassen.
Mit unbelebrbarer Konsequenz ver-
folgt er sein Ziel. Er vermag es
nicht, seine eingebildeten Vor-
stellungen mit der ^Virklicbkeit in
Einklang zu bringen.
Man siebt: Das Gutacbten be-
mubt sicb die cbarakteristiscben
Merkmale dieses Exemplares rest—
zustellen, und soweit dies aur dem
\Vege der Psycbiatrie moglicb, ist
es ibm gelungen. Aber die letzte
Erkenntnis bleibt ibm verscblossen,
die Erkenntnis, da# wir es bier
nicbt mit dem Sonderiall eines
psyebiscb gestorten Einzelnen son—
dern mit einem Typus zu tun
baben. Der Morder der Jobaima
SchultbeiK ist ein Exemplar j ener
groKen Gespenstersekte, deren An-
geborige au^erlicb wobl wirklicben
Menscben gleicben, aber sicb wesent-
licb von ibnen unterscbeiden. Sie
denken nicbt, sondern reproduzieren
Pbrasen ; lie lieben nicbt, sondern
baben „Sebnsucbt nacb dem trauten
Heim"; sie bleiben ewig Buben mit
eingebildeten Plattbeiten, nebmen
sicb. gegenseitig sebr ernst, obne zu
abnen, wie lacberlicb sie sind. Das
grotfe Vorbild der Sekte war ^Vil-
belm IL, das kleine Karl Hermann
AVolf. AiVas der Gericbtspsycbiater
von dem Angeklagten sagt: uber-
wucbernde Pbantasie als Folge der
Flucbt aus der AV irklicbkeit : der
Fanatismus, mit welcbem versucbt
wird, die wirklicbe AiVelt nacb
dem vorgestellten Bilderbogen des
Phrasentums zu modeln; die Un-
moglicbkeit, die scbicken Bilder
des Pbrasenkopf es mit der Wirklicb-
keit in Einklang zu bringen — diese
Kennzeicbnung konnte einer Cba-
rakteristik MVilbelms II. entnommen
sein. Es ist unvermeidlicb, dai? die
fleischgewordene Pbrase mit der
Wirklicbkeit zusammenstoisen mull,
unvermeidlicb aucb Ale Katastropbe.
Das alte Europa ist das Opier dieser
Sekte geworden wie Jobanna Scbult-
beu? das Opfer des Franz Nedar.
Der beroiscbe Trottel batft im
Innersten die AVelt, well er zu ibr
keine naturlicbe Beziebung gewinnen
kann ; darum ist er scbnell ent-
scblossen, Gewalt anzuwenden, Jvrieg
zu erklaren, den Massenmord zu
verberrlicben. Es ist ein Irrtura,
zu meinen, die Kriegsursacbe lasse
sicb durcb Dokumentenrorscbung
und politiscbe Grubeleien erklaren;
nur Pallenberg ware lmstande, sie
alien verstandlicb, r estlos auxzudecken
und deutlicb zu macnen : durcb die
Karrikierung des Patbetiksrs, des
Pbrasenkopf s , des gcsebwollenen
'Wirklicbkeitsfeindes, des berois^ben
Trottels.
„Husseisa bo, Hurrab bocb,
drauf und dran, treu bis in den
Tod, Hallali beh ..." — diese
Pallenberglaute klingen aus derVer-
teidigung Franz Nedars. Der Mann
war vermoge seines Pbrasenkopfes
dazu bestimmt, ein Statist in der
284
Armee des keroiscken Trottel-
turns zu werden: Seine M Sekn—
suckt nack dem trauten Helm"
kat eigentlick nack einem ikm gleick-
gearteten, nur mit dem gesckleckt-
llck andern V orzeicken versekenen
Gesckopf, oder wie er sagt, nack
einer ,.ekrenfesten Jungfrau" ver-
langt; ein Zufall kringt ikm ein
lekendes AA/esen, ein ^Wiener Madel
in die Arme — die Katastrophe
ist da. Der heroische Trottel ke~
nlmmt sick lm Kleinen, wie er
sicn lm GroKen kenommen kat:
er ricktet ein Blutoad an.
Karl Tsckuppik.
UNHEILBARES DEUTSCHLAND !
\Vilkelm Hokenzollern, einst-
mals Deutscker Kaiser, empfing am
27. Januar uker 8000 Telegramme
und an die 19000 Postsendungen.
FILMFRAGEN
DIE VERSCHWORUNG ZU GENUA
Dieser Film bringt die Fiesco-Tragodie,
Scbwierig, die Intriguen, Verscbworungen
und Verratereien in Bildern zu faseen —
obne viel langwierige Zwiscbentexte. Doch
es ist d«n syrapatiscb-anonymen Verfasser
leidlich gelungen. AucK der Versucbung*
Zitate anzubringen ist der kluge Bearbeiter
entgangen. Nicht einmal: ,.Der Mohr hat
seine Scnuldigkeit getan'* wird anf die
Leinwand geworfen. Das Fiescoproblem kann
freilicb deutscbes Herzen nur schwer nahe
gebracbt werden. Die Burger von Genua
macben Revolution, weil ibre Verfassung
verletzt wird ! ! Wir braucben noch
200 Jabre republikanische Erzichung, um
diese Tragodie deutscben Stammtiscb-
politikern nabe zu bringen, nein, tct-
etandlicb .zu macben.
Fur den Film ist wichtiger, dafi die
Verscbworung in Genua gescbab. Paul
L e n i bat ein sebr scbbnes, teils wink-
liges, teils wcitraumigee Genua aufgebaut.
Er bat ' mit scbweren Seidenstoffen,
mit festen Arcbitekturen nicbt gespart.
Es sind ibm wundervolle Beleucbtungen
gelungen. Sein Talent, Massen zu be-
wegen, aetzt ibn an Lubitscbs Seite. Sebr
gescbickt bandbabt er die Idylle nacb dem
grotfen Rummel, Da wird eine (im letzten
Augenblick verbinderte) Hinricbtung ge-
zeigt. Tausende umlagern den Galgen.
Der S trick baumelt scbon vom Gerust.
Gassenjungen klettern in die Hohe. Fiesco
erscbeint, befreit den Mohren, die un-
endlicbe Scbar der Gaffer ziebt ab. Ein-
sam flteht , der Galgen da — nur eine
Krabe, die um ibr Abendmahl gekommen
ist, backt melancholisch auf die trocknen
Balk en. Das ist Einer von den Einf alien
Lenis. Wer vierzebn Tage vorber die
trostlose Armut des Zola - Zerscbneiders
Ludwig Wolff im selben Saal erduldet
bat, weii? die Anwesenheit eines einfalls-
reicben Regisseurs dankbar zu scbatzen.
Zum ersten Mai begriff icb, im Film.
Kortners grotfen Erfolg. Er gibt den
Genueser Prinzen mit einer teufliscben
Scbarmantbeit, scbneidet weniger damo-
niscbe Grimassen als sonst, der Regiaseur
bat seine feurige Komodiantennatur aufs
angenebmste geziigelt. Ein ideales Film-
gesicbt — mimiscbe Effekte verstarkend,
obne allzugreU zu -werden — zeigte
285
Maria Fein. Sehr zart, sehr ergreifend wahlt, um eben die* sagen zu konnen :
ein verwcintcs Antlitz der Erna Morena. .,Meine Eltern haben gealbert und da ist
Der Nachste von Allen aber ein bisher Ernst draus geworden."
ganz Unbekannter, Louis Brody, der den
Mohren mit einer fremdrassigen Geachaftig-
keit und zahnebleckenden Frohlichkeit
gab, dai? man anfanga meinte, hier miisse
IcK sal? einmal bei S. Fischer, als die
Anmeldedame hereinkatn und errotead
stammelnd meldete; ,,Herr Asch wartet
. T i • 1 • i drautfen." Fiscbcr antwortete ihr : ,. Sagen
ein JNeger angeworben sein, der mit der «... , . 1t . T «
-.,..„ „. . - u j Sie ihm bitte, er solle sich noch erne
Weile drauf setzen/
Instinktivitat von Kindern und Hunden
uberzeugt. Hier wird ein grotfes Film-
talent! Waren unsere Filmdramaturgen
dem Amte g.wachaen. ao mufiten S ie um ^^^ DE g LET ZTEN HEFTES :
diesen Darsteller herum zu dichten ver-
fluchen. Thomas Wehrlin : Der Prinzenbrief
— Rudolf von Deliua: Relativitat
Georg Brandes : Berliner Erinnerungen
NAMENSSCHERZE Stefan Grotfmann: Berliner Carnevel
Joachim Ringelnatz : Terrbarium
Der Regisseur des Hoftheaters in Alten- Wilhelm E. Barton : Parabel
burg Ernst Albert pflegte zu sagen (ich Wirtschaftlicb.es Tagebuch
glaube, er hat dieae Riesennamen nur ge- Aus dem Tagebuch.
Dieaem Heft liegt 1 Prospekt .des Erich R eifi- Verlag, Berlin W. 60 bei.
Redaktion des „Tage-Buch" : Berlin W 35, Potsdamer Stral?el23b, Tel.: Lutzow4931
Verantwortlich fiir den redaktionellen Teil : Stefan Groffmann, Gharlottenburg. Verlag :
Ernst Rowohlt Verlag, BerlinW 35. Potsdamer Stratfe 123 b. Druck: R. Abendroth, Riesa.
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Hamburg, Kowno, Riga, Wien.
286
DER ANBECICH
5. augerordentliches
Orchester - Kongert
Donnerstag / den 17. Mar? 1921 / j&Vb Clhr abends
in der Philharmotiie mit dem
Philharmonischeti Orchester
DIRIGENT:
ARTHQR LOEWENSTEIN
PROGRAMM:
1. JAMES SIMON ....... Qriuorte
fur gr. Orchester, Chor, Sopran- urid Baritonsolo
URAUFF&HR UNG
Sopran: VERA SCHWAR^
Bariton: WILHELM QCITTMANN
2. HENRIETTE VAN LENNEP
3 Orchesterstucke
ERST A UFFOHR UNG
5. PANTSCHO WLADIQEROFF Kkiricr-
ura uffuhr ung kon^ert
Klauier: LEONID KREQT^ER
4. VTTESLAV NOVAK . . .' Die Totenbraut
fur gr. Orchester, Chor, Sopran- und Baritonsolo
ERST A UFFtfHR UNG
Sopran: VERA SCHWAR^
Bariton: WILHELM QCITTMANN
EIN BEKENNTNIS
DEUTSCHER SCHULD
BEITRAGEZURDEUTSCHENKRIEGSFUHRUNG
Herausgeg. von Walter Oehme Mit einem Vorwort von H. v. G erlach
Preis Mk. 4,—
Eine Anklagescbrift ? Obwohl es die erste -ware. die in Deutscbland auf diesem Ge-
biete erscticne, obwobl wir uberzeugt efnd, dafi aucb diese Anklagescbrilt dringend
not tate, um dem nocb immer blinden deutscben Volke die Augen zu offnen, mussen
wir auf diese Frage mit .einem klaren und deutlicben „Nein" antworten. Wir klagen
niemand an, und niemand wird angeklagt, sondern wir bekennen und glauben, daB
dies Bekenntnis dazu beitragen wird. dem Volk im Aualand wieder Anseben und
Geltung zu veracbarren,
DAS AUSWARTIGE AMT UND
SEINE REORGANISATION
von Kuno Tiemann, Legationasekretar
Preis Mk. 2,50
Deutschland bat zu scinein Leidwesen erfabren mussen, wie scblecbt sein diplomatiscber
Aufiendienst bei Ausbruch des Weltkrieges gewesen iet und wie sehr unaere Diplo-
maten in der entcbeidenden Stunde versagten. Bis jetzt bat sicb nocb nicbts gebessert
und so ist es zu begrufien, dafl endlicb ein Facbraann der Offentlicnieit Kenntnis
von den Zustanden im Auswirtigen Amte gibt und praktiscbe und sacblicbe Vorscblage
zur Reorganisation macbt.
DIE WAHRHEIT UBER DIE
EINKREISUNG DEUTSCHLANDS
Dem deutschen Volke dargelegt von Eduard Bernstein
Preis Mk. 4,-2
In dieser kleinen Schrift tmtermmmt es Eduard Bernstein, dem deutscben Volke dar-
zulegen. "wie es mit dem grofien Scblagwort von der Einkrersung Deutecblands betrogen
w or den ist Er wcist an Hand der gescbicbtlicben Tatsacben nacb, dafi einzig und
allein die verbangnisvolle Aufienpolitik. die ungebeuren Rustungen, die Ablebnung des
Scbiedsgericbts und der Abruetung auf den Haager Kongresscn Deutscbland isoliert bat.
Mancbem der beute nur gedankenlos auf die Republik schimpft, -wird dieses Bucb-
lein, da es auf die Grunde eingebt, zu denken geben.
SOZIALISIERUNG UND
WIEDERAUFBAU
PRAKTISCHE VORSCHLAGE ZUR
SOZIALISIERUNG und WIEDERAUFRICHTUNG
UNSERES WIRTSCHAFTSLEBENS
von Alfons Horten
Preis Mk. 7,50
Zu beziehen durch alle Bucnbandlungen und direkt vom
Verlag Neues Vaterland, E. Berger & Co., Berlin W 62,
Kurfurstenstratfe 125
Auefuhrliche Verzeicbnisse des Verlages kostenlos und portofrei
^ri t n c u i n i h n n i f 1 1 1 1 1 1 1 r i m i n 1 1 1 m 1 1 n m n j 1 1 n j u u i n j m n n h m 1 1 h n h r t j i j n m 1 1 u i h r i n 1 1 i j ■ i n f i h r i a m u r i u 1 1 j 1 1 m i n m n 1 1 1 m n n n n 1 1 r ? i n f n m n i u M n i rr^
Das Tage-Bucb / Heft 10 Ja hrg. 2 / BerKn, 12. Marz 1921
erwin steinitzer UNSER GEGENVORSCriLAG
RECHENEXEMPEL
Eln Londoner Borsenklatt sckriek, oline den erklarenden und er-
lauternden Kommentar Finanzsackverstandiger konne kein gewoknlicker
Sterklicker den Inkalt und die Tragweite des deutscken Zaklungsplans
eriassen. Auck in Deutsckland ist das Rechenexempel, das Herr Simons
im Lancaster House vortrug, den meisten Kopfen zunackst nickt ganz
aurgegangen und genau wie druken kielt man sick im ersten Augenklicke
an ein paar eindrucksvolle Ziffern — funfzig Milliarden, drei#ig
Milliarden, eine Goldmarkmilliarde jakrlick und so fort — von denen
una nacktraglick versickert wurde, dai? sie nickt Ergeknisse, sondern
klois Ansatze der Recknung und eigentlick nickt selir kedeutungsvoll
seien. Es ist nickt kesonders gesckickt, statt Ergeknissen Ansatze zu
kleten, und wenn man zukause durck die sckamkafte Verkullung der
wirklicken Jakresraten und der Endsumme „berukigen" wollte, was
sckliel?lick nickt so wicktig war, so kat man durck diese Metkode
druken die AVut gesteigert und das Token verstarkt und man kat den
Gewaltpolitikern aller Nationaktaten und Ricktungen — sowokl denen,
die die Erpressung um ikres Ertrages willen anstrcken, wie denen, die
mit ikrer Hilfe die deutscke Wirtsckaft ertraglos macken wollen —
das Spiel erleicktert. Als man die ^A^irkung einer allzu klugen odei
allzu karmlosen Taktik erkannte, begannen offiziose und private Sack-
verstandige eiligst die Annuitaten und ikre Endsumme kerauszureckner
und sie kamen am Ende zu reckt stattlicken, wenn auck leider nickt
ganz einkeitlicken Resultaten. Der Zaklungsplan von Paris war wirt-
sckaftlick gewii? waknwitzig; aker sein Aufkau kesaf? eine gewisse
iormale, matkematiscke Logik, die auck dem unkekolfensten Reckner —
und gerade ikm — einleucktete. Dieser Plan erweckte kei jedem
alliierten Zeitungsleser den erfreulicken Eindruck, dal? grotfe, festumrissne,
standig steigende Summen alljakrlick zur Entlasrung der Steuerzakler
in die Staatskassen der Ententelander flietfen wurden, und er liei? kewutft
und etwas ketrugerisck die Tatsacke im Dunkelu, dai? einen grotfen
Teil der Jakresraten die Besitzer der AkViedergutmackungsanleiken ein-
etreicken wurden, wenn der Ertrag dieser Anleiken langst verkrauckt
sei. Unfer Plan war vermutlick wirtsckaftlick sekr verstandig und er
war ukerdies sekr ekrlick. Er erzaklte dem Ententepuklikum gar nickts
von den Zins- und Tilgungsannuitaten, die die Anleikeglaukiger
2?9
bekommen sollten, sondern nannte einfack die Kapitalsumme, mit der
Deutsckland sick loskaufen wollte. Diese Summe war tatsacklick nur
«twa um die zwanzig MiUiarden der „Vorleistungen" kleiner als die,
die sick aus der Pariser Rechnung ergak. Aker die Alliierten kabea
die Kapitalsumme nur keilaufig, im Nekensatze erwaknt: in den Mittel-
punkt stellten sie die dekorativen Annuitaten. Bei una stand die Summe
von dreilSg MiUiarden sckmucklos und nucktern im Hauptsatze ; und
nur ganz nekenkei deuteten wir an, dai? wir sie, da wir sie ja dock
nickt auf einmal kezaklen konnten, selkstverstandlick verzinsen und tilgen
wurden. Kaufmannisck ketracktet war es naturlick viel aufricktiger,
vom Kapital zu sprecken und nickt von den Zins- und Tllgungs-
annuitaten, die ja den Wert dieses Kapitals nickt erkoken, vielmekr
nur seine Deckung sickern. Es war ricktig gerecknet. Und es war
dennock falsck kalkuliert.
DER „BESSERUNGSSCHEIN".
Die Alliierten, die Franzosen inskesondere, wollten nickt klol?
Zinsen- und Til gungs deckung eines von vornkerein fest kestimmten
Kapitals. Sie wollten daaeben nock etnen Extratribut, der mit der
Zunakme der deutscken Leistungafakigkeit steigen sollte, eine Jfteteiligung"
an den Ertragnissen des wirtsckaftlicken Wiederaufstiegs Deutscklands.
Der Gedanke stekt mit dem Prinzip des Sckadenersatzes naturlick in
einigem Widersprucke. Man konnte ikn mit der Begrundung ableknen,
datf Deutsckland Sckaden zu verguten, nickt die Friickte muksam und
unter den sckwersten Bedingungen neu erarkeiteter Prosperitat mit
anderen zu teilen kabe. Man konnte aus realpolitiscken Erwagungen
keraus auf diesen Einwand verzickten und die Forderung grundsatzllck
annekmen. Aker dan a mu#te man auck an ikrem Sinn, an dem binn
einer Pramie, einer Extraketeiligung festkalten. Man durfte nickt er-
warten, daf? die anderen sick zufriedengeken wurden, wenn man erklarte:
In den ersten Jakren konnen wir das Kapital, das wir Euck sckulden,
nur verzinsen. Nackker mussen wir es auck tilgen. Die Tilgung ke-
deutet ein Mekr an jakrlicken Ausgaben. Dieses Mekr ist Eure Extra-
pramie, Euer Aateil an der Besserung unserer Wirtsckaftslage und
Leistungafakigkeit. Man konnte sagen: Durck Zins und Tilgung wird
unsere voraussicktlicke kunftige Zaklung*fabigkeit vollig ausgesckopft;
fur eine variable Soaderlehtung bleibt kein Rium. Soil eine solcke
Prosperitatspramie, fur deren Hoke dann ein anderes Krlterlum, ein
anderer Index als die roke Ausfukrziffer zu sucken ware, festgesetzt
werden, ao mussen wir, um nickt Ubermafiiges und wakrsckelnlick
Unmoglickes zu versprecken, die festea Zins- und Tilgungsraten und
damit auck die feste Kapitalsumme zunackst niedriger kalten. Ikr kakt
290
-die WaKl: entweder sofort Leistungen zu fixieren, die, soweit man da*
keute vorausseken kann, das ukerkaupt moglicke riockstmals erreicken,
oder unter diese Grenze kerakzugeken und einen Scklussel fur Zusatz-
leistungen aufzustellen. Zu ciner Hockstsumme latft sick nickts mekr
addieren.
WO 1ST DIE „KARTELLIERUNG UND KONTINGENTIERUNG" GEBLIEBEN?
Das Uberrasckendste an unseren Gegenvorscklagen war wokl das t
Feklen jener produktioaspolitiscken und industriepolitiscken Anregungen,
die nack den knappen, aker ketonten Hinweisen in Simons' suddeutscken
Reden jedermann erwartet katte.
Herr Simons katte ausgefukrt, dal? man mit rein finanzpolitiscken
Losungsversucken nickt zum Ziele kommen konne, weil die Wieder-
gutmackungsfrage ein Pro duktivi tats-, ein Sckaffens*, kein bloKes Zaklungs*-
problem sei. Mit Ziffern rickte man nickts aus, 'well der Akstand
zwiscken den Ziffern der kelden Parteien nickt zu ukerwlnden sei,
Unsere Zaklen wurden die anderen genau so alarmleren, wle die Zanlen
der anderen uns in Emporung versetzt kaken. Ein .Aus w eg lasse sick
nur fin den, wenn man von den Ziffern auf die lA/erte zuruckgeke, von
den Weeks ein und Sckeinen auf die Guter, ikre Erzeugung und ikre
Verwendung zur Bedarfsdeckung. Der Minister sprack von inter-
national er „K.artelllerung und Kontlngentierung und em grouer Plan
aktiver und produktiver Ko operation zwisckenstaatlicker und zwiscken-
volkswirtsckaftlicker Arkeitsteilung sckien sick kinter seinen Worten
vorzukereiten. "Wer die Moglickkeiten planmafiiger, internationaler
Arkeitsteilung seit langem erkannt katte und dauernd verkannt sak
«ckopfte sckucktern neue Hoffnung.
Aker nickts von all* dem, was in seinen Reden angedeutet war,
stand in dem Plane, den er am 1. Marz in London entwickelte. Selkst
die Teilnakme am Wiederaufkau Nordfrankreicks war kaum gestreift.
Von den frucktkaren Ideen industrieller Gemeinsckaftsarkeit keine Spur;
an ikrer S telle em ganz allgemeines Bekenntnls zu Handels- und Vcr-
kekrsfreikeit. Es -war ein rein finanzpolitiscner Plan, dessen A^Virkung
genau der Simons'scken Prognose entsprack.
Taktik? AiVird der Vertreter DeutJcklands, wenn alles koffnungs-
los verfakren sckemt, das rettende Projekt aus der Brusttascke zieken?
Man wagts nickt reckt zu glauken. Aker eke diese Zeilen die Presse
verlassen, w r erden wir es wissen.
291
X>R. RUDOLF KOMMER (LONDON) DIE KONFERENZ UBER
DIE OSTFRAGEN
Nacb mebrjabnger Pause ist die bistoriscbe Bildergalene des Palastes
von St. James wiedcr einmal der Scnauplatz euro pais en en Gescbebens.
Oder vielmebr der Scnauplatz mternationaler Debatten. Oder, bis jetzt
wenigstens, der Scbauplatz von Dialogen, die zwar die Einbeit des Ortes^
nicnt aber die der Zeit wabrten. Rede und Gegenrede wurden menr
oder weniger streng von einander gescbieden. Sobald die Turken erne
Erklarung abgegeben batten, verlieiJen sie den Saal. Krampfbait beraunt
man sicb nocb lmmer, Europa in zwei Menscbenklassen zu teilen. In
die, mit denen man spricbt und in die, die man bloK annort, was 1 linen
aucb erst seit nicnt 1 anger Zeit bescbieden ist. Die Fiktion von Ricbtern
und Angeklagten fristet nocb immer ibr unsittlicbes Dasein.
In der Bildergalerie von St. James bangen die Bilder aller engliscben
Konige. Also gewissermai?en eine gemalte Siegesallee. (Kunstlenscb soil
sie viel bober steben als ibr dreidimensionales Gegenspiel lm Tier gar ten)*
Unter den Augen der engliscben Konige versammeln sicb die Vertreter
Eur op as um einen monument alen Konferenztiscb. Die Tinteniasser stammea
aus der Zeit der Konigin Anna, die 52 Stuble sind im Stile irgend
eines der rranzosiscben Ludwige. Symbolbart baben diese Einzelbeiten
nicnts zu besagen; eber scbon die Gruppierung der ricbtenden Sieger aur
der einen, der verurteilten Besiegten aur der anaern Seite des Tiscbes.
Immerbin sind samtlicbe Delegationen Gaste der engliscben Regierung.
die in grotfzugigster Weise fur ibre Unterkunft gesorgt bat, mebt obne
dabei in taktvollster A^eise die lokalen Moglicbkeiten fur wunschens**
werte Begegnungen zu scbaffen. So sind die beiden emander beiebden-
Jen turkiscben Delegationen in einem und demselben Hotel untergebracbt.
Das Savoy Hotel wurde also zum zwanglosen Trerrpunkt zwiscben
Konstantinopel und Angora. Obne ibrer Wurde etwas zu vergeben
und obne Eclat konnten dadurcb die V ertreter des Mario nettenkabmetts
von Konstantinopel und der Nationalversammlung von Angora zusammen-
kommen. Ibre Einneitsrront gegen den V ertrag von Sevres war aucn
beim ersten Kontakt bergestellt. Man kann daraus erseben, wie gut
die Regie der Londoner Konrerenzen arbeitet. Aucb die Akteure selbst
sind weit besser als man glauben mo elite. Wean nur das europaiscbe
Publikum besser ware! Denn vorlaufig steben nocb alle Protagomsten
im Banne der Furcbt vor den faulen Eiern, die sie zu gewartigen batten,,
wollten sie statt eines romantiscben Melodramas ein reanstiscbes burger-*
licbes Scbauspiel agieren.
292
vJie sekr die Mok-Mentaktat nock in Ersckeinung tntt, zeigte
sick an der gekassigen Kritik, der die engKscke Regierung wegen ikrer
Gastfreundsckaft unterworfen wurde. Man fragte reckt anzuglick, ok
denn auck die engkscken Delegierten wakrend ikrer kontinentalen Kon-
xerenzreisen Gaste der ketreffenden Regierungen gewesen seien. Und
Jock sollte jeder Englander auf die valutariscke Grotfmut seines Aus-
wartigen Amtes stolz sein. Denn wurde man nackgerade der Lime dea
genngsten valutariscken Widerstandes folgen, so mui?ten alle europaiscken
Konferenzen in AA^ien oder AiVarsckau stattfinden. Immerkin, es klieben
<Le Einladungen kesteken und der Palast von St. James wird urn einige
Erinnerungen kereickert werden. Hatten die Delegierten Zeit, so konnten
«ie sick reckt kesckaulicken Betracktungen kingeoen. Endlos ist die Kette
aer Reminiszenzen. Aus dem Palaste von St. James mackte Karl I.
semen letzten Morgenspaziergang durck den Park nack ^A^kite Hall, wo
er kingericktet wurde. Vor kundert Jakren umjukelte London Blucker
vor dem Palaste von St. James, in dem ^ie damaligen Alliierten lkre
<iamaligen Konferenzen akkielten. Auck der Marsckall Vorwarts war
Gast der engkscken Regierung. Ein Londoner Blatt meint, diese Paralelle
muiite rlerrn von Simons nackdenklick stimmen. Sie konnte auck alle
anderen Delegierten nackdenklick stimmen.
Die Konferenz der Ostfragen ist nun fast voruker und die Ost-
-fragen sind nack wie vor unkeantwortet geklieken. Im kesten Falle,
wird das etnzige positive Ergeknis der Konferenz die Ernennung einer
neuen [alluerten Kommission zur Ukerprufung der Bevolkerungsstatistik
von Osttkrazien und Smyrna sein. Vorausgesetzt, dai? das konstantiniscke
Grieckenland und die amorpke anatokscke Turkei sick von vornkerein
verpflickten, die Entsckeidungen dieser Kommission anzuerkennen. Vor~
laufig steken nock die Ant wort en aus Atken und Angora aus. So 11 ten
sie akleknend ausxallen, so wird die Londoner Konferenz nickt einmal
aen allseits erseknten Waff en stills tand in Kleinasien zustande gekrackt
taken. Geken aker keide Regierungen auf den Vermittelungsvorscklag
ein, so ware damit der letzte der Friedensvertrage als erster zerrissen.
Kampflos gaken die Franzosen dag Dogma von der Unfeklkarkett und
Unantaatkarkeit der Friedensvertrage preis. Viel mekr als das. Sie und
die Italiener setzten, im Gegensatze zu Englandern und Griecken, alles
dran, um den Vertrag von Sevres umzustol?en. Es wird sick also das
293
nicbt umnter ess ante Scbauspiel abspielen, dais flerr Briand mi zweiten
Xeil der Londoner Konferenz das Prinzip der Unrevidierbarkeit der
Friedensvertrage verfecbten wird, das er lm ersten Telle der Konierenz
erfolgreicb bekampft bat.
Jedenfalls ist der Vorscblag einer neuerKcben Studien- und Ver*-
mittelungskommission als ein franzosiscb~itabeniflcb-turkiscber Erfolg zu
bucben. Die Statistik von Smyrna und TLrazien soil also uberpruft
werden. Man sollte meinen, dai? Berge an Statistik in Sevres vorge~
legen seien. Statt dessen scbeint die Statistik in emem lebendigen, direk-
ten Verbaltnis zur Kriegslage zu stenen. Es wird interessant sein zu
erfabren, wie sebr das Zablenverbaltnis von Griecben und Turken in
TLrazien von dem ZaLlenverkaltnis an der kleinasiatiscben Front
Deem flu i?t wird* Uberdies nat die Konierenz dem Obersten Rate aucb
empfoblen, angesicbts der jungsten Ereignisse, aucb die Entscbeidungen
uber Kurdestan und Armenien zu uberprufen. Die alten Argumente
balten also den neuen Tatsacben nicbt stand. Die neuen Tatsacben
sind aber ebensowenig klar und eindeutig wie die alten Argumente. Die
griecbiscben Delegierten versicberten namlicb auf das Entscbiedenste, ibre
kleinasiatiscben Armeen seien stark genug, das ibnen ubertragene Aktions~
programm von Sevres durcbzufubren. Die Turken bebaupteten ebenso
cntscbieden das GegenteiL Daraufbin erklarten die franzosiscben Militar-
sacbverstandigen die griecbiscben Streitkrafte fur di^rcbaus unzureicbeni
was die engliscben Sacbverstandigen entscblossen leugneten. Die Puppen-
spieler sind naturKcb nicbt minder uneinig als ibre Manonetten.
In diesem diplomatiscben Kampfe um den Waffenstill stand werden
die turkiscben Vertreter vielfacb bewundert Die beikle Frage der
Kompetenz der beiden eigentlicb f eindlicben Delegationen wurde 1m
Geiste der Traditionen des Goldenen Horns glucklicb gelost. Da Bekir
Samy Bey, der Sprecber fur Angora, (der nocb vor einigen Wocben
der Entente als geacbteter Brigant gait) naturgemal? Tewfik Pascba, den
Vertreter der von der Entente eingesetzten Regierung von Konstanti-
nopel, nicbt als den Wortfubrer des turkiscben Volkes anerkennen
wollte, da andererseits Tewfik Pascba beira besten Willen nicbt ab<-
dan ken konnte, weil sonst die Entente auf ein en anderen Sendling des
Scbattenkabinettes von Konstantinopel batte besteben mussen, da aber
scblieiZlicb zwiscben ibnen beiden in Wirklicbkeit keinerlei Memungs~
verscbiedenbeit vorKegt, so entscbloi? sicb Tewfik Pascba krank, bett-
lagerig |und transportunfabig zu werden und Bekir Samy Bey aucL
mit seiner Vertretung zu betrauen. So spielten sie mit verteilten
294
JvoJlen una nut einer Stimme. Der greise Tewfik Pa seta war der
kranke Mann, der KemaKst Bekir Samy Bey der Jungturke, mit dero
unmerkm gerecknet werden mull
Lekrreick -war die fast vollige Atwesenkeit Wilsoniscker, purita-
niscker oder altkberaler Scklagworte in der offentlicken Meinung*.
Niemand sprickt mekr vom Selkstkestimmungsreckt, von kleinen Nationen.
von nation alen Grenzen. Nur kier und da wurde gegen die Turlcen*
das Ckristentum zu Gunsten der Armenier strapaziert. Das, was man
truker zu Reckt IdeaKsmus, zu Unreckt Heuckelei genannt katte, das
gikt es nickt mekr. Der Idealist Wilson kat den Idealismus getotet.
Man ketrugt nickt einmal sick selkst mekr. Man weitf nur zu genau,
dal? es nickt urn das Gluck der Griecken, Tiirken oder Armenier gekt,
sondern um den Besitz von Ol, Getreide, Wolle. Die Konferenz
atmet in einer erfreulick klaren Atmospkare von Selkstsuckt, Mack)
und Oknmackt.
Die Londoner Konferenz uker die Ostfragen kat also (kestenfallst
eine Kommission gekoren. Diese Kommission wird nun ikrerseits zu
gegekener Zeit wieder eine Konferenz gebaren. So gekt es ja seit dem
Waffenstillstand. Und durck solcke fortzeu^ende Inzuckt soil die rukige
Kontinuitat europaiscken Geeckekens gewakrleistet werden.
Johannes urzidil o>r a g) BENES - KRAMAR
Der latente Gegensatz zwiscken dem Leiter der tsckeckiscken Aui?en~
poKtik Dr. Benes und dem Fukrer der burgerlicken Nationalisten und
ekemaligen ersten Premier der Tsckeckoslowakei Dr. Kramar ist zur
offenen Fekde geworden. Es ist der naturlicke Gegensatz zwiscken dem
Realpolitiker und dem Ideologen, dem Staats- und dem Nation alpolitiker.
Die Konstanten dieses Gegensatzes sind die grundversckiedenen An-
eckauungen der keiden Herren uker RulZland, dessen Bedeutung fur den
Staat der Tsckecken eken ganz anders ist, als fur die tsckeckiscke
Nation. Denn, da im Falle der Tsckeckoslowakei die Begriffe Staat
und Nation mit einander nickt identisck sind, mussCn Benes und Kramar
so lange an einander vorkeireden, lis sie eingeseken kaken, dal? sie sick
nickt auf der gleicken Plattform kefinden und dal? ikre Auseinander-
setzungen notwendig unfrucktkar kleiken mussen.
Dr. Kramar operiert mit weitausgreifenden allslaviscken Gedanken-
gangen uker Jakrzeknte und Nationen kinweg, die Tsckecken selkst sind
295
ikm nur ein Werkzeug seiner kokeren Plane, deren Sckwerpunkt in
Rutland liegt, und man konnte ikn mit viel mekr Reckt einen russiscken
als einen tsckeckiscken Politiker nennen, denn in kukner Konzeption
sckreikt er keute sckon dem kunftigen Ruffland seine alleinseligmackende
Politik vor. Es fallt ikm leickt, in tkeoria groi?e politiscke Transaktionen
vorzunekmen, eingewurzelte etknograpkiscke urid wirtsckaitkcke Verkalt-
nisse in Gedanken kin und kerzusckieken. Seine Politik kat einen Stil,
der, Dank ikrer tkeoretiscken Natur, ekenso funkelnd und ekenma&g
ist wie ein Eiskristall, sick aker dakei auck ekenso kalt aniuklt.
Diese Saukerkeit und UbersicktKckkeit des Stiles feklt Dr. Benes,
muJ? ikm feklen, weil er mit den Widerstanden des Tages und den
naturlicken Gegekenkeiten zu recknen kat, weil er genotigt ist, die Politik
des tsckeckosldwakiscken Staates zu ketreiken, eines Staates, dessen Ur-
eacken zwar tief liegen, dessen keutige Ersckeinung aker ikren AnlaK der
grotfen weltpoKtiscken Konjunktur entnakm, eines Staates also, dessen
Lenker von dem Sinken und Steigen dieser Konjunktur akkangig sind
und daker ikre Entsckeidungen von Fall zu FalL, nickt uker Gesckleckter
kinweg, treifen musseiu
Wenn die grol?e Linie, in deren Ricktung sick ein Staat entwickelt,
allein von dem Willen seiner Represent ante n akkinge, so katte Dr. Kramar
reckt, Dr. Benes einen Mangel an Glauken an die slaviscke Idee vor-
zuwerfen, denn Dr. Kramar ist ein Fanatiker dieses Glaukens, der, wie
jeder Glauke, die Umordnung der Reaktaten in seinem Sinne rur erne
selkstverstandlicke Folge seiner Magie kalt. Demgegenuber kann man
Dr. Benes als skeptiscken PoKtiker kezeicknen, dem der Sperling in der
Hand lieker ist als die Tauke auf dem Dacke, und es ist eine Frage,
welcke Art dem Ideal, eines Staatsmannes, dem man, bewakre, niemals
mit allzu etkiscken Mafistaben zu Leibe geken soil, in kokerem Grade
entsprickt. Denn Kramar dicktet sick seine Politik zureckt, ist also im
'Wesentlicken ein Dickter; Benes ist Politiker, erne viel undank-
karere und riskante Aufgake, denn die Fekler, die jener, auf Kotkurnen
sckreitend, mit grotfem Rkytkmus verkiillen kann, sind kei diesem augen-
falKge Gekrecken und racken sick unverzuglick. Die Strafe fur die ver-
sckiedenen Mangel seiner politiscken Konstruktionen wurde Kramar ntckt
mekr ar^ eigenen Leibe erleben.
Kramars romantiscker Gedanke einer bewaffneten tsckeckiscken Inter-
vention in Rutland verfolgte gleickzeitig drei Ziele: Zunackst: die Dank-
karkeit eine3 spateren demokratiscken Ruffland und dessen dauernden
politiscken Ruckkalt fur die Tsckecken zu gewinnen. Sodann: Polen
296
den Rang bei der Entente abzulaufen und dadurcb neben anderen Kon-
zessionen das Tescbener Koblenbecken dem Tscbecbenstaate unversebrt
zu erbalten. Endlicn: Die Gemiiter des Volkes von der antibolscbe-
wikiscben ^[Velle mitreitfen zu lassen und auf diese 'Weise Aen Keim zu
sozialen Umsturzen im eigenen Lande zu ersticken.
Dr. Kramar kennt Rvu?land, ist in Rutland begutert, aber seine
Kombinationen zieben stets das Rutland vor der Sowjetrevolution in
Recbnung. Aucb ein Zusammenbrucb der Sowjets, wie ibn Dr. Kramar
erbofft, wurde k ein en Scbritt zuriick, sondern nur eine weitere Ent-
wickelungspbase bedeuten. Er fublt im Allgemeinen ricbtig, da/? der
tscbecbische Staat, wenn er weiterbin im Gegensatz zu alien seinen Nacb*-
barn und seinen Mmderbeitsnationen bleiben soil, — und dies scbeint
Kramar eine conditio sine qua non fur die Existenz des Moldaustaats
zu sein — nicbt an die momentane Konstellation im Westen, sondern
an ein starkes Rutland gebunden sein muf?, das vor allem mit Deutscb-
land mcbts zu scbaffen baben darf. Obne den Gedanken des seiner An~
sicbt nacb naturnotwendigen Kampfes der Slaven mit den Germanen
kommt Kramar nicbt aus und eine etwaige Annaberung Ru#lands an
Deutscbland -wurde semen ganzen Pramissenbau umsturzen.
Dal? ein starkes Rutland ein macbtiges Polen (und umgekebrt) nicbt
neben sicb vertragt, ist klar. Im Hinblick auf Rutland konnen also
Polen und die Tscbecboslowakei nicbt zusammengeben. Und gerade fur
diese beiden Staaten bedeutet die Losung der Ostfrage den definitiven
Ricbtersprucb uber den Grad ibres selbstandigen Daseins. Einer von
lbnen mui? die Zecbe bezablen und es bestebt kein Zweifel daruber, dai?
Polen, eingeklemmt zwiscben Deutscbland und Rutland, in einer weit
weniger gunstigen Lage ist. Mit diesen Tatsacben recbnet allerdings aucb
Minister Benes und alle Friedensscbalmeien, die er von Zeit- zu Zeit uber
die polmscbe Grenze binuber ertonen latft, andern nicbts an der ebernen
Gegebenbeit, dal? die Zwecke Polens und der Tscbecboslowakei, was
Rutland anbelangt, einander zuwiderlaufen. Denn scbon der Gedanke
emer freien Ukraine, die eine der wirtscbaftlicben Notwendigkeiten des
Tscbecbenstaates ' ist, mul?te diesen Polen entfremden. Die allslaviscbe
Politik Dr. KramaVs kann also binsicbtlicb Polens nicbt mebr konsequent
bleiben und dies scbeint angesicbts der numeriscben Starke dieses slaviscben
Staates ein starker Einwand gegen sie zu sein.
Aber aucb der Standpunkt des Industriellen und Grofigrundbesitzers
Dr. Kramar gegenuber der sozialen Frage ist viel zu einseitig, um ibr
tatsacblicb in irgend einem Sinne, wenn aucb als Gegner, gerecbt werden
297
zu konnen. Er kewegt flick da merkwurdigerweifle auf derselben Linie
wie Ludendorff, trotzdem er den Bolsckewismus als ein spezifisck deut-
aches ProJukt und nickt als russiscke Nationalersckeinung ansiekt. Der
Fall liegt ungewoknlick sckwer: Dr. Kramar mockte ein Rutland, das
nickt (oder nur in seinem Gekirn) existiert, von den Bolsckewiki kerreien,
von denen das RulflancL, das existiert, sick anackeinend selbst nickt ke~
freien wilL, denn es ist dock kaum anzunekmen, dal? ein Volk auf die
Dauer eine Regierung ertragt, Axe ikm nickt gemai? ist. Ist sie ikm aker
genial?, dann reickt Dr. Kramars Ansckauung, der Bolsckewismus sei ein
Werk des deutscken Generalstabs, selbst im Falle, datf sie zutrafe, wokl
kaum aus, urn eine miKtariscke Intervention zu kegrunden.
Man kann Dr. Kramar eine gewisse Intuition nickt aksprecken und
mull zugesteken, dal? ikr gegeniiber sick Benes* PoKtik trocken, berecknend
und kaufmannisck ausnimmt. Vielleickt wird der Tag kommen, da der
tsckeckiscke Staat an Rutland eine Stutze kaben kann, okne dabei in
Gegensatz zu seinen deutscken Nackbarn zu geraten. In Anbetrackt der
innerpolitiscken Situation der Tscbeckoslowakei ware dieser Tag -wokl
kerbeizuseknen. Und man darf annekmen, dai? Dr. Benes zu derartigen
Komkinationen sick den Weg weise frei kilt. Denn das Marcken von
dem natiirlicken Gegensatz zwiscken Germanen und Slaven ist ein
kunstlickes Mackwerk. Selbst Masaryk kat sckon vor Jakren betont,
dai? franzosisckes Wesen sick viel sckleckter fur die Tsckecken sckicke
als deutsckes, und es wird wokl aul?er Dr. Kramar und den Semen
kaum jemanden geben, der Masaryk ubertriebener Germanopkilie bezick-
tigen wurde. Dr. Benes, der ganz in Masaryks Allgemeinvorstellungen
lebt, ketreibt als Gegner einer Intervention in Sowjetruf?land die Pohtik
von keute, die einzig und allein darin besteken kann, der Tscheckoslowakei
moglickst viele Moglickkeiten offen zu lassen — und damit auck eine
PoKtik von morgen; Dr. Kramar ertraumt die Politik ernes zweifelkaften
Ubermorgen, die, nacb Versckuttung aller ubrigen Moglickkeiten, dem
tsckeckiscken NationaKtatenstaate nur einen einzigen sckmalen und un~
sickeren ^iVeg frei lassen wurde.
EWIGER RAT
Fiir OesterreicK bleibt'a bei der Regel, der alten,
Rctonvaleazenten sollen sich ruhig verhalten. -
Grillparzer 1853.
298
MAX DAUTHENDEY TAGEBUCHBLATT
Max DautHendey, der im letzten Kriegsjabr auf Java an Heimwek
nacb Deutscnlaud gestorben ist, hat wabrend der vier Jabre, die er im
Zwangsaufentbalt verbracbt bat, Tagebiicber gefiibrt. Diesc 28 Bande
flind ein einziger Sebnsucbtsrut nacb Deutscbland. Icb verdanke seiner
Frau Annie Dautbendey dieses eine Blatt, das am 3. Februar 1918
tfescbrieben wurde. Man mufite seine klaren politiscben Ubertragungen
jedem deutscben Parteifanatiker in die Seele bammern.
Sonntag, 3. Februar 1918. To sari. (Vormittag)'
Nun ist sckon der Anfang vom 2. Monat des Jakres 1918 und
nock ist keine Aknung in der Luft, wann ick zu Annie oder zu meiner
Spracke, meinem Deutsckland, meinem Europa keimkomme. Armes Ick!
Es wird oft ganz fremd um mick, wenn ick geradeaus starre. Ick weii?
nickt mekr -wo meine Augen sind. Denn meine Gedanken seken immer
das Zukause und meine Augen seken kier fast nickts mekr, denn alles
ist dem Herzen gleickgultig kier. Das Herz siekt sick nack nickts um,
die Augen starren und seken in eine endlose Leere. Es ist, als mul?te
ick von dieser emformigen Leere eine Herzsckwache kekommen und
mitten in einem gleickgultigen Gesprack oknmacktig umsinken. Denn
mein en Leik regt kier nickts mekr an. Er ist alles kier so iiberdrussig.
Er wakrt nur den Sckein und tut, als oo er nock kei der Umgebung
lekt, sprickt, plaudert, lackelt und sckaut und seufzt, aber eigentlick ist
er uker das alles weit kinaus. Mein Leib lekt innerKck gefuklvoll weit
fort von kier, autferlick ist aker sein Leben wie eine Masckine, die aus
Gewoknkeit den Tag ableiert, aus Gewoknkeit und aus Nackkall eines
gewesenen Korperlekens. Klanglos ist jede Stunde. Sanglos ist jeder
Tag. Leer wie der Tag sind nackts die Traume. Es ist nur Sckall,
nur Sckall nur Gerausck und leere Bewegung des Alltags um mick.
Alles Feuer ist in der langen Seknsuckt verkrocken und kleiner und
«ckwacker geworden. Ick glauke, so darf es wirklick nickt lange weiter-
geken. Ick kaucke sonst in einer stillen Stunde mein Heimwek aus und
lm tot. — Es ist wie eine innere Auszehrung der Seelenkrafte, ein
grotfer Herzkunger, an dem ick endKck verkungern werde, wenn es nickt
kald Fneden gikt und Heimreisekoff nung ! — Seit einer Wocke kringen
Aie Zeitungen nur Telegramme uber grotfe Streike, die ausgekrocken sein
flollen in Deutsckland, kauptsacklick in Berlin. Wokl kann ick dem
armen gequalten deutscken Volk gut nackfuklen, dai? es kriegsmude ist,
Knegsarkeit in den Munition sfabriken zu tun. Aker anderseits tut mir
auck der deutscke Generalstak leid, wenn er eernc grotfe Arbeit umsonst
299
getan nab en soil, okne Vorteil, und set en muf?, wie das Volk ungeduldig
una ermattet, mckt lm Stande ist, langer akzuwarten, urn die Fruckte
des Kneges, die allmaalicn reifen, pflucken zu konnen, Es ist eine
Zwiespaltung in mir, wie in einer Mutter, die zwiscken Vater und Sokn
stent. Ick versteke den Sokn, das Volk, das Lis zur Entkraftung ge*~
litten und gearkeitet kat. Ick versteke aber auck den Vater, der nut
kockster Anspannung gesorgt, gedackt, gearkeitet und gekampft kat.
AVenn der Sokn, der Sckwackere ist als der Vater und die Geduld
zuerst verkert, so kann man es ketrauern, aker nickt verdammen. Es>
ist dieselke Stimmung in Deutsckland, so wie sie in meinem Korper
kerrsckt zwiscken Geist und GefukL Der Geist ruft : k alte au s •
Das Gefukl ruft: ick kann nickt mekr. Es ist mir jetzt alles
gleick. Ick 'will nur Friede! Friede unter jeder Form. .,Friede
auck' mit dem Verlust der Ekre?" fragt der Geist. „Friede, Friede*
Friede" jammert kalb kesinnungslos das Gefukl, das fuklt, dai? ikm das
Leken entfliekt. So denke und fukle ick jeden Tag. So dackte ick.
den ganzen Januar, als von Revolution in Wien geredet wurde, und
jetzt von den Streiks in Deutsckland geredet wird, die auskracken, sagt
aaan, weil der Friede mit Rutland in Brest- Litowsk nickt zu Stande kanu
Dieses dichtete ich heute morgen :
Ack, Tag und Nackt der gleicke Drang
Nack deutscker Luft und deutsckem Klang.
Und immer klafft des Krieges Kluft,
Daruker kin das Heimwek ruft.
Vier Jakre quale ick mick kier,
Die Sonne kommt Tags kaum zu mir.
Es ist ein fremdes, wildes Lickt
Und auck kein Baum von Deutsckland sprickt.
Mem Leik lekt kingejagt und sckeu.
Der Geist ratios der Hcimat treu.
Gikt meinem Blut sckmerzlick Gewickt,
Und stets Geduld, Geduld er spricht.
Geduld, ein Strokalm ist dies Wort.
Dran klammern wir uns fort und fort.
\Venn Einen die Geduld jetzt Kef?. ;
Das Heimwek lhn in Stucke rifi
To sari, 28. Fekruar 1918 M. D.
300
romano guarnieri ITALIENS JUNGE KUNST
Dcr Deutsche Friedrich Markus Huebner hat in Verbindung mit dem
Hollander Dirk Coster, dem Belgier Paul Colin, dem Englander Douglas
Goldring, dem Italiener Romano Guarnieri ein Sammelbuch uber
,,Europas neue Kunst und Dichtung" Herausgegeben. Dcr deutschen
Ausgabe. die irc Ernst Rowohlt Verlag erscbeinen wird, entnehme icb dieae
Studie uber Italiens jiingste Kunstgeneration.
Der Futurismus besteht in Italien insofern, als man sich der
Cegenwart bewutfter geworden ist und die Notwendigkeit ent-
sprecbender Erneuerungen begreift, Nicbt eingedrungen und ver-
breitet aber ist jener Futurismus, der seine Kundgebung durcb die
Firma „ Marinetti & Co." nacb den vier Weltecken mittels
Cescbrei, Geld und Gewalt binaussendet. Immerbin wollen wir
nicbt aberkennen, welcbes die grotfen Verdienste Marinettis sind,
der selber das Urbild des Zukunftsmenscben (futurista) und Gonners
grotften Stils (arcimilionario) ist, und der gegeniiber dem traulicb-
weicblicben Dunstkreise eines biicberreicben Studierzimmers und
cines Museumsaales das Tbeater, die Sportarena, die Stratfe, das
Cafe, den Scblafwagen und das Flugzeug vorziebt. Marinetti stellte
sicb der Oeffentlicbkeit damit vor, datf er sicb fiir den literariscben
Internationalismus in seiner Zeitscbrift „Poesia" einsetzte, welcbe,
gescbmackvoll nacb Gestalt und Druck, Scbriftstellern aller Lander
<Gastfreundscbaft gewabrte, jedocb allzusehr in reiner Salonliteratur
macbte. Sie bracb in den Stadten und Theatern ganz Italiens Febden
vom Zaun und uberschwemmte das Land mit Versbiindeln und Mani-
fested von den zu sprecben nicbt no tig ist. da sie allbekannt sind,
sammelte um sicK eine Gruppe von Scbriftstellern, die ibrer Natur-
anlage nacb klaffend weit auseinanderlief en, und die den innewobnen-
den Gebalt ibrer Biicber meist scbon durcb die kiibnsten und derbsten
Titel verrieten, um derart dem Gescbmacke ibres Herrn und Meisters
zu geniigen. Dieser stellte all den neuen Ismem, die in Frankreich
€mander scbwindelerregend folgten, seinerseits einen neuen „Ismus M>
gegeniiber, und wider die Statik des Kubismus kam er oder besser ge-
jsagt, kamen seine Freunde nacbtraglicb mit dem Dynamismus au£
indem sie in alien Hauptstadten Europas ibre dynamiscben Gemalde
.zur Ausstellung bracbten. Unzweifelbaft liegt das grol?te Verdienst
Marinettis in seiner gonnerbaften Tatigkeit als moderner Verleger
und Impresario, wie man ibm denn aucb, sonderlicb was seine ersten
^Verke betrifft, eine gewisse literariscbe Bedeutung nicbt absprecben
kann. Er trug dazu bei, Italien aus seiner jabrbundertelangen Er~
starrung wacbzuscbiitteln und Italien einen neuen Antrieb und einen
:groi?eren Eifer fiir all die Ideen und Formen zu verleiben, die sicb
liier nocb im Embryonalzustande befanden oder sicb gerade erst
^entpuppen wollten.
Ferner mul? man es Marinetti danken, die zwei bocbbegabten
Kiinstler: Boccioni und Carra zwar nicbt entdeckt — dies ware un~
wicbtig — , wobl aber zu deren und anderer Maler Wiirdigung in der
301
weiteren Oeffentlichkeit machtig beigetragen zu haben, Boccioni ist
im Kriege auf dem Gipfel seiner Entwicklung gefallen. Carra befreite
sich bald von der Regellehre der futuristischen Scbule und entdeckte
seinerseits in der Kunst neue Wege. In der Literatur machte
Marinetti die Namen von Lucini, Buzzi, Palazzeschi, Folgore, Govoni
bekannt, deren Schopfungen wenigstens zum grotfen Teil der Be-
acbtung wert sind. Heute ist der Futurismus, Marke Marinetti, mehr
als erledigt; er schleppt sich nock atemkeuchend fort, indem er mil?-
lautend und plappernd an der A^ 7 ut eines keifenden und verstiegenen .
Natipnalismus, der ins Abgeschmackte ausartet. teilnimmt und urn
sich her lediglich eine Bande von hohnenden und kreischenden
griinen Burschen versammelt.
Typisch fur die Lage des Futurismus ist der Fall Govoni.
Obwohl dieser schon verschiedene Gedichtsausgaben zu Buche stehen
hatte , trat doch sein Name nicht uber die Kapellenmauern einer
kleinen Anhangerschaft Jiinaus, Da ^ancierte" ihn Marinetti. Govoni
mufie sich natiirlich ein futuristisches Gewand umwerfen, und sa
nannte er denn sein neues Versbuch „Poesie elettriche". Von eigent-
lichem Futurismus, wenigstens mit Marinettis Markenzeichen, fand
sich darin sehr wenig. Wo hi aber fand sich der ganze wahre Govoni
darin, der Naturdichter, dem ein ungemein personliches Empfindungs-
vermogen und eine autferordentliche personliche Ausdruckskraft zu
eigen sind, wodurch er sich bereits von Pascoli unterscheidet, dem
Dichter, dem er immerhin nach vleler Hinsicht am nachsten stent.
Unbezweifelt besitzt Italien in Corrado Govoni einen groi?en Dichter.
Er ist neu, urwiichsig, modern nach Form wie Inhalt und behandelt
den freien Vers als Meister; manchmal verliert er das Gleichgewicht„
wird ungestiim; zu anderen Zeiten erscheint er demjenigen eintonig,
der die Gemiitserregung nicht zu entdecken weii?, die den Dichter
ganz durchstromt, als Gemiitserregung aber nicht niedersinkt in
weiehe Empfindelei. Er ist ein Landschaftsmaler und Farbehfreund.
Gliihende S child erun gen bemachtigen sich, steigend und verfeinert*
unseres gestreichelten Empfindungsvermogens. Er ist uberstromend;
etwas vom Geiste des Barock lebt in ihm; bisweilen verwirrt er,
aber immerwieder fesselt uns mitNeuem dieser unvergangliche Dichter
des Friihlings, diese Bruderseele aller derer, die suchen, dieser Sanger,
der Bettler, der franziskanischen Armut, Sanger der hauslichen und
klosterlichen Heimlichkeiten, . aber auch der Sanger der Stadt und
der Grotfmetropole. ,Jo en Milano"; so lautet der Titel einer seiner
machtigsten Schopfungen: ein Meisterwerk! Es findet sich in dem
Gedichtbande: „rinaugurazione della Primavera" und ist auch in
einer fur den Schulgebrauch bestimmten Blumenlese aufgenommen
(Verlag Taddei, Ferrara). Govoni hat eine modern e Seele, die leidet,
friedlos ist und die ganze Zaubermacht der Grotfstadt empfindet, die
Anziehungskraft des nachtlichen Grotfstadtlebens und jenes un-
gestume krampfartige Treiben, das durch die Stadt hinstromt, das
unser Empfindungsvermogen durch die Bewegung, die Lichter, die
302
Farben prickelt als saf?en wir in einem Karussell der Sinne, das
uns mit semen aufgestellten Fallen und mit der Entbiillung des
menschlichen Elends zur Verzweiflung bringt. Govoni lalst uns das
Atemkeuchen und das Getose der AiVerkstatten, das Pfeifen der
Fabriksirenen gleich einer neuartigen Symphonie vernehmen und
dazu das durchdringende, ohrenzerreif?cnde Gekreisch derKaffeehaus-
kapellen. Er fuhrt uns hinaus aus dem Stadtinnern zur Bannmeile
(„oh, die bezaubernde Nacht in einem Vorstadtviertel") und ent~
schleiert uns all ihre Armseligkeit, die anzieht, riihrt und erschiittert.
Das fieberhafte Atemkeuchen, das krampfartige Gelarm, das liber-
flietfende Elend der Stadt findet seinen Widerhall im Dicbter, in
seiner Seele, seinen Sinnen, seinem Korper, dessen Gefatfe und Ein-
geweide er in ihrer trostlosen Nacktheit mit echmerzlicher AVissen-
schaftlichkeit durchsptirt. Der eiskalte Hauch des alles hinwegfiihren-
den, vernichtenden Todes durchdringt ihn, aber doch beriickt ihn das
Leben immer wieder an jedem Tagesaufgange, wo die riickkehrende
Sonne die „fluchende, singende Stadt neuerweckt".
Von vielem miiifoe ich noch sprechen: so von dem feinbesaiteten
und menscbenliebenden Diego Valerie, dem schlichten und auf-
ricbtigen, erregsamen und zartnervigen Marino Moretti und mui?te
die verwandtschaftliche Beziebung dieser und vieler anderer Dicbter
zu Guido Gozzano aufspuren, dem erlesenen und kostlichen Dicbter
der „Colloqui", und icb miifte aucb von jener jungsten Gruppe
sprecben, die sicb selber als „Crepuscolari" bezeicbnet und die,
Abkommlinge der Modernen in Frankreich, unser junges Scbrifttum
dadurcb bereicberten, da# sie eine ganze grofte Bewegung scbufen,
innerbalb deren der zukiinftige Kritiker, der ibren Urspriingen nach-
forscbt, zwar merkwiirdige seeliscbe und selbst krankbafte seeliscbe
Antriebskrafte festzustellen baben wird, die aber als Bewegung in
der unendlicben fesselnden Entwicklungsspanne einer Anbrucbszeit
von grdtfter gescbicbtlicher und sozialer Umwalzung in der Mensch-
beit ein wertvolles Zeugnis bleibt.
Aucb Scb rifts teller weiblichen Gescblecbtes sind in jiingster Zeit
zablreicb auf dem Plan erscbienen. Eine jede bezeigte jene Fabig-
keit der Zergliederungskunst, sowie jene Urwiichsigkeit und Ge~
staltungskraft in der Wortbebandlung, durcb die sicb ein fiiblbarer
kiinstlerischer Fortscbritt und eine Hebung der geistigen Mittel-
linie zu erkennen gibt, was mit einer freieren und bewul?teren Aus-
bildung der weiblichen Personlicbkeit auf dem Gebiet der sozialen
Anrecbte in Italien gepaart geht. Ich weise auf Ada Negri, die
zwar nicht zu den Jungsten gehort, sich aber immer wieder erneuert
in ihrem tiefen Scbmerzerleben, welches sie in ihren lyrischen Ge-
dichten mit immer ncuen Formen und Klangen ausdriickt; mit diesen
beweist sie ibr Feuer und ihre Kiihnheit und ibr tiefes Menschen-
gefiibl, wie sie dies denn besonders in ihrem zuletzt verofTentlicbten
Bucbe „Libro di Mara" tut, einem Gedichtbande, mit dem sie sicb
unmittelbar neben unsere besten und jungsten Dicbter stellt.
303
Erne wertvolle Prosaschriftstellerin, die freilich ihre seelischen
Erregungen in eine Prosa ganz lyrischen, marchenhaften Geprages
einschmilzt, ist Sibilla Aleramo, die Verfasserin von „Una donna**.
Es ist ein grautoniger Roman, aus dem als heif?e Flamme die Seele
der Schreiberin emporlodert, die sich nach Befreiung sehnt und zu
ihrer Erlosung aufklimmt. In dem Roman „Passaggio" verfcauscht
sie ihren grauen Stil mit einem leuchtenden Farbengeflinker, darin
der Uberschwang des Lebens aus Fiille und Reichtum sich in Ge-
lispel und Geseufz verwandelt.
Den Auslander, der sich eingehender mit dem neuen Schrifttum
Italiens beschaftigen will, verweise ich auf eine demn&chst bevor-
stehende Veroffentlichung, welche Papini und Pancrazi in die ^/ege
geleitet haben, und die herausgebracht wird von dem eifrigen Ver-
leger Valechi in Florenz, einem der aufmerksamsten und wagemutig-
sten Forderer unseres gegenwartigen Schriftstellergeschlechts. Es ist
eine Blumenlese unserer besten jiingeren Dichter mit biographischen
Anmerkungen, wie sie bei uns zulande fehlt, und die dabei dem Be-
diirfnisse, unsere modernen literarischen Leistungen nach Verdienst
auch im Auslande besser bekaxmtzumachen, zweifellos entgegenkommt.
Ich trachtete in dieser Ubersicht vor allem, von D ich tern und
Prosaschriftstellern einer abgekiirzten, lyrischen, impressionistischen
oder expressionistischen Gestaltungskunst zu sprechen, Suchen wir
abernicht, hinter der Dichtung und namentlich auch hinter derBild*
hauerei aller geschichtlichen Zeitabschnitte die geheime Bedeutung,
den Widerhall des Lebens selber, wie es rundum und in unserem
Geiste webt, zu erforschen? In der gegenwartigen Umwertung aller
gesellschaftlichen, sittlichen, schonheitsgesetzlichen Werte, wof iir legt
da die moderne Kunst Zeugnis ab, sie, die von neuer Empfindsamkeit
und Nervenverf einer ung so ganz durchtrankt und durchadert ist?
Fur Geistesstorung ? Moglich. Oder fiir eine a Neuromantismus,
der die Bahn fiir einen Neuklassizismus vorbereitet ? Auch moglich.
In jedem Falle aber bezeigt sie tief Menschliches.
Dies gilt gleichermatfen fiir den italienischen Roman und das
Theater. Der Roman hat an Beweglichkeit, an kurzerem, schnellerem
Atem gewonnen und nahert sich im Zuschnitt der Novelle. Lyrismus
und Gespott, in beidem bewegt er sich. Sind das Anzeichen einer
allgemeinen Unzufriedenheit und des Bediirfnisses nach seelischer
Veranderung, Steigerung ? — Der einen gesunden, gutherzigen Humor
besitzt, ist Alfredo Panzini. Auch auf Moretti und Tozzi ist zu
verweisen, fein ungezwungen, etwas bauerisch der erstere, Tozzi
mannlicher und herber, reinbliitiger toskanisch. Auch Rosso di San
Secondo ist anzufuhren, ein gehetzter, vielgequalter Geist, der, noch
sehr Jung, fiir eine fruchtbare Zwischenpause ausruhends Sfcille in den
langen Hiigelketten der Diinen vpn Noordwijk und Katwijk fand,
so dai? er seine poetische Ader zu einem einzigen frischsprudelnden
Quell der Seele in einem kostlichen kleinen Buche offnen konnte,
das den Titel „Elegie a Maryke" tragt. Aber seine durch den Mangel
304
an geistigem Gleicbgewicbt zwischen Nord und Siid Kin und her
geworfene Seele konnte bei einem zweiten Aufenthalt die frische
Brise des Nordmeeres nicbt mehr ausbalten; dicht bei denselben
Diinen befindet sicb das Irrenhaus von Oostgeest, das ihn peinigt,
ibn zerreitft und zur Flucbt hetzt, „La fuga" ist denn aucb der
Titel eines in Holland entworfenen Romans und ein Beweis dafiir,
wie er stets, so wie icb es oben sagte, lyriscbes Gefiihl und
Spotterei zusammenzuschmelzen weil?.
Bevor icb schlietfe, mui? icb nocb die Aufmerksamkeit auf eine
Gruppe von Scbriftstellern lenken, die, in einen engen Zirkel zu-
sammengescblossen, eine fast Ubertriebene aristokratiscbe Haltung
zur Schau tragen, und die als Leitorgan uber die Zeitscbrift „La
Ronda" verfiigen; dieselbe trafc vor nocb nicht einem Jabre ansTages-
licbt, verspricbt aber eine erfolgreicbe Zukunft und wird vermutlicb
die vielen anderen Zeitscbriften iiberflugeln, von denen es in jeder
italienischen Stadt wimmelt. Neben einigen Jiingeren begegnet man
alten Benannten (Ceccbi, Baldini, Cardarelli) als Mitarbeitern, und
sicberlicb zeigen alle auf den Blattern dieser Zeitscbrift, datf sie gut
zu scbreiben wissen. Jedocb tritt alien th alb en ein sebr reaktionarer
Geist, sicb absondernder Aristokratismus und die Gebarde des
Klassikertums bervor. Ankiindigung neuer Zeitentwicklung? Neues
Wegziel? Neue Losung des Zusammengebens? Oder nur ein Stell-
dichein fur die kritiscbe Wertbestimmung der neuen Kunstbervor-
bririgungen ?
Scbon erscballt es aufs neue; mit Croce, dem pbilosopbiscben
Kritiker und Schonbeitslehirer, oder gegen Croce! Fiir Pascoli oder
^sgen Pascoli! Im selben Grade verfeinert sicb dabei das kritiscbe
Urteilsvermogen. Steben wir vor einer Ubersteigerung desselben?
Mogiichenfalls. Alles Gute sat eben sein Ubles aus, aber trotz allem
erweitert sicb der Geist, das Empfindungsleben wird reicber, das
Werkzeug — Wort, Kunst — vollkommener. Auf dieser Stratfs
schreitet das junge Kiinstlergescblecbt Italiens.
OBDACHLOSE DICHTUNG
Berlin im Dunkel der Hoheit.,
In Munchen malzhopfige Rohett,
la Wten bacchantische Nacktheit,
In Dresden die Abgeschmacktheit,
Des Andern Kein Wo und kein Wie :
Wohin mit der Poesie.
Grillparzer.
305
HERBERT EULENBERG DIE KRONES
(1801-1830)
Es gikt Menscken, die sick in Tote verkeken konnen. Ick kannte
einen solcken: der kewakrte sick in seiner Bneftascke ein altes, au*
lrgendemem welken Buck kerausgesckmttenes Bild. Es -war vom vielen
Bet as ten una Betrackten sckon ganz zerkmttert una punktweise durck-
fficntig geworden. Das et elite die Krones als ,Jugend dar. Nack einer
Zeicknung von Sckwmd. Die geradesten langen Frauenkeme wurden
aaraux von einer weiKkasckmirenen kurzen, aker no en kinauigekenaen
naktlosen Hose umspannt, die an der Seite nur ein sckmaler Streiien als
Besatz zierte. Dickt unter Jen festen Knieen waren zwei rosenrote-
Strumpfkander gekunden. Die kleinen Fui?e krikkelten in kimmelklauen
winzigen Atlassckuken. Eine wei#e seidene ^/eete umscklang mit
siloernen Knopf en und Verscknurung ikren zarten Lilienkusen. Ein. rotes
Frackcnen Ling darukei. Und die Rose nickte von dem runden Reiter-
nut, den sie trug, in ikre sckwarzen kknkenden Augen kinein.
So lekte sie als Akkild der ,Jugend" aus Raimunds JBauer als
MilKonar" nock jakrzekntelang auck in der Erinnerung der ^^iener, die
sie geseken und gekort katten: „die unnackakmlicke Krones, die verkorperte.
Anmut und Naturwakrkeit", wie Grillpafzer sie nannte. Horen wir,
wie ein anderer Zeitgenosse von ikr sckwarmt: „Wenn die Krones
scklank, kukn und dakei dock zierlick uker die Bretter sckritt und ikre
tollen Possen sprack oder ikre wilden Bankellieder von sick gak, die man
von kemem weikkcken Munde verzeiken konnte als dem mrigen, da
sckwebten einem E. Tk. A. Hoffmanns Gestalten von pkantastiscken
Pnnzessmnen wie einer Bramkilla oder Blandina vor. Dakei tat sie alles,
was sie auf der Bukne triek, mit einer gewissen Selkstverulkung. Una
das war das Entzuckendste an dieser artigen Frau, die wie einc Elfe
wker die Bretter sckwarmte, dai? eie sick okne jede Eitelkeit gak. \A/ie
aie sick lackelnd urn sick selker drekte und den Leuten dakei ikre mckt
minder anmutige Ruckseite zeigte oder wie sie mit versckmitztem Augen—
zukneifen oder ein em Blaken lkrer Nustern, einem versteckten tiefen
Lack en in der Kehle sang:
Der kleine Liekesgott
Treikt mit uns alien Spott.
Kaum trifft er uns ins Herz,
So fkegt der kleine Sckelm davon.
Er fKegt davon. Er fKegt davon.
Das laft sick in der eigenreizigen verfukreriscken Sckalkkeit, wie es die
Krones mackte, dem Armen, der es nie geseken kat, gar mckt mit
Worten kesckreiken.
306
Die Selkstverspottung, die dem Spiel der Krones keigemisckt war»
kat als Zeicken von Sckwacke kei Frauen auck cine gewisse seekscke
Krankkaftigkeit der Krones zur Folge gekakt, die von Jen Franxosen als
nostalgie de la fange, als Heimwek nack Jem Kot bezeicknet wird. Die
Krones, der, wie man sick denken kann, die vornekmsten und reicksten
Manner nackliefen, lie!? sick namlick mit VorKeke mit roken oder ge~
walttatigen Kerlen ein. Mekr als einmal ukerrasckte sie Raimund kinter
der Bukne in einer nickt mitfzuverkennenden Stellung mit irgend einem
sckmutzigen Arkeiter oder wusten Fukrkneckt, von dem sie sick um-
armen kei?. Trat sie dann von ikm mit einem sanften Scklag oder Kniff
in ikren allerlieksten Allerwertesten, an ikr Stickwort ennnert, ins
Rampenkckt kinaus, so war das, was sie soeken erlekt katte, wie mit
Zauberkand von ikr akgestreift. Sie war wieder das Madcken aus der
Feenwelt, die mit einem losen Lackeln sofort die Fuklung zwiscken sick
und ikren Zuscbauern kerstellte.
Am berucktigsten wurde die Neigung der Krones, sick vergewaltigen
zu lassen, durck ikren Liekeskandel mit dem Raubmorder Severin von
Jaroszynsky. Dieser junge russiscke Edelmann, der in Wien einen Pro-
fessor Blank ermordet katte, durfte sick ^Vocken lang, kevor er fest-
genommen wurde, der Reize der Krones erfreuen. Die ^vVonne, sick
mit einem ncktigen Raukmorder akgeken zu konnen, kat die zu ikrer
Zeit beliebteste Sckauspielerin Wiens sogar dazu gezwungen, rucksickts—
los ikren ganzen Ruf aufs Spiel zu setzen. Um in den Armen eines
Morders zu Kegen, sckeute sie weder den Klaisck nock das Gerickt.
Denn scklieMick -wurde sie selket als Mittaterin des Mordes kesckuldigt
und eine Zeit lang sogar in Haft genommen. „Um solcker Freuden
teilkaftig zu werden, -wurde ick mick sofort -wieder mit jenem Menscken
einlassen*\ erklarte sie keck und rucksicktslos, wie sie war. Man liei?
sie. da sick lkre Unsckuld an der Mordtat erwies, sogleick -wieder frei.
Und sie trat, als ok mckts weiter gesckeken sei, alskald wieder im
Leopoldstadter Tkeater auf.
Indessen diesmal zeigte sick die Menge, die ikr kislang alles gestattet
katte, plotzkck gereizt und unnacksicktig. Man empfing sie als Geliekte
eines Raubmorders mit Joklen und Ziscken und setzte dies so lange fort,
bis sie von dem Sckauplatz versckwunden -war. Auck am andern Akend
ging der gleicke Larm wieder los. Sie wollte ein Bankelked singen, das
sie sick fur den Fall katte dickten lassen, und das kegann:
„Warum seids denn so fad wie die koke Zensur?
Ikr liebt ja dock sonst die Stimm der Natur."
Aber sie batte nock nickt angesetzt, da pfiff und keulte man sie nieder.
Es dauerte fast ein Jakr lang, eke die' Wiener Welt sie -wieder ankoren
mockte. Die Krones, die bis dabin von den Leu ten nur verbatscke'K
worden war und sick vielleickt zum Ausgleick gegen solcke Verzartelung
307
una V ergotterung der roken Kraft kingegeken katte, ukerwand diesen
Sturz in der Gunst lkrer Zukorer me mekr. Sie erkrankte, als man eie
endkck ungestort wieder auftreten Keu, vor Erregung, die in mr nack-
wirkte. Fur langere Zeit muute sie nun infolge lkrer Sckwacke cler
Bukne fern kleipen. Raimund der Gutige nakm sick lkrer an, inaem
er fur cue erkrankte Demoiselle Krones eine Beneftzvorstellung von
„o yip hide dem Seexraulein ansetzte, zu der er selkst die Emladung ans
Pukkkum ausricktete.
Sie kam me mekr reckt kock, die artne sckwacke Krones. Halt
genesen volllukrte sie nock auf ein paar Monate wieder zum Jukel ikrer
grol?en Gemeinde lkre sckelmiscken Luftsprunge auf der Bukne. Aker
der \Vinter darauf rii? sie aufs neue aufs Sieckenlager. In ikrer ver-
tragenen weitfseidenen Weste, in der sie als „Jugend" getanzt und ge-
sungen katte, rukte sie frostelnd in irgendeiner Dackkammer 'Wiens arm
und verlaesen und ward von der Sckwmdsuckt kezwungen. Keiner ikrer
Kollegen fand mekr den Weg zur „Tkereserl" kinauf. ' Die Neun-
undzwanzigjakrige kustete sick rasend scknell von der Erde weg. Und
ernes Morgens kam der Armenarzt und gleick kinter lkm der Toten-
graker. Der eine fa#te sie an ikrem Kopf und der andere packte sie
an den sckonen langen geraden Beinen, die einst alle Augen und Herzen
mit sick genssen katten. So kok man ste in den allereinfacksten nackten
Tannensarg, der kesorgt worden war. ,,Zum vWakringer Friedkof?"
iragte der Totengraker, indem er die Lade zunagelte.
„Ick weus nock nickt* , sagte der Armenarzt. .,Vielleickt kalt man
die Leicke auck in der Umversitatskknik fest. Zum Secieren fur die
Herren Stuaenten.'
Also versckwand die Krones aus der dreidimensionalen Ersckemungs-
welt. Nur in den Kopfen derer, die sick an ikrer Eigenart und ikrer
Kunst ergotzt katten, lekte sie nock in der Verklarung der Ennnerung
fort. Bauerle, der die Figur des ,,Stakerl ' ersonnen kat und die Krones
oft in seiner \Viener Tkeaterzeitung durckkeckelt katte, mackte em en
dicken funfoandigen Roman aus lkr. Und Haffner, der Possendickter
mit zwei „f , aker ein em Dalles, wie er sick gern vorst elite, sckriek sogar
em dreiaktiges melo dramatis ekes Genrestuck zu ikrem Rukme. Dann
nusckt die Krones wie ein kar mioses zucktiges Naturkind durck die
ekenso liekenswurdig wie anmutig zusammengestellten Gruppen gleick
einem Zitronenf alter, der uker die akgezirkelten Gekuscke in Sckonkrunn
f latter t. Und aknelte in Wakrkeit mekr jenen leickten fiekrigen Fliegen,
die sick, leickt angefault, gluckkck in ikrer Sckwacke von irgend emem
starkeren Tier fangen lassen. Nun ist die Krones nekst ikren keiden
Lekenskesckreikern versunken und vergessen. Es sei denn, datf sick einer
nock einmal in lkr Bild verliekt und den Severin von Jaroszinsky ke~
neidet, dem sie sick sckenkte, als nock ikr tolles Blut sie durckrann.
308
STEFAN GROSSMANN DER 3. MARZ 1921 IN BERLIN
Die ^A^eltgesckickte siekt in der Nake ganz anders aus als in der
Entrernung. Die gro&n Ereigmsse, am Tage, da sie geboren werden,
drangen sick mckt gleick in den Vordergrund. Erst der Forscker ent-
deckt sie nacktraglick im Gewukl der Gesckeknisse. Mem Grouvater
pflegte mir mit Vorlieke zu erzaklen, dal? er an Jem Marztage 1848
in Wien, an Jem der Kaiser Ferdinand verjagt wurde, em Baufest fur
em eken xertig gewordenes Holzgartenkaus akgekalten katte; weder er
nock einer seiner Gaste spurte einen rlauck der \Veltgesckickte. von
der inneren Stadt kis nack Dokkng kmaus reickte das Ecko der Ereig-
nisse mckt. Sie katten gewiis sekr gem em Glas v /em zu Ekren Rokert
Blums ge trunk en, erstens weil sie uberkaupt gern ein Glas \Vem zu
Ekren von Irgendjemand tranken, zweitens, weil sie den Rokert Blum
me gesenen, me gesprocken und also zur V erekrung kesonders dispomert
waren. Aber dal? der 13. Marz 1848 em kistonscker Tag gewesen,
das erfukren sie erst ketracktlick spater. . Am 13. Marz sak der
13. Marz wie ein ganz gewoknlicker Tag aus, vielleickt mit Ausnakme
eimger Gassen der inneren Stadt Wiens, wo es em en fur unsere keutigen
Begnfre kockst besckeidenen ^Auflauf* gak.
Und so sak der 3. marz 1921 in den Zeirungen kistonscker aus
als auf den Stral?en. Ick gmg am Akend durck die Strai?en Berlins,
um Gespracke zu horen, ick sab in einer Kneipe im Norden, ick kesuckte
eine Diele im Westen, ick fukr in der Stadtkakn und in der Elektriscken,
ick ging durck die Verlassenkeit der lA^ilkelmstrafie und am Sckone~
berger Ufer, an den Fenstern des Reickswekr minis teriums vorkei. Die
Stadt war still. In den \Virtskausern, die ja seit der Biernot nock
mckt wieder erwackt sind, gab es fast keinen Wortwecksel und nickt
einmal die Zeitungskandler mackten viel Gerausck. Ricktig: In der alten
Jakokstratfe, wo ick einkekrte, korte ick ein mit unterdruckter Erregung
gefukrtes Gesprack.
Em Drosckkenkutscker sagte : „So *ne Bande. Einlack Rauker P
Zweiter Drosckkenkutscker: „Ack, das sind feine Leute' Nekmen
den Leuten das letzte Geld; das letzte Stuck Gold ab und tun dabei
nock sekr korlick, wie wenn sie zivilisierte Menscken waren P
Ein junger Arbeiter mengte sick in das Gesprack: „Gesckiekt uns
sckon reckt. AA^enn wir uns alles gefallen lassen! Das Alles katte
mckt passieren konnen, wenn die Leute bewaffnet gewesen waren. Aber
das sind jetzt nur die Spitz bub en,
309
Ich muHte bei dem Ingnmm, mit dem die Lcute redeten, glauben,
*ie spracben von der Londoner Konferenz. Aber als der Droscbken-
kutscber sagte : „Den Em en, den mit der Hornbrille, soil ten sie wenigstens
erwiscbenT da erkannte icb, dai? nicbt von Lloyd George, der zwar
bei der Arbeit aucb bebrillt ist, sondern von den Raubern die Rede
-war, , die vor einigen Tagen das Verbindungsauto auf der Landstratfe
bei Strautfberg ub erf alien katten. Das Volk braucbt Bilder. So lange
die wirklicben Rauber mit Pistolen ausgestattet sind, nacbts Autos an-
bait en, aus dem Dunkel bervorspringen und im. Dunkel wieder ver-
scnwinden, werden sie sicb der Fantasie der Deutscben viel leicbter
einpragen als gutgekleidete, distinguierte Diplomaten, Ale Noten empfangen
xmd uberreicben. Der Konferenzsaal in London sagt der romantiscben
Fantasie der Deutscben weniger zu als die menscbenleere Strai?e bei
-Straubberg, und die Passagiere im Auto, die sicb plotzlicb als V erbundete
der uberrallenden Rauber entpuppen, regen naive Leute viel mebr auf
als Delegierte, die sicb den Ausfubrungen von Lloyd George nur voll
und ganz anscblieuen konnen. JJesbalb war am 3. Marz in BerKn im
V oik vom rauberiscben Uberfall bei Strautfberg viel mebr Ale Rede als
von der feinen, millionenmal ergibigeren Angelegenbeit in London/
Der einzige Ort, an dem icb am Abend Aes 3. Marz politiscbe
Diskussionen borte. war die Konigin Augustastratfe am Landwebrkanal.
Dort liegt das ebemalige Reicbsmarmeamt, das jetzt aucb das Reicbs-
-webrministerium beberbergt. Das Ufer ist miserabel beleucbtet. Hier
jpflegen Dienstmadcben, wenn eie plotzlicb jedes Interesse an der V er-
mebrung des deutscben Volkes verKeren, den Sprung ins Wasser vorzu-
nebmen. Es gibt bier eine Ecke, die eine Dienstmadcbentradition be—
xieutet. Im so und eo vielten Monat pflegt sicb das arme, vom Vater
verlassene Madcben auf diese Briicke zu flucbten. Die stadtiscben Be—
norden wissen das. rlier ist em Kabn am Uier, bier werden allwocbent-
licn einige beinabe Ertrinkende berausgefiscbt. Aber nur bei bellicbtem
X age. Bei Emtritt der Dammerung bort die Humamtat auf, offenbar
weil es dann an Zuscbauern man gelt. Madcben, die nacb acbt Ubr
abends in den Landwebrkanal geben, eetzen sicb wirklicber Lebensgefabr
aus und flielten stromabwarts wie die Leicbe der Rosa Luxemburg
die aucb in dieser Gegend, aucb erst in der Abendstunde, dem scbwarzen
\Vasser anvertraut wurde. Icb finde, das Reicbswebrministenum paf?t
jetzt in diese Selbstmordergegend. Am 3. Marz war der groue Be-,
ratungssaal in der Mitte des macbtigen steinernen Baus bell erleucbtet.
Ein nesiger Glasluster, aus vergangenen Zeiten des Woblstandes glanzte
310
Aini glitzerte mit vielen Licktern durck die sckmalen, langen Fenster
kinaus in die traurige GegenA So aknlick sak ei in den ersten August-
tagen 1914 in der Nake der grotfen Staatsgebaude aus. Erleucktete — =-
act, im Grunde viel zu wenig erleucktete! — Ministerien und drautfen
am Dunkel das karrende Volk. Heute karrte Niemand. Die Sckritte
von Passanten kalten uter das Master. Wenn sic die leucktende
Krone im gro#en Saal saken, kkeken sie steken. Funf, *ecks Leute
starrten kinauf. „Ack", sagte einer xnit sckwackem Seufzer, „alles Un~
einn, wir kaken keine Waffen*". Diesmal waren nickt daa Raukgesindel
von Strauskerg gemeint. Und die Leute gtngen weiter. Urn zekn Ukr
wurde es dunkel im Reickswekrminiaterium. Da lag es, ein leerer
IColoR unkeacktet am Selkstmorderufer.
Um kalt elf Ukr trat ick durck eine samtene Portiere in eine
Diele aul dem Kurrurstendamm. Neken mir saKen zwei kockst elegante
Damen mit einem glattrasierten Gent.
Die jungere klonde Dame sog an ikrem Strokkalm und aagte
dann: „Man kat mir gesagt, ick solle morgen anfragen. Dann werden
die Herren von der Ententekommission sick entsckieden kaken," Da»
Masse magere Gesicktcken der jungen Dame katte einen traurigen
Ausdruck.
„"Wie argerlick" murrte Aie zweite, sckwarze, woklkeleibte Dame;
,,die sea Warten, diese Ungewitfkeit!"
Herrgott, dackt ick, sollten wir alle den Dielendamen Unreckt
tun? Sitzen sie kei ikren Skerry Cokklers und karren auf erlosende
Nackrickt aus London? Ja, sie karren und warum aie karren, das er~
Idarte der faskionakle glattrasierte Herr, als.er das ^Vort nakm:
„Kinder * sagte er mit Woklwollen, „argert Euck nickt. Ikr werdet
nickt umsonst warten. Wie die Londoner Verkandlungen steken, konnen
^ick die He rren der Entente nur g e g e n den Besuck entsckeiden.
Kommen aker die Karten zuruck, so sind sie uns gesickert, und |da»
Kunstgewerkefest wird nickt akgesagt werden, darauf konnt Ikr Euck
-verlassenP
Da gutt ein Leuckten uber die Gesickter der Damen. Die Londoner
JConferenz eroffnete dock einige Hoffnungen.
311
DAS JENSEITS DER KRITIK
Vor em paar Tagen ist "Walter Ha sen -
clevers „Jenseits" in den Berliner Karomer-
spielen zum ersten Mai gegeben w or den.
Eines der wcnigen Werke lebender Dichter,
daa zu den Ohren Berliner Horer kam.
Die meieten jungen Dichter verzicnten langst
darauf, zu Berliner Zuschauern zu dringen.
"Wilhelm Schmidtbonn, Friedrich Wolf,
Carl Sternheim, Herbert Eulenberg, Fritz
von Unruh, Hermann Kasser, Max Brod,
Wilbelm von Scbolz baben ibre neuen
Arbeiten nicbt mebr ,.auf den Hazard*
tisch" eines Berliner Theaters gelegt. Hier
fehlt es an Aufnabmefahigkeit der Buhnen-
leiter, der Schauspieler,des Publikums und der
Kritik, Das deutscbe Drama -wird sick
obne die Berliner Biihnen weiterhelfen.
Der Leser vergleiche die folgende Gegen-
uberstellung uber die Aufnahme von Hasen-
clevers „Jenseits" bei dem Berliner und
bei den auswartigen Bericbterstattern der-
selben Zeitungen :
Die Berliner Kritih:
Berliner TagehJatt; ,,S cb wachheit
und Flachheit; Stegreif geschlampe:
Kitschmittel . . . Auch tellurische Phrasen,
mein Lieber sind Phrasen .... Scbmus
als Fiillsel. Kurz : es soil nacb Dicbtung
aussehen — und ist sozusagen Journalismus
der Poesie 1 ".
Franz Servaes im Berliner Lohalan-
zeiger: ,,Einen Weg zu einem neuen
Drama bedeutet dieses nicbt ....
Zu wenig Substanz, zu wenig innere
Kompaktbeit. Aucb sind die eilfertig
einander verscblingenden winzigen Scenen
von Ubel .... eine bannende Wirkung
kam nicbt zustande".
Berliner Borsencourier: „Nicht der
Kitsch ist das Erschreckende an dem Drama,
sondern die Sterilitat. Die Szenen sind
Improvisationen kiinstlerischer
Impotenz .... Die Lyrik HaBen clevers
ist Vertuscnung, der Rbytbmus ist Maske.
Er scbreibt abgerissen, jah, aber die Ve-
hemenz ist nicbt Ausdruck, sondern Bluff*.
Julius Bab in der „*Weh am ?*dontag":
Dies Ganze ist ein anmatfcnder
Dreck!
Die auswartige Kritik;
Berliner lagehlatt: ,,Mir scheint „Jen-
seits" einenMerkstein geistiger Um-
kebr zu bedeuten. Der Dichter der
Revolution scbeint die Kinderscbube aus-
gezogen zu haben. Er sieht mit dem zweiten
GesicKt, daf? die Toten immer nocb mebr
sind als die, so sicb zu Fiihrern des Lebens
erkoren diinken . . ."
Franz Servaes im Berliner Loltalan-
zeiger : In diesem Drama wird ein dicb-
teriscb neuer W e g eingescblagen. Wie
die seeliscbe Spannung aufs autferste steigt und
zu schrillem Zerreitfen fiihrt, das ist von dem
jungen Dichter in rascben, durchleucbtenden
Szenen meisterlicb enrwickelt worden und.
wird fur den Fiihlenden zum Erlebnis. vt
Berliner Borsencourier '. ,,Man erlebt
etwas Neues, Erstmaliges, betrat uner—
schlossenen Bezirk. Ein Schicksalsdrama,
ein Seelen- und Geisterdrama, mit kampfe-
rischet* Entschlossenheit und . inbriinstiger
Versenkung gestaltet, voll zarter, scbvveb-
ender Lyrik und autferordentlicher Pragnanz
im Geistigen. Voll erstaunlicber Hellsichtig-
keiten und tnatfvoller Energie. Jung und
kiibn. Voll Erlebnis und Schau, Hasenclever&
transparenteste Dicbtung".
Am drolligsten wirkt die Gegenuber-
stellung der beiden Kritiken von Franz
Servaes. In Dresden f and er, dafl
Hasenclever „einen dicbteriscb neuen *Weg
cingeschlagen" habe. In Berlin gewahrte
er : ,,Em« n "Weg zu einem neuen Drama
bedeutet dies nicht". Wie ein und derselbe . .
Kopf sich so widersprechen kann ? Ach,
er gibt nur die Atmosphare -wieder, er
kolt sein Urteil nicbt aus eigenem Inn em
er schnuppert die Meinungen des Publi-
kums auf. Der Oberlebrer Julius Bab
vergifft sicb soweit, Hasenclevers Drama
einen „anmaf?en.den Dreck" zu nennen. Ja t
wenn die Oberlebrer sich gehen lassen !
Dies scbreibt Julius Bab, der selbst in den
klaglicbsten Versen stumpert, Gymnaeiasten-
stucke von trivial stem Tiefsmn zusammen—
bebbelt und Emil Ludwig fur den be*
deutendsten Dichter Europas halt.
312
AUS DEM TAGE-BUCH
CHRISTUS-FILM
Aus dem Rbemland wird mir geacbrieben :
Als „Heide** unter streng glaubigen,
oft inbrunatig frommen katboliacben Bauern
am NiederrHein lebend, kann icb nicbt
anders ala der uneracbiitterlicben Glaubena-
gewitfbeit, dcr unwandelbaren Glaubens*
treue dieser scblichten Menscben die kbcKste
Anerkennung zollen. Wir versteben una
recht gut mit cinander, sie und icb; denn
•wir acKten gegenseitig unsere Uber-
zeugungen, und keiner von uns macbt den
Versucb, den anderen von den semen ab-
zubringen. Bisweilen aber, wenn im
Sommer die Kevelaer- und Roermond-
Prozeasionsn an raeinem Hause vorbei-
zichcn, kommt micb sogar ein gewisaer
Neid an : wie scbon, so frei und -so atolz
seinen Glauben, seine Uberzeugung durcb
blubendes Land meilenweit binzutragen !
Da aber gescbak Folgendes : Eines
Tages (eines Wocben-, Arbeitatages !)
Volkerwanderung zur kleinen Kreisstadt.
Mit dem Frubzuge scbon — um 7 Ubr !
— kommen sie aus alien Dorfern : Manner
und Frauen, Kinder und Greise. Ernst,
gemessen, andacbtig. Icb frage nact der
Ursacbe des Ungewobnlicben. — ,,Da
wird ,,Cbristus'"' gespielt ; der Herr Pfarrer
bat's angeaagt, und alle sollen bingeben,"'
Und alle geben aucb bin — selbstver-
standllcb. Gotteadienst iat Gottes Dienst !
Aucb die Scbulen rucken an. Geacblossen.
Unter Fiibrung der Lebrer
Icb iiberlege. „Cbri9tus" ? — Ein
Paasionsspiel vielleicbt ? — Aber seit Jabr-
bunderten schon sind bier docb die
Pasaionsspiele tot, und von einer Neu-
einfiibrung miiflte icb docb gebort, gs-
lcson haben. Icb frage weiter und er-
fabre, dal? es sicb um einen — — Film
Kandelt! Das macbt micb nacbdenksam ;
aber meine Bauern finden offenbar nicbts
dabei. Zwar eifern ihre treukatboliscben
Zeitungen oft recbt kraftig gegen den
„Sittenverderber'"' Film, im allgemeinen
kann das also wobl nicbts Gutes sein —
aelbst geseben baben bier aucb beute nocb
viele keinen Film! — aber ein Cbristus-
Film und vom Herrn Pastor empioblen,
das iat docb ganz etwas anderes ! Das
fat ebensogut wie Gottesdienst !
Icb kann micb zwar eines gewissen Un-
bebagens nicht erwebren : etwas in mir
rebelliert, wie es ebenso rebellieren wiirde
gegemiber einem Film „Goetbe und Frau
von Stein'" etwa oder ,.Nietzscbe". Aber
scbliei?licb : die Leute baben von inrem
Standpunkt aus vielleicbt docb nicbt ganz
Unrecbt. Vor allem kommt ja aucb
vieles, wo nicbt alles auf die Bebandlung
des Stoffes an, auf den Geist der
Inszenierung und des Spiels. . . .
Durcb drei Tage dauerte diese Volker-
wanderung, von friib bis spat. Taglicb
sechs Vorstellungen, und jede ausvcr-
kauft ! Einer babe icb beigewobnt, auf-
merksam, babe ernst geprttft. Und da
kam ein gropes Mitleid mit meinen Bauern
Uber micb. Denn dieaer Film war eine
Gescbaftaraacbe sonder gleicben ! In
der Hauptaacbe Landscbaftsaufnabmen
— gute Landscbaftsaufnabmen, wie aner-
kannt sei — aus dem ,,beiligen Lande",
aus Aegypten, darin dann eine sebr
diirftige und verautferlicbte Cbristus-
bandlung. Heruntergespielt wie irgend
ein A^ildwestfilm oder ein kitacbiger
,. Roman aus der f einen Ge3ellscbaft"
aucb. Von dem stillen Glanz, von der
scbonen Verklartbeit um die Geatalt des
gro(?en Utopisten nicbt eine Spur! Glanz
nur auf den Mienen des gescbaftstuchtigen
Unternebraer3, der die 2000 Mark Leib-
gebiibr fur den Tag und die 100 000 Mark
Kaution „nicbt ge3cbeut" batte, um
der ,,cbristlicben Bevolke / rung"'' einige
,,Stunden der Erbauung"* 2u bereiten, der
als guter Kenner der menscblicben Psycbe
zunacbat den gesamten Klerus und die
Lebrerscbaft zu einer Freivoratellung ein-
geladen batte und der dann nur nocb ,
die Funf- und Zebn - Mark - Scbeme zu
scbeffeln braucbte, die ibm auf Gebeifl
ibrer also leicbt gewonnenen geistlicben
und geiatigen Fiibrer arglose Menscben in
opferbereiter Fromraigkeit ins Haua trugen.
313
Soil man ihm desbalb zurnen? Nach
enigem Uberlegen sagte icb mir ; Nein !
Denn der Mann ist fa nur ein Produkt
Miner Zeit und seines Gewerbes, fur die
beide fa Geldverdienen a tout prix Selbet-
verstandlicbkeit ist, der gegeniiber irgend-
welcbe astbetiscben oder etbiscben Bc-
denken gar nicbt aufkommen. Etwas
anderes ist es xnit den Geistlicben und
Lebrern. Dal? sie, die berufenen ,,Hiiter
Ton Geist und Sittlicbkeit ! \ derartiges
xulassen, gar unterstutzen, ist toll. Und
wenn aucb vielleicbt — oder vielmebr :
wabrscbeinlicb biscboflicbe oder nocb
hobere Permission sie formell deckt — —
urn die moraliacbe Verantwortung kommen
sie fur micb nicbt berum. (Der „Paritat"
halber sei angemcrkt, daS mir die „Licht-
Ijildergottesdienste"', die man an protestan-
tiscben Kircben Berlins eingefubrt bat,
zum mindesten nicbt weniger ■— gescbmack-
los erscbeinen.) Ea ist Scbindluder ge-
trieben worden mit der ebrlicben Frommig-
keit ecblicbter Menscben !
Herbert Saekel.
ABBfi BLEI
Im ,,Neuen Wiener Tageblatt'* -war
dieser Tage zu lesen.'
Abbe Franz Blei, Einer Notiz des
,, Berliner Borscnkuriers" entnebmen wir
die seltsam anmutende Nacbricbt, daf? der
in Wien woblbekannte Scbriftsteller Franz
Blei, der fruber ein sebr fronlicbes A^elt-
kind war, tbeologiscber Scbriftsteller ge-
wordenist und sogar den Titel Abbe fubrt
— von welcber Stelle ibm der Titel ver-
lieben wurde. wird nicbt gesagt. Als Abbe
las er aucb dieser Tage im Berliner Ver-
lage Ernst Rowoblt eine in novellistiscbe
Form geklcide^f philosopbiscbe Abbandlung :
„D«r bestrafte Wo 11 us tling", eine
Art Bekenntnisdicbtung, die seinen Tag
von Damaskus scbildert und begrundet."
Ja, Franz Blei ist Abbe ge ward en !
Die Vorlesung im Rowobltverlag war Bleis
Abacbied von der lasterbaften Welt. Am
Ersten des nacbsten Monats beziebt er ein
Trappisten-Kloster, das er, zusammen mit
den Inbabern des Georg Miiller-Verlages,
in Scbwabing begrundet bat.
VARlfiTfi-ABENDE
DER CHINESENKNABE
IM DER YONG-WONG-7RUPPE
Eingepackt, werte Damen und Herren,
eingepackt !
Im Wintergarten tritt ein Cbinesenknabe
auf, in der Yong-Wong-Truppe.
Sanftmut des scbonen Tieres blickt sein
Auge:
„Icb lebe im Einklang mit Gott und
der Welt" — spricbt es — „icb scblafe
tief, und also wacbe icb tief.**
Wir? Wir sind scblecbte Scblafer und.
scblecbte Wacber. Wir sind kasebleicb,.
und was, was, blickt u n s e r Auge ? !
Sanftmut des scbonen Tieres? ! — Mem
Gott! . . . Aber — nicbt wabr? —
Gute Fabrer, smarte Autler sind -war
trotzdem, nicbt wabr ?
,,Icb esse, und infolgedessen denke icb.
Mit dem Feuer stebe icb auf Du-und-Du.
Zuweilen esse icb es aucb auf. Feuer
brennt nicbt, den nicbt, der mit ibm ver-
ecbwistert ist.**
Wir? Wir zieben den Tabaksqualm
ein, den ganzen Tag lang. ^/irl Wir
essen — na ja, Reis nicbt, oder '. aucb ;.
aber bauptsacblicb : Tierleicbenfleiscb . . .
Naturlicb denken wir nicbt „infolgedessen",.
sondern, im Gegenteil, wir werden da von.
allmablicb magen-, nieren- und aucb darm-
krank. Und : wie steben -wir zum Feuer ? !
Wir? Wir baben es, namlicb, fawobl :
das Feuer, auf das Fortpflanzungsbediirfnis
bin parzelliert — so, Zundbolzerkopfcben,
in kleinen Mengen. Dann — dann ist es
docb unscbadlicb? wie? Man blast es
scbnell aus, Gott sei Dank, eins, — zwei,
— drei . . . Wir acbten die Erde nicbt,.
es ist wabr, und aucb mit Gott baben wir
uns iiberworfen. Gesteben wirs nur : Wir
essen Tierleicben, und saugen Gift ein — :
Was denn sollen -wir wiedergeben, als
Kot und Gift?
Wir baben uns aus der Scbopfung
binausgescblicben, bebe, weil wir namlicb
ibr boses Gewisaen sind und es aucb blei ben
wollen . . .
314
Aker ■ — gute Sturzflieger, Valuten-
handler, Biirovorsteher unci so — rind
wir trotzdem ; nickt wakr? —
Eingepackt, sage ick, werte Datnen und
Herren, eingepackt !
Der Ckmesenknabe stent auf der Bukne
des W^intergartens, und wer ist ea, der nock
so dasteken konnte wie cr auf der Bukne
des . Wintergartens ? ! Dafi er seeks zarte
Stabcken in der Hand kalt und auf jedem
Stabcken einen Teller aus zartem Porzellan
kalanziert und dazu den nock viel zarteren
Blick so ganz keilaufig vor sick kin wirken
latft, und daff er dann, gebogen wie eine
gegliederte Gerte, auf einem Anne stekt
und den Leib riickeniiberneigt, und wieder
zurucknimmt, und dazu immer fort die
seeks Tellercken kalanziert in der einen
Hand okne emporzublicken — dafi er,
wagreckt, durck drei Ringe springt. Range
aus nack innen gestellten Messern, da/? er
kindurcksckwimmt in einer bangen Sekunde,
o, wie ein sckneller Fisck — daf? er kei
alldera so sckon anzuseken ist, datf aller
klumiger Vorrat an dickteriscken Allegorieh
von Morgen- und Abendland trotz kypo-
tkekariscker Steigerungsmetkodik , neu-
deutscker Sprackenart, ikn nickt zu sckil-
dern vermockte ; da# er seine Kollegen aus
der Yong-Wong-Truppe an Grazie und
also an Kultur kimmelkock ukerragt, ob-
zwar ein anderer die eigentlicke Attraktion,
Kern der Truppe, Professionell der Todes-
gefakr ist — dal? er also so gestaltet und
geartet ist, und, bei solcker Art und Ge-
stalt, s o blickt, keiKge Sanftmut des
sckonen Tierea blickt und atmet: das ent-
bindet tnick wokl des Versuchs, Unsagkarem
Worte zu geben, aber ick wiederkole,
womit ick begann, und rufe, rufe aus
ganzem Herzen :
' Eingepackt, werte Damen und Herren,
eingepackt !
Im V/intergarten tritt ein Ckinesen-
knabe auf, in der Yong-^^ong-Truppe . . .
Hans Valentin.
LENA AMSEL
In. der Skala marsckieren jetzt ackt oder
zwolf Schulmadcken, von einer sekr diirren
Lekrerin kehiitet, auf die weite Bukne.
Auf einer Parkkank scklief die Lekrerin
ein. Ein Drekorgelmann ersckeint, aein
Werkel tont. Da keginnen die Sckulmadel
zu tanzen. Der Werkelmann kangt seine
Drekorgel einera Kind urn den Hals und
keginnt mit einem Madel nack dem andern
tanzend dakinzurasen. Bis die Lekrerin
erwackt. Die Promenade der Sckiilerinnen
wird wieder zucktig. Das Ganze ist ein
reizender Einfall und die Kindercken mit
nackten Beinen, kurzen sckwarzen Kleid-
cken und Lackkiiten seken entziickend aus.
Unter den sittsamen Kmdern marsckiert
Lena Amsel nickt! Aker sie tanzt ein
biscken spater in einem Promenadentanz,
den Ckarell von Zeit zu Zeit immer
wieder einstudiert. Jedes Jakr um eine
Nuance handgreiflicker und also — berli-
niscker.
Dann kommt Lena Amsel allein. In
einem unerkort verwegenen Kostura de»
Munckener Malers Leo Scknakenberg. Da*
Auffalligste daran sind grelle Strumpfbander
auf bunten Strumpfen. Der Rock ist
eigentlick nur eine Froufrou-Decke mit
einem verbluffenden koken Scklitz.
Die Lena Amsel tut so als tanzte sie
in unerkorter Tollkeit. Aber wenn man
genau kinsiekt, ist ikr Tanz weniger da
als ikre Tollkeit. Sie kat den Willen
315
zum Tanz und das ist, weil es ein un-
gezabmter Naturwille ist, beinabe scbon
ein Scbauspiel. Diese kleine schlanke Atnsel
■will ein Ereignis sein und desbalb ist sic
es I Sie hat die Anmaflung der ungebro-
clienen Naturen. Sie Hat die Frecbheit der
leidenscbaftlicb Wollenden. Jeder Schritt
scbreit: I h! Icb! Ich! Sie konnte sicb
auf den Futfboden legen und blofi Purzel-
baume scblagen. Die Energie, mit der sie
solche Tanze auffubrt, iibertragt eicb auf
den willensarmeren Zuschauer. Was
braucbt eine Tanzerin ? Einen scbonen,
scblanken Korper und einen wilden Willen
zu wirken. Das biscben Tanz ergibt sicb
dann — zuweilen.
ANEKDOTEN
An einem jour de Vernissage scblendert
Paul Cassierer durch die Sale seiner
Sezession. Jemand will ibn auf die V or-
ange eines emzelnen Bildes aufraerksara
macben, aber ibn interessicrt die Auf-
macbung. Ala der Andere nicht still
werden will, rutt ibm Cassierer zu : Malen
ist keine Kunst. aber h'^gen!"
INHALT DES LETZTEN HEFTES
(Nr. 9):
Waltber Federn: A mere robbery
FriedrichWolf: Hygiene der offentl. Moral
Georg Kaiser: Brief liber sicb selbst
Eroo Szep: Die Ubr
Stefan Grotfmann: Liebeserklarung ans
Tbeater
Wirtscbaftlicbes Tagebucb
Aus dem Tagebucb (Paul Cassirer — Der
patbologiscbe Trottel — Unbeilbares
DeutscKland — Filmf ragen — Namens-
scberze).
Diesem Heft ist ein^ Prospekt des Verlags L. Staackmann, Leipzig* eingeklebt.
Redaktion des „Tage-Buch" : Berlin W 35, Potsdamer Stratfe 123 b, Tel.: Lutzow 4931
Verantwortlicb fur den redaktionellen Teil : Stefan Grotfmann, Cbarlottenburg. Verlag:
Ernst RowoUt Verlag, BerlinW 35. Potsdamer StraUe 123 b. Druck: R. Abendrotb, Riesa
£if ore
(Sari 5Hampc
Die f f i Ij r e u b e 2ttarfe
©
GEBUNDENE H A L B J A H R E S B A N-D E
DAS ZWEITE HALBJAHR (HEFT 25-51) DES
TAGE-BUCH
liegt jetzt gebunden vor. In baltbarem griinen Halbleinenband bilden die
Hefte einen scbonen Band, der jeder Bibliotbek zur Zierde gereicben wird.
DER ZWEITE HALBJAHRESBAND KOSTET M. 60,—
Vom ereten Halbjabresband eind nocb wenlffe Exemplars zum Preise von M« 45.— lieferiar.
EINBANDDECKEN: Fur Leser, die Are Hefte gesammfilt kaben und selbst bi'nden
lassen, baben wir die gleiebe Einbaziddecke vorratig. Wir bercebnen
sic. ebenso wie die des 1. Halbjabres mit M. 12. — . Wir bitten um um-
gebende Bestellungen, da wir nur eiaen kleinen Vorrat beretellen lasses.
ERNST ROWOHLT VERLAG. BERLIN W. 35
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MQSTEPLAQEP: HANSARINQ so
DER ANBKICH
5. au(Jerordentltdies
Orchester - Koti^ert
Donnerstag / den 17. Marg Ip2l / ^Va Clhr abends
in der Philharmonic tnit dem
Philharmonischen Orchester
DIRIGENT:
ARTHQR LOEWENSTEIN
PROGRAMM:
1. JAMES SIMON . . ■ Clrtuorte
fur gr. Orchester, Chor, Sopran- und Baritonsolo
UR A UFFOHR XJKG
Sopran: VERA SCHWAR^
Bariton: WILHELM QaiTMANN
2. HENRTETTE VAN LENNEP
3 Orchesterstucke
ERST A UFFOHR UNG
3. PANTSCHO WLADIQEROFF . Klauieiv
UR A uffOhr ung kon^ert
Klauier: LEONID KREQT^ER
4. VTTESLAV NOVAK .... Tomann und
die Waldfce
fur gr. Orchester, Chor, Sopran- und Baritonsolo
ERS7A UFFttHR UNG
Sopran: VERA SCHWAR2
Bariton: WILHELM QQTTMAKN
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Unter den Linden 77 : : Gansemarkt 60
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B er eit willi ge A usku nf t -Ert e il ung iiber In du str i e-Papi er e
Das Tage-Buck / Heft 11 Jakrg. 2 / Berlin, 19. Marz 1921
STEFAN GROSSMANN RICHARD RIEDL
Es kat ein kitfcken lange gedauert, kis die osterreickiscke Regierung
im Gedrange der Bewerker den neuen Gesandten fur Berlin geiunaen
tat, aker am Ende ist gegen die Verzogerung nick ts einzuwenden, wen
Osterreick nun wirklick den ricktigen Mann gesckickt kat. Dr. Rickard
Riedl ist den deutscken Reicksamtern woklkekannt. Seme Wakl kat
kier im Anfang leise AViderstande geweckt, weil er m vergangenen
Jakren kei Wirtsckaftsverkandlungen osterreickiscke Interessen gegen
reicksdeutscke mit kesonderer Bekarrkckkeit zu vertreten gewuKt kat.
Zu solcker Zakigkeit war Riedl als erster Bevollmacktigter des Wiener
Handelsministeriums verplkcktet, und er wird diese Tugerid des unver-
drossenen, keinake eigensinnigen Festkaltens an erkannten Notwendig-
keiten nun nock mekr entfalten konnen, nun, da er diese rlartnackigkeit
im Bunde mit den deutscken Instanzen entwiekeln wird. Riedl weii?*
dai? die erste und einzige Notwendigkeit Deutsckosterreicks der AnsckluK
an das Reick ist. In diesem Punkt ist er von granitner Zuverlassigkeit,
er kat dieses Wissen mckt seit gestern, wie so viele mit xv. K.. Post-
Verspatung nackkumpelnde Anscklussrreunde.
Riedl gekorte als junger Mann zu den Begrundern des JDeutscken
Kluks" in Wien, der versuckt kat, in Osterreick pkrasenlose oder
wenigstens pkrasenarme deutscke Pqktik zu macken. Er kat dann in
Jen letzten Jakren der Hakskurgerei einen karten Kampf gegen Franz
Ferdinand rukren una dakei erkennen mussen, dai? seine zuverlassigsten
und klugsten Bundesgenossen gegen den verweikten Tkronfolger die
Sozialdemokraten waren. Nack der Revolution kat Riedl, der grund-
Iickste Kenner der osterreickiscken Wirtsckaft, sick Moellendorfscken
Ideen am meisten angenakert. Es klingt ein kitfcken unglaukwurdig,
aker es ist dock wakr : Auck im Lande der produktiven Scklamperei
gak es emen Ankanger der Planwirtsckart.
Rickard Riedl, der liekenswurdigste \Viener, gekort kei aller aui?eren
Sckarmantkeit mckt zu den kequemen Figuren. Er wird als oster-
reickiscker Gesandter darur zu sorgen sucken, daJ? der AnsckluJ?gedanke
mckt nur zum mekr oder minder dekorativen Bankettsckmuck wird. Er
321
wird mit der Lieke zum Detail, die lkn auszeicknet, kemukt sein, den
Vereimgungsgedanken Sckritt fur Sckritt in die WirkKckkeit zu graken.
Es ist kaum denkkar, dal? er es okne Widerspruck zugelassen katte,
dai? Deutsckland, das anscklutffreundkcke Deutsckland, mit der Tsckecko~
elowakei ein Handelsukeremkommen sckkei?t, das zum Teil auf Kosten
der sparlicken Reste osterreickiscker Industrie gesckiekt. Es wird dafur
sorgen, dai? die reckte diplomatiscke Hand Deutscklands well?, was die
Knke wirtsckaftspolitiscke treikt. Er wird mit der Akneigung des Oster-
reickers gegea pokzedicke Systeme mitkelfen, dai? der Osterreicker vor
deutscken Bekorden mckt lmmer nock als lastiger Auslander kekandelt
wird, der unter der Aufsickt des Polizeireviers stekt, hei dem er sick
immer wieder melden mul?. Er -wird die Bestrebung der Recktsan-
gleickung der keiden Staaten — kier ist in aller Still e von den Juristen
manckerlei geleistet worden — mit Sackkunde zu unterstiitzen wissen.
Vor allem aber: Seme Stimme wird nack Osterreick kinukerkallen, ganz
besonders zu den Industriellen und Bankleuten, Aie ja allmaklick vom
Franzosenwakn gekeilt werden. Im Friikjakr 1919, als osterreickiscke
und deutscke Manner uker den Anscklui? verkandelten, da gesckak es,
dai? ein Wiener Bankdirelttor dagegen protestierte, dal? kei der Durck~
xukrung des Anscklusses die osterreickiscke Krone mit funfzig Pfennigen
nbernommen werde. Das gait damals als deutscke Verge walti gun g . . .
xNock sind nickt aile osterreickiscken Erzeuger und Handler gekeilt vom
Selkstandigkeitswakn. Riedls Stimme als des nuckternsten AiVirtsckaf tiers
wird gerade xn dies en letzten osterreickisck-iranzosiscken Scklupfwinkeln
gekort -werden.
Rieal ist kem Parteimann, dazu ist er im geistigen Format zu grol?
geraten. Auck okne Parteitross ist er so st^rk, da# er nickt zu ent-
wurzeln ist, wo er einmal stekt. Das kat sogar Franz Ferdinand er—
kennen mussen, Er ist der Mann, der die kistoriscke Aufgake der
Vereinigung nickt kloi? kekarrKck vorkereiten kann, er kat innere Jugend
und Xatkrart genug, in der entsckeidenden Stunde das kelle Signal zu geben*
322
JAMES ALBERT HONEIJ, M. D. WIE LANGE WIRD
POLEN BESTEHEN?
Der Verfaaser dieses in der amerikanischen ^Nation" kiirzKch veroffent-
lichten A.ufsatzea, ein Medizinprofeasor an der Yale-Universitat, war im
JaKre 1920 Leiter der amerikaniacKen Roten Kreuz-Mission fur Polen.
Das groi?te Stuck Pflaster, das die diplomat is chen Arztc Europa*s
zerschlagenem Antlitz aufgeklebt haben, tragt den Nam en Polen. Schon
tn zehn Jahren wird die Landkarte vielleicht keine Spur mehr da von
auiweisen! Das Land, das si en quallenhait uber das nordlicne Zentral—
europa ausbreitet, mit einem dunnen Finger die baltische See betastend,
nach Osten ins russische, nach AA^esten ins deutsche Gebiet sich vor-
bauchend, ist kaum menr, als em zweidimensionaler Staat. Es existiert
nur aur den vorlaufigen Landkarten unserer Tage, als ein Versuch,
romantische Traume zu erfullen, als erne Erfmdung, die politischen Be-
durfmasen entsprang, als eine Sen op rung mihtanscher ICartographen, als
ein ins Nationale ubertragener Flaschenkork. Im Polen dea zwanzigsten
Jahrhunderts gibt es sozusagen keine eigentliche Nation. Mit den Be-
zeichnungen ,,Republik" oder Demokratie von inm zu reden, ist ein
tragischer Scherz. Die sogenannte »Regierung in AAr arschau funktiomert
kaum. Ala Spieldall eimger weniger Adliger und Anstokraten, die urn
Jahrhunderte nacn ibrer eigentlichen Zeit leben, tut sie und tat sie mchts
fur das V oik. Ihre ganze Gescnaitigkeit erschopfte sich Jahre hindurch
dann, Kneg (und zwar selbst herbeigcTuhrten Krieg) gegen die Nachbar**
staaten zu ruhren, — Kxieg, dessen einziger Zweck Gebietserweiterung
war, und der nur dazu fuhrte, daf? das grenzenlose Ungluck dea eigenen
Volkes sick immer nock holier turmte. An Friedensprobleme denkt diese
^iVarscnauer Regierung nicht ; in Wahrheit versteht sie auch nichts davon.
Man fragt sich oft, wieso es denn so ganz unmoglich ist, sowohl
rait der polnischen Regierung als auch mit dem polmschen V olke irgend-
wie zusammenzuarbeiten. Warum gelingen selost solche Vereinbarungen
nicht, die ihnen offensichtlich, ohne jedwede Kosten, nur Nutzen zu
bringen versprechen? Wie kommt es, dai? man, sogar wenn man diesen
Leuten helfen -will, seine Muhe und Kraft so oft Tag um Tag vergeuden
mui?, und zwar etnfach darum, weil es ihnen an Verlaalichkeit und
KJarheit fehlt? Es macht keinen Unterschied, oh man kaufen, verkaufen
oder scnenken 'will — : immer steht man vor denselben, ermudenden De- -
batten, vor denselhen Verzogerungen ohne Ende!
Immer wieder und wieder machte ich dieselbe argeruche Erfahrung;
in ICnsen, in denen jedcr versaumte Tag den Tod vieler Soldaten be"
323
deutete. Dot ick, okne jeglicke V erpfkcktung fur die polmscke Regierung*.
wieder und wieder Menscken- und Matenalkilfe an; aker immer wieder
gesckak mckts weiter, als dal? mir jedes erdenkkcke flemmnis in den Weg
geworfen wurde, sodal? der Plan sckueKkck aufgegeken werden mufite.
w'akrend der Krise, die durck den kolsckewistiscken Vormarsck em—
getreten war, erkot sick erne amerikamscke Organisation, luni Lazarett—
zuge einzunckten und zu ketreiken. Was war das Resultat? Nack—
dem der Eisenkaknmimster und die Heeresleitung endKck mre Zustimmung
erteilt katten, war es nock notig, die personlicke Erlaukms von.
nickt weniger als funfzekn Departementsckefs einzukolen ! Das gesckak
zu einer Zelt, in der Tag fur Tag Hunderte von Soldaten nur
aus Mangel an Pflege und mediziniscker Sorgfalt ikren ^Vunden und
Kranltkeiten erlagen. Es war typisck fur polniscke Metkoden!
Ick kefand mick wakrend des groi?en russiscken Vormarscked selkst
in Polen. Ick war in Minsk als die Stadt in Flammen stand und kastig
geraumt wurde. Aker selkst in jener Periode kockster nationaler Gefakr
sckien es keine vereinigte Bemukung der lokalen Bekorden zu geken, der
scklimmen Situation irgendwie die Stirn zu Lieten; ick war in Wilna,
als die russiscken Armeen sick im Nordosten kis auf ackt Kilometer ge~
nakert katten, und als kericktet wurde, daf? Patrouillen kereits eine der
HauptstraJ?en nack Warsckau akgesckmtten katten; wiederum wurde der—
selke Organ is ationsm angel ersicktKck. Die Eisenkaknkekorden katten
keinerlei Vorsorge fur Aie Evakuierung des groKen Militarkospitals ge—
troffen. Die Unfakigkeit der Bekorden, der Knsis sick irgendwie ge—
wacksen zu zeigen, war qualend. An Fursorge fur die Verwundeten
sckien nickt einmal gedackt worden zu sein. Gerade um diese Zeit trat
auck die Rukr unter den Truppen auf, von Mangel an ricktiger medi-
ziniscker Fursorge verursackt und in ganz enormen verlusten sick aus—
wirkend. Riesige Zuge von Guterwagen, von den en jeder funfzekn una.
mekr Icranke oder verwundete, im groKten Sckmutze kegende Soldaten ent—
kielt, rolltenunausgesetzt ein. Auf ikrem Rucltransport von der Front war lknen
keine wie immer geartete Pflege zuteil geworden. Tote lagen zwiscken Sterben—
den, inmitten unaussprecklicken Gestankes und Jammers. Die Bekorden nr
^Varsckau aker sckienen von all diesen Opfern klukender Jugend unkerukrt.
^^ockenlange Vorstellungen kei der Regierung, ernste und leidensckaftkcke
Hilfsangekote fanden nur tauke Okren kei Menscken, die nickt nur Be-
sckreikungen, sondern auck dem Augensckein gegenuker fukllos kkeken.
Selten aker nur traf man auf den Baknkofen verwundete Offiziere;
und nock seltener traf man sie in den Grenzzonen oder nake der Front*,
324
Dai? die Offiziere ikre Truppe sckleckt fukrten und sckleckt fur sie
aorgten, war eine allgemeine Klage. Aber die Stadte, namentUck Warsckau
und Krakau, waren von Offizieren ukerfullt ; ikre Zakl aul Jen Stratfen
und in den Cafes war . grower als die der Soldaten. Krakau ist als
Hauptquartier eines Kavallerieregiments kerukmt geworden, das von jungen
AdKgen unter der bestimmten Bedingung aufgestellt worden war, datf es
nickt an die Front gesckickt werden durfe. Und trotzdem wird gerade
von dieser Klasse der polniscke Ckauvinismus gemackt!
TatsackKck war nickt nur all gem em bekannt, daK die besten Regi-
m enter die Posenscken seien, die stark mit Deutscken durcksetzt waren,
sondern auck, dal?, insoweit man von einem Ruckgrat der polniscken
Kampfmasckine uberkaupt sprecken durfe, die Bauern es seien, die dieses
Ruckgrat konstituierten. Es stekt autfer ZweifeL, dal? der polniscke
Bauer, wenn er kampfte, gut kampfte; aber es ist ekenso wakr (lck sage
das aus personKcker Beokacktung), dal? er, wenn er lief, auck sekr gut
Kef. Eine Analyse des acktwockigen karten Kampfes und Aes rapiden
russiscken Vormarsckes zeigt, daf? die polmscken Truppen Ruckscklage
nickt ertragen konnen, dal? ikre Moral sekr rasck zerstort ist. Daf? es
der polniscken Armee scklie flick dock gelang, \^/arsckau zu retten, ist erst ens
aus der Bildung einer ganz neuen, groi?enteils aus alteren Leuten zusammen-
•gesetzten Armee zu erklaren, die unter franzosiscken Offizieren und fran-
zosiscker Generalitat stand; zweitens und kauptsackKck aker aus dem uber-
trieken rascken Vormarsck der russiscken Heere ; keinesf alls war m irgend*-
welcker Weise eine Besserung m der Moral des Feldkeeres daran beteikgt.
Es ist nickt so, daf? der polniscke Bauer jeglicken Patriotismus* bar
ware ; er Kekt die Sckolle, auf der er wurzelt ; aker aus vielen Auue-
rungen und aus seinem Betragen uberkaupt wird ersicktkck, dal? er nur
unter dem Orucke eines Befekls in den Kampt gekt. Ein grouer, adkger
Grundbesitzer erklarte nur das so: „Der Bauer, der mein Eigentum ist,
tut, was ick ikm befekle; er kat kein Reckt zu selbstandigen Handlun**
^en.* k All diese Beobacktungen erkarten meine Bekauptung, daf? Polens
Ruf als einer soldatiscken und patriotiscken Nation nur in der Tkeorie
erneuert worden ist, dal? er aber den Tatsacken nickt mekr entsprickt.
Die Leiden der polniscken Bevolkerungsmasse treten uberall zutage, nickt
nur in dem bestandigen Hin und Her zaklloser Weiber und Kinder in
ikren kleinen Bauernwagelcken, sondern auck in der ausdruckslosen,
sckeinkar bloden Indifferenz, die sie gegemiber all den kerzzerreif?enden
Dingen unter lknen und um sie kerum in Gesickt und Haltung dem Be-
okackter zeigen. Die Tragodie der Unterdruckung ist in ikre Gesickts-
325
zuge ein ge grab en. Man fragt si en, was denn das Leo en dies en Leuten
uberhaupt nock meter, dai? sie es nickt von sick werfen, man fragt sick*
od ikre Intelligenz denn wirklick so. weit zuriickgekkeken ist, dai? sic
nicnt einmal versteken konnen, kis zu welckem Grade sie nur Stein e in
einem gierigen, kerzlosen Spiele sind.
Wo die Mass en etnigermafien aufgeklart sind, druckt sick das in
einem tie ten Mii?trauen gegen ^ie Regierung und gegen die unkekannten
Krarte aus, die Polens Sckicksal zu lenken sckeinen. Ein Gro#teil des
MiJserrolges Polens mag wokl auf diesen sekr kerecktigten Mangel an
V ertrauen zuruckgefukrt werden. In der Tat kesckrankte sick alle Be—
mukung um nation ale Emkeit kei den Regierenden auf einen modern en
Propagandaketriek, dessen Spur en in dieser oder jener Form ukerall in
Polen zu eeken sind. Am aurrauigsten waren wokl jene sckreiend kolo—
nerten Plakate, die aufs grausamste die kolsckeWistiscken Sckrecken ak—
bildeten, die Polen befallen wurden, wenn seine Burger die Landes-
verteidigung lassig ketrieken. Die Plakate trugen alle, das -war lkr prak—
tiscker Zweck, eine Aufforderung, ins Heer einzutreten ; aker sie appel—
kerten nickt im mindesten an den Patnotismus oder die Heimatneke des
Bauern. Selkst dem einracksten Him muKte es mekr oder weniger un-
denkkar ersckemen, daJ? der russiscke Bauer, nut dem er fruker, vor dem
ICriege und im Kriege, Freundsckart unterkalten katte, oder der russiscke
Knegegefangene, den es in alien Teilen Polens gegeken katte, wirkkek das
Sckeusal sein konne, das die Plakate akkonterfeiten. Auck -waren die
Bauer n fortgesetzt und ungekindert uker die russiscke Grenze kinuker-
und kerukerge weeks clt, ein weiterer Widerspruck zu den Darstellungen
der Regierung daruker, -was zu gewartigen 'ware, -wenn die Russen nack
Polen kamen. Da es keine wesentKcken Untersckiede zwiscken dem
russiscken und dem polniscken Bauern gikt, da ikr Leken sick in der
Hauptsacke gleickt, da es lings der Grenze Spracksckwierigkeiten fast nickt
gikt, kann kliirkckerweise kein nationaler Erkkai? zwiscken iknen kesteken-
Der grol?ere Teil des Elends, das in Polen keute kerrsckt, ist
pkysiscker Natur. Aker es ist kein naturnotwendiges Elena*. Fort-
gesetzter Kneg in Verkindung mit kekordlicker Unfakigkeit kaken Armut
und Krankkeit erst zu dem Umfang gekrackt, den sie keute einnekmen.
Die Zakl der ^^Vaisen in den Stadten ist grauenkaft. Ick koffe*
ruemals mehr ein en so patketiscken Emdruck zu erleken, wie es
die Demonstration war, die ick am 4. Juk* 1920 in Warsckau sak, —
eine Demonstration von zwanzigtausend Waisen-Kindern, die kaum
mittrotten konnten, \mi sckon keranreifenden Knaken und Madcken.
326
AVare nickt die Hilfe Amerikas, so lekten vicle davon keute ukerkaupt
nickt metr. Von Jen Krankkeiten, die Polen verkeeren, ist der Typkua
die eckkmmste. Er ist \>ei weitem am kaufigsten, — in jedem Dorf
und zu jeder Jakreszeit findet man Falle. Ferner sind typnusartige
Krankkeiten und Rukr weit verkreitet, namentKck in den nordKcken
Distrikten ; auck Pocken treten fast ukerall auf. Im Kampf gegen diese
Plagen ist kein Fortsckritt mogkck, kis nickt wenigstens elementare
aanitare und kygieniseke Ma#regeln ergriffen worden and. Keine Be~
korde kat dazu kisker auck nur einen Anfang gemackt. Hier kommen
wir wieder zu einem typiscken polniscken Paradoxon. Krakau kat eines
der kestgebauten Hospitale fur ansteckende Krankkeiten in aller ^Velt.
Aker infolge der Inter ess elosigkeit der Regierung feklt das Betriekskapital
und das Gekaude stekt leer und nutzlos, wakrend drau#en im Lande
die Men sen en aus Mangel an Pflege und arztlickem Beistand sterken.
„Mul? Polen Krieg fiikren ? " Ick fragte diese Frage viele Polen
von Amt und Einflult. Prinzipiell gaken sie alle zu, dab Polen sein
eigenes Gekiet kultivieren sollte; aker sie fvigten kinzu, daK groue Telle
des adngen Grundkesitzes, d. k. also des adkgen V ermogens auf russisckem
Gemet kege, und dal? dies lkrer Ansickt nack immer Anlaa zu Knegen
geken Tver a e. Auiserdem stack el t franzosiscker EinfluJ? den group olmscken
Traum des Hussassak-Adels fortgesetzt an. In dessen Wakn seken
sick diese mittelalterkcken Temperamente als fakrende Ritter, als keroiscke
Figuren an der Spitze siegreicker Heere. Den Reaktaten der Gegen-
wart, der sckreienden Notwendigkeit pkysiscker und industrieller
^Wiederkerstellung ikres Landes gegeniiker sind diese kravourosen Herren
gro#tenteils vollkommen kknd.
Nur ein Wunder kann Polen retten. Denn es kediirfte eines
Wunders, ran zu sckaffen, was ikm ganzlick mangelt, wofvir sogar
jeglicker Keim nock feklt: eine geordnete, fur das allgemeine Wokl
wirkende Regierung. T2ie nackste Zukunft dessen, was jetzt Polen ist,
kangt groKenteils von den Alluerten ak. Mit seinen Nackkarn kat es
sick verfemdet. Tatsacklick ist es kankerott und verfallt immer mekr.
Kann Polen sick nickt aus eigener Kraft aufraffen, so wird es kald mit
ikm zu Ende sein. Es mull gar kein gewaltsames Ende, keine Erokerung
von au#en ker sein. Wakrsckeinlicker ist ein langsames Verfaulen, kis
zum vollkommenen Zusammenkruck der zerrutteten Struktur, deren
Tragestutzen von allem Anfang an groi?enteils nur sagenkaft war. Irgend-
wer wird dann Aie Erksckaft ukernekmen. Vielleickt Rutland. Viel-
leickt auck Deutsckland. ^Afakrsckeinlick keide zusammen.
327
georg brandes BERLINER ERINNERUNGEN
Aur eigene Hand mackte ick die Bekannts chart eines jungen Denkers,
der spater fast Berukmtkeit erlangte, bloi? durck die Verkindung, in die
eein Name nut einem anderen groi?en Namen gekrackt wurde. Ernes
Tages trat ein junger Mann mit distinguiertem Autferen und dunkeln
kurzgescknittenen Haar kei mxr em, der sick als Dr. Paul R6e vorstellte,
dem Verfasser eines Buckes,„Der Ursprung der moraKscken Empfindungen"''
(1877), das er mir ukerkrackte. Das Buck war eine fleitfige und gekalt-
volle Arkeit, entkielt aker nickts sonderKck Neues fur denjenigen, der
in den Scknften der engliscken Empinker zuhause war.
Nackdem er einige Zeit mit mir uker seine Grundansckauungen ge-
sprocken, sagte er: Erlauken Sie, dai? lck em in kokem Grade pkilo—
sopkisck kegaktes junges Madcken kei Iknen einrukre, das ernste Studien
gemackt kat? — Sekr gern. — Es ist eine zwanzigjaknge Russin, ikr
Name ist Lou von Salome\ Wir kaben sckon lange Zeit Reisen mit-
einander gemackt. Aker eines mul? ick Iknen sogleick sagen, sie ist mckt
meine Gelickte. — Ikre Mitteilung war ukerflussig, erwiderte ick, Ikr,
V erkaltnis zu der jungen Dame kummert mick mckt und ick katte keine
Vermutungen. Da Sie aker so offen zu mir sprecken, so sagen Sie mir,
ok die Verwandten des jungen Madckens nickts dagegen kaken, dal? Sie
mit ikr so in Europa umkerreisen ? • — Nein, sagte er, ick kake ein so
sondes Reno m me e, dais memand es ukel aurraist.
K.urze Zeit darauf krackte er mir einen Pack mit lynscken Gedickte
und kat mick eindnngKck, sie zu lesen und ikm meine Ansickt uker lkren
Wert zu sagen. Es waren Gedickte g von Fraulein von Salome, die*
wiewokl Russin, deutsck sckriek, ja sogar deutscke Verse, und zu memer
Verwunderung lauter sckwarmeriscke Gedickte, alle an emen Mann ge-
ncktet, uker dessen Identitat ick mckt 1m Zweiiel sein konnte, da Rees
Auiseres, seine rlaltung, seme Gesicktszuge lekkait darin gesckudert waren.
Er katte damals die junge Dame sckon gekrackt, eine grolse sympa-
tkiscke Blondme, merkwurdig kewandert in Pkilosopkte, zu jenem Zeit-
punkt kesonders eine ICennerin und Bewunderin Sckopenkauers. Ikre
geistige Entwickeiung katte, wie ick erfukr, aur einen ganzen Kreis junger
Dozenten an der Beruner Universitat den starksten Emdruck gemackt.
Manner wie Dr. Otto Seek, der spater kekannte flistoriker, spracken
mckt minder anerkennend von ikr, als Dr. Ree.
Sie und er katten damals ein Beisammensem mit Nietzscke in Sorrentt
kinter sick. Ein Jakrzeknt danack sollten sie keide durck ikr Verkaltnis
328
zu ikm kerukmt werden. Das einzige Gedickt, das Nietzscke fur Ckor-
und Orckester gesetzt hat, ist eine rlymne an das Leken von lkr und
nack Nietzsckes Aussage kat Rees Buck uker den Ursprung der mora-
liscken Gefukle den punktuellen \Viderspruck seiner eigenen Gedanken
erregt. Sickernck kat jedock Rees Gedankengang eine Zeitlang kei
Nietzscke mckt nur \Viderspruck gefunden und kurze, Zeit sckeint auck
Fraulein von Salome als seine Sckulenn einen gewissen Emdruek auf mn
getnackt zu kaken, kis es kald darauf zum Brucke zwiscken lknen kam.
Emes der Hauser, in denen lck mick sogleick nack meiner Ankunft ambe~
kaghcksten fuklte, war das des ausgezeickneten Advokaten, Justizrat Jokn
Simson. Jokn Simson war em jungerer Bruder des kerukmten Martin Eduard
Simson, des Prasidenten der Nation alversammlung in Frankfurt 1848,
spater des preu&schen Landtages und zuletzt ties in Leipzig errickteten
Reicksgenckts. Jokn Simson stammte aus Konigsberg und war ein unter-
setzter, sekr sckoner Mann mit pracktigen Augen und einem klugen Kakl-
kopf. Er katte em Herz von Gold. Biol? in seiner Nake zu sein
wirkte kekaglick; er krackte gesunden Sinn, unendKcke Gutmutigkeit, den
sickeren Sckerz ernes guten ICopfes nut sick. Am meisten aker erquickte,
die ukerstromende Herzkckkeit ernes so klugen Mannes. Sie war wokl
auck okne eine Grundsumme sympatkiscker Naivitat nickt mogkck. Ok-
wokl er als Advokat mit einer ungekeuren Anzakl von Verkreckern
Bekanntsckaft gemackt und eine groi?e und soKde Mensckenkenntnis ge~
sammelt katte, war seine Art, sick auszudrucken, kisweilen landkck. Er
war einer derjenigen, die einen durck ikre klotfe Zuneigung erfreuen
konnen und wirkte dadurck so sympatkisck, dai? er die aufricktigste An-
kanguckkeit mit den altmodisck steifsten Formen verkand. So gekrauckte
er in der Anrede an mick, der lck erwa zwei Jakrzente junger war als
er, okne ein Lackeln Ausdrucke, die zur Not einem uralten oder furst—
licken Protektor gegenuoer am Platze gewesen waren: „Nein, mein ver-
ekrter Conner usw.
Jokn Simson war em Kost- und \Veinkenner von Rang und ver-
mekrte das Woklkefinden, das man in seinem Junggesellenkeim empfancL,
dais man mrgends so auserlesene Dmge zu essen und zu trinken kekam,
wie kei lkm. Als ein sekr vermogender Mann sak er des ofteren Gaste
bei sick, namentKck seine Heimatsgenossen aus Konigskerg. In seinem Hause
traf ick z. B. von Anfang an den Bildkauer Siemering und die Maler
Graf und Brausewetter, samtKck Konigkerger. Im Ubrigen kannte er
329
sozusagen ganz Berlin, war nut der ganzen Welt, von Staatsmannera
uni Kunstlern angefangen bis zu dem niedrigsten Verb re cber pack, in
Berubrung gekommen.
Ernes Tages trat er mit autferst aufgeraumter Miene bei mir ein:
George, mein Herzensjunge! Wunscken Sie mir GlucL icb babe eine
sen were und beikle Arbeit bmter mir. Habe beute ernes Menscben Kopf
gerettet und lbm zu einem glatten Freisprucb verholien. — Wie konnte
solcb ein todlicber Argwobn sicb gegen einen Unscbuldigen ricbten? —
Einen Unscbuldigen ? George, mein Freund ! Smd Sie verruckt ?
AkVelcbe Ebre ware dann dabei? Mein Klient ist der argste Sebuft,
der je auf zwei Beinen gegangen ist. Er bat sein Weib erscblagen, so
gewii? icb bier stebe. Das war ja eben die Scbwierigkeit, lbn zu ver-
teidigen und besonders mit solcb einem Resultat! Denken Sie sicb aber:
Der Lummel dankt mir nicbt einmal, nacbdem das Ganze vorbei ist, mir,
dem er docb sein Leben verdankt! Natiirlicb lege icb nicbt viel Wert
auf Anerkennung von solcben Lippen; aber immerbin batte er so viel
Wonlerzogenheit aurbrmgen konnen. — Und er entwickelte mir, dais
es sicb um den Besitzer einer Unternebmung fur Insektenvergiftung, ge~
nannt Mykotbanatos bandelte, dessen Gattin vergiftet aufgefunden worden
war, wabrend der Ebemann, der nacbweisKcb vorber einem anderen
W eibe die Ebe versprocben batte, bebauptete, seine Frau babe sicb selbst
das Leben genommen und er babe allein auf ibre instandigen Bitten semen
Laden mit den Giften offenstenen lassen.
Kam die Rede auf das Verbaltnis zwiscben den beiden Gescblecb-
tern, so zeigte Simsons Naivitat sicb bisweuen in dem kleidsamsten Licbt*
Er glaubte an die Unscbuld aller zweifelbarten Verbaltnisse. Em
alterer Maler, ein vornebmer Menscb, war in eine unangenebme una
widerwartige Gelderpressungssacbe verwickelt wbrden. Zuletzt wurde
er des Meineids angeklagt, weil er einen Scbwur geleiatet batte, mit
einem Mo dell, von dem er sicb nacbweislicb nicbt loszureiben vermocbte,
das er auf seme Reisen mitnabna und > bestandig nackt abbildete, in
keinem Verbaltnis gestanden zu baben. Dal? der Mann, womoglicb ge-
rettet werden sollte, war klar. Seine grotfte Scbuld bestand dann, durcb
ein verzweifeltes Mittel einen Skandal, in den bosbafte Menscben lbn
zu sturzen tracbteten, vermeiden zu wollen. Simson jedocb war voll
und ganz uberzeugt. dal? des Malers Verbtndung nut dem Model! den
uberzeugendsten Indizien zum 1 rotz ein rein kunstleriscbes gewesen.
Und er entwickelte Aic sianreicbsten Tbeorien uber das Verbaltnis,
cben Kiinstler und Modell, das von ganz, ganz besonderer Art,
zwischen
330
4>bne Vergleicb mit jedem anderen Verbaltnis auf der Welt «ei, —
Tbeonen, die den Beifall des Bildbauers Rubeck in Ibsens Drama er-
regt batten, von anderen aber mcbt anerkannt werden konnten.
Trotz Simsons unbedingter Diskretion batte man den Eindruck,
dai? in semen jungeren Jabren viele Frauen an dem scbonen und sym-
patbiscben Manne Gefallen gefunden baben mocbten. Von ibm selbst
war niemals ein ^Vort uber sein Verbaltnis zu dem anderen Gescblecbt
zu boren. Als aber die Rede auf einen Mann kam, der dieses und
jenes Makels bescbuldigt wurde, um dessentwillen Simaon ibn kraftig
verteidigte, und icb den Einwurf tat, er werde docb nicbt leugnen
wollen, dai? jener eine Scbwacbe fur Weiber babe, antwortete Simson
mit rolgender lustigen und ganz neuen Anwendung einea Horazscben
Verses: Ei was! Hanc veniam petimus damusque vicissim.
Lines Tages kam Dims on mit medergescblagener Miene zu mir :
George, mem verebrter Gonner, dieser Tag ist der traurigste meines
Lebens. — Was ist denn gescbeben? — Denken Sie sicb, icb steige in
€inen Trambabnwagen ; er ist voll besetzt ; icb bleibe drautfen steben ;
da stebt cine junge Dame von ibrem Platz auf und bietet mir ibn an.
Icb lebne naturKcb ab. Sie aber bebarrt darauf mit den Worten :
Dem Alter Aie Ebre!
Er war damals nicbt viel uber funfzig, sab aber bedeutend alter
aus und wurde sicb erst durcb die Artigkeit des jungen Madcbens des
Emdrucks bewutft, den er macbte. Er lebte keine zebn Jabre danacb
-mebr, starb also verbaltnismaJ?ig frubzeitig. Sein Tod wurde betrauert
von den Vielen, denen er ein Freund, und den sicberlicb nicbt wenigen
armen kleinen J3 earn ten und Kunstlern seines Kreises, denen er eine Vor*-
jsebung gewesen.
eduard weitsch VOLKSHOGHSCHULHEIM
DREISSIGACKER
Dr. Eduard Weitsch, der die VolkekdchscKule Dreiffigacker leitet, tat
bei Diedericts - Jena drei wertvolle Schriftcn rur VolkahocWnulfrage er-
flcheinen laasen.
Was ist Dreil/igacker ?
Ein altes Haus, Jagdscblotf, Forstakademie, Kaserne, Notwobnung,
ICorrektionsbaus lm Laufe von IV 2 Jabrbunderten und scbaut jetzt wie
«inst aus Obstgarten, Kastanienallee und Feldern von Vorrbonbergen
durcb enge Talscblucbt binab ins ^Verratal und uber Hugel und ^Walder
■auf Tburmger Wald und bobe Rbon.
331
Sein Sinn wurde eln anderer. Eine stille Statte im Lande ist e&
^eworden, wo werktatige Jugend frei atmen kann in Ferien vom Alltag.
Nickt Tor oder Treppe auf der sekr notwendigen freien Bakn des
Tiicktigen, sondern ein stiller Pfad aus der Scklackenkalde tagkcker
Hast zum Menscken.
Wenn der junge Werktatige mit 14 Jakren aus der ScWe ins
Let en tritt, springt die Kluft vor ikm auf zwiscken Erziekung und
Leken, imtner sick erweiternd, immer ratselvoller, immer vermcktender
fur alte Getter und immer gefakrKcker der Seele. S prick wo rtweiskeit
und Sckiekertum, Kateckismus und Bureau, Lesekuckmoral und Dasems-
kampf, Gesckicktsunterrickt und Politik, Religionsunterweisung und die
Frage nack dem letzten „Warum", dies sind Teilsprunge jener
Kluft. Wer kilft Ant wort Wen ? Sckule und Kircke? Uber Bord?
Ok mit Reckt oder Unreckt — uker Bord! Das Leken grinst! Das
Ergeknis : Zerriekenwerden oder Lekensklugkeit, Praktisckwerden ! Zu,
allem anderen feklt Hilfe und Zeit.
Beides will Drcitfigacker geken und kanns geken wie der Versuck
gezeigt kat.
Zeit — 5 Monate! Daa ersckeint wenig und ist viel! Bei manckem
geniigt eine Stunde fur das Wesentlicke ! Wir treiken ja keine Wissen~
sckaft, wir wollen kern System verkreiten, nickt Fokanten walzen, sondern
Fragen miteinander durckdenken, zu Ende denken, die aus der Jugend.
kommen, <ile sic mitkringt. Zu Ende denken wollen wir sie unter Ver~
arkeitung, kauptsackkck der Erfakrung der Jugend selkst, der Erfakrung
in Beruf und Leken, die gar nickt gering ist, kedeutsamer keispielsweise
als die durckscknittlicker Priraaner. Also nickt Historiker, sondera
Menscken, ikrer gesckicktKcken Einordnung kewutft, nickt Volkswirt-
sckaftler, sondern wirtsckaftKckdenkendes, verantw«rtungskewui?tes Volk,,
nickt Juristen oder auck nur Gesetreskundige, sondern Bewutftkeit
wacksenden Reckts, nickt Literarkiatoriker — keileike keine Literar-
kistoriker — sondern lekende Menscken, die Fukrer sucken unter unseren
Grol?en, nickt Pkilosopkiestudenten die in der Gesckickte der Weltw«s~
keit kewandert sind, sondern Pkilosopken kinter Pflug und Sckrauk-
stock — also und endKck: nickt Spaziergange am Rande der Wissen-
sckaft, sondern Wegsucker in Leken und Welt, nickt „Gekildete", sondern
Menscken. Dies ist das ZieL Vom Stoff, nur das NStigste! Werk~
zeugsckliff ? 5 Monate genugen!
Hilfe! Da tauckt Mitftrauen auf! Partei und Konfession werdeir
gewittert. Nickte von dem ! Wir kekennen, was wir sind und was wir
332
glauben, aber wir bekekren niexnand. Wir eind mckt „tolerant , aber
<gereckt! Sckuler kommen una geken mit gleicker politiscber K.oniession*
nur strecken sie ibre ^Vurzeln tiefer als zuvor. Acktung vor aem
Gegner ist oberstes Gesetz ; scklimxnster Vorwurf : „Waklrede , „Scklag-
wort"\ Gegner sind Irrende, oder BruJer auf anderem iA/ege, Feinde
sogar okne Fnedensmoglickkeit, aber nickt Sckurken oder Idioten. An<-
griffe auf una kamen von autfen ker, reckts und links. Unsere Jungens
stellten sick vor uns nut Jem Sckild in der Faust, reckts und links, wer
will, frage sie selkst.
ITilie ist uns nickt riebung der Masse a, sondern Griff zeigen zu
menscklickem Aur w arts einzelner, die wieder anderen Hilre geben u. s. r.
rLlxe geben wir nickt in vortragen uber Gottweiswas; wir, sind nickt
Dozenten! Erste Frage an die Scnuler war: „Was sucktet ikr, als ikr
zu uns kamt? So entstand Lekrplanaknkckes. „Wie denken Sie uber
dies oder das?" ist 31e erste Frage jeder Stunde und so wackst unsere
Metkode, die Aes Rundgespracks, bei dem alle geben und nekmen und
bei. dem auck der Lekrer der Dumme sein kann. Ob die Sckuler aus
sick kerausgeken? FreiKck! Geradezu verbliiffend! Man mul? sie nur
nickt erst durck Dozententum erscklagen und Gaste (neugierige ' und
interessierte) versckeucken.
Und Unkesckeidenkeit und Dunkel? — Nein Besckeidenkeit ist
unser Ziel und sie wackst, je mekr Sckeuklappen fallen, der Horizont
sick weitet, das Problem geseken wird.
Das ist und das tut Dreii?igacker.
Aber so kore lck fragen, entfremdet ikr nickt die Werktatigen der
Arbeit, scbadet der Geist nickt der Meckanik, wollen ^ie Sckuler in
ikren Beruf zuruck? Verwobnt ikr nickt? Von zwanzig wollen zwei
nickt zuruck Die aber wollen als 18 bis 26 jakrige nock immer dasselbe, was
sie scbon als 15 jakrige wollten. Im ubrigen kerrsckt ^ie Auffassung,
dai? meckamscke Berufsarbeit erst moglick ist, bei entspreckendem geistigen
Gegengewickt am Feierabend. Verwoknung? Im Heim wird spartanisck
gelebt, nack Karten und Koklen minimum, sckon der Etat fordert es.
Das Fazit: Der Lekrgang auf dreimaligen dringenden Antrag der
Sckuler um 8 Tage verlangert (welckes Gymnasium mackts nack?) Der
Absckied sckwer, sckmerzlick, voll Dankbarkeit auf beiden Seiten (denn
auck wir Lekrer gewannen,) das Heim nunmekr fur den ersten Kurs,
den.Urkurs, eine Leuckte aus der Vergangenkeit in i&e Zukunft, weg-
kellend von Feme, Opkd, sein Land.
333
STEFAN GROSSMANN ARTHUR HOLITSCHER.
DER LENINIST
Der Ausstellungssaal der Berliner Sezession dient a ten as V orlesungs-
zwecken. Die Leute kesucken lkn dann nut Vorlieke, denn der Saal
wird verdunkelt, wenn Jer Vortrag keginnt, una man kann kein Bud
an der Wand im Finsteren erkennen, gesckweige denn kesicktigen. Es
ist ein ungemem kekaglickes Gefukl, zu wissen, dab da neoen mir ganzff
Reiken von BUdera ausgestellt sind, datf ick aker augenklicklick ein.
Reckt, ja, da ick darur kein Eintrittsgeld kezaklt kake, die Pflickt kake,
die Bilder nickt anzusckauen. Das erklart vielleickt die Beliektheit
dieses Vortragssaales.
Als ick eintrat, war der Saal kia auf das letzte Platzcken gefullt.
Hunderte Kopfe im Dunkeln. Beleucktet kloi? der Vortragstisck. Da
sal? eine ekrwurdige, weu?kaarige Ersckeinung, ein ki#cken korpulent, mit sekr
weicken, grotfen, aker ausdrucksvollen Handen. Sie katte eine Hornkrille
auf dem viereckigen Gesickt und las von emem Manusknpt. ^ Plotzlick
entdeckte ick, dai? unter dem langen Tuck, das uker den Tisck des-
Vorlesers gekreitet war, ein paar- macktige Stiefel kerausragten. Die
konnten nickt einmal einer Frauenrecktlenn gekoren. Diese btierei
kedeuteten einen Mann. Ricktig stellte sick kei ganz exakter Besicktigung
keraus, da I? die ekrwurdige, weilZkaarige Ersckeinung mit der Bnlle der Scknrt-
steller Artkur Holitscker war. Ick korte lkm zweiemkalk Stunden zu.
Der feminine Emdruck kam immer wieder. Hoktscker sprack uoer
Sowjetrulfland, in dem er in dies em Winter drei Monate zugekrackt
katte. Er sprack mit starkster innerer Ergnffenkeit. Es gab Augen—
klicke, in denen man furckten mul?te, dal? der Vortragende in Tranen
auskrecken werde. Jedenfalls fuklte der Zusckauer, datf es Holitscker
im Halse wurgte und im Herzen nock mekr. Solcke ortentkcke
Erregungszustande bei einem woklvorkereiteten Vortrag keweisen eine
ganz selten gewordene innerkcke BeteiKgung des Redners an semetn
Tkema und daneken auck ein klem wenig psyckiscke Tecknik. Hoktscker
war in tiefster Erregung, als er von Sowjetrutfland sprack, aker er
wufc dock auck, dai? er am 7. Marz 1921, akends ackt Ukr, im Saale
der Berliner Sezession, Kurfurstendamm 24, diese Erregung kerzuzeigen
und mitzuteilen kake. Es ist in jedem guten Redner ein Quentcken
Sckauspielerei vorkanden, die Dosis mui? nur auf einer Apotkekerwage
abgemessen sein. Ein Gramm zu viel und wir werden gegen die hacke
des Redners miftrauisck, ein Gramm zu wenig und wir werden durcn.
die affektlose Sacklickkeit des Redners gelangweilt Holitscker katte-
mit dem Takt des Kunstlers und mit seinem feinsten Instinkt genau
akgewogen, wie viel innere Erregung akzugeken war, aker er gak, von
der Stunde kingerissen, von der Spannung der kunderte Zusckauer im*
334
Dunk el verfukrt, urn zwei Quentcken Erregung mekr als er keaksicktigt
katte, diese zwci Quentcken erzeugten das Geiukl: Ukerstromendes
weiklickes Herz! Dann und wann katte Hblitscker selkst die Emp-
findung, er sprecke zu lyrisck und dann ermannte er sick und zeigte,
wie kart er denken konne. Er protestierte dagegen, dal? man inn nock
fur einen Pazifisten kalte. Das war er einmal, als die Anderen Kriegs-
menscken waren. Jetzt ist er Ankanger der roten Armee, Freund von
Masckinengewekren unter der Voraussetzung, dai? sie in der ricktigen
Ricktung aufgestellt sind. Gott weif?, ick wurde kei diesen militariscken
Strammkeitsversucken des seelenvollen Redner* den femininen Eindruck
Hoktsckers erst reckt nickt los. Es war eine etwas vorsatzlicke Harte,
die da zum Ausdruck kam, und sle war nickt unkeckngt ukerzeugend.
Holitscker erzaklte z. B„ dai? Trotzki lunfzekn Soldaten der roten
Armee wegen ernes verkaltnismaisig unwicktigen V ergekens kake rusikeren
lassen, und er lokte den Zustand eiserner Disziplin, der durck dieses
Experiment — ick erinnere mick dieses Wortes genau — gesckaffen
wprden sei. Aker ick und viele Horer glaukten Holitscker die eiserne
Maske nickt. Viel naker liegen lkm gewil? die Einwande, die wir alle
gegen die Sckandlickkeit ernes solcken „Expenmentes" mit funfzekn jungen
Menscken erkeken. ^vVer mit Mensckenleken experimentieren kann, der
ist ein Morder, ok er. nun weii? oder rot kostumiert ist, und Niemand,
der lrgendeine Ermordung mit welcker Tkeorie immer killigt, kat das
Reckt, mit tranenvoller Stimme die' Ermordung Anderer zu keklagen.
Das Pkanomen des Daseins darf von keinem Menscken willkjirlick ak-
gekrocken werden: HeiKg ist das Leken! Auck der pkilosopkiscke und
soziologiscke Scklackter kleikt ein Scklackter.
\Vas HoKtscker am meieten imponiert kat, das ist die Grundlick-
keit, mit der Lenin die kurgerlicke Welt akgescjiafft kat. Es gikt in
Moskau, erzaklte er, kein Heim mekr — : weil es nock Mass en quar tier e
gikt, es soil keine Intellektuellen geken, weil nur in der Vereinigung von
Hand- und Kopfarkeit das Heil liegt, es gikt keinen Privatfcesitz
mekr, es gikt keinen pnvaten Handel mekr. es gikt keinen Gekurtenzwang
tur die Frauen mekr — in jedem Lazarett kann jede Frau sick ikres
keimenaen JLekens entledigen — und man kann, wenn man will, seeks-
mal oder acktmal im Monat keiraten und sick sckeiden lassen. Alles
das ist ungekeuer radikal in der Verfassung So wjetr uplands und in
vielen Regierungsverfugungen festgelegt worden. Ick mufi, wenn ick
solcke Erzaklungen kore, immer wieder an meinen alten Freund Engelkert
Pernerstorfer denken, der mit Vorlieke und immer wieder diese wieder-
kolenswerte kleine engliscke Gesckickte zu erzaklen pflegte: Ein radtkaler
Sozialist stekt vor einem nuckternen englisckeri Rickter wegen eines
Aufrukrdeliktes. Der Revolutionar platzt vor Energie. Er leugnet
335
mcht, er sagt: „Ick will die kurgerkcke Ges ellsckaftsordnung umsturzen!
Der Rickter tut dem jungen Mann nickt den Gefallen, lkn zum
Martyrer zu macken, lm Gegenteil, er sprickt den Feuerkopr trei.
Nackdem er dem vert luff ten Angeklagten das Urteil mitgeteilt, sagt er
zu dem jungen Mann: ,,Sie smd frei. Gen en Sie kinaus una sturzen
Die die kurgerkcke Ges ellsckaftsordnung urn! Lenin und seine Leute
sind kinausgegangen und kaken umgesturzt. A Der Holitscker ist ein viel
zu redkcker Denker und ein trotz aller Revolutionskystene viel zu
sckarfes Auge, um nickt zu seken, dai? die kurgerkcke i^elt zwar aus
dem aui?eren Das ein, aber nickt aus dem Inner en der Zeitgenossea aua-
zutreiken war und deskalk, well der Burger drinnen sitzt, auck in den
Leninist en, deskalk wird der russiscke Traum zusammenkrecken, aucn
wenn Hunger, Blockade und der Gegenkrieg der Nicnt-Kommumsten
inn mcbt bedrangten.
Holitscker sckien dies aucb durcksckimmern zu lassen. Er vergkck
das kpmmunistiscke Rutland mit dem Sckicksal des greisen Tolstoi, der
vor s ein em Tode sein Heim und seine Leute verkel? und arm und
kungernd in die winterKcke Ode irrte. Aus der Entfernung latft sick
das alles sckon bewundern. Die Tolstoi kekten, wurden uber diesen
Greisenentscklul? sckwermutig. Und dart man ein V oik wie das russiscke
mit einem kockketagten Greis vergleicken, der Alles, was das Leken an
Freuden und Bitternissen kot, kinter sick katte? Und wurde sick Lenin
nickt hocklickst kedanken, wenn man seine kommumstiscke Planwirtsckaft
mit dem Verzweiflungsentscklui?, 'mit dem vers ckleier ten S elk stmordver suck
Tolstois vergleickt? Ick glaube, Holitsckers seelen voile Rede fur Lenin
wurde in Moskau von Lenin konfisziert werden, und ick will nur
koffen, dai? Hoktscker mannKcke Disziplin genug katte, einzuseken, dai?
die Konfiskation seiner Begeisterungen notwendig und deskalk wunsckens-
wert ist.
Der Vortrag dauerte zweieinkalk Stunden. Die Bergpredigt war
kurzer. ^Vakrend so langer Vortrage mul! ick mick immer an ein
Gesickt klammern, das mindestens so viel sagt wie der Redner. An
diesem Akend katte ick Alfred Kerr vor mir, und es war erstaunKck,
was alles in seinem Gesickt zu lesen war: Er griff enkeit und Ironie,
Entrucktkeit und Berliner Ratio nalismus, Verzweiflung uker die Mensck-
keit und uber den Redner, immer wieder aber eine keitere, dankbare
Verteidigung des wirklicken Lekens, des gemeinen und seligen Daseins,
das es nickt verdient kat, von den grotfen und kleinen Tolstois post
vitam verleumdet zu werden. Je langer Holitsckers Vortrag dauerte, desto
deutlicker war der Sieg des Zukorers Alfred Kerr.
336
friedrich wolf DER KAFIG IN DER NACHTIGALL
oder
VOM SEGEN DES VERBRECHERS
Einea Abends — es war im Dezember — erwog Mattkias, ok er *
das Asyl wieder aufsucken, oder lieker eine strafbare Handlung begeken
solle. Er entscklol? sick fur das Letztere.
Er kestieg geflissentKck die Tram und wurdigte die untergeordnete
Frage des Sckaffners: nock jemand okne Fakrkarte? keiner Entgegnung.
Erst kei der dritten Fakrt gelang es ikm, vom Kontrolleur gestellt zu
werden. Die Masse entsckied sick unverzuglick fur den Sckaffner durck
Entsendung dreier Zeugen ; zwei Sckutzleute nakmen sick des Falles an ;
im Polizeirevier wurde der Tatkestand aufgenommen; Mattkias — er
katte keinen Groscken mekr — des Betrugs im Vollendungsfalle uker-
Tviesen, die Zeugen notiert, der Zugang nockmals uberkort; dann endlick
bekam er Brot, Kaffee und seine Zelle.
Mattkias atmete auf. Man kiimmerte sick um ikn; man katte seinen,
Namen erfakren wollen, man katte sick fast Kekevoll mit seinen Familien-
verkaltnissen besckaftigt, in seine Aknenreike sick vertieft; man wackte
drautfen um seinetwillen ; morgen wiirden wieder Menscken kloi? seinet-
willen sick kemuken, sckreiken, Fragen stellen, kin- und kerlaufen, viel~
leickt sogar ein Auto kestellen (er mul?te dock befordert werden). Er
gak mit einem Mai viele Dinge, die um seinetwillen gescbaken, Menscken,
denen sein Leken Aufgaken stellte; -was tat es, ok unter dieser oder
jener Benennung? Ja, drau#en wackte man diese Nackt mckt der
seelenlosen Dienstvorsckrift gemai?; man wackte um ikn!
Mattkias versank in seiner Zelle in einen tiefen und woklverdienten
ScLlaf.
Am folgenden Morgen weckte ikn eine rauke Stimme : „ Aufsteken!""
Er sprang kock; er frostelte; sckon sckok man einen groi?en Napf
keil?en Kaffee und em Stuck Brot kinein. Es waren groJ?e starke
Manner in Uniform, gleicksam in Livree, die ikn kedienten, die ikn
weckten, in deren Gedanken er lebte, deren Dasetn er einen Sinn ver~
liek. Ikr etwas karsckes auj?eres Beaekmen war offenbar nur die rauke
Sckale lkrer starken, mannlicken Lieke zu dem Gegenstand, an dem ikr
Pflicbtbewuf?t?ein sick entzunden durfte.
„Nickts als Kleindreck! Huknermist!" meinte der Kommissar kei
der Aufstellung ^.es zweiten Protokolls. „ Vsf&s beabsicktigten Sie mit
lkrer Fakrt ?" Das klang durckaus wurdig und der Bedeutung des
337
Augenkkcks gematf. Mattkias sckwieg feierlick. — Der Kommissar*
orullte: „Sie! ^/ie konnten Sie es wagen, okne Billet zu fakren?*
Mattkias wollte gerade antworten : wie Sie urn mick sick kemuken
Hcrr Kommissar! ^Vieviel AA^armeeinkeiten Sie zersprengen! Aker
er furcktete, des Beam ten Evolution und Arkeitsfreude zu zerstoren; er
sckwieg. — „Zum Donner wetter" kauckte ikn die glukende Kugel an^
„geken Sie den Betrug im Vollendungsf alle zu ? !" Mattkias spurte deut-
lick, dal? kier der Angelpunkt des ganzen Problems lag, dai? die Tatsacke,,
aai*. er der Gekende war, sick nickt linger mekr verkeimlicken lie!?; und
so sprack er mit Ukerzeugung: I ck geke zu."
„Akfukrenr
Nun kegann erst die suklimere Teilnakme, die man seiner Person:
widmete. Er wurde im Auto einem imposanten Bau zugefukrt, dem
TJntersuckungsgefangnis. Wiederum kamen starke Manner in einfackerer
Livree, die sick um ikn kemukten, andere, die nack seinem Stammkaum
sick erkundigten. dritte, die den Tatkestand nockmals nackpruften, wieder
andere, die eine Akte anlegten. Er lie!? sick versckiedentkck von
Assessoren, einmal sogar von einem Landgeri enter at interviewed Seine
Memoiren wurden — in einen klauen Deckel gekeftet — von Staatswegen
gesammelt, registriert und der Bikliotkek des imposanten Gekaudes einverleikt.
Selkst der Burockef mul?te sick mit ikm kesckaftigen ! Der Land-*
gericktsrat, zwei Assessoren mulfcen sick mit ikm kesckaftigen. Der
Aktenkefter mufite sick mit ikm kesckaftigen. Zwei Gericktssckreiker-
aspiranten mul?ten sick mit ikm kesckaftigen und ein Verkor nock ein-*
mal aksckreiken, weil sie „inkriminiert" mit „g" gesckrieken. Der eine
von ikn en kam zu spat zum Mittagtisck, und es gak eine Szene, kei der
eine Koklensckaufel unglucklick flog und der Arzt kinzugezogen werden
mutfte. Ein entfeVnter Arzt mutfte sick also kesckaftigen.
In einer Nekenverkandlung mutfte die Reinigung des Tramsckaffners
vom Verdackt der Beikilfe zum Betrug im Vollendungsf alle stattfinden.
Drei Zeugen mu&en geladen, auf die Heiligkeit des Eides kingewiesen
und entsckadigt werden. Die ganze Nekenverkandlung mu&e sick mit
ikm kesckaftigen.
*
Es -wurde Mattkias immer offenkarer, daL es sick kier unmogKck
um das nicktgeloste Tramkillet kahdeln konnte, nock um den Versuck,
auf einer gutgekeizten Polizeistation zu ukernackten, sondern dai? es von>
ikm in jener unmerklicken Sekunde akgekangen, ok Hunderte von.
338
Menscken durck ikn die Moglickkeit erlangen sollten, ikre Pflickt zu
errullen, Er spurte deutkck, wie all die Menscken, die er kesckaftigte,
vom Landmen cats rat kis zum Aktenkefter, aus einem leisen und sckeuen
Gerukl der Dankkarkeit sick urn inn kemukten ; er spurte den inneren
Segen seiner Tat, er kam sick wie em stiller weitkinwirkender A^okl-
tater vor, der vielen Menscken Auftrage erteilte und Arkeitsgelegenkeit
versckarfte; wie em Juwel, das man einscklou, damit es mckt gestoklen werde.
Als um Mittag wieder ein Beamter [in kleiner Livree ersckien,
lkm seine Brotsuppe kmstellte und mit grower Sorgtalt fainter sick zu~
negelte, da lackelte Mattkias mckt okne Stolz.
*
Der Landgencktsrat a{>er legte das Frucktmesser kin und streckte
sick lang. Derweu sein Weik lkm die Rolle unters Haupt sckok und
seine gefurckte Stirn glattend, maknte: „Du ukerarkeitest Dick, Sckatz**,,
knurrte er streng, dock mit GenuQ: „Nur Arbeit adelt!
ROBERT WALSER PORTRAT
Sein V ater stammte aus Makren und war Musikdirektor in Aarau..
Er selkst legte rrukzeitig Beweise von Intelligenz ak. Wo andere muksam
lernten, spielte er. Die Lekrer erkkckten in ikm etwas wie ein Genie
und mockten darin reckt kaken. Bei sckonem Wetter pflegte er die
Sckule emiack zu „sckwanzen , d. k. er ging spazieren. Jedermann katte
lkn nek, weil er so oiienkerzig, freimutig, gutmutig war, so freundkck
lackelte, so sanit sick kenakm, so lustige, kluge Augen katte, so lekkait
sprack und keinem lm Weg war, kockstens dann und wann sick selker.
Er wuiste nam lick mckt, was er werden sollte. Frukentwickelte kaken
mit Beruiswakl grof?e Muke; sie versteken alles und geken mit lkrer
Pkantasie uber V erkaltmsse und Dmge kinaus. Es triek mn zur Kunst,
zur Literatur, zum Geistigen und Sckonen, und so iukr er ernes Tages,
ick weil? mckt, um wie viel Ukr, nack Wien, das ja eigentkck seine
Heimat war. Dort lernte er „Menscken' > kennen, darunter Bakr, der
lkn anlaiHick ernes Tkeaterakendes riormannstkal vorstellte; es wurde
ein Stuck von rlekkel gegeken. Unser Gegenstand reiste kald nack
Muncken, zu Franz Blei, dieser mackte lkn auf Bucker, Gegenden und
Leute aufmerksam, so auck aui mick, und so lernt' ick ikn kennen..
Ick woknte dazumal in Zurick. In meine Stuke trat einer, der allem
Ansckem nack arm aker ]ung und darum koffentlick wokl auck ein
biscken leicktsmnig war. Goetke sagt lm Alter: „Weil ick nickt wild
■war, kin ick keute weise . Dies en passant. Er fing sogleick an zu
reden, und wie ers tat, waren wir kereits vertraut. Er glick ein wenig
339
Jem Konig Ludwig von Bayern, icb sagt* es lbm, una er gestand, dau
es ibm scbon viele gesagt batten. Von Zeit zu Zeit tubr er nut der
Hand durcb's dicbte dunlde Haar. Die Hande zart, der T eint eben-
falls, die Stimme angenebm, der Anzug lotting, Scbube nicbt lm Lest en
Zustand, aber dafur ein tadelloses, icb meine, sebr, sebr sympatiscbes
Benebmen. AkVir nakmen selbstverstandlicb sogleicb die ganze neuere
Malerei und Dicktung durck und redeten uber Musik wabre Abkand-
lungen, auck uker Frauen und gingen dann zusammen m's Katfeebaus.
Ick gewann ikn okne weiteres Keb, er war so mutig, so zart, so zur
FrobKcbkeit aufgelegt, so generos, uneigennutzig und maebte uber sein
gewif? recbt fragKcbes Dasein, will sagen uber seine Armut, nickt die
kleinste sentimentale Bemerkung. An sick scbien er nur nebenbei zu
denken, als sei er ein ikm ziemlick gleicbgultiges Wesen. Ofters gingen
wir auf den Zuricbberg, die bubscbe Universitatsstrai?e entlang, auck
traren wir uns Dei nan tagltck im Warenkaus Jelmou, oken lm vierten
Stock, bei einer Tasse Kaffee. Bald danacb reiste er mit unsagKck
genngeh Mitteln nack Berlin, -wo ick ikn ein V lerteljakr spater wiedersak,
indem auck ick nur den Ausflug erlaubte. In Berlin sckrieb er fur
Zettungen und suckte sick, so gut es ging, zu amusieren. Da er sick
uberall artig zeigte, mackte er Damenbekanntscbaften, aber im Zeitungs—
aienst katte er wemg Glvick; Benckterstatten gelang ikm nickt reckt;
orrenbar besaj? er bierfur mcbt genug Ader, genug Gabe. Er legte sick
mebr auf a Lesen, als auf s Scbriftstellern, wutfte stets samtbcbe intelbgente
Neuigkeiten. Sein Interesse umfatfte Gemaldeausstellung, Konzert, Tkeater
und „Liebe k \ Er katte eine Scbwester, die sicb sekr urn ikn sorgte,
in deren Augen er zu nickts Recktem taugte, worin sie, wenn man
durckaus -will, reckt katte. Bruder werden jedocb oft von Scbwestern
total mil?verstanden, aker sicker manckmal umgekekrt ebenfalls. Das
sind Sacben. Nicbt lang, und so fubr er nacb Nizza, spielte dort,
gewann ziemkcb viel Geld, verlor aber alles wieder. Innerbalb von
zebn Minuten sab er sick woblbabend und bettelarm. Nun sab man
ibn in Portugal, wo er sicb lmraerbm nur kurze Zeit aufbielt, obscbon
ikm das ICkma zusagte. Und jetzt? Wo lebt er? Wenn icb s wuiste,
wurd^ lens wakrsckeiDUck sagen, aber icb weus nicbt emmal, od er
uberkaupt nock existiert. Gelekt kat er wie einer, der 3ekr rem ver—
anlagt ist, Kultur besitzt, mit Sinn, Hers! una Verstand fur alles Scbone
begabt ist und sicb stets bedrangt, gelangweilt siekt, weil er „vernunftig
sein soil, lbm das nicbt gebngt, da es mm nicbt liegt. Nun, er wird
sicb wokl lrgendwie kaben erkalten konnen. Unglaubbck ist s, wie mit—
unter Unpraktiscke sick als praktiscb bewakren. Wenn's lbm gut gebt,
rreut^s micb, cj.enn dies wurd* er meiner Meinung nacb verdienen. Gibt'a
denn nicbt immer nock im Leben bie und da gluckbcbe Fugungen?
340
AUS DEM TAGE-BUCH
DER AUFGESCHOBENE
TRAUERTAG
Als aicb das Erdbeben von Lissabon
ereignete, ubte die Katastropbe auf die
Gemuter der ziviliaierten MenscbKeit ge-
waltigen Eindruck aus und es wurden die
Ideengange von Pbilosopben fortan in
andere Bahnen gelenkt. Es kamen damals,
im Jabre 1755, 30 000 Menscben um ; so-
viel wie an irgendeinem ^rotfkampftag'''.
__Unsere Zeitgenosaen sind robustereNaturen.
2 1 / 2 Jabr nach Fried ensscblul? sollte end-
licb ein nationaler Trauertag abgehalten
werden. Er wurde aber wieder bis auf
weiterea, voraussicbtlicb bis zum nacbsten
Jahre verschoben. Wesbalb? Unter anderem
macbte em gemutvoller Menscb in der
Zeitung warnend darauf aufmerksam, dafi
am 6. Marz, der urspriinglicb dem Ge-
dacbtnis von Million en gefallener Manner
geweibt -werden sollte, die Leipziger Muster-
messe beginne. Im Hinblick auf die zu
erwartenden Auslander .... da gerade an
dicsem Tage zablreicbe Extraziige usw. . .
Man kennt den Text und man kennt die
Melodic. Es gibt senr viele Leute, die
der Meinung sind, iiber den Krieg sei nun
genug geredet worden, man solle vergessen
und vergeben und reaolut, obne sentimentale
Betracbtungen, die Betriebaamkeit wieder-
aufnebmen. Wenn spatere Gescblecbter
init Grauen auf unsere Epocbe zuriick-
tlicken, dann wird noch grower als ibre
Abscbeu vor den Greueln des Weltkrieges
ihre Veracbtung einer Menscbbeit sein, die
durcb den Millionenmord nicbt zur Ein-
kebr gebracbt werden konnte. Nie ist das
Wort : „Die Toten sterben scbnell"' so
wabr gewesen, -wie heute. Scbiebt den
Trauertag nicbt auf, verzicbtet ganz da-
rauf ! Die wertvollen Menscben, deren
Wesen durcb den Tod der Briider und
Kameraden bescbattet wird, deren latente
Trauer sich mit den Empfindungen des
passes und der Emporung miscbt, bediirfen
ernes staatlicb festgesetzten Trauertages
nicbt. Und die anderen, die ibn gelegent-
licb mal in der flauen Gescbaftsaaison ab-
balten wollen, die braucben ibn erst recbt
nicbt. Jan AJtenhurg.
DIE ZERSTQRUNG DES THEATERS
Deutacblanda Tbeater war vielfaltig
und reicb, weil es in Berlin, in Miincben,
in Dresden, in Weimar, in Wien jeweilig
blubte. Es konnte blilben, weil subven-
tionierte Tbeater nicbt reine Gescbafts-
theater sein mutften. Nun sind durcb die
Armut der Lander und Stadte dieae Sub-
ventionen bedrobt. Nocb acblimmer aber
durcb die Kleinlicbkeit der lokalen Parteien.
Horen Sie : Daa (ebemala koniglicbe)
Dresdener Scbauapielbaua bekommt seine-
Subvention jetzt von der saebsiscben Re-
gierung. Nur so kann es, nur bo konnte
es einea der fubrenden Tbeater Deutscb—
lands bleiben. Nun baben die „Betriebs-
rate der saebsiscben Stadttbeater" von
Leipzig, Cbemnitz, Plauen und Bautzen
an die sacbsiscbe Regierung erne Eingabe
gericbtet, dal? die staatlicb en Zuscniisae
kunftigbin nicbt mebr nur dem einen
Dresdener, sondern alien saebsiscben »,Kul-
turtbeatern'* zuzuteilen seien.
Icb will nicbts gegen das Kulturtbeater
in Plauen oder Bautzen sagen, aucb nicbta
gegen das Kulturtbeater in Cbemnitz. Aber
das weif? icb, daff das Dresdener Scbau-
spielbaus aufgebort bat, eine erste deutscbe
Biibne zu sein, wenn diese Prozcntual-
gerecbtigkeit vom saebsiscben Landtag
akzeptiert wird. Dann wird auf alle
Kulturtbeater von Pirna bis Halle, von
Bautzen bis Cbemnitz, von Plauen bis
Riesa eine versebwindende Teilsumiue
fallen, die Landcrtb eater In Dresden aber
werden vernicbtet sein.
341
Die Angelegenheit ist aus zweierlei
{Jrtinden erscnreckend. Erstens weil die
Abgeordneten von Cbemnitz, Rieaa, Leipzig,
Plauen, Bautzen naturlich gegen die Ab-
geordneten von Dresden sich verb tin den
werden. Es ist bei dem stupiden Lokal-
fanatiamus der vor denWahlern kriecbenden
Abgeordneten an eine gro&tiigige Losung
nicht zu denken. Im besonderen, da die
Betriebsrate, also aucb die sozialistischen
Parteien, sicb der theater zerstorenden Be-
wegung angeschlossen haben. Die Demo-
kratie, das mufi leider gesagt werden,
wirkt bier theaterkultur-vernichtend. Die
Fiirsten, die in Weimar, Meiningen, Dresden
residicrten, wutften schon, warum sie nur
ein Theater subventionierten und hoch-
brachten.
Zweitens ist zu bedenken, dal? das
flachaische Beispiel ansteckend wirken wird.
Was die Sachsen von ibrer Regierung
tegehren, das werden die Betriebsrate und
Abgeordneten von Ntirnberg,. Furth, Augs-
fcurg, Ingolstadt, Paasau, Bamberg und
Wiirzburg vom bayriachen Staat ver-
langen. Und morgen werden wir die
Bewegung im preutfiscbcn Landtag baben.
Die sachsischen Betriebsrate gaben das
Signal zur Z erst o rung der bocbstebenden
deutscben Theater. Was iibrig bleiben
wird, das wird ein allgemeines, fades,
mittelmaftgea Biirgertheater aein. Das
Normaltheater von CKemnitz und Bautzen
wird sich Uber ganz Deutachland ausbreiten!
EIN 14JAHRIGER KRITIKER
Eines Abends fiel Schauspielern des
Heaaischen Landestbeaters ein junger Mann
auf, der sicb in einer Loge neben auf-
falligen Damen nocb auffalliger benabm.
Es wurde featgestellt, daff der Jiingling
Freikarten der Intendanz benutzts* die ibm
auf seinen Antrag als Kritiker bewilligt
wurden. Der junge Mann batte das
14. Lebensjabr nocb nicbt ganz erreicbt.
Er batte der Intendanz nachgewiesen, datf
er fiir Zeitungen in Darmstadt, Leipzig,
Hamburg scbreibe. Nun machte daa jugend-
licbe Alter des Kritikers die Intendanz
stutzig. Sie iibergab den Fall dem Betriebs-
rat. Dieser beschloi?, dem Kinde die
Kritikerkarten nicbt mebr zu bewilligen.
Aber das lief? sicb der energische Knabe,
er beifit Buscbmann, nicbt gefallen, er
appellierte an die Fach organisation. Leider
gibt ea in Darmstadt keinen Verein der
Theaterkritiker, sonst ware wobl daa
Landestheatcr sofort boykottiert worden,
sondern blol? einen Journaliaten- und
Scbriftstellerver ein. Vor dieser Instanz gab
Buscbmann an, datf er allerdings erst
14 Jabre alt aei, dock sei er bereits mit
11 Jabren wegen Friihreife von der Scbule
gegangen — er bat also im Ganzen eine
funfjahrige Scbulbildung genoasen — aeit
zwei Jabren scbreibe er Kritiken. U. a. legt
er eine Besprecbung des „Faust" von
Avenarius vor, sie war nicbt ablehnend.
(O, Avenarius!) Der Darmstadter Jour-
nallsten- Verein liihlte sicb nicht befugt,
ein Urteil oder ein Gutachten abzugeben!
Er beschloi?, statt dem Kritikerknaben
kurzweg daa Handwerk zu legen, den Fall
dem Reicbsverband der deutachen Presse,
vorzulegen. Dieser wandte sicb an den
„Verband Berliner Tbeater-
kritiker". Und nun aei die Entschei-
dung der Berliner Kritiker wortwortlich
angef iihrt :
„Zu dem Fall Buscbmann ist zunachst
grundsatzlich festzustellen, dal? die An-
mafiung eines Theaterbetriebsratea, iiber
die Zulassung von Personen zu ent-
scbeiden, denen zum Zwecke der Kritik
Tbeaterkarten zur Verfiigung geatellt
werden, mit aller Scharfe abgelebnt
werden mufi. Die Beatimmung dartiber
iat ein naturlicbes Recbt der Prease,
d. b. der verantwortlichen Leiter der
Zeitungen. Ea widcrapricnt iiberdies den
Voraussetzungen ' einer unabhangigen
Kritik, wenn diejenigen, urn deren Pru-
fung und Beurteilung ea sicb handelt,
342
Xinfluff auf die Auswakl der zur Kritik
kerufenen Personen zu nekmen versucken.
Was die Anregung anlangt, fur den
Beruf zur Kritik erne Altersgrenze nacK
untcn festzusetzen, so konnen wir eine
solcke meckaniscke Bestimmung nickt be-
fiirworten, da die individuclle Reife bei
versckiedenenMcnscken auf versckiedenen
Alterastufen eintritt. Im allgemeincn
empfieklt es sick gewiff nickt, die Tkeater-
fcritik jungen Leuten von 14 1 / 2 Jakren
anzuvertrauen, da auf dieser Alterastufe
in der Regel die Sckulkildung nock nickt
vollig abgescklossen, der Ckarakter nock
nickt gereift, und die Erfakrung, auf der
die Vergleickung von Kunstleistungen
kerukt, nock nickt erworken ist. Dock
gibt es, wie auf jedem Gebiete geistiger
Tatigkeit, auck auf dieaem Auanakmen
Von der Regel. Die als Proken vor-
liegenden Zeitungsartikel dea jugendlicken
Kritikers sprecken fur cine auflerordent-
licke Frukreife; sie sind trotz mancker
jugendlicken Wenduhg Zeugnia einer
aufmerksamen Beobacktung und Nack-
denklickkeit und erweiaen aick in der
Form als durckaus druckfakig. Zu einem
Proteat gegen den jugendlicken Kritiker
ist also in diesem vorliegenden Falle ein
kaltbarer Grund nickt gegeben."
Mit einera Wort: Der Verb and der Ber-
liner Tkeaterkritiker entsckied aick fur die
Zulassung des mit 11 Jakren aua der
Sckule entlassenen, nock nickt 14jakrigen
Kritikera. Immerkin sak er von einer
Strafverfugung gegen daa Heaaiacke Landes-
tk eater ak. Er kegnttgte sick mit einem
atrengen Verweia an den Betriebsrat. Die
Bestimmung dariiber, wer rum Kritiker
teatellt werdc.; sei daa ,,natiirlickc Reckt
der Presae, d. k, der verantwortlicken
Leiter der Zeitungen." Wem sind diese
Leiter verantwortlick? Dem Publikum?
Daa kat nickta dreinzureden. Den Redak-
teuren? Die erfakren erst daa vollzogene
Engagement und sind gewoknt,zu sckweigen.
Sick selbst? Aker sie stellen ja Knaben
mit fiinf jakriger Sckulbildung als Kritiker
an. Und solcken Ricktern sollen sick
Sckauapieler, Dickter, Musiker unterwerfen,
okne auck nur ein Reckt des Einsprucns
zu kaken?
Die Entsckeidung des Berliner Kritiker-
vereins war scMiefflick dem Reicks verb and
der deutscken Presae dock gar zu torickt
und er empfakl in einem Begleitwort den
Presae- Verbanden, im Interesse dea An-
aehens der Prease kritiscke Aufgaben dock
nur „solcken Personen anzuvertrauen, deren
Lebensjakre das Vorkandensein der not-
wendigen Erfakrung annekmen lassen."
Die Stellung dea 14jakrigen Kritikers
wird in Darmstadt trotz dem Gutackten
der Berliner Kritiker nickt zu kalten sein.
Ick acklage vor, den Knaben Busckmann
nack Berlin zu bringen und ikm bier ein
Kritikeramt zu iibertragen. Was brauckt
denn eigentlick ein kauptatadtiscker Kritiker 1
Kurze Sckulbildung? Vierzeknjabrigkeit?
Daa Wicktigste ist: Der Mut zur Dreiatig-
keit, uber Alles, uber Jeden, mit deutack
geredet, Ckuzpe zu reden. Platz fiir den
Knaken Busckmann in Berlin!
SCHICKSALE VON BOCHERN
Ein Teilnekmer sckreibt mir von der
Lelpziger Bugra-Mesae: Verekrter Herr
Groffmann! Sie sollten nock ganz anders
gegen die sick neu einacklaickenae Zenaur
losgeken und die Tageszeitungen mitreii?en.
^fissen Sie, wie viel Bucker in Miincken
im vorigen Jakr confisziert wurden? Uber
400! Wiasen Sie, daff dem Georg
Miiller-VerLag allein durcb Confis-
kation und z war vieler auage zeickneter
Werke der Weltliteratur, Biicber im
Herstellungs werte von 600000 Mark
bescklagnakmt wurden? Die Lage der
deutscker Verleger ist, wakrkaftig, nickt
00 roaenrot als da(? sie solcke Uberfalle
nock vertragen konnte. Papie - und Satz-
koaten sind ungekeuer angewacksen, di*
343
Preise der Bucher muflten Koch hinauf-
ffeschraubt werden, das bedeutete wieder
ein Ausschlietfen der breiten Massen vom
Markt. Dae billige Bucb, sogar das
Ullsteinbucn, ist beinahe verschwunden.
Man bekommt einen Begriff von den Her-
otellungsk oaten einea Buches, wenn man
erfahrt, daf?, um nur ein Beiapiel zu
nennen, Hans Heinz Ewers „Vampyr"
an Kosten, das Honorar des Verfassers
mitgerechnet, fast eine Million Mark ver-
schlungen bat. Das Buch steht freilich
scbon im 51. Tauaend. Aber solcbe
Zirxern hat der niichtern kalkulierende
Verleger bis zum vorigen Jahr nicht ge-
kannt. Kein Wunder, datf alle Verleger
sichs neunmal uberlegen ebe sie ein neues
Werk ei-scheinen lassen. Die Biicher-
und Broschurenflut hat abgeebbt. Es
werden von jetzt ab erschreckend wenig
neue Werke jungsr Dichter herauskommen
und, wenn Sie konnen, warnen Sie gerade
dichterische Naturen, fur die nachsten zehn
his fiinfzehn Jahre mit den Ertragnissen
aus ernster Literatur zu rechnen ! Die
Arrivirten, die mit Auflagen von min-
destens 10 000 Exemplaren rechnen konnen,
werden erscheinen. Den Anderen, den
kiihnen Neuerera, den unbekannten Talenten
wird derWeg unendlich schwer 'werden...
So hart dies scheint, vielleicht behiitet
diese Not der Verleger die heranreifenden
Talente vor allzufriiher Kommerzialisierung
und insofern kann die Einschrankung der
Verlagstatigkeit vielleicht zum Segen der
Literatur werden.
FILM
DOSIOJEWSKI IM FILM
Die beiden Herren, die aus Dostojewskis
,Jdioten kt einen Film geholt haben, schreiben
hescheiden und klug uber ihre Arbeit,
„nach Motiven des Romans 4 '. Sie nennen
ihr Drama „Irrende Seel en", was man
freilich iiber ulle Romane setzen kann und
gehen in einem zweiten Txtel gleich die
Marke fiir dieProvinz,,Sklaven der Sinne".
Aber der Film ist viel besser als der
Titel. Er ist in vielen Szenen vorbildlich.
Und zwar fiir etwas wirklich Neues,
namlich fiir die Daratellung seelischer
Vorgange im Angesicht des Menschen.
Ich kenne keinen deutschen, geschweige
denn einen ausliindischen Film, der so viel
Psycbologie des Antlitzes enthalt wie
diescr. Was Alfred Abel, Asta Nielsen,
Edgar Licho hier auf Hohepunkten des
Dramas in Nahaufnahmen ihrer beseslten
Ge3ichter geben, das ist hochate mimische
Kunst. Ob Asta Nielsen wirklich weint,
wei£ ich nicht, aber da(? sie die Fahigkeit
hat, durch das Leiden in ihrem immer
von innerstem Leben erfiillten Gesicbt die
Tranen der Andern heraufzulocken, das
kann ich beatatigen. Noch mehr solche
Filmc und die Menschen werden lernen
anders als bisher in den Gesichtern der
Nebenmenschen zu lesen, wie ich ja denn
iiberhaupt fiir eine der seelischen Erziehungs-
wirkungen des Kinos das steigende Ver-
standnis fiir den seelischen Ausdruck de&
menschlichen Antlitzes, der Hande und
des Korpers iiberhaupt halte.
Dieser Film ist aber auch vorbildlich
als Regiearbeit. Curt Froelich hat mit
instinktiver Mathematik den Film in Massen-
drama und Individual drama zerlegt ; er-
quickend der Gegensatz von Bewegtheit
des autferen und des inneren Bildes. Am
deutlichsten ist die Souveranitat des Regis—
seurs in einem Theaterakt zu sehen. Da
wird dieselbe Situation von verschiedenen
Standpunkten aus aufgenommen. Auf der~
Biihne tanzt eine Truppe, in der Loge
sitzen Leute, die von ihrer Komodie er*
fiillt sind. Reizend der wechselnde Aus-
black auf die Biihne, bald von der Logen-
brustung aus, wenn die Zuschauer auf—
merksam sind, bald vom Hintergrund der
Loge, wenn die Zuschauer plaudemd in
ihre Angelegenheiten vertieft sind, bald
ganz in der Nabe der Biihne, -wenn der-
344
^vorgefiikrte Tanz wichtig ist. Ebenso voll-
-endet ist die Aufnakme einer Promenade
in einem Badeort gelost, immer wieder
client das aufiere Bild seeliscker Absickt.
Dieser Dostojewskifilm lafft sogar wirk-
licke Doatojewski-Stimmung aufkommen.
Das Weicblicbe, Sanfte, baltlose Jasagen
der epileptiscken Ckristuanatur wird ge-
.fcrackt, nickt sum Nutzen des Films, gerade
das eigentlich Dostojewskiscke wird deut-
scben Menschen immer fremd bleiben,
Hatten die Verrasser am Ende em biffckcn
weniger Dostojewski gebracbt, so wiirden
sic, glaub icb, das starkste deutscbe Film-
drama gescka&en baben.
MEIH HERMELIKMAXIEL
Erna M o r e n a scbreibt mir I
Seit Wocken lauft durch kundert
deutscbe Zeitungen wieder einmal eine
Notiz uber memen Hermelinmantel, den
icb. als Frau eines Sozialisten trage!!
Nun will icb keinem Zeitungsleser in
Pirna oder Kottbus einreden, dafi icb eine
Feindm scbmuckender Kleidung bin. Man
kann auf der Bubne eine grotfe Robe
«inen festlicben Mantel nicbt mit Natur-
licbkeit tragen, w«nn man im Leben immer
nur in einer KattunMuse berumlauft. Die
Dinge leben mit den Menajben, 'und aucK
die Kleider scbenken sicb dem Tr'iger erst
allmablicb, Desbalb wirken ja sebr viele
aucb berubmte norddeutscbe Scbauspiele-
rinnen, wenn sie sick aucb fur teueres
Geld in Modebausern anzieben lasaen, au*
der Biibne kocbinrienbaft, weil sie sicb in
den ibnen fremdenRoben nicbt zu bewegen
wissen. So lieb so ein Madel in der
Tveitfen Wascbbluae aussiebt, so komiscb
bewegt sie sicb im gerafften Samtkleid.
Icb batte also em Recbt auf cinen Hermelin-
mantel, aus meiner Arbeit beraus.
Aber was soil icK . dazu sagen, daf?
mir seit Wocben in bundert deutscben
Zeitungen ein Hermelinmantel nacbgesagt
wird, den icb nicbt besitze und nie besalM
Icb lasse es mir gefallen, wenn der Zeitungs-
witz sicb an einem wirklicben Gut von
mir reibt. Meinetwegen nocb ein Sckock
satyriscber Betracktungen iiber die „Kom-
munistin im Hermelin" — wenn wenig-
stens der Hermelin da ware! Dafi ick
aber durcbs Feuilleton der deutscben Zei-
tungen in einem Pelzmantel geschleppt
werde, den icb garnicbt babe — und auck
nicbts Aknlicbe* — das ist zu viel und
dagegen mussen Sie micb scbutzen, Stefan
Grotfmann.
Im Vertrauen gesagt : Icb finde Herme-
linmantel abgeacbmackt. Hatte ick cinen,
icb wurde ibn langst verkauft und fur
den Erlos einige Paar Stiefel angeacbafft
baben. Stiefel sind wicbtiger und sckoner
als Hermelinmantel.
MADJAR1SCHES
In Budapest wurde Wegeners Golem -
Film verboten, wcil ein Herrscker darin
Judenverfolgungen vcrbindert. In Budapest
wurde der Film „Anna Boleyn" ver-
boten, weil in der Gestalt Heinricb VIII.
das monarcbistiscbe Prinzip verhobnt sein
soil. Es ist ganz gut, dal? Herr Hortby
an so barmlosen Exempeln beweist, datf
Europa an den Grenzen der Leitba auf bort
343
EIN HASS-LIEFERANT
Em Verlag fur pikant-sentimcntalc
Literatur — die deutscbe Pikanterie be-
gnugt sick nicbt mit Andeutungen — der
Universal - Verlag in Mtincben ktindigt ein
Sammelwerk an ,,HaJ?" und zwar aid
„Antwort deutscber Dicbter auf Ver-
failles". Als Herausgeber des Bucbes. das
gegen „das unwurdige Versobnungsgewinsel
▼olksfremder versklavter Seelen" gericbtct
ist, zeicbnet Hcrr Reinbold Eicbacker,
dem die flotten Probiermamsells und kurz-
rockigen Dielendamen den Roman ,, Mutter
der Venus** verdant an. Immernin ' ist's
lustig, Otto Ernst und Friedricb Freska,
(die Beiden werden einander taglicb aba-
licber) Rudolf Presber und Georg Hirscb-
feld, ja sogar den allzeit edelmutigen
Bruno Wille in den Karren dea venus-
nacbtlicben Hafi - Dirigenten eingeapannt zu
eeben. Hoffentlicb lal?t er das Bucb, das
v allen Dcutscben zur Fackel wcrden soll u ,
nicbt mit pikanten Illustrationen verseben.
ANEKDOTEN
Ludwig Tboma -war in einer Vor-
leaung von Karl Kraua gewesen. Auf-
atmend ging er allein die Treppe binunterv
Plotzlicb blieb er steben und sagte ganz
laut : ,.Dos mocbt' i am Sonntag sein, wa»
der sicb am Werktag einbildet!
Hofmannstbal wurde scberzbaft gefragt*
-was ibm licbcr sei : Ton Holzbock gelobt
oder von Kerr zerrissen zu werden. Er
besann sicb einen Augenblick und sagte
dann still: „G'lobt soil man werden,
g'lobt soil man werden, g'lobt soil man
werden ]
INHALT DES LETZTEN HEFTES
(Nr. 10)
Erwin Steinitzer: Unaer Gegenvorscblag.
Dr. Rudolf Kommer : Ostfragen-Conferenz..
Jobannes Urzidil: Benes Kramar.
Max Dauthendey: Tagebucbblatt.
Romano Guarnieri: Italiens junge Kunst.
Herbert Eulcnberg: Die Krones.
Stefan Grotfmann: Der3.Marz 1921 in Berlin
— Das Jcnecitfl der Kritik.
Aus dem Tagebucb I Cbristus- Film. —
Abbe Blei. — Variete — Abende. — Lena
Amsel. — Anekdoten.
Diesem Heft ist em Prospekt des Verlages Eugen Diedericbs, Jena, eingeklebt.
Redaktion des „Tage-Bucb" : Berlin W 35, Potsdamer Stratfe 123 b, Tel: Lutzow 493.
Verantwortlicb fur den redaktionellen Teil : Stefan Grotfmann, Cbarlottenburg. Verlag :
Ernst Rowoblt Verlag, Berlin W 35. Potsdamer Stratfe 123 b. Druck: R. Abendrotb, Riesa.
GEBUNDENE H A L B J A H R E S B A N D E
DAS ZWEITE HALBJAHR (HEFT 25—51) DES
TAGE-BUCH
liegt ietzt gebunden vor. In baltbarem grunen Halbleinenband bilden die
Hefte einen s ebon en Band, der jeder Bibliotbek zur Zierde gereicben wird.
DER ZWEITE HALBJAHRESBAND KOSTET M. 60,—
Vom crftcs Halkjanr&sDaneJ »ind nock wenitfe Eiaapkre xnm Pr*io« v«a M. 45.— lieferbar.
EINBANDDECKEN: Fir L«b«, die ikrc Hafte tfwammelt haben na* selbrt fcinden
lasaeo, kabea wir die gleicte Einbtnddecke verratitf. Wir bcrechncn
Bie, ebcn*o wie die de* 1. HalbjaKrefl mit M. 12.— . Wir bitt«n am *m-
(Jehende Befltelluntfen. da wir our eiaen 11 einen Vorrat neratellen luiea.
ERNST ROWOHLT VERLAG. BERLIN W. 35
346
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Erma^igte Preife fur Karten ^ur Staatsoper
2 / 3 des Kaffenpreifes gu Opernauffuhrtingen
der Q. V CX
V 3 des Kaflenpreifes ^u Kon^erten d. Q. V. O.
HERMANN KASACK
DIE INSEL
Gedichte
Gekeftet M. 14.—, gebunden M. 20.—, in HalMeder M. 80.—
Tltiiw)iii n iiii mm iiiiiiiTTii n tfTftii iM i nn i n nwiiini i i»<iiii i iiiiiiP n ii i iii n i imii i in i
O S K A R L O E R K E
in der tf J^euen Rundschau":
„Hermann Kasack gebort zu den wenigen
Lebenden, denen Gedichte obne irgendeine
etwas vorgebende Propaganda gelingen. Er
bat nicbt einen Scbritt, sondern einen Sprung
vorwarts get an . . . Die Verse werden
nacb der eraten Uberrascbung nicbt miider
und nacb dem dritten Lesen nicbt bekannter
ale nacb dem zweiten . . . Die immanente
Hingebung der Verse latft die besten untcr
ibnen innerlicb magiscb, autferlicb einfacb
und bestimmt erscbeinen . - , Kaaacks
Gebalt ist ohne seine Worte scbwer anzu-
deuten. Oft ist es eine Welttraurigkeit,
die ibren Scbmerz oder ibre Verklarung
sucbt. Leid und Bezauberung wiederum
sucben die Erkenntnis ibrer selbst, sie sucben
in diesem menscblicben Ende unerscbopft
III den fortwabrenden Anfang." Ill
WTli» mim i M l n iiifww HHn i| Hi i n »Trw MMM iii n iiiiiii MH i inm iii n nt|Tf nn iifi ni|i ii|ii n i m i lii
£u Lezieken durch alle Buckkandlungen oder direkt durck
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\Vichtige Neuerschemungen!
In Kiirze erscheinen :
ARTHUR HOLITSCHER
Drei Monate in Sowjet - Rutland
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Geheftet 15 Mark / Gebunden 21 Mark
INHALT: DicWanrKeit iiber Sowjet-RuGland / Dag Arbeitervolk / Subbotnik
Das rote Heer / Propaganda / Von der ArbaitsscKule / Prolstkult / Cbaoe
der Kiinste / Der Unt«rff*af{ des Intcllektuellec. (Nebst eincm AnbanjJ:
Schaljapin) / Das Lefeen der Stadte/Bourgeois / Das religiose Problem / Der
rote Terror und der weifie / Welt-Revolution / Volter hart die Signale!
Dies neue Buch Arthur Holitscners zeigt die gleiche Lebendigkeit und Ein-
dringlichkeit der Beachreibung wie sein beruhmtes Werk tiber Amerika. Bel
der ^Aftedergabe der Eindriicke , die er in russischen Stadten und Provinzen
gesammelt bat, kommt es dem Autor darauf an, sowobl die veranderte Lebens-
weise unter der bolachewiatischen Herrachaft ala aucb die fiihrenden Personlich-
keiten und ibre Politik darzustellen. Ob das politiscbe und soziale Ideal der
Bolschewiki sicb verwirklichen latft oder nicht , welcbe Veranderungen das
gesellscbartlicbe und kulturelle Bild Rutflands erfahren bat; das ist der Inhalt
dieses Bucbes, das keme parteipolitiacbe Meinung, sondern allein die lebendige
leidende, rusaiscbe Gcgenwart wiedergibt.
JAKOB WASSERMANN
Mein \Veg als Deutscner und Jude
Erstes bis fun^zebntes Tausend
Geheftet 12 Mark / Gebunden 17 Mark
In der Entialtungageachichte aeines Geistes stellt Waasermann das Wesen des
Deutscben und des deutschen Judentums uberbaupt dar. Wie der Dichtcr die
Zweiheit seines deutscben und judiacben Menscbentums erst wabrnabm , ala er
die Identitat bestritten fand, so erkennt er in der Verfolgung der Minderbeit
durcb die Mebrbeit eine Autferung des in sicb selbst zwiespaltigen Volkstums.
Der Gedanke an das Scbicksal jabrbundertelanger Unterdruckung und Fremd-
gewalt, das Deutsche und Juden gleicberweiae zu erdulden batten, lafit die durcb
ikren Gebalt wie durcb die scheme Klarbeit ibrer Form ergreif ende Schrift in
der Hoffnung ausklingen, daf? ihnen ein Retter und Versohner erstehen werde.
S. FISCHER / VERLAG / BERLIN
PER MALIK -VERLAG
FRANZ JUNG
PROLETARIER
Eine Erzahlung.
'Einbanctzeichnung von George G r o s z.
P r e i s , biegsam gebunden, 10. — Mk.
Die Erzahlung ,,Proletarier" (Herbst 1920 im Gefangnis verfafit) ist das einzige mir
bekannte Werk deatacher Spracne. in dem mi be ding* Ernst gemacht ist mit der Be-
jahung einer klasscnhaften Geeamtheit, Der Diehter Jung wriB Beecheid um das
letzte derer, die an dieser Welt zugrunde geben musaen.
Max H errminn-N eisse.
DIE TECHNIK DES GLOCKS
Psychologische Anleitungen in vier Ubungsfolgen.
Pre is, biegsam gebunden, 7,50 Mk.
Pappband, auf bolzfreies Papier gedruckt, 15. — Mk.
t.Die Technik dei G lucks ist der erste hedeutende philoaophiache XJnterbau der pro-
letariaehen Lebensbewaltigung, so tiefgehend wie je die Weltweisheit der bisherigen
Daaeinaerklarung. Und mehr ala dicse. direkt an das Gefiibls- und Gedankenleben
«inea jeden wendet sieh die Entf altung der Problem e, durehwirkt ibn mit ihrem lulfa-
bereiten Flnidum and lost ibn aus a einer todlichen Vereinzelung'*.
Hamburger Volkaxeitung 22. 1. 1921.
WIELAND HERZFELDE
TRAGIGROTESKEN DER NACHT
18 Traume
mit 24 Zeicbnungen von George Grosz.
Pre is, biegsam gebunden, 8,25 Mk., Pappband 10.50 Mk.
30 numerierte Ton Verf asser und Illustrator signierte Exemplar e auf ecnt
Zanders Butten mit G oldscnnitt inHalbpergamenteinscblietflicbLuxussteuer
70— Mk.
Daa Bo eh Herzfelde'e wird, da ca a! 5 Aktuelles dem Veratindma leicnt zuganglich.
iat. dem Arbciter ein* angemesaene Unterhaltung sein, in der er etwaa vtm aeinem
eigenen Erlcbnis wiederfindet. Ein Vorzug dca Baches ist *a. dafl ea fern von jeder
Seatimentalitat und Weichliehkeit und ebenso fern von Moralitat ist. Die Suggeation
dea Traummafiigen ist ansgezeichnet erreicht.
..Die Rote Fatne", Bcrl£n, 18. 12. 1920.
R OUL HAUSMANN
HURRA! HURRA! HURRA!
12 Satiren
mit Einbandzeicbnung und Illustrationen des Verfassers
Pre is, biegsam gebunden, 7.50 Mk.
Philip a Price achreiht im »Daily Herald*: In der Tat. all«a andere ala »good
oenae of humor* ein Knockout fur den Ebcrtinergeiat im aeucn Dcutschland.
UPTON SINGLAIR
P R I N Z H A G E N
Phantastisches Schauspiel in vier Akten.
Aus dem Amerikaniscben iibertragen von Herminia Zur Mublen.
Preis, biegsam gebunden, 7.50 Mk.
BERLIN-HALENSEE
MAX BROD
schreibt uber
P^ UDOLFJ^QRCHARDT
Ein Dichter des innersten Herzens !
Tiefes Leid, tiefes Blut!
Hier begegnet man endlich wieder
einmal einer Lyrik, die aus liebendem
Herzen hervorschwillt. Verse von ge~
radezu nie bis ans Ende ausschdpfbarer
Schonheit.
Ein Dichter, verehrungswiirdig auch
nock dort, wo er f ehlt.
Einer der grotften Dichter, die heute
in deutscher Sprache schaffen!
W^ir bitt«n ausfiihrliche Prospekte iiber
Rudolf BorcJtardts Sckriften
dirckt zu verlangen vom
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Das Tage-Bucli / Heft 12 Jahrg. 2 / BerKn, 26. Mars 1921
STEFAN GROSSMANN
ATTENTATER IN DER SONNE
Der Tiergarten klukt. Kleinwinzige klebrige Blattcken an den
Birken, kleine rotKcke Verdickungen an den Spitzen der Lindenaste, in
den scnwarzen Gekuscken knallgelke Bluten und am Teick die ersten
grauseidenen und kraunKcken Katzcken. AiVer jetz,t durck den Tier~
garten gent, muC zur Sanftkeit des Herzens kekekrt werden. Junge
Mutter mit liebevoll gepflegten Saugkngen und kaum krabbelnden
Kindern, straklend von weitfer AiVascke, Saukerkeit und Woklstand,
spazieren durck die Alleen. Das ist die groJ?e Frukkngspromenade der
BerKner Bakys. Auf den Banken aber sitzen (kei Tage) pensionierte
Herren und Damen, alte Menscben, die vom Leken nickt viel mekr
wo 11 en als ein ki^cken straklende, warmende Sonne und die Nake gut
gepflegter Kinder, denen sie in scknell erworkener Onkelwurde zulackeln
konnen. rlier gekt fast kein Mensck nut einer vollgepfropften Akten—
mappe vorkei, kier kort man kaum am Morgen das Berliner Hauptwort
„Pro vision^. Auck die Leidensckaften der Tiergartennackte sind an
diesem Frukkngsmorgen weggeklasen. Es gikt kerne wildverscklungenen
Parcken mekr in der Fruke, es sckleickt kein Dammerungsstrolck durck
die kellen Alleen. Am Morgen ist der Tiergarten em Park der fried-
fertigen Menscken. Abends vermmmt man kier die Signalpfeife der
grunen Sicker ke its wekr, jetzt kort man kier die Amseln rufen. Ick las
uxJangst die Brief e der Rosa Luxemburg und wurde mit Ergrirrenkeit
gewakr, wie die Seele dieser fanatiscken Agitatorin still und andacktig
wurde in der Frukk'ngssonne.
Ick katte ein kleines Kind mit. Da sckimmerte etwas Goldenes
in der Luft: die Siegessaule. Sieken Jakre wokne ick in Berlin und
war nie versuckt, kier kinaufzuklettern. An diesem Morgen tat ick's.
Und wir standen oken und saken durck ein besonntes Luftmeer und
saken kinunter auf das kellgrune Knospen des lenzenden Tiergartens.
Die Dacker sckimmerten und bknkten, die Spree und der Landwekr-
kanal glimzten im Lickt, und alles Fruklingsgrun, das in BerKn s Hauser-
markt eingestreut ist, winkte uns frokKck kerauf. Da waren Reickstag
und London, die Sanktionen und Adolf Hoffmann, Barnowsky und
mein Hauswirt vcrgessen. Nur ein unendlicker Frukkngskimmel war
uker mir, und die Welt erglanzte im Lickt.
353
H.
A tends las ick in der Zeitung, daK zwei Stunden spater eimge
Planner nut List una Tucke eine Sprengmasckme m {t brennendem Dockt
auf der Treppe der Sicgessaule versteckt katten. Hatten aufmerksarae
Leute das Dynamit nickt zufalkg entdeckt, so ware 10 Minuten spater
der Frukkng lm Tiergarten auf den Trummern der goldenen Saule una
mit vielen Leicken gefeiert worden. Die Polizei forsckt nun seit Tagen
nack den Men sen en- und Fruklingsfeinden, die dieses gottverlassene,
stuptde Attentat begeken wollten. Primitive Erklarer meinten, Aus—
lander mussen es gewesen sein, andere -wollten auf rabiate Spartakus—
leute raten. Sicker kat lrgendwie das AiVort Sieg in dem K.opf ernes
riemmungslosen eine kolkscke Gewalt losgelost. Aber wie kann ein
Mensck abkangig werden von einem Wort ?
I en sitze abends aur meinem gro&tadtiscken Balkon und denke
nacn, welcker riollenmensck diese Hollenmaschine durck den Frukung
zur Siegessaule getragen kaken mag. Wie, frage icb mick, konnte er
an all dem Bluken und Knospen vorbeigeken? Wie konnte er das
Dynamit an den spielenden Kindern vorbeitragen ? Sckien dies el be
Sonne nickt auf sein unkeimlickes Paket? Plat er die Amseln mckt
gekort? Ick begann mick meiner FrukKngs religion zu sckamen, als einer
dummen Neigung zur Idylle. Es ist offenbar ein optimistisckes vorur—
teil, zu glauben, dai? der blaue Himmel fur alle blau, dai? eine Kinder^
Land fur jedermann ein kleiner Sckerz Gottes sei und dal? die ersten
Birkenklatter in jedermanns Seele die Gedanken an Auferstekung und
Immerwiederbluken wecken musse.
^^Vir alle vergessen immer wieder an den Nackbar Tkersites.
Wir vergessen immer -wieder, daf? es Menscken gibt, fur die kem
Frukling, kein Bluken, keine Frau, kein Kind auf der ^A^elt ist. ^/ir
vergessen, dal? es Menscken gikt, die Augen kaben und dock blind sma
— nie sind nock die Legionen der Blindgekorenen gezaklt worden, —
wir vergessen, dai? es MilKoneri .Menscken mit Okren gibt und nur ganz
wenige, die Musik koren. Diese blind und taub Geborenen sind in diesem
erregten Zeitalter wack geworden. Sie denken, aber sie erleben nickt
Sie fuklen sick nickt einmal als Enterbte, aber sie tragen unbewuitt lkren
Hal? gegen die Sonnenwelt mit sick. Niemals -war der katfkeke Zwerg
Tkersites mack tiger. Er suckt nur Gelegenkeiten, ^sick auszuspeien. Er
sckleickt sick in grol?e Versammlungen und speit vor versammeltem
Volke. Er drangt sick in die Tkeater und speit an, was seinem Speickel:
erreickbar ist. Er drangt sick in die Nake sckoner und wekrloser
354
Frauen und speit eie mit seinen Hatfverdacntigungen an. Er studiert
die Lekensgesckickte groi/er Manner, nur urn den Punkt kerauszurmden,
wo sie klein waren und dann kat er die S telle gefunden, wo er sie an-
speien kann. Er entgottert die i^elt, weil er selkst von alien Gottern
verlassen ist. Er ist innerkck verzwergt und verwacksen und sein ganzes
Urteilen, Rickten, Denken ist eine einzige Racke an den Nickt-Ver-
zwergten und Nickt- Verwacksenen. Gelegentkck kullt er sick in einen,
ireuick etwas lockengen. Mantel von Gutmutigkeit, damit man seinen
Buckel und sein Speimaul nickt gleick kemerke. Wir Esel, wir aknungs-
losen Frukkngsglaukigen, wir geken durck den knospenden Garten und
konnen uns garnickt vorstellen, dai? in derselken Sonnenstunde, an den-
selken klukenden Strauckern, an Kinder n und Amseln vorkei, ein Hollen—
mensck mit seiner Hollenmasckine sckleickt.
Laut uns an iter sites denken !
Ick glauke nickt, dai? es kelien wird, den Kinder n von Tkersites
beizusteken,, sie zu piiegen, lkre Augen zu wascken, ikre Okren zu
pile gen, ikre Seelen nut Musik zu fullen. Eines Tages wird Tkersites
junior mit einem kleinen Tasckenmesser sein plotzkckes Hollenstuck voll-
fukren. Aker sicker gikt es Grenz-menscken, die zwiscken Holle und
Frukling steken. Diese Grenz-seelen, in lkrer Jugend erfaJ?t, konnen
wir zur ^Velt im Lickt kerukerzieken. Es kann garnickt genug Kinder-
garten und Garten-Kinder in der ^Velt geken. Alle Kinderkollen in
iinsteren Gassen, in freudlosen Pfercken, in Nackkarsckaft versteinerter
Tkersites-Menscken mutften ausgeforsckt und aufgelassen werden. Ick
mockte wetten, dai? der vergiftete Mensck, der mit der Hollenmasckine
zur Siegessaule zog, in einer Kellerwoknung im Innengekaude einer
.Zinskaserne in Berlin N, kerangewacksen ist.
Dennock alle Umsickt, alle Sanftmut, alle Lieke wird des Tker-
sites Entstekung und Betatigung nickt vernindern konnen — und man
kann ja nickt sagen, dai? gestern und ekegestern ein Ukerflul? an Um-
sickt, Sanftmut und Lieke gekerrsckt kat. Nein, Tkersites ist so wenig
auszutreiken wie der Keim zur Tukerkulose und zum Typkus.
Aker es ist sckon nutzkck, sick immer wieder vor Augen zu kaltcn*
dai? Tkersites lekt!
Man soil durck Gottes Ti erg art en nickt geken, okne einmal an
'den BKndgekornen zu denken.
Nur dann wird man seine Hollenmasckine ukerkaupt gewakr
•werden und vor der Explosion zerstoren.
355
georg brandes BERLINER ERINNERUNGEN
Mitten im poktiscken Leben stand ein bitziger Gegner Bismarcks,
der gro& Pkilolog und Gesckicktssckreiber Tbeodor Mommsen, em
^Vund'er an GeleLrtkeit, mit Leidensckaft geladen.
Es war eken keine Empfeklung bei ikm, Dane zu sem; denn als
geborener Deutscksckleswiger und ursprungKcker daniscker Untertan
kai?te er Danemark. Er kannte alle Sckwacken des Landea und Vol kes,
keinen von ' dessen Vorzugen. Als ick inm in einer Gesellsckaft als
daniscker Sckrifts teller vorgestellt wurde, sprack er die just nickt
sckmeickelkaften Worte: „Sie wissen, wenn man einen Danen kanseln
-will, erinnert man ikn nur an seine Literatur". In semen Augen war
Danemarks Literatur dessen Sckandfleck. Und fragte man ikn, was er
daran so geringackte, so erwiderte er in erster Lime: ,Jngemanns Ro~
mane"*. Sie ersckienen ikm als der Inbegnff kindiscker Lackerkckkeit.
Von Grundtvig als Historiker katte er keine kokere Memung als von
Ingemann als Dickter. Auf ^ie Frage, ob er denn Holberg mckt sckatze,
antwortete er: „Na ja, mit Mai?; er ist Moliere ins Hollandiscke uber~
setzt; Holberg erinnert an lkn wie der Esel an das Pierd.
Die starke Bewunderung, die mir Mommsens Romiscke Gesckickte
einflo&e, brackte mick nickt dakin, seinen mundKcken Aul?erungen mekr
Wert beizulegen, als sie verdienten. Seine Leidenscbaft ging mit lkm
durck und er befleilXgte sick nickt der UnparteiKcbkeit, kaum der Ge-
recktigkeit. Kam die Spracke auf NationaKtat, Humanitat oder Politik>
so wurde seine Rede flammend.
Es ist bekannt, mit welcbem Mangel an Mafigkeit er sick — gleick
Ricbard "Wagner — wabrend der Zeit des Krieges iiber das franzosiscke
Volk autferte. Nock lange danack bewakrte er Geringsckatzung fur
franzosiscken Geist, kesonders aker fur alle Wisaensckaftlickkeit in Frank-
reick. Es gibt dort, sagte er, wcnn man Paris ausnimmt, keinen Sckimmer
von wissensckaftlickem Sinn; in dieser Hinsickt stent die kleinste 1 tab en is eke
Stadt uker Stadten von ein em Umfang wie Lyon oder Bordeaux.
Gleickzeitig aber verabscbeute und veracbtete er die deutscke Vater-
anderei, insbesondere wo sie sick in der Bewegung gegen die Juden
geltend mackte, die gerade damals, neuerdings aufgestackelt, urn sick griff.
Sie setzte im Jakre 1879 ein, neun Jakre nack dem nationalen Krieg
gegen Frankreick, sowie die Judenverfolgungen 1819 in einem Abstand
von seebs Jabren der nationalen Erkebung gegen Napoleon gefolgt waren,
Beide Male batten Deutscke judiscken Glaubensbekenntmsses mit aolcben
von protestaniscber oder katkoKscher Konfession in gleicker Reike ge-
356
kampft; in Jem letzteren Krieg katte sogar eine Anzakl von 327 Juden
wegen bewiesener laprerkat das Eiserne Kreuz erkalten. Nicktsdesto—
weniger appelKerte man nun an den Rassenkal? und Mommsen war der
Erste und Eifrigste, der dagegen auftrat, teils indem er seinen Namen
unter den Protest der Notateln setzte, teils indem er eine uoerlegene .
RepKk in der Sacke veroffentkckte.
Mommsen war kekanntkck ein Anketer und Verekrer Casars; is
seiner Gesckickte erkielt jeder AiVidersacker des grotfen Cajus Julius ein
sckrecklickes Zeugnis ausgestellt. Man katte ikn also lm Vorkinein fur
Bismarck gunstig gesttmmt kalten konnen. Allein er katte nickt umsonst
sckon mi Jakre 1859 seine Vorkekalte gegen den Caesansmus gemackt.
Er veraksckeute Bismarck, kekamprte ikn als Politiker aus alien Kraftetu
eak in ikm nur den Freikeitsfeind. Gamketta mockte er nickt kesser leiden
und verglick, sonderkar genug, die keiden Manner in gewissen Beziekungen
miteinander. ,,Beackten Sie ikre Umgekungen", sagte er eines Tages zu
mir: „solcke Manner kann man am test en nack ikren Umgekungen ke-
urteilen. Bei Gamketta ist es He Bokeme, kei Bismarck eine nock
argere Sorte."
Es hel mir kei Mommsen aur, wie es mir auck sonst in m ein em
Leken Lei kockangesekenen Historikern — wenn auck geringeren Ranges
als er, — aufgerallen ist, dai? sie den Zeitgenossen gegenuker gewoknlicb
mittelmafige, mitunter sckleckte Psyckologen sind, zumeist unter- oder
ukersckatzen, mttkin ganz offenkar jener Sickerkeit im Urteil erm angel n
dessen der literariscke Kritiker auf seinem Felde aksolut nickt entraten
kann. Auffallend ist es ferner, wie oft Historiker vom Fack ikren Zeit-
genossen gegenuker sick an KJateck keften, an Klatsck glauken, ein Um-
stand, der denn auck kisweilen ikre Urteile uker .Menscken der fernen
Vergangenkeit minder vertrauenerweckend ersckeinen laft. Allerdings
wird derjenige, der gefuklt kat, dal? die voile kistoriscke Wakrkeit ein
vmerreickkares Ideal ist, jene Gesckicktssckreiker um dessentwillen in.
kei n em sonderuck unsympatkisckeren Lickte seken. Geniale Manner -wie
Mommsen oder wie Mickelet wirken, selbst wo ikre Gefukle sie mit-
reiisen, durck die Misckung von AiVirkKckkeitsstudium und Pkantasie, mit
der sie grol?e kistoriscke Bilder geken, welcke alle freie, sogenannte
kistoriscke Dicktung ukertreifen.
Dieser ausgezeicknete alte Mann, mit seinem . sckarf^escknittenea
Antlitz, seinem feurigen Bkck und dem Ian gen weii?en Haar, anzuseken
wie ein Furst des Gedankens, katte eine Sckwacke, die er nickt einmal
357
im gesellsckaftlicken Verkekr zu verkergen im Stande war: einige wenigc
Glas Rkeinwein stiegen lkm zu Kopre.
Nackdem ick inn mekrere Male vom ^Vcin umnekelt geseken katte*
wagte ick es eines Abends, als ick ikm bei Tiscke gegenuker sal? uxid nut
Unruke 3m stets aufs neue die Hand nack der Flascke ausstrecken sak*
ikn zu fragen, ok er nickt etwas ^^asser in semen Wein zu tun
wunscke. Er ma elite rasck eine akwekrende rlandkewegung una er—
widerte: ,,Wozu? Es ist ja oknekm ^Vasser im ^Vein selkst. —
Nickt lange danack sal? er bewu£tlos mit starren Bkcken da und mu£te-
die Treppe kinak in einen AA^agen gesckafft werden.
Es -war in demselken Jakre, als Mommsen sick eines Vormittags im
Reicksv^,/ erkok und eine so verwirrte Rede kielt, dai? seine politiscken
Freunde ikn umringten und seine *Worte zu ubertauken suckten, wakrend
sie den Stenograpken Besckeid sandten mit der Bitte, nickts von dem„
-was sie eventuell auffangen konnten, ins Referat zu bringen. Aus Re-
spekt vor dem grotfen Manne folgten die Stenograpken diesem Winke.
Zu dem Mil?gesckick, daf? Mommsen nickt lange danack widerfukr
— seine kostbare Bibliotkek ging durck seine eigene Hand in Flammen
auf, so daf? man in Deutsckland eine Sukskription erorfnen mutfte, um dem
nationalen Historiker die verlorenen Buckersckatze zu ersetzen, — kat
vermutKck auck seine ungluckKcke Sckwacke den Anlaf? gegeben.
ernst toller DEUTSCHE REVOLUTION
Aus seiner bayriscken Festungskaft eckickt mir Ernst Toller diese abge-
scklossenc Szene aus dem Manuskript einer „panoramcn Szenenfolge*', die
er den „deutscken Revolutionaren" gewidmet tat. Dazu sckreibt Toller:
„Das Gcfangnia gibt Distanz und das Vermogen, die Dinge nicht leiden-
sckaftsloser, sondern leidensckaffclicker und . . . klarer zu seken sick wunaclite,
manckem unserer revolutionaren Politikcr ein Jakr Arbeit in Einsamkeit.
Nickt nur den revolutionaren . . . Die Deutscken sind keine Politiker.*''
Die vorliegende Arbeit verdient aufmerksame Lcser, reckts und links.
Ein Saal, dessen rechte Halfte mit grunem, dessen linke Halfte mit gelbem Tuck
verkleidet ist. Auf erkokter Tribune zwei Pulte, vor denen zwei Redner in Moncks-
kutten steken. Sie tragen tiara aknlicke Kopfbedeckungen. Der Redner am reckten
Pult tragt eine grune, der Redner am linken Pult eine gclbe Kutte. Im Saal dickt
gedrangt Horer, allc in Kutten. Eine koke Mauer sckeidet die Horer reckts von den
Horer n links. Die Horer reckts tragen grune, die Horer links gelbe Monckskutten.
Nack Aufgeken des Vorkangs siekt man die Gesten der keftig agierenden Redner und
die lebkaften Bewegungen der Horer. Indessen vernimmt man kein Wort. Im Vorder-
grund der Biibne, an einen Pfeiler geleknt: Der Wanderer und der Einaugige,
358
Der ^Wanderer:
Sie wollten mick in erne Versammlung der Revolutionare fukren
Wir kefinden uns auf einem Konzil von Moncken.
Der Einaugige:
Sie irrcn sick. Wir sind in einer Versammlung deutscker Revo-
lutionare. Man stent vor aufierordentlick wicktigen Entsckeidungen. Y)ie
Weitfen planen ein konterrevolutionares Attentat.
Der VFancerer:
Aber ick seke dock lauter Monckskutten?
Der Einaugige:
Ikre Augen tauscken Sie nickt. Man kat die Parteiprogramme zu
Dogmen erkoken — und von da kis zur Umwandlung der Parteien in
kircklicke Organisation en war es nur ein kleiner Sckritt.
Der VPanderer:
Stekt an der Spitze ein Papst?
Der Einaugige:
Sie vergessen sckon wieder, dal? wir una in Deutsckland aufkalten.
Die Revolutionare katten nock nickt die Hauptstadt erokert, da ent-
stand das Sckisma. Bisker kildeten sick 4 Kircken. Jede kesitzt ikren
eigenen Papst.
Der ^Wanderer:
Der unfeklkar ist?
Der Einaugige;
Der unfeklkar ist und den grotfen Bannfluck uker jeden verkangt,
der ein Wort des Dogmas anzweifelt. Uekrigens keitft er in Deutsck-
land Bonze.
Der ^Wanderer:
Aker es kann fGr Revolutionare dock nur eine Wakrkeit geken:
Befreiung der Klasse! Bau des neuen Hauses.
Der Einaugige:
Jeder Bonze kat seine Wakrkeit gefunden, und weil er glaukt, sie auf
dem Weg unfeklkarer Wissensckaft entdeckt zu kaken, verlangt er, daf?
sie allgemeine Geltung kekame, kekauptet er, dal? sie allein seligmackend sei.
Der Wanderer:
Wenn jeder die Wakrkeit aus seinem letzten MensckKcken sckopfte,
mussen dock alle Wakrkeiten ukereinstimmen?
Der Einaugige:
Hier keginnt Ikre Krankkeit. Sckleckt verdauter Ruckstand aus den
Ideen der franzosiscken Revolution und des Naturreckts.
359
Der ^Wanderer:
Sie sin J der Versucker! Sie mui?ten junger sein, urn mien zu
ukerzeugen.
Der Einaugige:
Ick tin nickt ein Greis, weil ick Weiskeit kake, sondern ick kabe
die Weiskeit, weil ick ein Greis Din.
Der VFanderer:
Die Artung der Horer?
Der Einaugige:
Parteien-KIerisei. Parteien-Burokratie. Funktionire. aut deutsck:
Bonzcken. Jeder kofft einmal Bonze zu werden. Inzwiacken opiern
sie . . , ikren Intellect, sundigen die Sunde wider den keiligen Geist,
die me vergeken wird.
Der ^Wanderer:
Sie Giftspritzer! . . . Nock eine Frage: warum die Versckieden-
keit in der Farke der Kutten?
Der Einaugige:
Die Farken sind Sinnkilder. Reckts die Ankanger des Om mam
patme kum, Knks die Ankanger des Im mam patme kum.
Der ^Wanderer:
Wenn ick reckt korte, untersckeiden sick die Lekren nur durck
einen Buckstaken?
Der Einaugige:
Das ist ja gerade das Furcktkare, Trostlose! Glauken Sie, daK
Menscken, je wieder sick finden, die ein Buckstake sckted?
Denken Sie an die klutigen Kampre der Arianer und der Atkanasianer !
Dem Buckstaken I wurden Hekatomben von Mensckenleikern geoprert
"War es fur das Heil der Welt nickt kedeutungslos, ok Ckristus gott-
aknKck oder gottgleick sei? Was ist datnit gewonnen! Sie werden
auck wissen, daJ? He Streitfragen, ok Adam einen Nakel katte oder
keinen, ok Ckristus nack seiner Auferstekung ksscknitten war oder
nickt, ok die Jungrrau Maria nack der Gekurt Cknsti ein gewisses
Hautcken nock kesai? oder nickt, zu erkitterten Kriegen zwiscken den
versckieden ckristkeken Moncken iukrten.
Der V(?anderer :
Geken wir in den Saal. Ick bin kegierig.
(Die beiden roiscnen sicb unter die MoncKe. In diesem Augsnblich setzt oKrenbet'aubender
Larm ein. Der Larm legt aicb. Wenn man die Stimme de3 griinen Bonzen (des
reckten Redners) und der griinen MoncHe vernimmt, sieht man nur die Gesten de*
. gelben Bonzen und der gelben MoncKe und umgekehrt.)
360
Der gelbe Bonze :
Rrrrrrevolutionare !
Die gelben Monche:
Rrrrrr
Der gelbe Bonze:
\Vieder verneten uns die Lakaien der Irrlenre Im mani patme
hum! Die Dialektik der Gesckickte wird diesen triefenden Blutkunden,
diesen Klassenaktrunnigen, diesen Speickelleckern der Bourgeoisie den
verdienten Futftritt geben.
Die gelben Monche:
Nieder! Nieder!
Der gelbe Bonze-.
Vergessen kaken sie unsern Gott ! (er verbeugt sich dreimal) , seine
Lekre gesckandet, vergewaltigt, ketzerisck gedeutet. Die okonomiscke
Betracktung dieser Im~Kneckte entkullt kleinburgerlicke Ideologen,
Opportmnsten, Reformisten, KompromiiHer ! — Die wakre, keilige Deutung
der gotthcken Lekre: Om mani patme num.
(Die gelben Monche. Ween nieder.)
Die gelben Monche (eintonig, aber andachtig);
Om . . . Om . . , Om ...
Der gelbe Bonze:
Die Diktatur von Om fukrt uns zum Sieg! Nieder mit Im!
Die gelben Monche:
Nieder! Nieder!
(Kurze Stille.)
Der grime Bonze:
Anbeter des Im mani patme hum!
Die grunen Monche (emtonfg, aber andachtig):
Im . . . Im . . . Im . . .
Der grune Bonze:
Als Gott . . . er sei gelobt und gepriesen . . . uns Unwurdigen
seine Lekre verkiel?, sckwur er Fekde alien IUusionaren, Utopisten,
Fanatikern, Rom antikern. Nieder mit Om!
Die grunen Monche:
Nieder! Nieder!
Der grune Bonze:
Der Gottlicne deutete auf sein Herz und seine Stimme ward Cnor
der dunklen Mas sen : Im mani patme hum !
(Die grunen Monche knieen nieder.)
361
Der griine Bonze:
^Vir sind das A und das O, der Anfang und das Ende. Schon
sckaren sick die Bataillone der Namenlosen urn unsre Fakne. Im Zelcken
les Im werden wir siegen!
Die grtinetl Tvlonche (singen nach der Meiodie „Tocbter Zions freue dich")
Im mani patme Kum ... Im mam patme hum . . . usw.
Die gelben J^Lonche (singen nacb der Melodie „Immer rein in die HeiUarmee")
Om mani patme kum -. . . Om mam patme kum . . . usw.
(Auf die Tribune steigt der Wanderer.).
Der VC^anderer:
Ick bitte um das Wort!
Der griine Bonze:
'Wir miissen das Volk kefragen. Wir mussen aWimmen. Wer
ist dafur?
(Die griinen Moncbe verharren b ewegungslos.)
Der griine Bonze:
Mit regster Anteilnakme nakmen die Versammelteri die Wort-
meldung auf. Nack lekkafter Diskussion entsckieden sie sick mit uber—
waltigender Mekrkeit fur die Erteilung des Worts.
(Der Wanderer wendet sich an den gelben Bonzen.)
Der gelbe Bonze'-
Daruker kat ein sofort zu konstituierender Rat zu kefinden. (Die
gelben Mbnche verharren be wegungsloa). Der Rat kat sick konstituiert.
Der Rat kat kefunden . . Wir erteilen dera fremden Kameraden
das AA^ort.
Der VFanderer :
Genossen!
Bravo !
Alh JVlonchex
Der VC^anderer'
Ick komme vom Akendstern. Ick glaukte eine siegreicke Revolution
in Deutsckland zu finden, und ick sak auf meinem AVeg die zakllosen
Graker der gemordeten Revolutionary sak zum Meuckelmord ketzende
Zeitungskuken, sak die Gewekre, Kanonen, Flammenwerfer und Gumnai-
knuppel der sick sammelnden Reaktion.
Alh Monche:
Hort! H6rt!
Der ^Wanderer:
Im Namen der Revolution ...
362
Bravo !
Bravo! ,
Die gelben l^donche;
Die grunen J^Ionche:
L/er gelbe Bonze (zum grunen Bonzen)
bs ist eine Sckmack, da# Sie der Revolution zujukeln! Sie kaken
kein Reckt dazu! Sie kesudeln das keilige Banner.
Der griine Bonze (zum gelben Bonzen)
Sie Demagoge ! SiePkantast! Sie Mordercentralist ! Sie Pkrasenjager
(Der gelbe Bonze und der griine Bonze verprttgeln sick.)
Der ^Wanderer;
Genossen! Es gibt nur eine Wakrkeit . . .
Der griine Bonze-.
Die Wakrkeit Im.
Der gelbe Bonze:
Die Wanrneit Om.
Der ^Wanderer-.
Die Befreiung der unterdriickten, kedrangten, dem Elend preis-
gegeknen Klasse, der Bau de* Hauses der Gerecktigkeit. Ein Ziel
mul? una alle einen: Gegen die Reaktion fur dis Revolution! Gegen
die Sckmack der Ungerecktigkeit fur die Idee der Gerecktigkeit !
Der gelbe Bonze;
Er ist ein Pazifist!
Die gelben fifonche:
Pazifist! Bezaklter Agent! Intellektueller! Nieder ! Nieder !
Der griine Bonze:
Er ist verdacktig! Ein Traumer!
Die grunen Monchex
Nieder! Nieder!
Der Wanderer;
Draufen stekt der Feind! Ick rufe zum gemeinsamen Angriff auf!
Weikrauckdunst der Parteikircken umnekelt Eure Augen! Ick rufe
Euck auf, die WirkKckkeit zu sckauen!
Beide Bonzen, alle JWonche :
Ein Lock-Spitzel ! Nieder! Nieder!
(Groffcr Tumult.)
Der Wanderer rerlalTt die Tribune. Gent nacn
Mi
an siebt nur nock die Gestca der Monchc.)
vorn. Der Emaugige folgt ikm.
363
Der 'Wanderer:
Armes deutsckes Proletariat !
Der Eindugige :
Jakrkundertewakrender Militarismus und funfjakrige Hungerkneckt-
sckart bKeken mckt okne Folgen.
Der 'Wanderer-.
Ick versteke die Arbeiter nickt. Mit eisernen Besen muften sie
Der Eindugige:
Sie waren Untertanen und wollen Untertanen kleiken. Nur andere
Formen der Untertanigkeit wollen sie. Untertan sein keifit vor allem:
nur keine Selkstverantwortung auf sick nekmen. Erinnern Sie sick:
die Menscken nennen Freikeit jene Sklaverei, in der sie sick wokl iuklen.
Der ^Wanderer :
^Wie niedrig Sie denken!
Der Eindugige:
Die deutscken Arkeiter sind nickt glaukig, weil sic mckt mekr
glauken konnen. Das ist die Feststellung einer seeKscken Tatsacke v
keine moraKscke AA^ertung. Sie sind nickt naiv, rein, glaukenssucktig;
wie ^ie Russen. Europa wurde Masckine. Die deutscken Arkeiter
sind die Radcken, die sick am willigsten dem Meckanismus einsckmiegen.
Der 'Wanderer:
Warum vergessen Sie die gemergelten Leiber, die nack Brot
sckreienden Kinder, die siecken Weiber, die stinkenden Kammern der
deutscken Arkeiter? — — Sind Sie Kapitalist?
Der Eindugige:
"Weil ick das zweite Auge verlor, das den eigenen Wunscken.
gefugiger Sklave ist? Weil ick Skeptiker bin? Ukrigens kaben Sie
reckt: Nur der ist Revolutionar, dem „die Natur" gegeben kat, paradies-
glaukig zu sein. Ob er an ein Paradies auf Erden oder an kimmKsckes
Paradies glaubt, ist kierbei gleickgiltig. Womit nickt gesagt ist, da£
die Revolutionare von keute kundert Jakre nack der Mackterringun£
nock paradiesglaubig sind. Sie kaken es dann nickt mekr „notig , es
ist nickt mekr ikr seelisckes Bedurfnis . . nein ick sckerze nickt . »
Die XSlaubigen werden Zweifler, die Zweif ler . . . Auguren! Ckristus —
Paulus — Papst! Die drei Gestalten sind Symbols. Nack kundert
Jakren kat eine neue Sckickt von Unterdruckten, die notwendig nack
Mackt streben mufi, den grotfen Paradiesesglauben! Ewige Wiederkekr
364
der Formen!
Sie sind angewidert? 1st Ikr Glaube so sckwack,
<da(? Sie nickt mekr lacken konnen? Ick traufle ja nur, ick traufle,
ack traufle , . ,
Der Wanderer-.
Gift!
Der Einaugige:
Meine einaugige Wakrkeit ...
Der VPanderer:
Ick kasse Sie!
Der Einaugige:
Bkcken Sie zur Trikune ! — Eben meldet ein Bote, AzQ die Weifien
cine Provinz eroberten, kunderte von Arbeit em meucbelten, tausende
^lnkerkerten, die gerukmten Errungensckaften deutscker Revolution
■vernickten . . ,
Der VFanderer:
Man lormiert sick?
Der Einaugige i
Nein. Man erortert die Sckuldfrage! Der grune Bonze ruft
triumpkierend: Der gelbe Bonze ist sckuldig! Der gelbe Bonze ruft
rselbstgelallig: Der grune ist sckuldig!
Der "Wanderer:
Und was wird man tun?
Der Einaugige:
Xroren Sie !
(Man vernimmt die Sb'mmen der Bonzen und Monche)
Der gelbe Bonze (zum griincn Bonzen):
Man mui?te Euck an die Laternen kangen!
Der grune Bonze (zum gelben Bonzen):
AA^ir kaben diese Niederlage vorausgesagt !
Der gelbe Bonze:
Er freut sick uber die Niederlage!
Die gelben Monche:
Pfui! Pfui!
<Auf die Tribune steigt ein, gelber Monch. Die Farbe seiner Kutte wird plotzlicK rot.)
Der J^Lqnch:
Heraus aus den Parteien! Nieder die Bonzen! Wir grunden
<eine neue Partei! Unser Banner: Am mani patme kum! So und
mickt anders ist der Name der allein seligmackenden Heilswakrkeit!
Wer die Revolution nickt weiter verraten will, folge mir. Ein anderer
Saal stekt kereit.
(Vereinzelte Rufe)
Hock der Oberbonze!
(Der Monch, gefolgt von anderen, verl'atft den Saal)
(Die Stimmen der Bonzen und Monche sind nicht mehr horbar)
365
Nacfedrock verboten
Copyright hy Ernst Rowofclt Verlatf Berlin 1920
leo slezak GUSTAV MAHLER
Diese En'nncrungen entndhme icK einem frohcn autobiograpHischen Bande,
der im Ernet Rowohlt Verlag crscheincn wird.
Wie Janice icb meinem Scbickeal, daf? eg mir vergonnt war, sieben
voile Jabre bindurcb, in der Sturm- und Drangpenode meines kunstle-
i-iecben Scbaffens, unter der Leitung dieses Mannes arbeiten zu durfen.
Freilicb, als Direktor -war er unbequem, mebr als das, oft so gar
uoertraglicb; aber wenn er im Probesaal, oder auf der Bubne, mit unsr
arbeitete, zerstob jeglicber Groll in alle Winde, alle kleinlicben Plackereien
des Alltags waren im Nu vergessen und man war stolz darauf, mit
diesem Genie durcb Dick und Dunn geben zu durfen.
Er selbst verzebrte sicb in beiligstem. Arbeitsfeuer, verlangte aber
dasselbe aucb von uns.
' Die Sorge des Einzelnen um seine eigene Person, sein Wohl,
betracbtete er als Verbrecben am kunstleriscben Werk. Restlos, obne
Gedanken an sicb und seine Familie sollte man in der Kunst auigeben.
Das Ersucben um eine Bewilligung zu einem Gastspiel autferhalo
Wiens war ibm ein besonderer Dorn im Auge.
Nur in den dringendsten Fallen entscblotf icb micb zu solcb einem
Bittgang um Urlaub.
Zuerst wurde bei Hassinger, dem langjabrigen Direktionsdiener, die
Stimmung erforscbt und oft kam es vor, dai? man umkebrte und die
Angelegenbeit auf einen anderen Tag verscbob, wenn Hassinger abriet.
Aber einmal muf?te es, docb gescbeben.
Hocbklopfenden Herzens trat ick em.
Der Direktor fublte den Grund des Besucbes und gab sicb von
vorne berein reserviert.
„Womit kann icb dtenen?
„Herr Direktor, icb mocbte an zwei Abenden in Graz singen und
bitte um vier Xage Urlaub.
„Ja sind Sie toll? — Sie waren docb erst fort!?" —
„Aber nein, Sie irren, seit Wocben war icb mcbt mebr weg.
Auf seinem Scbreibtiscb befand sicb ein Brefct mit ungcfabr funf-
undzwanzig bis dreitfig Knopfen. Unter ibnen Tiifelcben mit den Namen
der einzelnen Funktionare des Hauses, die er sicb jederzeit berbeiklmgeln
konnte.
366
M abler sturzt wutend km unci driickt mit der flachen Hand auf
ca. zwolf bis funfzehn Knopf e auf emmal; er will Professor >A^onara
ha Den, der alle Urlaube eingetragen hat um mich ad absurdum zu fuhren*
Die Turen offnen sich auf alien Sciten.
l>enerl Sgantzer sturzt atemlos mtt dem Stenograptieblock herein.
„Herr Direktor?"
,,Nein, mcht Sie! — Raus!
Lfinerl Rannmger kommt leichenblaK rait dem Schlusselbund zu
sarotlichen Notenkasten des Opernbauses.
Auch sie ist ira Nu wieder drauKen.
Sekretar Schlader, Inspitienten, Requisiteure, sturzen herbei, sogar
der Feuermann hat em Signal bekommen und erscheint lm vollen Ornat,
una set on zu spntzen.
Nur Wondra s .Knopf war mcht dabei! —
Lin Wort gibt das andere, die Situation spitzt sich zu, meine
Geduld reil?t.
Wutend verlasse ich die Kampfstatte, trete Hassinger auf die FuJ?e,
alle K.oilegen die drauKen in ahnlichen Angelegenteiten aur den Direktor
warten, losen sich in ihre chemischen Bestandteile auf und ergreifen
die Flucht.
Icn gene rasend heim, wo icn Elsa bet alien Heihgen schwore
dal* icn das mebt langer aushalte.
Nach einigen Stunden begmnen sicb die Gemuter allmahlich zu
beruhigen, man stebt auf dem Theater, er sitzt am Pult und dirigiert
und all die Galle und Emporung schmilzt dabin wie Marzenschnee in
warmer Frublingssonne.
Dieses Spiel wiederholt sicb einige Male im Jabr, im Monat, in
der Wocbe.
Also angenebm war es gerade mcht, aber wenn icb an all das
Herrliche denke, was mir der Mann mit auf den Weg gegeben bat
und wenn die alles verklarende Ennnerung mithilft, so sind all die
Widerwartigkeiten nur eine Bagatelle gewesen im Vergieicbe zii den
Gaben, die icb davontragen durfte.
Diese Mozart- Cyklen, Entfuhrung aus dem Serail, Cosi fan tutte,
Zauberflote, Fidelio, Hugenotten, Judin, all die Neueinstudierungen, war
das erne Quelle von Anregungen bei den Proben.
Jede Bemerkung war em Gescbenk furs Leben.
367
Da ware es keinem von una emgef alien, das Probezimmer zu ver~
lassen, wenn Mabler em paar Szenen probierte, in denen man unbe*-
scbaftigt war.
Seine Art zu arbeiten, boite aus a em Sanger alles beraus, was er
zu get en natte.
So ridel und lustig es sonst zugmg, wenn Hescb, Demutb und
icb auf der Bubne standen, bei Mozart nut Mabler am Pult, ging jeder
gcnweigend berum, voll Sorge dal? nicbt alles voll und ganz gelmgen konnte.
Gelang es, dann war Mahler kaum wieder zu erkennen, kam zu.
uns auf die Bubne, lobte uns und verteilte Zwanzigbellerstucke.
Und das waren dann die AugenbKcke, die lcb benutzte, urn lrgend
einen Urlaub beraus zuscbin den.
Icn scbilderte dann dem Direktor, in tier exnpfundenen \Vorten,
den weit vorgescbrittenen Grad meiner Verelendung, die nur durcb ein
Gastspiel in Brunn oder Prag gemildert werden konne.
Er lacbte: „Also gut, fabren Sie in Gottes Namen, aber wenn
Sie dann wieder zuruck sind, geben Sie eine Zeitlang Rube.
Icb beeidete dies und in sinkopierten Sprungen, die man scbon von
"Weitem borte, eilte er ins Orcbester, um das Werk zu Ende zu
zelebrieren.
Icn erinnere micb meiner allerersten Begegnung mit Mabler.
Icb war damals nocb in Brunn, aber scbon nacb Berbn an die
koniglicbe Oper engagiert, da bekam icb von der Direktion der Wiener
Hofoper eine Einladung zum Probesingen.
Fur jeden Osterreicber war damals und ist vielleicbt, aucb beute
nocL, das bocbste Ziel die Wiener Hofoper.
Also eilte icb freudigst nacb Wien.
Ein Probesingen ist etwas Furcbtbares.
Wenn icb beute Probesingen mutfte, icb bin uberzeugt, dai? icb
als ganzlicb talentlos davon gejagt werden wurde.
Das Probesingen gescmebt meistens in rlerden.
Es sammeln sicb ungefabr funfzebn bis zwanzig stimmbebaitete
Damen und Herren im Gange der Direktionskanzlei und werden zu
einem gegebenen Zeitpunkt vom Tbeaterdiener auf die Bubne getrieben..
Im scbwarzen stockfinsteren Zuscbauerraum sitzt der Direktor nut
eeinem Stab von musikaliscben Beratern und oben emer der Herren
Correpetitoren vom Dienst am Klavier.
Es gebt los, der Hilfsregisseur annonciert :
„Fraulein X, die Hallenarie! —
368
„Dick teure Halle grui? ick wieder, frok grui? ...
„Ick danke sekr Fraulein, die nackste bitte."
„Fraulein Y, die Hallenarie."
„Dick teure Halle gru
,,Ick danke, weiter, die Dritte!"
„Fraulem Z, die Hallenarie !"
„Dick teure Ha "
,Jck danke! - ScklufT
Dann kommen die Tenore.
Hinten rauspert sick alles.
Einer ink alii ert und fakrt sick mit einen Pinsel in Aie Nase.
Ein Dritter gurgelt und erklart den ikn kewundernd Umringenden :
-,.Damit gurgelt auck Sckmedesr*
Herr ao-und-so : „Heil Konig Heinr ick, segenvoll mog* Gott kei
Deinem Sckwerte steken."
.Jck danke, weiter."
Ein Bariton klockt umker in diesem edlen Kreise, so gekt es fort
bis alle dran sind. Die letzten funf kis seeks singen nur mekr fur sick,
well der Direktor und seine Berater sckon lange nickt mekr im Zu-
sckauerraum sind.
Die singen am langsten.
Das Ergeknis ist ein Brief, den das Fraulein Sgalitzer in einigen
nundert Exemplaren kereits vorkereitet kat, folgenden Inkalts:
,,Sekr geekrter Herr (Fraulein)!
Anlawkck Aes am soundsovielten stattgekakten Prokesingens ist die
Direktion des k. k, Hofoperntkeaters zu Erkenntnis gekommen, dai? ikre
kockstacktkaren stimmlicken Qualitaten derzeit als nock nickt gekorig
reif fur das k. k. Hofoperntkeater kefunden werden konnen.
Die gefertigte Direktion wird nickt ermangeln, sie im Auge zu
. bekalten.
Das ist das Prokesingen.
Auck lck war so ein Prokesanger, nur mit dem Untersckiede, dai?
ick allein singen durfte, ansckketfend an eine Orckesterproke, die Hans
Rickter leitete.
Die gr often des Hauses; Reickmann, Winkelmann, Grengg standen,
in den Kulissen.
Ick, aus Brunn, mit scklotternden Kmen auf der Bukne. — Hans
.Rickter am Pult.
Lokengrin: Heil Konig Heinnck .....
369
Elie ick beginne, sckreit ein Stimme aus dem finsteren Parkett :
„Sie, ick macke Sie aufmerksam, wenn Sic mir scbleppen, jage ick Die
zum leurel!
Es war Direktor Makler der mick so liebevoll ermunterte.
Mir wurde sckwarz vor den Augen.
Wie ick sang, ick weif? es nickt, alles drekte sick mit mir.
Sparer rand ick mick in der Kanzlei Makler gegenuker,
Jer sekr nett zu mir war unci kedauerte, da# ick kereits nack Berlin
cngagiert sei.
Oken gesckilderten Brief kake ick nickt kekommen.
Bex dem blotfen Gedanken an das Probesingen perlt mir der kalte
Sckweil? von der Stirne.
Von uberall perlt er.
Das war mein erstes Zusammentrefien mit Gustav Makler.
Zauberflote. Ick sang den Tamino.
In der gro&n Flotenszene gak es eine S telle, He ick nickt rick tig
mackte, wo ick regelma&g patzte.
Makler argerte sick jedesmal daruber, aber es war wie verkext, so
oft die Stelle kam, ging es immer, sckon aus Nervositat, sckief.
Als nun an diesem Abend die gewisse Szene kam, merkte ick in
Per Kulisse eine grotfe Aufregung, die Feuerwekrmanner sckossen kin
und ker, sogar ein Balettmadcken lier mit entsetztem Gesicktsausdruck
uker die oifene Bukne. — Feuer! —
Der Wolkenwagen, der mit den drei Knaben durck die Lutt flog,
katte sick infolge Kurzscklusses entzundet und krannte lickterlok.
Mir sckietft durck den Kopf: Nur keine Panik!
Und ick singe krampfkaft wetter, bis zum Ende der bzene.
Da plotzkck ner jemand 1m Publikum: „Feuer!
Im Nu scknellten die Menscken von den Sitzen auf und sturzen
wie besessen, einer uber den anderen steigend, dem Ausgang zu.
Ick sckreie aus Leibeskraften : „Sitzen bleiben, es ist alles sckon
vorkei!"
Auck Makler wendet sick urn: ,;Sitzen bleiben" ruft, er und diri~
giert weiter.
Das Publikum berukigt sick, das Unkeil ist abgewendet.
370
Nackker kam Maler zu mir und sagte:
„Wissen Sie, Slezak, dal? Sie zum ersten Mai die Scene rick tig
geeungen kaken/
Una sick zu den anderen wendend :
„Wenn Slezak ncktig singen soil, muf? das Theater krennen!
Emige Tage spater kegegnete ick ikm, memen kleinen Buken, o'er
dam als drei Jakre alt war, an der Hand, im Stadtpark.
Als ick Makler kommen sak, liei? ick den Arm des Jungen los,
um zu grutfen.
Der Buk fiel nut seinem weitfen Mantel in den Sckmutz.
„Keine Aufregung", ruft mir Makler zu, „ein Umsckmil?, geniert
einen Slezak nickt*.
Nack Jakren traf ick ikn wieder in New York.
Ein muder, kranker Mann.
Wir katten Pique Dame — Urauffiikrung fur Amerika, am
Metropolitenopernkaus.
Bei den Proken mcist er und ick allein.
Die anderen kamen oft gar nickt.
SeJten kebam er sem Ensemble zusammen.
Resigniert sal? er da, nut mir, ein anderer.
Mit Wekmut suckte ick den Feuergeist von einst. — Er war
milde und traurig 1 geworden.
Er kat nuck des ofteren ikn im Savoykotel zu kesucken ; ick kielt
es fur eine Artigkeit und 9ckeute mick ikn zu storen.
Einmal war ick dort, er konnte mick nickt empfangen.
Angina sagte man mir — und er lage zu Bett.
Wocnen darauf kegegnete ick ikm im Zentralpark. Er sak er-
eckreckena aus.
Lange unterkielten wir uns, es war das letzte Mai.
Wie ein Sckatten ging er dakin, mir krampfte es das Herz zusammen.
Im Mai als ick von Amerika kam, kesuckte ick ikn im Sanatorium
Low m Wien,
Es war zu spat, ick durfte ikn nickt mekr seken. In der Nackt
ist er gestorken.
Herzkck bitte ick ikn um Verzeikung, wenn ick ungereckt gegen
ikn war; keute in der Ennnerung kleikt nur das eine Gefukl — innigste
Dankkarkeit.
371
S.. WIRTSCHAFTLICHES TAGEBUCH
STEUERKRISE
Der „Vorwarts" kat neulick mit besonders fetter Ubersckrift einen
Alarmartikel veroff entk'ckt : Steuerkomplott. Das Komplott wird nack
seiner Sckilderung von [den burgerlicken Koaktionsparteien des Reicks-
tages gesckmiedet, — zu Nutz und Frommen des Kapitals und zum
scWeren Nackteil der Massen. Sein Ziel ist die „Auskoklung ,,, ' der
koken direkten Besteuerung, die seit Erzkerger in Deutsckland — in der
Hauptsacke freibck nur auf dem Papier des Reicksgesetzblattes — bestekt.
Das sozialdemokratiscke Organ kat nickt so unreckt ; man ist wirk-
Kck am ^iVerke, dies Steuersystem auszukoklen. Aber sckuld oder dock
mit sckuld daran, dal? das versucnt werden Itann, sind diejenigen, die
das Gekaude der deutscken direkten Besteuerung so windsckier aufge-
ricktet kaben, daf? es jetzt sckleunigst abgebaut werden muf, wenn es
nickt zusammensturzen solL Dai? beim Abbau, der nickt mekr zu ver-
meiden ist, auck andere Interessengruppen als die der Arbeiter und An-
gestellten ikr Provitcken macken wollen, kann memand \Vunder nek men.
Der verkullte Bankrott unserer direkten Besteuerung (uber den sick
Ian gat alles klar ist) zwang nickt unnuttelbar zur Reform; aus dem
offenen, der neuerdings zutage tritt, mussen legislatonscke Folgerungen
gezogen -werden. Ein Gesetz, das umgangen und keimlick verletzt wird,
kann (auck wenn dies nock so oft und nock so grundkck gesckiekt), auf
dem Papier unangetastet besteken bleiben ; ein Gesetz, dessen Vorsckriften
man unverklumt den Gekorsam weigert, mu^ entweder erzwungen oder
abgeandert werden. Die. Besteuerung der niedrigen und der mittleren
Lobn- und Gekaltseinkommen nack den Satzen des gesetzlicken Tarifs
ist tatsackKck undurckfukrkar ; niemand kalt es fur moglick und niemand
wagt es, die Steuerreste einzutreiben, die in jenen Emkommenstufen der
Lokn- und Gekaltsakzug iibrig latft. Der Tarif ist eine offenkundige
Luge geworden, seine Ermal?igung auf das praktisck Durcksetzbare ist
zwangslaufig.
Damit ist der Stein ins Rollen gekommen. Von links ker will
man die Revision auf die Herabsetzung des Tarifs in den unteren und
mittleren Stufen (auck kier, wenn mogkck nur fur die Lokn- una Ge-
kaltseinkommen) kesckranken ; von reckts ker will man sie ausdebnen,
urn einer Besteuerung die nack dem Programm mres Sckopfers besitz-
feindkcb sein sollte, mogkckst viele ibrer antikapitalistiscken Spitzen zu
nekmen. In der parlamentariscken Praxis lost sick dteser Kampf naturlick
in einen Kukkandel um Einzelzugestandnisse auf. Die kapitalistiscken
Aussickten waren dabei an sick reckt gunstig, weii in diesen Fragen
372
eine ziemkck ungebrockene, burgerlicke Einkeitsfront bestekt. Aber auck.
die antikapitaKstiscken sind nickt ganz gering, weil die Koalitionsparteien
die Sozialdemokratie nickt allzu sekr verargern durfen.
Der Ausgang dieses Handels ist ubrigens gar nickt so furcktbar
wicktig, wie es aur den ersten Blick aussiekt. Unsere direkte Be-
steuerung ist von rlaus aus so kokl, dais ein biscken mekr oder weniger
Auskoklung das Gesamtbild und das Gesamtresultat nickt entsckeidend
beeinflutft. Man kann sogar im Zweifel sein, ob gewisse B 'gunstigungen
dem nnanziellen Ergebnisse nickt zutragKcker waren als ikre Ver-
weigerung. Die lllegitime Steuerkinterziekung kostet dem Fiskus im all-
gemeinen mekr Geld als die legitime. Je rucksicktsloser sick das Ge-
setz gebardet, desto mekr versckarrt es den Kleinkrieg zwi scken Fiskus
una Zensit, bei dem der erstere meistens unterliegt.
Die sozialdemokratiscke Opposition -will durck ikren AiViderstand
gegen die Auskoklung der direkten Steuern den Ausbau der indirekten
verkindern. Ack das wird — leider — mifflingen. Das sekr sozial
gedackte Verkaltnis zwiscken direkten und indirekten Abgaben, das dem
nackrevolutionaren deutscken Steuersystem zugrundeliegt, wird nickt mekr
lange zu kalten sein. Man kat die Grenzen der finanziellen Ergiebigkeit
direkter Abgaben betracktlick ubersckatzt. Alle Steuern steken von
einer gewissen optimalen Hoke an unter dem Gesetze dies abnekmenden
Ertrages. Bei einem Finanzbedarfe von der Groi?e des F unsrigen ist es
aut die Dauer ganz unmogkck, die direkten Abgaben weit uber das
optimum kinauszutreiben, die indirekten tief unter dem optimum zu lassen.
Die Entente drangt fortwakrend : setzt in Gottes Namen Eure direkten
Steuern kerab, aber steigert die zum Teil wenig uber die Goldmark-
satze emporgekobenen indirekten! Unser Defizit und unsere ^Wieder-
gutmackungsverpfkcktungen drangen auck. Diesem autferen und inneren
Drucke wird sckKeflick keine nock so zake Doktrin, keine nock so
keitige Partei- oder Klassenabneigung widersteken.
Ist ubrigens die sckarfe Trennungslmie zwiscken direkten und in-
direkten Steuern nickt ein wenig prinzipentreue Selbsttausckung ? Nie
wurde die Lekre von der Unukerwalzbarkeit direkter Abgaben sickt-
barer Lugen gestraft, als jetzt. Daf? der Loknabzug in weitem Umfange
wie eine indirekte Steuer gewirkt kat, bestreitet kein Mensck und Ankanger
des Erfurter Programms kaben geautfert, dal? dies durckaus in der Ord-
nung seu Sie sind weniger damit einverstanden, dal? auck das Reicks-
notopfer sick zu einem guten Teile als indirekte Steuer entpuppt kat,
die die Warenkaufer zu tragen kaben. Aber sie konnen s nickt andern.
273
„BEREITER ALS BISHER"
Vor zwei AkVocken wurde in einem Autsatze dieaer Zeitsekrift
gefragt, wo denn die sckonen produktionpoktiscken ldeen una Plane ge—
blieben seien, die Herr Simons in semen suddeutscken Reden angekundigt
katte, von denen man aker in London kein Sterbenswortcken mehr
korte : Internationale Industriezusammenfassung und Arbeitsteilung,
systematiscke und unmittelkare Einset2ung der deutacken Produktion fur
den A^Viederaufkau der kriegszerstorten Gebiete Frankreicks. Auck lm
Reickstage 1st die Frage nack dem WIederaufbauprogramm fur Nord-
frankreick gestellt worden. Der Autfenminister kat zunackst erwidert,
ein solckes Programm konne von uns gar mckt ausgearkeitet werden ;
dazu gekorten eingekende Besicktigungen deutscker Faekleute, die Frank-
reick mckt zulasse.
Herr Simons kat inzwiscken offenbar eingeseken, dal? die Kollegen
oder Referenten, die Ikn zu dieser Bekauptung veranlatften, sekr sckleckte
Berater waren. Es 1st naturlick Unsinn, dai? wir kein Wiederauikau-
programm aufstellen konnen, wcnn wir das Terrain mckt vorker Kilo-
meter urn Kilometer genau untersuckt und vermessen kaben. Wir
wis sen durck Beokacktungen und Auizeicknungen aus der Knegszeit
und aus den zaklreicken amtlicken und prtvaten Angaben der Franzosen
genug uber das Gebiet, die Art und den Umfang der Zerstorungen, urn
konkrete und brauckkare Plane entwerfen zu konnen. Naturlick werden
Ungenauigkeiten unterlaufen und Vorkekalte gemackt werden mussen ;
aber das ist nock lange kein Grund, die ganze Arbeit ungetan zu lassen.
Das erkennt, wie gesagt, jetzt auck der Autfenminister, er kat lm Reicks-
wirtsctaftsrate erklart, dai? ,,fur den "Wiederaufkau der zerstorten Ge-
biete nunmekr ein wirklick in das Einzelne gekender Plan gemackt werden
mu#, soweit das bei dem Mangel der Betatigung an Ort und Stelle fur
una iiberkaupt moglick 1st.
Herr Simons kat dann auck fur das Anieikeproklem „wirklick
ausgearbeitete Projekte" verkeitfen oder verlangt und er kat, ekrlick, wie
er ist, betont, „wir muJ?ten bei den nacksten Verbandlungen bereit sein,
vielleickt bereiter, als daa fruker der Fall gewesen ist." Der gute Vor-
satz ist zu loben. Aber es ware vielleickt nocb etwas loklicker gewesen,
wenn wir uns auf London sckon vor London vorkereitet katten. Z war
wiederkolt man uns bis zum Uberdruu, dai? auck dann nickts als der
Abb ruck erreickt worden ware. Das ist in der Tat reckt wabrsckein-
lick. Dennock stunden wir der ^kVelt und sogar der Entente gegenuber
anders da . . .
374
AUS DEM TAGE-BUCH
DIE WELT LIEGT WIEDER
OFFEN
I,
Am 14, Marz fuhr der Expre£zug
Paris - B erlin - Warschau zum ersten
Mai wieder quer durch Europa.
Die Welt lag offen, die Welt gehorte
Dir. Ich flog Uber die Welt, ich auchte
Heimaten, eine Heimat fur den Sommer,
hoch droben in den norwegischen Bergen,
cine Heimat fur den Winter, im durch-
sonnten Sande Siziliens, eine Heimat fur
die Jugendjahre, im Pariser Quartier latin,
cine Heimat fur die ersten Jahre der Ehe,
in den alten Hausern der inneren Stadt
Wien, eine Heimat fiir die Arbeit der
Manneajahre m Zehlendorf bei Berlin, erne
Heimat fur die letzten Tage'des Zusehens,
in ciner stillen deutschen Stadt mit schonen
Promenaden, mit Lesekabinett und guter
Muaik.
Ja, die Welt lag offen.
Einmal sagte Eleonore Duse xu meiner
Treundin: „Schwimmen Sie mit una nacb
Rio." Drei Tage spater stieg sie in Genua
ins Scbiff.
Einmal telegrafierte Bjorn Bjornson:
^Nachste Wocbc wird die scheme, weii?~
haarige, aufrechte Dame 75 Jahre". Am
Sonntag waren wir in Aulestad.
fiinmal ging ich abends in Wien
dpazieren, da kam mir ein Zeitungsblatt in
die Hande, aus dem ich sah, da£ morgen
Rudolf Rittner zum letzten Male auf die
Buhne tritt. Vom Prater aus fuhr ich
lum Franzjosefsbahnhof, im dunnen Uber-
zieher, ohne Koffer. Daa Ndtigatc kaufte
ich am nachsten Morgen in der Potsdamer
Strafe. Das Notigste ? Nein, daa war
•die Anweisung auf den Sessel, den Brahm
in eine Loge stellen lietf.
II.
Dann war die Welt versperrt,
Man ging an der Kette. Die Behorden
hielten die Leine stramm. Wollte ich von
Berlin nach Warmbrunn, so mu//te ich
mich zweimal im Polizeibiiro melden. Im
Zug nach Schlesien hatte ich meine Papiere
vorzuweisen. Wollte ich von Miinchen
nach Salzburg, so mufite ich fremde Hande
in meinen Taschen wiShlen laasen, mein
Korper wurde abgetastet, die Ordnung
meiner Koffer durcheinandergeachmiasen.
Jede Reise mutfte ihren Zweck, jeder Zweck
die koniglich preutfischeGenehmigung haben.
Die Welt war Dir versperrt.
III.
Eines Tages schlich ich zum Anhaltcr
Bahnhof. Ich wollte den Zug sehen, auf
dessen ersten Waggons die Tafei hing:
Berlin-Paris. Der Kondukteur stand ao
da, wie ich mirs gedacht hatte, mit einem
Fui? auf dem Trittbrett zum Waggon
I. Klasse, sehr zuversichtlich, ziemlich
imponierend, im Bewutftsein der direkten
Route: Berlin-Paris.
Ich fuhr wieder einmal von Miinchen
nach Salzburg. Ich ballte die Faust in der
Tasche, wenn ich daran dachte, wie meine
Brust, mein Hinterteil, meine Hosentaschen
abgetaatet worden sind. Ich dachte an die
durcheinander geworfenen Koffer und an
die sechsmal beaugten Papiere und an unser
knirschendes Warten im langen Straflings-
zug. Aber siehe, keine Hand stoberte in
meinem Anzug, mein geoffneter Koffer
ikerbeste %&tinai&£
375
wurde mit eimgen prufeaden BKcken und
rucksichtsvollen Handgriffen rcvidiert und.
mein Pal? kam schnell wieder zu mir
zuriick.
Eine Mauer dea Gefangnisses war ge-
fallen.
Die Welt liegt wieder off en?
IV.
Mit einundzwanzig Jahren konnte man,
mit einem Koffer, ins Quartier latin reisen.
Mit achtundzwanzig Janren waren es
schon drei oder vier Koffer.
Ala ich nach Schweden ubersiedelte, da
ging ich zum Spediteur und bat ihn, einen
Mann zu schicken, der mein wichtigstes
Eigentum .einpacke und in den gewahlten
Guterwagen AiVi en- Stockholm stelle.
Toricbt, wie man allmahlich mit den
Dingen zusammenbangt, mit denen man
lebt. Ich will dieses braune, einfacKe
Zimmer, ohne Schnickschnack, obne Zierrat,
solide und warm, um mich haben, icb will
nicht an einem wackKgen Hotelsekretar,
Bondern an meinem zwei Meter langen,
breit micb umrabmenden Scbreibtisch
sitzen, icb braucbe meinen abgesessenen
Lederfauteuil. (So alt bin icb geworden,
dai? die Dinge an mir hangen.)
Artne Eleonore Duse, icb erinnere micb
heute immer wieder an Sie. Jetzt fallt
mir ikre Verxweiflung ein, wenn sie auf
ihren Gastspielreisen, zu denen sie die
Geldgier des Helden vom Fiume trieb, von
einem troatlosen Hotelzimmer ins andere
wanderte. Sie nabm breit e seidene Tiicber
mit und das Erste, was geschenen muffte,
-wenn sie in einer Hotelmarterstation Ian-
dete, war, daJ? sie Mobel und Bilder und
"Wande mit Seiden bedeckte.
Wie bast Du uns beneidet, als Du —
die Welt lag damals nocb offen — hiirtest,
dzS wir nach Stockholm, nacb Lund, nach
Frankfurt mit unserem braunen, einfacben
Zimmer kamen, daff wir in unserer Um-
gebung, inmitten unserer Dinge blieben,
mit einem Zubause ein Jahr in Schweden,
ein Jahr in Westdeutschland, ein Jahr in
Belgien lebten. Ja, sagtest Du, die Dinge
sind viel lebendiger, als ziemlicb tote
Menscben ahnen.
V.
Die Welt bort allmahlich auf, ein Ge-
fangnis zu sein.
Man kann wieder durch Eur op a ziehen.
In Hamburg stehen wieder Schiffe see-
fertig.
Es gibt wieder sorgende Hande, . die
Liebe zu den Gegenstanden baben. Di'nge
werden nicht mehr „f ortgeschafft' \ Die
Zeiten, da Hauser entleert und ihr Inhalt
auf einen wustenHauf en zusammengeworfen
wurde, Hegen weit, wcit zuriick. Die
Vase, die geatern auf Deiner Kommode
stand, wird von sanften Handen behutsara
in hullende Holzspane gelegt, und wird
nachste W^oche in Kopenhagen beil auf-
ersteben.
Nicht nur wir konnen wieder reisen,
auch unsere Sachen habcn wieder Be-
wegungsfreiheit.
Icb konnte, wenn meine Seele nicht
inzwischen seUhaft geworden ware, mein
braunes Zimmer nachste Wocbe in Kopen-
hagen oder in Heidelberg aufstellen lassen-
Die Welt liegt wieder offen . , .
LENIN ODER WIE DER
WIND BLAST
Szenen aus einer grotfen Redaktion.
Vorgestern
Chefredakteur (zum Auslandsredakteur);
Da haben Sie die neuesten Telegraw.me
aus Helaingfors: Kronstadt in Aufstand,
Erhebung in Petersburg, Strafienkampfe in
Moskau. Geben Sie das Ganze unter dem
Titel: „Die Revolution in Rutland" ] oder
„Rufilands Befreiung" und scbreiben Sie
ein paar freundlicbe Worte liber das grotfe
gesunde, russische Volk, das sich endlich
auf seine Urkraft besonnen hat.
376
Gestern
Chefredaheur (zum Auslandaredakteur) :
Da baben Sic die neuesten Telegramme
uber Rutland. Kronstadt iat wieder in
der Hand der Bolacbewiki, Sinowjew
regiert in Peteraburg, in Moskau scheint
<uberbaupt nocb nichts loageweaen zu sein.
Die fette Oberscbrift ^Revolution in Rut-
land"' batten Sie acton gestern weglassen
konnen. Sagen Sie mir, Sie sind dock
em alter Zeitungahase, wie konnten Sie den
Depescben aua Helsingfors so blind ver-
-trauen ? Icn wiirde Ibnen iiberbaupt em-
pfeblen, an die russiscben Dinge mit einiger
Skepsia heranzugeben. Scbreiben Sie ein
paar voraicKtige Worte uber die ruasiacbe
Kriae, die wabrscheiniicb docb erst im
Herbat zur Losung kommcn wird. Oder
laasen Sie iiberbaupt den Termin often.
Lassen Sie uberbaupt so viel als moglicn
offen.
Heute
Chefredakteur (zum Auslandsredakteur):
Da baben Sie die neueate Depescbe aus
London. Das Handelsabkommen zwiscben
Sowjetrutfland und England wurde gestern
abgescblossen ! Sagen Sie, leaen Sie denn
keine engliscben Zeitungen? Dai? Sie nicbt
franzoaiscb leaen, das weiff icb, Unkennt-
nis der franzosiscben Spracbe ist die feate
.Basis der Continentalpolitik. Aber icb
dackte, Sie batten in der Handelsscbule
ein bitfcben engliscb gelernt ? Wie konnten
sie sick eigentlicb auf diese erbitterte Politik
gegen Sowjetruffland featlegen ? Daa Land
bat jeden Aufatand unterdruckt und wird
fetzt G each aft e nut England statt mit - una
macben. Geben 3ie das Londoner Tele-
•gramm und scbreiben Ste ein paar energiscbe
AVorte gegen Simons dazu. Er soil sicb
an Lloyd Georges ein Beiapiel nebmen.
In der Politik mufi man mit Fakten, nicbt
mit ^Wiinscben recbnen. Und scbreiben
Sie : Wenn mal die Blockade gegen Ruff-
land gefallen iat, darin wird man erst das
weltbistoriscbe Experiment Lenina in seiner
Realiaierbarkeit wirklicb beurteilen konnen!
„ER ZOG DIE PISTOLE UND
SCHOSS DEN ENTENTE-
OFFIZIER NIEDER."
Am 14. Marz war in der „Deutacben
Zeitung'*, die Max Maurenbrecber leitet,
unter der in dicken Lettern geaetzten Ober-
scbrift ,,Ein emporender Zwiacben-
f all** erne aufferordentlicb aufregende
Scbilderung zu leaen:
Ein emporender Vorfall wird
aus dem neu beaetzten Gebiet ge-
meldet: Dort grufite ein deutscher
Sipo-Orfixier einen Entente-Offizier
nicbt „voracbriftamaf?ig**. Der feind-
licbe Offizier scblug dem Deutacben
„zur Strafe** mit der Reitpeitscbe
ins Gesicbt. Darauf tat der Deutsche
daa Einzige, was er mit einem
solcben „Kameraden" m konnte:
Er zog die Pistole 1 -*u scbofi den
Ententeoffizier nieder.
Daa Blut stieg Einem zu Kopf.
Aucb nacb dem ersten Moment blieb
man in Wallung. Vergebens sagte man
sicb, daff dieaer dumm-anmaffende Grutf-
zwang zuerst von deutacben Orfizieren in
Belgien und Frankreich eingefuhrt wurde.
Nocb erinnere icb nucb jenea truben Winter-
tages, an dem Herbert Eulenberg, von
Westen kommend, mir zum eraten Mal
einen solcben Konflikt auf dem Burgersteig
scbilderte. Wenigc Erzablungen baben so
viel Wut gegen den Krieg erzeugt wie
dieaer blodainnig-erbitterndc Grutfzwang,
377
auggeubt an wekrlosen Leuten. Aber nun
sincl wir aeit zwei Jahren nicht mekr im
Krieg unci allmaklick konnten aucK Fran-
zosen sick diese narriacken Brutalitaten ab-
gewoknen. Im vorliegenden Falle kam nun
gar nock cine Reitpeitscke dazu. Auf
cinen Hieb mit der Reitpeitscke bleibt
wirklick nickt viel iibrig als das „Euizige,
was man mit einem solchen Kameraden tun
kann" : die Pistole. IcK will gesteken, daf?
die Leicke des niedergeknallten Reit-
peitsckensck wingers mir fast so viel Genug-
tuung bereitet bat wie der totgescbossene
Getfler im Theater.
Und ein paar Tausend oder Zebntausend
Leser der ,,Deutscben Zeitung" werden die
tapfere Erwiderung mit ahnlicher Lust ver-
nommen baben. Der arme Teufel, der
Sip o- Offizier, der seine Tat mit grausamer
franzosischer Kriegahaft und dem Tode
biitfen mui?, tut Einem von Herzen lcid.
Als icb die Notiz zum zweiten Mai
las, fiel mir auf, dafi der ,,emporende
Vorfall" aus ,,dem besetzten Gebiet'* ge-
meldet war. Nicbts weiter. Die Stadt
war nicbt genannt. Der Tag der Tat war
versckwiegen.
Und siebe, am nachsten Morgen riickte
das "Wolfsburo mit der grotfen Dementi-
spritze aus und stellte feat, dal? kem fran-
zosiscber Offizier eine Reitpeitscbe ge-
schwungen und kein deutscber Offizier eine
Pistole entladen batte. Es bat wegen dieser
dummen Grufierei einen Zusammenstoi? ge-
geben, der aber gar nicbt dramatiscb, son-
dern mit einer Geldstrafe abgeschlossen
wurde.
Icb schamte micb meiner Emporung.
Icb hatte denken konnen, dafi Geschicbten
mit Reitpeitacben und Pistolen meistens er-
funden sind, und datf das ,,Einzige, was
man mit einem solcben Kameraden tun
kann" meistens gar nicbt gescbieht, weil die
dramatiscb - romanbaften Voraussetzungen
erst in den deutschvolkiscken Redaktionen
erzeugt werden.
Wean ein orientalischer Redakteur sick
solcbe Erzahlungen aus schmutzigen Fingern
saugte, natilrlicb mit anderen Voraus-
setzungen, -was fur ein Gebeul ginge dann
durck die versckiedenen „deutschen Zei-
tungen!"
Und "was aagen die tappisch-glaubigcn
Leser dea Herrn Max Maurenbrecker dazu ?
Sckamen sie sick ikrer unnotigen Emporung
aucb? Und was sagt Herr Maurenbrecker
selbat zu seinen Sensationen? Er war dock
einxnal Pastor und freireligioser Prediger
und Lebrer in Wickersdorf. Er kat
freilick Ubung in Emporungen, ist sogar zu
zweimaliger Entrustung und Emporung
verpflicbtet, wie konnte er sonst eine
taglick zweimal auf gelegte Zeitung erzeugen 1
Ack, die ewig Entriisteten sind gewoknlick
die dauernd Hineingefallenen?
AN DIE LESER!
Mit dem nacksten Heft beginnt das
2. Quartal diesea Jabrgangs.
^Jir bitten unsere Leser, sick in Abo-
nennten zu verwandeln. Eine Zaklkarte
liegt dem Hefte bei.
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recbtzeitig erneuern, damit keine Verzoge-
rung in der Zustellung entsteht.
Abonnenten, die das Tagebuck nickt.
abbestellen, erkalten es wie bisber zugestellt.
INHALT DES LETZTEN HEFTES
(Nr. 11):
Stefan C^rotfmann : Richard Riedl
James Alb. Honeij; Wie lange wird Polen.
besteken ?
Georg Brandes: Berliner Erinnerungen
Weitscb : Volksbocbscbulkeim Drciftgacker
Grotfmann: Artkur Holitacher, der Leninist
Friedrick Wolf : Der Kafig in der Nacktigall
Robert Walser: Portrat
Aus dem Tagebuck.
Diesem Heft ist ein Proapekt des Kurt Wolff Verlag, Miincken eingekeftet.
Redaktion des „Tage-Buck" : Berlin W 35, Potsdamer Strafe 123 b, Tel: Lutzow 493.
Verantwortlicb fiir den redaktionellen Teil : Stefan Grotfraann, Cbarlottenburg. Verlag :-
Ernst Rowohlt Verlag, BerlinW 35. Potsdamer Straffe 123b. Druck: R. Abendrotk, Riesa.
378
Erstes Deutsches
Qustau Mahlet>Fest
Wiesbaden
11. — 25. April 1921
ueranstaltet uom MAHLEEBCIND, Ortsgr. WIESBADEN.
Musikalische Leitung: CAUL SCHCmiCHT.
^tueite Stnfonie, Dritte Sinfonie
Rinffe Sinfonic
Seehste und Siebente Sinfonic
„Lied obn dcr Erdc",
Au^erdem iner Kammerkon^erte :
ITT.
Rheinische Kammermusik
Don Anders / Bagier
Jurgens / Qngcr
TV
Werke uon Bach u. Busoni.
I.
Mahler: Licdcr
Schnabcl: Notturno
Bartok; Strcichquartctt
II.
Rudi Stephan: Licdcr
Mitunrkende u. a.:
Frau Charles Cahier / Emilie Lauer - Kottler
Sigrid Onegin / Therese und Artur Schnabel
Bruno Eisner / Louise Wilier / Midi. v. 5*adora
ustu. usu>.
Das uerstarkte Stadtische Orchester.
Yortragc uon Karl Holl / Rudolf Kastncr /
Rud. C. Mcngclbcrg / Paul Stefan.
Allc Anfragen wegen Billetbestellungen an Kurtaus "Wiesbaden , Mahler - Vest.
Die Bucher der
Deutscken Verlagsgesellsckaf t
fur Politik unci Gesckickte m. k H.
in Berlin W 8 / Unter den Linden 17—18
1. Der Friedensvertrag
Die einzige dreispracbige Ausgabe der Welt
Die kleine Ausgabe rait autbentiscbem deutschen Text
Die Karten des verklcinertcn Deutscblands
Das grotfe amtlicbe Sacbregister mit 13 000 Sticbworter
2. Die Gesckickte
der Friedensverkandlungen
„7^fateriaJien t hetreffend die ^WaffenstHhtandaverhandlungen"
(Die Verhandlungen von Compiegne, Spaa, Trier, Briissel und Luxemburg in 8 Banden)
^J^aterialien^ hetreffend die FriedensverhandJungen'
(Die Verbandlungen von Versailles in 13 Banden)
Die „Dokumente" des Graf en Brockdorff '- Rantzau
3. Die Materialien zur Sckuldfrage
Die, „Deutschen Dokumente zum Kriegsaushruck"' in 4 Banden
Die Dokumente zur frttberen Vorgescbicbte des Weltkrieges in 15 Banden
Das deutscbe Weitfbucb zur Scbuldfrage / Die Aufzeicbnungen des Graf en
Pourtales / Kommentare und Polemiken zur Scbuldfrage
4. Die Aaitorenkucker des Verlages
Graf Brockdorff - Rantzau / B. W. von Bulow / Hermann Burg / Hans
Delbnick / Ernst Drabn / Siegfried Dyck / Manfred Eimer / Albert Haas /
Hans F. Helm o It / Herbert Kraus / M. Kronenberg / Joachim Kiibn / Graf
Max Montgelas / Friedricb von Oppeln - Bronikowski / Theodor Konstantin
Oesterreicb / Graf Pourtales / Paul M. Ruhlmann / Hans Webberg / Die
Isolierung Japans / Die Parteien' und das Ratesystem
5. Die Zeitsckrift »Die Deutscke Nations
Die Zeitschrift sacblicber und loyaler Politik
6. Die vorkereiteten Biicker
Werke von Lord Haldane / General Basil Gurko / Nerman Angell
Eberbard Bucbner / Annalise Schmidt / Bernbard Schwertfeger
Graf Spiridion Gopcevic u. a.
Die jeweils gultigen Ladenpreise nennen die Bucbhandlungen / Auf Wunscb
erteilt der Verlag selbst fede Auskunft / Ueber die einzelnen Gruppen der
Verlagserscbeinungen steben Sonderprospekte zur Verfugung.
Rudolf Borchardt
PROSA I
Geheftet M. 32,— gebunden M. 40. — ,
Halbpergament M. 52* —
IN HALT: Villa / Uber Alkestis / Stefan Georges
Siebenter Ring / Veltheim Worms / Intermezzo /
Dante und deutscher Dante / Erbrechte der Dichtung
Dr. ARTHUR ELOESSER in der „Vossischen Zeitung"
6. Marz 1921: „Mtt seiner literarischen Unerbittlicbkeit
scheint Borcbardt aus der alteren romantiscnen Scbule zu
stammen, ala Polemiker ein Enkel der Schlegel, als pbilo-
logiacber Poet und beseelter Historiker ein Sohn von Jacob
Burckbardt und wahrscneinlich aucb ein Neffe vonWilbelm
Hertz. Borcbardt bat Tradition, grotfe Tradition sogar,
er gebort zu enter fur Deutscbland ebrenvollsten Klasse
von Schriftstellern, die una bei allem Kulturgescbrei ver-
loren gegangen iat. Welche Fiille von Kenntnissen —
Kenntnisse scbaden nie — von Anscbauung und dar-
stelleriscbem NacKdruck drangt aich in der nicnt umfang-
reicben Kritik einer Dante-Ubersetzung! Aber die grotfe
Leiatung dieses Bandes, dem boffentlicb noch mancbe folgen,
iat der Aufsatz uber Wesen und Gescbicbte der italieniscben
Villa. Ein Monument albau spracblicber Arcbitektur , ein
ernstea Vorbild, aber aucb ein strenger Vorwurf fur eine
Generation, die die edle, die mannlicbe Kunst der Proea
veracMeudert und veracbludert bat. Es war Zeit, daJ? ein
Stiltat solcben Wacbstums sicb endlicb aus seiner wunder-
lichen Verborgenbcit erbob.
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DE£ ANBRQCH
5. ordentliches
Orchcster - Kon^ert
am Donnerstag / den 31. Mar^ 1921 / f 1 ^ Clhr abends
in der Philharmonic tnit detn
Philharmonischen Orehester
DIRIGENT:
Leo. B L6C H
PROGRAMM:
E. N. v. RE^NICEK
Out>erture 311 „ Donna Diana"
3 Orchesterlieder fur cine Tenorstimtne
Dcr Sieger, sinfonisehe Dichtung
SOLIST:
JOSEF MANN
Karten bet Bote &. Bock und bei Wertheim
Dai. Tage-Buck / Heft 13 JaLrg. 2 / Berlin, 2. April 1921
thomas wehrlin UNTERHALTUNGEN
MIT KOMMUNISTEN
Italienreisen. Sie sind nack Italien gefakren, Paul Levi? Vicl
Vergnugen in Livorno. Genietfen Sie die Stille von Siena, fakren Sie
durck die sckwarzen Kanale von Venedig, stolpern Sie uker den altcn
Marktplatz von Ravenna. Es ist Frukling da drunten. Die Orangen
blukn und wenn Sie sick ein kitfcken Zeit lassen, kommen Sie in den
neibesten Taumel der Rosenblute. lrotzdem . . . lck wurde mir an
lhrer otelle jetzt in Verona den grauen Himmel Preuisens kerbeiwunscken,
lck katte mcnt die Kraft, in scnwarzer Gondel durcn die Lagunen zu
gleiten, icn konnte jetzt in Frascati kem Glas Wexn trinken. Ikre Reise
ist eme Fluckt, Ikr italieniscker Aurentkalt ist nur ein Alim. Es ist
wanr, Ikre Genossen kaben Sie a. D. gestellt, Die sind von den, starkeren
Lungen in der kommumstiscken Partei sckackmatt gesetzt worden t Sie
sind zum simpeln Genossen okne Fukrerrang degradiert worden. Aker
es gibt eme Wurde, der man nickt entkleidet werden kann, eme V erant—
wortlickkeit, die man sick selkst auferlegt. Was lm Augenkkck in
Deuticnland gesckiekt, das ist, auck nack dem Urteil zurecknungsramger
.Kommumsten, merits anderes als die Zerscklagung Ikrer Partei. Und
m diesem Augenkkck geken Sie nacn Italien, Geyer, Nonnen nack Rut-
land, Adolf Hoffmann fuhlt sick krank und urlaubsbedurftig. Das ist
der Abmarsck der Fukrer in einem Augenblick, wo die Partei sick selbst—
mordet. Denn dies alles, Attentate auf Ratkauser, Denkmaler, Eisen—
baknzuge, dies alles ist dock mckts als ein sinnloses V erpuf f en sogenannter
revolutionarer Energien. Das kuKt die Partei nickt bloi? mit Menscken—
opfern, dai? kuift sie mit emem politiscken Katzenjammer, aus welckem
es keine Auferstekung gibt. Bewundernswert die gleickmutige Seele, die
in diesem Moment an italieniscke Landsckaft sick verlieren kann. Es
lieUe sick rreinck eine andere Seelengrolse ersmnen. Einen Mann, der
seinen Rang aus sick selbst kolt, einen von V erantwortungsgefuki getriebenen
Fukrer, der sick lieber alien 13ulldoggen der eigenen Partei aussetzt, als
dal? er in dieser Krise von seinem Posten wicke. Aber solcke Fukrer
kat Deutsckland .m keinem Lager. Der Kronprinz wui?te im entsckeidenden
Augenblick Holland zu linden, Ludendorff reiste im ricktigen Moment
nack Sckweden. Sie kaben Itaken entdeckt. Glucklicke Reise! . . .
385
Der Grolfenwakn des Proletariers. looker nahmsn eit/ent—
hen die kommumstiscken Arbeiter den Mut, ibre beaten Kopre okne
Zaudern abzusetzen ? Wie still ist em Mann wie Ernst Daumig gemacht
worden. Woker mmmt sckreiende Mittelmamgkeit die Bekerztkeit, an
die Spitze emer der Zakl nack immerkin starken Partei zu treten? Das
kommt daker, lieker Recktsanwalt Levi, dab Ikr, Intellektuellen, jahre-
lang den Grobenwakn des Proletaners grolsgezucktet kakt. Proletkult —
das bedeutet mckt Kultur rur das Proletariat, sondern vielmekr den un-
wurdigen Kult, den Ikr mit dem Proletaner getneken kakt. Ibr habt
dem Arbeiter eine Art Gottesgnadentum emgeredet, Ibr kabt mm in
V ersammlungen und Brosckuren aurgebunden, er, der Proletaner, set
vermoge seiner kistonschen Mission, dank semen proletanscken Instinkten,
lmstande, die neue Gesellsckart zu sckairen. Ikr kabt der blanken Un-
wissenkeit, der roken Gewaltlust gesckmeickelt, Ikr kabt aur der prole-
tanscken Eitelkeit wie aur emem alten Klavier gespielt und kein falscher
Ton kat Euck akgesckreckt. Nun steken sie da, die Gesckopre Eurer
koriscken rvunste, kereit zn direkter Aktion, voll Veracktung rur jede
Art von Fukrertum, kereit, den Gegner zu zersckmettern, eriullt von
proletansckem Gottesgnadentum. Ikr kabt der Unwissenkeit, der Brutali-
tat, der Anmaf?ung den Mut zu sick selkst gegeken. Ikr kabt den Partei-
genossen jederlei Ebrlurckt ausgetrieben, kabt lkn in erne maltose Selkst-
ubersckatzung getrieben und in einen Macktdunkel, den er bitter butfen
wird. Wie oh kabt Ikr ikm vorge3ungen : Alle Rader steken still,
wenn Dein starker Arm es will. Aber dai? es leickt ist, Rader zum
Stillstekn zu bringen und unendk'ck sckwer, sie wieder in Sckwung zu
bringen, das kakt Ikr versckwiegen. Im Stillegen der Rader ^kabt Ikr
alle unterwiesen. Wer aber lekrte den deutscken Arbeiter, das Werk
-wieder in Bewegung zu setzen ? Und eben , diese bittere. mukevolle,
nuckterne Arbeit ist von noten. Nicbt das .kleinste Biscken genossen-
sckaftlicken Aufbaus kakt ikr unternommen. Keine Erziekung zum Fukrer
wurde geleistet. Ikr seid Rketoren der Revolution geblieken und das
entartete allmahlick zur truksekgsten Sorte von Sckauspielprei.
Der^Tod der Worte. Als , Liebkneckt mit dem Ingrimm des
Hystenkers zum ersten Mai das Wort Blutkund gegen Noske sckleuderte,
da scklug der Blitz ein. Wie oft kabt Ikr seitker den Blutkund strapa-
ziert, wie viel Leute kakt Ikr Morder gesckolten und wer wurde nickt
Lakai der Bourgeoisie genannt? Aker die Worte lassen sick den MiiTkrauck
386
aickt gefallen. Der erste Uker4all auf ikre JungfrauUckkeit wirkt. Wer
aoer alle Tage Morder sckreit, der stumpft nur das Okr der Horer
aL Die Kommumsten kaken keine Okomomie im V erkrauck aer
atarken Worte geuLt. Das rackt sick jetzt. Wer jetzt das Wort
Morder m erne Versammlung gellt, dem antworten pklegmatisck gaknende
Horer. vergekens der Aurmarsck raustdicker Lettern una aroknenaer
Anklagen. Ikr kakt Euck keiser gesckrien und die Welt korckt wieder
auf die leiser Spreckenden. So kakt Ikr, durck wustes Agitatoren-
turn, die 1 918 rekellisck gestimmten Seelen allmakkck stumpr getnackt,
ikr kakt kein seeksckes Augenma#, Ikr kakt ukerseken, dal? Emporung
keine Ware ist, die sick einpokeln la#t. Kame heut ein Morder von
£roi?tem Format, Ikr waret urn die Vokakel verlegen, die Ikr iktn zu-
sckleudern sollt.
Ick versteke, Paul Levi, dal? Sie aufkracken nack Italien ....
'RUDOLF KOMMER (London) DER MANN, DER IM
SCHATTEN STAND
„Er ist kein Genie, aker er war immer sympatkisck, liekenswurdig,
aurricktig und ekrenhart. Mit solcken \Vorten veraksckieden sicn Freund
und Feind von Bonar Law, dem krankkeitskalker aus dem pohtiscken
Leken sckeidehden Haupte der konservativen Partei, Grolssiegelkewakrer
und Fukrer des Unterkauses. Nickt einmal ale orriziosesten Organe der
Konservativen versucken es, seine Proportionen nekrologisck zu vergroKern.
Nie nock ist andererseits den Gegnern eines sckeidenden Staatsinannes
die traditionelle Prlickt der warmen und woklwollenden Grakrede leickter
^erallen. Dakei ist die Krankkeit Bonar Laws kestimmt kein politisckes
Leiden. Poktisck war er nock nie so gesund. Er mui?te einem realen
ilerzukel Recknung tragen. Man muiste also glauken, eine jener sckeinkar
unentbekrkcken Nullen vor sick zu kaken, die im poktiscken grol?en
Einmalems lediglick der Kennzeicknung des Stellenwertes anderer Ziffern
dienen. Banal wie seme poktiscke Lauikakn sckeint auck dieses Ende:
keine parlamentanscke Niederlage, keine Aufleknung der eigenen Partei,
kloi? das Diktum des Hausarztes.
B-etracktet man aker dieses auffallige Ukermaf? an Unauffalligkeit,
diese ut gewoknlieke Fulle an Gewoknkckkeit. diese autferordentkcke Ver-
korpe ung des Durcksckmttlicken, so mul? man stutzig werden. ^Vare
387
Bonar Law ein erblicber Monarcb, der Exponent einer macbtige»
Familiengruppe oder der Beauftragte irgendwie anonymer Krarte gewesen^
seine anscbeinende Trivialitat ware mcbt autgcf alien. Er war aber ein
Autfenseiter. Ein volliger Autfenseiter wie vor lbm nur nock Benjamin
Disraeli, Lord Beaconsfield. Dieser Fukrer der bodenstandigen Konser-
vativen wurde in Kanada geboren. Er wurde Kaurmann. Handelte bis
zum zweiundvierzigsten Jabre in Glasgow mit Eisen. \Vurde dabei mcbt
uberma#ig reicb, immerbin aber unabbangig. Kam 19G0 ins Unterbaus
und wurde 1910, als die B. M. G.-Bewegung innerbalb der konservativen
Partei („Balfour must go") siegte, zum Nacbfolger Artbur Balfours ge~
wablt. Die )ungeren Konservativen waren damals mit dem pbilosopbie—
renden Relativisten als Fubrer unzufrieden und wollten einen Drauf-
ganger. Sie wablten diesen bedacbtigen scbottiscben Kanadier. Obwobl
er weder zu den Landjunkern, dem Ruckgrate der Partei, nocb zur
Aristokratie geborte. Obwobl ibn keinerlei Beziebungen an Eton oder
Harrow, Oxford oder Cambridge, den Brutstatten konservativer Staats-
manner, knupiten. Aucb Armee, Flotte, Hocbkircbe batten mit seiner
Erwablung nicbts zu tun. Dal? er zeitlebens Abstinenzler war, bat seiner
Beliebtbeit in den konservativen Klubs gewil? aucb mcbt Vorscbub ge-
leistet. Als guter Redner batte er nie gegolten. Im Gegenteil. Eben~
sowenig als Mann von Ideen. Irgend ein beeonderes Programm batte er
aucb mcbt. Da er damals einmutig gewablt wurde, mui? man annebmen,,
die konservative Parteidynamik bewege sicb, alien Naturgesetzen zu wider.,
auf der Lime der genngsten Anziebungskraft.
In den zebn Jabren seiner Fubrerscbaft bat er durcb nicbts uber-
rascbt und wobl aucb niemand enttauscbt. Als es anrangs gait, der
Partei Offensivgeist einzuflotfen, versucbte er es mit emem ungewobnlicb.
groben Ton im Unterbause. Man nannte das damals den neuen Stil.
Nacbdem sick die Konservativen aber emmal von der rabngen Gelassen—
beit Balfours erbolt batten, wurde Bonar Law wieder er selbst, der
entgegenkommende scbottiscbe Kaiifmann und Gentleman. Nie war irgend
eme seiner Reden irgendwie bedeutend; weder oratonscb nocb geistig*
Kem ein*iges Wort ward je in seinem Munde gepragt, das irgendwie
getlugelt batte werden konnen. Die beute seinen Rubm singen, konnen
sicb nur dreier AuJ?erungen Bonar Law's aus zebn Jabren entsinnen. Es
waren drei Entgleisungen.
Kurzum, das Bild volliger Belanglosigkeit ist so erstaunlicb voll-
standig, die erscbreckende Abwesenbeit aucb nur des winzigsten Elementes
von Grol?e so uberwaltigend, da# man scbon darum allein versucbt ware
das Gegenteil anzunebmen. Ein kleiner Mann mag gleicbgultig sem; wer
so sebr Zwerg ist, gibt zu denken. Betracbtet man nun, unbeirrt von.
alien AulFerbcbkeiten, den Werdegang der Regierungskoabtion seit den.
3S8
^Vaklen von 1918, so kaufen sick geradezu die unkeantwortbaren Fragea.
^Warum unterordnen sick die Konservativen, die allein eine kequeme
Majoritat im Unterkause kaken, der Premiersckaft des emstigen Erzbosen.
Lloyd George? Als ^ie Koalition zustandekam, klagten viele konser-
vative Mitfvergnugte Bonar Law an, er kake sick von Lloyd George
ubertolpeln lassen. Die unakkangigen Likeralen mngegen kesckuldigen Lloyd
George, den Liberalismus an Bonar Law verraten zu kaken. Tatsacke
ist. dal? in den zweiundeinkalb Jakren dieser Koalition keine einzige
likerale Mal?nakme von irgendwelcker Bedeutung getroxren wurde. Es
ware denn der Handelsvertrag mit Moskau, der vorlautig eine sekr
platoniscke Angelegenkeit zu sein sckeint. Unter dem radikalsten Premier,
den das Vereinigte Konigreick je gekakt kat, dem Burenfreund und
Home Ruler Lloyd George, wird ^iie Sckreckenskerrsckaft in Irland
durckgefiikrt. Es ist kein finsterer Reaktionar, der den Burgermeister
von Cork im Hungerstreike sterken latft, sondern der grotfte Likerale
Englands. Der dafur unmittelkar verantwortlicke lriscke Staatssekretar
1st mckt etwa Sir Edward Carson, sondern der Likerale, Sir rlamar
^Greenwood. Sckutzzollneriscke Matfnakmen steken kevor, erne ruck-
3ckrittlicke Reform des Oberkauses, die Entstaatkckung der Koklen-
industrie. Fur all diese sckonen Dinge kaken die Konservativen, kat
Bonar Law den wllden Hengst des Radikalismus eingefangen und ge-
zakmt. Sie sind mckt nur seiner gefakrkeken Opposition ledig, sie er-
'rrcuen sick auck nock seiner unsckatzkaren taktiscken und dialektiscken
Mitarkeit. Man denke sick Lloyd George auf den Banken der Oppo-
sition wakrend der aiekzig Fastentage des Burgermeisters von Cork!
Der dies zustandegekrackt 1st vielleickt kein Genie, aber das land—
lauTige Bud von mm kann mckt stimmen. Vver sick so leidensckaitslos
in den Sckatten stent, weib was er will und laist niemand aknen, dal?
er AkVillen und Wissen kat. Einetn Mann wie Lloyd George kann man
mckt diktieren. Lord Nortkcliffe kat es mit napoleomsck gericktetem
Zeigefinder versuckt. Es kam zum Brack. Wie Bonar Law den Zauker
rfewirkt kat, 1st nock sein Gekeimms. Er tat es wokl weder diktatonsck,
nock geniaksck ; sondern „immer sympatkisck, liebenswurdig, auiricktig
and ekrenkait.
Nur em Unzucktiger kann auf den Gedanken kommen, keusck
ieben zu wollen. Nur der Sinnlicke kennt und vermag Keusckkeit.
Der Sckwacke kann mckt emmal tugentlkaft sein: aker auck der Brave
kann es mckt.
Aus Rudolf Leonhard ,,Alles oder NicW
Ernst RowoMt Verlag 1920.
389
CAMILL HOFFMANN TOLSTOIS ARZT
In der Slowakei ist dieser Tage Dr. Dusckan Makovicky gestorken
Er war Tolstois Arzt. Er war mekr: Tolstois Freund, Gefakrte und
Junger. Einer aer wemgen wakren Toletoimenscken, die ]e gelekt naben^
kein romantiscker Sckwarmer, kein geistiger Flucktling zum Primitivismuf
naiven Bekenntmsses, sondern ein merkwurdiger Typ, der den Hedigen
und den Realisten vereinigte.
Solcke Menscken wacksen nock am Fu#e der Karpatken. Ein kerr~
licker Mensckenscklag, kaum der Kultur erwackt, mmg . rekgios, mit
krartigem Gemutsleken und dakei von kellem Sinn, {Traktisck klug und
der Welt zugeneigt. Uoerreste makriscker Briidergememden wurden einst
kierker versprengt in erzkatkolisckes Land. Hier lauft die spirituelle
Brucke vom Westslawentum nack Rutland, mckt uker Polen oder die
nordkcken Randstaaten. Flier kat der Urckrist Tolstoi seme unliterariscnen.
Apostel gexunden, gerade unter Arzten, die von exakten INaturwissen--
sckaxten kerkamen. In den Neunziger Jakren kereitete em Dr. Skarvan den
k. u. k. Bekorden viel Pein. Man kedenke, er war Miktararzt und rekelkerte
plotzkck gegen die warxentragende Mackt. Er wurde ins Irrennaus gesperrt
dann aker ms Gefangms, degradiert, des Doktorgrades entkleidet. Er katte
sick unter dem Eindruck der Scknften Tolstois zum Nazarenertum bekekrt
Damals wirkte auck sckon Dr. Makovicky in Sillein, ein Bauern-
aoktor. Die Gegend ist arm, sie sckickt die slowakiscken Rastelkinder
rn die Welt. Dr. Makovicky -war ein Arzt der Annsten. Sie kamen
aus alien Dorfern ringsum zu lkm und trugen mckt nur semen Rat nack
Hause, sondern oft auck die Arznei, immer semen kruderlicken, gar nickt.
salkungsvollen, sondern nuckternen, 1m kleinen Leken krauckkaren Zu-
spruck, und konnten sie lesen, vielleickt auck die eine oder andre Sckrift
des gewaltigen Russen, den er seit fruker Jugend liekte. In Nackten
ukersetzte er Tolstoi, stellte Sammlungen aus eeinen >A'erken zusammen
una verteilte sie gratis. Flin und wieder reiste er naek Moskau, nack
Jasnaja Pol] ana zum Meistcr. Man kennt Brief e Tolstois an Dr. Ma-
kovicky aus der Zeit, da Dr. Skarvan lm Gefangms war. Tolstoi ver-
nakm von dem Vorfall ersckuttert; immer wieder fragt er, wie man dem
Vcrfolgten kelfen konnte. „So oft lck von solcken Ereigmssen erfakre".
sckreikt er, „kemacktigt sick meiner ein kompkziertes Gefukl, das aus
Furckt, Triumpk, Mitleid und Freude entspringt. Alle Ereignisse dieser
Art tragen ems von keiden aksolut in sick: entweder die Offenkarung
des allmacktigen Gottes lm Menscken, und dann ist es Triumpk, Freude
und unkestreitkarer Sieg, wenn auck der Mensck, in dem Gott sick
390
uffenbart, zum Scheiterkaufen gefukrt werden sollte; cder einen menscn-
hchen Beweggrund: Rukmsuckt, Gereiztkeit, Leidensckaft, una a arm er-
blicke lcb in emer solcken Manifestation nur eine Quelle des Leides fur
den, der sie oirenbart, ganz abgeseben davon, dais sie mcbt nur mcbt dem
\Verke Gottes dient, sondern lkm sckadet. Das Merkmal, dai? es sick urn
die gotthcke und mckt um erne menscklicke Sacke kandelt, liegt darm,
dai der Mensck, der solckes vollbnngt, nicnt tut, was er tun mocbte,
sondern das, was er nicLt zu lassen vermag. Icn hoffe und glaube, dal?
unser lieber Skarvan das, was er getan hat, darum getan kat, well er
nicnt anders konnte, und also ist es Gottes Werk, das durch lkn gesckiekt,
Una wenn sie mit inm "was immer anfangen, so wird er niclit lei den,
sondern sicn mit uns freuen. %
W^eder Dr. Skarvan nock Dr. Makovicky macbten aus Tolstois
Lekren emen Kirckenglauben, dessen Satzungen Wort fur Wort zu be-
folgen sei. Sie fanden in ibnen nur ibre eigene Seelenstimmung und
Erkenntms. Sie lebten danack. Dr. Makovicky als unermudlicker
Heifer, t personhck vollig ansprucbslos — er -war der Sobn einer ver-
mogenden Familie — , sozial sick gleicb ordnend armen Bauern. Ein
Freund, Dr. Karel Veleminsky, erzaklt, wie er das Haus Dr. Makovickys
antraf, Turen, Fenster und Sckranke offen. „Trotzdem sick Patienten
aller Art bei lbm drangten und die Eigentumlickkeiten Makovickys
kannten, waren Verluste m seiner Woknung eine Seltenkeit." Er lebte
als Besitzloser, Vertrauender, Liebender. Er batte kein Gekeimnis au#er
Gott. Und er verlangte nickts au&r der Wakrkeit, die ein Weg zu
Gott ist. Em zarter, zaker Glaubensmenscb, Arzt des Leibes und der Sf ele
1903 siedelte er ganz nack Rutland kinuker, nack Jasnaja Poljana
Fortan gekorte er zur Familie Tolstoi. Sein Zitnmer lag neben dem
Arbeitszimmer Tolstois, am Tisck sal? er am untern Ende an der
Sckmalseite. Da wurde er Tolstois Eckermann. Auf kleinen Zetteln,
die er stets in der Tascke trug, notierte er des Dickters Aussprucke
und sckneb sie des Akends in Notizbiicber ein. Sind diese Notizbucber
nickt verloren gegangen im Wirbel der Revolution? Nock verlautet
nickts daruber, ob Dr. Makovicky sie mitgebrackt kat, als er krank, mit
dem Todeszeicken auf der Stirn sckon, vor einem Jakre uber Riga in
seme Heimat zuruckkekrte.
Diese Eckermannrolle ist nun dock die Litcratur im Leben
Dr. Makovickys? So siebt es aus. Und dock begreift man den Wunsck
die Autferungen eines Mannes, dessen Wort man als ubermenscklick und
begnadend verekrt, festzukalten und verbreiten zu wollen. Man begreift
391
dai? dieser ekrfurcktige Gottsucker das Gluck, dai? er 1m personlicken
Mitleken mit Tolstoi genoi?, als ein Privileg empfand, das fur sick zu
bewakren ein Unreckt an alien anderen war. Auck gekorte er gewif?
zu den Erziekernaturen, dieser Landsmann Masaryks, der seine Voll-
kommenkeit im Lekren wie im Lernen zu erreicken tracktete. Kein
Buck uker Tolstoi und wakrsckeinlick mckt einmal Tolstois Bnere
durften eine so ungekeure Fulle seiner Autferungen kieten wie die Notiz-
tucker Dr. Makovickys. Er war Tolstois Eckermann, Tolstoi mag es
gewutft und vor ikm mitunter, da ikm nickts Menscklickes fremd war,
seine AA^eiskeiten in Positur vorgetragen kaken, — aker dieser Dr. Ma-
kovicky war nickt nur Zukorer und Beokackter, sondern eken ein
wakrkaft Mitlekender. Er war der ICamerad des Gemes, geistig und
autferlick. Er teilte sein Leken fast intimer als die nacksten Verwandten
als die wenigen Freunde. Er war es, der Jakre kindurck mit Tolstoi
2U den russiscken Bauern ging, und sie verekrten lkn, wie lkn die
slowakiscken Bauern verekrt katten, denn er war lkr Bruder, okne Pose,
aus Seelenkedurfnis ikr Bruder, er krock mit Tolstoi durck die niedngen
Turen der Bauernkiitten, durck Gestank und Elend, an verlauste Betten,
kelfend. „Beide*\ so erzaklt der Russe Andrej Sirotimn in einer Er-
innerung, ,,dieser Arzt, ein Angekoriger des westKcksten slawiscken
Stammes, gekildet in Prag und BerKn, und dieser alte Herr, der nut der
aristokratiscken Veracktung des einfacken Menscken kegonnen und damit
geendet katte, dal? er ein wirklicker russiscker Bauer wurde, lekten da-
mals in ein em Gefukl, ein em Gedanken. Beide sckntten den einzigen
wakren ^Veg, wo der menscklicke Sckmerz und die menscklicke Not von
uns Hilfe erwarten." Das ist kein gelekrten und gelekriger Eckermann nur
Dr. Makovicky war auck der Vertraute des fkekenden und sterken-
den Tolstoi. Er allein der Eingeweikte in der Scklutftragodie dieses
unvergleicklicken Lekens. Dai? er dann in Jasnaja Poljana kliek, als
Tolstoi nickt mekr war, erklart sick von selbst. Er gekorte kierker
nickt wie ein Leikarzt, der ukerflussig wird, wenn der koke Patient
stirbt, er gekorte den russiscken Bauern. Sie katten nickt mehr den
grol?en Tolstoi fortan, sondern nur den wundertatigen, praktisck zu~
greifenden, opferbereitcn, geduldigen, lieben Makovicky. Der Krieg brack
kerein, Makovicky untersckrieb mit anderen Tolstoianern einen Protest
gegen den Volkermord. Verkaftung, Kerker in Tula, Ruckkekr nack
Jasnaja Poljana, Revolution, Flecktypkus — ein furcktkarer Passionsweg
eroffnete sick nock spat. Die Heiinfakrt in die frei gewordene Heimat
krackte ein nur kurzes irdisckes Gluck. Das kimmliscke katte er stets kesessen-
392
DOKUMENTE UBER DIE ERMORDUNG
DES ZAREN UND SEINER FAMILIE
Die in Paris eracbeinende Monatsscbrift „Le Russie future" das Organ
der aus Rutfland fliicbtigen Liberalen, die sich um den Fiirsten Lwow, den
ebemaligen Ministerpraaidenten, scbaren, veroffentlicbt die nier wiederge-
gebenen Berichte der Staataanwaltacbaft von Kasan und Jekaterinburg uber
die Erraordung der Zarenfamili'e. Neben allerlei pbantastischen Erzablungen
die uber daa Ende von Nikolaus II (auch in deutscben Zeitungen) verbreitet
wurden, scbeinen dieac trockenen Dokuroente von weit biiberer Glaub-
wiirdigkeit.
Dem Heri-n Justizminister
" Vom Staatsanwalt des Kasaner Landgericbta*
Beebre mich Ibnen, Herr Minister, folgende Tatsachen aus
der Voruntersucbung in Sachen des Totschlags des ehemaligen
Kaisers Nikolaus II und seiner Familie zu unterbreiten.
, Am 30/17 Juli 1918 wurde in Jekaterinburg durch den 2.
Staatsanwalt Kutusow ein Protokoll aufgenommen uber die Meldung
des Burgers der obigen Stadt Fedor Nikifarow Gorscbkow, dabin-
gebend, datfer vom Untersucbungsricbter Tomascbewski, der seiner-
seits wieder von einer Person, die angeblicb Augenzeuge gewesen
oder der Sowjet-Macbt nabegestanden baben will, folgende Einzel-
beiten uber die Ermordung des Herrscbers und seiner Familie
empfangen babe : Die ganze Zarenfamilie zusammen* mit dem
ebemaligen Kaiser Nikolaus II. war im Speisezimmer versammelt,
wo ibnen bekanntgegeben wurde, daf? sie alle erscbossen werden,
darauf wurde von den Letten eine Salve abgegeben, durch welcbe
sie alle zu Boden gestreckt wurden. Hierauf priiften die Letten,
ob alle tot sind, wobei es sicb berausstellte, dai? die ebemalige
Grotffiirstin Anastasija Nikolajewna noch lebte. Als sie beriihrt
wurde, scbrie sie fiircbterlicb auf . Nun wurde ibr ein Kolben-
scblag auf den Kopf versetzt und autferdem nock zwei Bajonett-
wunden beigebracbt.
Dieses Protokoll uber die Meldung Gorscbkows diente als
Grundlage zur Eroffnung der Voruntersucbung, welche durcb den
etellvertretenden Staatsanwalt des Gericbts, den 2. Staatsanwalt
Kutusow, dem Untersucbungsricbter fiir besonders wicbtige Falle
Nemetkin vorgenommen wurde. Gleicbzeitig wurden dem Unter-
sucbungsricbter die verkoblten Reste verscbiedener Gegenstande*
sowie ein Malteserkreuz zur Verfiigung gestellt, welcbe Gegen-
stande unter folgenden Umstanden aufgefunden wurden :
Am 16. oder 18. Juli bemerkten die Bauern des Dorfes
Koptjaki, Gemeinde Wercb-Issetsk, das etwa 18 Werst von Jekate-
rinburg entfernt liegt, eine Bewegung rotarmistiscber Abteilungen
im Walde in der Nabe des Dorfes, wobei niemand in den Rayon
dieser Ortscbaft zugelassen wurde. In der Absicbt, zu erfabren,
was dort die Rotarmisten tun, gingen die Bauern des erwahnten
393
Dorfes Andrei Scheremetewski, Michail Alferow u. andere, nach-
dem die Rotarmisten diesen Wald verlassen hatten, dorthin ; der
von den Rotarmisten durchgetretene Weg fiihrte sie zu verlassenen
Schachten.
Hier, zwei Schritte von einem der Schachte entferat, befand
sich ein aufgeworfener Haufen Erde mit Feuerresten. Nach Aus~
emanderscharren der Feuerstelle fanden die genannten Bauern ein
Kreuz mit grunen Steinen, vier Korsettleisten, Hosentragerschnallen.
Pantoffeln, Knbpfe, Druckknopfe und vier ^vVachsperlen. Einer
der Bauern stieg am Seil in den Schacht. Er bemerkte
einen Stock, Baumrinde, Bretter, frisches Nadellaub und einen
eisernen Spaten auf dem Wasser schwimmen.
Unweit von der Feuerstelle wurde eine Birke bemerkt, auf
deren Rinde sich die Inschrift „Bergtechniker I. A. Fesenko 11.
Juli 1918" 1 befand. Bei der nachfolgenden genauen Untersucbung
des Ortes durch den Untersuchungsrichter, in der Nahe desselben
Schacht es, genannt „Isetski Rudnik", zwischen angekohlten Kniippeln
und Koblen wurde eine angekohlte alte Damen^Handtasche ge-
funden, etwa 12 Schritte vom Schacht entfernt, angekohlte Lumpen.
Spitzen und etliche schwarze glanzende Scherhen.
Aui?erdem wurde von dem bei der Untersucbung anwesenden
Hauptmann Pometkowski em stark bescbmutzter wasserheller Stein
gefunden, von bedeutender Grof?e mit flacher Mittelflache in weifier
Fassung mit feinsten Flittern, der spater bei einer Untersucbung
durch einen sachverstandigen Juwelier, als ein Brillant von sebr
hohem Werte geschatzt wurde. Unweit von der Stelle wurden
auch zwei kleine Splitter von Smaragden und Perlen, sowie ein
Stoffrest mit intensiven Petroleumgeruch gefunden. Schlietflich un-
mittelbar am Rande eines breiten Schachts wurde im Lehm ein Hand-
granatensplittsr gefunden, beim Hinabsteigen aber konnten an den
Schachtwanden Spuren von der Explosion einer Handgranate fest-
gestellt werden.
Weiter, in der Zeit vom 2. bis zum 8. August d. Js., wurde
durch den Untersuchungsrichter eine Besicbtigung des Hauses
Ipatjew in Jekaterinburg vorgenommen, in dem der ebemalige
Kaiser Nikolaus mit seiner Familie unter strenger Bewachung
untergebracht gewesen.
Durch diese Besicbtigung wurde festgestellt, dal? in einem der
Zimmer die Eingangstiir mittels eines Werkzeugs aus den Angeln
gerissen war. Die Tiir selbst wurde am Eingang des Hauses ge-
funden, zerstochen, wabrscheinlich mit Bajonetten,
In Anbetracht der Wichtigkeit der Sache, gemal? Bemerkung 2
zur Gerichtsverfassung und auf Grund des Antrages des stell-
vertretenden Staatsanwalts, wurde durch GerichtsbescbluJ? vom
25. Juli/ 7. August des Amtsgerichts obige Sache dem Richter
1. A. Sergejew iibertragen, der nachf olgende Untersuchungen anstellte.
394
Am 11.— 14. August wurde die Besichtigung des unteren
Stockwerkes des Hauses Ipatjew unternommen, wo nur das eine
dimmer die Aufmerksamkeit auf sich lenkte, und zwar dasjenige*
wo die Erschietfung erfolgte. AiVer wirklich in diesem Zimmer
-erschossen wurde, konnte die sorgfaltigste Besichtigung nicht er-
.geben, es ist aber unzweifelhaft festgestellt, dal? mehrere Personen
*erschossen worden sind.
Das Zimmer ist 7 Arschin 8 ^Verschok lang und 6 Arschin
4 Werschok breit, An einer AA^and, gegeniiber der Tiir, sind
16 Vertiefungen, verscbieden weit vom Fui?boden, vorhanden. Eben-
solche Vertiefungen sind in der linken Seite des Fu(?bodens dieses
Zimmers vorhanden, ferner deutliche Spuren von weggewaschenen
-und durch Sand abgescheuerten Blutes.
Auf Veranlassung des Richters Sergejar sind die Stellen im
Holz, wo sich diese Vertiefungen befanden, in Quadratform aus-
geschnitten, und es hat sich herausgestellt, daf? diese Vertiefungen
$chuJ(?kanale von Revolvergeschossen darstellen. Verschiedene dieser
Kanale waren noch mit geronnenem Blui angefullt.
Nach den Gescho#spuren in der Wand urteilend, kann man
zu dem Schlui? kommen, dal? Menschen in kniender Lage erschossen
wurden.
Am 15. — 16. August wurde der Zeuge Terenti Iwanowitsch
Tschemadurow, der bei dem ehemaligen Kaiser Nikolaus II. als
Xammerdiener war, vernommen. Er war zehn Jahre der kaiser-
lichen Familie nahestehend. Dieser Zeuge beschreibt ausfiihrlich
clas Leben und die Gewohnheiten des ehemaligen Kaisers, die
Strenge und Einfachheit seiner Lebensart, die Herzlichkeit der
Beziehungen der Familienmitglieder untereinander ihre tiefe R ! eligo-
sitat. Nach dem Oktoberumsturz erfolgten seharfe Begrenzungen
in dem Etat der kaiserlichen Familie, sowie auch beziiglich der
Beschaftigungen, Spaziergange. Am 15. — 25. April erfolgte ganz
unerwartet eine kategorische Bekanntmachung des Zentral -Voll-
sugs-Komitees des S. K. und "W. D. betreffend die unverziigliche
Uberfiihrung der kaiserlichen Familie nach Jekaterinburg, wobei
der Hinweis des Exkaisers auf die Krankheit seines Sohnes un-
berucksichtigt blieb. Es wurde beschlossen, den kranken ehemaligen
"Thronfolger der Pflege der Schwester und der Hofpersonen zu
iiberweisen, nach Jekaterinburg fuhren der Exkaiser mit der Kaiserin,
Grotffurstin Marie Nikolajewna, sowie die Hofleute Fiirst Dol-
gorukow. Professor Bottcin und die Dienerschaft: so Tschemadurow\
der Kinderdiener Sjednew und die Stubenfrau Demidowa.
Nach Ankunft in Jekaterinburg wurden sie sofort einer groben
Visitation unterworfen, durchgefiihrt von einem gewissem B. W.
Dikowski und dem Hauskommandanten Awdejew.
Im Hause Ipatjew war ein aul?erst schweres Regime 1 eingefiihrt.
Das Haus wurde von aui?en, wie von innen von Rotarmisten
in der Zahl bis zu 36 Mann bewacht. Am 9. — 22. Mai kamen
395
nach Jekaterinburg auch die iibrigen Familienmitglieder : Alekseii
Nikolajewitsch, Anastasia und Tatjana Nikolajewna und etliche
Personen des Hofpersonals und der Dienerschaft. Er, Zeuge, wurde
nach Ankunft in Jekaterinburg direkt ins Gef angnis gebracht, wo
er auch bis zur Befreiung der Stadt durch Tschecho-Slowakische
Truppenteile verblieb, weshalb ihm aucb das Schieksal, welches
den Exzaren und seine Familie ereilte, unbekannt blieb.
Am 12. September d. Js. wurde der Zeuge Pierre Gillaird,,
Lehrer der franzosischen Spracbe bei Hofe veraommen, der die
Lebensweise der Zarenfamilie vor der Revolution, sowie aucb
nacb der Uberfahrt nacb Tobolsk und spater nacb Jekatarinburg
ausfiibrlicb bescbreibt. Unter anderem bestatigt der Zeuge, daS"
die Familienschatze, auf Wunscb der Exkaiserin mitzunebmen
bescblossen wurde und dal? aus Furcht, daf? die Schatze in die
Hande der Bolscbewisten gelangen konnten, diese sorgfaltig in die
Hiite und Knbpfe der Grotffiirstinnen und des Hofpersonals
eingenaht wurden. Der dem Zeugen vorgezeigte aufgefundene
Diamant war in einen Knopf der Grotffurstin Olga Nikolajewna,
oder einen solcben der Tatjana Nikolajewna eingenabt. Aus den
anderen Beweisstucken erkannte der Zeuge die Ohrgehange mit
Perlen als mit denen der Kaiserin gehorigen identisch; die aufge~
fundenen und vorgezeigten Gaumenplatten mit Zahnen waren
ahnlich dem Dr. Bottcin geborigen. Endlicb, am 6. September 1918
kam bei der „Verwaltung der kriminellen Nachforschungen" em
Protokoll zustande, betreffend die Beschlagnahme von etwa 10ft
Gegenstanden, aucb der Zarenfamilie gehorig, die bei den Rot*
armisten Kusma, Iwanow, Letimitin gefunden wurden. Letimitiix
sagte aus, dai? er diese Gegenstande erhielt, teils bei der Auf-
raumung im Hause Ipatjew, teils von seinem Bruder, dem Rot-
armisten Letimitin, Zugleicb erzablte Letimitin, vom Horensagert
eines aucb zur Bcwacbung des Hauses gehdrenden Wachtmannes,,
daf? in der Nacht zum 17. Juli der Exkaiser mit Frau, Kindern*
einen Diener, einem Kocb und Hoffrauleins im Erdgescbol? des
Hauses Ipatjew erscbossen wurden, was ihm, Zeugen, aus den,
Erzahlungen des in dieser Nacht postenstehenden Rotarmisten;
Strekotin bekanntgeworden ist.
Nacb den Worten des Strekotin ersehoi? den Kaiser der
Kommandant Jurowski, nach Verlesung irgend eines Schrift-
stucks, wobei die Kaiserin und die alteste Tochter sich bekreuzigten.
Nacb der Erscbiel?ung des Kaisers schossen die Letten und der
erwahnte „Anfuhrer*\ der Arbeiter Medwedew, auf die
gesamte kaiserlicbe Familie und die anwesenden Hofleute. Nach
der Erschietfung wurde von der Bewachung der Futfboden auf-
gewaschen und die Blutspuren mit Sand gestreut, die Leichen aber
auf ein Lastauto geladen. Nachtraglich hat er den Chauffeur des
Lastautos, einen Arbeiter der Fabrik Slokasow, dem Namen nach
unbekannt, befragt, der bestatigte, daf? die Leichen in den Wal<£
396
^efahren wurden, wo sie alle beinahe im Sumpf stecken geblieben
waren. Der bei der Vernehmung befragte Militar-Beamte Peter
Alexejewitsch Leonow gab an, dal? am 17. Juli 1918 der Kommissar
der Frontverpflegung Gorbunow 5 Lastautos anforderte, auf einem
derselben waren zwei Fasser mit Benzin. Von diesen wurden
zwei Autos am 18. Juli friib mit leeren Benzinfassern zuriick-
gegeben, zwei andere Autos kamen am selben 18. Juli etwas
spater zuriick, das letzte Auto kam aber zurttck unter nacbfolgenden
Umstanden: auf Verlangen des erwahnten Gorbunow fuhr es am
„Amerikanischen Hotel" vor, wo sich die Autferordentliche
Untersuchungskommission befand. Der das Auto fahrende Chauffeur
wurde durcb einen anderen aus dem „A.merikanischen Hoter"
ersetzt und der Abgeloste nacb Hause gescbickt. Spater, scbon
am 19. Juli, gegen 6 Uhr wurde dieses Auto durcb den Cbauffeur
des „Amerikanischen Hotels" zuriickgebracht, wobei das ganze
Auto voll Schmutz und Blut war, wenn aucb zu erkennen war,
daK es gewascben worden war. Nacb Aussagen des Kutenkow,
bekleidete er, nacb der Befreiung vom Militardienst in der roten
Armee, vom Mai an den Posten eines ^Virtscbaftsverwalters des
Arbeiter-Klubs der Werch-lsetsker Fabrik. Etwa am 18.— 19. Juli
friib 4 Uhr kamen in diesen Klub: der Vorsitzende des Exekutiv~
komitees S. R. und S. D. (der SoziaL-Revolutionare und der
Sozial-Demokraten, Anmerkung des Ubersetzers) Sergei Pawlow
Mlyscbkin, der Militar-Kommissar Peter Jermakow und bedeutende
Mitglieder der Bolschewistiscben Partei, Alexander Kastonsow,
^Vassili Lewatnycb, Nikolai Partin und Alexander Kriwzow.
Hier im Klub, im Parteizimmer batten die genannten Personen
«ine geheime Besprechung, wobei der Zeuge den Satz
vernabm: ,Jm ganzen waren es 13 Personen, — der 13. war der
Doktor . . . ," Als die genannten Personen ibn, den Zeugen,
erblickten, gingen sie sofort in den Garten hinaus, das Gesprach
in seiner Gegenwart nicbt fortfiihren wollend, er aber, Kutenkow,
durcb dieses Gesprach neugierig gemacbt, folgte ibnen unbemerkt,
versteckte sicb dann im Grase und lauscbte. Zunachst horte er
die Phrase des Kostonso w : „Den zweiten Tag mutf man sich
lierumplagen, gestern wurden sie begraben und heute mutfte man
^sie anderweitig beerdigen . . . ." Aus dem weiteren Gesprach.
verstand er, da(? Lewatnych, Partin und Kostonsow an der
Beerdigung des erschossenen Kaisers und seiner Familie teilnahmen.
Die Fragen stellte Krinzow, die Erklarungen gaben und es prahlten.
mit ihren Taten Lewatnycb und Partin. So sagte Lewatnycb
unter anderem: „Als wir kamen, waren sie nocb warm, ich selbst
hetastete die Kaiserin, sie -war nocb warm .... jetzt ware aucb
keine Siinde zu sterben, ich habe die Kaiserin geknutscht ....*"
Dann folgten die Fragen: Wie waren die Erscbossenen bekleidet ;
ob sie schon waren, wie viele es waren etc. etc., wobei Partin
in Bezug auf Kleidung erklarte, sie waren alle in Zivil, in der
397
Kleidung waren verscbiedene Preziosen eingenabt gewesen, scbon
"ware unter ibnen keiner. Er, Zeuge, borte den von irgend
jemanden getanen Einwurf : „Die Scbonbeit . ist bei Toten nicht
2U erkennen." Er, Zeuge, borte aucb, jemand batte gesagt, daJ?
vom Tbronfolger geredet wurde, er ware in Tobolsk gestorben^
aber er ist aucb bier mit gewesen .... Von dem Bestattungsort
wurde gesagt, daf? die Erscbossenen erst an zwei Stellen binter
Jekaterinburg beerdigt warden, spater aber wurden sie weiter
wegtransportiert und an verscbiedenen Stellen beerdigt, wo eigent*
lien — sagten sie nicbt. Einer von den Sprecbenden zablte die
Namen auf: „Nikolascba, Saseba, Tatjana, Tbronfolger, Wyrubow"
und verscbiedene andere Namen, die er nicbt deutlicb genug boren
konnte, wobei nocb einmal gesagt wurde: „Der Dreizebnte — der
Doktor" ....
Staatsanwalt des Kasauer Landgericbts
N. Miroljubow
Den 12. December 1918 Sekretar (Unterschrift)
Nr. 38. Omsk Z. Begl.
L. S. Die Vorsteber der 3. Abteilung
Nikolaje w.
Seiner Exzellenz
Herrn Staatsanwalt des Kasaner Landgericbts
Des Staatsanwalts des Jekaterinburger
Kreisgericbts
Unterbreitung.
In Erganzung meiner Unterbreitung vom 3. Januar 1919 unter
Nr. 13 in Sacben der Ermordung des Exkaisers Nikolaus II. und
seiner Familie, beebre icb micb Ibnen, Herr Staatsanwalt, folgendes
zu meldent
In der Zeit seit dem 14. November wurden durcb den die
Untersucbung leitenden Richter Sergejew folgende Zeugen ver~
Dommen: Peter Bogojawlenski, SemionNowikow, AnnaKostousowa,
Natalja Kotowa, Olga Demina, Af anasi Jelkin, Galina Ostscbepkowa,
MicbaelTomascbewski, Grigori AgafonowundKapitolinaAgafonowa.
Von der Zabl der genannten Zeugen baben nur die drei
letzten: Tomascbewski, Grigori und Kapitoline Agafonowa selb-
standiges Material zur Sacbe beigetragen; die anderen aber, friiber
befragt, baben bei der Vernebmung ibre Aussagen nur bestatigt.
Was die Zeugen Tomascbewski, Grigori und Kapitolina
Agafonowa betrifft, so erzablt Tomascbewski nacb den Worten
seines Bekannten von der Ermordung des ebemaligen Kaisers
Nikolaus II. und seiner Familie; dieserBekannte, Grigori Agafonowa*
weii? es aus der Erzablung seiner Frau, Kapitolina Agafonowa.
Das Wesentlicbe der Aussagen der Letzteren besteben aber in
Folgendem: Sie, Kapitolina Agafonowa bat einen Bruder, Anatoli
398
Jakimow der in der rpten Armee diente und wabrend seines
Aufenthaltes in Jekaterinburg zum Kommando geborte, welcbem
die Bewacbung des Hauses Ipatjjew, in dem die Zarenfamilie
untergebracbt war, Ubertragen -war.
Im Juli-Monat kam einmal Anatoli im autferst erecbopften
Zustand zu ibr. Auf die Frage, was vorgef alien sei, erwiderte
er in heftiger Erregung, dai? in vergangener Nacbt JNikolai
Romanow, seine ganze Familie, der Doktor, die Hofdame und
der Diener ermordet seien." Nacb den Worten des bei der Exekution
zugegen gewesenen Anatoli war das Verbrecben unter folgenden
Umstanden veriibt: Nacbts in der ersten Stunde wurden alle
Inbaftierten geweckt und aufgefordert binunterzukommen. Hier
wurde ibnen eroffnet, dai? Jekaterinburg bald vom Feinde besetzt
wird und sie desbalb erscbossen werden miissen. Naeb den
Worten Anatoli Jakimows mullte ibnen der Fangscbul? gegeben
werden, mit Kolben und Bojonetten muJB'ten sie „erledigt" werden.
Be s on der s viel ^Scberereien" bereitete ibnen die Hofdame
AVyrubowa. Sie lief fortwabrend berum und deckte sicb mit
einem Kissen ; ibr Korper wies 32 Wunden auf. Die Groi?-
furstin Anastasija Nikolajewna wurde obnmacbtig. Als sie unter-
sucbt wurde, scbrie sie wild auf, wonacb sie mit Bajonettsticben
und Kolbenscblagen erledigt wurde.. Nacb den Worten des
Anatoli war die Mordszene so rob, dai? sie scbwer zu ertragen
war und er wiederbolt an die friscbe Luft mutfte, urn „sicb zu
erfriscben". AVer eigentlicb an der Erscbiel?ung teil genommen
batte und wieviel Morder im ganzen da waren, batte Anatoli
nicbt erzablt ; er erzablte nur, dai? nicbt Rotarmisten, sondern
Letten und irgend welcbe „von oben" die vom Rat kamen, ge^
scbossen batten. Diese „von oben*" waren funf" Mann. Blut gab
es so viel, dai? es mit Besen weggefegt wurde. Die Erscbossenen
■wurden in Autos verladen und in den Wald gefabren, wo sie in
einem friiber scbon vorbereitetem Massengrab beerdigt wurden.
Wo sicb die Begrabnisstatte befand, erzablte Anatoli nicbt. Um
6 Ubr friib war man mit allem fertig; in den Kissen wurden
Pakete grotfer Geldscbeine und Diamariten gefunden.
Diesem „Eingestandnisse" Anatoli's konnte man dem Zeugnis
des Grigori Agafonowa nacb nicbt miftrauen. Sogar am Abend
desselben Tages, das heitft nacb der Exekution, als er Abschied
neb men kam, war sein Aui?eres „direkt erscbreckend": das Gesicbt
erscblafft, die Unterlippe bebte wabrend des Gespracbs: es war
augenscbeinlich, dai? er in der verflossenen Nacbt etwas Er-
scbiitterndes erlebt batte. Am selben Abend fubr er zum Babn-
bof. Wo er sicb jetzt befindet, ist nicbt bekannt.
Der Staatsanwalt Lordanski.
Der Vorsteber der 3. Abt. Nikolajew.
399
pranz blei DOBLINS WALLENSTEIN
Daa vorletzte jungste Deutscbland, das jetzt vierzig wird, trug ein
Idol voran, Jem es Anbetung keiscbte, unbedingte : Flaubert. Dal? das
gesckmtzte Bildnis dem Urbude gar nickt aknlicb war, dies ware das
genngste gewesen. Mulite es dock auck und meist als Streitaxt dienen,
Sckadel. 3 en en emzuscklagen, die nickt glauken wollten; klobig krauckte
man es also, mit nickten rein, dunn, ciseliert wie die bebende, nervose
Hand des bis zum Blaspkemiscben am \Vorte arbeitenden, ikm ver—
sklavten Mannes von Rouen. Em Jakrzeknt borte man daa emzige
Muster preisen, aber dabei bkeb es. Vielleickt 1st eine Gesckickte von
M. Brod, seine beste, genannt „Das tsckeckiscke Dienstmadcken \ einzige
Fruckt deutscker Flaubertanbetung. H. Mann, diesem wesentlick deutsck-
sckwerfalligen Manne mit der unglucklicken Liebe zum Galliscken, klieb
Flaubert ein Klang, denn, fern allem Gedanken, der dem Flaubertscken
^A^erk innewoknt, sckrieb er B ticker wie ein braver deutsck~moglicber
Zolaist, mit einem Tropfen Galle eines j'accuse. dai? die deutaeken Lahds-
eute seine galliscke Vorlieke nickt zu teilen vermogen. Dazwiscken und
zuvor Ausfluge, deutsckeltalienbesuckein das Vikrato d\Annunzios. Passons.
Man kann den Gotzen ins Magazin legen. Man sei so ekrkck,
die Salambo so langweikg. zu findea wie sie ist. Den keiligen Antomus
flo oknmacktig wie er ist. Den Puvard gewollt und nickt gelungen.
Der eine Gedanke Flauberts, der Bovarysmus, war nickt sekr frucbtbar
im dickteriscken Sinn ; sein Sauregebalt war zu grotf, um Wackstum zu
fordern; man mul?, immerkin, ein Liebesverkaltms zur Mensckkeit kaben
um als Dicbter lebendig zu bleiben ; wem i.ies feblt, dem ersetzt es die
frenetiscbeste Hingabe an die Arbeit nicbt, denn wofur die Arbeit 1
Mitteilung: dazu mul? ick den Mitmenscken der Mitteilung, der Teilung
wurdig und mekr ackten; Veracktung driickt bleierne Fmger an iea Mund.
Man katte, vor 15 Jakren sckon, kei uns gegen die kartkagiscke
Arckaologie, besebworen vora Zauberstab des "Wortes, drei Romane der
Erika Handel-Mazetti setzen konnen, wenn man sie dort gekannt batte,
wo man mit Flaubert Idolatrie trieb. Nun ist die Angelegenbeit mit
dem 'zweibandigen Roman von Doblin naker geruckt und zur Ent-
sckeidung gekommen. Der wirklicken Bedeutung der Education, der
Bovary, der Trois Contes ist mckts genommen als die irrtumlicke deutscke
Veraksolutierung. Es bedarf keiner Tkeorie mekr, die Bedeutung der
^^orte, der Spracke fur das dickteriscke Werk zu erweisen. Borckardts
Werk der letzten zwanzig Jakre, ]etzt auf dem Vvege zum Leser, 1st
und stekt vor jeder tkeoretiscken Miike, ein Selbstverstandkcbes emer
400
Zeit zu oewasen, die- es aus Verkummerung des dazu notigen Organes
vergessen tat. Und dazu der grof?e Roman Doklins, Man zerlege
krxtiscn diese aus einem Gusse gesckaffene Einkeit ikrer Form — Form
im weitesten, a. k. gedrangtesten Sinn — in beliekige inkalts- oder gegen-
a tanas bestimmte Telle una man wird merken, daf? was dem Ganzen zn-
kommt auck jedem dieser Telle zukommt : Precision, Vollendung, Deut-
lickkeit. Ob dieser Ted nun die Historie ist oder die Atmospkare,
die Psyckologie oder das Gewand, die Figur oder die Massen, die ak~
tiven oder passiven Trager des Gesckekens. Die vielen ELenen des Ge-
sckekens in der Realitat smd mit emer keute und von einem deutscb.cn
bchriits teller kautn erwarteten Kraft auf die eine Ebene seines erzaklten
Werkes gekrackt, mit dem Ansckein des Mukeloseh, des Selkstverstand-
licken, weder aus FleiK nock aus Doktrin Gewonnenen. Verstekt man
Haltung darunter, kann man kier von einem Werke groften Stiles
sprecken, — in allem Romankaiten der Deutscken dieser letzten Jakr-
zeknte ein emziges Mai nock, von Musil in den „Verwirrungen*\ erreickt,
Keine Spur sckleckter Erziekung, wie solcke der neuen deutschen Lite-
ratur eigentumkck. Nirgends ein ralsckerTon, weder dessogenanntenGefukles,
das aus einem Lock im Balge pieirt, nock des Denkens, das sick im
Nicktigen uberdenkt und leer lauft. Beiaes Leim deutscken Romancier
immer daker kommend, dal? er von Dingen redet, die er weder kennt
nock aknt, nut denen vertrauten Umgang zu kaben er aber pratendirt,
wed er seine sckleckte Erziekung mckt merken lassen will.
Dieses rein storilick Ungekeure, der Krieg der drei&g Jakre, ist in
dieses \Verk Dokuns kineingegossen, in kockster Temperatur des davon
Gep acktseins umgesckmolzen zu kockendem Stakl. Hier ist nickts ge-
nietet, auck mckt autogen. Hier gikts keine erscklickenen soidisant
ULergange vom Kaiser Ferdinand zum Mann Ferdinand, vom Wallen-
stem, dem Geldmacker, zum i^allenstein dem General, vom Krieg m
Bokmen zu dem in Niedersacksen. Und diese plane, gar nickt etagen-
maisig gesturte, mit und aus einem Atem erzaklte, kingestellte, vorgefukrte
Sacke sinkt mckt tur etnen Augenkkck m erne Seelenralte, um da uklick
romankait zu vermaden, steigt me kinaur zu einem reflexiven Verkalten
des Erzaklenden, der plotzlick redet, um nickt merken zu lassen, dal? er
den Faden verloren kat. Vielleickt pal?t das Wort Roman, wie man
es Lrauckt, aui dieses Werk nickt. Vielleickt Lesser das ^Vort Epopoe,
wenn lck mir rur dieses AA^ort ein ^A^erk denke, das weitesten Horizont
oken und unten umspannend eine Diktion kat, voll vom keil?en Atem
eines erregt Spreckenden.
401
STEFAN GROSSMANN SCHNITZLER
Eines Tages zeigte mir in 'Wien cine junge Dame, die fur Scknitzler
schwarmt — una es schwa rm en dort nickt wemg junge Damcn fur
Scnnitzler — erne Kinderfotograpkie, die Jen zeknjakrigen ICnaben
Arthur Scnnitzler darstellt, einen sanffmutigen, keben Jungen, von zartem
Wucks. Er ging in einem Samtanzug umker. Der Samtanzug paute
zu clem f einen, zarten Knaben; das war kein Junge, der mit anderen
Rangen sick auf der Strafe kerumbalgte, das war kein Bub, der je ein
Lock 1m Strumpf oder einen Fleck auf der Hose gekakt kat. Der
Samtanzug^ geborte zu dem woklkekuteten Kinde. Dieser Samtanzug
eagte aus : ^Voklkabende Bourgeoisie, Bekutetwerden, nickt in den
Sckmutz fallen.
Irgendwie ist mir der Samtanzug von Scknitzler untrennbar ge-
worden. Er kat rue die rauken und roken Konfkkte gekannt, er ist
me [ordinar geworden, aber auck die groI?e wilde Naturkraft kat nie
aus lkm gesprocken. viele kennen eine andere Fotograiie Scknitzlers:
Ein eleganter Herr mit klondrotem Spitzbart und emer sckonen melan-
ckokscken Locke, cue mm etwas kokett in die Stirne fiel. Der kleine
Mann, immer etwas zur Dicklickkeit geneigt, kat mit seiner melanckoliscken
Stirnlocke und seinen nock ein biiscken sckwermutigeren Augen auf Frauen
sekr gewirkt. Etwas femimnes ist diesem wieneriscken Gemut nie ver—
loren gegangen. Er ist immer im Samtanzug gebkeben.
V on Beruf war Scknitzler Arzt und zwar nickt nebenker Arzt,
wie z. B. Sckonkerr, der nur so eine Art Armenarzt gewesen ist, okne
ricktige mediziniscke Leidensckaft. Scknitzler ist der Sokn eines be—
rukmten Wiener Arztes. Sein Bruder ist einer der ersten Operateure
der Universitat gewesen, und Artkur Scknitzler kat in seinem Innern
die Qualitaten zu einem guten Arzt, d. k. zu einem stren gen Beobackter
und zu einem teilnakmsvollen Heifer. Lange kat der Arzt mit dem
Dickter in seiner Seele gerungen. Eine seiner ersten Arbeiten war eine
Novelle „Sterben", in der er in der Unerbit-tlickkeit des erfakrenen
Klinikers die Auflosung eines Menscken sckildert. Der junge Scknitzler
katte nur zwei Tkemen, Sterben und Liebelei, wobei er freilick ge-
legentkck auck nut dem Tode e\A biJicken kokettiert kat. Eine oder
die andere Dicktung konnte Sterbelei keiuen.
Mit den Jakren wurde Scknitzler freier, sickerer und keiterer-
Das Todesproblem genet in den Hmtergrund und der erotiscke Vor-
wurf fesselte lkn ganz. \Venn Scknitzler sick vain Problem der
402
Liekelei unci Ekelei entfernte. dann wurden seine Arkeiten etwas papiern.
Als er cin kistonsckes Drama aus dcr napoleoniscken Zeit versucnte,
da gelang ikm kein gropes ^Verk. sondern em langes ^^/erk. Fest~
zustellen ist, daf? eigentlick alle seine Liekeskomodien und -Novellen
lmmer wieder die Sckicksale von einsaxnen Menscken zeigen. Im Grunde
kkek er ein dicktender Junggeselle. Seine erste Figur, Anatol, ist ein
Junggeselle, seine dickterisck keste Figur, der Herr von Sala im „Ein-
samen Weg", ein Junggeselle und auck seine Frauen, auck wenn es ver-
keiratete Frauen sind meistens vom keikgen Sckem einer ntckt uker-
windkaren Einsamkeit umwoken. Das sui?e A^iener MadeL un Grunde
das Genul?opfer des Junggesellen Anatol, kleikt zuletzt lmmer -wieder
allein. t Die Frau, die den kerukmten Komponisten im Zwisckenspiel
gekeiratet kat, muK immer wieder damit recknen, lkr Leken okne lkren
Gefakrten fortzusetzen. Und gar die gutige, durck Erfakrung suJ?
und kitter gewordene Frau im „Weiten ; Land", weil?, dal? sie die
Jetzte Gemeinsckait der Selkstvergessenkeit nickt erreicken kann. Diese
letzte Melanckolie entstammt ein klein wemg auck einem Gerukl mnerer
Unfrucktkarkeit. Junggesellentum. Alle diese Menscken Keken urn zu
genietfen, und Genutfsuckt kat sie alle innerKck einigerma#en ausgekoklt
und angefre.osen. Man wird in Scknitzlers Stucken kaum eine Mutter,
gewil? keinen Vater finden, es ware denn der alte AtVeiring, den
Vater des sui?en Madels in „Liekelei*', den Scknitzler mit der rukigen
Sickerkeit des entfernten Fremden gezeicknet kat. Aker sein Helden-
typus ist immer kmderlos. Das gikt alien semen >^erken die Sckwer-
mut einer letzten, dekadenten, aussterkenden Generation. \
Melanckoliscke Menscken sind meistens Zymker. In Momenten der
Krise kann sick der MelanckoLker nur durck Zymsmus retten, Scknitzlers
Zynismus, der me rok vorgetragen wurde, — er kkek ja immer im
Samtanzug — entstammt auck seinem Arzttum. Letzten Endes denkt
er uker die Lieke immer -wieder rein rkysiologisck. So allein ist der
-,Reigen zu erklaren. Soldat und Dime, Sckauspielerin und Graf,
Sckriftsteller und Sckauspielerin, sui?es Madel und Sckriftsteller, — das
dekorative [Drum und Dran ist versckieden, aker alle Aie lyriscken
Redensarten sind nur V anationen um das Kerntkema kerum, und dieses
Kerntkema ist von einer melanckolisck mackenden Banalitat Ick kake
me kegriffen, dal? Menscken den Reigen fur eine pikante Angelegenkeit
kielten. Es ist eine der tristesten Dicktungen, die ick kenne. Scknitzler
stent kier als ein etwas muder Zymker vor dem erotiscken Proklem.
Wenn man ein Motto zu dem AtVerk sucken mutfte, so waren die
403
*Verse Tkeodor Fontan es die pass end st en :
„FrukKng, Sommer, Herkst und Winter,
Ack. es ist nickt viel dakinter".
Der ganze Wortluxus der Lieke, ok er nun im Dialekt des Soldaten
oder dea Sckriftstellers oder des Grafen vorgetragen wird, ack, es ist
nickt viel dakinter. Ein von Lekenskraft strotzender Erdendickter wie
Emile Zola katte denselken Reigen sckreiken konnen, aker dann ware
es ein Hymnus auf die Frucktkarkeit geworden, ein vielstropkiger Ge~
sang auf die durck die Lieke garantierte Unsterkkckkeit des Gesckleckts.
Weil Scknitzler die Liebe immer wieder nur als das grotfe Genutfer-
leknis ansiekt, deskalk ist sein „Reigen" im Grunde ein tristes, ein
niederdruckendes Werk. Er will von der Lieke reden und weii? nickts
vom Kinde.
In diesem Mai wird Scknitzler 60 Jakre alt. Er lekt in Wien,
drautfen am Rande der Stadt, kart am Wiener Wald. Zwiscken
Kaklenkerg und Herrmannskogel kin ick lkm in vergangenen Jakren oft
kegegnet. In den rotklonden Spitzkart kat sick manckes wei#e Haar
-gescklicken und der Dickter, der alter wurde, korte auf, kokett zu sein
Sein Talent zur Einsamkeit kat ikn zeitlekens davor kekutet, einer
Klicke oder einer Partei sick anzuscklietfen. Er kat immer eine feme
laokerung zu kewakren gewutft. Er kat immer seine Grenzen gekannt.
Er kat nie den Revolutionar gemimt und sick nie fur tiefsinniger
ausgegeken als er ist. Eine angenekme kurgerKcke Recktsckaffenkeit kat
seine Werke klar, einfack und durcksicktig gemackt. Eken diese Har-
mo nie kat ikn der jungeren Generation ein wenig entfremdet, diesem
zerrissenen und ckaotiscken Gesckleckt, das sick lieker fragmentariscken
aker klutenden Propketen zugewendet kat. Fur diese Zwanzigjakrigen
ist Scknitzler ungefakr das, was uns Aelteren Paul Heyse war, ein
Dickter der Frauen, ein Dickter fur Frauen, ein kurgerlicker, allzu
kurgerlicker Poet.
Diese Zwanzigjakrigen lassen keinen Samtanzug gelten.
404
CARL STERNHEIM. FAIRFAX.
I. Eine Erzaklung.
Nack Weltkriegs Scklui? langweilte sick Jimmy Fairfax krai? in*
Prunksalen seines Palasts in der funften Avenue New-York, und oft
wurden die Kmnmuskeln von wakren Gaknkrampfen ersckuttert.
V ler Jakr lang wakrend der grotfen Sacke jenseits des Teicks katte
er keinen oden Augenbkck gekannt; die ins Kolossale gewacksene Her-
stellung seiner mit keiner anderen Marke vergleickbaren Excelsior Stakl-
granaten, gerullt mit besonders ekrasierender Spr,engmasse, dazu Erricktung
immer neuer Fabnken, Arbeiterkauser, Baknanscklusse, ^Verften, Docks
und Dampfsckiffe, aber auck blutige Unterdruckung von Streiks und
Auistanden, groifiugige Besteckung von Regierenden, politiscker Fukrer
und Journalisten katte ikn so ganz besckaftigt, dal? er kuckstablick keinen
Augenklick seines Hirns Leere gespurt katte.
Das war mit dem Unterkegen der so lange tapferen Deutscken und
dem Versailler Friedensscklul? mit einem Scnlag zu Ende. Selbst-
verstandlick katte er seine AkVerke mit Blitz auf Herstellung von Friedens-
ware umgestellt, mackte landwirtsckaftkcke Gerate von der simplen Sense
bis zur pferdekraf tigs ten Lokomobile, aber scknell war deutlick geworden, .
in diesen Artikeln gab es nur verkaltnisma&g geregelten Absatz, den man
nickt wie Knegsware durck feurige Propaganda wutsckaumender Pressen,
Agenten und Borsenmanover beliebig steigern konnte, der sick vor all em
nickt sinnlos genug ins Leere verbrauckte.
Es mackte lkm auck wenig aus, was aus einem Pflug und einer
Dresckmasckine wurde, Diese Dinge waren mit Austritt aus s einem.
Gesckaft fur ikn anonym. Nie wieder korte er von iknen und ikrem
Wirken. So gut wie nickts mekr erfolgte aus iknen fur ikn, wakrend
nack Ankunft eines seiner den deutscken Unterseebooten entronnenen
Riesensckiffe in Europa, gespickt mit runden Hunderttausenden smarter
Staklkulsen, er formidablen, auf ikn und seine Unternenmungslust zuruck-
zufukrenden Eindruck in Zeitungen tausendfack beekrt fand, durck den
er mit frisckem Zutrauen fur ferneres Tun erfullt wurde.
Ja, er brauckte Anstofi War praktiscke Natur und, unmittelbaren
Eindruck seiner Arbeit zu seken, angewiesen; er gekorte nickt zu den
405
ukertragenen Menscken, die mit Zaklung, das ist indirekter Bestatigung
geleisteter Energieen kefnedigt sind. Dickt mu#te ans Leken er ange-
scklossen sem, seiner Riesenfaust Griff aus donnernden Explosionen mit
Okren koren.
Jakrelang war er in kein Tkeater, Museum, zur Lekture keines
Bucks, erst reckt nickt in eine Kir eke mekr gekommen, well der Anklick
aus Vergangenkeit aufkewakrter Kuriositaten springfrisckem Lekensquell
des Tags gegenuker lackerlick sckien. Jetzt aker katte er aus keginnender
Verekkung des Lekens sick vorsicktig aur die Pickwicker von Dickens
eingelassen und fur \Vockenende eine Loge zu Carusos Auftreten gemietet.
Er dackte sogar daran, die erste grofie private Budergalerie der
V ereimgten Staaten zu grunden und katte wegen des Grundstocks, einem
kaiken Dutzend Remkrandts an Rosentkal Brotkers in London gekakelt,
die aker nur ekensoviele Rukens aur Lager katten und mm deren Ankauf
drmgend rieten. Im Grunde -wars ikm gleick, und vielleickt argerten
die vorgescklagenen Rukens in seinem Besitz den alten Rockefeller mekr
als Remkrandts, woruker er sick unterrickten wollte. Eine Stunde
spater aker kaufte er die Bilder, okne Auskunft akgewartet zu kaken,
fur funf Millionen Dollar, weil der Vorteil, ukerkaupt solcke Summen
m verkaltnisma&g geringes Gewickt stecken zu konnen, grotfe Ckance kot.
Einen und einen kaiken Monat unterkielt lkn der Ankauf ganzer
Galerien Europas, die unter den Hammer kamen. GroKe Naraen von
Cimakue kis Pikasso kaufte er unkeseken, weil ikm Garantie der Ecktkeit
von Gemalden und Skulpturen kelanglos sckien, indem der kloKe Umstand,
sie kingen fortan in seiner Sammlung, sie fur Kunstkistonker und Pu*-
kkkum kinreickend keglaukigte.
Danack erwark er die Kronjuwelen ^ea montenegriniscken, ser-
kiscken, kulganscken und scklietflick osterreickiscken Erzkauses, wodurck
es gelang, weitere zweiunddreiffig Millionen Dollar auszugeken. Fur die
gleicne Summe etwa erwark er nock die Rekquiensammlung einst im
Besitz des Kurfursten Friedrick des Weisen von Sacksen, und nock kei
Adolf Hausratk (Lutkers Leken Berlin 1913) aufgezaklt, zuletzt in
Han den eines durck Borsengesckafte ruinierten ungariscken Kirckenfursten,
406
entkaltend aL Glanzstucke Garn, das die Mutter Gottes gesponnen katte
sowie Haar aui ikren Fleckten, das Becken, indem Pilatus seme Hande
in Unsekuld gewascken, ein gropes I eil vom Leib des Patnarcnen lsaak
una runrundzwanzig Zweige vom brennenden Busck Mosis. Dazu die
guterkaltene Armrokre, mit der Lukas das Evangelium gesckrieben. zwei
Kruge von der Hockzeit zu Kanaan, einen von den drei&g Silberlingen,
um die Judas den rierrn verriet u. s. w.
Ordnung, Aufstellung und Katalogisierung dieser Kostbarkeiten
brackte inn nock uber des Jabr3 neunzeknkundertneunzekn groliten I eil,
wakrend welcker Zeit er seine Sammlungen durcb Erganzung auf die
rlohe bracnte. So gelang 1m Jum der Erwerk von kundertsiebenund-
zwanzig Landsckarten des Corot und secksundvierzig erstklassigen Bildern
Courbets en bloc durck em Panser Haus, und einiger Linsen von Esaus
» Onginalgenckt« , das den die Erstgeburt gekostet katte. Hierdurck
wurde die Zakl der Kunstgegenstande aui ackttausend, der Rekquien
aui dreitausendiunrkundert akgerundet, wakrend eine Summe von rund
kundertundiuntzig Millionen Dollar angelegt war, was freilick wenig
genug sckien. Nickts Wesentlickes aber blieb aui dem Weltxnarkt zu
kauien zuruck, und was selbst von erstklassigen Hausern, wie des Apostels
Paulus Knotenstock nock angekoten wurde. war Bruck.
Zum grotfzugigen Erwerb von Tro£aen aus dem Weltkrieg selbst
aber konnte er sick mcbt entsckketfen, weil des international en Puklikums
endgiltige Wertung fur diese Ware nock ausstand, und er leknte trotz
Bitten seiner von lkm geliebten seckzeknjakrigen Tockter Daisy Luden-
dorfs verkaltnismatfig kilKg angekotene Leseknlle samt Futteral und Focks
Suspensorium ak. Aker eine uker diese BanaUtaten kersckleifende Lange-
weile kegann, ikn krank zu macken, und sckon fing der Magen an, ikm
Streicke zu spielen, trotz von Autoritaten ikm aufgezwungener Kuren
semen Lebensmut 1m Kern anzunagen. Sckliefilick riet ikm eine arztUcke
Leuckte, es des alten Ckmesen Li Hung Tsckangs Beispiel gemal? mit
rnscker Ammenmilck zu versucken,
Ein Dutzend junger, gutgewolkter Amerikanerinnen sckmeckte er ab,
liei? rassige Tsckerkessinnen und Tsckeckinnen kommen, aber es sckien,
407
sic L art en Wasser in Adern, da Fairfax durcn eie nur schlapper una
apatmecner wurac, bis Daisy net, si en s tram me SiouxDraute aus Dagota,
Xo enter jenes Indian era tammes zu leisten, der von je als In beg rift tattger
An griffs- unci Tatenlust gegolten natte.
Drei Paar pracntvoller Bruste wurden ms Haus genommen, una
ecnon nacn Tagen erwiel? si en, Fairfax Blut sprunte durcn Adern, spulte
Magen- una V erdauungstrakte klar una den Ammen mul?te FleiscLkost
und Alkonol gesperrt werden, da der Ernanrte ' Sturmen der Unter-
nemnungslust in sick ment menr wenren konnte.
War er mit seines pelostwillens macntiger Steigerung einerseits zu-
fneden, wui?te er inn in New York, in ganz Amerika jetzt nocn we-
niger an den Mann zu brmgen. w/ie er waren alle Amerikaner von
der BenngstraKe bis zum Kap Horn nacn Sattigung durcn maKIosen
Kriegsverdienst und in der Unmogliehkeit, gewonnene AoermilKarden und
Zinsenmassen fur nacn Europa ausgeliehener KapitaKen unterzuonngen,
von unaufnorlicner Arbeit, Geld auszugeoen, so uberanstrengt, so senwer
war es geworden, sicn wirklicn zanlender Summen auf einmal zu ent—
ledigen, dai? jedermann von der einzigen Sorge, Anlagen fur seme Scnatze
zu fmden, erscnopft war, und eines Menscnen V erlangen, Neues zu
unternenmen, nocn grouere Vermogen zu naufen, Befr,emden ausloste*
Man braucnte docn nur Xeile erworbenen Guts zu verscnleudern, um
bel allgemeinem Warennunger sem Vermogen zu vervielfacnen. Zenn
MilKonen tot ein Narr fur Ann$ Boleyns Trauring, und um das
Doppelte gmg cm Stein aus Wasningtons Niere an einen Knegsgewinnler
ab. Die Armronre des neiligen Lukas allein natte Fairfax fur ein
koniglicnes vermogen weitergeben konnen.
Ater aucn in einem Jakrzennt* wurde sicn der Geldsacke Uber-
rullung ment ausgleicken !
Nein, erst reckt nickt mit Siouxglut im Blut sei jetzt in Amerika
auf die Kosten zu kommen, und ein uberrasckungsloses Fortlebeh warf
gigantisck graue Sckatten vor Fairfax auf.
Fur Daisy mockte das Ding nocn angeken. Die natte starke sinn-
licke Be* skung zur AkVelt, die sie rucksicktslos gegen alle offentnekr
408
Meinung sckon durckgesetzt katte ; sie sak er in einem Barmixer, Tanzer
oder Jokey von Zeit zu Zeit' vernarrt und kereit, Summen fur dicse
Puppen zu opfern, wokei sie sick ikres Reicktums gesckickt als klotziger
Barn ere zwiscken aick und des anderen Gesckleckts letztem Verlangen
kediente.
Bci Fairfax aber, nackdem er aus Ukermut nock die pompose
Sckwebebakn iiker den Pelly-Fluf? in mensckenleeren Talern der Rocky
Mountains gebaut, pbanomenale Expedition ztim Nordpol zwecks Er-
langung eines Kolossalfilms ausgerustet katte, auf der funfkundert Hunde
und kundertsiekenzig Menscken umgekommen waren, die man zum Teil,
in Etsblocke eingefroren, mitbrackte und auf der Leinwand zeigte, nakm
oknmack tiger Grimm, mit kestem ^Villen, sick unvergleicklick zu ke~
tatigen, nickts anfangen zu konnen, gefakrlicke Formen an, so dai? mit
aller Umgekung sick sckon die Saugenden erkosten und Daisy langsam
melanckoksck wurde.
Fakelkafte Darstellung, gleickfalls im Film des zerstorten Flanderns
und Nordfrankreicks mit pkantastiscken Greuelresten und nock frisckem
Blutfceruck, bracbte ikn auf den Gedanken, konne er in neuer Welt
seines Wirkens im Kneg kestandige Sicktkarkeit nickt koffen, in Europa
mindestens das von lkm vormals Angericktete so nak wie moglick zu ke—
seken und in Ermangelung friscken Gesckekens sick vom Gewesenen so
*ief wie mogkck ersckuttern zu lassen.
Gedackt — getan ! Die kocksten Ansprucken entspreckendste seiner
Lustjackten lieu er, mit allem Erdenkltcken verseken, unter Dampf setzen,
nakm zu den Siouxmadcken, die sorgfaltig mit leckeren Nakrungsmassen
verstaut wurden, nock emen aus sieken gemiscktgescklecktlicken Gliedern
bestekenden Indianerstamm an Bord, aus dessen kvmftiger Vermekrung er
in personlicken Bedurfnissen unakkangig von der Heimat wurde, und
stack mit Daisy am runfzeknt^n September neunzeknkundertundneuazekn
kei blaueatem Wetter nacb Europa in See.
409
AUS DEM TAGE-BUCH
DIE SONDE WIDER DAS BLUT
ERREGUNG IN GLAUCHAU
Die Romane des arischen
Schriftstellers Arthur Dintcr
werden in Auflagen gedruckt; wie
sie sonst nur die Courths - Mahler
erlebt. Es verdient Anerkennung,
dal? Rudolf Olden sich entschlossen
hat, eins dieser Werke bis zu Ende
zu lesen !
Eine miitterliche Freundin, die in
Glauchau in Sachsen lebt, erfreute micK
zu meinera Geburtstag durch Ubersendung
eines Buches : „Die Sunde -wider das Blut"
Ton Artbur Dinter. Sie scbreibt mir,
das Buch babe in Glauchau und aucb
sonst in der ^^elt grol?e Erregung verursacht
und werde eifrig besprochen. Was icb
dazu xneine?
Da icb fiirchte, dafi sich die Erregung
bisber sich doch mebr auf Glaucbau be-
schrankt bat, und mir allein autferdem
das Vergniigen nicht gonne, so will icb
den Inhalt des jBuches nocb weiter ver-
hreiten. Er folgt leider in komprimierte*
Form.
Hermann Kampfer, ein junger Forscber
und blonder Mann, ist der Sohn eines
Bauern, der vermittels Anwendung land-
•wirtschaftlicher Mascbinen sein Anwesen
in die Hohe bringt, bis ihn der Makler
Levis obn verleitet, ein Nacbbargut dazu
zu kaufen. Die Mascbinen funktionieren
nun nicht mebr und auch die Agrikultur-
chemie, die der Sobn studiert hilft nicbts.
Der Bauer erschlagt (leider zu spat) den
Wucherjuden, der das Unglttck ins Haus
gebracbt bat und stirbt im Gefangnis,
seine Tocbter wird verfuhrt und gebt ins
Wasser. Der Sobn Hermann aber ins
Gymnasium, wo er Zweiter ist, weil sein
Ncbenbuhler Isidor Rosenbaum besser
rechnen kann, und dann auf die Universitat,
wo er solange die Synthese des kttnstlichen
Eiweitf entdeckt, bis er Elisabeth kennen
und lichen lernt und Fabrikchemiker bei
ibrem Vater , dem kgl. preutfischen
Kommerzienrat Burgbamer wird.
Dieses schone, grotfe, blonde Madchen
ist mit dem Regierungsassessor Barpn Dr.
von Werheim verlobt und iibrigens das,
'was man in Sachsen ein modernes Madchen
nennt, Das ist etwa so, dal? sie zu ibrem,
Verlobten, der das Einglas fallen lai?t und
sie mit ein em etwas mebr als gesellschaftlichen
Handkul? begriiflt, folgender maflen spricbt :
,,Na, tun Sie nur nicht so, Baronchen.
Sie moraltrompeten ja gerade, wie ein
Professor der Etbik". Oder ,jSie standen
bisher mit dem Strafgesetzbuch noch nicht
in. KonfHkt und brauchtcn sich noch nicht
mit Salvarsan impfen zu lassen, das ist
mir die Hauptsache". So weit ware also
die Partie passend. Nur der Name stort
sie. „Ich gebe zu, Baron von Werheim
klingt besser als Baron von ^fertheim,
aber man merkt der Sache doch zu sehr
die Beschneidung an, und das vsrstimmt".
Worauf der Baron — ,,hierbei verwandelte
sich das licbte Blau ihres Auges in
stahlernes Grau" — kurzum, ibr enthiillt,
dafi ibr Grofivater nicht Burghammer,,
sondern Hamburger geheitfen babe.
Namlich ihre Mutter war eine armc
Pastorstochter aus dem Holsteinschen und
konditionierte bei Burghammer & Co.,
fiel der Sinnenlust des Juniorcbefs zum
Opfer, worauf ihr Bruder, der Leutnant,
ihn mit Reitpeitscbe und Pistole zwang*
die Schwester zu beiraten.
Hermann Kampfer aber veranlatffc
Elisabeth zunachst, Theologie zn studieren
und dann den Baron (Na, Dickercbent
sagt sie) sitzen zu lassen, Bei welcher
Gelegenheit sein Korpsbruder Regierungs-
assessor Dr. Baron von Oppenheimer zu
ihm sagt : „Nu nimmste die Witzleben !
410
Aucb eiii netter Kafer! Zwar keine Spur
von Pinke — Pinke, aber der Herr Papa
is ne Nuramer ! Frub stuck t bfters bei
SM ! Kann ne Sacbe werden ! Ne gro£e
Sacbe!"
Der blonde Forscber erlebt Ent-
tau?cbungen. Denn ' .,Das sinnlicbe
Begebren der jungen Frau war derart
wild und ungeziigelt, daf? Hermann sicb
geradezu abgestotfen von ibr fublte'*.
M Als scblietflicb dieses an Ausscbweifung
grenzende Liebesleben seine Geisteekrafte
zu labmen drobte . . . ." So lange gebt
es also wecbselnd zwiscben ariscber
Tbeologie und semitiscber Sinnenlust, bis
sic ibm einen Sobn gebiert. ,, . . . prallte
er entsetit zuriick. Ein dunkelbautiges,
mit pecbscbwarzem krausen Kopfbaar
bedecktes menscbenunabnlicbes Etwas scbrie
ibm entgegen. Tiefdunkle Augen die einen
blaulichen Scbimmer zu baben scbienen,
blinzeiten ibn unter langen scbwarzen
Wimpern aus einem uralten GeBicbte an.
Eine plattgedrilckte Nase gab dem Kopfe
etwas Affenabnlicbes". Hermann greift
entsetzt :um Konversationslexikon und
findet die Erklarung seines Ungliicks unter
„Atavismus". Tiefer Zwiespalt trennt
ibn jabrelang von Elisabetb. die von der
Sinnenlust wieder zur Tbeologie iibergebt.
Bis er anfangt zu kalkulieren : Drei Groi?-
eltern gegen einen. ein zweites Mai muff
es besser geben. Er uberzeugt die Gattin
von der Ricbtigkeit der Wabrscbeinlicb-
keitsrecbnung.
„Nun will icb Dir Deinen Seelen-
wunsch erfullen, mag es ausgeben, wie es
will".
., Elisabetb, Du mein Weib'\
Es gebt scblecbt aus. Der zweite
Sobn siebt aus wie der erste. Mutter und
Kind sterben vor Scbreck.
Der Grotfvater Burgbamer- Ham burger
stirbt und hinterlaltt autfer einem kompro-
mittierenden Briefwecbsel mit dem Reicbs-
tagsatgeordneten Frankfurter uber den
Aufkaut der „Geragemiinder Zeitung", des
,,Stadt- und Landboten von Eberbausen"'
und der iibrigen deutscben Press*, — „In
Bestatigung lbres Geebrten vom 16. bin
icb bereit, Sache zu macben", — und 27
Blondinen, von denen er 1 17 scbwarzbaarige
Kinder bat, 264 Millionen Friedensgold-
mark, die zum Teil fur die Alliance
universelle Israelite bestimmt sind, zum
anderen aber von Hermann zur Grundung
eines ariscben Rasseforschungsinstituts be-
nutzt werden. Infolgedessen werden
unendlicbe Prozesse falscber Erben gegen
ibn angestrengt und von den verjudeten
Ricbtern gegen ibn entscbieden, bis er
am Bettelstab ist. Seine Eiweitfsyntbese
bat ibm der Kolleg'e Dr. Siegfried Salomon
gestoblen.
Sein Sobn rechnet vorziiglicb, macbt
aber in der Scbule wucberiscbe Marmel-
gescbafte, leckt seinen Mitscbiilern fur je
einen Pfennig die Sticfel ab und begebt
mit zwolf Jabren ein Sittlicbkeitsattentat,
worauf er glucklicberwefse im Wannsee
ertrinkt.
Hermann , tiefgebeugt aber nicbt ge-
brocben, fatft eine Leidenscbaft zu einer
Krankenscbwester bei der er einen Stamm-
baum von blonden Nordgermanen bis in
die fernsten Zeiten feststellen kann. Sie
kommt nieder und es gescbiebt ,,daa ganz
Unfatflicbc : sie gebar ein Kind mit
scbwarzem Krausbaar, dunkler Haut und
dunklen Augen, ein ecbtes Judenkind".
Also, was. "war gewesen ? Von einem
■ scblecbtgetauften Leutnant in ibrer Jugend
verfubrt — ,,in der Tierzucbt bekanntes
Rassegesetz, daff ein edelrassiges Weibcben
2ur edeln Nacbzucbt fur immer untauglicb-
wird, wenn es nur ein einziges Mai von
einem Manncben minderwer tiger Rasse
berrucbtet wird'* — bringt sie sicb und
das Kind um.
Hermann ziebt seine Selbstladepistole-
und erscbiefit den Verfubrer. Vom Staats-
anwalt Katzenstein angeklagt, wird er
trotz der Gutacbten der Sacbverstandigen
Professor Dr. Maximus HirscbKorn
411
Geheimrat Dr. Maximilian Markuae und
Se. Exx. des Wirklichen Geheimen Rata
Profsssor Dr. Sally von Cohn sowie dea
Oberaaohverstandigen Fritz Mauthen, nach
Ablehnung der Geachworenen Mannheimer,
Jeittelea und Roacnfeld unter dem Jubel
Deutachlanda freigeaprochen. ,,Mit betden
eidcrnen Kreuzen geschmiickt, ist er am
Weihnachts abend auf einer kuhnen
Patrouillenunternehmung gef alien**. Ende.
Die Erregungin Glaucbau ist begreiflich.
Rudolf Olden.
DER IDEALE REICHSPRASIDENT
Herr Thomas Wehrlin, Sie haben im
,,TagebucV' nach dem idealen Reichs-
prasidenten gerufen, Sie haben, weil kein
Lebender Ibnen genugte, die ScKatten Moritz
von Egidys und Friedricb Naumanna
neraufbeschworen. Aber wie konnten Sie
an dem Manne voriibergehen, der sieh als
wurdigsier, als einziger Pratendent fiihlt
uod fiihlen darf, an dem Manne, der alle
Strbmungen, Parteien, Intereasen Dcutsch-
landa in seincm Buaen vereinigt?!
Efl ist ein Kopf, der alle Parteien ura-
fafft. Er begann als Soarialdemokrat und
«a gibt Stun den, da er es noch ist. Manche
nennen ibn beute nocb Genosse. Ala
Haase und HiHerding an den Aufbau der
U. S. P. giugen, da achwenkte er im Salon
Cassirer zu den Unabhangigen, er bat ibrera
Tagblatt das schone alte Haus^ der „VolT*
verscbafft. Er wirkt ala antikapitalistischer
Vortragender in der Bildungsschule der
ziemlich kommuniatischen Betriebsrate.
Aber er ut eingetragenea Mitglied der
Demokratischen Partei. War bis vor
kurzem liberaler Stadtverordneter. Er ist,
wie Ludendorff, Tirpitz und Biilow be-
zeugen konnen, ein national zuverlassiger
Mann. Glaubte an den Ubootkrieg, be-
lacbelte Amerika, das nie Krieg fiihren
■wird, half mit am Sturze Bethmanns und
damit am Auf s tie g dea bitteren Dilletanten
Micbaelis. Heute nocb auf mecklenburger
Gutahofen beliebt, weil er, spit ira Krieg
vor dem Aufrollen der preufliachen Wahl-
recbtsfrage warnte. Zur deutschen Volks-
partei ziebt ibn nicbt nur Witterung fur
morgige Macht, sondern auch sein Reapekt
vor wirtachaftlichen Realitaten, Er ijt
grazioser ala Streaemann. Und zu den
Junkern ziebt ibn eine feminine Schwache
fur preutfische Mannlichkeit.
Er iat rechtgliiubiger Protestant. Aber
er ist aucb mit den Brauchen dsr alt-
testamentariscb Glaubigen vertraut. In
stillen Sabbathstunden Zionist. Kunatler
genug, ura durch einea Sommer am
Tegernaee katbolisch zu werden.
Wirtschaftsdenker, Planwirtacbaftler.
Aber mit einem leidenden Sehnauchtsblicke
nacb der freien Wirtschaft.
Diplomat, Mitglied der Mittwoch-
geaellacbaft und dea Salons Cassirer. Durch
beaonderen Botschaftcr m f eater Fiiblung
mit dem kleinen Blocb der Sosialistischen
Monatsbefte und mit Biilow, der noch im
Grabe Reichskanzlerwunscbe begen wird.
Ein Mann, der immer ein Programm
zur Rettung Deutacblanda bci sicb hat.
Es wird allwochentlich umgearbeitet.
President und Mitglied fast aller
deutschen Vereine.
Einer der Lsnker der deutschen Presse
Im Augenblick der Mann, der dai
liebendste Herz fur unsert:n grauaamsten
412
Gegner hat. Versteher der Franzosen
ohne franzosisch iu verstchen, unerschiitter-
lich franzosenglaubig.
Man sieht: Ein Mann, in dem allc
Parteien wohnen, eine weite Seele, die
Synthese aller politischen Bestrebungcn
Deutschlande! Deshalb der representative
Mann, gca chaff en fur Allc.
Seine Wahl zum Reichsprasidenten
mufitc Briand, Poincare und Millcrand
erschuttern.
Der Name Georg Bernhard, einmal
in die Debatte geworfen, wird allc Bern-
bardiner mobil macben — von Tiipitz
bia Blocb , von Bulow tia Henckel-
Donnersmarck, vom Professor Stein bis
zum Grafen Reventlow, von der Deut-
scben Gesellschaft 1914 bis zum Restau-
rant Berg.
LENINS VERNICHTUNG
Aua der Umgebung dea Schloases Doom
wird una geaehrieben, datf'Wilhelm Hohen-
zollern, ehemals deutscher Kaiser, neben
einer trockenen tabellarischen - Gescbicbte
seiner Tatigkeit aucb eine sozusagen theo-
retiscbe Arbeit verfatft bat, namlich eine
Kritik und W^derlegung der bolsche-
wistiscben Tbeorien. Sie kommt so recht-
zeitig wie alle Taten Wilhelms : In dem
Augenblick, da Lloyd George mit der
Nuchternheit des Tatsacbenmenscben sicb
mit der auflerlich unerscbiitterten Herrscbaft
Lenins abfmdet, entschlietft sicb Wilhelm
der Letzte zur Zerschmetterung.
fasser des beruhmten Satzca: ,,Sodawasser-
kann man trinken oder stehen lasscn."
Einmal ging er auf der Ringstpafe
spazieren. Ein junger Mann griitft ihn.
Schodl bleibt steben und fragt: „Wie
gehts denn dem Herm Papa?"
„Der ist vor ein cm balben Jahr
gestorben."
Scbodl, in Gedanken versunken : ,,Aha,
drum siebt man ibn so selten auf der
Ringstratfe/'
Scbodl war ein gutmiitiger Troster.
Eine Frau, die ihm den Tod ihres Garten
mitteilte, fragte er: „Was bat inm denn
gefehlt?"
,.Erst eine Lungenentzundung, dann trat
eine Rippenfellentziindung dazu".
Scbodl, trostend: ,,Gehn S\ gebn SV
es wird nicbt so arg gewesen sein."
FAIRFAX
Die neue Arbeit von Karl Sternheim,
die in diesem Heft des Tage-Bucb beginnt,
■wird in etwa 10 Fortsetzungen erschcinen.
Jede fiir sicb ist freilicb in sicb geacbtossen.
Dennocb bedeutet diese Veroffentlichung
ein Abweichen vombiaberigenredaktionellen
Prinzip des Tage-Bucbes. Aber icb sage
mir und meinen Lesern, dafi es meine
Pflicbt war, diese Arbeit Sternheims zu
bringen, aucb in Fortsetzungen, weil es
sonst namlicb keine deutscbe Zeitscbrift
gibt, die dieser verwegenen politischen
Pbantaaie Sternbeims Obdacb gabe.
SCHODLANEKDOTEN
In Wien ist vor ein paar Tagen der
Stillebenmaler Max Scbodl gestorben.
Er bat die Welt mit vielen scblicbten
AusspriicHen erquickt. Er i*at der Ver-
INHALT DES LETZTEN HEFTES
(Nr. 12)
Stefan Groflmann : Attentater in der Sonne
Georg Brandes: Berliner Erinnerungen
Ernat Toller: Deutsche Revolulion
Leo Slezak : Gustav Mahler
Wirtscbsftlicbes Tagebucb
Aus dem Tagebucb.
Redaktion des ,,Tag>>Buch": Berlin W 35, Potsdamer StraSe 123 b, Tel: Lutzow 493:
Verantv/ortlicb fiir den redaktionellen Teil : Stefan Grotfraann, Charlottenburg. Verlag.
Ernat Rowohlt Verlag, BerlinW 35. Potsdamer Strafe 123 b. Druck: R. Abendroth, Rieaa.
413
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Da* Tagc-Buck / Heft 14 Jahrg. 2 / BerKn, 9. Apr3 1921
St. Gr. VERFALL DER ATTENTATER
Vor funfundzwanzig Jakren ersclien das Tagekuck des Pariser
Attentaters Emile Henry. Das war ein junger, zarter, ver*worrener
Mensck, der an Weltverzweiflung litt- Er konnte den Ukergang von
einer uberlangen Kindkeit in ein entsetzlick wirklickes Mannesalter nickt
finden, er wollte sick an der Welt racken , weil sie seinem sckonen
Traum nickt entsprack, er war geladen mit Pessimismus, Veracktung
des Durckscknittsmenscken und Akneigung gegen eine allzumeckaniscke
Welt, in der <lle Seele kitteren Hunger litt. Aus diesem Lekensgram
keraus warf er eines Tages in ein Pariser Cafe eine Bomke. Die totete
dominospielende Burger, deren Verkrecken es war (in Henrys Augen),
datf sie sick mit einer Pkilisterwelt akgefunden katten und zufrieden
gaken, mit der man nack der Meinung des einundzwanzigen Emile Henry
in innerem Krieg leken mutfte. Ick ukersetzte damals fur Gustav Landauers
„Sozialist" das Tagekuck des verzweifelten Attentaters. An der Spitze
stand der unvergelHicke Satz: „Ekedem konnte der Mensck, der mude
aller Menscken und ikrer gemeinen Institutionen war, ins Kloster fluckten.
Heute kleikt uns nur das Gefangnis und das Spital." Am Tage, nack-*
dem Emile Henry seine Weltverzweiflungskomke geworfen katte, rief
Laurent Tailkade zur Verteidigung der nutzlosen Totung aknungsloser
Cafekauskurger aus: „AVenn nur Ale Geste sckon ist!" Emile Henry
ist zum Tode verurteilt worden, und er nakm ikn kin, der junge,
sckpne (Mensck, wie em Selkstmorder Ale Wirkung eines Giftes, als
eine gewollte und vorgesekene Angelegenkeit, als den Scklutfpunkt, den
er sick selkst gesetzt katte, okne Zittern, okne Unruke.
A^ill ick eine Apologie des Attentaters sckreiken? Henrys Tat katte
damals seeliscken Demonstrationswert. Heute ist unser Okr gegen Bomfcen-
gerauscke akgestumpft und Henrys Wurf erkielte im Tageklatt keine
seeks Zeilen. Ick ennnere an den verirrten Sckwarmer vielmekr, weil
ick an lkm den Verrall der Attentater aufzeigen will. Ack, auck die
Bomkensckmeitfer sind entgeistigt worden. Henry katte sein, vielleickt
417
verzerrtes, Weltkild una suckte sick dazu eine Bombe. Die Attentater
von keute kaben Bo mo en una sucken sick dazu nickt einmal ein Welt>»
-mid. —Die Attentater- vtm — ekedem — kandelten au5--ein«Ba— Ukerflul? an—
Pkilosopkie, die von keute hanaeln klols ; aus einem Ukerfluf? an Dynamit.
In Emile Henrys Bombenwurr sckwang eine Seele nut, aker was beseelt
diese perversen Attentater aur Bakngeleise, Bediirinisanstalten, Sieges-
saulen und Ratkauser? Der arme Emile Henry explodierte selbst, aus
bedrangtem Herzen; die Muller und Sckulze geken los, weil die Klub*-
leitung, gottweii? aus welcken Grimden, das Ereigms fur Ende Marz
angesagt kat. Emile Henry warf seine Bombe und wollte an lkr sterben.
Diese Attentater zerstoren ein Ratkaus und sucken die Gememdekasse lm
Sckutt. Au£ dem Antlitz des vergrubelten Emile Henry lag die alte
bange Qlberg-Frage: Hergott, warum kast du mick verlassen? Aus der
Kekle dieser Knegsexistenzen dringt kockstens der keisere Rui: Nieder
nut Ludendorf. Emile Henry verneinte diese woklgeordnete Burgerwelt,
und wenn seine Bombe Unsckuldig-Sckuldige traf, so lag in diesem Wurf
ins Unbekannte immerkin ein Gedanke. Diese aber zielen nack Be-
durrnisanstalten, aus denen sie selkst kurtig gefloken sind. Ack, an den
Attentatern von keute kaftet Akortgeruck.
Henry gebot dem Dynamit. Heute kekerrsckt das biscken Dynamit
seine Besitzer. Und sie sind so sekr Abkangige lkres Zeitalters, dab sie
selkst im Attentat die kurgerlicken Laster der Epocke nickt verleugnen.
ICann man sick vorstellen, dafs die Russen, die Plekwe und die Grol?-
fursten keseitigten, lkre Hollenmasckmen in Akorten deponierten? Vor
all em aker, kann man sick vorstellen, dais neun Zekntel ikrer masckinea
so liederlick gekaut waren, daa sie nickt zur Entladung kamen? Diese
Attentater von keute sind auck in ikrer sozusagen revolutionaren Arbeit
liederlicke Dilettanten, und lkre Arbeit ist meistens klagkcker Brock.
Man lese die Berickte uber all die Attentatsversucke der letzten vierzekn
Tage. Immer wieder kat in neunzekn von zwanzig Fallen die Zund-
scknur versagt oder die Ladung. Nacklassig, unsackkck, unverlasskck,
so wird auck diese Attentats arbeit getan. Diese Dynamitarden erwiesen
sick meistens als liederlicke Saboteure der eigenen Arbeit. Und das ist
kein ZufalL lkre Attentate kommen nickt aus dem Innern, sondern aus
dem Aussern. Nickt sie gebieten dem Dynamit, sondern das Dynamit
gebietet iknen. Sie sind nickt die Herren ikrer Waffen, sondern die
zufallig verkliebenen Waffen sind ikre Herren.
Emile Henry wurde sick dieser Nackrolger sckamen. Iknen gekoren
nickt die Spitaler und die Gefangnisse: Sie sind die Heroen der Aborte.
418
LEOPOLD SCHWARZSCHILD DIE FRANKFURTER
FINANZZENTRALE
Mit dem Nam en Frankfurts ist die summar is cne Vorstellung „Bank-
una BorsenstaaY' auck keute nock unloslick verkoppelt. Ok sie sogar
m rrukeren Zeiten so zutreffend war, wie etwa fur Essen das Etikett
„Sckwenndustrie o der rur Ckemmtz das Stick wort „Textilgewerke ,
ist rraglick. Immer hat es in Frankfurt auck einen stark entwickelten
\Varenkandel gegeken; und okwokl es ricktig ist, dai? vor der Reicks-
grundung last alle Faden deutscken Fmanzwesens letzten Endes in Frank—
rurt zusammenlieren, war die Stadt dock sckon damals keineswegs so
aussckliefmck Borsenzentrale, wie es von auuen ker den Ansckem katte.
Seitker kaken sick die Dmge nock weiter versckoken. Berlin, Ale
tropisck auiblukende Metropole, zog nack dem Gravitations jesetz auck
groKe xeile des Bank- und Borsenwesens an sick. Frankfurt aker, ok—
wokl anfangs nur widerstrekend, kegann sick mekr und mekr zu
mdustnalisieren. Es entwickelte eine au#erst leistungsfahige, ckemiscke und
Metallmdustrie ; sein Metallkandel verulzte 'sick mit dem eigentlicken
Berg- und Huttenwesen und gewann auf diese Weise, als eine Art
Z witter von Produktion und Handel, unkestrittene Weltkedeutung: und
auck die weiterverarkeitende Textilindustrie nakm immer kreiteren Raum
m'seinem Wirtsckaftsgefuge ein. Sckon im Jakre 1913 entstammten
von fdem Gesamtertragms der Gewerbesteuer nur nock 23,9 Prozent,
also wemger als em Viertel, dem Bank- und Borsenwesen. Damit war
es zwar immer nock die fiikrende Gruppe ; aker Metallkandel und
-Industrie mit zusammen 20 Prozent waren ikm dock sckon sekr nake
auf den Leik geruckt.
V/akrend des Krieges, der kier wie (ukerall eine ganz einseitige
industrielle Entwicklung anregte — (man wird in den nacksten Jakren
uker die volkswirtsckaftlicke Sckadlickkeit dieser unerkorten Aufklakung
Acs Produktionsorgamsmus, die keinem dauernden marktwirksamen Be-
darf entspnckt, nock nackzudenken lernen !) — wakrend des Krieges
sank das Bank- und Borsenwesen dann kis auf die dritte Stelle der
Steuerleistungen. Im Steuerjakre 1919 war es an dem Gesamtertrag-
ms der ^Gewerbesteuer nur nock mit 10,7 Prozent keteiligt, wakrend
Metallkandel und -Industrie 28,8 und Tex til warenindus trie und -kandel
19,2 Prozent aufbrackten. Und wenn seitker auck eine neuerlicke Um-
eckicktung emgetreten sein wird, — kei der immer nock unkekokenen
Desorganisatton der Steuerverwaltung war es mir nickt mogKck, Unter-
419
lagen fur entspreckende neuere Berecknungen aufzutreiken, — so sckeint
es dock sicker, dai? Frankfurt (im Augenklick wenigstens) rein quantitativ
— ^efracktet, eker - eine~~Stadt o^a Metallkandelff— unci <ler-Me+a41indu«trie-
als eine Bank- und Borsenstadt genannt werden konnte.
1st solcke Quantitatsketracktung, vom Augenklicke ausgekend, aker
ukerkaupt stickkaltig ? Kann sie fur sick genommen, lrgendwie Ent-
sckeidendes uker das AiVesen eines komplizierten und eminent uberlieie—
rungsreicken ^Virtsckaftsorgamsmus aussagen?
Sickerlick nickt! Lekendige Wesen sind nickt nur das, was sie
sind, sondern im koken Mal?e auck das, was sie waren, wofur sie sick
kalten und wofur andere sie kalten. Der tote Rotksckild ist auck fur
das keutige Frankfurt ekenso sekr Realitat, wie die kockst lekendigen
Adler- und Opelwerke, die Grieskeim - Elektro- und Meister Lucius,
die Metallgesellsckaft und Beer, Sonderkeimer & Co., die Pokorny und
AiVittekind, Voigt und Haffner, Fries, Holzmann, Prometkeus, Moenue
e rutti quanti. Und was die Betkmann, Stern, Speyer-Ellissen, Drey-
fu#, de Neufville, Sulzkack, Ladenkurg und Oppenkeimer ankelangt, so
wird niemand ernstlick kekaupten wollen, dai? sie die AA^irtsckafts-
pkysiognomie Frankfurts minder kestimmten, datf sie fur seine kunftige
Entwicklung minder wicktig seien, als lkre quantitativ zakl- und profit-
reickeren Nackkam aus Handel und Industrie.
Uker den psyckologisck kestimmenden Wesenskern grolszugigen
privaten Finanzwesens, — semen ckarakter lntelligikilis sozusagen, — kann
man sick wokl am kesten kiar werden, wenn man lkn nut der mneren
Artung jener anderen ukerragenden Ersckeinung modernen Wirtsckafts—
lebens, des groisen privaten Industnewesens, vergleickt. Emige tiefgekende
Untersckiede sprmgen da ms Auge. Entsckeidend sckeint mir, dai? die
Industrie mrem v*7 esen nack Herrsckaft, die Finanz aker Gemeinsckaft suckt.
Die IndustneKapitane aller Lander sincL, wenn sie es vielleickt auck
nickt zugeken ■wollen, praktisck orrenkar an merkantilistiscken Ideen
orientiert. Der Produzent in gleicker Brancke ist em FeincL, der ge~
sckiagen, der Produzent von rliifsstoffen em Diener, der unterworfeit
werden mu& Mag sein, dal? die Wesensart kapitalistiscker Industrie
zu solcker Emstellung unausweicklick zwingt, mag sem, dal? es sick urn
spaterkin ukerwmdkare Ersckeinungen der Flegeljakre kandelt, — denn
man darf me vergessen, datf unsere Industrie tatsacklick nock in ikren
Flegeljakren steckt ; jedenfalls ist die Tatsacke selkst, okne irgendwelcken
moralisierenden Beigesckmack, aus alien Vorgangen am mdustriellen Horizcnt
leickt erweiskar.
4S0
Und ebenso erweisbar ist, da# die Finanz nickt zu Colbert sondern
2U Adam Smitk und Ricardo betet. Ob nur <&e grotfere, wecksel-
reicbere Vergangenbeit dieses Wirt scb aft szweiges dazu fubrte, — eine
Vergangenbeit mit vielgestaltigstem Auf und Nieder, wabrend die moderne
Industrie sicb bisber ja in kaum gebrocbener Lime aufwarts bewegte, —
oder ob es sicb nicbt aucb bier urn eine innere Notwendigkeit bandelt,
tut nicbts zur Sacbe. Faktum ist, dal? die Finanz (selbst in ibren mdustnak-
siertesten Organismen, den grofien Aktienbanken,) immer Anlebnung suckt,
immeruber Grenzen kinwegzugreifen strebt; dal? sie, im Grofcen betracktet,
nicbt brutal, sondern konziliant, nicbt ganz gebunden sondern uberstaat-
lick, nicbt kerrenmatfig sondern gkedkaft empfindet und verfakrt.
Diese Wesensart nun kat Frankfurt offensicktkck beibebalten, ein-
scklieiftick sogar eines ausscklaggebenden Teiles semer auf?erlick industrial!-
eierten Sckickten. Es ist kein Zufall, dai? in dieser Stadt, fast als emziger
aller grotfen deutscken Mensckenreservoire, wakrend der vergangenen Jabre
niemals ernste Unruken sick ereigneten ; „Leben und Lebenlassen batte
zu tief gewirkt, als dai? die Gegensatze sick bis zur autfersten Explosions-
Litze katten steigern konnen. Es ist kein Zufall, dai? ausgesprocken
rcaktionare Zeitungen kier nickt gedeiken konnen ; extreme und agressive
InteressenpoKtik findet in solcker Atmospkare wemg Anklang. Und es
ist kein Zufall, dal? man sick bier sofort nack dem Waff ens tills tan d mit
besonderer Energie an die ^Viederaufnakme und Neuknupfung aller er-
denklicken Beziekungen zum Ausland keranmackte ; das Gefukl fur
wirtsckaftlicken Interna tionalismus, — wenn man so will sogar fur wirt-
sckaftlicken Pazifismus, — steckt von der finanziellen Tradition ker in
alien Fingerspitzen.
Diesen Intern ationalismus mag man loben oder scbmaben : er ist da,
und nickt einmal nur als Gefubletatsacbe. Die einzigartige Verflecktung
der Frankfurter mit der ^Veltfinanz ist in umfangreicken Resten auck
virtuell kesteben geklieben.
Sein Zentrum von ekedera, das Haus Rotksckild, existiert in Frank-
furt selbst allerdings nickt mekr. Sckon zu Lebzeiten AVilkelm Carls,
des letzten mannlicken GUedes der Frankfurter Famine, katte es keine
R.olle mekr gespielt, katte es nur nock als deutscker Agent seiner Sckwester-
firmen in AVien, Paris, und London sick sozusagen fortgefristet. Mayer
Carl war der letzte unternekmende Kopf dieser Linie gewesen. Uebrigens
aucb der letzte deutscke Gro#finanzier, den innerer Uberflui? und Mit-
teilungsbedurfms dazu trieben, seine Ideen personlick und regelmai&g vor
der Offentlickkeit auszubreiten. Seine ^Vocbenartikel im frankfurter
421
Beokackter taken grof?eren Einfluis auf die deutsche una Internationale
Finanzwelt ausgeukt, als die Generalversamralungsreden des Ilerrn von
G win n er ! ) "Vv^rs" der S ckwi egersokn^der unt er -acnx Namfn~von G ol d~
schmiat-Rotns child, m den Freinerrnstand erkoben wurde, zu Anrand des
Jahrnunderts ubernahm, war also nur mekr V ermogensverwaltung. Fur
kurze Zeit — nack der Revolution, als man glaubte, dai? es mit dem
arbeitslosen Einkommen J>ald ein Ende naben werdj, — trug man sick
in der Familie zwar mit dem Gedanken, das alte Ha.us wieder aufleben
zu lagsen. Aber der Zwang erwies sick mcht als zwingend genug, und
es gesckak nickts weiter, als dai? sick ein nackgeborener Sokn in erne
sckon kestekende Berliner Bankfirma einkaufte. Was von den Rctk-
sckilds fur das Frankfurter Finanzleken ubng geblieben ist, bestekt also
tatsackkck nur mekr in psyckologispken Faktoren intra et extra moros°
Aber anderwarts stekt es anders. Da ist das alte Aristokraten-
kaus der Betkmanns, — eben der Famine, der auck der rrukere
Reickskanzler entstammte. Ikre Bank, vormals ein sekr macktiges rlaus,
■war ebenfalls ziemiick eingescklafen. Man erzaklt sick, da# es vor dem
ICnege nickt mekr als ein einziges 1 elefon besessen kabe und zwar kernes
gegen Pausckal-, sondern gegen Emzelgebukr. Aber bmnen allerkurzester
Frist ist eine ganz erstaunkcke Renaissance vor sick gegangen. Man nat
einen Ilerrn von der Deutscken Bank kerubergenommen, der sick besonders
auf die Devisenarkitrage sturzte und dem erlosckenden Gesckarte ira
Verlaufe weniger Monate, namentlick auck durck Ausnutzungen frukerer
Verbindunfcen mit Pans und der Sckweiz, wieder eine kockbedeutende
Position errang.
Ebenso kat die Firma Jakob S. H. Stern ibre Beziekungen zu
Jem Londoner Lord Stern und der gleicknamigen Panser Firma zweirel-
los in groJ?tem Umfange wieder aufgenommen.
Was Speyer - Ellissen anbelangt, so bul?ten sie lkren frukeren
Londoner Stiitzpunkt Speyer Brotk, lm ICnege zwar ein ; diese Firma
des Privy Councillors Sir Edgar Speyer, Bruders des Frankfurter benior—
ekefs, an der die Frankfurter Firma keteikgt war, ist Kquidiert worden
und Sir Edgar, wegen ausgesprockener Deutsckfreundkckkeit in gesell-
sckaftlicke Ackt getan, kat England verlassen. Aker unangetastet stekt
in New-York die Firma des Sckwagers, Speyer & Co., und neue Am—
liationen sind vorgenommen worden, z. B. mit Texeiras in Amsterdam*
So kaben auck die Ladenburgs ikr New-Yorker Sckwesterkaus
(Ladenkurg, Tkalmann & Co.); so greift Linolen Menny Oppenkamer
Jurck Intimitat mit Lazar Brotk nack den Vereinigten Staaten, England
422
und Frankreick uber; so tat en sick Dreyful? & Co. (deren junger spiritus
rector, Willy Dreyfuf?, der im Augenbb'ck Mexiko bereist, als eines der
bewegkebsten und energisebsten Finanztemperamente gilt) unter sebwierigen
Umstanden cmen neuen Aul?enposten in der Scbweiz gescbaffen; so lauft
▼on der jetzt nut Grobe, Henricb fusionierenden ebemaligen Brokerfirma
Japbet, via S. Japbet in London, ein Faden zu Sir Ernest Cassel, King
Edward's Intimus.
Und umgekebrten Weges? Wieviel von den grotften Finanzfirmen
drautfen in der Welt untersteben der Leitung geborener Frankfurter?
Erst vor ganz kurzer Zeit bat Jakob H. Scbiff die Augen gescklossen,
Seniorckef von Kukn, Loeb in New- York, der seine Vaterstadt niemals
vergessen; gefolgt ist ibm in der Firma Otto H. Kakn, der zwar aus
Mannkeim stammt, aber docb aucb am Mainstrand gute Beziebungen
unterkalt, — trotz Warburg in Hamburg. Gerade in New- York sind
Falle dieser Art kaufig. Hallgarten zum Beispiel und die scbon er-
wabnten Lazar Brotb baben Frankfurter Partner. Die Londoner Er-
langer, Bonn und Japbet stammen aus Frankfurt. Und es stebt in all
diesen Fallen offenbar so, dal? die sentimentaliscbe Verwurzlung tatsack-
keb nocb intakt ist, dai? die Beziekung nickt nur dem Namen nack nock
bestekt, sondern auck empfunden und oft verwandsckaftlick gepflegt wird.
AVie sick dieser gesamte Fundus traditioneller, lokalsentimentaliscker
und familiarer Verflecktungen nock einmal virituell verzinsen wird, ist
ment abzuseken. Unsere deutscken Angelegenkeiten sind ja nock immer
ganz im Ankeginne des AiVerdens, vor allem baben wir nocb immer
keinen Fried en mit den V ereimgten Staaten. Aber da das eine scbon
sicker ist: dai? Deutscbland die Weltfinanz dringend notig baben wird
— sollte da die Existenz dieser Verflecbtungen sick nicbt in kraftiger
Baa neuer Weise bemerkoar macben konnen, kemerkbar mack en mussen?
Vieles, was m Deutscbland mvestiert werden -wird, wird obne ge-
nugende reale Sicberbeit, wird nur auf Vertrauen dabingegeben werden
mussen. W^r aber in Deutscbland genietft Vertrauen? Berkn? Icb
glaube, daf? die Abneigung gegen Berlin in vielen Auslandskreisen fast
unuberwindkeb ist, — namentlick in denjenigen, die selkst aus Deutsck-
land stammen. Das verpreutfte, verkeamtete, militante Berlin, das BerKn
der Seekandlung und der Deutscken Bank, kat gerade fur Emigranten-
kerzen nickts Gewinnendes. Es ist raogKck, ja, wakrsckeinkek, datf sick
Frankfurt da mit viel grotferem Erfolg einsckalten und seine potentielle
Kapazitat neu entfalten wird.
423
Dakei stunde ikm nock ein weiteres Aktivum zur Seite. In dea
Vereinigten Staaten wird man sick ennncrn, woker in der sckwersten
"Zeit der Union fasF~d!ie cinzige~finanzielle~Hilfe feami Maii-^vird sick
erinnern, dai? Frankfurt Jamais, selkst als ikre Sacke sckon fast verloren
sckien, durck Dick und Dunn mit den Nordstaaten gtng; man wird sick
erinnern, dai? ein guter Teil der United States Bonds durck die Kanale
der Frankfurter Borse floi?. Nickt grundlos kam Ulysses Grant, der
Amtsvorganger AA^ilsons und Hardings, nack Atlauf seiner Periode nack
Frankfurt, nickt grundlos dankte er in offener Versammlung fur die
rettende Unterstutzung, die seinem Lande in fast verzweifelter Lage kier
geworden war.
Nun wokl, die Rollen sind keute vertausckt. Amerka klukt und
Deutsckland ist es, das der Stutze kedarf. Von alien, die darum werken
werden, sckeint memand mekr Aussickt auf Erfolg zu nab en, als Frank-
furt. Es mag sein, dal? ekenso wie das Gold vor 60 Jakren durck seine
Vermittlung aus den Handen seiner deutscken Verkmdungen nack der
neuen ^Velt kinukerfloi?, das Gold aus den Handen seiner auslandiscken
Freunde nun auck durck seme Vermittlung wieder nack Deutsckland ,
zuruckiliei?en ward. Das ware die Reaktivierung der gegenwartig nur
potentiell kestekenden Fmanzzentrale, erne Reaktivierung, die der btadt
eelkst gewiJ? nickt zuwider ware, die aker auck ganz Deutsckland auf-
atmend willkommen keitfen durfte; denn es ware ja ein Ausweg aus dem
Verkangnis, — einer der wenigen in der Tat, die auck dem Skeptiker
nickt ganz verscklossen sckeinen!
max dauthendey NACHTLIED DES GEFANGENEN
Der Regen sturzt ins Dunkel okne Ende.
Ick lege vor die Augen keide Hande.
Das Regenrauscken tragt mick weg von Ort und Zeit.
^Jie einem ^Veinenden wird es mir frei und weit.
Mir ist, ick kam nack Hause mit dem Regen.
MuJ? mud mein Haupt auf einen Stein kinlegen.
Dock fallt einscklafernd mir nock frok erleicktert ein :
Du liegst nickt kart, Du scklafst endkck auf deutsckem Stem.
To sari, 9. Januar 1918.
424
otto ernst sutter MESSE 1ST TOLLER BETRIEB
Director des Frankfurter Metfamtea
aer vor
Albert Futf keitft ein aufstrebender Frankfurter Kunstler, d<
allem in Arkeiten der Gekraucksgrapkik — Verzeikung: ein wenig
sckones Wort, das dafur aber knapp und klar aussprickt, was gemeint
ist — sein starkes Konnen erweist. Er kat Pkantasie und kort das
Gras dieser wider sprucksvollen Zeit wacksen. Und er ist kukn genug,
seine expressionistiscken Vision en keck und freck zu Papier zu kringen,
auck auf die Gefakr kin, angstlicken Gemutern die Haare zu Berg zu
treiken. Ein pracktiger, unersckrockener Drauf ganger, dieser Albert Fuft
viersckrotig, unverfalscktes Frankfurter Deutsck spreckend (das gekort zu
lkm), einer, der es faustdick kinter den Okren kat. Er weif? das Wesent-
licke, das Typiscke in Stadtebildern, Stratfenzugen, Mensckenbewegungen,
Vogelflug und Grotfkaufmannsgeste zu seken und symbolisck zu deuten.
Von ikm mutfte das Plakat der Messe dieser Tage in ikrer kekenden
Vielgestaltigkeit kommen. Und es kam von ikm. Das Blatt, das zuni
Besuck der diitten Frankfurter Internationalen Messe im vergangenen
Herkst aufrief, stammte von Alkert Futfens Hand.
Es war eine Fanfare. Leucktend Gelk und jauckzend Rot und ge-
wicktig Meergrun, in tiefes Blau kinuberspielend. Ein Farbentaumel
uad dock sacklick, okne Sentiments, zusammengerafft, gestrafft. Und da"
war alles zu cckauen, was fur Wiederaufbau und neue Ingangkringung
internationalen Guterversckleitfes von Wicktigkeit ist: Handelsflaggen,
Sckiff, Fakrik, Manner mit Musterkoffer, das Ganze im Sckatten eines
wild auf gesckossenen Merkurstakes. Fur Augeo, die zu seken vermogen :
Die Gesickte Hug und gesckickt zu einander in Beziekung gesetzt. Kost-
lick frisck und — unversckamt das ganze ungekeuerlicke Auf und Ab
und Hin und Her einer neuzeitk'cken Messe quer durckscknitten, klol?-
gelegt, aufgedeckt, wenn man will, in einer modernen, unserem Empfinden
gemai?en Spracke allegoriert. Wer das Plakat sak, mutfte einkalten und
wenn es nur um eines kraftig-groken Wortes gegen den „verruckten"
Expressionismus willen war. Es erfiillte also seinen Zweck — ein Plakat
soil sckreien, es will unter alien Umstinden geseken werden: Wird es
nickt belokt, so regt es dock zum Widerspruck an . . . Jedenfalls erinnert
das FuiTscke Blatt an die Frankfurter Messen und darauf kam es an.
Indessen — kier soil kerne Akkandlung uker expressionistiscke Plakat-
kunst gesckrieben werden. Vielmekr gesckak der Versuck einer Sckil-
derung der Alkert Fu£- Arkeit nur, weil ikr Inkalt in . der Tat das
Wesen einer Messe der Jakrzeknte der Wiederaufricktung des europaiscken
425
Handelskauses kennzeicknet. Fu# katte seinen fa mo sen Entwurf unter
das Wettkewerks-Motto gestellt: „Messe ist toller Betriek/" Er tat
wie" mit Teinem Plakat - selkst auck mit dfeser Deviseins Sckwarze ge*~
troffen. Weil? Go tt : Messe ist toller Betriek. Herrlicker toller Betriek!
^Toiler Betriek?" — kore ick jemand mit erstaunter Stimme fragen,
JawoU: Toller Betriek. Allerdings, ist der tolle Betriek, der gemeint
ist, nickt gleickkedeutend mit jenem „tollen Betriek", den Animier^Dielen
und -Kaffees versprecken. Toller Betriik ist kier*: Zusammenkallung
kaufmanniscker Tatigkeit groi?ten Stils an einen Ort und zur gleicken
Zeit. Messe ist alles, was ein modern organisierter Gro#kandel zur Ak-
wickelung von Grotfgesckaften krauckt. Der Lyoner Burgermeister und
Messegewaltige Edouard Herriot kat 3^e Formel gepragt: Die moderne
Mustermesse gestattet mit einem Minimum im Verkrauck an Energien
aller Art die Erzielung eines Maximums an kommerziellen Eriolg. Das
ist der okonomiscke Sinn der Mustermesse, ikr volks~ und weltwirtsckatt-
kckes ICriterium.
Eine Mustermesse, wie sie sein soil, ist alles ! Sie ist Markt grotften
Formats, ist international Treffpunkt von Kaufleuten, Industrtellen,
Ingenieuren, Volkswirten, Politikern usw., ist Quelle neuer, die Tecknik
wie den Aksatz der Gutererzeugung anregender auffrisckender anspornen-
der Gedanken, ist Instrument des Volkerausgleicks und des Sick-kennen-
lernens, ist Werkzeug im Dienste der Wirtsckaft ebenso wie der Kultur.
Wer solcke Beurteilung der Institution der modernen Mustermesse tar
Sckonfarkerei kalt, mag eigene Studien ketreiben auf einer Messe, die in
alien ikren Einricktungen dem Vcrsatz Recknung tragt, lkren Aurgaben
im Sinne der Herriotscken Messedeutung gereckt zu werden, und er
wird scknell genug sick da von ukerzeugen, dal? ick mckt ukertneken kabe.
Allerdings : Eine Messe, die der Herriot'scken Messeformel genugen
will, mul? gewii?e unerlai?licke Voraussetzungen errullen. V or allem mult
ikre Warensckau tecknisck so organisiert sein, dau der Einkauier nickt
den geringsten Umweg notig kat. Gruppierung der Aussteller nack
Brancken kedeutet kier Aie vollkomnienste Losung. Die kranckenmafigc
Orientierung der Besckicker in Verkindung mit der Konzentrierung der
ganzen TA^arensckau in einem eigenen Messequartier, wie sie in Frank-
furt durckgefukrt sind, stellt das unkestrittene Vorkild dar.
Dock genugt es nickt, dab eine Messeleitung ikr Werk rein messe*
mai?ig „mit allem Komfort" ausstattet, um alle Wunscke zu erfullen*
die der Besucker der Messe, der mit gesckwellten Erwartungen ersckeint,
mitkringt. Die kulturpoKtiscken Wirkungsmoglickkeiten einer Messe
426
oollen gleickfalls ausgenutzt sein. lea weiC das tort sick sear gesckwollen
an — ist aber nickt so gemeint. Gemeint ist dies: man soil in der
Messewocke in Tneatern, Konzertsalen, Museen vom Guten das Beste
zeigen. Water: Im vergangenen Herkst gat in Frankfurt die von der
an Leipzig ansassigen „D cutset en Gesellsckaft fur Auslandstucttandel
gemeinsam mit dem Mefiamt kesorgte Ausstellung „Das Deutscte Buck*
«in eindnnglickes Beispiel einer der Aufgaten vom kulturellen Arkeits-
teld emer Messe. Jetzt im April — vom zetnten tis sectzeknten —
werden im Ratmen der Frankfurter Frutjatrsmesse tollandiscte Ver-
leger und Bucterfreunde em gesctlossenes Bild vom Stand nieder-
landiscken Buctgewertes vermitteln. In den Kreis der Unternekmungen,
von ^enen tier die Rede ist, gekoren auct eke Frankfurter „Werktund"'-
Plane. Ein besonderes Gekaude, ausstellungstecknisck und kiinstlerisck
.aorgsam und originell ausgeklugelt — von Fritz Voggenterger stammen
die Entwurfe — das „Haus TA^erkkund" wird, zum ersten Mai im
kommenden Xlertst, watrend }eder Messe eine kunstgewerttcte Quak-
tatssctau tetertergen. Nur wer Gewatr dafur tietet, dai? er Niveau
kalt, findet da Einlal?, mag er ^^erktund - Mitglied oder nickt sein.
>A^oter das Gute kommt, ist gleictgiiltig, wenn es nur gut ist. Registriert
wenn auct nur ganz flucttig, seien die MogKckkeiten, die Messe zur
Veranstaltung von grotfen internationalen Tagungen oder von allgemein-
kildenden Vortragen zu kenutzen, wie sie fur die Frankfurter Fruk-
jakrsmesse 1921 in Verkindung mit Antiquitaten- und Kunsttnesse
(gro#e Auktionen!) vorgeseken sind . . .
Nun, ist es zu viel gesagt?: Messe ist toller Betriet. Mict dunkt
nickt. Wer zum ersten Mai eine grotfe raffiniert konstruierte Masctine
in Gang siett, fatft den ersten Eindruck datin zusammen : Toll! In
diesem Sinne toll ist eine moderne Messe. MuJ?es sein ! Viele tausend
Getirne recknen, kalkulieren, spekulieren, tesctKel?en. Angespannte Denk~
kraft getiert neue Projekte, glucklict vollendete Gesckafte oder solcke,
*die erst nock wacksen, reifen muss en.
Da spinnen viele Faden von Land zu Land. Volkerverkindende
Alkancen unter dem Flugelkut Merkurs, unter den das Frankfurter
Messe^Signet das F. I. M. der Frankfurter Internationalen Messen ge-
krackt kat. Beziekungen fukren in Fatriken und Werkstatten, in Bakn-
kofe und Ingenieurtureaus, nack Seetafen und zu Kanalumscklagplatzen.
Da wird testellt und atgestotfen, aufgenommen und effektuiert. Eine
Sympkonie im Riesenkonzert des Gesckekens der Weltwirtsckaft, eine
Sympkonie, in der kein Instrument feklt.
427
STEFAN GROSSMANN WOLFLING
— In «iaem-Kalarett_im. WestenJBerlins tritt jetzt Herr Leop old
AiVolfling, ekemals Erzkerzog Leopold, Sokn des Groi&erzogs voit
Toslana, Bruder der ekemaligen Kronpnnzessin von Sacksen, Bruder
des kurgerlick gewordenen Erzkerzog Karl, der sick spater Karl Burg
nannte, zum crsten Male auf. Er gikt die Hauptrolle in einem Sketsck,
der in einem Freudenkaus spielt, und die Reklamw kat angekiindigt, dai?
er in seiner osterreickisck-ungariscken Admiraleuniform auftreten werde,
Vor vielen Jakren sak ick den Erzkerzog Leopold in^Vien, spater, als
er in Brunn keiratete, wurde ick seinetkalken in eine keftige Zeitungs*-
Fekde verwickelt, und ick katte sckon damals Gelegenkeit, die neue
Nummer zu studieren. WolfKng ist in ^iVien eine Zeitlang popular
gewesen, weil er akgedankt und einen kurgerlicken Namen angenommen
kat. Mit Unreckt. Die akgedankten Erzkerzoge und Prinzen smd
meistens die irgendwie defekten. Der Verzickt auf den furstKcken Rang
ist gewoknlick die Folge eines Konfliktes mit dem Ckef des Hauses. Es
ist zwar sekr popular, aker dennock ganz f alack gedackt, wenn man sicn
den gekietenden Herrn eines grofien Furstengescklecktes als einen un-
erkittlicken oder grausamen Tyrannen und den austretenden Prinzen als
edelmutigen Rekellen vorstellt. Im Besonderen der alte Kaiser Franz
Josef katte nickt das Zeug zum sckreckKcken Familienzaren, ikn katte
kitterernstes Gatten- und VatererleWs murke und, wenn nickt nack-
sicktig, so dock gleickgultig gemackt. Er wollte nur eines: Offentlicken
Skandal vermeiden. Man weil?, wie wenig ikm dies gelungen ist. Seih
Sokn, der Kronprinz Rudolf, in Meierling erscklagen; der nackste
Tkronanwarter, Erzkerzog Otto, der wusteste Weikerverzekrer Wiens^
in jungen Jakren von einer fiirckterlicken Krankkeit zerfressen; Rudolfs
Tockter, die Furstin EKsaketk-Windisckgratz, des alten Franz Josef ge~
liekteste Enkelin, in einer ukelrieckenden Eke gefesselt, deren ekle Scklaf-
zimraergekeiinnisse eken jetzt vor aller ^Velt ausgekreitet werden; ein
Bruder Franz Josefs, der alte Erzkerzog Ludwig Salvator, mul? in vor~
geruckten Jakren nack Salzkurg verkannt werdeD, weil seine manner*
freundlicken Neigungen dem 'Wiener Polizeiprasidenten die fatalsten
Sckwierigkeiten kereiteten; in der entfernteren Verwandtsckaft des alten
Kaisers die sacksiscke Luise, die mit Heine zu sprecken, kerukmt durch
ikren Rukra wurde, dann deren Bruder, Erzkerzog Leopold von Tos-
kana, eken die neue Kakarettnummer. Der katte in Brunn erne Dame
gekeiratet, die er sick nickt aus einem Hause des Leides gekolt katte-
428
Aber man tate Unreckt, sick ^Volfling als Makado, den Herrn der
£rde, vorzustelhn, der rait Gottergute ein gesunkenes Kind zu sick
emporziekt* eker darf man sick einen geistig nickt sekr. reick kemittelten
Mann ausmalen, der zu sckwack war einem giengen W eiberwillen zu
widersteken. Mit dieser Frau ist ^A^olfling dann in die Sckweis ge-
gangen. Aus der romantisck- erotiscken Vereinigung entstand spater ein
langer, erkittert gefukrter Krieg der Gatten wider einander, in dem
rrau \Volrling wiederkolt wimmernd an die Oeffentlickkeit appellierte,
well der frukere Erzkerzog ikr nickt einmal die allergeringsten Mittel
sum Lekensunterkalt zukommen lassen wollte.
Dieser Herr Wolfling tritt jetzt in einem Kakarett auf. In einem
Sketsck, worm er einen Erzkerzog darzuatellen kat, und zwar einen
Erzkerzog, der in einem Hause nut roter Laterne zu Gaste ist. Es
gak in Berlin Leute, die sick zu dieser Ausstellung — das Fremd-
wort keii?t Exkikition — drangten. Es wird vielleickt einen Monat
lang Leute geken, die sick fur 30 Mark die ekemals kaiserlicke Hokeit
in lkrer Kakarettniedngkeit anseken wollen, nock dazu in eckter Admirals*
uniiorm. Dunk el damme rt in manckem Zusckauer aic Ennnerung auf
daw auck das Freudenkaus, in dem die neue Nummer sick produziert,
im Lekensroman Wolflinga ein entackeidender Sckauplatz gewesen ist.
Er ware garnickts gegen das offentlicke Auftreten des frukeren
lirzkerzogs einzuwenden, wenn er aick kinstellte und Gedickte von
Kosegger oder Baumkack vorlase. Bringt er dies kisscken Memoriren
nickt fertig, so sollte er mit keuerer Stimme das Fiakerlied oder
Wiener Kuplets singen, oder er klimpere einen Strautfwalzer auf dem
Klavier. Die Leute, die nur auf einen Namen fliegen, waren dann
wokl auck gekommen, sick nack einem kalbentkleideten Madcken einen
festlick aufgeputzten Hakskurger anzuseken. Herr Wolfling brau9kt
■Geld und er mag es, wenn er will, im Kakarett verdienen.
Es gibt m deutsckspreckenden Landern kaura mekr Hakskurgsfreunde*
Ick konnte mir denkenjai? ein ekrenkafter Altosterreicker, ein in Haks-
turgs Dienst ergrauter Monarckist, diesen widerwartigen Unfug nickt
anseken konnte, okne fur sein Erzkaus zu erroten. In dem Berliner
Kakarett kat es nur Applaus gegeken. Diese unerkittlicken Berliner
flonst zu jedem Hausscklusselkonzert kereit, grinsten und klatsckten.
Darf man koffen, dai? dieses Klatscken, zum Dank fur alten Klatsck,
Herrn Wolflings Okr deutlick getroffen kat? Seine Wange ist von
<hesem Klatscken nickt gerotet worden.
429
CARL STERNHEIM FAIRFAX
II.
Drabtlos funkte er von Land mit alien Lekannten Agenturen.
Europas. Das Phanomenale solle fur ibn angericbtet werden ! Er
gab keine speziellen Tips, macbte den Unternebmern nur klar, sie
mtitften Phantasie im voraus riesig tummeln. Europas Rontgenrii?
wollte er im Hinblick auf die Wunden des Kriegs mit einem
Wort vorgestellt. Los desastros de la guerra im Quadrat. D antes
Holle auf den Generalnenner gebracbt. Keine Bescbreibung und
kein Gescbwatz iiber unbeilvolle Folgen des Grotfgemetzels aber
die Sacbe selbst aus Bet on. Wie wenig er Amerikanern bistoriscbe
Pbantasie zutraute, so sebr war er geneigt, Europaern auf Grund
jabrbundertelanger Ubungen in Malerei und auf dem Tbeater die
Moglicbkeit,. seiner Erwartung genugzutun, einzuraumen, und dal?
ein smarter Regisseur ibm, Fairfax, scbmissiges Gesamtbild der
funfjabrigenKatastropbemit besondererBeriicksicbtigung Fairfaxscber
Granatenwirkung nacbtraglicb so lieferte, dai? die enorme Sensation*
nicbt nur Vergangenes erscbopfte, sondern binreicbte, ibn den
Bereitwilligen zu grotferem Aufscbwung in die Zukunft zu stotfen.
Die Kerls, die erst mit zabmen Pbrasen geantwortet batten,
scbienen bald zu begreifen, es solle das Nonplusultra steigen. Sie
wurden bitziger und kiibner. Barklay Limited in London trieben
es so weit, vorzuscblagen, die Einascberung von Lowen an Ort
land Stelle noch einmal mit alien rucblosen Einzelbeiten fur ibm
vor sicb geben zu lassen. Es sei eine Geldfrage.
Oder aucb die Scblacbt von Cbateau Tbiery binsicbtlicb
der scbicksalswendenden Hilfe amerikaniscber Truppen, Tanks
und des Fairfaxscben Lydolitsprengstoffs wieder aufleben zu
lassen. Mit entscbeidenden Stolen batten sie Fublung genommen*
Bereitwilligkeit sei vorbanden und mit der lettiscben Regierung
liege ein Vertrag zur Unterscbrift bereit, wonacb sicb die ver-
pflicbtete, eine dort nocb internierte deutscbe Division mit allera
Train. Gescbiitzpark und reieblicber Munition an Ort und Stelle
zu scbaffen, wogegen der Auftraggeber, samtlicbe Einwobner der
lettiscben Republik fur den Zeitraum von zwei Jabren zu ernabren„
ubernabme.
430
Fairfax begriff den Witz und freute sicb, weil er sab, die
Firma wenigstens war im Bild und deutete so ihre Bereitwillig-
keit, Autferordentbcbes zu leisten, an. Er selbst aber blieb uber-
zeugt, derartiges oder sogar einiges dariiber binaus werde sich
wonl verwirklicben lassen.
Im engen Raum des Scbiffs spannte Lust, prasselnd aus
sicb berauszufabren, in ibm sicb aufs bocbste, und es gab Augen-
blicke, in denen er sicb an den Mast festbinden lassen wollte,
seinem wie Mineralwasser prickelnden Tatendrang zu webren.
Weniger erfreut war er, als er Daisy eines Nacbts in Urn-
armung mit dem Siouxbauptling Mumfo fand. Auf seinen Wut~
ausbrucb aber batte sie nur die Antwort, zu welcbem Ende sie
Jimmie Fairfax einziges Kind sei, solle das Durcbscbnittsmal? an sie
angelegt werden ? Lange genug babe sie tbeoretiscb Gelande sondiert,
auf dem sie sicb nun wie ein Mann zu bewegen wisse. Was den
Sioux angebe, sei er wie ein Kind sckuldlos, Sie selbst babe ibn,
der, Erwartungen entgegen, die man an seine Jugend und an seine
Rasse baben konnte, temperamentlos sei, mit alien Kiinsten
der Koketterie verfubrt. Zudem spiele Liebe im amerikaniscben
Leben eine untergeordnete Rolle und sie boffe, Fairfax erfulle
ibr endlicb in Europa andere Anspriicbe, gespanntere Erwartungen,
die sie infolge seines breitspurigen Auftretens und grof?-
ziigiger Andeutungen jetzt an die alte 'Welt habe. Sonst bedaure sie,
den immerbin nicbt ublen Komfort der funften Avenue und
xnancbes andere verlassen zu baben?
Ob man keine peinlicben Folgen fiircbten miisse?
Daisy lacbelte iiberlegen und fiigte binzu, solcbe Frage
ecbicke sicb fur einen Vater, Gentleman und Fairfax nicbt.
Trotz innerer Verbliifrung gefiel ibm des Madcbens Ent-
scbiedenbeit, die in sein Programm pal? te, Sie batte recbt ! Man
ist nicbt Daisy Fairfax, Milliardenerbin, Bedenken und Hemmungen
boberer Tocbter zu baben. Das Urteil iiber ibren ersten Lieb~
baber bewiel? dazu, Daisy batte Qualitatssinn und liei? sicb iiber
Weeentbcbes des Lebens nicbt bluffen.
Sie imponierte ibm. Er ennnerte sicb, sie war es aucb ge-
wesen, die ibm den Rat mit den Sioux gegeben batte und fand
43i
es verniinftig, sie in Zukunft in seine Plane einzuweiben und ihre
beratende Stimme zu boren. Er legte ihr den Telegrammwecbsel
~mit den-Agenten-vor. — — — - ._ — —
Das Eingeleitete fand sie kindisch und kitscbig. Wie er
platten Kaufleuten, seinen letzten Sinn zu erraten, zutrauen konne,
ob er glaube. Napoleon der Franzosenkaiser habe bei Barkley
Limited und Perrier pere et fils angefragt, was zu tun sei?
Seinen brutalen Willen und ein Paket Checkbucher babe er
Europas niederen Valuten gegeniiber. Reicbe das nicbt, sei sie
noch da. Und Siouxmilch babe er dazu.
Es konne nicbt so gro(? angelegter Reise Ziel sein, Gewesenes
und Gebabtes widerzukauen. Was Europa von Amerika scbeide,
sei nicbt, dai? dort solcbes wie der Weltkrieg babe gescbeben
konnen, sondern das aus unvermeidlicb anderem Gbarakter der
Volker dort aucb ferner nocb solcbes und alles moglieb sei, ein-
facb, weil Amerika Erdteil nur wirtscbaftlicber Sicberbeiten des
Tags, Europa Statte pbilosopbiscber Spekulation, daf? beitft, jed-
weder Hoffnungen und daber fiir alles zu baben sei.
Es fiele ibm ja doch nicbt ein, in Asien oder Afrika sicb
seine Liiste erfiillen zu wollen, weil er wisse, bei den dortigen
Rasseeigenscbaften laufe er ubel an. Einfacb und ricbtig ver-
traue er der Europaer Sucbt zur Syntbese; und fur die bedurfe
es durcbaus keiner Vorbereitungen.
Da er ibr recbt gab, beberrscbte er sicb wabrend des Rests
der Uberfabrt, was ibm verbaltnismafig leicbt gelang, da plotzlich
die Ammenmilcb an Menge und Qualitat verlor. Als er die
Wabrnebmung gegen Daisy autferte, scbmunzelte sie und fragte.
ob sie ferner ruckbaltlos mit ibm sprecben diirfe, wie es unter
ganzen Menscben sicb zieme, und da er zustimmte, sagte sie,
einmal da rum babe sie ibrem roten Freund kraftigende Teilnabme
an der Milcbkur empfoblen, dann aber aucb, weil auf des Fabr~
zeugs engem Raum dem Vater ein Abzug vom taglicb zu reicb-
licbem Quantum, wie Erfolg zeige, wirklicb gedient babe.
Als Fairfax aufbrauste, zeigte sie nacb Steuerbord, wo Eng-
lands kreidige Kiiste auftaucbte und fugte binzu, einmal wieder
an Land unter Menscben sei die Sacbe und der Indianer ja iiber*-
haupt erledigt, und darum zieme sicb aucb nur ein weiteres Wort
dariiber nicbt.
432
s.: WIRTSCHAFTLICHES f AGEBUCH
DIE ERSTEN BANKBILANZEN
Berliner HandehgeseUschafti
Rieeige Zaklen, unkorperlick, unvorstellkar, unleoenaig gewordene
Zaklen. Hort man die Summe von kundertsiekzig Milliarden, so kat
man nur das vage und undeutlicke Bild alles iikerflutender Papierstrome.
Hundertsiekzig Milliarden ketrug im letzten Jakre der Umsatz der
Berliner Handelsgesellsckaft. Das Furstenkerginstitut gekort mckt zu
den Banken, die sick vordrangen und ukerall dakei sein mussen. Auf
dem Kurfurstendamm, in Pankow oder in Kotzsckenkroda findet man
die rlandelsgesellsckaft mckt; wer etwas von ikr, will, muK zu ikr in
die Bekrenstraue kommen. Den IConzentrationswettlauf kat sie mckt
mitgemackt; ikr Aktienkapital ist keute mckt grower als im Jakre 1908.
Aker damals katte sie zweikundert MilLonen fremder Gelder zu ver~
Tvalten, Ultimo 1920 zweitausenddreikundertundfunfzig Millionen.
Freilick — ]ene zweikundert Mukonen waren Gold, die zweieindrittel
Milliarden von keute sind Papier. So unwakrsckeinkck grofs sind die
Ziffern nur, weil wir in Ackt* oder Zeknpfenmgsckeinen recknen, die
wir Mark nennen.
Am Scklusse des vorigen Bilanzjakres, am 30. Dezemker 1919,
katte die Kreditorensumme kei der Handelsgesellsckaft nock nickt cine
Milliarde erreickt. Dann kam He grofle Inflations welle des letzten
Frukjakrs, die in ein paar Monaten die Preise fast um iie Halfte in
<ke Hoke triek, und die Periode der fettesten industriellen Konjunktur-
gewinne. Autferdem kamen mekr und mekr auslandiscke Gutkaken kerein.
Nackdem die Mark auf ein Zwolftel oder Funfzekntel ikres ursprung-
licken internationalen Werts gesunken war, genugte selkst ein kegrenztes
Vertrauen in die deutscke ^Viderstands- und AA^irtsckaftskraft, um He
TJnterkaltung von Gutkaken in deutscken Banken als vielleickt lukrative,
jedenfalls nickt besonders gefakrlicke Valutaspekulation ersckeinen zu
lasaen. Die Auslands gutkaken s tell en sick kei der Berliner Handels—
geselLckaft auf 988 Millionen; sie macken fast zwei Drittel der Ein-
lagen auf feste Termine und uker vierzig vom Hundert der gesamten
Kreditoren aus. Ikre Summe ist grower als die der Dekitoren und deckt
keinake drei Viertel des "Weeks elportefeuilles. Das Zaklen verkaltnis ist
'uberrasckend und ckaraktenstisck; aker es ist auck ein AiVarnungssignaL
Der grotfere Teil der fremden Gelder ist kei der Handelsgesellsckaft
in AVeckseln angelegt: und das ^Veckselportefeuille kestekt wieder in
433
act flauptsacke aus Sckatzanweisungen ties Reicks. Seit em em k albert
Jakre ist kekanntlick der deutscke Notenumlauf nickt rnenr nennens*-
weft" gestiegen; obwokl unsere - oTrentkcken Atregaken nack-^wie vor um—
viele Milliarden grower sind als die Einnakmen. Statt der Noten druckt
man SckatzweckseL, die sick flott verkaufen lassen. Fur die Banker*
iflt das Gesckaft emfack und sekr gewinnbringend; denn die Spanne
zwiscken den Ertragnisspn der Sckatz a nweisun gen und den Zmsen der
ICreditoren ist reckt breit. Reicksfiskus und Reicksbank eitzen freilick
kei dieser Metkode auf einem Pulverfai?; der Tag kann kommen, wa
die Sckatzwecksel nickt mekr kegekrt werden, sondern in breitem Strome
zuruckfluten. Das ^Gleickgewickt"*, das durcL den glatten Sckatzsckein—
absatz erreickt wird, ist ein biscken lakil und die v sckwebende" Sckuld
sckwekt wie das Damoklessckwert uber unsern Hauptern.
Vor dem Kriege war Lei der Handelsgesellsckaft mit ikrer fest-
umgrenzten Industriekundsckaft das Debitorenkonto immer viel grower
als das AVeckselportefeuille. Jetzt, wo das letztere durck die Sckatz-
anwelsungen aufgeklakt ist und die GroJ?industrie — vorlaufig — zum
guten Telle mekr Geld verdient, als sie ixn Augenblicke im Betneke
▼erwenden kann, ists umgekekrt. Die Debit or ensumme war Ende 1920
nock mcnt viermal so Lock wie Ende 1913; m ^Virklickkeit war sie
also betracktlick kleiner. Der grol?te Sckuldner ist nock immer — wie
im Kriege — das Reick.
Die Profitresultate des gegenwartigen, em wemg abnormen Bank—
betriebs sind glanzend. Die i>erlmer Handelsgesellsckaft weist — nack
Abzug von Verwaltungskosten, die dreimal so kock sind wie im v or—
jakre, zwolfmal so kock wie vor dem Kriege — einen Reingewinn aus*
der fast dreiJAg vom ITundert dies AktienkapitaLs erreickt. Wie viel
Verdienst weist sie mckt aus? Eirekten- und Konsortialgewinne werden^.
wie immer, sckamkait versckwiegen und still abgebuckt. Sie mussen sick
auf ezne ganz stattlicke Zakl von Milhonen kelaufen. Denn die Bank
„war an 143 Neuemissionen keteiligt, die einen Nominalwert von 2 /*
Milliarden und selbstverstandlick einen erkeblick kokeren Geldwert
reprasentieren, da die grotfte Zakl der Emissionen auf die Ausgake voa
Aktien entfallt."
Die Bankkunden und die Bankbeamten werden sick fur den Uker-
fiu# des Ukersckusses sekr lekkaft interessieren. Zu ikrer Berukigung-
wird man sie darauf aufmerksam macken, dai? diie Aktionare vom uppigen
Gewmn nur einen mageren Anteil erkalten. Ikre zwolfeinkalbprozentige
Dividende ist in 1921 er Papiergeld keine stattlicke Rente. Vor dexa
434
Kriege gingen mindestens drei Viertel des angewiesenen Reingewinna an
die Anteileigner; keute flie#t iknen nickt viel mekr als em Dnttel zu.
Man verwendet mekr Geld fur die Starkung der offenen Reserven als
man an Aie Aktionare verteilt. Man verdient dick; aker man verdient
nickt fur die couponsckneidenden Besitzer des Unternenmens, sondern
fur die Direktoren, fur die Angestellten und fur die Zukunft. Fur erne
Zukunft, in der vielleickt weniger Kredit angekoten und mekr Kredit
kegekrt wird als jetzt.
NationaJbank fur Deutschland:
Der andere Typ: dezentralisiert, fusions— und konzentrationslustern
depositenkassenfreudig. Das Institut, das fruker in der Grolskankenliste
ziemlick weit unten stand, ist im letzten Jakre durck Vereinigung mit
der Bremer Nationalkank ausgekaut worden. Das Aktienkapital, kis
1919 nur 90 Millionen, ketragt jetzt 150 Millionen.
Andere Struktur; aker gesckaftlick sekr aknlicke Ergekmsse. Fremde
Gelder: uker zweieinkalk Milliarden; Auslandsgutkaken spielen kier,
wie die Verwaltung mitteilt, keine nennenswerte Rolle. Die Deki-
torensumme ist grower als der AkVeckselke3tand ; der Betrag der ungedeckten
Darleken ist ziemlick erkeklick. Also, im Zusammenkange mit der De-
zentralisation und dem eifrigen Bemuken, ukerall ins Gesckaft zu kommen,
mekr kreditkedurftige Industrie- und Handelskundsckaft. Das vergrotfert
das Risiko, aker da die Banken in Zins- und Provisionsforderungen
nickt kesonders zuruckkaltend sind* auck den Profit.
Der ausgewiesene Reingewinn ukersteigt kei der Nationalkank dreil&g
vom Hundert des Aktienkapitals, okwokl funfzekn Millionen Fusions-
kosten vorweg akgezogen und die Konsortial- und Effektengewinne, wie
uklick, zuruckgestellt sind. Verteilungspolitik ganz aknlick wie kei der
Handelsgesellsckaft: die Aktionare kekommen nock nickt ein Dnttel des
zugegekenen Ukersckusses, Aufsicktsrat, Direktoren, Beamte mekr als
ein Funftel. Der eineinkalkfacke Betrag der Dividende -ward den sickt-
karen Reserven zugewiesen. Die Geldentwertung, der Druck der Arkeit—
nekmer, die Ungewiiftieit der Entwicklung kaken in dieser kockkapitalis-
tiscken Spkare den Anspruck der Besitzer des Unternckmerkapitals so
zuruckgedrangt, daj? sie durckaus nickt mekr als Hauptnutzaie#er des
Gesckafts und seiner Ertrage ersckeinen.
435
AUS DEM TAGE-BUCH
DIE UNM5GLICHE GRENZE
f a u n u 3 wird mir ge-
Aus dem
schrieben :
Sie ist mit dem Zirkel abgesteckt und
mit dem Lineal gezogen — einige ,,Aus-
buchtungen' 1 machen sie nicht besser. Es
ist die sinnloseste Grenze, die je em Reich
durchschnitt I jene Grenze zwischen der
Deutschen Republik und dem ,,occupierten
Gebiet"'. rob und riicksichtsloa durcb dad
Herz eines Landes gestotfen. Eine un-
mogliche Grenze.
„Wenn der Brautigam mit der Braut
durcb die AA^alder geht*\ braucbt er einen
Personalausweis, einen ,,sauf~conduit**
braucbt der Arbeiter, der aus der Wohnung
xur Arbeitaatatte, der Scbuler, der zur
Scbule odet zur Tanzstunde rennt, der
Kaufmann, der vom Bureau zum Lager
will. MVehe dem Theaterbesucher , der
aus der Oper obne Patf xuruckstrebt in
den Villenort : sein Kunstgenuff endet
zwischen Marokkanern oder Senegalesen.
Dies gauze, dick bevolkertc Land, in das
die Alliierten ibre Zoll- . und Poatenlinie
cinkratzten, ist ein Ganzes, eine Einbeit
wie eine Stadt, ein Zweckverband. Ware
der Krieg nicbt gewesen (o, ware er
niobt gewesen !), so waren die Stadte, die
jetzt wie die Konigskinder nicbt zuein-
ander konnen und docb zueinanderstreben,
durcb ein Netz von elektriscben Babnen
miteinander verbunden, durcb organiflierten
Zuwachs ineinander geflossen. Frankfurt,
Offenbach, Hochst, Mainz, Wiesbaden,
Darmstadt, Mannheim, Worms, Ludwigs-
hafen bilden mit ihren Hinterlandern
ein Gebiet, das unaufloslich ist, an dessen
kultureller, wirtschaftlichcr, geographiacher
Gescblossenbeitdie Mafiregeln von Versailles
und London grenzenloa lacherlich werden.
Als wenn nun in Berlin eine Zoll- und
Patfgrenze von Jagdbaus Hundekeble uber
d enS a r jgny pl a tzzum Rathaua_yon Kogcnick
zoge!
Das Herz des Landes ist durchbohrt,
aber starker nur , sturmischer pocbt das
durebbobrte Herz an die Rippen.
Anfangs warf man mit den Wortea
„moralische Eroberungen" und „Kultur-
propaganda" urn sicb. Jetzt scbeint man
einzusehen, da/Tdas angesichts solcb eklatan-
ter Sacblage keinen Sinn hat. „Morar'" und
„Eroberung''* bleiben unverembar imWider-
eprucb und „Kultur u war fur forsche
Heerfiihrer immer nur der Schafapelz, in
den sicb Wolfsbegierden zur Tauscbung
harmloser Herden vermummten. Wunschte
man einen territorialen Matfstab fiir die
moraliachen Eroberungen unserer Gegner,
ao ware festzustellen I sie stehen heute
noeh bei Luneville. Vermutlich genossen
sie damals bei uns nocb grotferer Sym-
patbien. Sang man nicbt 1914: „Wa*
achiert uns Russe und Franzos"? Jetzt
scbiert uns der Franzos. Scbiert, achiert
und schindet. Nicht zuletzt unter grotfen
moraliachen Gebietaverlusten durch seine
sogenannte Kulturpropaganda (lies : Kultur-
schikane).
Eine viertel Stunde vor Beginn der
deutscben Vorstellung stebt an den ver-
schlossenen Kassen der deutschen Theater
in Wiesbaden, Mainz das deutscbe Publi-
kunt Queue. Der Kassierer hat noch
hunderte von Karten liegen aber er darf
sie nicht verkaufen. Sie sind (bis zum
Beginn der Vorstellung) fur die Occupanten
und ihren Anhang reserviert. Effekt : wer
druben Stolz hat und nur irgend kann.
436
fahrt lieber nach Frankfurt oder Darm-
stadt zu V orstcllungen , der en Linien in
die Zukunft weisen, wahrend sich indeesen
daheim in den Opernhausern von W^ies-
baden und Mainz die franzbsische Herr-
schaft an dem altesten Dekorationsplunder
begeistert. Schwimmende Schwane , be-
wegtes Meer, Wandelkitach, Mondschein,
Marmorsaulen und hangende Garten —
der ganze Fundus der alten "Wiesbader
Kaiserfcstspiele feiert Triuihpbe und Wil-
helms Lieblingsoberon in der Scblaar'scben
Melodramatisierung versetzt die franzosi-
schen Kulturpropagandisten in Entziicknng,
Ja, wir Wilden aind docb bessere Menscben.
SeKr verstandlich, dai? sich Ernst Segal,
Wiesbadens erster kiinstleriacher Intendant,
or dem franzosiscn-drakonischen Kitsch-
geachmack bald seitwarts in die Biische
scblug und lieber als in Wiesbaden unter
Degoutte der Erste, in Berlin, unter Jetfner
der dritte sein wollte.
Nacbbarlicbe Sympatbien fur Frank-
reich — die gab ea wohl einmal in dieaen
Gauen : fur ein crtraumtes, wohl aucb
erlebtes Land der Grazie, des Charme, fur
seine melodiose Spracbe — ea gibt aie
nicbt xnehr. Das Wort „bocbea", das
Lieblingswort der Occupanten, klingt nicbt
melodios, und der militarische Riesenauf-
wand im wenrlosen Land zeigt keinen
esprit. Grimmig lachelt der Rheinlander,
wenn er in Focb den tjberwilhelm , den
Uberludendorff erkennt.
Und er erkennt ibn von Tag zu Tag
deutlicber. Da braucbt es keine Gegen-
propaganda. Das erste Angstprodukt des
,,Heimatdien3tea" bat sich laegst als uber-
fluesig, ja schadlich erwiesen. Die kraftige
Seele des Landes stofit alles, was ibr
nicbt bekommlich ist, von selber ab und
wirkt mit Macbt an der eigenen Konso-
lidierung, Uberall regt sicb in aem
gefahrdeten und gequalten Land eigene
Kraft, ernster- Wille zu geistiger. Zucbt,
Mainz und Koln baben ibr kamevalistisches
Gewand abgeworfen und Volkshocnschulen,
Musikbochscbulen und UniveVsitaten ge-
grundet, die Biibnen und Kunstausstellungen
in Frankfurt, Darmstadt, Mannheim*
Dusseldorf, Koln, Karlsruhe, Stuttgart
werden Saromelpunkte fur alle rtthrigen
Geister im Lande, Wandertheater eind auf
der ganzen Linie und auf gesunder kunstle-
riscber und okonomischer Basis erstanden und
bieten den' Bewonnern des besetzten, des
neubesetzten und unbesetzten Gebiets bis in
die kleinsten Neater binein die gleicbe
Nanrung in Giite, Friscbe und Begeisteruag*
Wie ein riesengrotfer, feierlicber Markt
baut sicK jedes Friihjahr und jeden Herbst
die Mssae zu Frankfurt auf ; mebr als ein
Jiandelsunternebmen ; eine kulturelle Heer-
scbau, in ibrer politiscben Tendenzlosigkeit
doppelt wertvoll als objektives Dokument
einer unzerstbrbaren Zusammengehorigkeit*
die nicbt blofi in den vergangenbeitsgefullten
Raumen des Romer oder der Buchmesse*
die nicbt minder in immer wacnsenden
Hall en und Hausern und aus zabllosen
Vortragen, Scbriften und Kongressen zu.
una spricbt.
,,Sanktionen" — dies Wort, das unr
anspringt wie ein bissiger Hund, hangt
mit ,,sanctus", ,,beilig" zusammen und be-
deutet soviel wie „Heiligung'\ Scbnbdester
Mitfbrauch eines Worts! Denn die Tat,
die es deckt, ist just das Gegenteil : ist
Entbeiligung und Entweihung einer aus
innerster Seele, aus erlebter Vergangenbeit
flietfender, von schopferischem Geist ge-
weibter Volksgemeinscbaft.
Adrian Ah££e.
AN PAUL RICHTER
Herr Polizeiprasident! Icb bin kein
Kommunist, ich babe fur die Dummkbpfe,
die jetzt ibre sogenannte revolutionare
Energie mit Hbllenmascbinen in Aborten
ausleben, die ibre Tapferkeit an Rathaus-
fassaden, Babngleisen und Siegessaulen aua-
toben, nicbts als berzlicbe Geringscbatzung,
icb babe auch fur Herrn Sylt, der im Kriege
437
zukause Votdienrtkreuzritter -war und nach
4 em Znsammenbrucb den Rebell mimte,
^nicbtfl ubrigU_JbU wei(?__a_ucb, dafi_Sy.lt bci
<lera Gedrange auf der Treppe dee Polizei-
prasidenten wirklicb flieben wollte. W^r
alle. Sic gewiff aucb, sind mifitrauiscb ge~
worden gegen Flucbtversucbe mit todlicbem
Auagang. Aber es baben mir Zeugen,
denen icb unbedingt glaube, den Vorgang
aus freien Stucken gescbildert und icb kann
desbalb obne jedes Augenzwinkern von
diesem Flucbtversucb sprecben.
Aber derselbe Zeuge erzablte Folgendes:
Als der acbon blutende, sebwer verwundete
Sylt auf dem Boden lag, webrlos, durcb
den Leib gescbossen, totenblatf, fast bewutft-
los, da trat em Polizei-Offizier an den
beinah lebloa Liegenden beran, atiei? mit
deni Fufi an den Korper, der da lag, und
sagte dazu: ,,Verrecke, Du Aas!" . . .
Diesen Vorgang erzable icb Ibnen,
nicbt damit Sie sicb iiber die widerwartige
Herzensrobeit Ibres Beamten entriisten, icb
erzable ea Ibnen, damit Sie eine Unter-
aucbung einleiten ! Icb will Ibnen, wenn
Sie ernstbaft daran geben, diese edle Seele
festzustellen, alle Mittel an die Hand geben,
seinen Namen scbleunigst festzustellen.
Diese Untersucbung ist aucb desbalb
no tig, weil ea Arzte gibt, dis bebaupten,
d.er Erscbossene batte, wenn man ibn
recbtzeitig operiert batte, am Leben er-
balten werden konnen. Wenn Ibre Be-
amten imstande sind, einen Sterbenden
redt dem Fufie unter Bescbimpfungen weg-
zustotfen, dann sind aie aucb imstande,
einen Verwundeten acbt Stunden verbluten
zu 1 assert.
Icb babs in diesen zweieinbalb Jabren
nie das Mordergescbrei der politiscben
Hysteriker mitgemacbt, icb weii? micb frei
von neurastbeniscber Anklagesucbt. Icb
weii?, wie viel menschlicb gute Eigen-
scbaften in den Seelen sebr konservativer
Manner sitzen. Icb verallgemeinere aucb
niebt. Aber dieser Bespeier eines Sterben-
den macbt micb stutzig.
Sie sind im Polizeiprasidium macbt-
armer ala Sie vor Ibren Genoaaen ein-
geateben wo H en. W^e die Minister die
Marionetten Ibrer Staatssekretare, ao sind
Sie, Bedauernawerter, abbangig von Ibren
Regierungsraten. Aber ea gibt Situationen,
in denen es ebrenvoller ist, seine Obnmacbt
einzugesteben und abzugeben, als den
leitenden Kopf zu spielen und sicb von
seinen Raten verbobnen zu lassen.
Beweisen Sie, datf Sie nicbt nur auf der
Visitenkarte Polizeiprasident von Berlin
sind!
EIN REBELL
Im Residenztbeater inszenierte der
Direktionsstellvertreter Regisseur O s k a r
Kanebl die neuen Dramcben Hermann
Sudermann's. Gerade in dieae begeisterte
Probenarbeit fiel die Generalstreikdrobung
der kommunistiscben Dilettanten — die
ernsteren Leute von Daumig bis zu Paul
Levi, aebwiegen und verreisten — aber
Oskar Kanebl griff in die Leier und
veroffentlicnte am 26. Marz in der ,,Roten
Fabne" folgende ,,Aufforderung zutn
Streik."
Latft die Hammer rubn.
Lafft die Rader atillestebn.
Lal?t die Feuer niederbrennen.
Lijscbt das Licbt,
Stort die Bequemlicbkeit der Miiffigganger.
Sperrt ibrer Speisekammern Zufubr.
Verfaulen soil die Ernte, die eucb nicbt
ernabrt.
Koble, die eucb nicbt warrat, mag unter
Tag verwittern.
Der Scbornstein , der nicbt euretwegen
raucbt. zusammenstiirzeD.
Sent bin.
Der Burger baut auf eurer Arbeit Boden.
Sein Haus ist reicb. Sein Bett ist weicb.
Von eurer Arbeit Gnaden mastet er den Leib.
Von eurer Arbeit Gnaden putzt sicb sein
Weib
Von eurer Arbeit Gnaden wacbsen ihre
Kinder.
438
Mit Fleifl erzogen, Herren iiber eucb zu aein.
Vergiftet, eucb zu Lassen.
Von curer Arbeit Gnaden.
Und ilir? Proleten? — Arbeitatiere ?
Und cure Mietskaaernen? — Hungerturme?
Und eure Frauen? — Gebarmascbinen?
Und cure Kinder? — Bleiche Elendbalger?
Flucb jedem Hammerscblag fur Biirgerblut.
Fluch jcdem Scbritt in ibre Sklaverei.
Flucb ihrem Dank. Flucb ibrem Judaslobn.
Euer ist die Erdc.
Heraus aus den Betrieben!
Auf die Stratfe!
Ea ist nicbt scbwer, diesen Leicrkaeten
■weiterzudreken. Hier nock ein paar freie
RytKmen dazu :
Lai? Sudcrmann oteben,
Verlasae die Rotter.
Geile nicbt langer die Biirgar auf!
Veracbte die klaglicben Kunste der Bour-
geosie.
Waa bist Du?
Vergnugungaburscbe der Scbieber,
Vergolder ikrer scbabigen Genuffwelt,
Amuseur ibrer unverdienten Mutfe !
Laf? den Vorbang fallen.
Loscbe die Biibnenlicbter,
Verjage das Publikum !
Entrotter* Dicb, Rebell!!!
ZWECK UND NUTZEN DER KRITIK
Gemesaen, an der Niitzlicbkeit der
Muaikkritik ist die Theaterkritik, so iiber-
flusaig daa gewerbsmaaaige Erzeugen von
•wassrigem Kunstscbwatz ist, eine ge-
bitteriflcbe Notwendigkeit. Die Musik-
Itritik ist reinea l'art pour l'art. namlicb
Cescb watzals Selbstzweck, sinnlosesNeben-
und Hinterberlaufen an den Scbopfungen,
leerer Wortverbraucb obae irgendwelcbe
Folge und Frucbtbarkeit. So ein armer
Konzert-Maasen-Vertilger, der jabrelang
taglicb funf Zentner Musik in sich binein-
etopfen muss, ob er nun dazu disponiert
ist oder nicht, so ein ermiideter Ver-
acklinger von ungebeuren Muaikmengen, die
p. 82 )
P. 20 /
Rega
er nie verdauen, meist gar nicbt mebr mit
dem inneren Obr boren kann, ist die
tolls te Verirrung dea Journalismus. Im
„Dracben'* von Hans Reimann finde ick
ein reizendes Exempel fur den Ernst und
die innere Bedeutung dieser Wortmacberet,
welcbe sicb Musik-Kritik nennt, Eine
Pianisrin veranataltete eine Tournee durck
Deutscbland. In ibrem Programm atebt:
Aus meinem Tagebucb op.
Humoresken op.
Ein Setzer irrt sicb und druckt in ille
Programme Mabler statt Reger. Der Febler
wird zu spat bemerkt, das falscbe Pro-
gramm wird in alien Konzertcn verteilt.
Was gescbiebt nun? Gewabren die Kri-
tiker den Irrtum ? Regera ^Tagebucb**
gebort ja zu den feinsten und beriibm-
teaten Stiicken der neueren Kiaviermusik
und Mabler bat nie im Leben daran ge-
dacbt, irgendetwas fur Klavier zu scbreiben.
Konzert in Braunscbweig. Die Zei-
tungen riibmen die Mabler'scben Koropo-
sitionen besonders.
Konzert in Bremen. Die Kritik bebt
op., 82 und op. 20 von Mabler bervor.
Konzert in Kasssl, Da greift der
Kritiker des Kaaseler Tageblatt tiefer in
die Feder und sebreibt :
die auck
einige Klavier at u eke, op. 82 und op. 20.
von Mabler spielte, batte dafur mebr
Sinn, wenn sie aucb die Scbwierig-
keiten Mablerscber Musik autferlick
und innerlicb vielleicbt zu letcbt nahm
und so aucb nicbt ganz in die Tiefe
drang. Immerbin, das war Geist
von Mablers Geist, und dafur
wollen wir der jungen Pianistin dank-
bar aein, wenn mancber sicb auck
scbwer mit dieaem Geist befreunden
mag. Wie erquicklicb und berz-
baft wirkten daneben (!) „Wald-
einaamkeit'" (usw.) Max Reger, der,
ea ist nocb garnicbt lange ber, aU
der bypermodernste und verdrebteste
Musiker unserer Tage veracbrien
war . . . Man muffte die beiden
(Mabler und Reger!) nur nacbein-
ander dirigieren seben oder sie gar (!!)
in kleinem Kreiae beobacbten, so
439
•wuBte man, daJ? sie zwei Welten
vertraten, die so oft in unserer Zeit
aufeinandcr stolen, obne den Ausgleicb
~zu~ finJen . . . Frr~
Das ist die Zeitungskrctik auf ibrem
Gipfcl: Letzte VertrautKeit mit dem Geiste
der Mabler'scben Musik, scbarfe Unter-
set ei dung zwiscben den abgrundgetrennten
Musiken Refers und Mablers, Kenntnis
des allerpersonlicbsten Wesens b cider
Meister („raan muf?te die beiden nur
nebeneinander dirigieren seben oder sie
gar in klcinem Kreise bcobacbten, so
wuffte man, dai? sie zwei Welten vertre-
ten, die so oft in unserer Zeit aufeinandcr
stolen, obne den Ausgleicb zu finden*'')
Aber der Sctzerlebrling hatte die beiden
Welten energiscb aufeinandcr stofien lassen
und in einera genialen Druckfebler den
Ausgleicb gefunden! Der Vertraute „aus
dem klcinem Kreise** ist das Muster des
eindruckvorscbwindelnden. in , den Geist
eingedrungenen Kritikers und desbalb ver-
dient seine crscbiitternde Analyse ein
scballendes, berreiendes Gelactter durcb
ganz Deutcsbland.
STOSSSEUFZER
Das vorletzte Heft des ,,Tagebucb"
mutfte einwenigverspatetverscbickt werden,
Warum? In das Heft -war ein Prospekt
des Ziel-Jabrbucbes eingeklebt. Da klingelte
die Postbeborde im Verlage an und ver-
langte, da£ der Prospekt nur beigelegt,
nicbt eingeklebt -werden durfe. Es mutften
zwei Mann in das Zeitungspostbiiro ent-
sandt werden, die aus jedem einzelnen
Heft den sauber eingeklebten Prospekt
herausreitfen , und tbn lose beilegen mutften.
Dann erst wurde das „TagebucV expediert.
Dasselbe Heft mit demselben Prospekt.
'Weil irgendeine trottelbafte Verfugung
vorscbreibt, daff Beilagen in dasf Heft nur
beigelegt werden diirfen. Eingeklebt sei
aber nicbt beigelegt.
Um diese Verordnung durebzufiibren,.
"war es notig, dai? erstens ein Beamter
—das-Heft untersucht,- x3V-eitens-ein Beamter_
den Verlag verstandigt, drittens der Verlag
Arbeit er zur Lostrennung der Beilage ins
Postamt entsendet, viertens ein Beamter
die Lostrennung des Prospektes feststellte.
Die deutscben Postbeborden baben Zeit
und Ordnungssinnt
ANEKDOTEN
BEKENNTNIS DES MALERS
Im November 1918, knapp nacb der
Revolution, wollten fortscbrittlich gesinnte
Dresdener Oskar Kokoscbka zum Pro"
fessor an der Akademie in Dresden ernennen
lassen. Das ning von dem neuen sozia-
lietiscben Ministerium abl. Desbalb tracbtetc
man, Kokoscbka zu einer politiscben
Aufierung zu bewegen, die ibn den neuen
Herren sympatbiscb macbte. Man lieff
ibm wie eiiiigen Anderen die Rundfrage
yorlegen : ,,Welcbe Staatsform ist Ibnen
die sympatbiscbeste?" in der Erwartung r
er werde die zweckmafiigste Antwort
geben. Docb Kokoscbka, der Maler,
erledigte die Rundfrage mit folgender
Ant-wort : „Eine Monarcbie, aber mit
einer anmutigen Fiirstin an der Spitz*."
Dennocb wurde er Professor.
440
DIE RETTUNG
Ein Schauspieler, clem schwerea Ua-
gemach zugestoiJen war, klagte : „Man vcr-
zciht ciner Frau fiinf oder sechs banale
Vorganger* cinen trivialen Nachf olger nicht :
Ihm erwiderte em welterfahrener Mana
„,Nun so verwandeln Sie aucli Ihren Nach-
folger in Ihren Vorganger !'*
ZEITGEMASSE VARIATION
Der erste Kunstfreund: ,,Was ist
denn eigentlich mit unserem Freunde, dera
Maler passiert? Im vorigen Jahre macnte
er noch ganz verstiindliche, ordentliche
D inge, und jetzt malt er das krasseste
futuriatische Zeug! Wie erklaren Sie sich
das?"
Der zweite Kunatfreund: *)J a * der
nangteben den Mantel nach dem — Sturm'/"
BOCh£R
Bmmy Hennings: Das Brandmal.
Ein Tagebuch. Erich Reiff Verlag, Berlin.
Das Selbstgesprach eines jungen Madels,
das zwischen Theater, Weinkneipe und
Freudenhaus taumelt. Kein sentimentale*
Tagebuch einer Verlorenen , auch keia
Mirbeau'sches Tagebuch der Unzucht,
sondern lautgewordene Gedankeng'ange
eines hemmungslosen infantilen Wwena, da»
zuweilen schwachsinnig, zuweilen genial
scheint, Ein junger verworrener und
verwirrender Mensch im Nebel. Alles,
was die Tagebuchschreiberin eintragt, ist
nackter, inatinktiver Einfall. Ein bloff-
gelegtes Gebirn. Ich finde die absolute,
ungehemmte Triebhaftigkcit dieses Mono-
loges tief erschutternd. Dies Buch grenzt
an Dostojewsky.
INHALT DES LETZTEN HEFrES
(Nr. 13):
Th. Wehrlin: Unterbaltungen mit Kom-
munisten
Rud. Kommer : Der Mann der im Scbattea
stand
Camill Hoffmann; Tolstois Arzt
* * * Dokumente uber die Ermordung des
Zaren
Franz Blei : Doblins Wallenatein
Stefan Grofimann : Schnitzler
Carl Sternheim : Fairfax
Aus dem Tage-Buch.
Diesem Heft Kegt ein Prospekt des O. C. Recht Verlag Munchen bei.
Redaktion des „Tage-Buch'' : BerKn W 35, Potsdamer Strafe 123 b, Tel.; Lutzow 4931
Vcrantwortlich fiir den redaktion ell en Teil : Stefan Grotfmann, Charlottenburg, Verlag :
Ernst Rowohlt Verlag, BerlinW 35. Potsdamer Strafe 123b. Druck: R. Abendroth, Riesa.
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Rudolf Borchardt
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Geheftet M. 32.-. Gebunden M. 40. — :
In Halbpergament M. 52. — .
The Times-London schreibt am 17. Fehr
1921.
Borchardt's critical essays have a very strong
claim to attention both for their style and for their
originality. The two most striking were first written
as reviews, but are here reprinted without change ; they
show such penetration as thoroughly to justify their
rescue from the fleeting pages of a periodical. These
are the essays on Dante, with special reference to the
German translations of Zoozraann and Stefan George,
with a tribute to the work of English scholars such as
Dr. Moore and Paget Toynbee, and on Stefan George's
volume, .,Der Siebente Ring" — an exhaustive study of
this greatest and most difficult work of the well-known
German symbolist. An essay we can imagine Hazlitt
would have taken the greatest delight in is that on the
freeboter, vagabond , and cheat who, under the name
of Veltheim, pursued an extraordinary life of romantic
crime in various parts of the world, about twelve years
ago. This is followed by an impression of Worms,
and this by ,, Intermezzo", in which Borchardt takes
some of the followers of George, notably Karl Wolfs-
kehl, to task for certain literary excesses. There is,
finally, an erudite essay on the Alcestis story, arising
from a consideration of Hofraannsthars Alcestia drama,
and, in conclusion, under the title of „Erbrechte der
Dichtung", an engaging presentation of Borchardt's view
of the poet 9 mission in life.
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Das Tage-Buck / Heft 13 Jakrg. 2 / Berlin, 16. April 1921
STEFAN GROSSMANN HALSENTZONDUNGEN
Der Osterausflug des kukscken kleinen Karl nack Ungarn ware
nock sckneller keendet gewesen, wcnn ikn in Steinamanger mckt cine
Halsentzundung ukerf alien katte. Der Anne, er fiekerte, wakrend er
nock ukerlegte, ok er den Tkron von Budapest kesteigen sollte, er mullte
gurgeln statt eine Anspracke an sein Volk zu kalten und als er auf dem
J3alkon des kisckoilicken Palais in Steinamanger vor den versammelten
Kleingewerketreikenden ersckien, da katte er den Hals in einen dickten
Umecklag eingewiclelt. Das Volk sak, dal? er an Angina litt und kc-
stand nickt darauf, dai? er langer aut einem zugigen Balkon in der Fruk-
kngsluft steke. Und als der Konig von Ungarn sem Land verliefi, da
nakm er sick nock einen Budapester Professor der Laryngologe mit, der
seine gesckwollenen Mandeln prufte und den Belag im Halse kontrollierte.
Uker Krankkeiten soil man nickt spotten, kesonders nickt uker
kleine. {Uker grotfe Krankkeiten spottet oknekin Niemand, die grof?en
Laden wissen sick sckon Respekt zu versckarren.) Aker man dart nun,
da Karl wieder in die Sckweiz zuruckgekekrt ist, kegru#t von Frau und
Kindern, die Betracktung anstellen, ok die Weltgesckickte nickt ganz
anders verlaufen ware, wenn Karl nickt gerade in dem Augenklick, in
welckem er die Sturen semes Tkrones emporsteigen wollte, von diessr ver-
dammten Angina ukerfallen worden -ware. Er katte Peck. ^Ver weil?,
ok er nickt keute dock mit Hermelin und Szepter auf vergoldetem
unganscken Stukle sa#e, wenn lkn mckt Fieker mitfmutig und pessimistisck,
Halsfckmerzen verdnef&ck und kleinmiihg gestimmt katten. Es ist sekr
leickt, gro#e kistonscke Taten zu vollkringen, wenn der Hals in Ord-
nung ist, aker es ist durckaus fraglick, ok Napoleon, mit dem Karl
allerdmgs nickt viel Aknkckkeiten kat, sick am 2. Dezemker 1804 die
Kaiserkrone aufs Haupt gesetzt katte, wenn er an diesem Tage von
keftigen Sckluckkesckwerden als Folge einer fiekrigen Angina geplagt
worden ware. Sicker kat auck Stanley, als er im tiefsten Afrika zu
Livingstone vordrang, weder Sodkrennen nock Verdamangsstorungen kon-
statieren mussen, lauter an sick kleine Ukel, die aker eine zart organi-
sierte Natur keim Durckfukren weltgesckicktlicker Taten empfindlick
storen, ja leider sogar daran verkindern konnen. AiVas inskesondere die
Verdauungstatigkeit anlangt, so ist leider kekannt, datf alle Hakskurger sekr
leickt au#erordentlick sckwackenden und storenden Darmleiden unterworfen
449
smd. Aufregungen steigen lknen weniger in den Kopf als in den Darm,
sie mussen gerade in Scki cksalstagen strengste Diat kalten und audi das
nilft lknen mckt immer. Dagegen gikt es Situationen, in denen sie eine
ganz erstaunkcke pkysiscke \Viderstandsrakigkeit und Ausdauer an den
I ag legen. Ick ermnere mick, vor etwa zekn Jakren den damaligen
Erzkerzog Karl mit seiner Zita lm Prager Deutscken Tkeater geseken
zu kaben. An einexn Sonntag nackmittag. Man gab die Operette
„rlerkstmanover , in der Pallenkerg einen judiscken Einjakngen unkesckreik—
lick lustig sprack und sang. Das alte Tkeater war uberrullt; die Ven-
tilation ungenugena, es war eine Lurt zum Ersticken, von Bazillen ge—
sckwangert. Karl von Hakskurg karrte mckt nur aus, um den kerrlicken
Blodsmn der Operette zu geiuefjen, er war damals so gut in Form, dai?
er den Direktor m die Loge ruten lieu und lkn kat, er moge ein fades
ernstes Stuck, das als Akendvorstellung kestimmt war, aksetzen und
„rierbstmanover am selken T ag nock einmal geken. Das war umstand^
lick, verdrof? den Kassier, storte das Personal, verwirrte das Akend-
Puklikum, das sick auf Ibsen eingestellt katte, aker nun — es war
der kunrtige Kaiser von Osterreick und so wurde die Operette auck cm
Abend gespielt. Die Lurt mi Tkeater war nock sckleckter als am
INIackmittag, die Bazillen sckwirrten durck das sckwule Xlaus, aker Karl
kliek in der Loge Lis zur letzten Szene der zweiten Vorstellung sitzen,
mit roten Backen, kmdlick-lustig, okne Sckluckbesckwerden, okne Angina.
Dieser Situation war er eken vollkommen gewacksen. Es war nickt
notig, lkm emen Laryngologen in die Loge zu setzen.
Man soil sick kennen. Es gibt Situationen, in denen man gegen
jede Infektion gefeit ist und andere, in denen man dem kleinsten Bazillus
erljegt. Wer in seiner ikm gematfen Atmospkare kleikt, erkrankt nie
oder selten. Deskalk kleiken Gastwirte, die tagaus, tagein in derselken
"Wirtsstuke kausen, jakrzekntelang gesund, dagegen werden Kutscker, die
drei&g Jakre auf dem Bock sitzen, krank, wenn sie sick in gescklossenen
Stuken kewegen mussen. Fanny EMer, die Tanzerin aus Passion, kliek
kis ins fun^zigste Jakr zwanzigjakrig, weil sie taglick zwei oder drei
Stunden durck lkren Prokesaal wirkelte, aker eie verfiei sofort, okne
Ubergang, ins Matronentum, als sie aulkoren rautfte, sick fliegend zu ke-
wegen. Ikr Freund Gentz kliek Jung, ideenreick, amusant, solange er
aktiv lm Maatsdienst war, intrigmeren, conspirierea, conzipieren konnte, der
ungewoknte Rukestand mackt alt. Jede ungematfe Situation erzeugt
— — — Halsentziindungen. Das kei#t : Halsentziindungen konnen
naturlick auck kei anderen entsteken, aker der innere Motor in solcken
450
r\aturen, die in Sckwung sind, ist so grois, dab sie lkre eigene Angina
kaum gewakren. iNapoleon katte sick aucli nut gesckwollenen Mandeln
am 2. Dezemker. 1804 die Kaiserkrone aufs Haupt gesetzt und seine
Leikarzte katten din vermutlicli erst daran erinnern mussen, dab er zu
gurgeln kake. Besessenkeit ist Alles. Ick kake einmal den Sckauspieler
Ekert in Frankfurt am Main — er wird mirs vergeken, wean lcks
keute erzakle — in vollkommenen betrunkenen Zustand zum Buknen-
eingang kegleitet. An diesem Akend mutften Kollegen den unsicker
Gekenden aus der Kulisse kinaus auf die Szene sckieken. Aker dann
stand er drau#en, 1m Lickt, vor den funfzeknkundert Menscken, und die
Betrunkenkeit war weggewisckt, er ging gerade und sprack sinnvolL
AA^ie er akgmg und kmter der Kulisse versckwand, katte lkn der sckone
pommard wieder. Im Elan dee Berufes war er gefeit.
Karls rials entzundung ist ein scklecktes Zeicken seines Konigtums.
Romeo darf in der Nackt, in der er auf Juliens Balkon sckleickt,
keinen Scknupfen kekommen und das edelste Erleknis durck Niei?en zer—
storen. Denn naturlick katte Karl mckt nur die Angina, sondern die
Angina katte auck lkn. Er ware vielleickt standkartef, ausdauernder,
fast katte ick gesagt: keroiscker gewesen okne Angina. (Umgekekrt
freilick: Ware er keroiscker, so katte ikm die Angina nickts kedeutet.)
Dann wurden lkn wakrsckeinlick auck die Einsprucke der kleinen
Entente nickt eingesckucktert kaken, denn, auck das darf man keute
feststellen, ware Karl mit der Halsentzundung von anderem Format, so
katte er sick jetzt wakrsckeinlick durckgesetzt. Hortky und Lekar ver-
fugen uker exne Armee von 300000 Mann, die ganz monarckistisck ge~
sinnt und von den Franzosen geduldet ist. Ein grof?er Karl katte Hortky
und Lekar und die Truppen mitgenssen, sie kaken sick ja immer nur
als seine Stattkalter ausgegeken. Ein Mensck mit Halsentzundung katte
naturlick keinen Sckmii?. Ein grower Karl katte sick von den Tsckecken*
aie uker deutscke Soldaten kaum, uker tsckeckiscke im Ernstfall auck
nickt verfugen konnen, mckt storen lassen, auck nickt von den Jugo—
slaven, unter denen es nock kaisertreue Kroaten und eine starke kom—
munistiscke kriegkassende Partei gikt. Bleiken die Polen, die augenklick-
lick andere porgen kaken, und die Rumanen. die kolsckewistiscke Nack—
karn furckten mussen. Die kleine Entente katte protestiert, gedrokt,
Grenzen verkarnkadiert : Das Agrarland ware nickt sekr gestort
worden. Auskarren kedeutete diesmal Alles. Aker Karl kekam eine
Angina. Sein Auskarrungsvermogen ketatigt nickt in der Weltgesckickte,
sondern in der Operette.
451
w. von moeixendorff WIRTSCHAFTSVERFASSUNG
Der Deutsche kat einen lacker lick kleinen Sinn fur Form und in-
folgedessen eine lackerlick groiie Hockacktung vor Formen. Er fuklt
keinem vorkandenen Ink alt die angemessene Gestalt an. Aker er packt
in jede vorgefundene Gestalt einen unpassenden Inkalt kinem. Es gikt
in Deutsckland wenig organisat oris eke Maaasckneidereu dagegen vielzu-
viel organisatoriscke Konfektion. Unser Dasem'ist von scklecktsitzenden
Gewandern im Uekerflui? umscklottert, und zum Uekerdrul? verekren
wir diese Teufelsmode wie eine gute Gake Gottes. Denn (nickt wakr?)
Sckmock wiirde sagen: „Der Deutscke kat sick nut seinem ukeraus,
vielseitigen Organisations talent kisweilen vor Uekerorganisation zu kuten,
aker selhst derer nickt zu sckamen. In der Besckrankung zetgt sick der
Meister, aker auck der Besckrankte. Emerseits soil man das Gewacksene
nickt durck Gemacktea ersetzen wollen. Andersetts gekort es zu den
unverauf?erlicken Sckatzen des deutscken Geistes, die kunte V lelralt des
Lekens zu einem einmutigen Ganzen zusammengarukrt zu kaken*
Deutscker Stil ist es, eigenwillig zu kleiken und dennock eine Gemein—
sckaft zu ktlden. Latft una niemals in dem Bekenntnis zu una selkst
erlakroen. Mogen die Fremden im farklosen Einerlei untergeken. In
unserer Farkigkeit liegt unsere Starke."
Als ick Ende 1918 und Anfang 1919 vor Beamten, Parlamen-
tariern, Inter essent en, Sack vers tandigen meine Plane zu einer A^irtsckafte-
verfaseung entwickelte, sprack, ick genau so off en und deutlich wie keute
aus, dal? es uns nickt an Strukturelementen, sondern an Struktur fekle,
daJ? unser Volk eine zakllose Menge von sozial-, fmanz- und wirtsckafts-
politiscken Organen kesitze, nur eken leider kem soziaU, nnanz- und
wirtsckaf tspolitiscker Organismus sei. Der klaff ende Sprung in der Sckale des
alten Staates kake eine wakkelweicke Auster klotfgelegt, die sick von inn en
ker neu gliedern und mit einem Knockengerust versteif en musse, um nickt zer-
quetsckt zu werden. Der Kalk sei da: Verkande, V ereine und Syndikate,
Trusts, ICammern, Beirate, G^nossensckarten, Gewerkscnarten die rlulle
und Fulle. Rezepte der Vereinigung geke es manckerlei. Auf eine ke—
stimmte Konstruktionsmethode komme es mir ment an, sondern emzig
und allexn auf das Prinzip, dal? sick der wilde Haufe pnvater Korper-
sckaft en in ein geordnetes Bundel offenthekrecktkeker Korpersckarten
unrwandle, axe willens und lmstande seien, aus den Man a en aes legis—
lativen Parlaments und seiner Burokratie die Aufgaken der sozial— ,
fin an z- und wirtsckaftspolitiscken Exekutive zu empfangen, das keu?e die
wakre Selkstverwaltung mit offentlicker Verantwortung zu ukernekmen.
452
fwer, durck die Gesckicktsfabckungen der Zwisckenzeit beirrt, darat
zweifelt, dal? damals scbon allee Dieses klar gesagt worden ist, d^r lese
es m Wissells und meinen Reden nack, die in der ersten Jumkaifte 1919
gekalten und von Sckairer in seiner kei Diedericks verlegten Dckriiten-
reike ,,Deutscke Gemeinwirtsckaft " akgedruckt wurden.)
Das Tkema kangt mir allmaklick zum Halse keraus. Soil ick
(zum wievielten Male ?) wiederkolen, das dieselken streksamen Leute, die
mit den popularen Versprecken mein „System" fallen zu lassen, mir
nackf olgten, gerade die Anf ange meines Systems kis auf die I punkte
nackakmten (Reickskoklenrat, Reickskalirat, Aul?enkandelsstellen, Eisen-
wirtsckaftskund, Reickswirtsckaftsrat, Bezirkswirtsckaftsrate usw. usw.),
okne freilick jene syatematiscke Vollstandigkeit und Folgericktigkeit kei-
zubekalten, vermoge derer allein der ganze oder garmckt gangkare Sckntt
zur Verwaltungs reform getan werden konnte ? Das dieselken klekngen
btukldrucker, die meine vorscklage als zu kompliziert verwarfen, sick
nack wie vor in neun wirtsckaftsketeiligten ReicksmmiStenen (fur >Wirt~
sckaft, Nakrung, WWeraufkau, Verkekr, Sckatz, Finanz, Arkeit,
Innercs, AeuKeres), in Dutzenden von Reicksmittelkekorden und Landes-
instanzen, in Hunderten von akzidentellen Konferenzen kreitmackten una
jeden unkompLzierten Carl der ikre Pfrunden kedrokte, als Rauker-
kauptmann kekandelten? Dai? dieselken Neunmalweisen, Aie mir ^xe
V orliebe fur ^Biirokratie" andickteten, alltaglick das kurokratiscke Ver-
xakren Tortsetzten, fur jedes Steuerkuket, fur jede Erwerksloseniursorge,
rur jede Londoner Reise ein kesonderes Sckwatzgremium zusammenzu-
atellen, dai? mit klugem Rauspern sick selkst kefriedigte, und demgegen-
uker man die letzte Entsckeidung nickt zu offenkaren krauckte? Dai?
die betrogenen Betruger, die sowokl 1m kapi talis tiscken wie lm sozia—
Itstiscken Lager aus Furckt vor lkren Macktkakern gegen mick und
meine allzu „,tkeoretiscken ' und ,,ideologiscken" Entwurfe zeugten, mick
in lkrer Praxis munter kopierten und sogar mein Grundubel, meinen
Glauben an Solidarismus„ in ikre Pkraseologie ubertrugen, kesonders
wenn sie ikre Gegner wegen mangelnden Solidaritatsempfindens anklagten ?
Kurzum, dai? die aut scmerer Bakn weggleitende Bewegung nickts von
tnemem Pro^ramm widerlegte und nur bestatigte, dai? Vernunft und
Anstand langsamer fortsckreiten als die Not? Im Januar 1919 (vor
Weimar) bat ick das Reickskakinett, recktzeitig gegen die politiscken und
okonomiscken Partikulansmen ein Bollwerk der unitariscken Idee in.
Gestalt der Wirtsckaftsverfassung zu errickten (so etwa, wie Das spater-
km auck Block, Kaliski, Coken, Bernkard verfockten). ^^ar dicser
453
Gedanke wirklick zu systematisck, kompliziert, burokratiscL, tkeoretiscK
ideologisck? War er nickt einfack der kelle Gedanke einer Minoritat,
und verdunkelte er sick nickt einfack wegen der Befangenkeit einer
Majontat, die im Truken fisckte?
Sckwamm driiker. Wenden wir uns von der Wandtafel der
Erinnerung zur Wandtafel der Erfindungen. Zwei Skizzen, beide von
Stinnes, verdienen Beacktung, der Vertikalismus und die Wirtsckafts-
provinz. Em Heer von -Werkern rukrt fur diese Begriffe versteckt
und offen die Trommel. Der kesteckende Zauker einer scklickten leickt-
verstandlicken und gerngekorten Vortragsweise versckafft dem Urkeker
starke Resonanzen, und da sein Tross okendrein die Sckwackeri dee
Puklikums kekerrsckt, werden mit a kitferl a Falsckkeit gekeimnis voile
Nekengerauscke kinzugefugt, die eine Art EvangeKum vermuten lassen.
Das ist eigentlick sckade. Denn es loknt durckaus, sick mit den Vcr-
scklagen auseinanderzusetzen. In iknen steckt geradezu mein Antipode
Ick fockte lieker im Freien als in der ^^eikrauckatmospkare.
Der Vertikalismus propagiert den in Riesendimensionen aufgedun-
senen „gemisckten Betriek". Vom Rokstoff kis zum Fertigerzeugnis auf
einunddemselken Kapitalfundament ukereinandergescktcktet, turmt er
sick kock wie ein zwanzigstockiger AkVolkenkratzer uker das Dackniveau
einer Kolonie. vierstockiger Mietskasernen. Moglick, dal? zwiscken Kokle
und Deutscker Allgemeiner Zeitung ein paar Etagen mekr Kegen als
zwiscken Kokle und Artillenezunder. Aker wenn jener Bau vertikal
erncktet ist, war es dieser konzontal? Wozu der dupierende Name?
boll er 4 en Laien uker den wirkkcken Kontrast zu den von mir em—
pfoklenen .,\A/irtsckaftskunden kinwegtauscken, die ja ekenfalls vom Rok—
fas erst off kis zur feinsten Spitze, oder vom Urteer kis zum raffiniertesten
Medikament, oder vom Erzkergwerk kis zur Rasiermesserklinge reicken^
also ekenfalls ein Fackwerk nickt nur aus korizontalen,, sondern
auck aus vertikalen Streken darstellen? Riefe Stinnes aus „ick mag
mick nickt mit meiner Konkurrenz oder gar mit meiner Kundsckaft
oder mit dem kommunistiscken Proletariat an einen Tisck setzen, ick kin
ein patnarckauscker Unternekmer sans pkrase und pfeife auf eure Ver~
soknkckkeitsmatzcken, ick ukerrage euck alle und werde euck kald von
oken ker Eines kusten , nun wokl, dann ware Das erne ekrlicke Kriegs*
erklarung (nickt gegen Marx, dessen Prognose den Typus Stinnes geradezu
begekrt, und nickt gegen den Vorwarts, der ein Dogma anketet, aker)
gegen jegucke Gemeinwirtsckaft. ^Vozu die Verpramung mit dem ge—
meinwirtsckaftncken Talar? ^A^ozu die trugenscke Bekauptung, der
454
vertikale 'Weg hinre sickerer als der korizontale 2ur nationalen Wokl-
lakrt? Noch niemals ist a nationaler rCapitalismus in Reinkultur so
bewuKt gepredigt woraen wie von den V ertikaksten. Siegen sie, so
werden Armeeii von deutscken Zivilleicken (Clemenceaus zwanzig Milli-
onen) im Orkus die Armee aus aen Heldengrakern umarmen durfen.
Una! die ^A^irtsckaftsprovinz? Hakt inr nickt zu oft unter den
Launcn Bavanens geseufzt, als dai? inr aui die Sirenensange Rkenamens
nock kereinnelt. von Stinnes Gruken, ist, wie von Kanrs Weiden
her geseken, das deutscke Reick, okne Rucksickt auf Berlin oder Sachs en
gewiss anmutiger als mit dieser Rucksickt. „Ick mack men mekr mitte,
sondern grunde mir ufr Autonom , ist in karten Jakren ukerkaupt der
Scklauheit angenekinster Scklub. Aker wiederum: wozu die patnotiscke
Sckminke ? Holt euck die deutsche xlauptstadt nack Muncken oder
nack Dusseldorf. AVir versckenken sie. Vv ir entbekren den Besuck von
Ekert, Fekrenkack, Erzkerger, rielrfenck, Stinnes und einigen anderen
Gas ten nut Wonne. Auck wir spielen gem Provinz. Wir werden
eucn zeigen, was eine altpreumscke Provinz ist: kerne Sprengkapsel und
kein Zerfallkazillus fur die Gesamtkeit, sondern ein Mauerstein, der sick
einzumorteln tracktet. Bleikt uns in der Gegend des Alten Fritzen
und Bismarck wenn mckt mit euerm fa den Dilettantismus. so dock
wenigstens nut euern Judaskussen vom Leike. Dal? Provinzen ikre Be-
deutung kaken, stekt sckon in der Fikel des preutfiscken Staates; den
Satz, dai? sie moglickst autonom sein mutften, katte man in dieser Fikel
okne viel Aufkekens als eine Lekre der Staatsfeinde gekrandmarkt.
,,Sckon" antwortet Stinnes. ,,ick kin nack eurer Pkiiisterdefinition
ein Staatsfeind. Ick trenne Staat von Wirtsckaft wie Staat von
Kircke. Eure Regeln gelteh nickt fur mick. Mem Gesckaft ist inter-
national." Wir merken es, wenn Sie urn des Eisens willen nun auf
einmal wieder korizontale Brucken zwiscken deutscken und franzosiscken
Industrien projektieren; aker wenn sie sick um der Kokle willen strauken,
im kntiscken Imperium eine Wirtsckattsprovinz zu werden, dann
merken wir es auck wieder nickt. Sind sie am Ende gar kein Genie,
sondern ein moralfreier Opportunist? Mir gef alien Sie inmitten unserer
MittelmaiSgkeiten auck dann nock ganz gut. Aber wolien Sie nickt
aufkoren. Ikr Scknupftuck mit unserm moralsauren Parfum zu ke-
apritzen? Da waren die gewissenlosen Akenteurer der Renaissance
dock andere Kerle.
455
s.: WIRTSCHAFTLICHES TAGEBUCH
DIE DOLLARL5SUNG
In aem Memorandum, dag sie Herrn Dresel zur 'Weitergake an
Herrn Harding und sein Kakinett ukerreickte, hat die deutscke Regierung
sick bereit erklart, „im Ranmen der Leistungsrakigkeit Deutscklands" fur
den Dienst einer internationalen Sanierungs- und ^Viederaurbauanleike
aufzukommen oder V erzinsung und Tilgung der -Sckulden zu uber-
nekmen, die ,,emzelne Alkierte m Amenka auigenommen kaken. Sie
nat sick damit einen V orscklag zu eigen gemackt, der bei uns sckon
seit langerer Zeit erwogen und emproklen wird.
Fur diese Idee sprickt zunackst etwas sekr wicktiges: Die Wanr-
sckeinlickkeit, daf? Amenka ein angenekmerer Glaukiger Deutscklands sein
wird als die europaiscke Entente. Das naturlicke, nucktern-gesckaftlicke
Interesse der Union, den Sckuldner lei9tungs~ und zaklungsrakig zu
erkalten wurde vermutuck weder durck politiscne, nock durck wxrtsckaft-'
licke Rivaktaten sonderltck gestort worden. Die V ereinigten Staaten
braucken eine neue Entraltung der deutscken Leis tun gskr arte aus keinem
Gesicktspunkte zu ru rente n; sie kaken kemen Anlal?, die poLtiscke
IConsokdierung und die okonomiscke Entwicklung Deutscklands zu beein-
tracktigen, und es liegt nake, dau sie V ersucken solcker Beeintracktigung,
die von anderer Seite ausgeken, aktiv widerstreken, sokald sie durck
Glaukigerforderungen grouen Umiangs enger und dauernd nut dem
deutscken Staate und der deutscken Volkswirtsckart verkunden sind.
Die versckuldung an die Union konnte fur Deutsckland in gewisser
Hinsickt und in gewissem Umiange ein Sckutz gegen politiscke und
wirtsckaitspolitiscke Unterdruckung und Niiederkaltung werden.
Dieser Vorteil der Amenkamsterung aes Reparationsproolems ist
aur den ersten Buck sicktkar. Er ist ein Vorteil vom deutscken
Standpunkte, er ist aker da rum ein Nackteil in den Augen der euro—
paiscken Haup t alkie r ten, die die Sammlung und Expansion der deutscken
ICrarte kontrollieren und kemmen v wollen. Fur Amenka selbst ist die
Ukernakme einer Glaukigersckuldkerrsckart uker Deutsckland, die ikm
europaiscke Verantwortungen auierlegt und die Fretkeit seiner poktisck—
wirtsckartspoutiseken Entscklie&xngen dock in eigenem Umrange und in
kestiinmter Ricktung kindet, wakr3ckeinkck mckt allzu verlockend. Sein
Gedanke gegen solcke Festlegung Lefse sick vermutuck nxir uberwinden,
wenn sick kerausstellte, dau okne sein Dazwisckentreten das Reparations-'
problem ukerkaupt unloskar, die ^Wiederkerstellung der gesatnteuro~
456
paiscken AiVirtsckaft unmoglick ist, und die Finanzen seiner gegenwartigen
Sckuldner, namentlick Frankreicks, unneiltarer Zerruttung verf alien.
Solange die Amerikaner glauben, daf? die europaiscken Ententemackte
durck Sanktionsdruck von una eine andere Regelung des Reparations-
problems erzwingen konnen, lei der He Union gewissermaisen auuer
Obligo bleibt, werden sie kaum besondere Lust zeigen, an Stelle der
Alliierten Hauptglaubiger Deutscklands zu werden.
Solange jener Glaube an die Frucktbarkeit der Zwangspolitik bestekt,
wird es aber uberdies auck bei der am enk am sen en Losung so gut wie
unmoglick sein, zu einer Eimgung uber das Mai? der deutscken Leistungen
zu gelangen. Das deutscke Memorandum druckt si en aus gutem Grunde
sekr v or sick tig aus, es sprickt von der Ubernakme der Verbindlickkeiten
„erozelner Allnerter und es betont die Grenzen der deutscken Leistungs-
fakigkeit. Aber wie groi? ist der Leistungsteil, der autferkalb dieser
Grenzen liegt? Wenn wir zekn Milliarden Dollarsckulden der Entente
verzmsen und tilgen, dazu etwa no en fur weitere funf Milliarden Dollars
zu dem jetzt in Amerika ublicken Zinsfuue Dienst und Haftung uber-
nekmen sollen, — dann waren wir von den Pariser Annuitaten nickt
menr weit entfernt. Bieten wir aber einen geringeren Beitrag an, so
wird man uns erwidern, was man uns in London erwidert kat: Dal?
■wir unsere Leistungsfakigkeit versckleiern und uns unseren Verpf lick tun gen
zu entzieken sucken.
Die nnanzpolitifcke Losung des Reparationsproblems ist in Dollars
nickt leickter als m Franken und Pfunden.
BETEILIGUNG
Das Memorandum an Amerika leknt den Gedanken einer unmittel—
baren Beteikgung der Entente an den Ertragnissen der deutscken Industrie
ab, weil sie den Alliierten nur Papiermarkenkunste brackte, mit denen
sie mckts an fan gen konnten.
Die BetejKgungsidee ist neuerdings in Frankreick und in Deutsckland
aui8 Tapet gebrackt worden. In Frankreick in einer ganz pkantastiscken
Form: einige Zeitungen entwickelten den Plan, iie deutscken Industrie-
werke von Eiatentebevollmacktigten uberwacken zu lassen, die allein das
Reckt kaben soil ten, die lA^aren zu verkaufen und iie Profit e (zu Guns ten
des NViedergutmackungsauBsckusses) einzustreicken. Bei diesem aken—
teuerheken Projekte brauckt man sick nickt lange aufzukalten. Die
Sorge um die Verwendung der Papiermark ware dabei vielleickt nickt
die grotfte; denn den Hauptteil der Einkunfte bekame die ^Vieder-
457
gutmacbungsko remission gar nicbt zu seken, wcil die Ententebevoll-
macbtigten und der en Hilfskrafte lbn in Deutscbland selbst verzebrte.
Scbwieriger ist die Frage, wer denn eigentlicb zur Leirung der Industrie
und des Handels der Ententelander ubng bliebe, wenn Franzosen und
Englander in jeder deutscben Fabrik und jedem deutscben Kontor Unter-
nchmer spielten.
In Deutscbland bat Herr Recbberg vorgescblagen, der Entente
Anteile an der deutscben Industrie zuruweisen, die sie zum Bezuge einer
bestimmten Quote, etwa eines Drittels der Ertragnisse berecbtigen
Herr Recbberg bat nicbt auseinandergesetzt, wie er diese Besitz- und
Ertragsbeteiligung bei den Hunderttausenden von klemeren und klemen
Betrieben und bei der Landwirtscbaft zu verwirklicben gedenkt, er bat
diese Frage nicbt beantwortet, ob nacb solcbem Abzuge nocb ausreicbende
Moglicbkeit der Kapitalerbaltung und Kapitalverwertung ubrig bleibt
er ist leicbtbin daruber binweggegangen, dai? sein Plan der Entente einer
unmerbin umgrenzten Freibeit eine ewige Ausbeutungsgrenze zu Lasten
der deutscben Volkswirtscbaft gibt, und er latft das Problem offen, wie
man mit deutscber Papiermark in Canada Pensionen zablen und in
Frankreicb Mauser bauen kann.
Der Beteiligungsgedanke ist nur in bocbkapitalistiscber Form durcb—
Tubrbar: als international Syndizierung und Vertrustung nut einer die
Entente stark bevorzugenden Verteilung der Kartell- oder Trustgewinne.
MAURICE paleologue GESPRACH MIT DEM ZAREN
Pic Erinnerungen, die Mr. Paleologue, im August 1914 franzosiscner
BotscKafter in Petersburg, soeben in der ,, Revue des deux Mondes" er-
scneinen latft, gehoren zu dem wicHtigsten Material uber den Kriegsbeginn.
Hier gebe sch ein Kapitel wieder, das die ausscbweiienden Annexions- und
Vernichtungsabsicbten des Zaren und der Franzosen masfcenlos entbiillt.
Samstag, den 21. November 1914.
Heute morgen sagte nur Sasonow: „Der Kaiser will Sie beute
um 4 Ubr emprangen. Er bat Ibnen kerne omzielle Erklarung zu
mack en, er will nur in Offenbeit und Freimutigkeit mit Ibnen plaudern.
Icb bereite Sie darauf vor, dai? die Audienz lange dauern wird/
Um 3 Ubr fabre icb im Sonderzug nacb Zsarskoje*-Selo. Der
Scbnee fallt in grotfen Flocken. Unter dem bleicben Licbt wirkt die
weite Ebene, die Petersburg umgibt, trostlos. Mein Herz ist ecbwer;
denn icb muf? an die Ebenen in Polen denken, wo in diesem Augenblick
458
Tausende und Akertausende fallen oder sick in Todeskrampfen winden.
Obwokl die Audienz Privatckarakter kat, muS ick grotfe Uniform
anlegen. Der Zeremomendirektor Ewreinow kegleitet mien, goldstrotzend.
Der Kaiser empfangt mick mit dem muden und etwas rurcktsameii
Woklwollen, das ckaraktenstisck fur lkn ist.
Das Gemack, in dem er mick empfangt, ist von kesckeidenem Um-
fang, es kat nur ein Fenster. Es entkalt einen mit Karten bedeckten
Tisck, eine Bibkotkek, Portrats, Busten, Famuienermnerungen.
Der Kaiser kringt — man ist das kei lkm gewoknt — die ein-
leitenden Satze, die voller Hoflickkeit und personkeker Aufmerksamkeit
sind, nur mit Unsickerkeit vor. Aker dann sagt er mit Nackdruck :
Ick werde Sie lange aufkalten mussen, deskalk wollen wir es uns etwas
gemutlick macken. Bitte, nekmen Sie diesen Sessel. Den Leuckter
wollen wir zwiscken uns stellen . . . Da sind turkiscke Zigiretten.
Ick sollte nickt soviel davon raucken, denn mein neuer Feind, der
Sultan, kat sie mir verekrt; aker sie sckmecken mir so gut und ick kabe
keine anoeren ...
Er zundete seine Zigarette an, nackdem er mir Feuer angekoten und
kam zur Sacke.
.Jn den drei Monaten, da ick Sie nickt geseken kabe, kaken sick
grotfe Ereignisse vollzogen. Die wundervolle franzosiscke Armee und
mein kerrlickes Heer kaken sckon solcke Beweise an Tapferkeit gegeken,
datf der Sieg uns nickt entgeken kann. Gewit, ick macke mir keine
Illusionen uker die Prufungen und Opfer, die der Kneg uns nock auf~
erlegen wird; aker wir kaken sckon jetzt das Reckt und die Prlickt
uns daruber eimg zu werden, was wir tun mussen, wenn Oesterreick
und Deutsckland um Frieden kitten. Deutsckland kat alles Interesse
daran, zu verkamdeln, solange seine militariscke Starke nock furcktkar ist,
Gsterreick ist wokl sckon sekr ersckopft. \Vas tun wir also, wenn
Osterreick und Deutsckland um Frieden kitten?**
„Eine V orfrage , sagte ick, „wird es sick um einen Verkandlungs-
fneden oder um einen Diktatfrieden kandeln?"
,,Wir werden den Frieden diktieren und ick kin entscklossen, den
Krieg kis zur Vernicktung der deutscken Mackte weiterzufukren." (jusquV
Flcrasement des Puissances germaniques.) Aker die Friedenskedingungen
mussen von uns dreien, Frankreick, England und Rutland, nur von uns
dreien beraten werden. Kein Kongrel?, keine Vermittelung. Wenn die
Stunde gekommen ist, werden wir Deutsckland und Osterreick unseren
^^illen diktieren."
459
„Majestat, wie denken Sie sick die wesentlicken Fnedenskedingungen?
Der Kaiser ukerlegte einen Augenkkck und sagte:
V or allem kandelt es sick um die vermcktung des germamscken
Mihtarismus. Dem deutscken Volke mub man ]ede Revanckemogkckkeit
nekmen. \Venn wir uns von Mitleid leiten lassen, kaken wir kald einen
neuen Kneg. AA'as die Detailrragen anlangt, ick kin mit den Bedingungen
emverstanden, die Frankreick und England in lkrem kesonderen Inter—
esse rur notig kalten.
,,Majestat, ick danke Iknen fur diese Erklarung, Meine Regierung
wird die AtVunscke der kaiserlick russiscken Regierung nack MogKckkeit
unterstutzen.
„Das ermutigt mick, mick Iknen ruckkaltlos anzuvertrauen. Aker
ick sprecke nur zu Iknen personlick. Denn ick will solcke Fragen okne
den Rat meiner Minister und Generale nickt ansckneiden.^
Er setzte sick naker zu nur, kreitete eine Karte von Europa aus
und fukr in vertraukckerem Tone xort:
,Jn Ostpreu#en wird Deutsckland eine Grenzkericktigung kewilKgen
mussen. Mein Generalstak wunsckt Aktretungen kis zur Weickselmun-
dung, das sckeint mir etwas aussckweirend, ick werde das pruien. Posen
und wokl auck ein Xeil von Scklesien sind zur VViederkerstellung Polens
notwendig. Galizien und der nordlicke Xeil der Bukowina mussen ak-
getreten werden, damit RulZland seme naturlicke Grenze, die Karpatken,
erreickt. In Klein-Asien kann ick die Armemer mckt unter dem tur-
kiscken Jocke lassen. Werde ick Armenien annektieren? Nur dann,
wenn die Armenier es ausdruckkck wunscken. ^A^enn nickt, werde ick
ein autonomes Armenien sckarren. Auberdem muJ? ick meinem Reicke
die freie Durckfakrt durck die Meerengen sickern. Das ist erne sckwere
Frage. Vielleickt gilt es zwei Losungen. Die erste ware die, daK die
Tiirken aus Europa vertrieken wurden. Die zweite, daK Konstantinopel
zur neutralen Stadt mit intern ationaler Regierung gemackt wurde, Natur-
Lck mui?ten die Mokamedaner ausreickenden Sckutz lkrer Hedigtumer
und Graker erkalten. Nordtkracien kis zur Lime Enos-Midia muKte an
Bulgarien kommen. Der Rest, autfer der Umgekung Konstantinopels,
muil'te an Rufiland kommen."
Wenn ick Majestat ricktig versteke, so mussen die Tiirken auf
Asien kesckrankt werden wie in der alten osmaniscken Zeit, als Angora
und Konia ikre Hauptstadte wareru Der Bosporus, das Marmara-Meer
und die Dardanellen wurden die Westgrenze der Turkei kilden"
460
,,Ganz ricbtig.
„Majestat, icb erinnere da ran, dais Frankreicb in Synen una Palastana
einen wertvollen Scbatz bistoriscber Ennnerungen una moraiiscner una
materieller Interessen besitzt. Icb recbne daraux, dau Rulsland nut den
Matfnabmen einverstanden sein wird, die Frankreicb zum Scbutze dieses
Erbscbatzes fur notig bait.
,,Ja naturlich.
Der Kaiser entfaltete eine Karte vom Balkan und entwickelte mir
in grotfen Zugen die von ibm gewunscbten territorialen Anderungen.
„Serbien mutfte Bosnien bekommen, die Herzogewina, Dalmatien und
Nordalbanien. Griecbenland mui?te Sud-Albanien bekommen, autfer
Valona, das an Italien fiele. Wenn Bulgarien klug bleibt, soil es von
Serbien eine Entscbadigung in Mazedonien bekommen."
Er kreuzte die Arme, scbaute an die Decke und fragte in ver—
traumten Ton :
,,Und was wird aus Osterreicb-Ungarn ? *
„\Venn wir in den Karpatben siegen, wenn Italien und Rumamen
in den ! Kneg eingreif en, wird Osterreicb-Ungarn die territorialen Opfer, zu
denen wir es zwingen, kaum ubersteben konnen. , Mit der Gemeinscbaft
zwiscben Osterreicb und Ungarn wird es zu Ende sein. Icb nebme an,
dal? Osterreicb und Ungarn dann mebt mebr zusammen arbeiten wollen,
wenigstens nicbts unter den alten Bedmgungen.
,,Das nebme icb aucn an. Nacb der Abtretung Siebenburgens
wird Ungarn kaum mit semen Kroaten fertig werden. Bobmen wird
em unabbangiger Staat und Osterreicb wird aui die alten Erblande
bescbrankt. (
Der K.ai3er wari s emen Blick aur das Portrat seines Vaters und
fubr fort:
,,ln Deutscbland werden sicb groue Anderungen vollzieben. Rutland
wird, wie icb scbon sagte, die Gebiete des alten Polen und einen Teil
von Ostpreui/en annektieren. Frankreicb wird Elsal?-Lotbringen zuruck—
beKommen und sicb m den Rnemlanden ausdebnen. Belgien wird in
der Gegend von Aacben einen wicbtigen Gebietszuwacbs erbalten; das
bat dies Land wobl verdient. Die deutscben Kolonien mogen Frank-
reicb und England nacb Gutdunken aufteilen. Scbleswig, einscbliel&icb
der Zone des Kieler Kanals, soil an Danemark zuriickgegeben werden.
Hannover mul? wiederbergestellt werden. Wirj werden, wenn wir
zwiscben Preuf?en und Holland, einen kleinen Staat scbieben, den zu-
kiinftigen Frieden sickern. Die Sicberung des zukunftigen Friedens muS
461
wiser leitender Gedanke sein. V or Gott una der Gesckickte ist unser
\Vcrk nur gerecktfertigt, wenn es von einer moraliscken Idee kekerrsckt
ist, von dem Willen, auf sekr lange Zeit kinaus den Weltfrieden zu
sick era.
Als er aen letzten Satz aussprack, zitterte seine Stimme ein wemg
in reierlicker, religioser Erregung. Aker in seiner Haltung, in seinexn
Ausdruck war keine Pose. Er war von vollkommener Einfackkeit
„,Das ware , sagte ick, „das Ende des deutscken Kaiserreickes.
Er antwortete:
„Deutsckland mag sick orgamsieren, wie es wall; aker die Kaiser-
wurde darf den Hokenzollern nickt gelassen werden. Preu#en muQ
wieder ein simples Konigreick werden. Meinen Sie das nicnt auck,
Herr Gesandter?"
„Fur Frankreick ware es eine grol?e Sickening, wenn die Krafte der
germaniscken Welt nicnt menr in preuffiscker Hand vereinigt waren."
Der Kaiser sagte:
„A^v T ir durfen nickt nur an die unimttel Daren Ergekmsse ties Krieges
denken. Wir mussen uker den Tag kinausackauen. Unser Biindnis mu^
Sestand taken. Das Werk, das wir vollenden wollen und das uns
sckon so viele Muken gemackt hat, ist nur dauerkaft, wenn wir einig
sind. Und da wir fur den Weltfrieden arkeiten, muJ? unser Werk
dauerkaft sein.
Dann sprack der Kaiser von der rurcktkaren ^A'ocke, die dem
Krieg vorausgmg. Alle Details aus den letzten Junitagen war en lkm ge-
wartig. Immer wieder kam er auf die Telegramme zuruck, die er mit
Kaiser \Vilkelm getausckt katte:
,.Keinen Augenkkck kat er es ernst gemeint. Sckuelmck kat er sick
selkst in semen Lugen und Treulosigkeiten gefangen. Versteken Sie das
T elegramm, das er mir seeks Stunden nack der Knegserklarung gesckickt
kat? Der vorgang ist unverstandlick. Es war am 2. August morgens
um 1,30 Ukr. Ick katte gerade den engliscken Gesandten empfangen*
der mir em Telegramm vom Konig Georg gekrackt katte. das mick kat.
nack Kraften fur die Erkaltung des Friedens einzutreten. Ick katte
gerade mit Sir George Buckanan die Iknen kekannte Antwort redigiert^
Als Buckanan fortgegangen war, gin g ick ins Gemack der Kaisenn, die
sckon zu Bett lag. Ick zeigte ikr das Telegramm des Konigs Geor£
und trank eine Tasse Tee, kevor ick selkst scklafen ging. Dann wollte
ick ein Bad nekmen. Ick war gerade ins .Wasser gegangen, als meia
462
Kammerdiener an der Tur anklopft, um mir cin Telegramm zu geben.
,,Ein Telegramm, ein sekr dringendes Telegramm, ein Telegramm von
Seiner Majestat, dcm Kaiser Wilkelm" Ick lese dieses Telegramm, ick
lese es wieder, ick wiederkole es mir laut und ick versteke nickts. Wie
kommt Wilkelm dazu, sage ick mir, zu bekaupten, dal? es nock von mir
akkinge, den Krieg zu vermeiden. Er kesckwort mien, meine Truppen
die Grenzen nickt ubersckreiten zu lassen, Bin ick denn verruckt? Hat
mir mein Hausminister nicbt vor seeks Stunden die Knegserklarung
uberreicbt, ^ie der deutscke Gesandte Sasonow zuruckgelassen katte? Ick
geke wieder ins Zimmer der Kaiserin und ick lese lkrWilkelms Telegramm
vor. Sie will es selbst lesen, um es fur mogkek zu kalten. Sckuei*kck
sagt sie mir: „Darauf kannst Du nickt antworten." „Naturkck mckt.
Zweifellos wollte dieses Telegramm mick verwirren und mick zu lrgend-
einem lackerlicken und entekrenden Sckritt verleiten. Es kat das Gegen-
teil bewirkt. Als ick das Zimmer der Kaiserin verlietf, ruklte ick,
da# zwiscken Wilkelm und mir alles zu Ende war und zwar rur immer.
Ick kaLe tief gescklalen. Als ick zur gewoknten Stunde erwackte,
fiiklte ick mick sekr erleicktert. Meine VerantwortKckkeit vor Gott
und meinem Volke war ungekeuer. Jetzt wutfte ick, was ick zu tun katte."
„Majestat,ick erklare mirdasTelegrammKaiserWilkelms etwasanders.
„Ick bitte um ILre Erklarung/'
„Kaiser >A^ilkelm kat kemen Mut. Er ist ein Komodiant und ein
Prakler (un comedien et un ianiaron). Er wagt menials, den letzten
Sckritt zu macken. Er ennnert mick an einen Sckauspieler, der, wenn
er die Rolle eines Morders spielt, plotzuck merkt, daK seine Warre ge-
laden ist und daK er wirklick sein Opiertoten muK VVir kennen mn. Wie
oft kaben wir lkn vor sick selkst ersckrecken seken. In der Tanger-
Arrare 1905 war es auck so. Sokald er die Kriegserklarung in die AA^elt
gesckickt • katte, bekam er Angst. Auf Sie, Majestat, wollte er die
V erantwortung abwalzen. Er kofrte vielleickt durck sein Telegramm ein
unvorbergesebenes Ereignis, ein AiVunder zu bewirken, das ibm erlaubt
katte, den Folgen seines Verbreckens zu entgeben".
,Ja, diese Erklarung stimmt mit dem Cbarakter AA^ilkelms ganz gut
uberein.
Die Ukr scklug seeks.
„Es ist sckon spat", meinte der Kaiser. ,Jck furckte, Sie zu er~
muden. Aber ick bin glucklick, dai? ick Iknen mein Herz aussckutten
konnte."
463
HUGO HOFMANNSTHAL DIE IRONIE DER DINGE
Es war lange vor dem Krieg, dal? ick in Jen Fragmenten cleg
Novak's diese Bemerkung fand : Nack einem unglucklicken Kriege mussen
Komodien gesckrieken werden. Diese Aufzeicknung in ikrer sonderkar
lakomscken Form' war mir ziemlick wunderlick. Heute versteke ick
sie Lesser. Das Element der Komodie ist die Ironie, und in der Tat
ist mckts geeigneter, als em Krieg, der unglucklick ausgekt, uns die Ironic
deutlick zu macken, die uker alien Dingen dieser Erde waltet. Die
Tragodie gikt ikrem Helden, dem Indmduum, die kunstlicke Wurde ;
sie mackt ikn zum Halkgott und kekt ikn uker die kurgerlicken Ver~
kaltnisse kinaus. Wenn sie sick von dieser untewufca, aker not-
wendigen Tradition nur einen kalken Sckritt entfernt, so gerat sie in
den Bereick der KomSdie: wie nake kommt dieser sckon ein Stuck wie
„Hamlet" — aker Hamlet selbst ist nock ein KSnig und ein Held
wenr auck ein solcker, an dessen Sukstanz die Ironie der Verkaitmsse
und die Selkstironie sckon zekren wie die Straklen der Sonne an einem
Sckneemann; und ein kurgerlickes Trauerspiel ist vollends ein Unding,
denn die kurgerlicke Welt ist die Welt des sozial Bedingten und die
Tragodie entfaltet sick am sozial Unkedingten. Aker die wirklicke
Komodie setzt ihre Individuen in ein tausendfack verkakeltes Verkalt-
nis zur Welt, sie setzt alles in ein Verkaltni 3 zu allem und damit alles
m ein Verkaltnis der Ironie. Ganz so verfakrt der Krieg, der uker
uns alle gekommen ist, und dem wir kis keute nickt entkommen sind,
]a v ie lleickt nock zwanzig Jakre nickt entkommen werden. Er setzt
alles in ein Verkaltnis zu allem, das sckeinkar Grotfe zum sckeinkar
Klemen, das sckeinkar Bedingende zu einem Neuen uker ikm, von dem
es wiederkedingt wird, das Heroiscke zum Meckaniscken, das Patketiscke
zum Finanziellen und so fort okne Ende. Zuerst, als der Krieg an-
fing, wurde der Held vom Sckanzarkeiter ironisiert, der, welcker auf-
recktsteken kleiken und angreifen wollte, von dem, der erne Sckaufel
katte und \sick eingruk ; zugleick wurde das Individuum kis zur Ver-
nicktung seines Selbstgefukles ironisiert von der Masse, ja nickt nur das
Individuum, auck die organisierte vMasse, das Batadlon, das Regiment,
das Korps von der immer grotferen und formloseren Masse; dann aker
dock auck wieder die ganze kampfende Masse, dieser Furckt einflo£ende
und klaglicke Riese, von einem Etwas, von dem sie sick regiert fuklte,
weitergestotfen fuklte, uad fur das es sckwer ist, einen Naraen zu finden,
nennen wir es den Geist der Nationen. Aker es kam der Moment.
wo diese eelker, die zur Einkeit symkolisierten ungekeuren Massen, ironi-
464
fiiert wurden von der momentanen Allmackt einzelner lndividuen, welche
irgendwie die Hand an den Zugen und Sckrauben katten, mit denen
dieses ungeruge Ganze iur den Augenklick regiert werden konnte. lm
gleicken Augenklick aber standen auck sckon diese selker unter sicn
kreuzenden Strome der starksten, zersetzendsten Ironie : Ironie ass
Kontrastes der grotfen idealen Zusamraenfassungen, die sie lm Mund
fukrten, gegenuker dem Wust von eigensinnigen ReaKtaten, mit denen
sie zu rmgen natten ; Ironie des A^erkzeuges gegen die Hand, die das
Werkzeug zu fukren glaubt. Ironie des tausendfacken in der Wirk-
lickkeit begrundeten Details gegen die vorscknelle und bewutft unwakre
Syntkese. Zugleicb aber kam der Moment, wo innerkalb dieser riesigen
Gesamtbeiten der Begriff der Nation ironisiert wurde durck deu Be-
griff der sozialen Klasse. Ea kam der Moment der Kokle und des
Koklenarkeiters, dieses ganze Geruge aus sckeinkar Geistigem, kinter dem
sick die Materie versteckt, und sckeinbar Matenellem, in das der Geist
eingekerkert ist und das wir europaiscke Zivilisation nennen, wurde
ironisiert von einer einzigen Materie, dem in miner alischer Form auf-
gespeickerten Sonnenlickt, und alle sozialen Klassen und sogar die Ar—
beiterklasse wieder ironisiert von einer kestimmten Akteilung dieser
Klasse : den Koklenarbeitern, die zu dieser Materie, von der alle3 ab—
kangt, in einem Verkaltnis steken, dem wiederum eine ungekeure Ironie
innewoknt; denn sie werden von eken jener Materie, uber die sie die
unmittelbare Verfugung kaben, in einem Verkaltnis gekalten, das einer
Sklaverei nickt unaknlick ist. Im Kampf aker um die Seele des Koklen-
arbeiters, der auf einmal der Herr der Lage geworden war, ironisierten
sick bis zum au^ersten die sozialen und nationalen Scklagworte, ja da
er mekr als ein anderer Arkeiter an eme Landsckaft gekunden ist, so
ironisierten sick in dem Kampf um lkn sogar auck jene groi?ten Uker-
mackte, deren weckselseitige Irome durck all dies Gesckeken kin zeit—
weise auf blitzt : die Geograpkie und die Gesckickte. Es wurde en a lick
zu einer unersckopflicken Quelle der Ironie der Umstana, dais in den
kesiegten Landern, das ist nakezu in kalb Europa, das Geld semen \Vert
verloren kat gegenuber der Ware, auck der kesckeidensten Ware, dem
Stuck Brot oder dem Meter Lain w and ; dab man fur die damomscke
Substanz, fur die man bkndlings alles kerzugeben gewoknt war, well
man mit lkr alles kaufen konnte, jetzt eigentkck nickts mekr kaufen
kann; da# man fur weite Landerstrecken zum Tausckkandel zuruckge-
kekrt ist, und da(? im Zusammenkange dieser Veranderungen das Privi-
legiutn der geistigen Arbeit ganz versckwunden ist und ein Gymnasial-
465
direktor ungefakr so kezaklt wird wie ein Marktkelfer, ein Staatssekre-
tar etwas niednger ale an Chauffeur.
Mit .all dem kefinden wir una ganz und gar im Element der
Jtvomodie — Oder vielmekr in einem Element so allsatiger Ironie, wie
keine Komodie der AA^elt es aufweist, es sei denn die Komodie des
Aristophanes, und auck diese xst wakrend eines fur die Vaterstadt des
Dickters kockst ungluckKcken, lkr Sckicksal kcsiegelnden Krieges ent-
standen. Dal? es aber die Unterliegenden Bind, denen diese iron 15 eke
Maickt des Gesckekens aufgekt, ist ja ganz klar. Wcr an das bittere
Ende einer Sacke gelangt ist* dem fallt die Binde von den Augen, er
gewinnt emen klar en Geist und kommt kinter die Dinge, beinake -wie
ein Gestorbener.
Fur alle diese Dmge waren die Dicbter empfindkeb, die vor kundert
Jakren da waren, und ganz naturkek, sie katten die franzosiscke Um-
walzung und die napoleoniscke Zeit durckleben mussen, so wie wir diese
jetzigen Krisen durckzuleben kaben. Darum mackten sie aus der Ironie
an Grundelement lkres Lekens und lkrer Kunstgesinnung und nannten
sie die „romantiscke Ironie . Ste kielten es fur unreckt, wenn man sick
2u tief in den Sckmerz versenkte, und sie meinten, daf? man, urn einen
Gegenstand ganz zu Keben, auck das Lackerlicke an diesem Gegenstand
zvl seken wissen musse. Sie verlangtcn, man solle das ganze Leben wie
cine ,,sckone gemaliscke Xausckung , wie ein „kerrkckes Sckauspiel* be—
trackten, und wer anders verfakre, dem fekle der Sinn fur das Welt-
all. Sie erkoken sick aus emer Epocke, aarin, als der groI?e Sturm
voruber war, sick wie in der unseren das Bittere mit dem Sckalen
misckte, zu einer so grolZen inneren Freikeit, dal? sie uns fast wie Trunken—
keit ersckemen konnte. fleute 1st uns diese V erfassung begreiflicker als
sie lrgendeiner der dazwiscken kegenden Generationen sein konnte, und
mit nackdenklickem Staunen lesen wir die AA^orte, die sie mit einem
feurigen Federzug an das finstere, sternenlose rliromelsgewolbe gesckneben
kaben : ,.Denn der rlerr 1st der Geist. \Vo aber der Geist der Herr
1st, da 1st die Freikeit/
466
CARL STERNHEIM FAIRFAX.
III.
London, wahrend achttagigen Aufenthalts war den Fairfax
Qual. Von nichts als den Bodies horte man spreehen, und nicht*
kam sonst in Betraeht. Was man iiber sie erreicht und von ihnen
zu fiirchten habe. Alle Zeitungen strotzten von deutschen Brocken,
in allem Gedruckten und Illustriertem las man deutsche „AA^elt-
auffassung" und ,.Kultur"\
Vom Morgen zum Abend gab es nicnts als Kurse im Deutschen
fur Anfanger und Fortgeschrittene. Marx, Nietzsche und Einstein
lernte man auswendig, dudelte Bach, Wagner und Mahler, und es
schien, die siegreiche Nation, die seit Shakesspeare geistig geruht
hatte, wollte sich an Hand des inzwischen vom Besiegten glorreich
Geleisteten zur Hohe der Zeit aufrichten.
Fairfax, der mindestens gchofft hatte, sich an einem Elementar
englischem Vorschmack toller Geniisse auf dem Kontinent zu ver-
schaffen, wurde schwer enttauscht. Strikt zerfiel das Land nur
in North cliff e, das heift den aus Hai? gegen den Boche Existierenden
oder die aus Respekt vor der grotfen deutschen Unbekannten
Zitternden und Zagenden.
Vor so parasitarer Einstellung, die nichts Positives leistete
sondern passiv nur des Geschlagenen Geist erlitt, entsetzte sich
Fairfax, und als ihn auf einem Kokottenball, den er zur Zer~
schmetterung argster Langeweile schleunigst angesetzt hatte, die
ertraglichste der sich anbietenden Huldinnen. Witwe eines eng-
lischen Kapitans und selbst Schottin von Geburt mit deutschen
Worten : „N a Kleiner, was kannst du leisten?*\ ansprach, hatte er
von Old England um so mehr genug, als Daisy erklarte, gentlemen
bis in die Hofgesellschaft reichten, von allem andern abgesehen,
geistig ihrem Sioux nicht das Wasser. Man ware schon am
funften Abend abgereist, hatte Rullah die alteste und ausgiebigste
der Indianermadchen nicht ein Karbunkel am linken Bein gehabt,
das die Abreise unmoglich machte.
So kam es noch zur Begegnung Fairfax mit dem britischen
Finanzminister, der im Auftrag seiner Regierung Fairfax offiziell
begriitfte und ihm die Vereinigten Konigreiche endgiltig verleidete.
Der Minister holte ihn aus, was er iiber neue Kredite Eng-
lands in den Vereinigten Staaten denke, und was die Ansicht der
467
Banquiers von Wall Street sei. Purpurrot vor Zorn stotterte
Fairfax, er kiimmere sicb den Teufel um Wall Street, wie es
aber moglicb sei, daf? England iiberhaupt diesen abermaligen Kredit
gebraucbe, statt seine bausboben Scbulden endlicb zu zablen.
Sieger in grotfen Kriegen pflegten wie Japan und Amerika in Gold
zu scbwimmen, und wer kein Geld babe, sei im allgemeinen und
im besonderen, gleicb wie er selbst sicb nenne, ein gescblagener
Mann. Er setze sein Geld dabin, wo etwas los sei, babe sicb aber
uberzeugt, England besitze an Irland und Indien zwei Hypotbeken,
fur die es die Zinsen nicbt aufbringe und lebe im iibrigen von
Frankreicbs Cbauvinismus, Belgiens Martyrergeste, Amerikas wirk-
licbem Unternebmertum und deutscben Metboden auf Pump.
Pleiteres als England konne er sicb nicbt vorstellen, und was ibn
personlicb anginge, natiirlicb keinen Scbilling!
Aucb die Einladung zum Konig Georg nabm er nicbt mebr
an, weil er eine Falle fiircbtete, in der ihm der Monarcb selbst
nocb die Summe abknopfen wollte; liel? alle Agenten, Makler,
Manager abweisen und aucb Rosentbal Brotbers nicbt vor, die
ibn im letzten Augenblick mit dem Angebot einer in Spiritus gut
erbaltenen autbentiscben Feblgeburt der jungfraulichen Konigin
Elisabeth von England locken wollten.
Nein, er batte genug von diesem Land nicbtgargekochter
Roastbeefs und unverdaulicben Porterbiers, in dem sicb Daisy aus
Verzweiflung uber ewigen Londoner Nebel, Tee und das boden-
lose dekollette britiscbe Greisinnen zutn erstenmal in ibrem Leben
bis zur Bewul?tlosigkeit besofifen batte.
Fur ibn batte England im KriegfaulsteBilanzgemacbt. Er, Fair-
fax, verstand sicb auf des Lebens Untertone und borte uber frob-
licbe Gassenbauer klagliches Miauen eines Katzenjammers beraus.
Beim Ruckflug an die Kiiste sab er vom Flugzeug aus alle Scborn-
steine des Landes mit scbwarzen Trauerfloren verbangt, und aller
Qualm qualmte klaglich seitwarts.
„Ausgepumpt ist die Rasse, nicbt mebr entwicklungsfabig und
ibr feblt Humor Autferordentlicbem gegeniiber" sagte er zu Daisy,
die bedeutend nickte. „Sie sterben an engliscben Grundsatzen
und ibre Sucbt, zu unifizieren, konsolidieren. Etwas kann bier
wie Krieg, Umsturz, Bolscbewismus so originell wie moglicb sein,
zum Scbluf? wird alles engliscb fad. Und kamen sie nacb Ceylon,
wo in Tropensonne Betonblocke bliiben und ausscblagen, der
468
Englander bliebe in Erstarrung unbewegt. Icb, der icb micb so
auf die ersten wascbecbten Bolscbewiken als Gegenspieler der
Zukunft gefreut batte. konnte sie in London von Konservativen
nicbt unterscbeiden. So vernunftig und gescbaftlicb spracbcn sie.
Aucb unter ibnen wiirde es in Grotfbritannien keine Carte blancbe
geben, mit der die grotfen Veranderungen und Gescbafte allein
moglicb sind, sonde rn nur ibre verwunscbte Korrektbeit, an der
der irgendwie unternebmungslustige Mann krepiert."
„Der Manager des Hotels bat aucb ubelgenommen, daf? unsere
Indian er sieb in den Zimmern auf ibre Weise iiber Sammt und
Seide geben lietfen. Es war nicbt genug, dai? wir alles Zerstorte
und nur Bescbmutzte reicblicb zablten. Er soil geaul?ert baben,
es sei im Ganzen eine Scbweinerei,*" sagte Daisy. „Keinen Sinn
fur Nuance,'" faucbte Fairfax. „Totes Volk ! Von mir aus keinen
Cent mebr." „Aber das Embryo der Jun'gfraukonigin fiir zwei
Millionen Pfund battest Du nebmen sollen." „Seit wann ist
London Markt fur so ausgefallene Sacben ?" sagte Fairfax. Und gibt
es ein notoriscbes von ibr. giebt es in Frankreicb, wo man Sinn
fiir so etwas bat, bestimmt das Zweite. Und das kaufe icb fiir
franzosiscbe Franken um die Halfte billiger."
,,Stimmt r scblof? Daisy.
bernhard bruno DIE NACHRICHTENBUROS
Die Existenzberecbtigung der Zeitung ist die Nacbncbt. Die Zeitung
bat nicbt zu entscbeiden, ob Einsteins Tbeorien ricbtig smd, nicbt, ob
Kokoscbka ein groJ?er Maler ist. Aufgabe der Zeitung ist: Zu in-
rormieren, nicbt zu werten.
Jene Presse wird die reinste son, die am Saubersten i inrormiert.
Das kanri die grol?e, reicbe Tageszeitung durcb em Netz eigener Korre-
spondenten. Oder sie ktnnte das wenigstens bis vor dem Knege. Heute
konnen keine runr deutscben Zeitungen sicb den Luxus eigener Bericbt-
erstatter in New- York, London, Paris, leisten. Versucbe, die Zeitungen
zur Ausstellung gemeinsamer Korrespondenten zu bewegen. scbeiterten an
dem Eigen - Sinn der Verleger. ^Vober ater sollen die mittleren und
kleineren Zeitungen ibre Nacbricbten nebmen? Nun, wird der gerade
Denkende meinen, aus gemeinsam, d. b. genossenscbaftlicb organisierten
Nacbricbtenburos. So baben sicb in Amerika Hunderte von Zeitungen
zur Associted Preu zusammengescblossen. Sie tragen gemeinsam die
Kosten einer weltumspannendenBericbterstattung. Das ist klar, einf acb, gesund.
469'
Wie erkalt die deutscke Zeitung ikre Nackrickten? Erstens durca
<las Wolffkuro. Im Kriege kat der inzwiscken verstorkene Redakteur
der ,,Vossiscken Zeitung" Rudolf Rotkeit eine ganz vorzuglicke Sckriit
kerausgegeken, in der er Acn aksurden Zustand aus dem Dunkel ril?, dal?
das deutscke kalk- oder ganzamtlicke Nackricktenkuro einer prrva L en
Gesellsckaft mit engKsckem Namen und unter englisckem Einflutf gekorte.
Durck das offizielle Wolff-Biiro sprack oft genug Baron Reuter aus
London. In der jungsten Zeit kat Professor Otto Joklinger in seinem
sekr lesenswerten Bucke gegen das Wolff buro , den Vorwurf erkoben,
-es sti von Bleickroder nickt ganz unakkangig. Daraus entstand ein
ProzeR der aker, so ricktig die Beweisfunrung im kellen Lickt gewesen
-ware, auf den weniger kellen Weg des Sckiedsgenckts gesckoken wurde.
Es ware kuksck, es -ware notwendig, wenn man Einiges uber diese
interessante Auseinandersetzung korte. Versucke, der deutscken Zeitungs-
verleger, sick ein gemeinsames, durcksicktiges Nackricktenkuro zu sckaffen,
smd gesckeitert.
Die deutscken Zeitungen sind allesamt bis in die erste Zeit nack
■<lem Kriege viel zu killig und dabei viel zu volummos gewesen. Wir
taken auck viel zu viel Zeitungen gekakt. In einer Stadt wie Muncken
ersckeinen ackt verscbiedene Tageszeitungen, derselbe Nackncktenkaufen
wird acktmal, mit versckiedenen Saucen, serviert. In kleineren Stadten
war das Mif?verkaltms oft nock grotesker. v/ie konnten sick all diese
Blatter und Blattcken erkalten ? Ikre Nacknckten bezogen diese
Zeitungen aus der amtKcken ^A^olffquelle, aus dem Nackricktenkuro der
Telefrarenunion und des Dammertverlages. Weder die Telegrafenunion
nock Dammcrt konnten sick aus den A.konnements der mnen ange—
ecklossenen Zeitungen erkalten. Die Provinzpresse lieu sick ikre keiden
iNackncktenquellen—Buros von inter easier ten Leuten soutenieren, und sie
eelbst profitierte davon. Lekte ein starkerer Sinn fur Saukerkeit in der
deutscken Presse — die groi?en Zeitungen sind von dieser Betracktung
auszusckkessen — so 'ware das gemeinsame Nackricktenkuro langst ge~
eckarren. Unsere Provinzzeitungen knauserten und knauserten, von lkren
A-konnements konnte weder die Telegrafen-Union nock Daramert
existieren. Inskesondere Dammert kat in der weeks elreicken Gesckickte
.seines Buros viele Millionen, natiirKck fremden Geldes, zugekuttert.
Ursprungkck war es Herr Batsckari, der aus seinen Zigaretten den
Dammert- Verlag uker ^A^asser kielt. Der Spai? wurde ikm allmaklick
zu teuer. Dammert, dem eine pkantastiscke Grotfzugigkeit nickt akzu^
sprecken ist, stand vor einer Krise. Sckon damals kat er eine Asso-
470
ziierung mit der Tele graf en-Union bescblossen, d. L die Telegraphen-
Union ist sozusagen aus dem zusammengesturzten Gebalk des Dammert-
scben Kartenbauses entstanden. Im Krieg scbuf er den Dammertverlag;
der damals in der Hauptsacbe da von lebte, dal? die verscbiedenen Armee-
zeitungen, Aie unseren Soldaten das Durcbbalten beibringen sollten, von
inm das notige Material erbielten. Er selbst ging ans „Bukarester
Tageblatt", das infolge seiner monopolistiscben Stellung Gelder scberrelte.
Gelder, mit denen zum Xeil das von Berlin gelieferte Dammertmatenal
reicn bezablt wurde. Spater erbielt Dammert sebr stattliche Abnn-
dungssummen aus Vertragen, uber die beute nicbt gesprocben werden
soil. Aucb dieses Geld war bald vertan. Man soil ubrigens nicbt
glauben, datf Dr. Dammert sicb auf bestimmte Gesinnungen festgelegt
natte. Sein Biiro gab drei Ausgaben keraus :
A. Ausgaben fur Zeitungen der deutscben V olkspartei,
B. Ausgabe fur demekratiscbe Zeitungen,
C. Ausgabe fur parteilose Zeitungen (Generalanzeiger)
Der einzelne Redakteur oder Mitarbeiter scbrieb, seiner Gesinnung
entsprecbend, fur eine der drei Ausgaben. Aber im Kopre Dammerts
vereinigten sicb die drei Ricbtungen, vor lbm batte die Partei des
Herrn Stinnes gerade soviel Existenzberecbtigung wie die des rlerrn
Kocb oder des Dr. Sudekum. Ibm war nicbts Menscblicbes fremd.
Er betrieb seine Nacbricbten-Meinungsfabriken nacb sebr niicbternen
Erwagungen, politiscbe Prinzipien baben lbn mcbt sebr bescbwert.
Leider feblten seiner pbantastiscben Natur die recknenscben Gaben.
Er stand bald wieder vor einer Krise. Nun erbielt er Gelder von
Otbmar Straufi, im ganzen wieder einige Millionen, obne daJ? der Spaf?
sicb auf die Dauer fur den Souteneur lobnte. Allmanlicb wurde das
Vergnugen zu kostspielig, er w r ollte kerne weitere Million riskieren.
Die alte Dammertscbe Idee der Fusion mit der Telegraf en-Union lebte
wieder auf, aber die Telegrafen-Union wollte Dammert nur als Journa-
listen, nicbt als kommerzielle Kraft verwerten. Kein ganz unbegreif-
licber ^A^unscb. Da ging Dammert Lin, verscbaffte sicb wiederum von
irgendwo Geld und griindete ein neues Unternebmen. Aucb dieses
wird nicbt allein von den Abonnements der Zeitungen leben, sondern
von irgend welcben Zuscbussen, Und dieser saubere Zustand wird
bleiben, solange die Zeitungen sicb nicbt zu genossenscbaftlicber Aktion
vereinigen und solange der Staat dem Presseproblem vorsicbtig und
ieige ausweicbt.
471
AUS DEM TAGE-BUCH
KARL DER PL5TZL1CHE
JcK babe Karl den Plotzlicben einmal
ganz aus der Nate gesehen — ,,a cat may
lock at a king".
Es war im Herbst 1917, als Gorz
wiedererobert worden war. In der ver-
nichteten scbonen Stadt liefen fette Ratten
herum, an Aas gesattigt. Der Kaiser, auf
einem grotfen Pferd, ritt auf den Haupt-
platz, um den die scbwarzen Ruinen
melancboliscb herum stand en.
Man batte die loyale Zivilbevolkerung
von Gorz versammelt: eine alte, dicke
Italienerin und zwei Nonnen, eine lange
und eine kurze. Die Italienerin scbrie :
,,Viva 1* imperatore, e tomato il paradiso!**
„Der Kaiser bat uns das Paradies wieder-
gebracnt ! Die lange Nonne schwieg ver-
ziickt; die kurze drangte sicb an das kaiser-
licbe Pferd beran, begann ebrlicb zu
sctlucHzen : ,,Ma]estat, bitte, Ma] est at, kann
icb nicbt irgend etwas fur Sie tun? Icb
mocnte gern fur Sie sterben, Majestat!
Der junge Menscb saf? auf seinem Pferd,
furcbtbar verlegen, und aagte immerzu :
„Danke vielmals! Danke vi el mala!"
Truppen defilierten, fette Ratten buscbten
iiber den Weg, die blutigen Ruinen
stanken. Der Kaiser verbeugte sicb: M Danke
t i e 1 mals !
*
Mir fallt die Geschichte wieder ein,
weil sie mir manches begreiflich xnacbt.
1st es ein Wunder, wenn ein junger Mann,
den absurde Verhaltnisse einmal so eine
Rolle spielen liei?en, alles fiir moglich bait.
aucb, daf? das Paradies sogleicb wieder—
kommt, wenn er sicb nur buldreicb auf
ein grotfes Pferd setzt ? Hysterische alte
Weiber obne Unterscbied des Gescblecbts,
die fiir einen leidlicb gewachsenen Fursten
sterben mochten, oder es sagen, mag e»
immer nocb geben — nur die fungen
Manner, die im Ernst fur ibn sterben, sind
rar geworden, selbst in Ungarn. Vielleicbt
bat Karl von Habsburg das in den letzten
Tagen begriffen ; und steigt von dem boben
Pferd, unter dessen Hufe sicb durcnau»
niemand mebr legen will. Aber hat er
es denn begriffen?
Arnold HoDriegeh
REKLAME AL FRESKO
^A^ieviel ist nicbt scbon *geschrieben
worden iiber die Vorteile der Reklame.
Sie ist das Allbeilmittel des Warenabsatzes,
die Burgscbaft des Erfolgs, und in jc zahl-
reicberen Dezimetern die Riesenlettern einer
Reklamescbrift an diesen oder jenen Orten
prangen, um so grotfer ist die Gewinnquote
am Scblusse der Recbnung. Aber die Me-
daille bat aucb eine Kehrseite.
Hammere dem Verbraucber den Namen
D einer Ware nur sattsam ins Bewutftsein
und er ist Dein .... der arme Ver-
braucber ! Es hammert in sein BewuUt-
sein von friib bis spat. Er kann nicbt
sein Haus verlassen, obne datf ibm, an
unmoglicher Stelle befestigt, ein Reklame-
evangelium sein unerwunschtes Gott-zum-
Gruf? entgegenblokt, Auf seinen Wegen
und Fabrten durcb die Stadt lauert ihm
472
-von jedem Quadratmeter freien Mauer-
werks ein hunter Chorus lautesterReklame-
schlagworte auf. Es starrt ihn an, ea
achreit ihm zu, ea trommelt auf ihn ein,
und sehr wanracheinlich ist es ein gestern
gehorener und morgen begrabener ^A/aren-
name, der wieder einmal auareichend in
aein Bcwufftaein eingeharamert werden soil.
Des Menschen Geiat ist aufnanmefahig
und wie leicht doch tritt sein Gedachtnia
in Funktion. So verauchts nurl wie lange
genta und dea Verbrauchera Him weii? es
auswendig, dal? O-P-Q der beate Bims-
stein und R-S-T ala Schuhachmiermittel
nie — — aher auch gar nie mehr uber-
troffen werden kann. Erzahlt ihm in Sachen
Nervenaufpapplung auf aechs Q ua drat met era
von U-V-W und siehe, schon greift er
zur Borse, und nur acht Tage lang braucht
ihr ihn von einer Hauserwand herab mit
ein em horriblen Haarwucha-X-Y-Z aniu-
achreien und er iat behcxt, betort, bezaubert
und wahllos rollt ihm das Geld aua den
Handen, Euch zu.
Aber so automatisch wie aic diea farben-
scligc Meer von Riesenplakaten in jeder
einzelnen Namensschrift aua wen dig lernen
soil, so automatiach sorgt, gequait und ge-
schunden, die Seele des Verbrauchera fur
ihren Selbstschutz. Sie streikt. "vVird dick-
hautig wie ein Vorsundflutler in seiner
XJrwaldsruhe. Sie hort und sieht nichts
mehr. Sie nimmt nichts mehr in sich auf
wie cine vollgepfropfte Grammophonplatte
and bleibt unzuganglich wie eine Behdrde,
wenn die Uhr Tischzeit geachlagen hat.
Es ist wabr, daff der Kaufmann die
Reklame nicht entbebren kann. Es ist
richtig, daf? auch Plakatreklamen Niitzlich-
keiten. haben. Mag ein Handelseifriger
auch einmal eine tote Hauswand zu seinen
Zweclcen uberpinseln. Aber weniger ware
weit, weit mekr. Die Amerikanisierung
der Plakatreklame, wie sie das Gesicht
unaerer Grotfstadte verzerrt und halbe
Stratfenfluchten in wirrcste Freskogemalde
wandelt, raubt dem Verbraucher die Atcm-
freiheit, schuchtert ihn ein. Seine Seele
hort nichts mehr, sic streikt, und un-
fruchtbar wird der Acker, aua dem die
groffen Reklameerfolge erbliihen sollen
Gedachtnis und Aufnahmewille des Vcr-
brauchers. Oslear BUhg.
VOM GROSSENWAHN
DER RICHTER
In Hannover hatte ein Geheimrat bet
der Auffiihrung der „Pfarrhaua-K.omodie\
so viel Radau gemacht, dafi er wegen
Hausfriedensbruch belangt wurde. Der
angeklagte Geheimrat wurde von dem
prozetfftihrenden Amtsgerichtsrat Stumpf
freigesprochen, weil ,.gegenuber Schund-
und sittenlosen Stuck en ein Recht des
PubKkuma auf Selbsthilfe anzuerkennen
sei kk , Der Herr Amtsgerichtsrat Stumpf —
Shakespeare hatte diesen Richter nicht
and era benamsen konnen — ist kein
Relativist, er weif? nicht, dal? es kein
Einxig-Wahres und kein Einzig-Schones
gibt und dal? dem Einen reinea Kunstwerk
scheint, was dem Andern aittenloser Schund
dunkt. Mit dieaem Richterspruch liefie
aich jede Voratellung atoren, er iat eine
richterliche Baaia fur den Radau Jeder
Richtung. Fiir Heinrich Lautensack*
Dichtung konnte man eine Menge Stimmem
anfiihren, die seine Komodie ala Kunstwerk
unbedingt anerkennen, Stimmen, die zu
asthetischem Richterspruch befugter sind
als Herr Stumpf in Hannover. Aher waa
allea braucht ein stumpf er Richter nicht zu
wissen, um mit dem majeatatischen Grotfen-
wahn einer nicht von Zweifeln ange-
krankelten Anmaffung feierliche Urteila-
apriiche von sich zu geben ? Solchen
Rich tern fehlt dss kleinste bischen Demut,
sie fiihlen sich als oberste Instanz auch ia
astetischen Dingen, sie haben nicht das
Bedurfnis, an die eigene Brust oder Stirn
zu klopfen, und sich selbst zu fragen *
Wiekomme ich, Herr Stumpf in Hannover,
in Gerichtsakten ergraut, in Protokollen
vcrdumpft, dazu, iiber das Werk eines
473
Kiinstlers eo selbetsicber xu urteilen? Diese
von Selbstsicberbeit erfullten Ricbterseelen
vergessen : Hinter jeder Hose steckt ein
nackter Popo und aucb unter der scbwanen
Toga dcs Amtsgericbterates schlottert nur
ein bescbeidener, menecblicber. allzu-
menscblicber Hcrr Stumpf aua Hannover.
DER KOHNSTE FILMDARSTELLER
"Wie viele Tausende nab en scbon fur
Harry Piel gezittert, wcnn er auf der Lein-
wand seine balsbrecberiscben Kiinste vor-
gefubrt werden. Er ist aber vielleicht
docb nicnt der todesmutigc Springer, sondern
eter der tiicbtige Anwerber furcbtloeer
Artist en. Wenigstens lese ich in einer
Zeits'cbrift, die zu ibrer Recbtfertigung
den Titel „Filmbolle*' fiibrt, cine Anklage,
aufregender noch als alle Harry-Piel-
Dramcn :
Harry Piel nennt aicb Sensations-
d are teller. Er liebt also Sensationen. Als
da eind: Todeasprunge, Todesfabrten. Nur
mit einer winzigen Einschrankung aller-
dings: er selbst darf sie nicht auefiibren.
Denn er kennt keine Furcht — der and era . .
Er heimet nur Rubm und Geld ein.
.seine Darsteller, die sicb bei eeinen Auf-
nabmen dauernd in Lebensgefabr befinden,
scbont er nicbt. Latft — aus funfzig
gleieb erquicklicben Beispielen — seinen
Operateur bei cinem Scbif f sun ter gang auf
der Ostsee — im Scbiff, bis dem Ungliick-
licben das Wasser iiber den Kopf und
Kurbelkaaten acblagt. Der Sensations-
darsteller Harry Piel stebt seelenrubig auf
ein em Dampfer und siebt mit seinen
Freunden seinem um Hilfe kreiscbenden
Darsteller und seinem rasenden Operateur
zu. ,,Weiterdreben!" ruft der Sensations-
clarsteller vom sicberen Port, bis. er sicb
endlicb entscblietfi,' die fast ertrinkenden
Manner durcb ein Boot aus der Ostsee
bolen zu lassen. Harry Piel koramt es
auf ein Lebewesen mebr oder weniger
nicbt an. Er latft — wieder nur ein
Beispiel von vielen — bei der Aufnabme
seines Films ,,Die Millionenmine" ein Pferd
mit einemReiter an einen. auf steigendenLuft-
ballon binden und mit bewundernswerter
Gemiitarube kurbeln, wie dem ungliick-
licben Tier in der Luft das Riickgrat
bricbt, wie sein Darsteller oben auf einenx
sterbenden Pferde erwartet, datf er in die
Tiefe stiirzen muf?. Der Sensations-
dareteller Harry Piel latft bei einer Auf-
nabme von der Mittenwalder EisenbaKn
ein Pferd; das er auf den Sebienen an-
bindet, totfabren.
Seine Mitwirkenden, die dank seiner
Spielleitung regelmatfig mit Verletzungen
und sebweren peraonlicben Krankungen
ohne irgendwelcben oder nur ganz gering-
fiigigen Scbadenersatz ibr Engagement ver-
lassen miissen, baben sicb jetzt endlicb an
ibre Gewerkscbaft gewandt und um einen
beaseren Scbutz gegen die unvernttnftige,
lebensgefabrlicbe Rfigie gebeten. Zunacbst
ist gegen Piel Strafantrag wegen Korper-
verletzung erstattet word en. Aber er, der
todesmutige Sensationsdarsteller, der nur
balabrecberiscbe Dinge von seinen Leuten
verlangt, lafit bei jeder aucb nocb so ein-
facben ., Sensations"- Aufnabme einen \r-
tisten in seiner Maske einspringen. Herr
Harry Piel beliigt sein Publikum, wenn er
ibm weismacben will, datf er „Sensations-
darsteller" ist. Fur ibn fuhren stets der
19 Jabre alte Artist und Scblangenmenscb
Hermann Stetza oder der Scbleifenfabrer
Corell in seiner Maske alle aebwierigen
Tricks aus. In dem Film ,,Veracbter dee
Todes" wird der von Publikum und
Presse mit Recbt so viel geriibmte Seiltanz
mit dem scbreienden Kinde zwiscben zwei
ricbtigen Hausmauern in Dacbbobe von
Stetza in Piel-Kostum ausgefubrt. Nur
das kleine Kind, das der Piel-Eraatz auf
dem lebensgefabrlicbcn Wcge mit sicb
scbleppt, ist das Tocnterlein des . . . Sen-
sationsdarsteller a Harry Piel, weil keine
anderen Eltern fur diese Produktion ibr
Kind bergeben wollten.
474
MELO-POESIE
Der vortreffliche, niitzliche, eeelen-
konfliktebeaeitigende Apparat fur Lcutc, die
an wahrnehmbaren Verdauungsatorungen
leiden, ist im„Tagebuch"(Heft Nr. 8) nach
GeDiihr geprieaen worden. Das hat nun
dero ,,Tagebuch kt eine Fiille von Dank-
scbreiben eingetragen. In Heilbronn am
Neckar wurde Einer sogar poetiscb und
veroffentlichte in der ausgezeichneten
^Sonntagazeitung", die Dr. E. Schairer
leitet, diese erscbutternde Mela-Ballade :
Mai -win a, Graf in Bums auf Knalldorf, aprach:
Ich lei Je gropes Weh und Ungemach . .. .
Geb, Roaamunde, lauf, du gute Seel* — oh!
Und bole mir bei Mullers einen Melo.
Bei Mullers war ein flotter Jiingeling,
Zu welchem Rosamundcben gerne ging.
Sie ging um vier und kam zuriick urn
acbte —
Und kriegte eine Scbelle, dafi es krachte.
Inzwiachen namlich batte sich dem Schloi?
Ein edler Graf genabt mit seinero Trofi,
Voll edlen Anstanda trat er zu Malwinen
Und eprach : Mein Fraulein — ah — ich
liebe Ibnen.
Sie sprang erfreut von ihrem Stuhl etnpor ™
Da Hangen Tone an sein graflich Ohr,
Die sie mit Husten und mit bleicbem Lacheln
Vergeblich sucbte von ihm fortzufacheln.
Der edle Graf war ganzlich konsterniert
Und bat sich allerschnellstens retiriert :
Er ritt davon und ritt bis Jokohama . . .
So endete Malwinens Melodrama!
BtJCHER
Joachim Kuhn: Napoleon. Ull-
steinverlag 1920.
Das alte Ullsteinbuch iet gestorben.
Skowronnek, Stratz, Bloem, die Dicbter
fiir das Eisenbahncoupe", haben fast aus-
dichtet. Sie gehbrten zum wilhelminischen
Zeitalter. Letzte Saule dea Ullateinbuchest
Ludwig vv olff, aber das ist aehr verwasser-
ter AVassermann, ohne die gewinnende naive
Heiterkeit der Zobeltitze, Wolff hat nicht
mehr die schone Sendungssicherheit der
alten UHsteindichter, er verfertigt seine
Sachen mit penetranter Klugbeit an, wobei
ich das Penetrante deutlicher empfinde ala die
Klugheit. Aber Ullatein bat den Abend
des liebenswiirdigen Zobeltitztums erkannt
und seine groffe organisatorische Macht auf
ein anderes Gehiet verlegt. Ich xneine die
ganz ausgezeichnete Sammlung„M enschen^
in der Paul Wieglers schoner „Wallen-
stein 1 ', mein „Lassalle"' und nun dieses
ausgezeichnete Napoleonbuch des jungen
Historikers Joachim Kuhn erschienen ist*
Ea sind Lebensgeachicbten, aus Briefen*
Dokumenten, Zeitdarstellungen zusammen-
gestellt. Kiihn hat, das ungeheure Material
uberschauend, aus diesen Mosaiken eine,
vielleicht sogar die beste deutscbe Napoleon-
biographic hergestellt,
FILM
DER MANN OHNE NAMEN
Lange hat es gedauert, aber endlick
haben die Berufenen es begriffen, die
Bineenwahrheit namlich, dafi der Film
nicht Roman, nicht Drama, nicht Psycho-
logies nicht Archaologie iat, weder mit
Flaubert, noch mit der Courths-Mahler
wetteifern darf, sondern dai? er nichts
475
anderes ist, als Handlung in bewegten
Bildern. Br kann kerne seelischen Appetite
still en, er mutf sich darauf beachranken,
nur Augenweide zu sein. Die Welt als
Bild : das ist die Philoaophie der Kinokunst.
Im „Kaiser der Sahara", dem zweiten Teil
der Serie „Der Mann oline Namen", ist
das Filraideal nahezu erreicht : Wechsel
von amiisanten und suggestiven Bildern.
Ein Roman des einfallreichen Erz'ahlers
E. G. Seeliger ist der Vorwand zu einer
Sturzflut von fantastischen Einf alien. Harry
Licdtke entsteigt als hum orv oiler Millionen-
dieb einer Kiste, klettert iiber das Takel-
werk des Ozeandampfers, macht Salto-
rnortalee von Steilufern, nahert si ch als
Kellner der Geliebten, tauscht seine Pa-
piere mit einem wirklichen Verbrecher,
drebt als Strafling Tiiten und neckt die
Psychiater. Man freut sich der Korper-
kraft, der Grazie, der guten Laune, der
so ganz unliterarischen Problemlosigkeit.
Die 'Welt offnet sich wieder den valuta-
gekerkten Boche* : Wir sehen Mady
Christians in Scheveningen baden, in
Venedig mit den Tauben kosen, wir jagen
durch die Gassen sudlandischer Felsen-
nester ui»d gleiten im Boot durcb die
Adria. Der eigentliche Sieger des Films
ist der Herr, der fur die Fotografie ver-
antwortlich zeichnet, Frederik Fuglsang,
der nicht in Riidersdorf, sondern in Hol-
land und am Mittelmeer seine Aufnahmen
gewonnen hat. Die Welt im Licht ! —
Die in Nordafrika spielende Fortsetzung
kommt leider nicht ohne kleine Anleihen
bcim psych ologischen Ro man und der
Greuelliteratur aua. Wenige Zeitgenosaen
haben ,,Salambo** gelesen, aber viele haben
sie mitfverstanden. Mady Christiana mutf
part out in den Lbwenzwinger geworfen
und von Harry Liedtkea Muakelkraft ge-
rettet werden. Hier gibt eg Liebe, Eifer-
sucht und derlei Dinge ohne tiefere Be-
deutung (fiir den Film, meir.e ich). Und
man kann die geoffneten Lowenrachen
nicht ernat nehmen, wenn ein Komiker
von Gottes Gnaden, wie Jakok Tiedtke,
der dazu noch in Berlin S. an der Haaen-
heide geboren ist, sich in ein welterlose»-
des Grinaen verwandelt, vor dem Sahara-
Dynasten katzbuckelt und die Hand sum
peeudomilitarischen Grutf an den Iropen-
helm legt. Jeder Zoll ein Parvenu aus
der wilhelminiachen Ara. — Die Auf-
nahmen aus der ^fiiste sind suggestiv wie
Gedichte.
ANEKDOTE
DER FEIND DER KORRUPTION
Willi Handl pflegte zu erz'ihlen:
In Wien lebte ein Journalist, der ein
Montagsblatt berausgab. Um seiner Zeitung
zu Lesern zu verhelfen, wurde Herr Fiirst'
so hiel? der Tapfere, zum unerbittlichen
Korruptionsbekampfer, Die Zeitung muite
an jedem Montag ihre Enthiillung haben,
die sachlichsten Argumente, die mensch-
lichsten Erwagungen prallten an der Ent-
achlossenheit des Herausgebers ab, so lange
zu enthiillen, bis sein Blattchen Beachtung
fand. Wirklich wurden die Nummern,
in denen Irgendjemand geschlachtet war.
eifrig gekauft und gelesen. Ins Haus des
Herrn Fiirst zog Wohlstand ein. Dann
ging dem Enthiiller das Material aus, Frau
Fiirst mutfte sparen. Aber eines Tages
stiirzte Herr Fiirst froh erregt zu seiner
Gattin: ,,Rosa, kauf Dir ein Seidenkleid,
ich weitf was auf wen!"
INHALT DES LETZTEN HEFTEP
(Nr. 14):
St. Gr. : Verfall der Attentater
Leopold Schwarzschild : Die Frankfurter
Finanzzentrale
Otto Ernat Sutter : Messe ist toller Betrieb
Stefan Grotfmann : Wblfling
Carl Sternheirn: Fairfax
Wirtachaftliches Tagebucb
Aus dem Tagebuch.
Redaktion des „Tage-lUich" : Berlin W 35, Potsdamer Stratfe 123 b. Tel: Liitzow 4931
Verantwortlich fiir den redaktionellen Teil : Stefan Grofimann, Cbarlottenburg. Verlag :
Ernst Rowohlt Verlag, BerlinW 35. Potsdamer Stratfe 123b. Druck: R. Abendroth, Rieaa.
476
DER ANBRQCH
6. ovd. Orchester-Kongert
Sonnabend / den \6. April L921 / abends l l i & Clhr
in dor Philharmonic mit dem
Philharmonischen Orchester
D1R1GENT:
OTTO KLGMPeueR
PROGRAMM:
ARNOLD SCHONBERQ:
VEKKLABTE NACHT
(fur groges Streichorcheper?
PELLEAS CIND ME LIS AN DE
SINFON1SCHE DICHTQNQ
*
6. Kammermusikabend
am Mitttt>oeh / den 20. April 1921 / ?*f 2 Clhr abends
in der Singakademie
PROGRAMM:
QTSELLA SELDEN-QOTH Streiehquartett
URAUFFUHRUNG
MAX TRAPP 2.Klauierquartett
PHILIPP JARNACH . . . Streichquintett
ERSTAUFFUHRUNG
AUSFCHRENDEj
MAX TPAPP / BOUTS KROYT / HEINRICH
DROBATSCHEVSKY / ERNA SCHQE?
EWEL STEQMANN / WILHELM THOMAS
Karten bei Bote & Bock und bei Wcrtheim
Erstes Deutsches
Qxistav Mahler-Fcst
Wiesbaden
13> — 25. April 1921,
ueranstaltet uom MAHLERBCIND, Ortsgr. WIESBADEN.
MusikalischeLeitung: CARL SCHCIRICHT.
H^tueite, Dritte, Fimfte Sinfonie
Seehste utid Siebente Sinfonie
„Lied von der Erde".
Au^erdem drei Kammerkoti^crte :
L
Mahler: Lieder
Schnabel: Notturno
Mahler: Lieder
Uudi Stephan: Lieder
TIT.
Rheinische Kammermusik
von Anders / Bagier
Jiirgens / Qnger
Mitunrkende u. a.:
Emilie Latter - Kottlar / Meta Reidel
Sigrid Otiegin / Therese und Artur Schnabel
Louise Wilier usux
Das verstarkte Stadtisdie Orchester.
Vortragj: Karl Holl (Fkft. a. M.)
Rudolf Kastner (Berlin)
Rud, C. Mengelberg (Amsterdam)
Paul Stefan (Wien)
Alle Anfragen wegen BilletbesteLlungen an Kuril aus Wiesbaden, Manler-Fest.
PAPIERFABRIKLAGER
LEO BACKER
BERLIN W 9
POTSDAMER STR. 20
BUTTENPAPIERE
FEINEDRUCKPAPIERE
EINBAND-UNDUMSCHLAG-
PAPIERE, SCHREIBPAPIERE
BUCH- UND VERLAGS - DRUCKEREI
R. ABENDROTH, RIESA/ELBE
WERKDRUCK / KUNSTDRUCK /ZEITSCHRIFTEN
„VERS A" STS
vundHattdels-
KOLNa.Rh.
Qualifatswerkzeuge aller Art
Landwirtschaftliche Gerate
sofort ffeferbar
Telejframm-AdreMe : »V«raa« KSln FernflprecK-Anflchluil A 8668
MQSTERLAQER: HANSARINQ so
OTTO MARKIEWICZ
B AN K G ESC H A F T
Unter den Linden 77 ; ; Ganscmarkt GO
Telegr. : Siegmariui Berlin. Markitto Hamburg. Zentr. 9153/54,5088 925. 8026
Anlemen una Renten
ERSTKLASSIGE MUNDELSICHERE ANLAGEN
Devisen / Akkreaitive / KreditDrieie
UMWECHSLUNG FREMDER GELDARTEN
zu kulanten Bedingungen
Ausfiihrung aller Bank- und Borsentransaktionen
Bereitwillige Auskunft-Erteilung iiber Indu«trie-Papiere
Die deutscken xV^eltkurorte Bohmens
MARIENBAD
FRANZENSBAD
KARLSBAD
Saisonbegmn 1. Mai.
Tadellose Verpflegung. Voller KurtetrieD.
EinreisebewiHigung una Passvisum our en das
tschecnoslowakidche Reise- und verkehrs-
biiro, Berlin W^, Potadamerplat'z 3.
Auakunfte und Proepekte durcL die Stadt. Kurverwaltungen.
Das Tage-Buct / Heft 16 Jalirg. 2 / Berlm, 23. Aprfl 1921
THOMAS WEHRLIN ZUM ERSTEN MAI
Am ersten Mai wird es wakrsckeinlick sckon neue Erpressungske—
setzungen der Franzosen und . . . groi?e. Arbeiterversammlungen der
Soziausten geken. Es ist etwas Ersckutterndes um die Traditionen der
revolutionaren, mter nation alen Arkeiterpartei in Deutsckland. Rings una
Deutsckland ist der revolutionise Illusionismus zusammengekrocken. In
Rutland hat Lenin mcnt nur vor den Bauern kapitukert, er kat so e oen
auck dem freien Handel die Tur geoffnet, morgen oder ukermorgen -ward
die erste Privatbank unter dem Protektorat Lenins das alte Gesckait,
wakrsckeinlick mit engliscker Firma, begin nen. In Frankreick ist ein
alter Kommunard, Krapotkins K-amerad, Jean Grave, ins nationalises eke
Tollkaus akgesckwenkt, una Briands Hausknecktsspracke („ick werde
Deutscnland ana Kragen packen ; nat mcnt eine lekendige Rede des
AVidersprucns ge run den. Dai? der enguscke Generalstreik urter Lloyd
Georges besckworenden \Vorten zusammen brack, eke er kegonnen, zu~
*ammenbrack, nackdem Lloyd George an die nationale Verantwortung
der Gewerkscbaitsrukrer appelkerte, sollte dock dem unentwegten Wieder^
noler des veralteten intern ationalen V okabulanums zu den ken geben.
Sollte! . . . Aker act, die alten Pkrasen werden akgeleiert wie die
Grammopkonplatten, beinake masckinenkaxt, die Melodie lm Kasten kann
mcnt akgeandert werden.
Und dock rukt das kleme Biucken Ho riming in Deutscnland auf
dem Erwacken des n ationalen SckicksalsbewuKtseins aer Arkeiter. Auf
Simons Gespracke mit Amerixanern — von Verkandlnngen kann, leider,
kaum die Rede sem — kann kem nuckterner Deutscb er bauen. Die
Horfnung aur Diiferenzen zwiscken London und Pans kann kein fNuck—
terner mekr kegen. Und an Simons Verkandlungsgesckick glaukt kein
Optimist mekr. lA^as also wird gesckeken, wenn die Franzosen das
Rukrgekiet kesetzen und sick tier lm deutscken Fleisck emmsten ? Es
wird ein grois Gesckrei auskrecken, aker wir sind mitsamt dem Staats—
mann Simons mckt einmal so weit, dieses Klagegesckrei uker den Erd—
ball vcrprlanzen zu konnen. Wenn jemals ein grol?zugiger Agitations—
apparat uker Sckweden, Holland, It alien nack Amen k a, ja selkst nack
England und Frankreick, notig war, dann in dieser furckterlicksteti
481
Sckicksalsstunde Deutscklands, ^/are Simons der, der er nickt let, bo
Latte er diese A^eltpropaganda vorkereitet. Sie war, nack dem vor~
kildlicken Muster Jer Entente, nicnt allzu sckwer zu orgamsieren. Aker
wir werden zugrundegeken, okne dal? es die aul?erdeutscke Welt auck
nur reckt errakren wird!
Das an Deutscklands Grenzen keendete Gesckrei wird uns nickt
retten. Waffen, auck nur zu einem letzten Aufflackern der kriegensck
sterkenden Nation, feklen uns. Mit Protestknefen von Onkel Barkusse
und Tante Ellen Key wird uns nickt viel gekolfen sein. Es gikt nur
mock einc Moglickkeit und die liegt hei den Arkeitern! Die neue Be-
aetzung mul?te mit dem Generalstreik der Arkeiter keantwortet werden.
Mit dem Masckinengewekr kann man alles Moglicke erzwingen, nur nickt
die Produktivitat der Proletaries Aker, wird man fragen, wie einea
eo langen ungekeuren Generalstreik 1m westUcken Deutsckland wocken—
lang auskalten? Daruker katten sick Gewerksckaitsiukrer mit den ver~
antwortlicken Mannern 3.e3 Reickes zu unterkalten. Das Arkeitslosen-
proklem wird, wenn uns die Kokle aus dem Rukrgekiet und aus Scklesien
feklen 'wird, unzweifelkaft neu lekendig werden. Hatten wir Staats-
manncr, will sagen: voraussckauende Geister, so mulste es in diesem Zu—
sammenkange erwogen werden. Es trate dann der Moment ein, i«
welckem der Arkeiter zum ersten Mai den Staat als Bundes-
genossen fuklen, und umgekekrt, der demokratiscke* Staat den Arkeiter
als starkste Stutze seiner Existenz empimden konnte.
Das gake Maifeiern! Maifeiern mit neuem Text una neuem Inkalt!
In aller Welt kat das Proletariat gelernt, mit nationalen Wirkkckkeitea
zu recknen. Der alte Staat, der, nack dem alten Lied, vom Proletariat
neu zu kammern ist, wiirde in dieser Maizeit zum Volksstaat werden.
Jetzt erst wiirde der deutscke Arkeiter sick als verantwortKcke Macht
erweisen. Aker zu solcker Maifeier gekorten neue Fukrer, neue Ge-
danken, neuer Mut.
Ack, sie werden ikre alten Grammopkonplatten mit den Melodiea
von vorgestern akkaspeln. Sie werden sick international und revolutionar
nennen, klol? weil sie rein rketorisck, aktionsunrakig und verantwortungs-
feindlick sind. Deutsckland wird kegraken werden, aker die Arkeiter-
gesangvereine werden dazu den alten Text der Internationale sin gen.
482
G. Bernard shaw DER ALTE REVOLUTIONAR
UND DIE NEUE REVOLUTION
Aua dieger Polemik gegen ein neues Buct des Marxisten Hyndman, der
im Kriejfe wildesten Chauvinismus trieb — wozu lafft sich Marx nicht inter-
pretieren . — werden deutsche Leser mit Interesse Ska ws Stellung
zum Bohcliewismus kennen lernen.
Herrn Hyndmans neues Buch kommt gerade zu der Zeit beraus,
an der die grotfe russische Macnt seine Doktrin einem experi-
mentellen Versuch beispiellosen Umfangs unterziebt. Und diese
Lage nun wird durcb die unerwartete Tatsache pikant gemacnt,
dai? Herr Hyndman Lenin ebenso uneingescbrankt verwirft, wie
er Cromwell und Robespierre verwirft. Der englische Erzmarxist
ist der Erfiillung aller Grundsatze seiner Religion gegeniibergestellt:
dem Zusammenbrucb des Kapitalismus ; der Expropriation der
Expropriateure ; der Entbindung der alten Gesellschaft, die mit der
neuen sebwanger ist, durcb die weise Frau Gewalt; und der Aus-
anerzung der Bourgeoisie als einer Gesellschaftsklasse, Und anstatt
Vive la Revolution zu rufen und seine Koffer zu packen, um in
Moskau das neueste Marxdenkmal einzuweiben, ubercburcbillt er
mit seinen Anklagen gegen die Bolscbewiki Cburcbill. Das ist
interessant; wir mochten wissen, wie er es recbtfertigt. Auf den
ersten Blick scbeint er seine Stellungnahme damit zu be gr tin den,
dai? er den reifen Marx als bistoriscben Materialisten gegen den
unreifen Marx des kommunistiscben Manifestes ausspielt, — wo~
bei er anscbeinend vergif?t, daf? er den bistoriscben Materialising
in einem fruheren Kapital arg zusammengebauen bat. Der bolsche-
wistiscbe Marxismus, darf icb vielleicbt erklaren, ist der Marxismus
des Manifests; er bat, indem er seine Administratoren ^Kommissare^
nannte, aucn einen Wink Rousseaus befolgt. Herr Hyndman be-
hauptet nun, dal? es einer Aufgabe der ganzen Marxscben Lekre
gleichkomme (auf die er sich am Ende jedes Kapitels seines Bucbes
versteift), wenn man Gewalt zur Hebamme des Fortscbritts macbt;
Gewalt konne den bistoriscben Augenblick hicbt vorwegnebmen
und verfrubte Revolutionen mtitften, wie der Bauernkrieg und der
Babeuf-Aufstand zeigten, notwendigerweise scbeitern. Aber das
beweist, obwobl es wabr ist, nocb nicbt, dal? aucb der Bolscbe-
wismus verfrubt ist. Die unleugbare Tatsacbe, dal? keine Hebamme
das Kind lebend ans Licbt befordern kann, wenn seine Bildung
nocb nicbt \ollendet ist, — diese Tatsache erscbuttert keineswegs
die historische Tatsacbe, dal? die Geburt sebr sebwierig sein kann ;
483
dal? sie eine starke Hand und erne Zange erfordern mag und dai?
die Mutter moglicberweise dabei sterben wird. ^A^er kann sagern
der bistoriscbe Moment sei in Rutland noch nicbt gekommen?
Sicher nicbt Herr Hyndman, der aus der Gescbicbte so Uber~
zeugend nacbgewiesen bat, dal? der bistoriscbe Moment oft, —
mindestens ebenso oft, wie sonst etwas, — ein psycbologiscber
Moment ist. Alles, was der marxistiscbe bistoriscbe Moment bei
naberer Analyse bedeutet, ist dies : ein Moment, in dem die Bour-
geoisie ibre Herrscbaft iiber Industrie und bewaffnete Regierungs~
macbt verliert und sie in die Hande der Proletarierfubrer enb-
scblupfen lai?t, — vorausgesetzt, dal? diese Fiibrer das sind, was
Marx klassenbewul?t nennt, dal? sie also die bestebenden, die bisto-
riscben und die evolutionaren Beziebungen zwiscben Proletariat
und Bourgeoisie kennen, dal? sie um die Notwendigkeit wissen
den 'Kapitalismus in Kommunismus zu verwandeln und dai? sie sich
iiber das Wesen dieser ibnen obliegenden Uberfiibrung klar sind,
Sicber sind diese Bedingungen in Rutland gegenwartig so weit
verwirklicbt, wie sie voraussicbtlich irgendwo und -wann verwirk-
licbt sein werden. Lenin ist ein Doktrinar wie Marx selbst, und
die Bourgeoisie ist abgesagt und mattgesetzt, obne dal? sie aucb nur
einen Gegenscblag gefubrt batte. Die Sowjetregierung bat keinen
der Febler begangen, deretwegen Herr Hyndman die Hussitten und
die Pariser Communarden von 187 1 scbilt. Weit davon entfernt
Mascbinen zu zerstoren, arbeitet sie mit jedem Nerv an der Ent~
faltung der Produktion und an der Ankniipfung auswartigen
Handels. Anstatt die Banken aberglaubig zu respektieren und fur
ibre Bediirfnisse bescbeidentlicb etwas Geld von den Rotbscbilds
zu pumpen, bat sie sofort alles Bargeld, alles ungemiinzte Metall
und alles Gescbmeide bescblagnabmt, dessen sie babbaft werden
konnte; und bat, wie die Apostel, jeden Versucb, dergleicben
zuruckzubalten, zum Kapitalverbrecben gestempelt . . . Sie baben
sich (vom marxistiscben Standpunkt aus geseben) auf die ricbtigen
Dinge gestiirzt und die ricbtigen Leute erscbossen. Sie ist ebenso
riicksicbtslos wider die Gegenrevolution und wider Versucbe, den
Handel alter Art fortzufiibren, wie sie duldsam gegen lediglicb
sentimentale Trauer iiber die vermeintlicb guten alten zaristiscben
Zeiten ist. Sie bat sicb befabigt gezeigt, sowobl die Bourgeoisie
als auch die Militarkaste zu bebandeln und zu beberrscben.
Koltecbak, Deniiin und Wrangel baben nacbeinander versucbt, die
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Rolle Gaston de Foix zu spielen; aber sie wurden gleich modrigen
Niissen von Trotzki aufgeknackt, trotz des Churchillschen (ci-devant
Pittschen) Goldes und trotz der Foch'schen Munition. Konnten
die Bedingungen, unter denen der Feudalismus und der Kapitalismus
ihre Umformungen der Gesellschaft vollzogen, heute, wo es sich.
urn die Uberfiihrung des Kapitalismus in den Komraunismus Kan-
delt, genauer reproduziert sein ? Wenn Herr Hyndman behauptet,
der Bolscbewismus sei nicht der wirklicbe Marxismus, sondern
ein morderischer Betrug, was wird denn der wirkliche Marxismus
seiner Ansicbt nach sein? Auf diese Frage schuldet er uns eine
Antwort.
Will man auf diese Antwort aus seinen absprecbenden Ur-
teilen \iber den Bolscbewismus schlietfen, so stiitzt er sicb haupt-
sachlich auf die Tatsache, dal? das riesige Grundeigentum, dieser
Hauptbesitz der russischen Nation, noch unverandert fortbestebt.
Das ist richtig; aber wenn der Sozialismus warten will, bis die
Bauern klassenbewutfte Marxisten geworden sein werden, so kann
er ewig warten. Aucbt die Bourgeoisie wartete nicbt auf die
Zustimmung der Bauern, als sie durch Einfiibrung des Freibandels
-die kapitalistiscbe Transformation vornabm; diese Transformation
^erstorte die britisctie Landwirtscbaft keineswegs. Der Anta-
gonismus zwiscben stadtischer Zivilisation und landlicher Primi-
tivitat hat alien fruheren Revolutionen ebenso zugrunde gelegen,
wie er der jetzigen zugrunde liegt. Herr Hyndman zitiert mit In-
dignation eine an die roten Truppen des Dondistriktes erlassene
Generalordre, die Kosaken auszurotten. Aber man braucbt nur
etwas Heucbelei aufzuwenden und die Namen entsprecbend zu
andern, um die Sacbe aucb fiir Sir Hamar Greenwoods (des eng-
lischen Befehlshabers in Irland D. Obers.) Wocbenbericbte passend
xu maehen. Die franzosische Revolution begniigte sich nicht da-
mit, die Bauern der Vendee zu iiberzeugen, sondern beide Par-
teien versuchten, einander auszurotten; und zwar solange, bis die
Bauern vernichtet waren, wie es ibnen durch die Stadter stets
widerfahren wird; denn wenn man die Bauern gewahren liel?e,
so gabe es iiberbaupt keine Stadte, sie konnen aber, da sie beute
faereits vergessen baben, wie man Kleider und Pfliige herstellt,
obne Stadte gar nicbt existieren. Herr Hyndman leugnet nicbt,
datf es den russischen Bauern jetzt besser geht, als vor der Revo-
lution : was er beharrlich behauptet, ist nur, da(? sie es ablebnen
485
die Stadte zu ernabren, und datf sie nicbt mebr produzieren werden,
als sie zu ibrem eigenen Gebraucb benotigen. Nun wiirde e&
vielleicbt besser sein, — wenigstens soweit man aus der Feme
beurteilen kann, — die Bauern offen bis zur Grenze ibrer Leistungs-
fabigkeit zu besteuern und sie durcb den Zwang zur Steuer-
zahlung — notfalls mit Hilfe von Bescblagnabmungen, — aucb zur
Produktion zu zwingen; dies ware vielleicbt besser, als, wie die
Sowjets es tun, zu bebaupten, daf? man die tiberscbiissige Pro-
duktion mit dem wertlosen Papiergeld ^ankaufe". Aber die
Sowjetfubrer verzicbten darauf, sicb solcber Hilfsmittel zu be-
dienen: sie erklaren, dal? sie im Begriffe seien, ibre Fabriken mit
kommunistiscben Farmen zu umgeben und dal? sie dieses System
so lange durcbfiibren wiirden, bis jede Landwirtscbaft, die auf
Individualeigentum ful?t, von der russiscben Erde verdrangt sei.
Es ist absurd, zu bebaupten, dal? der bistoriscbe Moment dafiir
nocb nicbt gekommen sei; mit viel besseren Griinden liefe sicb
beweisen, dal? er scbon verstricben ist. Der bistoriscbe Moment
ist jedenfalls der erste Moment, in dem eine Saclie mit Aussicbt
auf Erfolg unternommen werden kann.
Herr Hyndman, der als Historiker auf lange Sicbt binaus
so staten Geistes ist, zeigt sicb (da er nur ein Menscb ist) im
Angelegenbeiten laufender Politik von Vorurteilen erfullt. Wabrend
des Krieges war er, was er nocb beute ist: ein autferordentlicb,
patriotiscber „Mehrbeitssozialist fc *. Aber er wirft den deutscben
Mebrbeitssozialisten mit Heftigkeit vor, dai? sie fiir die deutscben
Kriegskredite votiert und sicb nicbt als Proenglander und Pazifisten
gezeigt batten. Und trotzdem findet er gegen Lenin keine Worte
die ibm stacbelig genug erscbienen, weil Lenin es ablebnte, fiir
die russiscbe Kriegskredite zu votieren und weil er der Not-
wendigkeit Recbnung trug, zu jedem Preis Frieden zu scblietfen.
Ebenso intolerant ist er gegen den „ungliickseligen Bolscbewismus
und Pazifismus einiger franzosiscber Fubrer." Weder kann er
den Deutscben verzeiben, dai? sie gegen uns kampften, nocb den
Bolscbewisten, dai? sie, nacbdem sie boffnungslos gescblagen waren,
in Brest-Litowsk kapitulierten und sicb nicbt als engliscbe Hilfs-
truppen zu Tode bluteten. Das ist weder Sozialismus, nocb
Philosopbie, nocb Gescbicbte : es ist naiv Jobn Bullismus.
Lndessen ist Herrn Hyndmans Antibolscbewismus nicbt immear
nur barer Jingo- Arger iiber deai Brest - Litowsker Vertrag. E&
486
gibt Augenblicke, in denen er dadurch verletzt seheint, dal?
die Sowjetregierung die Arbeitspflicht einfiihrte und dadurch,
daf? dem russischen Volk der Wille einer energischen Minoritat
aufgezwungen werde. Aber in seiner eigenen sebr beifalligen
Skizze des peruaniscben Kommunismus zur Inkazeit anerkennt er*
dal? Unterdriickurig von Faulheit und rucksichtslose Bestrafung
von Nachlassigkeit und Spielerei das politiscbe Geheimnis des
Gedeihens und Gliickes dieser Leute gewesen sei, die wahrend
ihrer Arbeit bestandig sangen und die nicbt wuf?ten, was Armut
iet. Ich fur meinen Teil kann nicbt verstehen, wie man, wenn
man aucb nur die elementarsten Begriffe des Sozialismus innehat,
bezweifeln kann, dal? Arbeitspflicbt und dal? die . Behandlung
parasitarer Faulbeit als emer Siinde 'wider den beiligen Geist das
Fundament jeder sozialistiscben Gesetzgebung und Religion sein
miissen. Wenn Lenin die Faulbeit in Rutland vernicbtet bat,
■wabrend wir, obwobl wir bis zu Augenhohe in Scbulden stecken,
sie nicbt nur dulden, sondern inmitten allgemeiner Ausbungerung
Luxus auf Luxus haufen, dann bin ich viel mebr geneigt. „Bravo
Lenin!" und ,.Oh iiber uns NarrenT zu rufen, als Herrn Hynd-
mans anscbeinenden Abscbeu zu teilen. AA^as die Tatsache anbe-
trifft, dai? die Bolschewiken in der Minderbeit sind, so sei daran
erinnert. dal? Herr Hyndman ,.die vcn Japan in vierzig Jabren
bewerkstelligte, wucderbare Uberfiibrung des Feudalismus in den
Kapitalismus" lobt. Unmittelbar vor diesem Satz sagt er, da#
„dauernde eoziale Revolution und kommunistiscbe Rekonstruktion
nur dann mit Erfolg durchgefubrt werden kann, wenn der Grofi-
teil der Bevolkerung die neuen Formen, die, bewuCt oder unbe-
wutft, bereits in der alten Gesellschaft entwickelt wurden, ver-
stehen und hinzunebmen bereit sind. „Aber er kann wohl nicbt
glauben, dal? der japaniscbe Mann in der Stra!?e verstand, was
sich ereignete, als der Kapitalismus an die Stelle des Feudalismus
gescboben wurde, oder dai? er es in irgend einem anderen Sinne
akzeptiert habe, als es ebenso mit sich gescbeben zu lassen wie
der britiscbe Arbeiter das neue Armengesetz und das AVahlgesetz
der Bourgeoisie mit sich geschehen lief?. Nicmals hat es splche
Bekebrung der Mehrbeit eines Volkes gegeben ; alle Wandlungen
Bind durch willenskraftige Minderheiten erzwungen worden. Wir
stunden noch unter dem Regime der Hirtenkonige, wenn Herrn
Hyndmans liber ale Generalisiation wahr oder auch nur zum
487
fiinften Xeile wahr 'ware. Was in praktischer Hinsicht wahr
genug ist, ist dies: dai?, bis die Drahte des Gesellschaftslebens mit
einem neuen Strome geladen sind, oder wenigstens rait einer
hoheren Potenz des alten, weder die Majoritat noch die Minoritat
die Gesellschaftsordnung andern kann. Selbst Peter der Gro(?e
hatte, mit all seinen Galgen und Foltern und Knuten, seine Ideen
dem alten RufTland nicht aufzwingen konnen, wenn seine Gefolg-
schaft — eine Gefolgschaft fahiger Schufte, B — des alten Rutflandg
nicht ebenso miide gewesen ware, wie er selbst. Die alten Russen
waren wahrend dieser ganzen Zeit in vtberwaltigender Mehrheit,
^iVas Herr Hyndman als „Tyrranei der Minderheit" stigmatisiert,
kann nicht nur dann nicht entbehrt werden, wenn man die Gesell-
schaft voranbringen will (oder auch zuriick, wie gegenwartig,)
sondern man braucht sie sogar dazu, die Gesellschaft auf ihrem
gegenwartigen Stande am Leben zu halten. Keine Majoritat
Englands wird sich jemals davon uberzeugen lassen, daf? eine
Regierung uberhaupt notwendig sei: neun Zehntel von uns sind
geborene Anarchisten.
Hyndman, der alte Internationalist, ist im Herzen ein Patriot,
der alte Revolutionar ein Pazifist.
JOACHIM RINGELNATZ STOFFWECHSEL
„^Wie glflht er im Glase! Wie flamrat er so told!
GescKliffnem Topaae vergleich ich eeia Gold."
Ich aber meinte den Urin
Und dacKte micK in Grotf-Berlin.
Und dacnte eine junge Braut,
Ganz eingeniillt in Buckling sha ut.
Da bracnte mir der Piccolo
Den Grog. Ich acbmupperte und floh.
488
rudolf olden KONTINENTALE ERFAH-
RUNGEN UBER ENGLAND
Durck Armut am Reisen gekindert, mussen wir versucken , das
Ausland zu Hause kennen zu lernen. Sckon iruker waren unsere Kennt-
msse una Erkenntmsse iremaen Wesens gering, keute ist inre (jewinnung
unendlick viel sckwienger. Em paar Errakrungen uker engkscke Geistes-
art, die mir der Zufall versckafrte, ersckemen mn* mitteilenswert.
I.
Eimge lage vor der Durckrukrung des Plekiscits in Karnten veroot
die interalluerte rCommission alien nickt lm streitigen Cjebiet Geborenen
Jess en Betreten am Akstimmungstag, auck den Benckterstattern, die fur
Zeitungen aller Lander kerkeigeeilt waren. Dem Sinn und Zweck einer
Volksentsckeidung scklug diese Ausscklieisung der internationalen Orrent-
lickkeit ins Gesickt, es verkoknte die Demokratie, in deren Namen der
rolgensckwere Akt vor sick ging. Der Prasident der Plekiscitkommission,
em engliscker Oberst, sei, so sagte man, selbst der initiator dieses Be—
scklusses, er sei eken em Oberst, wie Okersten nun einmal sin a. Eine
personncke Demarcke kei der engliscken Mission trucktete nickts. Ick
sckriek einen Brier an den Prasident und Okerst, in dem emgekend das
\Vidersinnige des v erbots ausemandergesetzt, die Erwartung ausgesprocken
wurde, dau es zuruckgezogen werde. L>ieser Brier wurde, lm Namen
aller versammelten Journalisten, unterzeicknet von Vertretern emiger
amenkamscken Blatter und Korrespondenzen von AA^eltrur. Es erfolgte
keine Ant wort. So katte ick gerecknet und sandte Sckilderung der
Tatsacken samt dem Brief an die iukrende Londoner Zeitung der eng-
liscken unakkangigen Likeralen. Diesem imktanstiscken Junker, so dackte
ick, ist das international-diplomatiscke Handwerk gelegt. Die englische
Oirentlickkeit wird, so dackte ick, auisckreien wegen der flagranten
Verletzung der Demokratie durck einen Exponenten Englands. Eine
Interpellation im Parlament ist das Wenigste, dackte ick.
Der Brier ist me akgedruckt worden, die kerukmte unakkangig-
likerale Zeitung kat nie geantwortet.
II.
Aur dem Flugreld in Wiener~Neu»tadt aollten auf Befekl der
mteralluerten Miktarkommission in Wien friedensnutzlicke Masckinen
zerstort werden. Der Kommission ging das Vernicktungsgesckaft nickt
scknell genug vor sick. Ein paar Ententeoffiziere fukren kinaus, sie zu
b«sckleunigen. Ikr Fukrer, ein anderer engkscker Okerst, kam mit eiriem
489
osterreickiscken Ingemeur in Streit una lieu sick dazu kinreiuen, inn zu
mil/kandeln. Durck die drokende Haltung, die die Arbeiter einnanraen,
ward er gezwungen, sick bei dem Gcsoklagenen zu entsckuldtgen.
In iVien war grol?e Aufregung uber den sckimpfllcken Voriall,
Arci nacksten lag traf ick den Specialkorreapondenten einer grol/en eng~
liscken Zeitung. Ick fragte ikn, was er telegrafiert, was er gescknebcn
kabe. Er antwortete: ^NtcKts". Wie, ein Vertreter Englands ini
Ausland vergekt sich grobkck gegen Anstand, Sitte und internationalen
Gebrauck, benimmt sicn imktari9ti9ck~junkerlick~freck, setzt England aus-
landiscker MiKacktung aus und die Emporung der englischen Orfentlick-
keit wird mckt wackgerufen? Antwort; ,,Netn. Wa;) em Englander
Falsckes, Scklecktes lm Ausland tut, daruber sckweigen die englischen
Zeitungen. Diese Angelegenkelt wird — wakrsckemhck — amtlicn nack
oben gemeldet und vonr ICriegsministerium geordnet. Auch wenn man
sie nacL England depescbierte, wiirde dock kein Blatt sie pubuzieren.
in.
Ein dntter engliscker Oberst kommt dienstlick in die besiegten
Lander, wo er Verwandte kat. Einer dieser Verwandten kat das Un-
gluck, oppositioneller Politiker und darum Emigrant zu sem, keineswegs
etwa Kommunist sondern liberaler Dcmokrat. Der Oberst verkekrt
trotzdem mit den Verwandten. Was sollte man meinen, kummert lkn
der reaktionare Kurs des besiegten Landes? Da der Demokrat au$er~
dem in eine — ganz unpolitiscke, rein materielle — Affaire imt einer
eugliscken diplomatiscken Vertretung verwtckelt ist, so untermmmt es der
Offizier, in seinem Interesse mit einem durckreisenden M. P. zu sprecken,
der Mitglied der labour party ist. Der Oberst kekrt nack England
zuruck. Einen neuen Auftrag, um den er sick bemukt, erkalt er mckt,
auck keine Stelle im Heer. Er lauft jetzt mit unfreiwilligem Urlaub
kerum und wird wokl den Absckied erkalten.
Die junkerlicke Reaktion, die sick in diesen Begebenkeiten ausdriickt,
ist von jener bosartigen, gefakrlicken Art, die lkre Mackt ^ckweigend
aiisiibt. Diese kalte, selbstverstandlicke Ableknung der Kntik an un-
demokratiscken Handlungen ernes Connationalen, die wortlose Ableknung
des andern Landsmannes, der vom vorgesckriebenen Kurs akweickt, be--*
weist das einmutige Einverstandnis der Nation mit der Haltung ikrer
Junker. Von den Sckietfereien der italieniscken Fascisten ist die Weltpresse
490
voll, ater der offen, laut und gewaltatig gefukrte Klassenkarapf der
weitfen Jugend Italiens ist eminent demokratisck gegeniiker dem weil?en
England, das sick literal und demokratisck nennt und dafur gckalten wird.
Und tier komme ick zu dem Punkt, warum ick dies alles erzakle.
Was liest man in der deutscken Presse {iter England? Was wird aus
engliscken Zeitungen in deutscten Zeitungen nackgedruckt? Nun, was
eten in engkscken Zeitungen zu lesen ist. Es ist klar: Nur das, was
sic zu tnngen fur gut talten.
Skaw, Goldnng, Keynes, Morel und Ponsonty sind die engliscKen
Set rifts teller, die teute in Deutsckland popular sind. Und wie popular
sind sie! Wir sind entzuckt uter die freie Spracke der Englander, nut
der sie die Reaktion — der Franzosen kritiaieren. AtVir koren entzuckt
in den Skawscken Stucken Sozialisten und Kapitalisten sick auf die vor-
urteilsloseste Manier uter die gewagtesten Tkemen der Politik und
Soziologie unterkalten, und geken nack Hause, den engliscken Liberalise
mus preisendundbeneidend.\A/enn Skaw vonder engliackenjunkerklasse sprickt,
so kalten wir das fur ein liebenswurdiges Paradoxon. Fur uns ist englisck
die Unbekummertkeit, nut der er seltst Casar und den Kanonenkonig
an fa (it, mit der er sick laut als Bolsckewik tekennt. Keynes, Morel und
Ponsonty sind fur una eten ,.engkscke" Publiziaten. Wir begeistern una
an engkscker Geistesfreikeit und fragen mckt nack den Mandlungen des
offiziellen England.
Als auf der Wiener internationalen Sozialistenkonferenz ,2 l /» uter
die Frage der Diktatur verkandelt wurde, erklarte Wallkead, der Ver~
treter des knken Flugels der Independant Labour Party, fur England
existiere dieses Problem mckt, denn nie werde die engliscke Bourgeoisie
den Boden der Demokratie verlassen. Kein Hinweis auf Irrland keirrte
lkn darin. Besckamt erkannten wir an, wie kerrlick die demokratiscke
Tradition uber dem Kanal ist und wie erkarmlick unser verkokrtes und
vertreckerisckes Burgertum gegenuter den literalen und demokratiscken
Kapitalisten Englands dastekt. Und gar das neueste Kunststuck des
grotfen Lloyd George! Er, er als erster, scklietft mit Sowjetrutfland einen
Handelsvertrag ! Versetzt dem reaktionaren Frankreick, das kei dieser
Gelegenkeit die letzte Hoffnung auf seine russiscken Forderungen einkutft,
einen Tritt und marsckiert an der Spitze der Volkerverstandigung. Aller-
dings — was aus Rutland zu kolen war, kat er. Niitzen kann es ikm
nckt mekr, Sckaden wendet er zugleick mit der grotfen Geste ak. Qela.
lui coute si peu et nous fait tant de plaisier — una, deren Bewunderung
sckon wieder dem kockst literalen England gilt.
481
Es gab eine Zeit, in der wir jeden Englander fur einen Heucbler
erklarten. Dann eine andere, in der der berubmte rlaisgesang gescbmiedet
wurde und in den Bucbbandlungen Gedicbtbande extra rur die angezeigt
waren, die England von Gott straren lassen wollten. Aber da Lngland
jetzt obnebin unsere Flotte und unsere rvolomen nat, so durren wir end-
lick wieder England lieben und als unser Vorbild verebren.
Icb sebne die Irrtumer und Gescbmacklosigkeiten jener vergangener
Zeiten well? Gott mcbt zuruck. Aber jetzt soil uns wieder nur ein Popanz
affen? lArerden wir nie imstande sein, zu erkennen, was in rremden
Landern ist? 1st die deutscbe Presse nur dazu bestimmt, das deutscbe
Volk dumm zu macben? Miissen unsere Augen in dem rosigen demo-
kratiscben Nebel tappen, den eine routimerte Macbe uber die feme
Insel legt?
Icb babe nicbts dagegen einzuwenden, da# man bei uns und irgend-
wo von der engliscben Staatskunst lernt oder zu lernen wunscbt. Aber
icb webre micb dagegen und es emport micb, dal? man willig und uber-
bereit auf alle Scblicbe engliscber uberparteilicber Zusammenarbeit ein-
gebt. Icb sagte jenem engliscben Journabsten :. ,,Aucb foreign affairs
wiirden das nicbt bringen?" Und er erwiderte zogernd: „Vielleicbt. Aber
^Jiemand liest foreign affairs". Und wir? V/ir lesen sie. Wir drucken
sie ab. Als ob das die engliscben affairs seien, die allein fur foreigners
interessant sind. Engbscben Taten steben wir stumpf gegenuber, als
engliscbe Stimmen nebmen wir gierig aur, was eine Gruppe, em Grupp-
cben, em V erem in England an Internationalisms proouziert. 15tde.itungs-
los driiben, ist es fur uns das engliscbe Spiegelbild. Keynes -- Aber
er bat ganz unser Herz gewonnen! Gegen Lloyd George? Aber v.sin!
Gegen Wilson und Clemenceau. Und fur England naturlicb! Ih.e
Opposition ist Exportarbeit. Und ist so mild, uberlegen, weise, daf? sie
jedenfalls immer das Exportland wirbt.
492
Herbert eulenberg EIN ZEITSCHRIFTSTELLER
Nock lmmer zerkrecken sick xanllose Menscken kei uni aen K.opi,
warum wir den Krieg verloren La ten. „K.mpps !** So knackt es ia»t
unauinorlich von gesprungenen Hirnsckalen wie von Nussen, die man
auhnacht. Auck Oskar A. H. Sckmitz, rukmlick una unrukmlick
als Geistkesckauer kei una kekannt, grukelt dariiber, wie es kommen
konnte, dais neute die Franzosen am Rkem start wir an der Seine
stehen. Er iolgert unsere Niederlage nickt einfack aus der Uberzanl
der Gegner. Sie bat fur inn kerecktigterweise nock einen viel tieferen
Grund, einen geistigen. Aur dem wirkungsvollen Titelblatt seines so*-
cben bei Georg Muller in Mvincken meruker erscmenenen Buckc*
spaltet ein roter Blitz das januskopfige, das zwiespaltige Deutsckland,
das Sckmitz neute vor sick nndet. Und zur Reckten sient man wie
zur Linken einen kalken Deutscken keruntersinken. Reckts den mit der
drauenden Pickelkauke und dem avifwarts gestraukten Scknurrkart ge~
sckmuckten und links den mit der roten Jakokinermutze und der mosko-
witisck kerakkangenden Scknauzkurste gezeickneten Volksgenossen. Zwiscken
keide sckleudert der Sckreiker dieses Buckes semen Donnerkeil: ,,Quos ego)"
Man keneidet ikn fast urn die olympiscke Entsckiedenkeit, mit der er
sick von dem einen vine von dem anderen trennt. Dem Friedensfreund
wird das Akrucken von der knegerisck gesonnenen Halfte letckt und
keffreiflick ersckeinen. Er wird seme Verwunsckungen auf die wakllos
und stumpfsmnig keokacktete allgemeine Dienstpflickt teilen und die Aus-
falle des Verfassers gegen den Reserveleutnantsungeist und die Feldwekelei
gutkeitfen. Dem Antirepukkkaner wird es nickt sckwer fallen, sick mit
lkm gegen die Emkeitssckule zu verkundeh und die Wut gegen den
Poke! und die quaktatslose Masse nutzumacken. Aker wo ist die
mittlere Lime, auf der Sckmitz die keiden Parteien oder Mensckenarten
auf die er sick stutzt, vereinigen will? Vielleickt kat Sckmitz sick mit
diesem Buck zwiscken zwei Sturilc gesetzt und kann zu seinem Trost
nur nock denken : „Lieber auf einem karten Fu#boden, als auf einem
wackligen Sessel sitzen \ Er kommt sick sekr reif und akgeklart vor
und kekandelt alle Forts cknttlicken oder Zukunftsglaukigen im Politiscken
mit der Ukerkeklickkeit, mit der er in einem anderen Werk die
Monisten, von deren Zielen er so gut wie nickts wei#, kurzweg als
Halkgekildete aktut. An emer Stelle seines Buches fukrt er aus, dal?
die Entente mit lkren Humanitatsidealen von 1789, inskesondere Wilson,
aker auck die Clartie-Gruppe funfundzwanzigjakrig denke. Hindenkurg
und Wilkelm II. mit ikrem: ,,Immer feste draff!" kaken funfzekn-
jakrig gedackt. Der Bolsckewismus kake gar das Hirn eines funfjakrigen
Kmdes, das alles kaken wolle, was lkm nickt gekore." Und wie denkt
selker mm, der reife, vollerwacksene Mann von vierzig Jakren ? Er triiumt
493
1.) von einem vereimgten Europa unter enghscker Fiikrung. Woklge-
merkt, nackdem er in einem Buci\ das er un Krieg unter der Auf~
sckrift : ,JDas Land okne Mustk "" verorf entlickte, Englands Volk
grundlick madig gemackt kat.
2.) von einem deutscken Reich mit dem Sckwergewickt lm Suden und
zwar mxt mogKckst wenig Weltpolitik, aker guten Beziekungen zu
den kenackkarten Ostlandern.
3.) von emem streng diszipknierten Berurskeer okne allgemeine Dienst-
pflickt und
4.) von einer kerufstandiscken Volksvertretung.
In diesem letzten Punkte kegegnet er sick mit dem modiscken
Spengler, mit dem er, wie er an einer Stelle anerkennend keicktet,
manckes gemeinsam kat, in der Akneigung gegen den undeutscken Parla-
mentansmus und der Ukerzeugung von der Notwendigkeit seiner Um-
gestaltung.
Sckmitz will lkn nickt wie Spengler einfack beseitjgen, aondcrn
durck em Standesparlament erganzen. Dieser kemerkenswerteste klarste
Vorscklag seines Buckes verdient tiefere Betracktung. Er teilt sem
Standekaus der Zukunrt m vier Gruppen ein :
1.) In geistige Beruie.
2.) Bodenkekauer.
3.) Handel- und Gewerketreikende.
4.) Arkeiter.
Jedem dieser Stande will er gleickma(?ig kundert Stimmen 1m neuen
Parlament gewakren, das ergeke zusammen also 400 Stimmen. Jeder
dieser Stande solle nun in dem Standekaus seme Angelegenkeiten vor-
tragen und keraten. Erne emseitige ziinftige Verengung sei nickt zu ke~
rurckten, da 3a me der emzelne Stand wie 1m Mittelalter iiker seine
Angelegenkeiten allein zu entsckeiden kake, vielmekr in dieser keutigen
Standevertretung die Stimmen derer ausscklaggekend seien, welcke an
den emzelnen Fragen nickt unmittelkar keteiligt, also unparteiisck seien,
Bezweckt wird mit dieser neuen gleickma&gen Standevertretung eine
starkere geistige Vermengung und Vereinigung der einzelnen Klasecn in
Deutsckland, die keute vielfack nock wie Katz und Hund einander
gegenukersteken oder wie Engel und Teuiel. Und andrerseitssoll durck
diese Neuordnung die Diktatur einzeluer Klassen abgewendet werden.
he ist kennzeicknend, da# auf der Sucke nack einem 3olcken zeitgematfen
Ausgleicker Oskar A. H. Sckmitz win Spengler auf die ake Etntcilung
in Stande zuruckgreifen. Beide ketonen mit Reckl, d?/? das Mekrkeits-
prmzip nickt das rtllcmseligmackende sei, da dadurch das Proletariat
Iediglick durck seine Zakl einen unverkaltmsmatfigen Anteil an der Ge~
wait kekame. Wakrend Spengler in seiner Akneigung gegen den aus
494
England importierten und nack seiner Meinung wesensrremden Parla-
mentarismus in mir unmoguck ersckeinender Weise mekr aur patriarckakscke
altpreuKiscke Formen zuruckgrerren mockte, -will Ocnmitz den ivatege—
danken Rutflands aufnekmen und fur Deutsckland zurecktstutzen. Diesen
Rategedanken nennt er den einzig rrucktbaren und aabei, wie er mit
Reckt binzufugt, uralten Keiia des Neuen in unserer Zeit. Sckmitz gekt
reckt bekutsam vor, das muis man lkm zubuligen. Jur will mckt etwa
das Mekrkeitsprinzip und unser keutiges Parlament gleick aksckaffen.
Nein ! Seine neben dem Parlament zu erricktende Standeversammlung
soil nur als keratende Kammer besteken, uker deren Entsckeide dann
erst das Mekrkeitsparlament zu bescklietfen kabe, eke einer dieser Be-
scklusse Gesetzeskraft erkalte. Hier verlal?t unsern Staatsverbesserer
etwas die Sckarfe und Genauigkeit im Entwerfen seiner Vorscklage
denn es karin lkm und uns mckt blo# darum zu tun sein, eine neue
zweite ,,Quasselbude* zu sckaffen. Irgendwelcke reste Zustandigkeiten
mul? dieses neue Standekaus der Republik sckon kaben, Aber die lkm
zu sckarren ware ja eine leickte Auigabe der Verrassung und eine
spatere Sorge um die wir uns nock mckt zu qualen kraucken.
Unbestreitbar wakr ist, dais durck die Erncktung einer solcken
Standevertretung im neuen Deutsckland em FJaus gesckairen wurde, in
welckem dem Volk mekr die Quaktatsmemungen kekannt wurden als
in den biskengen Parlamenten, in denen nur die Mekrkeit den Aus-
scklag gab. Es ist klar, daK beispielsweise die geistig sckarrenden Kunstler,
Dickter und Forscker, denen Sckmitz 25 Stimmen unter der Gruppe
der getstigen Beruisarbeiter emraumt, in einer solcken Standeversammlung
ganz aimers zu Wort kommen wurden als in unsern jetzigen Parla—
m enten. Anderseits wurde sickerli ck durck eine solcke gleickmamge
und gereckte Standevertretung die Mogkckkeit der Vorkerrsckait einer
Klasse, sei es die des Pobels oder der Militarkaste vermieden.
Wir kaben bei uns in Deutsckland so wenige sckopferiscke Kopie
unter den Sckrirtstellern, die Staats- und Zeitiragen bebandeln. Darum
sollte man emen Mann wie Sckmitz rukig emmal vornekmen und lesen
wenn man auck fast aui ]eder Seite mekr als einmal ausruit oder
wutend an den Rand sckreikt : „Unsinn ! Wir kaben uns viel zu
sekr daraa gewoknt, nur immer das zu koren, was wir koren wollen.
Dies ging bei dem rrukeren Kaiser bis zu der Kenntnisnakme der Zeit-
ercigmsse und Stimmungen durck nur fur lkn zurecktgesckneiderte und
zusammengestellte Zeitungsausscnnitte, eio rrommer Selkstketrug, uker den
sick sckon Bismarck, der stets mekrere unterscbiedlicke Zeitungen las,
vergebens emport kat. Ein politiscker Sckreiber brauckt uns nickt immer
zu bestatigen. Die rlauptsacke i3t, dafs er uns anregt, und wenn es
auck nur zu bestandigem ^A'lderspruck ware.
495
rudolf von deuus DIE MALEREI DER ELEMENTE
Ackt Jakre lang lekte ick in einem klemen Hauscken am Rand aee
Gekirges zwiscken ^A^iese una vvald. Ick kannte so emigermalsen die
„Nfatur*\ Aker wenn ick dann in die Staat rukr una eine Bilder-
ausstelluug kesuckte, wie erstaunte ick stets uker die Harmlosigkeit dieser
Maler : da waren sie nmausgegangen, katten die Augen geknirren, die
N erven fein und geistreick traimert, gewil?; dann krackten sie diese zu-
ralkgen INetzkautrragmente auf die Leinwand una ein Landsckartsbild
oolite fertig sein. „Sckneestimmung kei Dackau , 3a so sak das ungeiakr
aus, kei Beleucktung gegen drei Ukr nackmittags; jener Fleck kegt kmter
dem groisen Bauernkaus (man kann lkn auck pkotograpkieren) ; und dai*
der Scknee klaulicke Sckatten wirit, ist auck ricktig: wissensckaftlick
exakt wie alles Europaiscke. Das Bild unserer Heutigen ist stets erne
vergroi?erte Ansicktspostkarte, mekr oder weniger nervos durck die
emprindlicke Pupillen- Platte auigetangen.
Wenn ick dann zuruckgmg m memen Bergwinter, dann dackte ick
wokl: warutn malt memand den Scknee selker, das Element Scknee? Das
ware dock erst groi?e souverane Ivunst. Freilick dazu mulste man die
Elemente erleken und in sick auinekmen und das Wesen ruklen und dann . . .
Ja, das solltet rkr eoen wissen, ikr Maler.
Alle europaiscke Landsckartsmalerei war rur mick scklecntmn
unkernedigend. Xeckmscke Gesckickkckkeit, kmter der sick eine sckreck-
licke Seelenode und Geistesilackkeit verkirgt. Ick stellte es stets energisck
in Akrede, dai? diese Maler ein tieres Naturgerukl kaken konnten.
Mit diesen Ansckauungen stand ick sekr allein. Meine Freunde
sagten mir oft, ick macke ukertriekene Anrorderungen. Da ernes lages
kekam ick Reckt — vor dem groisen Hmtergrunde der \Veltgeist-Ge-
sckickte. Ick lernte die alte ckmesiscke Malerei kennen. Und diese
Manner der Sungsckule (etwa von 1000 — 1300 n. Ckr.), die katten nun sckon
vor 'vielen kundert Jakren genau das gesckarien, was ick immer verlangte.
Da rand ick endkck mein Sckneekild (etwa durck Liang Jxai ge~
malt): sympkomsck auxgeturmte plementgestaltung. Dunkel lastend die
Sckneelurt, dann die sckweren weiisen Wande, die \Vuckt der Masse,
emsam ein Baum, die Zweige sind ikm akgescklagen, mit oknmacktigen
Armstummem stekt er da vor dem Riesen Scknee, .ein wmziger Reiter
kleikt rm verwekten Prade stecken. Atemlose GroiZe und Stille des
Elements. Das ewige und typiscke Erieben.
Und sugleick sind diese Bilder remste Jcksckopfung, in Innenatker
sckwekend. Die Natur wurde Material in der Seele des Kunstlerf.
496
Aus versckneiten Gestruppkuppen lauscht zartestes Blatter-Spitzenwerk
(em Fraueniuklen vor dem Sckicksal), und die Silkouetten nekmen den
Rkytkmus wolkiger Sckneepkantastik an. Die Elemente sind auck ganz
Geist. Darum ist jeder Stnch kier zugleick Symbol, Seelensymbol.
Und so gent es fort durcK die weite Natur (em kleines Buck 1m
Orkis pictus, Band 4, von Alfred Salmony zusammengestellt, krmgt jetzt
erne sckone AuswakL, Verlag Ernst Wasmutk, BerKn 1920). Der
Groiste ist vielleickt Kakei (burgerlich Hsia Kuei). Der malt ein Regen-
bild. Da wemt der Himmel und wemt die Luft: alles triert und lost
sick und sckluckzt und rieselt als Regen. Wasserdampf uker der Ebene,
der Wildbacn, der 1 annenkang, die zitternden wemenden Baume.
Sympkonie uber das Tkema Regen. Eine kukne, ireie, kerrkcke Musik.
Autferster Gtpfel aller Malerei.
Oder der Nebel. Wie er die weil?e Geisterwand vor den Berg
ziekt. dal? die Buscke zu zartkck-zierkckem Umrili werden, wie ragt da
der dunkle Bootmast. Und die weif?e Geisterspiegelung im Wasaer.
Die Baume aber seknen sick aus der Triibe in dies flutende Licktsein.
Oder der Sturm (von Hui-Tsung): alles Wirbel und Zerfetztkeit
und Kreiserwut. Vom gleicken Damon gepackt Kiefer, Mensck, Wolke.
Es ist die tiefste Liebe, die dock ganz frei ist. Ein Wissen von
dem Letzten, das aber sick neu gebiert in Kunstform (nickt dumm-
wissensckaftlick an der Realitat kangen bleibt). Diese Bilder sind ganz
wakr und dock zugleick das denkbar Starkste an Rein~Sckopferisckem.
(Nur die Griecken auf lkrer Hoke kaben aus dem Material des Menscken-
korpers aknkck GroJ?es geformt.)
Zu diesen Elementen gekort auck der Raum. Bayen (Ma Juan)
malt erne Mondlandsckaft. Da sckwebt endlos kock die kleine Sckeike.
Aker das Ersckutternde ist der Raum. Wie dies ungekeure Licktfluten
kmemgebannt ist in eine kieine Papierflacke. Der Gewalt des tiefen
Emprindens muf? sick alles fugen. Das Gekeimms des Mondzaubers lebt
quellend in diesem Bilde.
Man mul?te zu viel sagen, darum will ick sckweigen. ^Vieder
einmal aprickt Asien. Die Augen auf, Europaer, aber zugleick die Seele
auf. Denkt an Bodoski, den groKen Heiligenmaler der Tangzeit, und an
seinen Buddka : dem gluken die Gemrnknocken vor Geistspannung. Die
Europaer denken zu wemg und fuklen zu wenig, darum sind ikre ^^erke
Augenblicksware. Die grofien Gkinesen werden nock leucktend jung
dastekn, wenn all dies zerfakrene moderne geistreicke Europaergetue langst
Sckutt und Trumraer ist.
497
s.: WIRTSCHAFTLICHES TAGEBUCH
frankenwAhrung an der saar
Der Fnedensvertrag kestimmt, dafs im Saargekiete der Umlaur
franzosiscken Geldes keinem Verkote und keiner Besckrankung unterworfen
werden darf. Auf den ersten Buck eine erklarkcke ZweckmaKigkeits-
maffregel. Der grotfte Industnelle an der Saar ist jetzt der franzosiscke
Staat, der dort die ekemals preufischen Koklengruken auskeutet. Der
franzosiscke Staat ist gewoknt, in Franken und Centimes zu recknen
una zu zaklen, und er wunsckt bei semen Angestellten deutscker —
Verzeikung, saarlandiscker Nationalitat keine Ausnakme von dieser Regcl
zu ma en en. Zwar liefse sick einwenden* dau er einen ketracktlicken Teil
der Saarkokle im Saargekiete selkst gegen Mark verkauft und daK es
mm darum an deutscken Zaklungsmitteln mckt feklen kann. Aker Frank-
reick ziekt es vor, sein Geld in Umlaut zu setzen und es kat ja das Reckt
dazu. Bast a.
>Af enn die Saarkoklenverwaltung den Franken in den Verkekr
knngt, so krauckte deskalk die Mark nock mckt aus dem Saargekiet zu
versckwinden. Im Fnedensvertrage stekt klos, aaU der Franken geduldet
werden mu£ nickt dais er kerrscken soil. Es gikt nock anaere Betneke
als die Koklengruken und andere Arkeitgeker als den franzosiscken Fis-
kus. Es gikt Kreise und Gegenden, die der Mark treu kleiken konnen,
well sie nut den Angestellten Frankreicks wenig oder gar mckts zu tun
kaken. Das Monopol der Mark kat jene Versailler Vorsckrift keseitigt.
A ber kekaupten konnte sie sick, wenn sie nickt die neutrale, pantatiscke,
als JTreukander * des V olkerkundes wirkende Saarregierung zum Landc
kinausjagte.
Diese Regierung verlangt plotzlick, daK offentucke Dienste von
jedermann in franzosiscker Wakrung vergutet werden. Die Briefmarke
wird mckt raekr fur Pfennige, sondern nur nock fur Centimes verkauft.
Warura? Aus Rucksickt fur die Leute, die lkr Einkornmen in Franken
kezieken? Die werden kisker sicker stets auck Mark in der Tascke
gekakt kaken; und wenn man es lknen auck ganz kequem macken wo lite,
so katte es genugt, an den offentkeken Kassen nack einer von Zeit zu
Zeit neu festzusetzenden Relation Franken fur Mark (und Mark fur
Franken) anzunekmen. Mekr als Gleickkerecktigung des Franken
fordert dock auck der V ersauler V ertrag nickt.
Aker die Saargekietsregierung memt es mit dem Franken kesser als
der Fried ensvertrag. lA^akrsckeinlick aus demselken Grunde, aus dem
498
sic <lie diplomats eke und konsulariscke Vertretung mres Landes Paris
ukertragen kat, oder aus dem sie sick die Lenrer fur lkre (deutscken)
V oUssckulen in Frankreick suckt. Vermutlick findet sie, A&B ^Wakrungs-
trennung em famoses Mittel der ^Virtsckaftstrennung ist. Gemeinsames
Geld kalt Gekiete zusammen, auck wenn poktiscke Grenzen zwiscken
iknen liegen ; versckiedenes Geld sckeidet sie kis zu emem gewissen Grade
von einander, auck wenn alle anderen Sckranken niedergelegt sind. Des-
kalk mockten die Polen Danzig so gerne die polniscke Wakrung auf-
zwingen. Das Saargekiet ist ja dem franzosiscken Zollsystem angescklossen.
Aker das Recknen m Mark frisckt immer wieder die Erinnerung an
die alten deutscken "Wirfsckaftsverkindungen auf ^/enn die Aufreckt-
erkaltung dieser Verkindungen nickt nur mit den Sckickinen der Ver-
waltung zu kampfen kat, sondern auck mit den Fakrlickkeiten einer
Valutaspekulation, wird sick das Saarland vielleickt — endlick — voll-
standiger als kisker als Teil des franzosiscken ^A^irtsckaftskezirks fuklen.
Und dies Ziel zu fordern, gekort ja offenkar zu den Treukanderauf-
gaken, die der v olkerkundregierung an der Saar okhegen.
KASSENSCHEINE SIND KEIN GOLD
Em Gesetzentwurf, den der Reicksrat kereits angenommen kit,,
oeseitigt die Dntteldeckungsvorsckrifi. des Bankgesetzes.
Sie keseitigt damit keine Sickerung, sondern nur eine Vorspiegelung,
auf die in den letzten Jakren eigentlick niemand mekr Gewickt legte,
weil sie kaum irgend j cm an den tausckte. Unsere Goldwakrung kaken
wir im Knege verspielt; wann wir sie wiederkekommen, ok wir sie in
der alten Gestalt iikerkaupt wiederkekommen. weitf kein Mensck. Beim
Kriegsauskruck kam man auf den listigen EinfalL den Sckein der
Wakrungssoliditat zu wakren, indem man das Papier der Reickskank
statt mit Gold mit anderem Papier deckte. Die Darleknskassensckeine
wurden fur die Dritteldeckung dem Metallkestande zugerecknet. Man
erklarte, die Darleknskassensckeine seien durck die dreifacke Haftung der
Sckuldner, der von iknen kingegekenen Pfandcr und des Reicks kesonders
v sicker". (Wokei man uoersak, dai? die ,,Pfander" zum grotfen Teile
auck nickts anderes sind als Sckuldverspreckungen des Reicks oder der
Staaten und Gemeinden.) Allein diese „Sickerkeit" sckuUte die Kassen-
sckeine nickt vor dauernd zunekmendem K auf kraftver lust. Sie waren
und sind nickt urn den Bruckteil eines Prozents mekr wert, als die
Banknoten, die sie dec ken sollen.
499
Man gikt jetzt diese statistiscke Fiktion auf, weil man hirchtct, daf?
aie eines Tages selkst rein recknerisck nicnt zu kalten sem wird. Unsere
Wakrun^ wird dadurck wedes Lesser nocli scklcckter. Sie irit mckt
durck Gold und nickt durck Papier „gedeckt'\ sondern lediglick durck
unsere Arkeit und ikren Ertrag und durck die Vernunit der Politik
und Wirtsckaftspolitik Deutscklands und semer Gegner. Ob diese
Deckung leidhck krauckoar ist, wird sick zeigen.
stefan sz&cely MEIN FREUND, DER DRAMATURG
Ick mul? zu meinem Freund dem Dramaturgen geken. Seit zwei
Wocken kefinde' ick mick in augenklicklicker Geldvcrlegenneit : das kann
dock kein Mensck auskalten! Also in Gottes Namen, dieses erne Mai
will ick mick dock nock iikerwinden und arbeiten,. — etwas scmeinen,
oder wemgstens versprecken, es zu tun.
Kurz, ick mul? zu meinem Freund, dem Dramaturgen, geken.
— Du, — sage ick zu ikm, — es kandelt sick urn em Stuck,
ein kleines Lustspiel oder defgleicken. Sag' mal, was zaklt ikr eigent-
lick pro Akend ?
— ^Vas fur ein Stuck ist es denn?
— Na, mein Gott, morgen oder uketmorgen ist es rertig . .
etwas ganz ^Vitziges, weii?t Du . . . und sag' mal, zaklt Ikr seckzig
pro Akend und fur drettfig Akende 1m voraus? ...
— Ja dock, aker wo von kandelt es denn?
— ?V?ein Gott, da ist so erne Grann, und dann dieser Dmgsda
der Herzog, wei#t Du, und dann nock der Kutscker und . . . und . . .
sag' 'mal, Ikr zaklt dock koffentlick sofort?
— Na ja dock, aker was fvir ein Tkema bekandelt denn das
Stuck?
Ick kake — mockte ick kemerken — sckon mekrfack die Er~
fakrung gemackt, da# die Dramaturgen alle an emer unkeilkaren Neu-
gierde nack dem Inkalt der Stucke kranken. Aker \yarte nur, ick
werde mn sckon erzaklen!
Ick kake ikn denn auck erzaklt, denn in solcknn Augenklicken
fallt einem immer etwas ein. Mein Freund der Dramaturg, horte ge~
500
langweilt zu. Als ick fertig war, verzog er die Nase, so em wetug
nack reckts, die Mundwinkel lie!? er sinken, und aus seiner Kekle drang,
ein sonderbarer 1 on.
— Hmuu, — sagte er mit Nackdruck — nickt sckleckt, bloK
weifjt Du, der Herzog, da ganz am Anfang, wie er in dem Bottick
den Bankdirektor trifft und gestekt, dai? er sckon lange ...
— Aber, ick bitt Dick, — sage ich — das ist dock em alter,
erprobter Trick, der sckon in Rickard III. vorkommt, lm zweiten Akt.
- So? — sa t te er, in Rickard III.? Kann sein. IcK kenne
Rickard III. nicbt, . Das kei#t, ick kenne lkn, blob mckt so genau . .
Aber, die Sacke da, in der Mitte, wie sick das Mamcureiraulein mit
dem Turnlebrer verlobt und aus dem Spucknapi rlerr Federiucks, aieser
Reporter steigt und den Herzog pbotograpkiert, weil sein Sekretar, der
Svetozar, der ...
- Aber, ick bitt' Dick urn alles in der Welt, das kat ja sckon
Goetke genau so ^ernackt, 1m Faust II. led, weil/t Du, wo ...
— Ja ganz reckt! Jawokl, naturkck, ick kenne den Faust blol?
nickt so genau, naturlick, kann sckon stimmen,, dal? es da vorkommt . . .
Aber am Ende, das mit den Kovacs, der mit Herrn Sckellack kerein-
kommt und die Ernennung uberreickt und . . ,
— Na, korst Du ! Wei#t du das auck nickt einmal? Da» ist
ja das Kritenum des Ganzen, und . . .
— Das - was?
Das Kritenum . . .
So ? Ein Kritenum ist auck darin ? Das ist etwas ahderes.
Das kabe ick garmckt bemerkt.
Ersckreckt setzte er sick nieder und stellt rmr die Anweisung aus.
Seckzig, und fur drei&g Abende 1m voraus.
I
Partei, Partei! wer sollte sie nickt nekmen! .Nimm Partei, aber
lasse nickt dick von der Partei nekmen : wen die Partei genommen kat,
der kann nickt mekr Partei nekmen.
OSWALD PANDER
501
CARL STERNHEIM FAIRFAX
IV.
Bei Uber£iegung des Antwerpener Hafens wutfte Fairfax' erster
Blick uber Belgien Bcscheid. Was dort im Krieg Bestialisehe:*
geschehen war, wiirde zu besehen sein ; was aber das Land in
Zukunft bedeute, stand fest, als er im Hafen, der fiir viele hundert
Platz hatte, ein einziges Schiffchen schaukeln sab : Frankreicbs
Kolonie ! Wic es vor dem Krieg ausschlietflich 1 als Deutschlands
Maul, durcb das das fral?, gebltiht hatte, war es jetzt Frankreichs
Schwanz und hochstens After.
Solche heroische Weltfremdheit des Landchens gefiel Fairfax.
Das war nicht, wie in England, hochnasige Gescheitheit, der ein
wesentliches fehlte; das war Blodsinn, radikale Einfalt, die Teil-
nahme einflol?te und den Kenner von Gefiihlen entziickte. Vor-
sintflutlich war das, fanatischer Hungerstreik und batte personliche
Haltung, wie wenn ein junges Madchen sagt, ich tanze nicht und
esse keine Scblagsahne.
Schlieulicn liest ein modernes Volk sein wirtscbaftlicbes Wohl-
sein vom Kurszettel ab, und Ougre'e Marybaye, die wahrend der
deutscben Besetzung auf 2400 gestanden batten, waren nach dem
Sieg auf 1200 gef alien! Fairfax, bei seiner Ankuntt im Hotel in
Brussel* kabelte nacb New York, man sollte secbs Millionen
Dollars belgiscbe interprovinziale Anleibe, die einzigen belgiscben
Werte, die er besaR verkaufen. Darum scbwand in Unterredungen,
die er mit Belgiern hatte, mochten Staatsmanner und Handels-
berren noch so ungereimtes Zeug schwatzen, berzliches Mitgefuhl
fiir die Nation aus seinen Antworten nicbt, und er sucbte den
freundlichen Konig Albert und seine scbarmante, ein wenig bleicb-
siichtige bayerische Frau so wenig eines Besseren zu belehren, wie
er einen Negerhauptling, den Holzpfabl aus der Nase zu zieben,
uberredet hatte. Im Gegenteil toastete er bei einem ihm und
Daisy im armlichen aber sauberen Palais in Brussel gegebenen
Fest auf das wohledle Belgien und spurte Riihrung, als er den
Ghampagnerkelch gegen die Souverane bob.
Dinants, Fumes und Yperns stacblige Ruinen besah er griind-
lich und begriff, die Belgier wiirden sie sorgsam pflegen, sicb
ihr schones, uneigenniitziges Martyrertum, das ibnen zum ersten-
mal in der Weltgeschichte Gesicht gab, zu erbalten. Zu ihrem
502
vollendeten Untergang wtirde man emmal Abnliches sagen, wie
jeuer romische Kaiser im Augenblick seines Todes von flich aelbst
gerufen hatte : qualis artifex pereo !
Iin Ubrigen bracbten ihm die ersten besichtigten Schlacbtfelder
una beriibrntesten Triimmerstatten, binsichtlich der Granatenspreng-
wirkung, die er festzustellen, erw arret batte* Enttauschung. Be-
dachte er, Belgien batte einen Hauptteil der allein von ihm ver-
scbickten Ladungen auf den Kopf bekommen, batte er sich andere
Katastropben, bedeutendere Zusammenbrucbe vorstellen konnen-
Der Meinung war aucb Daisy.
Sie wies ibn an einer ganz markanten Stelle des bingefegten
Rathauses von Ypern, wie an einem einzigen Pilaster cin balbes
Dutzend scbwerer Haubitzbombeneinscblage zu sehen seien, und
Fairfax stellte aus der Praxis fest, sei natiirlicb aucb seiner Ware
Qualitat nicbt immer erstklassig gewesen, bedeute tatsachlich der
Krieg des Produzenten einzige Moglicbkeit, seine Produkte wirk-
iicb grotfziigig abzusetzen, und nortnaler Verscbleitf im Frieden
kame aucb bei bestem Wlllen der Konsumenten demgegentiber
nicbt wirklich in Frage.
Diese Erkenntnis war sein erster profunder Eindruck der
Reise und recbtfertigte sie ganz. Fiir den Ernstfall aber war in
Zukunft so wenig wie auf Englander auf die Belgier zu recbnen,
und man konnte iiber sie fort in Europa Entscbeidendes vorbereiten.
Anzuerkennen blieb ibre Kiicbe und unvergleicblicbe Scbon-
Keit der Frauen, Trotz Daisys Klagen, die Paris nicbt erwarten
konnte, verweilte Fairfax drei voile Wochen in Brussel. diese
lieceiiswiirdigen und in der Liebe erfabrenen Gescbopfe zu kennen
und fand es riesigen Witz der Geschichte, dal? viele ibm unver-
gessene Leidenscbaft zu einem Deutscben gestanden, der sie wabrend
der Okkupation besessen und in Kiinsten der Zartlicbkeit er/ogen
batte.
An hiibscben Kindern in zartestem Alter, von stiffen Miittern
mit Hingabe gepflegt, feblte es nicbt und er sab, die Deutscben
batten in Belgien nicbt nur bervorragende Kunstwerke mit Aus-
dauer zerstort, sondern mit Fleif? ebenso reizende aufgerichtet.
Besonders verebrt fand er in Briissel das Andtuken jener Kavallerie-
offiziere, die in pracbtvoll bun ten Uniformen sporenklirrend urn
die Place Royal geamtet, im .JFilet de Sole", im ^Globe" gegessen
503
batten. Legende umgab einen Prinzen Patatibor, schwarzen Kiirassier
unci ehemaligen Kreischef von BriisseL
Herzliches Mitgefiihl hatte er bei der Abreise und wiinschte
noch vor seinem Untergang mochte das Land die Zwistigkeiten
zwischen Flamen und Wallonen einerseits, Liberalen und Katho-
liken andererseits, die es neben seinem Martyrertum vollstandig
beschaftigten, schlichten und die zur Verfiigung stehende Zeit lieber
grof?ere.r Verehrung seiner entziickenden Weiblichkeit widmen,
der Fairfax in Gedanken grotfe Kuf?bande zuriickwarf,
ALBERT EHRENSTEIN DER LIEBENDE
Meme Lippen riekern: ,,Hundert Kusse!"
Ick mocnte Dick streickeln
In der emsamen Nackt,
Ick , ware mir lieklick
\Venn Du mick kektest v
Sckwer kin ick erwackt.
,,Dein Madcken ist krank, "
Spnckt zu mir einsame Nackt.
Wenn der Tod sie knckt
Bin ick umgekrackt.
Hart war
Mir das Bett an der kleickwangigen Wand,
Ick gekar
Den Tropfen der Trane
In meine leere Sckmerzkand.
Enthaltcn in dem acKonen Band : Die Gedichte von
Albert Enrcnstein, Vcrlag Ed. Strache. Leipzig, Prag, Wicn.
504
AUS DEM TAGEBUCH
EIN DEUTSCHFR TRAUM
Die Rettung kommt aus Karlsruhe.
Dort hat sich cin „B un ^ ^ ur Deutsche
Familie und Volkskraft'* gebildet, welcher die
unzweif elhafte bedrohte geschlechliche
Sittlichkeit der Deutschen wie dcr
herstellen oder eigentlich neu errichten
will. Wie ? Nun, durch Petitionen.
Da liegt dem Reichstag ein neues Gesetz
zur Bekampfung der Geschlechtskrankheiten
vor, durch das der alte Kuppeleiparagraph
wonach das Verraieten einer "Wohnung an
eine Proatituirte schon als Verbrechen ver-
folgt werden konnte, vernttnftig abgeandert
werden soil. Das hat die Karlsruher
Volkakraft-Verwalter fiirchterlich erregt.
Sie wollen die deutsche Sittlichkeit auf
ganz andere 'Weise herstellen. Nicht nur
die ,,Weib8personen*\ wie das alte Gesetz
ao angenehm preuffisch sagte, sollen wegen
Unzucht eingeaperrt werden, die Karls-
ruher achlagen dem Reichstag folgende
Paragraphen vor :
„Mannespersonen, welche gewohn-
heitsmatfig mit der Gewerbsunzucht
ergebenen Person Unzucbt treiben,
werden mit Verweis. im Ruck fall
mit Haft bestraft. Im wiederholten
Riickfall kann Aberkennung derEhren-
rechte ausgesprochen werden".
Gemach, Karlsruher Volkskraftschutzer,
wlflt Ihr, wie viel Millionen Deutsche Ihr
auf diese \Veise ins Gefangnis bringt ?
1st der Volkskraftbund bereit, ungesaumt
neben jede grotfere Stadt mehrere weit-
raumige Zuchthauser (oder eigentlich Un-
zuchthauser) zu bauen, in welche alle
Manner, die mit gewerbsmatfig UnzUchtigen
Unzucht treiben, emgekastelt werden?
Allein jeder dritte deutsche Student iet
geschlechtskrank. (Zu seiner Schande aei s
gesagt, denn die Ziffer verrat die erbarm—
liche Niedrigkeit der erotischen Kultur dea
Biirgertums. Umgang mit ausgesprochenen
Prostituierten disqualifiziert in einer sitten-
losen Stadt wie Paris den jungen Mann,
die unbemantelte Prostitution ist dort eine
Humanitatseinrichtung fur hafiliche Zwerge,
fur Kriippel und Auslander.)
Aber icb -will Euer Gesetz ein Bitfchen
genauer ansehen, Karlsruher Volkskraftler,
Euer Entwurf richtet sich gegen alle
„Mannespersonen, welche gewohnheitsmafiig
mit der Unzucht ergebenen Personen Unzucht
treiben*.. Was htiSt da gewohnheitsmatfig?
Ist also, ein gelegentlicb hef tiger Si^ndenfall
gestattet? Und wann wird der Anfall
zur Gewohnneit? Seid exakt ! Liefert
Ausf uhrungsbestimmungen zu Eurem Gesetz.
Setzt die gerade noch erlaubten Termine
fest. Muff der vom Fieber des Eros ge-
schuttelte, tagsuber in Biiroluft ermudete
Buchhalter, dem es an naturlicher Gesellig-
keit fehlt, vor dem Unzuchtsgericht zittern,
wenn er alle drei Wochen achwach wird]?
Oder seid ihr weitnerzig? Latft Ihr die
LutherregeL gelten? Genaue Zahlen, bitte,
exakte Bestimmungen !
Ihr seid so milde, Euch als erste Strafe
mit dem Verweise zu begnugen. Erst
im Riickfalle tritt Haftstrafe ein. Aber
&a&m® $ ^wbctmslma&N'
505
Volkskrartschutzer, die Ihr Hirnkr aft-
Unterschatzer seid, ist dentt nicht Gewohn-
heit dauernder Riickfall? Ihr wollt nur
die gewohnheitsmatfigen Unzuchtliebhaber
bestrafen, aber das sind ja die dauernd
Ruckfalligen. Oder lebt in Euren zucnt-
hausglaubigen Kopfen wirklich noch die
achlichte Vorstellung, der tiefste Trieb
•werde sich durch die Belehrung des Vor-
fiitzenden einer Strafkaramer uramodeln
oder besanftigen lassen ? Wenn je, werden
tier die Gewohnheitsverbrecher auch die
dauernd Ruckfalligen sein, Gibt es wirklich
no en Kindskopfe, die glauben, das Urteil
cines LandesgericKtes werde den Damon
bandigen ? SchlieUlich solle die Aberkennung
der Ehrenrechte die Sunder schrecken.
Ee iet aber anzunehroen, dai? viele er-
wachsene Manner die Lust, an die Urne
zu treten, fiir weniger lockend halten
werden als die Lust ins Bett zu atcigen-
Ja, aelbst die Aussicht, als Schb'ffe zu
wirken, wird mancbem Toren nicbt genug
▼erheitfend scheinen, um daraufhin, aus dem
mannlichen Gescbleebt auszutreten. Schliel?-
licb: Wer eind ,,die der Gewerbsunzucht
ergebenen Frauenspersonen"' ? Ist die
achnippisehe Soubrette des Vorstadtth eaters
Gewerbsunzuchtlerin? 1st es die fiir
Schmuck empfangliche Kaufmannsgattin?
Ihr konnt Eure Geschlechtsjuetiz nur aus-
iiben, wenn Ihr einc gut organisierte, per-
aonenreiche Sexualpolizei babt. Am besten;
Jeder Deutecbe bat am Ersten jedenMonats
vor eeinem Polizeirevier eine sexuelle Per-
eonalausgaben-Selbsteinscbatzungabzugeben.
Ob, erwidern die Volketraftbiindler,
wir sind nicbt engherzig. Wir unter-
acheiden zwischen ,,der Unzucbt als einem
Gewerbe 4 * und ,.der Fleischeslust des Ein-
xelnen". Wie aber wenn die Fleiscbeslust
den Einzelnen die Basis des Gewerbes ist?
Und glaubt Ihr Volkskraftmeier, der
arme Heine Buchkalter, der tagsuber im
Buro sitzt und abends keine weiblidbe
Seele findct, die sein diirftiges Da-Sein
tcilt, verfalle gewehnheitsmatfig, isomer
wieder riickfallig, der lockenden Unzucht,
ohne daf? Fleischeslust ihn iiberwaltigt?
Ueber die Petition der Karlsruher
Volkskraftmenschen, die demnachst im
Reichstag verhandeln wird, ware nicbt viel
zu reden, wenn nicht anzunehmen ware,
dai? eine ganze Menge sittlicb gericbteter
Volksparteiler und sonstiger Helfferiche
im Parlament <lie rasserettenden Unzuchts-
feinde mimen werden. In den offentlichen
Korperschaften regiert der cant, seit die
Frauen stimmberecbtigt sind, mehr noch
als ehedem. Wird sicb ein mutiger, froh
gcsinnter Abgeordncter finden, der den
Karlsruher Moraltrompetern Multatulis
einfacbes AVabrwort zurufen wird : Die
Ebre des Menschen wobnt iiber dem Nabel!
AN WILHELM RICHTER
Herr Polizeiprasident. Auf meinezt
Brief in der letzten Nummer des ,,Tage-
BucV baben Sie mir vorlaufig nicht ge-
antwortet. Ich bore, daf? Sie in der
Preufiiscben Landesversammlung mit dem
Rufe ,,Morder!* k empfangen worden,sind.
Das ist albern und unwirksam. 'Wer Sie
kennt, weif? dal? an Ibren Handen und an
Ihren Gedanken kein Blut klebt. Sie sind
ein alter Sozialdemokrat und also ein
ho'chst friedfertiger Mann. Aber Sie sind
vielleicht ein schwacher Menscb, schwacher
als lhre Position, schwacher als Ibre Rate.
Deshalb muf? ich Ihnen noch einmal
schreiben.
Im Falle des erscbossenen Suit hat mir
ein Ar2t, ich babe Ibrem Beamten den
Namen genannt, aus frelen Stiicken erzahlt,
er habe mit eigenen Augen gesehen, -wie
Einer Ihrer Beamten dem wehrlosen Ver-
wundeten, am Boden Liegenden einen Stofi
mit dem Fufi versetzt und ibm zugcrufen
habe: „Verrecke Du Aas!" Das durfea
Sie nicht hingehen lassen. Lieber aus den
506
Amt geben als derlei vertuscben lasaen.
Der Arzt ist da. Horen Sie ibn! Aber
horen Sie ibn selbat ! Lasaen Sie nicbt
den Aas-Rufer selbst oder einen seiner
Freunde untersucben.
Zweitcns: Nachdem ich meinen ersten
Brief an Sie geschrieben, erschien erne sekr
kluge alte Frau bei mir, die am Tage von
Suits Eracbietfung im PoKzeiprasidium zu-
fallig zu tun hatte. Sie erzablte nur mit
Zeicben tiefster Erregung, dai? Suit von
dcr Treppc, wo man ibn (auf der Fluent)
niedergescbossen batte, nicbt auf einer
Tragbabre wegtranaportiert worden war,
sondern! Vier Manner baben den Scbwer-
verwundeten an je einem Arrn oder Bein
angefatft und iiber die Treppe gescbleppt.
Aufgercgte Leute wiirden aagen : ,,So
werden Kalber auf dem Scblacbtbof ge-
flcMeppt. ,,Icb • fragte sie nur : War im
Polizeiprasidium keine Tragbabre aufzu-
finden 1 Ferner erzablte die Frau : Der
eterbende Siilt wurde nicbt auf einen
Divan oder auf eines der vielen Rube-
betten in den naben Zimmern gelagert,
sondern der Scbwerverwundete wurde
auf die Stein f lietfen gelegt. Der Scnutf
wurde vor 1 / 2 1 2 abgegeben. Urn balb
zwei Uhr, so erzablte die alte, parteilose
Dame, lag der Verwundete nocb immer
auf den Steinfliefien. Darf icb Sie bitten,
sicb aucb dariibereinBitfcben zuerkundigen?
Vor mir liegt eine Pbotograpbie des
Verstorbenen. Sein Totengesicbt tragt auf
der linken Geaicbtsbalfte einen narben-
annlichen Fleck, der an die Konturen
eines Stiefelabaatzes erinnert. Mocbten Sic
dieses Licbtbild nicbt einmal ganz unvor-
eingenommenen Arzten vorlegen ? Leuten,
die womoglicb garnicbt wiasen, um was
c« sicb bandelt. Es ware docb denkbar,
daft Sie eine ziemlicb erscbrecken.de Aus-
k«nft erbielten ! • '?$
Jedenfalls diirfen Sie nicbt schweigen.
006 sind Sie, Wilbelm Ricbter, Ikrem alten
Ego scbnldig !
BOCHER
Paul Reboux: Les drapeaux.
Paris, Ernest Flamarion.
Verebbt der Hatf? Es gibt sparlicbe
An zeicben in Frankreicb. Eines haSt ,
„Les Drapeaux'*. Sein tapferer Autor
ist Paul Reboux, bis zum Kriege ein
von der Mode getragener Romancier.
Wabrend dieDicbter der Clarte-Gruppe
die Menscbeit, die bekanntlich von Tag
zuTag besaer wird, zurVolkerverbruderung
einladen und in etwaa ermudenden Pbara-
pbrasen den Scbiller - Vers „Seid um-
scblungen, ibr Millionen" variieren, be-
scbrankt sicb Paul Reboxix nttcbtern und
zielbewufft auf den einen Gedanken der
deutscb-franzosiacben Verstandigung, Der
Held seines Bucb Jacques Real — der
Name ist wobl tendenzios — -war bis
zumKriege einLieblingsscbriftsteller der guten
Pariser Gesellscbaft. Er scbrieb nette
Sacben, die nicbt aufregten und nirgenoU
Anstofi erregtcn. Der Krieg oder vielmebr
nocb das, "was er nacb seiner Ruckkehr
erlebt, wandelt den Plauderer zum Vor-
kampfer. „I1 me scmble que, en ce moment
s'amuser a des mots d esprit, c est aussi
lamentable que de danser le tango dans
un bopitaV '. Frankreicb bescbrankt sicb
darauf, im Triumpbtaumel zu scbwelgen
und auf die Deutscben zu scbimpfen. In
Reals eigener Familie lost das Wort
„Bocbe tk ungefabr die gleicben Gefuble au*
wie in Deutscbland das Wort Jude bei
den gesinnungssucbtigen Deutscbvolkiachen.
Der Hatf, der aicb lediglicb an Zerrbildern
orientiert, hat eben keine Varianten. Rial
trifft einen Kriegakameraden, einen Arzt,
und besucbt mit ibm die Lazarette, in
denen die Verstummelten dabinsiecben. Die
507
Stigmata aller (lurch <len Krieg verursachten
Qualen gltihen in ihm auf. Er wagt cs,
seine eigene Existenz aufs Spiel zu setzen
und den Krieg zu bekampfen. Seine
Kandidatur fur die Akademie wird un-
moglicb, ein Sturm von Schmahungen geht
uber ihn nieder, mit einem Jugendfreund
muff er sich duellieren, seine Ehe zerbricht.
Die Zeitungen nehmen keine Zeile mebr
von ihm, die Tbeater weisen seine
Stiicke zurttck, er wird fur irrsinnig
gehalten oder zum mindesten fiir bestochen
von den Deutseben. Er reist nacb Deutsch-
land und siebt bier mit eigenen Augen,
dal? die ebemaligen Feinde seines Vater-
landes keine Bestien sind. Er sucbt seinen.
Landsleuten den Wabn zu nehmen, datf
die Deutseben mit Vorliefce Kindern die
Hande abbacken und Verwundete ver-
etummcln. Aber die Greuellegende ist
das Sanktissimum der franzosischen Bour-
geoisie. Real bat keine Angst vor den
Ergebnissen seiner Erkenntmsse. Er analy-
aiert den Begriff des Patriotismus und
definiert ibn als Kollektivleidenschaft, die
wie alle Leidenscbaften gleicbzeitig ein Mittel
zum Guten und zum Bb'sen ist. Er vertieft
«cb in dieLekture der Zeitungen vom Kriegs-
beginn. "Was damala Richepin, Clemenceau
und der sonst mebr um die Wablstatt der
Iiebe als um das Feld der Ebre bemubte
Henry Lavedan von sich gaben, ist nur
mit dem-Gegeifer unserer Intellektualgreise
zu verglcichen, (womit alles gesagt aein
durfte). Der vereinsamte Real versucht
in einem Manifest, seinen Landsleuten den
cinzigen Weg zu zeigen, der Frankreich
retten kann : Das Bundnis mit Deutscbland.
Denn aucb Frankreich, so meint er, gehort
su den Beaiegten. Die Zabl seiner Ge-
fallenen erreicbt die Bevolkerungsziffer
von Elsatf-Lothringen, Der Norden ist
verwustet, es feblt an Unternehmungsgeist,
Amerika ist weit und Lloyd George bilft
nur mit Redebluten. Nur die Deutseben,
die Real als fleissig, intelligent und loyal
kennen gelernt bat, konnen helfen. Die
Deutseben wollen aucb helfen. Real
hammert es seinen Landsleuten ein, daff
die jungeRepublik nicbt revancbelustern ist,
dal? sie nur den einen Wunsch bat, am
friedlichen Wettbewerb teilzunebmen. Real
stiitzt seine Beweisfuhrung nicbt durch
Tiraden sondern durch Statistiken. Er zitiert
N, Angell, J. Bertillon, Keynes, Kautsky und
viele andere Autoren. Real ist nicht blind
gegen die deutschen Febler, aber er weil?, wie-
viel Deutschland seinera Vaterlande zu geben
hat. Er wiirde sicher dem weisen Jacob
Burckhardt zustimmen. der scbon vor
Jahrzehnten schrieb: ,,Es ist des Hochsten
nicht so viel uber die Erde rerstreut, da(?
heute ein Volk sagen kb'nnte. wir geniigen
uns vollstandig oder auch nur, wir bevor-
zugen das Einheimigche' 1 .
Politiker lesen ja keine Biicher, sie
haben das bekanntlich nicht notig, da sie
obnehin alles wissen. Scbade. In dem
Buch von Reboux wiirden aie ihre Por-
trats wiederfinden. Die Veroffentlichung
von Keynes bat nicht zur Revision des
Versailler Friedens gefiihrt, und Reboux
darf nicbt hoffen, mit seinem Bucbe in
das Weltgescheben einzugreifen. Aber sein
Roman bezeugt, dafi. im Volke Montaignes
und Voltaires ein intellektuelles Reinlick-
keitsbediirfnis bestebt, gegen das die Poli-
tiker vergebens ankampfen. Die Tat des
Paul Reboux ist ein Symptom fiir die
Wiederkebr der Vernunft bei einem Volke,
bei der sie einst nationales Geschlechtsmerk-
mal war.
*Wm
\\MimtiMnw
508
Albert Ehrenstein: DieGedicbte
(Verlag Ed. Stracbe, Wien 1920).
Diese Verse tragen die Stigmata des
Unverganglicben in §icb. nocK Uber aller
mit Aktualitat gemasteten Humanitats-
rbetorik, jenaeit3 von allem, was den Zeit-
genossen ala Lyrik gilt, gibt ea hicr Geaange
in denen das Blut dea Kosmos rollt^
AtVeltverneinung, sonat kokettes Spiel der
Zwanzigjabrigen. ist Kier grandiose Wirk-
lichkeit geworden. Der unserer Zeit fast
verlorene Begriff des Dicnters ward
Geatalt in Albert Ebrenstein. Wie Holderlin
am Anfang des 19., stent er im Anfang
des 20. Jabrhunderts. In bundert Jabren
wird er Klassiker sein.
FILM
DER ZWEITE UCO-FILM
Man konnte glauben, die Verbindung
des Ullsteinverlages mit der Filmindustrie
sci von Nutzen denn dieser Film „Scblotf
Vogelod"', nacb dem Roman von Rudolf
S t r a t x irt mit allerbocbster Sauberkeit
gearbeitet, frei von jeder Gescbmacklosig-
keit, im Dekorativen musterbaft, in der
Besetzung derRollen vorbildlicb. Bcsonders
die Frauenrolle, in der die Tocbter Anton
Tscbecbows entztickt ; bcdeutet ein
gelungenes Wagnis. Auf dem Geaicbt
dieser beseelten, in Augenblicken wunder-
scbonen Russin ist viel, viel mebr zu leeen
als in all den leeren Puppengestcbtern,
mit denen wir aonst bebelligt werden.
Sehr biibscb ist das motivbafte Aiiftaucben
des Scblosses Vogelod, mit dem wir all-
xnablicb vertraut -werden wie mit einem
Hause, in dem wir beimiscb sind. Dies
Alles ist eben unter der Patronanz des
gescbmackvollsten und klilgsten deutschen
Journalisten gemacbt. Icb nenne den
Nam en dieses offentlicbkeitafemdlicben
paasionierten Zeitungsscbopfers mit Freude,
der leise dirigierende Geist Kurt Korffs
bat iiber dem Werke gewaltet.
Jedocb : Der Roman, an dem der
Regisseur Murnau, ein trefflicber Pboto-
grapb und die Tocbter Tscbecbows ibre
Gaben wendeten, ist ein wenig zu arm
und ein Bitfcben zu durftig. Lafft Eucb,
deutscbe Filrafabrikanten, die Manuskriptc
so viel koaten wie die Darsteller. Sucbt
zur Tocbter Tscbechows den Vater!
CACILIE UND DIE
PEROCKENMACHER
Ein freundlicb gesinnter Leaer de»
T.-B. tcbickt mir den folgenden Zeitungs-
ausscbnitt aus der in Breslau erscbeinenden
„Scblesi*scben Tagespost":
Miinsterberg. Kronprinzessin
Cacilie beaucbte dieser Tage mit ibren
vier Sobnen Ibre Hobeit en den
Groflberzog von Saebsen- Weimar und
seine e r laucbte Gemablin aui
Schlotf Heinricbau. — Die hiesigc
Barbier- und Frisor- und Perucken-
macber- Innung beging am Montag
festlicb ibr 25jabriges Besteben.
So lange in Deutscbland Zeitungcn
von dem privaten Besucb einer Frau mit
ibren Sobnen bei einem Ebepaar, das nicbts
zu tun bat, so viel Weaens und Druckcr-
ecbwarze macben, kann es der Zunft der
Peruckenmacber nicbt scblecbt geben
Ibre Hobeiten sind die Voraussetzung dea
Jubilaums der Peruckenmacber. Das dazu-
geborige Volk von Zeitungslesern und
Zeitungsscbreibern bestebt aus Periicken-
tragern. mm
INHALT DES LETZTEK HEFTES
(Nr. 15):
Stefan Grotfmann : Halaentzundungen
W. v. Moellendorf : Wirtscbaftav erf aa sung
Wirtscbaftlicbes Tagebucb
M. Paleologue: Gespracb mit dem Zaren
Hugo Hofmannstbal: Die Ironie der Dinge
Carl Sternbeim: Fairfax
Bernbard Bruno: Die Nacbricbtenbiiros
Aus dem Tagebucb.
Redaktion des „Tage-Bucb" : Berlin W 35, Potsdamer Straffe 123 b, Tel : Lutzow 493 1
Verantwortlicb fur den redaktionellen Teil : Stefan Grotfmann, Cbarlottenburg. VerUft:
Ernst Rowoblt Verlag, BerlinW 35. Potsdamer Straffe 123b. Druckt R. Abendrotb. Rie«.-
509
PER ANBRCICH
6. au^erordentilches
Orchcstcr - Kotigert
am Motitag / den 2. Mai 1021 / ?Va ^ r abends
in der Philharmome tnit detn
Philhartnonischeti Orchester
DTKTQENT:
KARL SCHQRTCHT
PROQRAMM
QCISTAV MAHLER
Sechste Sinfome
Karten bei Bote 3c Bods, und bei We rthcim
Die deutscken ^Veltkurorte Bokmens
MARIENBAD
FRANZENSBAD
KARLSBAD
Sais onbegmn 1. Mai.
Tadellose Verpflegung. Voller Kurtetriek
Einreisebewilligung und Passvisum durcn das
tscneclioslowakiscne Reise- und Verkenrs-
biiro, Berlin W., Potsdamerplatz 3.
Auskiinfte und Prospekte durcn die Stadt. Kxirverwaltungen.
BUCH- UND VERLAGS - DRUCKEREI
R. ABENDROTH RIESA/ELBE
WERKDRUCK / KUNSTDRUCK /ZEITSCHRIFTEN
KRZIWA NEK
die berukmte ^^iener Gastatatte
ECHTE WIENER KOCHE
BERLIN/ Ecke Friedrickstratfe und Mittelstratfe
TELEPHON: 2ENTRUM 4086
OTTO MARKIEWICZ
r
bankgeschAft
BERLIN NW 7 j AMSTERDAM
Unter den Linden 77 *
HAMBURG
Gansamarkt 60
Telegr.: Siegmariue Berlin. Markitto Hamburg.
// Zentr. 9153/54, 5088. 925. 8026 //
ANLEIHEN
UND
RENTEN
ERSTKLASSIGE MONDELSICHERE ANLAGEN
Devisen / Akkreditive / Kredittrief e
UMWECH SLUNG
FREMDER GELDARTEN
ZU KULANTEN BEDINGUNGEN
Ausfiihrung aller Bank- und Borsentransaktionen
Bereitwillige Au«kunit-Erteilung uber Incluatrie-Papiere
Das Tagc-BucL / Heft 17 Jatrg. 2 / Berlin. 30. April 1921
OSWALD GARRISON VILIARD LANSING LUFTET DEN
SCHLEIER
Robert Lanainga, dea eheraaligen amerikaniachen Staatasekretara Buck
uber die Fried enaverh and lun gen (The Peace Negotiationa, Houghton Mifflin
Company, New- York,) ist bisher in Deutschland noch nicht angelangt.
Uroao willkommener war ea mir, der New-Yorker ,, Nation" die folgende
Besprechung ihrea Herauegebera entnebmen zu konnen.
Robert Lansing danken wir den interessantesten der bisker er-
scnienen Beitrage zur Gesckickte des Versailler Vertrages, des Volker-
bundes und Woodrow Wilson's. Nur intime Erinnerungen Wilson's
selbst, oder Lloyd Georges, oder Clemenceau's konnten sein Buck an
weltweitem Interesse ubertreffen; und es ist zweifelkaft, ob Veroffent*-
licbungen dieser Herren so objektiv zu sein vermockten, dal? sie den
Lansmg'scken Darlegungen als rein kistorisckes Material uberlegen waren.
^$Jir konnen uns nickt ennnern, dai? ein Fall dieser Art sick sckon
fruker ereignet katte, — ein Fall, in dem ein Mitwirkender eines
gro!?en Dramas sckon so kurz kinterker nickt nur den Scbleier uber
den Vorgangen, die sick kinter verscklossenen Turen abspielten, geluftet,
sondern auck die Hauptpersonen des Dramas so peinlick zergliedert
katte. Naturlick ist Herr Lansing in dieser Sacke nickt unbewegt von
tiefen personkeken Empfindungen. Dreizekn Monate lang kat er, aus
Rucksickt auf den Prasidenten, mit seiner Darstellung der Tatsacken
zuruckgekalten, die dazu fukrten, dai? sein Rucktrittsgesuck vom Prasi-
denten ^Vilson in so sckabiger Weise genekmigt wurde. Jetzt aker
unterbreitet er uns, — mit sicktlicker Bemukung, gereckt zu sein und
sick auf eme anwaltsmaiSge Aufreikung der Fakten zu besckranken, —
die genaue Gesckickte dessen, was sick in Paris ereignete.
Vermutlick werden sick Historiker und Moralisten nock auf
Generationen kinaus uber den wakren Anteil Wilson's an der Pariser
Katastropke kerumzanken. Sckon siekt man, wie die Dinge sick ent~
wickeln werden. Seme Bewunderer (z. B. die Leute, die jetzt einen
Fond von 500 000 Dollars sammeln, um des Exprasidenten Dienste fur
die Sacke des Friedens zu verewigen), — seine Bewunderer glauken
dal? man lkn sckon wegen seiner 14 Punkte und wegen seines Bekarrens
auf dem Volkerbund zu den groften Ersckeinungen der Gesckickte
recknen musse. Sie stellten es so dar, als ob der President in Paris
513
unter Rauber gefallen sei, als oo es mm sckon aufs ho caste angerecknet
werden musse, p.zU er in seinem ve reins am ten Kampr gegen ate rammer*-
ten Tricks zyniscker europaiscker Diplomaten so viel erreickte, wie inn
tatsacklick gelang. Sie fragen, was mtt dem gescklagenen Feind una
was mit Rutland wokl gesckeken ware, wenn es keinen Wilsoa ge^-
geken katte.
Fur Leute dieser Art muis rlerrn Lansings Gesckickte sekr un—
bequem sein. Die werden naturlick erwidern, dais der entlassene Be~
amte verkittert sei. Glucklickerweise kann der Exstaatssekretar seine
Sache in Detract til chem Umfang mit Dokumenten kelegen; aucn die Zeit
kat sick auf seine Seite gescklagen und nickt minder das sicktkare Er~
gekms der Friedenskonferenz. Seme Urteile, Ansickten und Voraus-
sagungen sind vom Lauf der Ereigmsse kestatigt worden. Herr Lan-
sing war sick sckon wakrend der Konferenz vollkommen klar daruker,
welcker Missgekurt sie Leken zu geken im Begnffe sei; denn am
8. Mai 1919 sckriek er in sein Tagekuck:
„Der Eindruck, den der Friedensvertrag mackt, ist ent-
tausckend und niederdruckend. Die Bedmgungen ersckeinen uner-
me#lick kart und kesckamend; viele von lknen kalte lck fur un-
durckfukrkar Anstiindigerweise mu# zugegeken werden,
datf der Volkerkund nur ein Instrument der Macktigen ist, urn
das normale Wackstum nattonaler Kraft und nationalen Strekens
auf Setten derjenigen zu kemmen, die durck die Niederlage wekr-
los gemackt worden sind Dieser Krieg wurde von den
Vereinigten Staaten gefukrt, um fur immer ale Umstande auszu—
merzen, die ikn ersteken lie#en. Aker tatsacklick sind diese Um-
stande keineswegs ausgemerzt worden. Sie sind nur durcn andere
Umstande ersetzt worden, die lkreraeits ekensoviel Hals, E iter—
suckt und Mitftrauen zuckten werden.
Er fugte sckon damals kinzu, dal? die Liga einfack ein BundniS der
funf grotfen Militarmackte sei; da(? Gerecktigkeit, auf die kei dieser
Regelung vor allem Beiackt katte genoramen werden mussen, nur eine
Rolle zweiten Ranges darin spielten: und das der Vertrag nickt zum
Frieden fukren konne, „weii er auf dem Flugsand des Egoismus autge-
kaut ist*\ Und er erklart: „ Wilson erztelte einen grofien personlicken
Triumph, aber nur dadurck, daQ er das Grundprinzip — das Prinzip
von der Gleickkeit der Nationen. — aufgak. In seiner Gier, „die
Welt fur die Demokratie zu sickern". lie(? er in Wakrkeit die internationale
Demokratie fakren und wurde zum Advokaten internationaler Autokratie.
514
Nickts konnte keute, nack zwei sckicksalsvollen Jakren, wakrend
deren die Welt dem Fnedea nickt im geringsten nakergekommen ist
dieser sckon 1919 erfolgten Cliarakterisierung ernes Vertrages kinzuge-
fugt warden, der von allem Anfang an Irrsmn war; und ekensowentg
dieser Ckarakterisierung der Liga. Lansing sak auck sofort, dal? die
Liga nickt etwa em Meckanismug zur Verkinderung von Kriegen,
Bondern ein Meckanismus zur Vollstreckung des Fnedens-Vertrages sein
sollte. Aus diesem Grunde opponierte er keftig dagegen, dal? der
Volkerbundspakt dem Friedensvertrag einverleikt werde; darin stimmte
er offenkar mit Okerst House ukerein, denn gerade auf diese Frage ist,
wie allgemein kericktet wird, der Bruck Wilsons mit Okerst House
zuruckzufukren. Lansing kesckuldigt den Exprasidenten sogar ganz
offen, vor der amerikaniscken Oeffenllickkeit Tatsacken gefalsckt zu
kaken: und zwar dadurck, dal? er am 28. Mars 1919 in einer Rede
versickerte, es sei unwakr, dal? die Einverwekung des V olkerkundsver-
trages in den Friedensvertrag an der Verz.igerung des Friedens sckuld
sei. „Wozu dieser Versuck, offensicktlicke Wakrkeiten akzustreiten?^
ackriek Lansing in sein Tagekuck, (das in Paris, obwokl dauernd in
einer Sckuklade verscklossen, nock mit etnem eigaen Sckloss gesickert
war). Er raumt indessen ein, dal? des Exprasidenten Haltung darauf
zuruckzufukren sein konne, dal? er die wirklicke Lage in Paris nickt
verstand — eine Alternative, die nickt sekr sckmeickelkaft fur des
Prasidenten Sckarfsinn ist.
Lansing war von allem Anfang an Gegner des Volkerkundes in
seiner keutigen Form. Sckon ganz fruk, am 25. Mai 1916, ein Jakr
eke wir in den Krieg eintraten, — kekampfte er in einem Brief an
Wilson die Lekren der „League to Enforce Peace" und legte mit selte-
ner Propketengake dar, dal? „sowokl die offentlicke Meinung, als auck
der Senat einen Vertrag zuruckweisen wurden", der unsere Handlungs-
freikeit vom W^llen anderer Nationen jenseits des Oceans kesckranken
lie#e. In Paris legte er dem Prasidenten ein Memorandum vor» in dem
er erklarte, dal? jeder Versuck, Amerika vertraglick zu verpflickten, auf
Grund festgelegter Bedingungen an einem Kriege teilzunekmen, unkonsti-
tutionell, „nicktig und undurckfukrkar" sei. Aker, wie es der Prasident
im Verkekr mit Lansing ofters kielt, kestatigte Wilson weder den Ein-
gang ^cs Begleitsckreikens nock des Memorandums und zog semen
Sekretar in dieser Sacke nickt zu Rate.
Lansing glaukt. dal? Wilson's Mil?trauen in ikn urspriinglick daker
kam, dal? er Jurist ist. Auf einer am 10. Januar 1919 stattgekakten
515
Konferenz der amerikaniscken Frledensdelegation erklarte lkm Wilsoa
rund keraus, dal? es „nickt seme Absickt sei, den Friedensvertrag von
Juristen entwerien zu lassen,' Hiernack wurden Lansing und mit mm
Mr. Henry Wklte und General Bliss vielfack 1m Dunklen gelassen.
Lansings Buck entkalt ein Portrat dieser drei Herren, das mit Sarkas-
mus v,Die taglicke Konferenz der amerikaniscken Friedenskommisson be—
titelt ist. Diese Rumprkommission wu(?te oftmals nur senr wenig von
den wirkkcken Vorgangen; sie kezog lkre Inrormationen mekriack von
Pressevertretern. Trotzdem wurde Lansing, als Wilson akreiste, als
sein Stellvertreter zuruckgelassen, gemeinsckaftkck mit Okerst House.
Wnson katte Lansing, wenn er lkm nickt mekr vertraute, leickt erlosen
konnen, und zwar mit der emiacken Begrundung, dal? seme Anwesen*-
keit im Staatdepartement erforderlick sei. Aber er kielt lkn in Pans
fest, und aus patriotiscken Grunden rand sick Lansing, otwokl vielem
kesckamenden Situationen ausgesetzt, damit ak. In semem Bucke be*
sckaftigt er sick jetzt mit der Frage, ok Wilson Kritik ertragen kann oder nickt.
Er kofft, dal? des Prasidenten Haltung lkm gegeniiker auf Verkennung
seiner (Lansings) Motive zuruckzurukren sei; aker er ist gezwungen, seiner
Meinung Ausdruck zu geken, dal? Wilson „jeae Opposition gegen seine
Ansickten, wie gemal?igt sie auck geauKert werden mockte, unangenekm
em pi and und dal? er es nickt wunsckte, sein Urteu selbst in ireund—
flckaxtlicker Weise angeiockten zu seken \ Ack ja, nock andere, Dutzende
von anderen sind nack personlicken Eriakrungen zum gleicken Scklusse
gekommen; kegt darm dock, um nur ein Beispiel anzurukren, der einzige
kekannte Grund darur, dal? Wilson den Obersten House uber Bora
warr, obwokl kem Mann semem Lande oder seinem Cker je selkstloser
und ergekener diente als er. An anderer Stelle sagt Lansing; „Er ( \Vuson}-
sckien memandem, der lkn lrgendwie beleidigt katte oder lkm entgegen-
getreten war, verzeiken zu konnen'; und es ist rerner aufklarend, zu
koren, dal? es „m des Prasidenten Mentaktat erne seltsame, nakezu
paraaoxe Misckung von Entsckiedenkeit und Unbestimmtkeit gibt; ,, seine
Entscklusse waren immer viel weniger prazise als plotzkck .
A[Vie tier die K.lurt zwiscken den zwei Mannern war, gekt mit
steigender Klarkeit aus alien rCapiteln kervor. Der Staatssekretar wunsckte^
dal? man ein sorgraltig durckdacktes amerikamsckes Programm nack Paris
mitnekme. Wilson tat es nickt; er gak zu, dal? er mckt einmal die
Gekeimvertrage, die den Scklussel zu der ganzen poktiscken Seite des
Kampfes darstellten, gelesen kake. Dann bestand eine Memungsver-
ec kiedenkeit uber den Begrifr „Selbstbestimmung"; Lansing glaubte, da*
516
seine sckematiscke Anwendung auf jeden Streitfall zu einer Quelle po-
litiscker Unsickerkeit und Aufleknung werden musge. Weiterkin wider-
setzte sick Lansing dem Mandatssystem, das General Smuts ausgearkeitet
katte; er kesckuldigt die Alliierten, dal? sie eine wokl erwogene Propaganda
entfesselt katten urn Aie Vereinigten Staaten — wakrend sie selkst sick
die reicken und gedeikenden Gekiete vorkekalten wollten, — zur Uker-
nakme der Mandate iiker Konstantinopel und Armenien zu veranlassen,
die eine sckwere Burde fur die Mandatarmackt kilden mutften. Ferner
mackte Lansing dem Prasidenten dadurck Opposition, datf er sckleumge
Verkandlungen iiker einen Vorfrieden kegunstigte, der eine Reike von
Erklarungen iiker den Volkerkund und ein Akkommen iiker eine spater
akzukaltende internationale Konferenz zur Beratung der Einzelkeiten
entkalten sollte. Ware diese Politik verfolgt worden und katte man
kompkzierte Territorialfragen spateren Verkandlungen ukerlassen, dann
ware keute die ganze Weltlage kedeutend kesser, dann stunde die Finanz-
katastropke nickt so nake kevor und Hunderttausende von Menscken
waren vor langsamem Hungertode gerettet worden.
Lansing, General Blil? und Mister W^kite waren r«ick unkedingte
Gegner des vorgescklagenen Dreikundvertrages mit Frankreick und England;
und dal? dieser Vert rag, der Amerika verpflicktet katte. Frankreick fur
alle Ewigkeit "Beistand zu leisten, in Waskington auck nickt einen
Augenklick lang ernst genommen wurde, keweist zur Geniige, wie ncktig
ikre Haltung war. Lansing erklart, dal? dieser Vertrag von Wilson
nur darura zugesagt worden sei, um das franzosiscke Verlangen nach
Sckaffung eines internationalen Generalstaks und einer unakkangigen
rkeiniscken Repuklik (die nock jetzt, Frukjakr 1921, drokt) zu ukerwinden.
Das klassiscke Beispiel aker dafur, wie Wilson durck seine eigene
Diplomatic ketrogen wurde, und wie er einfack alles fur den Volkerkund
opferte, kleikt immer nock Sskantung. Ansckeinend trat Baker nack des
Prasidenten Kapitulation vor die ckinesiscke Delegation und erklarte ikren
Mitgliedern; „Es tat dem Prasidenten sekr leid, dal? er nickt mekr fur
Ckma tun konnte; aker um den Volkerkund zu retten sak er sick
gezwungen, den Forderungen Japans nackzugeken". Es ist nickt unnaturKck,
da(? Lansing dies in semem Bucke als „widerrecktkcken Sckacker una
als ,. flagrante Aufopferung unzweif elk after Reckte" kezeicknet. Er mackt
klar, dal? nur die Gekeimdiplomatie Sckuld daran trage; denn „die Er-
wagungen, die den Prasidenten kekerrsckten, waren diejenigen, die lkn.
in den Gekeimsitzungen von Clemenceau und Lloyd George vorgetragen
wurden \
517
Es ist gerade des Prasidenten Gekeimdiplomatie in Paris, die Lansing
am sckarfsten verurteilt. Als der Sckreiker dieser Zeilen nack der
Protestversammlung amenkaniscker Korrespondenten anlai?lick des Bekannt-
werdens der Tatsacke, dai? AA^ilson in seinem Verlangen nack off en en
Friedensverkandlungen kapituliert Lake, das Crillon-Hotel verliei?, sagte
ikm ein ausgezeickneter Journalist aus Kanses propketisck: ,.Nun ist es
aus mit Herrn Wilson! Lloyd George, Clemenceau und Orlando werden
lkn jetzt m lkr Privatkakinett sckleppen und nack Herzenslust ausraukern;
und die Aui?enwelt wird seine Rufe urn Gnade nickt einmal koren!""
Lansing trug dem Prasidenten am 29. Januar 1919 seine Einwande vor
und erklarte, dai? seine Privatkonferenzen M ukerall einen sckleckten Eindruck
mackten". Der ;Prasident korte ikn sckweigend an. Am 29. Marz
klagte Lansing seinem versckwiegenen Tagekuck: „Die Gekeimdiplomatie
knngt erne neue Ernte von Fluck und Verdammnis zur Reife. Wird
diese Praktik niemals enden?" Und „Preisgake von Prinzipien, Unfakigkeit,
kedingungslos proklamierten Ricktlinien zu folgen. tatsacklicke, ja, viel-
leickt sogai ausgesprockene Verleugnung jeder ncuen und kesseren Art
lBternationalen Verkekrs": das, erklart er spater, ist die Gesckickte von Parif.
Alles, was Lansing vom Volkerbundsvertrag und von den Verkrecken
und Irrtumern des Friedens sagt, ist so wokl kegrundet, dai? keine
Antwort darauf mogKck ist. Merkwurdig ist nur, dai? er trotz dieser
seiner Memung dafur eintrat. dai? Amerika den Vertrag ratifiziere. Er
erkcnnt an, dai? diese Stellungnakme „paradox" ersckeinen miisse. „Ick
wider setzte mick dem Vertrag; aker ick setzte mick dafur ein, dai? er
ratifiziert werde Okwokl der Vertrag in vieler Hinsickt sckleckt
war, sckien es mir, solan ge der President unbeeinflui?oar und unersckuttert
kkek, erne Pflxckt gegen die Mensckkeit, ikn zu ratifizieren". Er glaukt nock
keute, da/? diese Haltung ricktig gewesen sei. Aber indem er das tut, mackt er
sick derselken Sckwacklickkeit sckuldig, deren er den Prasidenten Lezlcktigt^
Und das wirft aufs neue die ganze Frage auf, wie es denn um seine Haltung in
Pans keetellt gewesen sei. Hatte er nickt zurucktreten mussen? Sicker ware
ikm das nock anzurecknen gewesen. Er sagt nun, dai? er von emer Demission
deskalk Akstand genommen hake, weil sie „ckne Zweifel zu einer unvorteil-
kaiten, wenn nickt kritiscken Situation gefukrt kaben w urde*\ Er ertrug un-
duldkare Geringsckatzung, damit die amerikaniscke Front dem Feind gegen~
uker ungekrocken ersckeme. Aker das alles keii?t dock nickts anderes, als dai? -
auck er mit seinem Gewissen Kompromisse einging. Mir sckeint, dai? der rick-
tige Ort fur Herrn Lansing, seine Meinungen auszusprecken, Paris gewesen
Tvare ; und der ricktige Zeitpunkt nickt der Marz 1 921 sondern der Marz 1919.
518
WALTHER FEDERN, WIEN WIENER WIRTSCHAFT-
1LICHES TAGEBUCH
Es ist jetzt bald em Jabr ner, seitdem die Etablierung der nacn
Auiiassung aer meisten lA/iener zu unserer .JReparatur eingesetzten
osterreicbiscben Sektion aer Reparationskoxnmission von aer groijen' Re-
pa ratio nsko in mis si on m Pans mit emer Note angekundigt wurde, welcbe
eine neue Aera fur Deutscbosterreicb emzuleiten verspracb. Die Kredite,
die uns a a ma Is in Aussicbt gestellt wurden, baben wir bis beute nicbt
erbalten. Die \Viener Sektion bat viel Geld gekostet, aber jeder Deutscb—
osterreicber wird anerkennen, dai? sie sicb redlicb bemubt bat, die ibr
gestelite Aufgabe zu erfullen, dai? sie mit allem Eifer bestrebt "war, sicb
uber unsere Lage und Notwendigkeiten zu orrentieren, daK sie uns in
mancben Noten gegenuber den Nacbfolgestaaten k und den Hauptmacbten
beigestanden ist, dal? sie. Plane zur W^'ederaufricbtung unseres Staates
auigestellt bat, die unzureicbend und zum Teil diletantiscb gewesen sein
mogen, deren recbtzeitige Verwirklicbung aber uns immeibi fur einige
Jabre vor dem argsten Elend bewakrt, unseren Niedergang aufgebalten
natte. Aber ibre V orscblage fanden keme Gnade vor den Beberrscbern
in Fans und London. Zu wiederbolten Malen wurde Aie Wiener
bektion von der Reparationskoromission desavouiert und zuletzt aucb der
Wiederaufbauplan des Sir AiVilliam Goode verworfen. Man batte es
veretanden, wenn die so zur Bedeutungslosigkeit berabgewurdigten Manner*
welcbe bei ibrer Entsendung nacb Wien als grotfte Leucbten erklart
worden waren, ibre Stellungen niedergelegt batten. Das gescbab nicbt,
aber plotzlicb wird die Sektion abberufen. Griinde dafur werden nicbt
angegeben. Vermutlicb waren sie, die in "Wien das Elend wirklicn
kennen lernten, unbequeme Manner. Oder vielleicbt ist es wabr, was
man bebauptet, dal? Herr Loucbeur, dessen Gescbafte in Frankreicb selbst
vielracn als „loucbe bezeiebnet werden und der Deutscbosterreicb einem
Fmanzkonsortium zur Ausbeutung ubertragen fwollte, dessen Kontrolle
durcb die \Viener Sektion nicbt braucben konnte.
Indessen ist das Projekt Loucbeur ebenso in der Versenkung ver-
scbwunden wie das weitaus bessere der Wiener Sektion und an seine
Stelle ist die Hilfsaktion des Finanz-Komitees des Volkerbundes getreten*
das nocb ganz nebelbaft ist und fur das bisber zwei Ectwurfe von
Ricbtlimen besteben. Der eine ist von den Regierungen der Haupt-
macbte m London unserem Staatskanzler ubergeben worden, den andern
nat das Finanzkomitee felbst ausgearbeitet, sie decken sicb keineswege.
Abweicbungen zwiscben den beiden Scbriftstucken besteben vor allem
519
dan n, da/? die Regierungen uns nur Kredite nacb dem auf der Briisjle r
Finanzkonrerenz von ter Meulen aurgestellten Schema zudacbten, welcbe
fur uns von genngem Werte sind, weil wir in erster Lmie Lebensmittel—
kredite braucben, wabrend der V olkerbund neben diesen Krediten aucb von
einer An lei tie spricbt, die eber rur diese Zwecke nutzbar gemacbt werden
konnte. Abweicbungen besteben rerner dann* dal? die Regierungen nacb
den Darlegungen unserer Minister erkannt batten, daK die Auslands-
kredite die V oraussetzung darur bdden, dal? an eine Verminderung des
Defizites und des Notenumlaures und an die Aufnabme emer inneren
Anleibe uberbaupt gedacbt werden konnte, wabrend das Finanzkomitee
dtese MaJmabmen als die unerlabhcbe Voraussetzung der Auslandsbilre
bezeicbnet. Unsere erste Aufgabe wird also sein, das Finanzkomitee
dessen Delegierte dieser Tage m Wien eingetroffen sind, von der Un-
moglicbkeit^ dieser Fbrderung zu uberzeugen, was ja vermutlicb aucb all-
mablicb gelingen wird; nur wird daruber einige Zett vergeben. Da dann
erst die eigentlicben Verbandlungen beginnen konnen, gebort bei dem
Tempo der Verbandlungen mit'und zwiscben den Alliierten und asso-
ziierten Macbten viel Optimismus zu der Annabme, dal? wir vor einem
nalben Jabre das erste Volkerbundgeld seben werden. Inzwiscben aber
werden wir.weiter von Monat zu Monat die dringendsten Lebensmittel
und was wir sonst braucben aui unsere Kosten kauien mussen und da-
durcb den Wert der Krone 1m Auslande rortgesetzt berabdrucken.
Sind wir aber erst soweit und werden uns tatsacbbcb die Kredite zur
Verrugung gestellt, um unseren Lebensmittelbedari rur die nacbste Cam-
pagne obne sorortige Sezablung zu erwerben, dann ist uns zwar rur den
Augenbltck eine Erleicbterung gewabrt, aber von wirklicber Hilre ist nocn
keine Rede. \Vir erbalten ja die Kredite oder die Anleibe nur gegen
Sicberstellung. Da unser Lebensmittelbedari pro Jabr nun des tens
50 Millionen Dollars ausmacbt, und die zur Verpraadung bestimmten
M^onopole und Zolle keine wesentlicben Uberscbusse uber die rur den
Dienst einer Anleibe in dieser Hobe notigen Betrage lierern, werden wir
nacb einem Jabr genau an demselben Punkt stenen wie jetzt, nur dal? es
scbwerer sein wird, ebenso wertvolle und leicbt greifbare Pfander fur
eine neue Anleibe zu fmden. Aber aucb fur dieses eine Jabr ist uns
nicrit viel gebolfen, so wemg es den Niedergang der Krone und unserer
Finanzen aurzubalten vermocbte, dab wir wanrend des Jabres 1919 und bis
zum Herbst 1920 die Lebensmittel von der Entente kreditiert erbalten baben,
^Vabrend so unsere Doktoren immer nocb Konsilien balten und
der Patient von einem Wunderdoktor an den anderen abgescboben wird«
520
weil una Reiner zu kelfen weitf, werden bier die Verbaltnisse immer
scbkuuaer. Zur Zeit, wo die Preise auf dem ganzen ^Veltmarkt den
euapnndkckften Ruckicblag erlitten baben, sick in vielen Waren scbon
den VorknegapreMen nakern, wo aelbst in Deutscbland, in der Tacbeeko-
slovakei und Ungarn einc Art Preisabbau sick vollziekt, werden die
Preise kier immer unersckwinglicker. Vom 1. Janner bis 1. Marz aind
die Detailpreiae in Wien im Durcbscknitt urn 25 Proxent gestiegem
Gewii? ware dies nicbt notig, aber Produzenten und Handler werden
immer unverackamter m ibren Forderungen. Je weniger Fleisck aui dem
Markt verkaurt wird, weil es fast niemand mekr zu kauren vermag,, —
aann kommt es in die Fremden- und Scmeberrestaurants, vielleicbt ver-
dirbt es aucb zum Teil — desto koker ateigen die Fleisck preise. Dal?
erne kleme Scbacbtel Scbwcizer Kaae, die in der Sckweiz zu 1 Franlc
verkauft wird, also bier kocketena K. 150 kosten durfte, zu K. 340 in
den Delikatesaenkandlungen angesckrieben atekt, iat unverantwortlicb.
Aber das Volk ist in sein Sckicksal ergeken und niemand versucbt sick
geben die Preise zu webren. Man ziekt nur die Konsequenzen aus der
Teuerung. Die Einen, indem aie nocb mebr kungern, die andern, indem
sie ikrerseita die Lobn- und Gebaltaansprucbe erkoken. Ea vergebt leine
^A^ocke ohne Loknerkokungen, kein Monat, wo nickt die staatlicken
Bedienateten mit neuen Anspriicken kommen. Eben ist wieder eine Be-
soldungareiorm von der Regierung vorgelegt worden, die die jakrlicken
Auagaken um 12,7 Milliardlen K. erkoken werden. Bisker waren die
Beziige mittlerer Staatsbeamten balb so bocb als die der Bankbeamten
die allerdmgs jetzt so ziemlicb an der Spitze der Festbeaoldeten mar-
scbieren. Das Denzit, das obnekm sckon 42 Milliarden Kronen —
7000 K. auf den Kopf der Bevolkerung — betragt, wird um einige
weitere Milliarden zunekmen, die Notenpresae nock rascker rotieren mil as en.
Und da redet man in Paris und London von Verminderung dea
Derizites und des lNotenumlaures! Die Arbeiter aber, bei Menen dn
Jakrealokneinkommcn von K. 150 000 bereita Regel von K. 200000
keine Seltenbeit mebr ?st, wollen und konnen, so wie in Deutsckland,
nicbt die boken Steuern davon bezaklen und so kat der NationaLrat —
die Regierung wurde ukerkaupt mckt gerragt — dieser Tage einstimmig
ein Geaetz kescklossen, nack welckem die Steueraatze bis zu einem Ein-
kommen von /2 Mill. K.. wesentkck kerabgeaetzt werden. Nack * der
erst im Juni vongen Janres besckloasenen Steuernovelle , begann die
Steuerpflickt bei einem Einkommen von K. 8000, kunftig bei K. 30 000,
Fur eine seckakopfige Familie begmnt die Steuerpflickt erst bei K. 80 000
521
Einkommen. Von einem Einkommen von K 100 000 zaklte man K 1 1 000,
kunftig K. 3640. Von einem Einkoinmeu von einer kalben Million K.
wird die Steuer von K 164 000 auf K. 75 000 kerabgesetzt. Vor clem
Kriege gab es im ganzen alten Osterreick nur em paar bundert Men-
scken mit einem Einkommen uber erne balbe Million K. Jetzt begmnen die ge~
hobenen Einkommen erst bei disem Satze, bei dem eine gro(?ere Famine sick
immer nock uberlegen mu£ ob sie uberbaupt einen langeren Landauf entbalt sick
gonnenkann. Denn wennman nickt em ganz gottverlassenesNest auf«uckt, wird
ron den Bauern, die das Wuckern so gut gelernt baben 20- bis 80 000 K fur
die Sommerwoknung verlangt nur fur die Woknung, obne Pension \
So scbrumpft der Geldwert unausgesetzt zusammen. Und wenn,
was eben wieder in Verbandlung stebt, die Eisenbabn~, btrauenbabn-.
Gas— v und Elektnzitatspreise neuerlicb erkokt warden — etne StraKen-
baknfakrt soil von K 5 auf K 7 bmaurgesetzt werden — so wird etne
neue Teuerungswelle emsetzen. Wabrend vor einigen Nlonaten der
Inlandswert der Krone nocb wesentkck boner war als der Auslands-
wert, nanert er sicn lkm in rascbem Tempo. ^/enn die Gestebungs-
kosten nur nocn wenig steigen, der Kronenkurs lm Ausland sicn etwas
kebt oder die Weltmarktpreise weiter sinken, dann Kort die Export-
fakigleeit Deutsckosterreicks in vielen Artikeln auf, dann baben wir
wovon wir kisker nock versckont geblieben sind, auck die Absatz- und
Arbeitskrise in DeutsckoSterreick. Das ist das furcbtbarste an unserer
Lage. Fruber konnte man immer nock boffen, dalf? erne ausgiebige Kredit-
kilre des Auslandes, die uns erlauben wurde, den Kronenkurs aur einem
kokeren iNiveau- zu stabilisieren, sodai> der Staat nickt mekr bei jedem Laib
Brot Aen er zu K 9 verkauft, K 40 bis 50 daraufzuzaklen braucbt, uns rur
einige Jakre uber das scklimmste Elend binwegkelfen wurde. fleute ware
erne solcke Hebung acs Kronenkurses eine Katasfropbe. Denn dann
wurde zwar das staatlicke Defizrt sckwinden, die Notenpresse konnte
vielleickt zur Ruke kommen, aker die Lekensmittelpreise und damit die
Gekalte und Lokne wurden mckt zuriackgeken, well der Staat das Brot
ja nickt killiger abgeben durfte, wenn er das Defizit tilgen will, die Ge~
stekungskosten der Industrie wurden daker nickt sinken, und da sie ent-
spreckend weniger fur die ausgefukiten Waren in Kronen erlosen wurde,
kame unser Export und unsere Industrie uberbaupt zum Stillstande. Das
kat die Entente dadurck versckuldet, da# sie uns ein Jabr auf die ver-
sprockene Kreditbilfe warten lief?. Es ist vielleickt wirklicb zeitgemaa,
dai* sie die Wiener Sektion die Reparationskoramission abberurt, denn
da gibt es nicnts mebr zu repaneren.
522
FRW.DRICH WOLF BILTHOVEN
In BiltLovcn tind kurzlich Leutc atii ganz Europa lUMmmengekommeB,
una xu beratcn, wclchc ueucn Wege der porteienmude, lebeiKglaubige Me ruck
eioschlagcn solle. Der Dichter und Ant Friedrick Wolf gibt bier einea
Nachklang dieser Beratung.
Mit Passen und obne Passe langten wir nack einer Fruklingsfakrt
durck den Utrecbter BuscK im Brudcrscbartskaus zu Biltkoven an.
Das Haus lii breiten gelassenen Matfen wurde in freiwilliger Axbats-
leistung in den Kiefernwald gestellt. Sein Turstem tragt die Inschnrt:
„Einer ist Euer Meister; ILr aber seid Bruder." Und im Speiseraum
kundet eine macbtige cbinesiscke Initiale aus des Confucius Zeit: „Alle
Menscken . . . eine rami lie.
Keine Konferenz, eine Familie, bo fuklten war una nack der ersten
Stunde. Es gait eine Vorbespreckung der konsequenten Antimiktaruten
fur den anscblieuenden Haager Kongreu. Docb icb will mer merit Liber
die saebbeben EntscklieJuungen der beiden Konrerenzen bericbten, sondern
die Dinge anzudeuten versucben, aie in der Lurt lagen, die Atbmoapkare ,
das Unausgesprocbene, das meist bestimmender fur Entscblusse ist als das
Aussprecbbare.
Die Menscben, die aus alien Landern und Scbicbten in Biltkoven
erscbienen, waren fast durebweg Kriegsdienstverweigerer ; sie batten
wabrend des allgemeinen >A/abnsinns in Mitten des Standrecbts aur
orfnen Platzen, in Mumtionsrabriken und Truppenlagern unbeirrt zur
Besinnung aurgeruren; sie batten Monate und Jabre in Ounkelzelle una
Emzelbaft der Zucbtbauser verbracbt wie Kees Boeke, Horace Fletscker,
Wlllrred W ellsk : sie waren zum Tode verurteilt worden wie Marcoe
S aur age, der Herausgeber der „L ordre naturel*. Es gab da unter una
aucb bollandiscbe rleeresdienstverweigerer der grotfen syndikakstiscken
Siedelungen Nordbrabants, deren Kameraden jetzt nocb im Zentral-
gerangnis bei Utrecbt sebmacbten, Bauern, Handwerker, viersckrotige,
breitknocbige Bracbialgestalten. Der „Barkenkof f " - Worpswede war
durcb zwei bandfeste und bellkopfige Kerle vertreten, einen Scblosser
und Scbreiner. Dann wieder Helene Stocker, Lilian Stevenson und
Rose Frenck-Morgan, die auf dem Balkan wabrend des Mordens das
tatige Liebeswerk geleitet.
Zwiscben all. diesen bervorragensten Element en entstand sogleick
ein durcbaus unnaebprufbare* und unausspreebbares Vertrau ens verb altnis.
Es gelang, was unter Intellektuellen keut kaum mekr moglick, sick der
entgegengesetzten Meinung einfack zu offnen und sie nickt so sekr zu
523
durcbleuctten, als ibren Warmegebalt auf aicb wirken ;u lassen. Es
gab zwar Augenblicke, wo gerade wir Deutjcbe glaubteu, die Geduld
verlieren und uns ^durcbsetzen" zu mussea. Aber das seebscbe Band
bielt. „Die grotfe Sympatbie" blieb kein leeres Wort.
Voraussetzung riir diese innere Berubrung sckeint mir dcr enge
Kreis, „die Bruderscbaft," die Zelle. Nur da vermag der erne dem
anderen das Wort von den Augen abzulesen, die Temperatur zu
emprir-den. Nur da wird jede Plakatierung und jede Pose sogleicb
gegenetandslos.
Icn glaube, bier liegt ein Zugang zu unserm ganzen Zeitwrobiem.
Denn selbst dort, wo wir von der eigcnilicben Maebtlosigkeit der
autferen Macbtverbaltnisse, wie Presse, Valuta, Parlamentc, uber2eugt
sind und wissen, dai? grade die Realpolitiker im entscbeidenden Augen-
blick stets betrogen werden und irrationale Grotfen die Gcscbicbte lenken,
selbst da sind wir nicbt rrei davon, die Ausdebnung, das Extensive als
Matfstab fur den ^A^ert einer Sacbe zu benutzen. Die Weltstadt, die
Milliarde, der 4000 m Hobenrekord, der Riesenstreik, die Monatsgage
von 1 Million Valutamark, der Arenaregisseur, was bedeuten diese
Dimensionen, die uns iascimeren? Es sind im Grunde ein und dieselben
Dinge: multa non multum ! Und docb, in einer Eicbel ist der riestge
tausendjabnge Baum entbalten. Nietzscbe bebauptet, da(? die entscbeidenden
weltbistonscben Dinge „diionym gescbeben. Uns aber verursacbt eine
Gewerkscbart Respekt, die 6000000 Mitglieder umfatft, mag sie aucb
erne Murnle und alles Leben aus ibr gewicben sein. Unsrer ganzen
Denkgewobnbeit entspricbt es, wenn beute immer neue Macbtgruppen
extensiv sicb vereinigen, Unternebmen zusammengelegt werden, ein Korper
nut dem andern durcb Transfusion verbunden wird. Aber was all
diese Korperscbaften an Extensitat gewinnen, das verlieren sie an
Intensitat.
Aucb die Masse, aucb das Proletariat!
Soeben scbreibt Daily Herald uber den mitflungenen Riesenstreik :
iJDie alte Mascbinene bat in der Stunde der Not versagt. Der Arbeiter-
dreibund, der Gewerkscbaftskongref?, alle baben versagt. ^Vir mussen
von Neuem beginnen und eme Mascbinene scbarren, die arbei f et. ' Diese
Logik ist erscbutternd ! Die Mascb-inerie bat versagt, es lebe die
Mascbinene! Und was bat das Heer der Realpolitiker und Sacbver-
standigen in Versailles und London zutage gefordert? Eine Bestimmung
lautet, dai? wir 600000 Hasen an Frankreicb abzulietern baben! Und
der Volkerbund ? Man will ein en Bund zur Sicberung des Friedens
524
unter den Volkern sckaffen, obwokl die Bevolkerung fast durckweg
der Ukerzcugung ist, dal? Kriege Naturgesetz sind, una daf? es „okne
Krieg nickt gent !
Und den nock ; grade jetzt im Jakrkundert der Masse, der \Velt~
stadt, der Industrie er kluken gleickzeitig keimkaf t an alien Enden
neus Zellen, wmzige Zellen, aker von unerkorter Lekenskraft und
Gedrangtkeit. 'Winzige Organismen, darauf kommt es an! Zellen! —
Das Wackstum aker aus jenem Urverkaltnis : Mensck und Erde! Es
gekort keute wirklick keine Propketie dazu, den Untergang des Akend-
landes und „die Auflosung der Stadte" vorauszusagen, Alles um una
ist greisenkaft, unterkoklt, kruckigste Fassade. Aker es ist killig, diesem
elementaren Sckauspiel mit dem kiiklen Interesse de$ N at urwissensckaf tiers
zuzuseken, wie es ein ekenso killiges Vergnugen ist zu sagen, es lasse
sick immer nock ganz gut leken, so wie man lekc Gewiis, das Dasein
ist nock reckt amon nnd ertraglick ; aker diese Sckminke ist dock
verteufelt diinn! Man versucke nur einmal mit moglickst unverkrauckten
Augen durck eine Hauptstratfe zu geken. Hier findet man die Produkte
der „produktiven" Arkeit aufgesckicktet. Ick wage es mick dem Geruck
eines fin3teren Lekensverackters auszusetzen, wcnn ick bemerke, dau
keute 1 Milkon Menscken fur die Kinoindustrie „produktiv tatig smd,
1 Million fur Dessous, Lacksckuke und Mode, 1 Million fur Brannt-
wein. Bier, Zigarren und Nacktlokal, 1 Million zur Erkaltung der
jeweils vorderen Million mit Nakrung, Kokle, Lickt und Reklame.
Dock die Arkeitslosen? Die durckaus nuckterne Untersuckung
Franz Oppenkeiraers iiker das Bodenmonopol kommt zu dem Ergeknia,
dai? wir kei einer Urkarmackung unserer Odflacken, der Aufteilung
der Domanen und einer modernen lex Graccki 17 Millionen Menscken
mekr in der Landwirtsckaft kesckaftigen konnen, mit der angenekmen
Nebenwirkung, uns aus unserem Lande selkst zu ernakren.
Aker man macke sick keine Sorge! Bodenreform, Gelekrten-
argumente, Zwangsaksckuke der Arkeitslosen, Baltikumermassensiedlung
werden die Fragc nickt losen. Jedem Einzelnen muJj die Faulnis und
Not unter den Nageln krennen, kis es keinen Ausweg mekr gikt. Dann
wird er sagen: Latft die Toten ikre Toten kegraken! Dann wird er
keginnen wie in Holland die syndikalistiscken Siedler kegonnen kaken,
die Settlers in Amerika und England, die Tolstoianer in Bulganen und
in Deutsckland die Barkenkofer, die Habertskofer und die Manner vom
„Bergfried\ Dann kekrt er zur Erde zuruek, zum Element; nickt fur
eine Badesaison, fondern auf Gedeik oder Verderkeft.
525
Stefan grossmann DER SIEGESSAULENPROZESS
Prozel? gegen die Siegesaaulen-Attentater.
Icn sckreike dem Prasidenten dee Landgericktes I in Berlin und
feitte um eine Zukorerkarte. Erkafce sic postwendend. Am nacnsten
Morten will ick in Aen Verkandlungssaal. Unmoglick. Der Zusckauer-
raum ist kesetzt. Ekenso wie ick -word der Berickters tatter der „Frei-
keit und des „BerKner Tageklattes* akgewiesen. Wir steken knirsckend
vor der Tur des Saales, in welckem alle Zeugenkanke frei sind und
okne Muke, notfalls, nock drei Stukle aufzustellen waren.
Audienz kei dem Prasidenten des Landgericktes I.
„\A/enn Sie mir eine Einlal?karte sckicken, mussen Sie mick auck
einlassen. Mem Arkeitstag ist so viel wert wie der Ikre., Ick komme
nickt aus Gafferlust ker. Sie mussen auck einen Untersckied zwiscken Pukli-
zisten und anderen Zusckauern macken."
Der Prasment, sekr koflick, sekr unkerukrt: „Ick macke keine
Untersckiede.
Ick, eDenralls sekr koflick, aker einen Grad starker: „Dies eken,
Herr Prasident, mackt die preu&scken Gerickte so unkekekt. Sie macken
keine psyckologiscken Untersckiede. Daker dieses allgemeine Gefukl der
Indignation uker eine Institution, die nickt untersckeiden kann."
Der President: ,Jck kin allein da, ura die Ordnung ..."
Ick, unterkrcckend: „Gestatten Sie, dai? ick mick entferne, eke Sie
diesen Satz zu Ende spr ecken, ick kenne ikn sckon von vielen Gelegenkeiten ker."
Funf Minuten spater sal? ick im Saale. Ick katte einen kurzeren,
weniger offiziellen Weg gewaklt. Konstatierte, dai? ganze Bankreiken
frei waren. Hatte instinktive Akneigung gegen die Anwesenkeit sack-
verstandig lausckender Zukorer das Verkot kervorgerufen?
Da wundern sick zuweilen Naive uker die Akneigung gegen die
preutfiscke Justiz. Auck anderswo gikt es Menscken, deren Beruf es
ist, tagaus, tagein Mitmenscken in Arrest- und Zucktkauszellen zu setzen.
Aker sie iiken dieses traurige Gesckaft mit ein klein wenig Humor, mit
ein kiucken gesellsckaftlicker Courtoisie, nickt mit jener mensckenfeind-
licken V erkissenkeit, mit jener gravitatiscken Unzugangliekkeit, stolz da-
rauf, datf sie nickt untersckeiden konnen.
Am Ende ware es fur den Prasidenten des Landgencktes I in
Berlin auck keine Sckande gewesen, meinen Namen zu kennen. Aker
em preuftscker'Landgencktsprasident wirdsick dock nickt durck literaruckc
Kenntnusse kompromittieren ?
526
H.
Die Leute auf der Anklagebank seken klaglick aus. Akgezekrte
Gesickter, mager, stubenbleick, verzerrt und verzekrt. Der Gericktsarzt,
der seeks von lknen untersuckt kat, kat bei alien seeks Zeicken von
Nervenkrankkeit gefunden. Einer leidet an Gekirnsypkilis, ein Anderer
war zweimal versckuttet und Kegt mit zurvickgelekntem Kopf, kalbtot,
auf der Anklagebank. Ein grotfer Mensck, Kriegsinvalide, keult, worn
er reden will. Der Kunstmaler Wolf ward vom Sackverstandigen ale
typiscber Neurastkeniker vorgestellt. Das ist kein Zufall. Diese durck
den Krieg depravirten Nervensysteme sind gegen nikilistiscke Agitation
am wenigsten widerstandsfakig.
Auf der Anklagebank feklt der Wicktigste: Der Mann, der He
Dynamitladung auf die f re PP e <ler Siegessaule kingekrackt kat.
Den Angeklagten wird nackgesagt, sie katten an zwei Versamm-
lungen tedgenommen, in e'enen die Sprengung der Siegessaule besprocken
worden sei, und einigen von iknen -wird nackgewiesen, dai? sie am
Attentatstag in der ersten Fruke, bis gegen 5 Ukr, Posten gestanden
seien, wakrend der nickt erwisckte Hauptattentater die Pappsckacktel
mit Dynamit und Zundscknur kinlegte.
Dieser keute unsicktkare Mittelpunkt ist in den Versammlungen
nur mit falsckem sckwarzen Bart und Brille aufgetauckt. Er wurde
nur Ferry genannt, okne Zunamen. Zwei Pkotograpkien von ikm, die
bei dem Maler Wolf bescklagnakmt wurden, waren bei den Akten nickt
zu finden. Die Polizei, die sein Bild und seinen Namen katte, sonst so
eitng im Erlassen von Steckbriefen — jede Litfatfsaule ist mit den
grellroten Anscklagen bedeckt — kat nack diesem Hauptsckuldigen
gewil? gefakndet, aber man kat es in der OffentKckkeit nickt kemerkt
Nirgendwo sak man einen Steckkrief. Die Pkotograpkie dieses Ferry
wurde nickt vervielfaltigt.
Der Intelligenteste der Angeklagten, ein Sckriftsetzer, der gelegent-
lick auck malte — der Maler Wolf betrieb die „Malerei der Gegen-
standslosigkeit", reine Farbeneinfalle — erklarte in der Verkandlung,
er kabe Ferry fur einen PoKzeispitzel gekalten. Der in solcken
Prozessen Erfakrene wird diesen Verdackt nickt ganz abweisen konnen.
Es befremdet die Kostumierung, (falscker Bart, Brille) es kefremdet, dal?
alle Beteikgten verkaftet wurden, nur dieser AiVicktigste nickt, es be-
fremdet vor allem Folgendes:
Die angeklagten Kommunisten, gute deutscke GemutsanarckLfteiL,
katten das Siegessiulen- Attentat fur 5 Ukr fruk angeectzt Da ist der
S27
Ticrgarten mensckenlcer. Kein Kind spiclt da 1m Grunen, keine
Greisin strickt da auf der Bank, kein alter Herr promeniert um diese
Zeit. £s war ein rucksickts voiles Attentat gegen ein Symbol geplant.
Bis uxn 5 Ukr fruk standen die Angeklagten Posten.
Die gefakrkcke Pappsckacktel wurde aker erst nack 11 Unr - eht~
deckt. Der Wackter an der Siegessaule katte am Morgen keme Papp-
sckacktel geseken, Acktzig kis neunzig Leute, die uter die sckmale
Treppe kinaufgingen, gewakrten kis 11 Ukr kerne Pappsckacktel. Erst
um 12 Ukr kam eine Meldung nack der anderen zu dem Kassierer
unten: Dort droken liegt cmc merkwurdige Sckacktel. Nun wurden
die zwei Reickswekrsoldaten kinaufgesckickt. Der eine will nock geseken
kaken, da# ^ic kerauskangende Zundscknur glimmte. Er kiek sie nut en em
Seitengewekr ak. DroUigerweisc will auck der grune Sickerkeitsmann
ffpater nock ein Gkmmen wakrgenommen kaken, auck er erstickte das Feuer-
cken der sckon akgekackten Scknur. Jedenfalls war nock der allergrotfte
Teil der Zundscknur unverkrauckt. Langer als eimge Mtnuten kann die
Zundscknur nickt gekrannt kaken, wenn sie ukerkaupt angezundet war.
Unmoglick, datf die Hollenmasckine von 5 Ukr fruk kis 11 Ukr vor-
mittags dort geglommen kat. Da das Tor zur Siegessaule nickt erkrocken
war, ist anzunekmen, dal? Ferry die Pappsckacktel erst gegen 11 Ukr
auf den Treppenaksatz der Siqgessaule kingelegt kat. Der kumane
Plan, die Siegessaule in mensckenleerer Fruke in die Luit zu sprengen,
ist von dies em Halunken verworfen worden, um 11 Ukr vormittag
muj?te der Rummel sein. Aker auck er war vielleickt kuman und ruck-
sicktsvoll und kat vielleickt dafur gesorgt, da# seine Pappsckacktel gleick
kemerkt werde.
Die Angeklagten sind somit Posten gestanden zu einem Fruk-
mo r gen- Attentat, das gar nickt ausgefukrt wurde!
Aker kei dem so recktzeitig entdeckten G akel-Fruk stuck- At ten-
tatsversuck sind sie aker gar nickt Posten gestanden!
•III.
Als die Angeklagten, fast alle miteinander, verkaftet und dem
Polizeirat vorgefukrt wurden, da versuckte der Kommissar, ein Ge-
standnis auf die Art zu erlangen, dal? er den Leuten die ganze Atten-
tatsgesckickte erzaklte, zeigte, dal? die Polizei oknekin Alles wisse und
tomit Leugnen sinnlos sei. Eke nock der crate verkorte Angeklagte ein
Wort gestanden katte, wurde lkm «ckon die tfansc Vorgescniektc dss
Attentats vom Kommissar vorgelegt. Unsweifclkaft kat also einci' von
£28
den Versckworenen mit der Polizei im Bunde geatanden. Der als
Zeuge vcrnommene Kommissar kat dies auck sckweigend zugegeken.
Ein Verteidiger frug ikn: „Sind Sie uker die ganze Angelegenkeit von
einem Manne unterncktet worden, der eigentlick auck kier auf der An-
klagekank sitzen sollte?"
Tiefste Stille im Saal.
Der Kommissar, mit sckwackem Lackeln: „Darauf zu antworten
kabe lck kein Reckt. Da muJ^te ick erst die Zustimmung meiner Vor-
gesetzten einkolen."
Der Verteidiger fragt weiter: „Es ist eine Beloknung auf die Er-
v greifung der Siegessaulen-Attentater ausgesetzt worden. 1st diese Be-
loknung etwa auck an einen Mann ausgezaklt worden, der eigentlick
kier auf der Anklagekank sitzen sollte?"
Der Kommissar, mit nock undeutkckerer Stimme : „Auck darauf
mockte ick nickt antworten."
Es ist also denkkar, dal? dieses Attentat von einem versckwunde-
nen, nickt zu ermittelnden Mann in falsckem Bart angeregt worden ist,
der das Attentat recktzeitig aufdecken liel? und dann von der Polizei
die Ergreiferp ramie eingekeimst kat. Es ist raoglick, daf? nickt nur Ale
armen Teufel von KriegsinvaKden und Nervenkranken diesem Halunken
aufgesessen sind, sondern auck das ekemals Kgl. preufiscke Polizei-
prastdium, das ikm vielleickt einen Teil oder die ganze Siegessaulen-
Pramie auskezaklt kat?
IV.
Seeks von diesen armsekgen Postenstekern erkielten je seeks Jakre
Zucktkaus. Sie sind willenlos Gekorckende gewesen. Ick suckte die
ganze Wocke auf alien Litfatfsaulen nack der Pkotograpkie des Ferry.
Vergekens. Ick erwarte die Aussckreikung einer Pramie auf Ferrys
Ergreifung. Vergekens. Dagegen erzaklte der Verteidiger: Ferry, mit
seinem wakren Namen: Wllkelm Hering aus Magdekurg, sei an dem
Tage der Verkaftung der Angeklagten in der Woknung des Malers
Wolf gewesen. Diese Woknung war kewackt, dennock wurde Ferry
nickt verkaftet. Zufall. Ungesckickkckkeit der Beamten.
Aker es spielen verdammt viel Zufalle und Merkwurdigkeiten in
diesem Attentats-Prozef? eine Rolle. Zum Gluck 1st. des Polizeiprasident
von Berlin ein alter, recktsckaff ener , in Lockspitzelgesckickten erfakrner
SoziaKst, Herr Wilkelm Rickter. Darf man k off en, dal? er diesem
mysteriosen Detekrivroman auf &en Grund geken wird? Herr Rickter
ist leidcr gerade jetzt auf Urlaub gegangen. Sckade.
529
LIEBESLIEDER AUS BELUTSCHISTAN
NACHDICHTUNGEN VON HANS BETHGE
FRAGEN UND ANTWORTEN
Koram, reizende Levkoje, die lck liebe,
Una streickle xnir die Hande; sage mir,
Wo ist der hold est e der Himmel, — dort
Zu unsern Hauptern, wo me Sonne sckeint,
Oder in deinen dunkelblauen Augen?
„Gern komm ick, urn die Hande dir zu stretch eln
Und dir zu sagen, da# der koldeste
Der Himmel nicnt dort oten ist und nickt
In meinem Blick, — er liegt in den Turkisen
Dea Hal stands, das du mir versprocken Last \
Komm, wunderscltone Rose, die ick lieLe,
Und kusse mir die Okren; sage mir,
Wo ist die straklendste der Sonnen, dort
Zu unsern Hauptern an dem blauen Himmel
Oder im Grande deiner tlauen Augen?
„Gern komm ick, urn die Okren dir zu streickeln
Und dir zu sagen, dau am sckonsten nicnt
Die Sonne stranlt, die dort am Himmel stent,
Nock meiner Augen Grund, — am scnonsten sckimmert
Der goldene Ring, den du mir sckenken wills t .
Komm, sckone Hyacintke, die lck kebe,
Und streickle mir die AVangen; sage mir,
^Vas weii?er ist: der Sckleier, der dein Antktz
Verkirgt oder des Mondes weii?e Straklen,
Die lackelnd uker deine Stirne gekn?
v,Gern komm ick, um dieAiVangen dir zu Streickeln
Und dir zu sagen, dal? viel weitfer als
Mein Sckleier und das MondKckt, das mir uber
Die Stirne gekt, der SilberscLmuck erglanzt.
Den Du mir in die Hoare stecken wirstf*
5343
SUL1M A
Ick glaukte durck die Spalte einer Ture
Zwei Bluten eincs Rosen stocks zu seken.
Dock sckeint es, daf? mein Auge mick ketrog:
AVas ick fur zarte Rosenkluten kielt
An einem kockgewacksnen Stamm, es waren
Die wundervollen Wangen SuKmas.
Ick glaukte durck die Spalte einer Ture
Zwei Bluten einer Lilie zu seken.
Dock sckeint es, dal? mein Auge mick betrog:
Was mir zuerst als weitfe Lilienkluten
Ersckienen Avar, es war der wun der voile,
Wie Bluten weif?e Busen Sulimas.
Ick glaukte durck die Spalte einer Ture
Zwa Bluten dee Granatkaums zu erklicken.
Dock sckeint es, daf mein Auge mick ketiog:
^Vas ick zuerst als flammend rote Bluten
Ernes Granatkaums kielt, es war das Glanzen
Der flammend rot en Lip pen Sulimas.
Ok Frauen oder Bluten, — eines ist
Des andern wurdig; tut der Holden kund,
DaJ? meines Harems Garten grof? und kukl
Und voller Blumen sind in alien Farken
Und da£ die sckonsten Frauen darin wandeln,
Mit Fleisck wie Amkra und wie Elfenkein.
Und sagt lkr, dai? ick keifSer nickts kegekre
Als lkrer Wangen, ikrer roten Lippen
Und ikres Busens Blutenkerrlickkeit.
531
CARL STERNHEIM FAIRFAX
V.
In Paris stand des Hotel Grillon Halle voll von Volk, das
FairfaxT einer auf Zehen des anderen, verrenkter Halse—erw ar tete.
Die Pariser Phantasie schaumte aus seinen Dollars hochauf, indem
eie phantastische Ziffern mit zwanzig multiplizierte. Kaum kam
er mit Daisy, die Manneraugen dolchten, durch geballtes Gewiihl.
Die Sioux in grol?em Kriegsschmuck in seinem Gefolge steigerlen
die Sensation ins Gigantische, und es gab keinen Wartenden, der
sich nicht innerlich mit Haut und Haaren Fairfax fur alles von
dem Gewollte verschrieben hatte. Reporter garnierten die Treppen-
gelander, turnten buchstablich am Plafond, und dem Liftboy, der
die stiirmisch Nachdrangenden in des Amerikaners Vorzimmer
kurbelte, versagte das Handgelenk wie einem zweiten, der ihn
abloste. Frauen wurden im Lift ohnmachtig, eine kam dort mit
Drillingen nieder; inzwischen hatte es unten in der Halle Mord
und Totseblag gegeben, ware Polizei nicbt so schneidig einge-
schritten, dai? ein Berittener bis mitten in sie bineinsprengte.
Auf der Zinne des Hotels aber webte der Union Yack, das
Sternenbanner !
Fairfax war vom elan vital der Pariser, auf den Daisy ibn
vorbereitet hatte, als Quantitat entziickt, Daisy mit der Pflege des
bildhubschen Liftjungen gliicklich, den sie aus Barmherzigkeit in
ihre Gemacher hatte scbaffen lassen. Was die Qualitat der Vor-
ecblage fur Fairfax Unterhaltung anging, war Aui?erordentliches
aller dings nicht dabei.
Die meisten verkannten ihn- uberhaupt und glaubten, er wolle
sich erotiscb, wie ein Pariser es versteht, amiisieren. Man bot
ihm rund ganz Frankreichs Jungfernschaft ; er brauchte im Adrel?-
buch auf gut Gluck nur aufzuscblagen. Man bot sie ihm scblicht
und in raffinierten Kombinationen. Bilder von Damen bester
Welt mit Preiskurant brachte man, offerierte Frauen und Tochter
verabschiedeter Minister, Generale und Botschafter; das Traume-
rischste und Fescheste.
Er fragte die-Vermittler, ob sie glaubten, das alles fande er — -
zwar nicht so bequem — in Amerika nicbt? Sie hatten seine
Telegramme griindlich mitfverstanden. Nicbt darum handle es sich,
guter Gotfc! Nicht Schwachung seiner Kraft, Anreiz seines
532
Geltungswillens, Vervielfachung wolle er. Nicht Ambofs, aber
Hammer auf Granit sein ! Stahl wolle er beitfen, nicht in noch
so weiches Weiberfleisch. Drliben finde er im Augenbiick ein-
fach kein wurdiges Ziel, wobin mit gepanzerter Faust schlagen.
Hier hoffe er, set vor neuer Scbopfung Chaos. Man solle Plane,
Grundrisse machen, je unmaftiger desto besser.
Er sei im Ernst bereit, fur Europa eine Art lieber Gott zu
werden.
Paff war man und zu allenii entschlossen. Aber es ergab
sich, wie in England und Belgien war audi in Frankreich nur
der Boehe alles Denkens und Fiihlens Sinn. Man lebte iiberhaupt
nur in Bezug auf inn, doch mit anscheinend tieferer Inbrunst als
in nordlichen Landern.
Und diese Hingabe begann, Fairfax zu reizen, weil er zu
sehen glaubte, in Frankreich hatte das Problem Deutschland so~
gar das Phanomen Rutland und den , Bolschewismus vollig in
Schatten gestellt, und selbst mit riesigsten Geldmitteln konnte man
sich der Phantasie der Franzosen nur dauernd empfehlen, gait
deren Ausgabe den Deutschen. Wie die franzosische Nation seit
Jahrzehnten selbst alle Arbeits- und Steuerkraft in Hinsicht auf
den ostlichen Nachbarn mit Anschaffungen und Riistungen ver~
schwendet hatte.
Es kam ihm vor, als wurde die Entente im einzelnen und
gesamten iiberhaupt nicht mehr wissen, was tun, kame einmal
gehassige Feindschaft zu Deutschland nicht mehr in Frage.
Und zum erstenmal spurts er fur den Deutschen, den er
nicht kannte, steile Neugier, die, wie er merkte, auch Daisy zu
pajken begann. Er sab, es handelte sich bei dem Problem in
Frankreich nicht wie in anderen Landern um ein Interesse, das
bei Gelegenheit durch anderes ersetzt werden konnte, sondern der
Franzose sehien znr eigenen Existenz geradezu noch die des Deut-
schen, die ihm alle Haare auf dem Kopf straubte, mitzuleben.
Fairfax, war der Meinung, man konnte sich, ohne anderes
in Rechnung zu stellen, Jahrzehnte nur dieses fanatischen Schwungs
der Franzosen als Hebel alles Weltgeschehens bedienen, voraus-
gesetzt, es gelange, die noch an Einbildungen und Kleiriigkeiten
verzettelte Kraft der Nation methodisch in diesem Brennpunkt
zu sammeln und mit grotfziigiger, gegenseitiger Verhetzung der
beiden. gemeinsam hundertundzwanzig Millionen zahlenden Volker
533
set ein mcht auszurechnendes Geschaft zu machen, das wirklich
alle andere Unternehmung der Welt, auch die bestaufgezogene
bolschewistische, verdunkeln und samtliche Industrien aller Erd-
teilc glanzend verdienen lassen miitfte.
Den deutschen Standpunkt dazu zu kennen, war ihm vor-
laufig nicht wichtig. Er wufc ja, sie hatten den allgemejnen
respektvollen Hal? reichlich und umsonst und ohne Riicksicht da-
rauf, wie sie selbst reagierten. Urn so besser, erfuhre er spater
noch ihre besondere Einstellung hierzu. Zur Vorbereitung und
Inangriffnahme 'umfassender Plane mit ihnen aber geniige der
Franzosen eindeutiges Verhaltnis, das bestimmt von keiner fremden
Regierung und anderem Volk sob aid gekreuzt wiirde.
Er gab also einfach die Parole: unwiderstehliche Beweise
dieses Geisteszustands in Frankreich zu sammeln und ein fur
allemal zum Gebrauch festzulegen ; bezahlte einlaufende Auskiinfte
um so hdher, je grower der durch krasse Beispiele bewieeene
Hartegrad des Hasses Avar. Eine Sammlung samtlicher franzo-
eischer Sprichworter und Witze iiber die Deutschen seit hundert
Jahren von jenen albernen Sauerkrautfarzen und Hansis ^Professor
Knatschke*" bis zu so bluhendem Hochgewachs legte er an : dai?
ein Englander, Franzose und Deutscher mit einem stinkenden Bock
in einen Verschlag gesperrt worden seien, wobei diese Angehorigen
der drei Nationen gewettet hatten, wer es am langsten in dem
Gestank aushalten wiirde. Zuerst sei der Franzose, nach einer
Weile der pflegmatische Englander von Furien gepeitscht ent-
flohen — dann plotzlich der Bock gestraubten Barts davongebrochen*
wahrend unbekiimmert der Boche verweilt habe.
In flammenden Farben gemalte Greuelbilder preutfischer Ulanen
sammelte er, wie sie mit triefenden, frischabgeschnittenen Madchen-
hriisten auf Lanzenspitzen gegen Zivilbevolkerung scbneidig anritten
oder am prasselnden Lagerfeuer zum ersten Friihstiick je einen
knusprig gebratenen franzosischen Saugling mit Haut und Haaren
speisten.
Alle Anwiirfe der fiihrenden Kopfe Frankreichs, Militars,
Politiker, Wissenschaftler, Priester und Dichter gegen Deutschland
brachte er zusammen und hatte nach zwei Monaten ein Kompen-
dium von zwolf Ban den in Folio gesammelt, das er koloriert,
gratis in Frankreich verteilte und auch in iibrigen Kulturstaaten
so gut wie verschenkte.
534
Sehr amiieierte ihn die authentieche Erzahlung von einer Pro**
feasorenwitwe, die zwei lebendige, von, ihr vorher betaubte deutsche
Offiziere im Krieg begraben hatte, und ertappt, von deutschen
Kriegsgerichten als vollkommen wahnsinnig freigesprochen war.
Jetzt bebaupteten plotzlicb die Verwandten, trotz des deutschen
irren'arztlichen Gutachten sei die Frau Professor gar nicbt ver-
riickt, sondern bei vollem racbsiicbtigen Verstand gewesen. Eine
bistoriscbe Heroine sei sie, Markstein in der Gescbichte Frank-
reichs und Symbol dafiir, was es an Deutschenhal? leisten konne,
und sie machten so grotfen Staat mit ihr, dai? sie sie im
Kino ,auf der Leinwand dreimal am Tag ihr patriotisches Werk
zeigen lietfen, wobei die Kassen platzten und das Publikum vor
Begeisterung schaumte.
Fairfax schlug dem Minister der schonen Kiinste vor, vor
allem das Louvre, den Inbalt samtlicber Museen und die Biblio-
tbeken einzuaschern, weil Ablenkung, die der eine gewollte Geist
der Franzosen durch Bescbaftigung mit diesen vollkommen uber-
fliissigen Vorstellungen erfahre, unokonomisch und im letzten Grund
staatsgefahrlicb sei und zwar nicbt nur, wie der Minister zugabe,
in modernen Biicbern und Bildern, die alles Mogliche und Un~
mogliche nur nicbt das fur Frankreicb Notwendige darstellten,
sondern erst recbt bei sogenannten alten Meistern und Klassikern,
die, weil sie in eine anders empfindende tote Vergangenheit fUhrten,
vom Willen des Volks ablenkten,
Natiirlicb miitften auch sonstige fossile Reste, Denkmaler,
Friedbbfe, Mausoleen, Symbole und vor allem jeglicber Geschickts-
unterricbt autfer der Darstellung der Kriege von 1870 und 1914
abgescbafft werden. In der Hinsicbt solle man am amerikaniscben
Volk ein Beispiel nehmen, das von keiner, wie immer gearteter
Vergangenheit das Geringste wissen wolle, nichts Gewesenes kenne
und lerne. Um alle unvoreingenommene Gewalt in brausenden
Zeitgeist zu werfen.
Die Sinnlosigkeit aller mit Fragen der Vergangenbeit beschaf-
tigten Anstalten bewies Fairfax und forderte deren Schliefting.
bewies des Alkobols Gefahrlichkeit dazu, der gleichfalls Volk
von krasser Wirklichkeit zu Traumen und Rauschen verfuhrte.
Zeigte der Bordells und aller Prostitution Krebsschaden, die nicht
nur Revanchelust, sondern der Nation Samen, der nicht zu reicKlich
flietfe, in Nebenkanale versickern lasse, Todesstrafe aber musse
535
auf Eingreifen in die Schwangerschaft einer franzosiechen Mutter
gesetzt werden! Man diirfe de« Volk« Existenz auf kcinc Karte
setzen, die nicht ein blankes KQ sei.
Hier sei Entscheidung.
Bevor er Anspielungen franzosischer Barikwelt aut sein Porte-
feuille verstehe, ehe er nur einen Gentimen ziicke, miisse er des
unzweideutigen Willens der Regierung in dieser Hinsicht gewitf
sein, Frankreichs Gesamtkraft senkrecht auf das selbstgewahlte
Ziel wie einen Faustschlag eingestellt sehen. Er behaupte nicht,
es geschahe nicht schon Notwendiges; Feudaladel, Geistlichkeit,
Judentum und burgerliche Mitte sahe er begeistert am Werk, und
auch die Belegung der hesetzten Gebiete hauptsachlich mit Negern
sei, wie das Echo der deutschen Presse zeige, im gewollten Sinn
ein feines Stuck. Aber welche Verwirrung herrsche in breiten
Arbeiterkreisen und in der Haltung der Regierung gegen sie!
Glaube man in Frankreich immer noch, Geschafte ohne den Arbeiter
machen zu konnen?
Jeder Zeitgenosse wolle mit Recht sein tagliches Huhn im
Topf und das Kinobillet fiir den Abend in der Tasche. Zu
welchem Zweck sonst habe sich Menschheit seit tausend Jahren
„entwickelt" ? Also rechne man vor allem andern aus, was so
durchaus berechtigter Anspruch von sechsunddreitfig Millionen
Franzosen koste, male die Endsumme iiber das Budget und sage
sie der Allgemeinheit zu. Auf dieser Voraussetzung aber konne
man die urn ihr tagliches Wohlsein nicht mehr Besorgten ganz
anders mit gewaltigem Schwung fiir das abgemachte Ziel arbeiten
lassen.
Ahne man in Europa immer noch nicht, welches Arbeitmehr
nut dem fiir alles Ubrige als sein naives korperliches Behagen
blindem Proletarier moglich sei? Man sehe doch einen driiben
nach dem Tailorsystem dressierten Arbeiter an, von dem man
alle scelischen und geistigen Einflusse so abstelle, da(? er buch-
stablich nur das Maschinenteil, auf das er wirke, sahe. Was aber
lenke autfer von vornherein falscher Einstellung aufs Leben nicht
sonst noch den europaischen Arbeiter vom Schaffen ab! Sieht
er nicht die Kameraden neben sich und kann sich mit deren Vor-
stelhing oder plaudernd mit ihnen selbst beschaftigen? Uberschaut
er nicht die ganze Maschine und wombglich das Ensemble aller
im Arbeitssaal? Sieht er dazu nicht durch unverkleidete Fenster
536
ins Griine, auf Himmel, bebuscbte Feme und bunte Natur hinaus,
und ist nicht jeder Blick, Gedanke von Arbeit fort auf Fremdes
erheblicher Kraftverlust ? Methoden endlich! Metbode !
Es sei verdammt ein anderes, ob ein Volk wie die Gronlander
binlebe, das nie behauptet batte, Aufgaben fiir die Menschbeit zu
baben, oder ob Frankreicb, das allercbristlicbste und kultivierteste
sein ibm von alien Volkern zugebilligtes Amt als Hiiterin beiligster
Giiter Europas nicbt voll und ganz wabrnebme. "Was bedeute
Europa nocb obne den von ibm bewabrten lateiniscben Geist?
Er, Fairfax jedenfalls und Amerika mit ibm babe an Europa
iiberbaupt nur nocb ein Interesse, an diesem von Frankreicb baupt-
sachlicb vertretenen Impuls im Kampf gegen die alten W^ider-
sacher, die Deutscben, zu profitieren.
Versage der oder leiste als westlicberHauptbewegungskoefizient
nicbt mebr genug, sei das Konto „alte 'Welt" glatt erledigt, und
man werde von dieser faulen Gescbaftsverbindung fort zuseben*
was bei dem Bolsckewismus Profitlicbes berauskomme.
Man miisse nicbt liigen. Volk wolle sein Hubn im Topf
sein Kinobillet in der Tascbe^und macbe sonst alles mit. Basta,!
Im Hinblick auf die Anspielung der Kredite gelobte stotternd
der Minister aucb im Namen samtlicker Kollegen das Unmoglicbe
und liel?, den Amerikaner .liber Unternommenes von Stunde zu
Stunde auf dem Laufenden zu balten, dessen Hotelzimmer durcb
direkte Telefonleitung mit alien Amtern und dem Elysee verbinden.
(Fortsetzung folgt)
GERT KLINGE POET
Ein Hunn kockt auf den griinen Sproasen
Seiner zarten Unzulanglickkeiten,
Lafft verschamt und unverdroasen
Hinterwarts ein Ei entgleiten.
Schliefft das sanfte Hiibnerauge
LiterariacK produktiv :
Eine lyriscn. warme Lauge
Tropft aus seinera After tief :
Nichts als Dicntun^.
Aus der edelsten Verpflicbtung
Tropft das seltene Genie
Immer in der gleichen Richtung. —
FurcKtbar — frucbtbar ist das Vieh !
537
AUS DEM TAGEBUCH
DAS T5TEN MUSS AUFHOREN
Hctt Minister Severing!
In der letzten Sitzung dea preutfischen
Landtags, in der Sie als Minister sprachen,
tab en Sie eine Erklarung dee Polizei-
prasidenten Richter verlesen und hinzu-
gefiigt, ich wiirde aufgefordert werden,
meine Behauptungen iiber die Begeben-
heiten, die 2um Tod des Wilbelm Suit
funren, zu [berichtigen. Wenn ich das
■verweigere, so werde Strafantrag gegen
mjcb gestellt werden !
Herr Severing. Seit dieser Erklarung
eind zwei Wocben ins Land gegangen. Ich
bin bis 2um beutigen Tage weder voro
preutfischen Ministerium des Innern, noch
Tom Berliner Polizeiprasidenten zu einer
Richtigstellung aufgefordert worden !
Dagegen habe icb meine Angaben, die
ich im Heft 14 des T.-B. gemacbt habe,
im Heft 16 wiederholt und erweitert.
Ich erklare heute : Wilhelm Suit, der
im Polizeiprasidium um J /gl2 vormittags
angeschossen, dann nicht auf einer Bahre,
•ondern an . alien Vieren uber die Treppe
geschleppt wurde, so dai? die Kleider
rissen, der dann auf die SteinfKetfen, nicht
auf ein Bctt gelegt wurde, den man um
zwei Uhr mittags nicht ina Lazaret t, sondern
ins Untersuchungsgefangnis nach Moabit
und von dort erst um sieben Uhr abends
in die Charite brachte, hatte vielleicht
zucht verbluten miissen, wenn im Polizei-
prasidium die Pflichten gegen einen Schwer-
verwundeten erfiillt worden waren.
Sie haben dem Landtag eine Unwahr-
heitfgeeagt, als Sie erklarten, ich' sei zu
einer Berichtigung aufgefordert worden.
Sie haben mich nicht erschreckt, als Sic
mir mit einem Strafprozei? drohten.
Ich bin kein Kommuniat, ich liebe
nicht das neurasthenische Mordergeschreu
aber ich sage Ihnen und Ihren Freunden:
Das Tbten.muf? endlich aufhoren und die
Polizei mufi damit den Anfang machen!
Ich darf von Ihrer Loyalitat erwarten,
datf Sie in der n'achsten Sitzung dee-
Preutfischen Landtags Ihre unrichtigen Be-
hauptungen zuriicknehmen -werden !
Stefan Grofitnann.
FLEISCHESLUST
Ein Freund schreibt mir J
Es tat wohl und tat not, dai? Sie die
Ein gabe der Karlsruher Volkskraftmeier
zerpfliickten. (Heft 16 des T.-B.) Darf
ich noch ein Wort hinzufiigen? Die
Feinde der geschlecntlicben Unzucht eind
so giitig, „die Fleischeslust des Einzelnen"
zu gestatten. Aber hier kommt die ver-
dammte christliche Schweinerei dieser
Sittlichkeitemei'er zum Vorschein, Gibt es
denn etwas Infaroeres als dieses Wort und
diesen Begriff „Fleischeslust'\ Die innere
Roheit und Armseligkeit der duster en
Propheten weii? nichts davon, daf? es fiir
den natiirlichen, ungebrochenen, innerlich
ganzen Menschen eine Trennung zwischen
Fleischeslust und Seelenlust gar nicht gibt
&SB4SBQ S 'WEGHSfflLMANN'
538
Nit man d ist vergifteter, niemand iet inner-
licb prostituierter ala diese sittlichen Zer-
storer der EinKeit des naiven Menechen-
Kein innerlich intakter Mcnsch kann
Fleiscbeslust ehne Seelenlust em p fin den*
Freude an Haut, Haar, Auge und Geruch'
Gang und Jugend eines Menschen ist mcht
nur Fleiscbeslust, sondern Bejabung einer
lebendigen Totalitat. Sie hatten, Stefan
Groismann, die Eingabe der dumpfen
Karlsruher Sittenpfaffen gar oicht erat zu
zerpflucken notig gehabt. Dies erne Wort:
Fleiscbeslust geniigt. Jeder Freudige, Un-
gebrocbene, der Lust am Menschen hat,
wird dieses erklugelte AX^ort zur riehtigen
Verwendung den Schlacbtermeistern iiber-
laasen.
SCHERL
Sebr wichtig fiir die Beurteilung des
eben verstorbenen August Scberl: Er kam
vom Kolportageroman. Ich glaube ,,Feder
und Pistole" hiei?en die blutigen Hefte,
aua denen der kleine Grundstock fiir Scberla
Zeitungsexperiment stammte.
Seine Griindung war nur in einem
Zeitalter abaurder Billigkeit ,der Zeitung
mcglicb. Er batte in Koln, daa Vor-
experiment seines Zeitungsprojektes geseben*
Nacb diesem Muster wurde wocbenlang
der ,,Lokalanzefger kk gratia in hundert-
tausend Wohnung'en verteilt. Dann wurde
ein "Wocbenabonnement von einigen
Pfennigen genommcn. Daa. wurde ganz
allmahlicb. bocbst bebutsam erbobt. So
bat sich Scberl gewissermatfen in die Geld-
borsen der kleinen Leute eingeachlicben.
Wie scblich er sicb in die Kopfe ?
Wie war ea moglicb, dai? eine in iiber-
wieg'ender Majoritat soziaKstische Arbeiter-
achaft an einer Riesenauflage dea ,,Lokal-
anzeiger"' teilnabm? Die sozialdcmokratiscbe
Presee selbst ist Scbuld daran, Sic kam
den Leuten damals nocb wissenacbaftlicber*
will eagen: nccb langweiliger ala beute*
Jeder Leser bekam allroorgendlicb zebn
L off el marxistische Gesinnung. Der ein-
facKe Mann, die einfacbe Frau halten das
nicbt aus. Das Privatdozententum der so-
zialistiacben Tagespresse verbindert iKre
Volkstiimlicbkeit. (Beilaufig gesagt, das
iat auch einer der Grunde, warum die
,,Vo3sische Zeitung' * trotz dem Ullstein-
apparat an Lesern und Abnebmern dauernd
zuriickgeht, das ewige Besaerwisaen der
Zeitungaprofessoren ver driest den Leser).
Scberl war frei von alien Ideologien. Er
sab ein, daJ? nicbt die Meinung, sondern
die Nachricht daa wichtigste Element der
Zeitung iat und v erst and es, seiner Zeitung
einen fiir deutscbe Begrtffe ungewohnlich
guten Nachrichtendienst zu scbaffen. Dann
batte der durcb Provinztbeater und Kolpor-
tageroman erfabrene Mann die Einsicht,
seinen Lesern nicbt mebr Intelligenz, nicbt
mebrAuffassungsgabe, nicbt bob ere Inter essen
zuzumuten ala sie wirklich besatfen. Die
sozialiatiscben Redakteure scbrieben ibre
Zeitungen wie die Lyriker ibre Gedichte,
in erater Linie fur sicb , nic bt fur die
Anderen. Scberl batte nur den Leser im
Auge und nicbts ala den Leaer. Damit er
nicht febl gebe, batte er den berubmten
Friseur ala „verkoiperte Volksseele" en-
gagiert. Was Scberla Friseur nicbt gleicb
kapierte, das durfte nicbt ina Blatt. Der
Friseur -war die hocbste Instanz des ,,Lokal-
anzeigers"", Er war gerade so klug und
gerade so einfaltig, so bildungaeifrig und
so bequem, so klatschaucbtig und so sacblicb,
so nationalund so unpolitiscb, wie Scber*
fflmmm
IVAKimMllJIINS'
539
sich das deutsche Volk voretellte. Die
flozialistischen Blatter hattea den Friseur
uberselien, Scherl sah nur den Friseur
(Der grotfe Erfolg dieser Methode zeitigte
flpater den bitteren, aber ungerechten Witz
einea Scbriftatellers, der vor Ullsteins
Pforten abgewiesen wurde : „ Ach fur die
„Morgenpost" werden ]etzt nur mehr
Friseure angestellt \")
Es war etwas sehr Gesundes in Scherls
leiser Vcrnichtung des ausschlieSlichen Ge-
sinnungsjournalisten. Er schatzte dieNach-
richt, er schatzte — das Bild, die Fotografie.
So schuf er die „Woche w \ datf alle sieben
Tage wiederkehrende Bilderbucb. Auch
das -war gegeniiber dem alten, etwas riick-
standigen Typus der ,,Leipziger Illustrierten'*
ein Fortschritt. Leider hat ihn da seine
politische Gleichgiltigkeit in schlirame Fehler
getrieben. Der Friseur, will sagen: Das
Volk sieht ganz gern eine oder die andere
Prinzesain im Bilde, aber was Scherl in
der M AVoche" an Hohenzollernvorfiihrungen
bot, das war doch viel zu viel und ver-
hinderte im Volke die sonst moglichc
Millionenauflage, Man kann sagen, Scherl
ist im gewissen Sinne das Opfer der vielen
Uniformen Wilhelm II. geworden. Ull-
steins , ,,Illustrierte Zeitung 1 " segelte durch
diese Klippen viel gesohickter und hat die
„Wodie" sehr verdrangt. Nur die So-
zialisten, die das eigentliche Publikum fiir
eine solchc illustrierteWochenschrifthaben,
besitzen ein solches Organ nicht, weil ihre
professorale Ideologic und ihr Presse-
kommissionsapparat das Entstehen lebendiger
Zeitungen verhindert.
Scherl, der Provinztheaterdirektor, der
Kolportageroman-Verleger bekam Ebrgeiz.
Er griindete den „Tag". Das sollte eine
parteilose Zeitung fur geistige Menschen
sein, Die beaten Kopfe Deutachlands sollten
hier zu Wort kommen. Zum eraten Mai
wollte Scherl an den Leser glauben, zum
eraten Mai griindete er eine Zeitung ohne
Cynimus. Er hat es gebiitft, denn der
,/Tag''* frafl Millionen und der geistige Leser
stellte sich nicht ein. E* war der erste
idealistlache Versuch Scherls und seine erste
Niederlage. Immerhin war Scherl daraal«
schon ein arrivierter Mann und wiinschte
sich zu seinem Vermogen eine Idee. Zwar
kaufte er eine Menge Blatter, mit denen
er gute Geschafte machen wollte (z. B. mit
der ,,Gartenlaube"), aber er hatte eine innere
Rechtfcrtigung vor sich selbst nbtig und
so schaffte er sich fixe Ideen an. Die
eine war eine gemischt-idealistische, die
Emporlese - Bibliothek. Da sollten die
Abonnenten vom schlecbten Roman sich bis
in die reinen Hohcn des Geistes empor-
lesen. Die zweite war eine technische
Geschichte: Die eingeleisigs Bahn. An
dieses Unternehraen glaubte er und dieser
Wille und Glaube hat ihm Millionen ge-
kostet. Er mutfte aeinen Verlag in eine
Gesellschaft umwandeln, deren Anteile
nicht bei ihm blieben. Schlietflich wurde
er aua seinem eigenen Unternehraen ge-
drangt. eine Tragbdic, Aic bitterer und
echter war ala das Rachestuck, das jetzt
Herr Dr. Dammert vor naiven Zuschauern
auffiihrt.
FILM
„DIE BERGKAT2E"
Das ist der Abschied Ernst
Lubitach von der „XJia"\ Es gibt
Leute, die meinen, die Trennung von
Lubitsch, Henny Porten, Pola Negri einer-
eeits, von Davidson und Bratz anderer-
eeits verursache einiges Krachen im Gebalk
der hauptaachlich an Direktoren reichea
Ufa. Auch der Geschaftsbericht ubers
vergangene Jahr, grausam gelesen, klinge
540
nicbt ganz berubigend. Die oft ange-
kundigte Vereimgung mit amerikaniscben
Firmen ist ins Wasser gefallen. In dies cm
kritiscben Augenblick empfieblt sick Lu-
bitscb mit diesem Film von seiner alten
Arbeitsstatte.
Aufricbtig gesagt, Lubitscb "war so
freundlicb, den Abschied nicht gar zu
bitter zu macben.
Die ,,Bergkatze" ist vielfach gefilmte
Operette. Die Rauberbande in den Bergen,
das Operettenmilitar in dcr pbantastiscben
Festung, der junge Offizier in Unterbosen
— acb, das ist abgescbmackte Operetten-
routine, in rnanchen Szenen geradezu un-
leidlicb, "Wenn Herr Heidemann auf
den Schneefeldern vor der Zugspitze in
gestreiften Unterhosen dastebt und P o 1 a
Negri scbelmiscb-scbambaft an ibm und
zu ibm vorbeiguckt, so empfindet man diese
falscben Matzcben angesicbts der ecbten
beschneiten Berge als Naturentweibung.
Wie ja iiberbaupt dieeer geolte, aelbsta
gefallig-pikante Herr Heidemann auf den
verdorbenen Gescbmack der kleinen Madcben
in Pirna und Glaucbau berecbnet ist. Zum
Bucbe des Herrn Kraly kann man nur
sagen, datf der leider fenlende Norbert
Falk ein vortrefflicher Autor ist.
Dieses diirftige Buck stattet Lubitscb
mit vielen reizenden Ein fall en aus. Wenn
aus den Tranen des im Gebirge verlassenen
Herrn Tbimig ein ganzer Bacb entsteht.
so, muB man lacben. Wenn die Hocbzeit
der Bergkatze Pola Negri auf den Schnee-
feldern bei zwanzig glutheitfen eisernen
Ofcn gefeiert wird, so lacbt man wieder,
Aucb die grotesken Arcbitekturen von
Ernst Stern belacbt man, Ubermutige
Raufereien im Schnee belacbelt man gern.
Aber aucb die Inszenierung von Lubitscb
bat xuweilen operettenbafte Zftge, die ver-
drieffen. Mancbmal glaube icb, daf? es fiir
Lubitscb, so einfallsreich er ist, nocb besser
w^are, wenn eine letzte asthetiscbe Instanz
fiber ihm waltete ! Zuweilen empfindet der
Zuscbauer der ,,Bergkatxe". ein Gefiibl der
Leere, das im Film so leicbt aufkommen
kann. Bedenklicb ist, datf diese Empfin-
dung der Unbefriedigtbeit den Zuscbauer
nicbt erst beim Verlassen des Theaters
uberkommt, sondern ecbon ein bitfchen
friiber.
BUCHER
Fr i tz M autbner s: Per Atheismus
*m Abendlande. 2. Band. Stuttgart
Deutscbe Verlagsanstalt.
Nacb kaum Jahresfrist ist nun der
zweite Band des grandiosen W^erkes er-
scbienen, der die Zeit vom Ausgang des
Mittelalters bis gegen die groffe franzbsische
Revolution bin umfafit, von der Epocbe
der ^pbilologischen' 1 ' Autklarung, die wir
Renaissance zu nennen pflegen, bis weit
binein in die Tage der ,,naturwissen-
schaf tlicben' * Auf klarung des 1 8 . Jahr-
bunderts. Eine bunte, wirre, ungeheuer-
licbe Zeit und ein ungebeurer und unge-
heuerlicber Stoff — aber von Mautbners
klarem, ktthlem Verstand bell durchleuchtet^
von seiner sicberen Hand sorgfaltig ent-
wirrt und geordnet.
Icb greife ein paar Geetalten beraus
Paracelsus, der Mann des prachtvollcn
Wablsprucbes: ,,AHerius non sit, qui suus
esse potest", Giordano Bruno, Thomas
More. Hugo Grotius; Montaigne,
von dem ea beifit; „Er war fur sicb selbst
ein nocb feinerer und noch freierer Kopf,
als vor ibm Erasmus gewesen war; aber
er dacnte ebensowenig daran wie Erasmus,
seineUberzeugungauf Kosten seines Wohl-
bebagens 2u vertreten, und eine Erlosung des
Volkes aus der Gewalt der Pfaffen war
ibm gleicbgiltig. Sie waren beide (es soil
kein barter Vorwurf seinj ,,egoiatische,
schonheitsliebende, heidnische Humanisten.
Daa Volk war ibnen Pobel", Sodann
Bayle, Spinoza, die grotfen Englander
Hobbes, Locke, vor alien Hume, der
,, nicbt nur die vermeintlicbe Theologie der
541
positiven Rcligionen, aondern den Scbatten-
gott dea Deismus zur Strecke gebracht'''.
der „den Gottglauben nicbt nur fur die
Pbilosopben, sotidern selbst fur das Volk
fiir abgetan erkiart" bat,
— ^^ie gut tate es in dem "Wirrsal
unserer Tage. da allenthalben Geister :
O^ortgeister zumal) auf Kosten des Geistes
spuken, wenn viele ihren beitfen Kopf in den
klaren Quell dieses Bucbes bineinrunkten.
das von sicb bekennt, dafi ea „eigentlicb
eine Wortgescbicbte ist, die negative Wort-
gescbicbte der allmablicben Entwertung des
Wortes » Gott« '" — nicbt sowobl, um
^Kenntmsse" berausznfiseben, als urn sicb
abzukiiblen und aufzubellen.
Dr. OwlglaR.
inha.lt des letzten heftfs
(Nr. 16):
Tbomas Webrlin: Zum Eraten Mai
G. Bernard Sbaw : Der alte Revolutionar
und die neue Revolution
Joacbini Ringelnatz : Stoffwecbsel ~~
Rudolf Olden : Kontinentale Erfabrungen
uber England
Herbert Eulenberg : Ein Zeitacbriftsteiler
Rudolf von Deliua : Die Malerei der
Elemente
Wirtacbaftlicbes Tagebucb
■Stefan Szekely : Mein Freund, der Drama-
turg
Carl Sternbeim : Fairfax
Albert Ebrenstein : Der Liebende
Aus dem Tagebucb.
DER SIEGESSAULENPROZESS
Wabrend icb dieses Heft scblietfe, wird
gem eld et, dal? die Polizei in MitteldeutscK-
land den Anstifter des Siegessaulenattentates
festgenommen habe. Die Verteidiger batten
acbon in dem Prozetf, iiber den icb im
Hefte selbst bericbte, Ferry's Festnabme
verkundet, Sie verlangten desbalb Ver-
tagung. "Ware ea nicbt kliiger und durcb-
eicbtiger gewesen, gegen alle Attentater in
e i n e r Verbandlung xu verfabren? Wea-
balb so bastig? Die Polizei latft melden,
Ferry babe scbon alles Wiinscbenswerte
gestanden. Hoffcntlicb bleibt der Tat-
oestand so einfacb und unkompliziert. Den
jedenfalls merkwurdigen Prozefi wird man
aufmerkaam anbdren miissen.
Das Geld, daa man besitzt, ist das
Mittel zur Freibeit; das Geld, dem man
nacbjagt, ist daa Mittel zur Knecbtscbaft.
T. J. Rousseau: „Gestandnisse".
Qrapbifches ^JCabineii
tyucbhandlung und S^nfiquariai
(Berlin 9V. 50, ^urfHrflendamm 232.
q~ (fernspr. <5ieinpL 7255 -—o
<5onnabend, den 7. <$lai 1921
10 tUbr vorm. u. 4 cflbr nacbm.
2. ^ersteigerung
ni iiiiiii wmii
Cine <5ammlung deutscher,
engliscber u. franzdsischer
Siferatur und c )(unstbucher
tyesi&tigung :
5. und 6. 9#ai, 10—7 91br
Catalog kostenfos
Redaktion des „Tage-Bucb" : Berlin W 35, Potsdamer Strafe 123 b, Tel: Lutzow 4931
Verantwortlicb fur den redaktionellen Teil : Stefan Grotfmann. Cbarlottenburg. Verlag :
Ernst Rowoblt Verlag, BerlinW 35. Potsdamer Straffe 123b. Druck: R. Abendrotb, Riesa
542
PER ANBRQCH
6. au^erordentliches
Orchcster - Koti^ert
am Montag / den 2. Mai 1021 / ?V a . Clhr abends
in dec Philharmonic mit dem
Philharmonischen Orchester
DTRIQENT:
KAEL SCHQRTCHT
PROQRAMM:
QCISTAV MAHLER
Scchste Sinfonie
Karten bei Bote & Bock utid bet W e r t h e t m.
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Unter den Linden 77 ; ; ban»<nnarkt 60
Telegr. : Siegmarius Berlin. Markitto Hamburg.
// Zentr. 9153/54, 5088. 925. 8026 //
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Devisen / Akkreaitive / Kreditoriere
U M WE CHSL UN G
FREMDER GELDARTEN
ZU KULANTEN BEDINGUNGEN
Auflfiihrung aller Bank- und Borsentraneaktionen
B e r eit wil li g e Auek u nft-Er t eil ung uber In d ustri e-Pap ier e
Das Tage-Buck / Heft 18 JaKrg. 2 / Berlin, 7. Mai 1921
M. ERZBERGER POLITIK ODER - ?
Retchamlnbter a. D.
Der politisck denkende Leser kann sick selkst die Fortsetzung der
Ukersckrift gjken. Aker die Masse unseres Volkes" weil? leider zur
Stunac nock mckt, wtc in dea letzten Wocken unsere Zukunrt auf das
allerautferste gefakrdet worden ist, ja dal? wir feierkck abgedankt kaken,
unser kiinftiges Sckicksal selkst zu gestalten. Deutsckland ist keute volkg
isoliert — wie nock nie.
Die sett Januar dieses Jakres im mer deutltcker ketriekene Poktik
kat in weiten Kreisen die Auffassung gezeitigt : „Unsere Gegner kekommen
kein Geld. * Auf dieser Grundlage kann nietnand Politik treiken ; aie
ist nur ein Spielkrett fur politiscke Hasardeure oder naive Kindskopfe.
Wokm unsere Sckicksals wurf el rollen, werden wir leider im J&Jonne—
monat Mai erleken mussen. Ick kake in den letzten Jakren wiederkolt
versuckt, detn gesunden Mensckenverstand sein unverauJ?erlickes Anreckt
am politiscken Denken und Handeln zu versckaffen; das ist jedock ein
gefakrlickes Experiment. Im ^A^eltkrieg konnten wir uns nur retten
durck einen Verstandigungsfrieden, solange wir stark waren ; darum
die Friedensresolution des Reickstags. Welcker Deutscke wurde keute
mckt taglick auf den Knien dan ken, wenn wir den 1917 erreickkaren
V eratandigungsmeden tatsackkck erkalten katten? Dann kam im Sep-
temker 1918 der miktariscke Zusammenkruck, der selkst einem Luden-
dorTr die Feder in die Hand druckte, urn sick dem Prasidenten der
Vereinigten Staaten auf Grund seiner 14 Punkte zu unterwerfen.
Ludendorff personlick kat Aie Depescke an Wilson verfaft. Seeks
AVocken dauerte der Depesckenwecksel zwiscken Berlin und AA^askington,
bis der kitterkarte Gang nack Compiegne angetreten werden mutfte. Die
Jumtage 1919 mit dem rausckenden Augenklickserfolg der pkraaenreicken
Akleknung und der Dauerkelastung, den M Sckmackfrieden" angenommen
zu kaken, waren ein zaker Kampf zwiscken der Politik des Zusammen-
prallens una der der elastiscken Verteidigung. Damals gak es teinen
anderen Ausweg, um die nationale Einkeit des Deutscken Reickes zu
retten; das war der Preis von Weimar fur Versailles. An diesem
so sckwer erkauften Preis mutfte und mui? die deutscke Politik unter
545
alien U mat an den und fur alle Zeiten festkalten. Die Erkaltung und
Festigung der nationalen Einkeit ist das oberste Gesetz fur jedes poktiscke
Handeln — auck wenn die grotften materiellen Opfer gebrackt werden
muuten.
Von Juni 1919 at konnte Deutsckland nur einen Weg zu seiner
Wiederaufricktung geken : elaatiscke Verteidigung, kluges Ausweicken.
Geraume Zeit geachak dies mit Erfolg. In der ungemem keiklen Frage
der „Krieg5verbrecker" erzielten wir einen vollen Erfolg, der allerdmgs
durck die politiscbe Unfakigkeit der Reickeanwaltsckaft und des dafur
verantwortlicken Reickajustizminiateriums erkeblick gefakrdet ersckeint.
^^arum legte man nickt Aie ganze Kraft auf scknelle Justiz, die uns
nickt gesckadet und vielen sckwer angegnffenen Deutscken die Ekre ge-
rettet katte? In 15 Monaten ist meines "Wisaena nur em emziger Fall
bekandelt worden. Wcnn nickt ausreickendes Beweismaterial gekeiert
wird, verkandelt man trotzdem und sprickt frei ! — Nack den Reicks-
tagswaklen trat jedock immer deutlicker die Sckwenkung in der Autfen-
politik kervor. In Spaa kat man zwar nock die Politik der elastiscken
Verteidigung fortgesetzt, obwokl der A ul?en minister Simons sckon da-
mala zunackst fur Akleknung und damit fur ein Aufeinanderprallen sick
aussprack. Was die deutacken Sackverstandigen in Spaa gesundigt kaben,
zaklt keute das ganze deutscke Volk ; damala kietf es, daK das Hockst*-
mafi der deutacken Leistungsfakigkeit 800000 Tonnen Kokle im Monat
sei. Man denke nur an das spaf?ige Auftreten des grotfen Stmnes.
Dann kaben die deutscken Unterkandler, wie beim Rol?kandel, taghck
und kalbtaglick 100000 Tonnen draufgelegt, bis sie zu 1,2 Millionen
Tonnen kamen: um zu bekaupten, dal? jede kokere Leistung Deutscklands
wirtsckaftlicken Ruin kerkeifukren werde, dal? die deutscke Industrie be~
sckafrigungslos wurde, die Hockofen ausgeklasen werden mufiten uaw.
Die Entente blieb kart. Dank der ungekeuren Energie und Opferfreudig-
keit der deutscken Bergarbeitersckift wurden monatkck 2 Millionen
Tonnen akgeliefert. Kein Mensck kann keute titer Koklenmangel in
Deutsckland sprecken. Das Spaaer Sckauspiel kat die Welt nickt ver-
gessen. Darum wurden die neupi Denksckriften zur Wiedergutmackungs-
frage, die teilweise von denselben Sackverstandigen untersckneken waren,
mit dem gro litem MtUtrauen aufgenommen.
Vom Januar dieses Jakres ab, mackte die deutscke Poktik die aller
Welt aicktbare Sckwenkung* die zuerst in einem forsekem Nem sick
bekundete, urn am 20. April die vollige Kapitulation des Deutacken
Reickes als selbsstandiger Staat aussuspreekea. Dieser poktiscke Zu-
546
sammenbruck, der den militanscken uberragt, war die naturhcke roige-
wirkung all der Fekler der letzten Monate und der Kopfloaigkeit, nut
der vor* in und nack London gekandelt wurde- Ick sprecke nickt
davon, dal? unser Unterkandler in London nicht vor seiner Reise sick
festlegen durfte, wodurck er sich, wie lhm Lloyd George in der letzten
Siizung deutlick aagte, ale Unterkandler unmoglick gemacht katte. JDie
ganz unpsyckologiscke Aurmackung- des deutscken Gegenvorscklages, der
im Kern die geforderte Summe von 226 Milliarden Mark anerkannte,
dann aber in die matkematiscke Leistung eines Okertertianers ausartete,
unter volliger Mitfacktung aller psyckologiscken Vorgange im Volker*-
leben, war der erste grolse Fekler. Lloyd George wollte nock im letzten
Augenblick eine Brucke scklagen, indem er am 7. Marz der deutscken
Delegation sagte, dai? er kereit sei, iiber die „Dauer der Annuitats-
perioden zu verkandeln". Damit war das Tor zur Verstandigung
kreit geoffnet ; denn wir mu#ten nur aagen, dai? wir die geforderte
Summe unter keinen Umstanden in 42 Jakren leisten konnten, dal? wir
aker ernstlick versucken. wurden, sie in langeren Zeitraumen aufzukringen,
z. B. im Durckacknitt jakrlick 3 Milliarden Goldmark. Auf dieaen
Vermittlungsvorscklag von Lloyd George ist der deutscke Unterkandler
uberkaupt nickt eingegangen, sondern mackte den ganz kopflosen Vor*-
.scklag, fur iie ersten 5 Jakre die Pariaer V orscklage unter einer ge~
wissen Voraussetzung anzunekmen, obwokl feststand, dais em aolcker
Vorscklag in diesem Augenklick keinerlci Auasickt aut Erfolg mekr
kaben konnte* er aker kunftige Verkandlungen so gut wie unmogllck
mackte. Man kann das Urteil uker London nur damn zuaammenfaaaen,
daf? daselkst von unaerer Seite alle, aber auck alle Fekler gemackt
worden sind, die ukerkaupt mbglick waren. Das sage ick nickt eret
keute. Ick kakc zeitig gewarnt und matfgekenden Peraonen aeit Anfang
Februar gesagt, dai? das Unannekmkar der "Pariaer Vorscklage die Frage
nickt lose, sondern sie nur versckarfen musse ; man moge dock die
Lekre der sybilliniaeken Bucket mckt vergesaen. Der eine lA^eg fur
London aei die Offerte der Obernakme der amerikaniacken Knegsdar-
leken auf Deutsckland, ncbst einer beatimmten Summe fur den ^Vieder*
aufbau in Frankreick, der andere geke dakin, die Dauer der Annuitats-
perioden zu verlangern etwa auf folgender Basis: 6 mal 4 Jakre je 1,
l 1 / 2 , 2, 2 1 /!, 3, 3V2 Milliarden Mark und 43 Jakre jc 4 Milliarden,
sodaf? in 67 Jakren die Gesamtaumme von 226 Milliarden Mark gezaklf
wiirde. An die Stelle der Ausfukrabgake von I2 1 / 2 °/0 rausae — naek-
dem der fur una unglucksekge Gedanke des ^Beaserungssekemes" leider
547
ron Deutscken selkst in die Dekatte geworfen lei — cine Verkindung
von Ausfukr una Valuta etwa in der AVeise gefunden werden, dai?
von der keutigen Ausfukr von ca. 4 Milliarden Goldmark 12 ; /2 %, also
500 Millionen Mark. Zuscklag kezaklt wurden, gerecknet auf der Baa is
der Valuta von 10; ,dai? eine Erkokung tlteser Leistung kis auf 1 Milliarde
eintreten konne mit der Hekung der Markvaluta in der Weise, dal? fur
je 2 Punkte 5 °/o mekr gegeken wurde, also Lei Valuta 10 500 Millionen,
kei Valuta 20 625 Millionen, kei Valuta 30 750 Millionen bei Valuta
40 ?75 Milkonen und kei Valuta 50 und daruber 1 Milliarde Mark
als Maximum. Man konnte auck> den Vorscklag macben, die Ausfukr-
akgabe mit lnsgesamt 42 Milliarden Betrag zur geforderten Gesamtsumme
zu scblagen und 5 mal je 4 Jakre je l'/», 2, 2 '/a, 3, VI* Milliarden
und 55 Jakre je 4 Milliarden, also insgesamt 270 Milliarden Mark in
75 Jakren anzukieten; all dies in der klaren Erkenntms der Tatsacken,
dab Dcutsckland mckt kurze, sondern lange ZaMungsfristen krauckt
und dal? die Summe von 226 MilKarden Mark Anmiitaten nack alien
Vorgangen mckt mekr kerabzusetzen war. Solcke Vorscklage, die auck
der Tatsacke Recknung tragen, dal? die Goldmark 1921 nickt einmal
die Halfte des AA^ertes von 1913 kesitzt, katten in London zur Ver~
standigung fukren konnen. Dock alles Reden war umsonst. Den Bruck
in London kat jeder Poktiker kommen seben; er war nack dem deutscken
Auftakt einfack unvermeidlick. "Was man jetzt an Einzelkeiten uker
die Londoner Vorgange erfakrt, stimmt tieftraurig.
An den Iriumpkemprang in Berlin — ok er keute auck nock statt—
rinden wurde? — scklol? sick dann der grol?e Ferienausflug der
deutscken Regierung, derweuen alle Vorbereitungen fax* die Zer-
stuckelung des Reickes von gegnenscker Seite getroffen wurden. In den
neutralen Landern sank die Stimmung gegenuber Deutsckland unter den
Gefnerpunkt. Die Entsckeidung uker Oberackleslen wurde vertagt, der
bestimmt erwartete Fried ensscklui? mit den Vereinigten Staaten, der
nack alien Ankiindigungen lm Marz erfolgen solite, kinausgezogert. Drei
Wocken nock sckwelgte man in der Selksttausckung, dal? Deutsckland
„endlick emmal" Nein gesagt kake, wakrend der kistoriscke Vorgang
der war, dal? Deutsckland am Scklul? Ja sagte, das keil?t eine Offerte
uberreickte, welcke die Entente durck ein Nein ableknte.
So wenig man die Londoner Konferenz geniigend vorkereitet katte,
so wenig dackte man nack London an das, was kommen wurde. Ein
klug und weitsckauend angelegter Vermittlungsversuck des Vatikans
sckeiterte an kleinkcken deutscken Intriguen von einer Seite, von der
548
man es am wenig?tcn batte erwarten sollen ; Rom leknte es dann in
einem spateren Stadium at, erneut einzugreiten. Dais cine lndiskretion
der „Germania" daran sckuld sein sollte, wurde im Reicbstag bebauptet.
Icb errubr davon aus den Blattern.
Von da ab kam &ie Periode der wilbelmimscken „Plotzlickkeiten
und Uberrumplungen; das Berner Interview mit Sauerwem uberrascbte
nickt nur das deutscbe Volk, sondern aucb das Reickskabinett. In der
zweiten Halfte des Monats April, 15 Tage vor dem sckwarzen 1. Mai,
tauckten in immer weiteren Kreisen Zweifel daruber auf, ob die deutscbe
Politik sicb auf dem ricbtigen Wege befinde. Man fand aber nicbt den
Mut, den Weg zu geben, der durcb ^ie Verbaltnisse und die eigenen
Febler jetit allein vorgescbrieben war: entweder eine teste, vom 1. Mai
1921 mit 5°/o verzinsbare Gesamtsumme zu nennen, oder die Pariser
Annuitatenvorscblage zu akzeptteren, nur mtt verlangerten Zaklungsinsten.
Wakrend man bisker als das innere Dogma der deutscben Poktik
den Satz bebandelte: wir werden nur einen Vertrag unterscnreiben, den
wir errullen konnen, wurde nun plotzkcb am 20. April dieser Stand-*
punkt aurgegeben ; Deutscbland kapituberte bedingungslos — nicbt vor
den Alluerten, sondern vor einem Land, mit dem es sicb nock im Kriegs—
zustand beiindet, vor den Vereimgten Staaten, deren Vermittlung es an-
nex. Ein mbaltssckwereres Dokument mit dem Verzickt auf jede Selbst-
bestimmung ist im letzten Jabrbundert nicbt ergangen. Man mui? sick
einmal klar werden, was in dem kurzen Scbnftstuck entkalten ist :
1. Der President der Vereinigten Staaten soil als Scbiedsricbter die
Summe feststellen, die Deutscbland als Reparationssumme zu zablen bat.
2. Deutscbland wird obne Einscbrankung oder Vorbebalt. die Summe
zablen, die der Prastdent feststellt.
3. Deutscbland verpflicbtet sicb, den „Scbiedssprucb, wie er auck
lauten moge, in alien Einzelbeiten, sowobl dem Bucks tab en, wie dem
Goste nack, zu errullen."
Ick wundere mick — oder wundere mick auck nicbt — da!? nickt
ein Sckrei der Entrustung und Emporung uber dieses geradezu kopflose
Vorgeben ersckallt. Die deutscbe Regierung bat sick verkauft, aber nickt
nur sick, sondern unser gauzes Volk, und zwar bedingungslos verkaurt.
Man sollte dock aus den bitteren Oktobertagen des Jabres 1918 gelernt
kaben, wie em solckes Verfakren una sckwackt. Aker damals kat
Ludendorff, der die Depescke an Wilson niedersckriek wenigstens nock
den Vorbebalt der 14 Punkte Wilsons gemacbt ; keute Simons nur. was ,.reckt
und billig"" ist, Ick weii? nicbt, ob man sicb uberlegte, welcbes der In-
549
halt dee Schiedssprucbes gewesen ware. Maisgebende Finanzkreisc in
Amerika baben nock bis m die letzten T age die Auffassung vertreten,
dai? Deutscbland allermindestens die Summe von 60 Milliarden Gold-
mark nut 5 °/0 verzinsbar. zablen musse. Wie die V erhaltmsse liegen,
war nut absoluter Sicberheit damit zu rechnen, dai? der Scmedsspruck
sehr nabe an die Forderungen der Entente berangekommen ware. Was
batte vollends die Regterung getan, wenn Harding die Pariser Vorscblage
als Scbiedsricbter sicb vorbebaltlos zu eigen gemacbt batte? Die deutscbe
Regierung bat sicb verpflicbtet, den Schiedssprucb in alien Einzelbeiten
zu erfullen. AtVenn sie ibn aber nicbt erfullen kann? Wer solcbe
unerfullbare Versprecben in der durcb eigene Scbuld berbeigefubrten
Not in die Welt binausscbreit, ist nocb me ernst genommen worden.
Eine kluge Politik mul? weiter damit rechnen, dai? in dem Scbiedssprucb
Garantien fur Ausfubrung der ubernommenen Verpficbtungen entbalten
sem werden ; Garantien, die unter Umatanden scblimmer smd, als die
Leistung selbst. Solcbe ganz unbekannte Garantien fur erne ganz un-
bekannte Leistung bat Deutscbland scbon 1m voraus sicb verpflicbtet zu
erfullen. Diese ganze Aktion war nicbt nur die offenkundige Ver-
leugnung der bisber emgenommenen rlaltung — ein politiscbes Harakin
ira scbbmmsten Sinn des Wortes, sondern aucb em ganz uniiberlegter
Verxwciflungsscbritt, geboren aus den Feblern der letzten Monate, au3
der Kopflosigkeit des Tages und der Mutlosiglceit, den gemacbten Febler
einzugesteben. Die Vermittlung Amerikas unter diesen Formen und Be-
dmgimgen batte unter keinen Umstanden angerufen werden diirfen, dann
weit cber den bitteren Gang nacb London und Paris selbst. Scbon die
Kurze der Zeit bis zum 1. Mai batte nabe legen miissen, nicbt weitere
Ersebwcrnissc dazwiscben zu legen. Aber das Kabinett legte auf die
poliriscken Ratscblagc von einigen amerikamscben in Berlin weilenden
Gescbartsleuteii grotfen ^Vert. Gcrade wer, wie icb ein Freund des
eebiedsncbfcerlicben Gedankens ist, mul? den jetzigen Scbritt aufs tiefstc
bedauern, wed cr der Idee des Scbiedsgeriebts selbst abtraglicb ist, Icb
atmetc crleicbtert und befreit auf, „a!s dU Ablcbuung Hardinge bekannt
wttrdc. rreutcb der Riescnscbaden der Scbwacbung unserer geaamtcn
Lagc bletbt besteben und ist nicbt wieder gut zu macben. Die diplo-
tnatiycbc Niederlage nacb so] cber Deroiitigung stebt in der politiscbeo
Gescbicbte wobl einzig da. Daf? es gar nocb Manner gibt, die es aU
einen Erfolg anseben, dai? es nunmebr gelungen sei, die Vereinigten Staaten
fur die ganze Frage zu interessieren, uberrascbt in der total verfabrenen
Lage nicbt. Aber roan lege sicb einmal die entscbeidende Frage vor:
550
was hattc Harding nock wemger unci akleknender auf diese jede nationalc
Wurde vermissende Aktion iikerkaupt sagen konnen ? Neue Vorscklagc —
ob nack Waskington, London oder Paris — katte die Regierung trotz
aller vorkerigen Ankiindigungen nickt ausgearkeitet.
So mutfte nun in grotfter Hast und okne Befragen der Sackver-
standigen das letzte Angekot nack Waskington akgeken. Es ist mir in
der Stunde der Niedersckrift nickt kekannt, dock eines kefiirckte ick:
die Garantien fur Erfullung werden starker als je in den Vorder-
grund treten. Man erinnere sick an den 1918 er Oktoker ~ Depesck.cn-
Wecksel, mit den damals geforderten Garantien. Sollte es so kommen,
dann keine Dcpescken km und ker. sondern sofort eine neue Konferenz,
da jede Depescke uns nock sckwacker mackt.
Das Kabinett Simons ist tot, es merkt cs nur nock nickt. Die
Kon^ratierung des poktiscken Sterkens ist keine Ministersturzerei. Die
Regierung wird zwar die Gesckafte nock fukren miissen. kis die Situa-
tion voll gcklart ist; sic darf jetzt nickt zurucktreten. Unser Volk
wird mmmekr, wic kitter es auck sei, erfakren raussen, wo kin die
Politik gefiikrt kat, die ganz nack dem Herzcn der Deutscknationalcn
getneken worden ist. Diese sind dakcr auck zuerst kerufen, die etwaigc
Neukildung der Regierung zu versucken; denn sie kaken ikr Ziel er-
reickt: das Nein-sagen mit alien semen Folgen.
k*simir edschmid IN EINER EIGENEN SACHE
Seit cuugen Monaten umkellt mick eine Meute rait dem Namen
Hmdcnkurgs zwiscken den Zaknen. Soweit es kontrollierkar ist, wur-
den mir an zweikundert Ausscknitte geeandt. Die „Front" des An-
griffs kann auf das funf kis zeknfacke kerecknet werden. Sie reickt
von der Gartenlauke zur Deutscken Tageszeitung, vom Kladderadatsck
kip zu kayrischen Gekirgstalklattern, vom Kunstwart kis Duiskurg, von der
Jugend zum Riesengekirge. Man keziekt sick auf zwei Satze aus
ineinem Buck ,,-Ln.. -^oppelkopfige Nympke". Man reitft zwei Satze aus
cinem ganzen Buck, aus [ -stimmten Gedankenreiken, aus eindcutigen
Zuearamenkangen. Gikt lknen neuj Akzente, andere Zusammenkange,
neue Interpretationen, sckeut vor kleinen Falsckungen nickt und setzt
woklgemut das : kreuzigt ! dakinter. Die meisten, fast alle kaken die
Aufsatze, kaken das Buck, kaken die Satze nickt gelesen. Beweiskar
kezieken sick die entrusteten Angriffe auf Gekortes, auf das Geruckt,
551
auf" acbon gefalsckte Zitate. Der Kladderadatsck tat ea mannesmutig
eogar in der Frankfurter Zeitung gelesen, zweikundert, die es ikon nack-
actreiben, ebenfalk Wae eie gelesen taken, ist nock pkantastiecker.
Eine Campagne keginnt mit einem Mut, einer Sickerkeit, einer Unver-
frorenneit aelkst in Jer ackamlosesten Luge, em luatiger Huaarenrltt kekt
an mit einer Unkesorgtkeit urn die Quellen, einer Ungemertkeit in der
Nackprufung, der an die beaten Zeiten dea Militarism™ erinnert. Urn
was kandelt ea sick?
Ea kandelt aick erstena um den Aufsatz „Bilanr" aua dem ge-
nannten Buck. Er iat Neunzeknkundertneunzekn gesckrieken, aeit last
deraelken Zeit veroffentlickt. Er gikt eine Zusammenfassung Aee Ckaoa
in Kunat, Politik, Gesinnuug. Ick lasse kaleidoskopisck alle Anaickten,
alle Vertreter der Zeit durckeinanderwirkeln. Eine der Anaickten
lautet: „Warum ist Hindenkurg nickt in einem friedlicken Zeitalter
Sckaltcrkeamter in Okerau geworden?" Ick glauke, dal? ick 1m Re-
aumee dieaea Aufsatzes ein gropes Bekenntnia zu dem armen und auck
in aeiner Zeracklagenkeit wundervollen Deutackland gegeken kabe, ick
glaube, daf? ick deutsckes Wesen glukender erlekt kake als tausend
Sckreier, die mit den Sckaklonen seines Namens raaskiert die Welt er-
obert und semen Namen gesckandet kaken, und ick glauke nickt, datf
ick in dieeem Aufaatz mir irgendwas vergeken kake. Ick muR wie jeder
Autor, daa Reckt in Anspruck nekmen, die Welt der Gedanken und
Moglickkeiten zu durckwandern und Figuren kinzustellen, die aie ver-
koVpern, wo und wie ea mir keliekt. Aker es ist ein verwerflicker
und kindlicker Standpunkt. mir personaliter das in die Aksickt sckieken
zu wollen, was okjektivierte Figuren und Gedanken aussagcn. Ick kalte
es, nekenkei gesagt, fur ein sckones und rukiges Dasein, gegenuker dem
Zugspitzmassiv, Ettal und Linderkof uker sick, zwiscken Staffelsee und
dem Scknee Partenkirckens ein gutes und woklgefalligee Leken zu fukrem
ick kann keine Degradierung darin seken und ick vermag nickt zu ke-
greifen, was eine sinnlose Wut recktfertigen konnte. Darum aker
kandelt ea sick nickt. Es kandelt sick um ' Politik. Es kandelt sick
darum, die Legende der Helden zu kewakren, es kandelt sick um einen
konaervativen Mytkoe, es kandelt sick darum, den kriegeriscken Geiet
und die Revanckeidee sekr zu erkitzen. Dazu ist jede Falsckung gut
genug. Darum wird aus einer Sacke eine private Angelegenkeit gemackt,
aua irgend einer ckarakterisierenden Aussage eine personkcke Sckmak-
akaickt dea Autors. Es wurde zum Verkrecken oder zu infernaliscker
Heiterkeit fukren. mackte man alle Dickter fur Satze ikrer Geatalten
552
verantwortkck, aker es keweist in der Taktik der Hetze die nur zweck-
karte, unnormaliscke una zersetzte Gesinnung unserer Zeit, wo die
MeDschen langsam alle keginnen sick mit keimlicken Messern einander
zu n alien. Ick kalte es fur meiner zu wenig gereckt werdend und zu
wenig wurdig, mick dagegen ukerkaupt nock zu verteidigen, dai? ick einen
Mann, an dessen \Vurde wokl niemand zweifelt, wissentlick katte
kranken wollen, ick gesteke aker, dai? ick froker ware, wenr. die
Legendenkildung und die Heiligspreckung des kriegeriscken Damons in
lJeutsckland wemger selkstverstandlick genommen und weniger fast sckon
etikettenkaft gekandkakt wurde.
t-s gekt weiterkin urn einen zweiten Satz. Ick kake ikn fast nie
ausgesckneken gefunden, man zog es vor die reklamesickrere Fassung der
Hetze gleick von Anfang ker durck eine falsckende Verstummelung
leickter zu kefestigen. Der Satz lautet in der Falsckung kurz und
lapidar: „Hindenkurg eine Mittelma^gkeit!". Von Zusammenkang gikt
man keine Spur, man gestek't nickt, dai? diese Partie erst das Ende eines,
Satzes xlarstellt, von ganz anderen Dingen, kesonders von einem Verkum
nock akkangig ist, Um was kandelt es sick? Es kandelt sick um
einen Aufsatz uter Daukler, in dem ick ketonte, dai? wir keute in
Deutsckland insofern in emem Tiefstand der Rasseautferung uns ke~
fanden, dai? zur Zeit unserer groi?ten Katastropken wir keinen Mann
katten, der lrgendwie geistig souveran sei, keinen Fukrer, keine auf~
kauende Kraft, keine gestaltende Grotfe und dai? ick in tragisckem
Sckmerz unter den genanntesten Deutscken in diesem Sinne von Sckeide—
mann Lis Hindenkurg nur Mitt elm atfigkeit sake. Ick kann nickt leugnen,
dai? dies Verekrern des Feldkerrn vielleickt peinlick klingt. Ick kann
aker nickt seken, dai? kier ein Insult vorliegt. Falsckt man den Zu-
sammenkang, ist es allerdings eine anmai?ende personKcke Krankung.
Liest man Satz und Zusammenkang, ist es ein kedauerndes Urteil. Das
Reckt stekt mir zu, es zu fallen nack den Ereignissen und gemai? meiner
Lieke zu emem Lande, in dem ick nickt Hero en verek rung, sondern
einen Sinn fur die groi?eren und ukerlegneren Aufgaken der Zeit seken
mockte. Aker die Deutscken lieken nickt diejenigen, die aus Lieke die
Fekler feststellen und aus Hingekung Kritik uben, sondern diejenigen,
die kesinnungslos die patriotiscken Scklagworte nackreden und das
Falscktste, weil es konvenlionell ist, grui?en.
Ick glaukte, selkst wenn ick die Krankungen meiner Person keftiger
empfande, kein Reckt zu kaken, offentlick mick zur Wekr zu setzen
gegen Insulte, denen jedermann, der die OffentLckkeit starker ketritt, in
553
keut ungeakntem Mai? ausgesetzt ist, wenn ick merit, ganz abgeseken
von meiner Person, die diesen Dingen gewoknter una gelassener gegen-
ukerstekt, zwei Grunde dafur kesonders kestimmend emprande. Das
eine ist ein Gefukl der Honnettitat, das nickt dulden mockte, datf sack*
lick gemackte und gesckriebene Urteile aus verleumdensck und poktisek
gefalsckten Motiven ins PersonKcke umgebogen werden. Das zweitc
ist, dal? ick darin eins der fatalsten und sckmerzKcksten Zeicken einer
Zeit seke, wo Humanitat keginnen sollte, nack solcken Zusammenbrucken,
und wo ick weiter nickts erkennen kann als eine .so entsetzlicke Uber-
reizung der Feiudsckaftsgefukle, dal? eigentlick alle Dtnge langsam in der
' Erorterung keginnen ikren eigenen Gekalt einzubuKen und nur die Zweck-
aksickt politiscker Gesicktspunkte anzunekmen. Man gewoknt sick
daran, Menscken nickt mekr als Solcke sondern als bequem und un-
bequem, als nak oder befekdbar nack lkrer poktiscken Einstellung zu
keackten. Man verliert Aie Gradmesser fur Respekt und Groise und
Leistung, da man sie nur gelten laf?t, ob sie passen oder nickt. Die
Urteile uber Wissensckaft rickten sick nack Konfession und Ansickt
ikrer Vertreter. Ick glaube kinzufugen zu durfen, dal? die mekr
links stekenden Organe und Parteien larger und gereckter sind, dal? die
ganz reckts und ganz knks stekenden Parteien um so konsequenter sind,
ick kabe das Vergniigen von deutscknationaler und kommunistisckcr
Seite fast dieselben Vorwurfe, fast die gleicken Drokungen zu erkalten.
Ick vermisse aus Grunden der Sauberkeit die Sacklickkeit. Die Quali-
tat ist der Gradmesser, nickt der Zweck. Die Leistung ist die Haupt-
sacke, nickt die Ansickt, Ick furckte, dal? diesc Mai?stabe immer mekr
keginnen, aufgelost zu werden und dal? immer keftiger die Untersckei-
dungsmerkmale der Sacklicbkeit in die wemg klaren Wasser der
ICampfe kineingerissen werden. Es gibt all er dings zwei Arten der Aus—
einandersetzung und gab sic stets. Das eine ist die kebevolle, vielleickt
nickt okne Harte und Sckarfe, aker jedenfalls mit Hingabe beurteilende
und nack gereckten Gesetzen gestaltende und einordnende Form. Das
andere ist jene in ikrer Form auck keineswegs unsacklicke, sicker aber
bequeme und ganz bestimmt prazise Form der Vornakme, von der der
Herzog von Lauzun in seinen Memoiren sckreikt, als der Mann einer
Frau, die er ikm verfukrt, ikn kesuckte. „Ick kekandelte lkn nack
Gavaliersitte. Er wurde einfack zum Haus kinausgeworfen", sagt der
Herzog. Er war sick vielleickt keineswegs bewutft, dali es auck andere
Losungen gegeben katte. Ick bin der Ansickt dal? es not:g sei, darauf kinzuwei-
sen, dal? es nickt nur andre Losungen geben kannu sondern dal? es nur sie gibt.
554
S.: WIRTSCHAFTLICHES TAGEBUCH
TYRANNEI DER ZAHL
Wir sind Sklaven aritkmetiscker Symkole geworden. Ziffern
tyrannisieren uns, Ziffern k nek ein .unsere Poktik, lakmen unsere ^^irt-
ackaft, Solaaten sind marsckkereit, Kan on en werden aufgefakren, um
uns unter das JocK einer koklen, sckematlscken, unlekendigen und unwakr-
ackeinlicken Zaklentakelle zu keugen. Es ware grotesk, wenn es nickt
00 furckterlick ware.
Wir soil ten wiedergutmacken. Das Maf? der AViedergutmackung
muff, wie das Mai? aller Leistungen in Geld, in einer kestimmten Summe
von Dollars, Pfunden, Franken, Gold- oder Papiermark ausgedruckt
werden. Man summierte die Ansprucke der Entsckadigungskerecktigten
und fand, dai? sie uker alles praktisck Moglicke kinausgmgen. Folge: es
war die groffte Summe zu finden, die Deutsckland wirklick kezaklen
konnte. Diese Aufgake sollten die ^^irtsckaftssackverstandigen der
Entente losen. Aker sie ko tin ten sie nickt losen. Es gikt auf der ganzen
^A/elt keinen Sack vers tandigen, der zu sagen wufite, wieviel Trikut
Deutsckland (oder lrgend etn anderes Land) in den nacksten zekn, zwanzig,
tunfzig, nundert Jakren zu zaklen vermag. Auck in Deutsckland kann
-das niemand vorauskestimmen. Die Ententes ackverstandigen „sckatzten* v
die deutscke Zaklungsfamgkett; die unsrigen taten das gleicke. Aker das
„,Sckatzen war keidemal in \\ akrkeit nur ein Raten. Druken ein
kuknes, verwegenes Raten, kei uns ein vorsicktiges, vielleickt ukervorsick—
tiges. Die Poutiker der Alkierten gin gen naturlick von den unkekum*
merten und unentwegten Sckatzungen lkrer eigenen Leute aus. Sie setzten
die Annuitaten ein, die lkre Sackveretandigen fur allenfalls mogiick kielten
— von Zeitspanne zu Zeitspanne kuksck progressiv steigend, etwa wie
B eamtengekalter alle drei oder funf Jakre steigen — und reckneten mit
Zms und Zinseszms zuriick. Daraus ergak sick kei den drei&g Annui-
taten, die der Friedensvertrag vorsak, ein „Jetztwert*\ der zu niedrig sckien ;
die parlamentanscke und puklizistiscke Opposition konnte Larm scklagen,
wenn sie nackrecknete. Man rugte also einfack nock zwolf weitere
Annuitaten kmzu ; dann kam man auf den innerpolitisck vertretkaren
Jetztwert von rund funfzig MilKarden Goldmark. Die Annuitaten wurden
addiert und sie mackten, wie man kockerfreut feststellte, zweikundert-
secksundzwanzig Milliarden aus. Das war eine famose, eine unkezakl~
kare Zakl. (Unkezaklkar in doppeltem Sinne.) Sie war eine Sckutz~
wekr gegen koswukge Mimstersturzer. Seit drei Monaten lekt Herr
J3nand po litis en von dieser Zakl.
555
Sacklick ketracktet sind die zwakundertsecksundzwanzig Muliarder»
etwas rein Aritkmetisckes, ein Produkt von Reckenoperationen. Mit dent
Wiedergutmackungsbedarf steken sie nur insoiern ira Zusammenkang, ale
die Budgets der alliierten Lander naturkck fur sie Verwendung katten,
wenn sie eingingen. Ikre Beziekung zur deutscken Zaklungsrakigkeit, "die
niemand kennt (am allerwenigsten auf zweiundvierzig Jakre lm voraus) ist
durckaus fiktiver Natur.
Aker diese leere, im Grunde smnlose, durck Raten und Feilscken
im K.reise unserer Gegner entstandene Zakl ist das deutscke Sckicksal.
AVir mussen mit unseren eigenen Reparationsvorscklagen kinter mr ker-
laufen, wenn wir nickt von den Kurassierstiereln der neuen PreuKen
Europas zertrampelt werden wollen. Wir kaken der Entente erne
Aunuitatensumme von zweikundert Milliarden gekoten. ^A^arum zwei—
kundert Milliarden? Etwa, weil wir glauken, so viel in ertragKcker
Frist aufbringen zu konnen? Durckaus nickt: wir kaken selker keine
Aknung, wie lange es dauern wird, kis wir sie akkezaklt kaken. Oder,.
weil die ^kerecktigten'"' Ansprucke der anderen solcken Betrag erreicken?'
^iVir kennen diese Forderung nock gar nickt und sind autferstande, sie-
nackzuprufen. Nein, die zweikundert Milkarden sind die rein antknae—
tiscke ^Virkung der aritkmetiscken Fetiscks von zweikundertsecksundzwanzig
Milliarden, den die Alliierten aufgepflanzt kaken, damit wir das Knie
vor ikm keugen. AkVir kaken erklart, die Pariser Zakl sei unannekmbar*
Aker der Fetisck glotzt uns wild und drokend an und jagt uns Sckrecken
ein. Also nakern wir uns ikm verzagt und kilrlos und Tien en : wenn &
sckon sein mu#, dann bitte, wemgstens zekn Prozent Rakatt!
IMPORTABGABEN
Die Importakgake von deutscken AiVaren soil in England in der
ersten AA^ocke ikrer Erkekung einen Ertrag von einundacktzig Pruna
gebrackt kaken. Herr Lloyd George kat erklart, daf? diese Akgake ein
vortrefflickes Mittel zur Eintreikung der Reparation sei. Aber das kat
ikm niemand geglaubt. Alle Welt wutfte, datf sie eine ausgezeicknete
Maimakme ist, urn kritiscke Fabrikanten vor der unangenekmen Not-
wendigkeit zu sckutzen, der deutscken Konkurrenz wegen ikre Preise zu
ermaKigen.
Aul?er England will kein Staat diese Strafsteuer. Selbst den Fran-
zosen ist sie lastig. Aber Lloyd George kat He Sacke ganz scklau ein-
gefadelt. Indem er seinen Prokikitivzoll als „Sanktion k frisierte, zwang
er ikn den AUiierten und Assoziierten auf, die mckt den Sckein er-
wecken wollten, sie Kel?en die Entente gegen Deutsckland im Stick..
556
jedes Land, das die Akgake einfukrt, wird ein Vorzugsmarkt fur eng~
liscke \Varen. Die Englander konnen dort teuer verkaufen; aie kraucken
ja die mit kokem Extrazoll kelastete deutscke AVare nur um eine Kleimg—
keit zu unterkieten. Franzosiscke Konkurrenz kommt praktisck nur wenig
in Betrackt.
Also mckt bloi? Zollsckutz fur den eigenen keimiscken Markt, son—
dern auck erleickterte Auskeutung der Verkundeten. AiVokl ausgesonnen.
Pater Lamormain. Aker die Verkundeten kaken die Aksickt gemerkt.
Die geken sekr zogernd, sekr unlustig an die Aktion keran, die aui lkre
Kosten Englands Profite fordert. Offener AViderstand kat ja seine
23edenken. Wie ste mdes Aie Matfnakme durckfiikren — es gikt nickt
bloS Gesetze, sondern auck eine Verwaltungs praxis — und wie lange sie
aie ertragen werden, muf? sick erst nock zeigen.
roda roda DER VERLEGENE HERR
Gegen elf kringt mir Kreszenzia auf ausgedeknter Tatze eine Be-
suckskarte: ,Jokann Antorff\ Und sagt:
„Es is a Herr, der will zu Eakna. Der Herr war keunt sckoa
amaal da — i kak eakm gsagt. So scklaffen. Der Herr kats garnet
glauken wollen, dai? So . . . uma zekne nock . . .*"
Dazu ein Blick, der Zenzels Mitfkilligung iiker meinen verkekrten
Liekenswandel aufs deutlickste kundgikt.
,Jokann Antorff." Hm. Ick kake in fernen Dunkeln flucktig
jemand gekannt, der so aknlick kiei? — namkck: Jani Graf Antorff,
Rittmeister kei k. u. k. Wilkelmkusaren. Sollte der kurgerlicke Jokanu,
<ler drautfen wartet, identisck sein mit jenem Graf en Jani?
Jam war ein fakelkaft vornekmer KerL, ein draktiger Herrenreiter.
Einmal in der Krieau stiirzte er iiker die Trikiinenkurde. Ein Angst-
sckrei, dumpf wie Nekel, rauckt aus der Mensckenmenge. Die Komitee-
Lerren, Ordner kreuzen kin und wieder. Krankenwartsr, eine Trag-
kakre . . .
„Sckadelverletzung" keitft es nack einer kangen Weile. „Er ist
fast oknraacktig, der arme Jani." „Aker zum Souper. sagt er, kommt er."
Wirklick, er ist zum Souper damals gekommen. Die Herrenreiter-
laufkakn muJt er aufgeken, auck den Truppendienst. Man kat ikn in
Franz Josefs kaiserlicke Militarkanzlei getan ...
*
557
Nun kin ick mit Jem Anzug eoweit fertig, daf? ick mien Herr»
Antorff zeigen kann.
In meinem Arbeitszimxner finde ick ein ukeraus kesckeidenee
Manncken; uker seiner Eleganz ein Hauck von Akgesckaktkeit.
~Auf den ersten Blick: er ists. Draktig _ wie ekedem. Nur ware
Jamais: Training. Jetzt ist es: Unterernakrung.
Seine Augen bitten sckeu: ,,Erkenn mien nickt!^
Und Jokann Antorff keginnt, stockend unci zogernd zu werken . . .
fur ... Um des Himmels willen! Hore ick reckt? Fur die Wiener
Lekensversickerungsgesellsckaft „01ymp."
„ . . . unter Burgsckaft des Osterreickiscken Staates?" mockte ick
fragen. Dock Jokann Antorffs sckeue Augen kitten:
„Sei mckt krutalP
Du Guter! Ick konnte krutal gegen dick sein, Jokann Antorff?
Du, der Agent — deine Wiener Versickerungsgesellsckaft, die „ek nix
zaklt — und der Osterreickiscke Staat — ikr s«d ja so klein,. so-
rukrend ungesckickt, so arm . . . Am lieksten kalie ick euck, mien
versickern — auf eine Milliarde funfprozentiger osterreickiseker Loos~
anleike . . . (Wer das groJ?e Loos gewinnt, kekommt runi Prorent
seines Geldes wieder — daker der Name . . .)
Guter Jokann Antorff! Bisker kake ick seit Mensckengedenken
nock nie eine Polize genommen. Denn wozu? Ick fur meine Per**
son — ick keaksicktige, in spaten Lekenstagen mcinen kemittelten Ver~
wandten zur Last zu fallen. Meine Kinder aker? Sie mogen sick
durck die Welt scklagen, wie*s der Vater mutfte.
Dock diesmal, Jokann Antorff — die grausame osterreickiseker
Repuklik kat dir deine Grafsckaft genommen — ick geke dir, was dir
nock niemals einer gak: einen Versickerungsauftrag.
Freue dick, Jokann Antorff! So stammelnd, so dumm, so sckuck—
tern dus kegonnen: du kast mick emgeiangen.
,,Hier meine Untersckrift, Herr Antorff, 100.000 Kronen!"
Gek, Herr ^Direktor'Vund sei eine Wocke glucklick uker demen Erfolg!
Nack einer AA^ocke wird sick ja allerdings kerausstellen, da£ du
getausckt worden kist. Ick werde die Pramie nickt kezaklen.
Dann verklagt mick „01ymp" und drokt mit Jupiters Blitzen una
dem Gericktsvollzieker . . .
Ick zittre nickt; gegen Jupiter sckutzt mick Benjamin Franklin;
und gegen den Gericktsvollzieker meine Vorsickt, die mick sckon vor~
langet meine Mokel auf die Kinder umsckreiken kie£
558
Stefan grossmann SCHUMANN VERLANGTSEINENTOD
Vor ein paar Tagen hat man in Preuisen enducn em mannlicbes
^fort gebort. Ein Mann -will sein Scbicksal Laben! Er will Leber
sofort eterben ala mcbt wissen, wa^ mit mm gescmebt. Er fordert
semen scbnellen Tod. Verstent sicb, dab es kein Burger ist, sondern
ein V erbrecber : der Massenmorder Scbumann, der vor fast zebn
Monaten von deutscben Gescbworenen zuin I ode durcn das JDeil ver—
urteilt worden ist. Er sitzt seit dem Juli 1920 in Plotzensee und
. wartet, dal? das lbm zugesagte Todesurteu vollstreckt werde. Er bat
nie um Gnade gebeten. Er bat nur von Zeit zu Zeit daran ermnert,
dais er ein Recbt aur semen Tod babe.
Der preuinscbe Justizminister , der nacn der Veriassung anstelle
des iruberen K.6nigs von PreuKen das Begnadigungsrecbt auszuuben
bat, kann sicb seit dreiviertel Jabren mcbt entscbheisen, ob Scbumann
um emen Kopr kurzer gemacht werden soil oder mcbt. Der Grund
dieses Zogerna begt mcbt in Scbumann. Der war em Raubnv>rder
obne idealistiscbe Bescbomgung. Kem Nacbrabr Karl Moors, kein
kommumstiscn drapieiter \Velterlosungsraubmorder, sondern ein simpler
unverstellter Vv egelagerer, der im Falkennagener Forst bauste und dort
von Zeit zu Zeit auf Beute loszog, barmlose Paare bmterrucks anscboss
xin^i dann plunderte. Em psycboiogiscb unmteressanter Fall. Be~
merkenswert nocbstens dai> er bei seiner Frau em zweites, burgerlicbes
Leben rubrte und dais die Gattm, die wobl gelegentncb mal einen in-
stinktiven Scbrecken vor semen Vvutausrallen bekam, im groi?en Ganzen
glaubte, mit einem kreuzbraven, gutmutigen Burscben verbeiratet zu sein.
(Ach, was Alles seben Gattmnen mcbt?) Dieser viereckige Kerl. frei
von Reue, em Tier obne Fantasie und obne Gedacbtnis, batte im August
1920 em durch feierlicben Sprucb erworbenes Anrecbt auf semen Tod
erworben und er bat, eben well lbm Vorstellungskraft feblte, vielleicbt
aucb, weil lbm aufgedammert ist, dai? seine Tierbeit in die menscblicbe
Gesellscbaft mcbt einzuordnen ist, die rlmricbtung wiederbolt gefordert,
Sein Gegenspieler, der preuisiscbe Justizminister, kann sicb jedocb nicbt
ents cblieKen. Er verweigert ibm die Begnadigung, er verweigert ibm
aber aucb den Tod.
„Er kann sicb mcbt entscnlie#en*\ Das Wort mul? uber der
Pforte dieses Zeitalters steben. Herr Am Zebnboff, der preu&scLe
Tustizminister, ist offenbar ein durcbaus moderner Menscb. Der Ge-
oanke, em Todesurteil zu bestatigen, stort wabrscbeinlicb seine Ver-
559
dauung, vielleickt sogar den Scklaf seiner Nachte. Er ist nickt blou
Zentrumsmann, er ist vielleickt gar eine ckristlicke Seele. Es wider—
strebt mm, verantwortlick fur den Beilkieb des Sckarfrickters zu sein.
Also muKte er kegnadigen? Aker der Verurteilte ist kemer Gnade
wurdig. -wall auck keine Gnade, una - die Partei- una Landtagsgenossen
der jMajoritat wurden den sensitiven Minister mckt wenig bespotteln,
der nickt bekerzt genug ist, einen ganz gewoknlicken \Vald- und
VV lesenmorder dem Henker zu ubergeben. So entstekt das Ergebnis,
der Mann, der allein nack der Verfassung kerecktigt ist, Gnade zu
uben, ist der Gnade nickt fakig. Er erledigt den Akt mit dem Verant-
wortlickkeitsgefiikl des Beamten, der sckwacker ist als das an lkn keran-
tretenden Proklem, will sagen: Er sckiebt die Entsckeidung kmaus. In
einen ganz simp el n und kleinen Fall ereignet sick lm preuisiscken Justiz-
ministerium, was sick in diesen Tagen in alien entsckeidenden Amtern
ereignet: Der zur Entsckeidung Befugte und Berufene weickt der Ent-
sckliei?ung aus.
Aker der Herr Justizminister irrt, wie seine entscklu#kranken
Kollegen irren: Keine Entckeidung ist auck eine! Er kann nack neun
Monaten des Aufsckiekens den Falkenkagener Morder mckt mekr kin-
rickten lassen. Diese neun Monate Leken eines zum Tode Verurteilten
bedeuten eine Strar vers ckar rung so entsetzlicker Art, dais der XTerr
Ministerdem Sckumann fruker den Tod, nun aber das Leben eckuldig ist. Der
Verkrecker selbst verlangt freilick auck keute sein Ende. In einer Emgabe,
in der er an innerer Festigkeit seinen gnadenlosen Begnadiger ubertnrrt
sagt Sckumann, er sei Soldat gewesen, furckte also den 1 od nickt, una
eine Todesstrafe gabe es fur mn mckt, son der n nur eine Beforderung
vom Leken zum Tode ... In den neun Monaten nack seinem I odes—
urteil muf? der Verurteilte nickt wenig gegrubelt kaken, denn er pkilo-
loaopkierte in seiner Eingake: Ist Todesstrafe ukerkaupt eine Strafe?
Niemand weif?, ok es ein Fortleken 1m Jenseits gtbt und ob es mckt
lebenswerter ist als das Erdendasein? Aber, ruft der Verurteilte dem
Minister zu, entsckeiden Sie sick, lassen Sie das Urteil vollstrecken
und, ruft er mit sckauerlickem Witz, kefreien Sie mick aus diesem
Zustand des „Hangens und Bangens in sckwebender Pern .
Der Herr Minister wird sick entsckeiden mussen. Beamter, der
er ist, kann er sick freilick darauf berufen, da# es keine gesetzlicke
Vorsckrift gibt, die ikn zwinge, sick innerkalb eines bestimmten Zeit-
raumes zur Gnade oder zur Bestatigung des Urteils zu entscklieisen.
Aber dieses Ausweicken vor der Verantwortung konnte zur Traditto n
560
-una daimt zu emer unerkorten Strafversckarfung werden. Ein zum
Tode Verurteilter mag gar kein Reckt menr kaben autfer dem Reckt
auf semen Tod. Kennt Herr Minister die Nackte des Verurteilten?
Vielleickt ist auck dieser stumpfe StrafKng allmaklick von der Qua!
der Hmncktungsvorstellung geangstet? Vielleickt mimt er nur den
resten? Aker selkst wenn es sick kier um einen Organismus mit
Naskorn~N erven kandelt, so durfte der Herr Minister nickt das Sckau-
spiel der Oknmackt der Mackt vorfukren. Was er keute tut, darauf
wird ein ekenso entsckluf&ranker Nackfolger sick morgea kerufen, seine
mpotenz zur Gnade oder zum Tode wird morgen Tradition sein"
Die Morder werden dann nickt mekr zum Tode durck das Beil, son-
aern zum Tode durck lekenslanglicke Angst verurteilt werden.
Der Herr Minister wird sick an dem Herrn Morder ein Beispiel
nekmen mussen: Der kat sick viker Tod und Leken des Anderen scknell
entsckieden.
CHRISTIAN MOKGENTSTERN DIE DUMMHEIT SPRICHT
<A.us dem Nachlatf)
Der Mensck kegietft, wer weii? warum,
den nacksten mit Petroleum;
und steckt lkn an und dieser ikh
und keide krennen sie wie Kien.
Die Dummkeit sitzt im Sorgenstukl.
Ack Gott, ist das ein Jammerpfukl.
Allein, allein, allein, allein,
es mui? wokl sein, es mul? wokl sein.
Es sprickt in ikrem Sckadel kokl:
Man krauckt ikn wokl, man krauckt ikn woki,
den Krieg; denn wenn der Krieg verstummt,
so ist gewif?, dai? man verdummt.
V erdummen ._ aker darf man nickt,
mit tiefem Blick die Dummkeit sprickt;
nur dumm nickt — sprickt sie — eker rok,
Acn Gott, sie sind nun einmal so.
561
CARL STERNHEIM FAIRFAX
VI.
Daisy sab des Vaters Teilnahme fiir Frankreicb mit scbeelen
Augen. Wabrend er bimmliscbe Friiblingswocben im silbernen
Licht Paris' mit Konferenzen verbracbte, fiibrte sie die ausge-
scbnittensten Kleider, scbicksten Hiite in fabelbaftem Aufmarsch
an offentlicbe Orte spazieren, ersetzte sie jeden Tag durch neue
Einkaufe bei Paquin, Redfern aber aucb bei Martbe Collot und
Madeleine Vionnet und zeigte Frankreicbs staunendem Volk, was
ein ricbtiges amerikaniscbes Girl ist.
Anscbluf? an Bevblkerung nabm sie nicbt iiber den Weg
spitzfindiger Gespraebe, docb allermoglicben Laute, Gerucbe,
Beriibrungen, Blicke; war auf dem Leben der unvergleicblicben
Stadt ein keckster Akzent. Begegnete plunderte sie in bezug auf
das, was sie an ibnen reizte, entkleidete mit Blick aus grauen
Augen die Kokotte und Frau von Welt wie sprode Kadetten und
zusammengestiirzte Lebemanner. Sie scbliirfte Paris als einen mit
Wurze und Parfums gefiillten Markknocben, obne sicb den Magen
zu verderben, aber obne aucb, wie sie sicb alsbald gestand, je satt
zu werden. Es scbien ibr, als lebe sie von lauter Gekrose und
Scblagrabm, und immer mebr feble belebende Grundkost.
Das macbte sie aus korperlicber Scblaflbeit endlich kritiscb
und feindlich. Nicbt mebr naiv sab sie den Franzosen aber aus
der Perspektive der getauscbten Kundin; stellte fest, ibm mangle
unbedingt Mark in Knocben, und er unterscbeide sich von keinen
Gescbopfenjim Kino, die aucb die dritte Dimension in die Tiefe vor-
tauscbten, aber doebnur flach in Kobe und Breite agierten. Und aucb
sein Deutscbenbai? sei nicbt, wie der Vater meine, innerste zeitge-
nossiscbe, sondern nur aus Uberlieferung aufgepappte Notwendigkeit.
Stets, wenn ein Hobepunkt mit einem Franzosen erreicbt war,
und es sollte gerade Entscbeidendes losgeben, scbien er sie mit
etwas zu vergleichen, eine Sacbe aus ibr macben zu wollen, zu
der er scbon von fruber Beziebungen batte, und zu deren Ver~
standnis er sicb nicbt anstrengen mutfte, wabrend sie brannte, unver-
gleicblich sie selbst, nie dagewesen zu sein und mit ibm in ein
unerhortes Unbekanntes schmetternd aufzubrecben.
Sie merkte, vor lauter in ibm festgemacbter Vergangenbeit fiel
dem Franzosen nicbts anderes ein; er wollte von keiner Situation,
da(? sie neu sei, sondern biibscbes verebrtes Vorbild nacbabme.
562
So war sein Leben und was damit zusammennang, Kopie*
wabrend Daisy spiirte, der zu entsprecben, braucbe sie keine Fair-
fax zu sein, sondern das trafe die erste Beste. Scblietflicb gliibte
sie in standigem Beleidigtsein, sah alle Frage, Antwort und noch
die intimste Beriibrung voraus, wie sie alles auf franzosiscben
Films abnte, ebe es sicb kitscbig dort ereignete.
Eine tote Rasse sei das, die nach Modellen, nicbt wirklicb
lebe und in Tbeatern, Kinos und sonst sicb nur iiberzeuge, dai?
KufTund anderer Akt nacb Paradigmen klappe.
Sie koDnte das gefilmte und nicbt gefilmte Abscbreiten von
Regimentsfronten durcb greisenbafte Zivilisten, starre Militars, die
sicb zum Scblutf unter gegenseitigem Anbeften von Medaillen auf
beide Backen scbmatzten, Entbiillen von DenLmalern, Einsargen
von Kriegsbelden, Aufsagen ranziger Toaste oder abgekarteter
Liebeserklarungen nicbt mebr ertragen und liei? sicb abends zu
Haus von ibren Indianern stundenlang deren Kriegsgebeul vorbriillen,
urn Elementares zu spiiren und an es angescblossen zu bleiben.
Ein Frublingssonntag war es auf der Rennbabn in Longcbamps!
Das of fizielle Paris und Europa prangfcen auf Tribiinen wie ein
bunter verblubter Blumenkorb, dier ode rocb. Es berrscbten Peau
d' Espagne und Ambre de Nubie vor. Fairfax auf weitbin sicbt-
barem Ebrenplatz an der Rarope der grotfen Regierungsloge bei den
Ministern, bezeicbnete Daisy das versammelte Publikum als die neue
Auslese, die er ^Kleptokratie" nannte. Diese Klasse babe die inegesamt
funfzebnbundert Milliarden Franken Kriegsanleiben samtlieher
Nation en in ibre Tascbe gebracht, eine bubs ebe Summe, die ibr die ar~
beitende Menscbbeit mit jabrlicb neunzig Milliarden verzinsen miisse.
Alles rollte rings scbon wie Film und klassiscb am
Scbnurcben ab. Man braucbte garnicbt binzusehen. Wieder waren
vor dem ersten Start durcb einen Marscball von Frankreicb scbon
drei Brave mit knallenden Kussen und viel Salut gefeiert und pboto-
grapbieri worden, und alle Welt wie Glas, starrte auf das, was fabelbaft
sicb ereignen sollte: die Ankunftder engliscben Konigin auf demRenn-
platz und ibr strablender Empfang durcb Frankreicbs Oberbaupt!
Daisy blieC dem Vater ins Obr, seine Neugier begriffe sie
nicbt. Wie ibn oft Gesebenes und an sicb Fades eine Sekunde
reizen konnte. Fairfax sagte, es reize ibn nicht. Er stelle nur
wieder fest und ziebe Scnliisse. Daisy ziscbte, man solle endlicb
aus diesem Leicbengestank nacb Deutscbland oder besser gleich
563
heim nach New York aufbrechen. Ihr stttnde das Abendland bis
in den Hals. Fairfax schlotf, er sei nock nicht schliissig.
Da aber brausten schon Vive la France Rufe wie aus tausend
Grammophonen, wedelten Trikoloren und Spitzentaschentiicher,
wolbten sich Mannerbriiste undFrauenbusen. Da tuschtenOrch ester,
kurbelten Operateure, ratterten Flugzeuge, und sank jedes Menschen-
glied in das gewollte representative Grotfbild.
AVolken rollten am Himmel zuriick und lie#en Sonne auf
die mit sechs rassigen Schimmeln mit Vorreiten a la Daumont
gefahrene Prachtgalakutsche der in Weil? und Heliotrop gekleideten
hritischen Souveranin blitzen. Licht, Luft und Landschaft standen
Hande an der Hosennaht.
In diesem Augenblick, als Zehntausende ein Hauch Respekt
standen, und nur Daisy Fairfax Revoke war — es kippten alle
Standarten, es standen die prasentierten Degen auf, als strahlend
der President im hohen Hut mit rotem Band ded Grotfkordons der
Ehrenlegion auf der Brust, dem haltenden Wagen der Konigin
und ihrer Damen nahte — es kreischten Marsellaisen und der
Himmel hielt den Atem an — in diesem feierlichen Moment
spreizte das hinterste Handpferd, prachtvolle Stute, trotz aller
Gegenbewegungen des Jokeys, der sie ritt, die Hinterbeine so weit
es konnte und lie!? einen machtigen, nicht enden wollenden Strahl
platschernd zur Erde sausen.
Alles starrt und staunt in Grauen. Als ginge ganz Frank-
reich in einem Moment zu Grunde, scbien es, als seines Ober-
haupts gebiigelte Frackhose von der Sintflut bespritzt wurde, und
die Umgebung sie mit Taschentuchern nur eben trocknen mufte.
Da aber wurde die allgemeine Lahmung durch Lachen gelost*
ein Prusten, Schreien, Gellen, das aus einem Madchenmund spritzte,
trillerte, sich iiberschlug und das der umstehende Kreis von Menschen
zu beschwichtigen suchte. Das aber toller platzte, tobte, kicherte,
bis die Person vor Lachen vom Stuhl sank, und ihr Haupt jah
von der Bogenbriistung verschwand.
Der Regierungsloge ! Emporung war allgemein und grenzenlos !
Aber der Auftritt hatte zur Folge, dal? die Stute inzwischen
vollendet hatte, die Feier noch einigermatfen rollte, der Speech und
god save the queen steigen konnte, und Frankreichs Ehre wieder
einmal gerettet war!
(Fortsetzang folgt)
564
AUS DEM TAGEBUCH
MISSVERHAL7NISSE
Der Johannistrieb tritt im Zustande
beginnenden Verfalls auf und ricbtet sicb
im Scbulfalle auf Jugendlicbe. — Die
Erstliebe regt sicb mit dem Bewutftsein
Sbriger, nocb unbeurteilter Krafte und
wendet sicK im Scbulfalle an Erfabrene.
So oder so Beunrunigte boffen auf
Gegenliebe, ohne sie bei Einsicbt bean-*
aprucben zu konncn. Sic nebmen an, es
Handle sicb um das einzutretende Wunder.
Wird es zustande koramen ? — Von der
Gnade abbangend scbeint es nicbt zu beein-
flussen autfer durcK absolute Hingabe im
Glauben. —
Diese Hingabe wird zum Verbangnis.
Denn: anstatt den Partner zur Teilnabme
zu zwingen, verlockt sie ibn zur Passivitat.
Scblecbtbin „geliebt zu werden", obne dafi
die leibbafte Gegenforderung gestellt wird,
irt fiir jeden nicbt ganz Unbescbaftigten
laatig oder langweilig. Je nacbdem der
bo Geliebte mannKcb oder weiblicH orien-
ticrt ist, wird er verbliimter oder deut-
licber ablebnen. —
Erstliebende und Jobannistriebler sind
trotzdem entscblossen ,,zu lieben". Ibr
Gefubl wacbst sogar wucbtiger, je mebr
sie das Feld allein bebaupten.
Dem Gegenstand ibres Angriffs (falls
wurdig) bleibt also aucb bei etwa natiir-
licbem Woblgefallen keine Wabl, als an
die autferste Grenze und dabinter zuriick-
zuweicben.
Scbon aus Entgegenkommen.
Helen Grund
EIN BEFEHL
, , Nicbt nur das Verbrecben er-
zeugt die Anklage, die Anklage er-
zeugt aucb das Verbrecben".
Vor einem Schwurgericbt, das ein
preu£iscber Landgericbtsdirektor leitete,
stebt ein Mann, der seine junge Frau er~
schossen bat, des Mordes angeklagt. In
der Verbandlung treten mancnerlei den.
Angeklagten entlastende Tatsachen bervor.
Zwar das Faktum, daf? er seine Frau ge-
tbtet bat, kann der Gatte nicbt leugnen.
Aber Zeugen erzablen, was der nicbt mebr
ganz junge Mann unter den TeufeleieQ
seines Weibes gelitten babe. Es mu£ ibr
Lust bereitet baben, ibn leiden zu macben..
Sie safien im Tbeater nebeneinander, plb'tz-
Ucb bemerkte ein Dritter, der mitgekommen
war, wie die Frau ibr Knie an einent
Nacbbar, einen Vierten, gedriickt bielt.
Sie schwarmte fiir Feste. Tanzte sie aber
einmal, so war sie so besoffen von Muaik,
Bewegung und Korpernabe fremder Manner,
dafi sie sicb kaum in den Scbrankcn korper-
licber. Selbstbeberrscbung balten konnte.
In einem Seebad lag sie, in heifien Sommcr-
nacbten, bis zum Aufgeben der Sonne inx
Kiistensand, mit dem Gatten, aber gelegent-
licb docb so weit entfernt von ibm, datf er
sie in der Monddammerung stundenlan£
zwiscben Strandkorben und Sandbergen
suchen muf?te. Als der vorsitzende Land*
gericbtsdirektor diese Zeugen einvemanm
und bemerkte*. ,,Nun, em sebr angenebmes
Leben baben Sie nicbt gebabt, Angeklagter!"
* "WECHSELWAKN-
565
da stand der des Mordea Beschuldigte auf,
ein Lacheln zog tfber sein vergramtes Ge-
sicht und cr erwiderte : „Doch, Herr
President V" Lief? sick ein Zeuge zu em cm
heftigen_Manneswort gegen die Tote hin-
reitfen, so schnellte der Beschuldigte in die
Hohe : „Bin icK tier der Angeklagte oder
ist es die Tote?'* Kamen Tatsachen zur
Sprache, die an der Bosartigkeit der jungen
Frau nicht zweif ein lietfen, so schiittelte der
Angeklagte den Kopf, als wollte er immer
wieder sagen: Was wii?t denn Ihr? Ihr
kennt sie ja doch nicht ! Der Hauptzeuge
gegen die Tote und ftir den Lebenden
war ein Operettensanger aus Chemnitz, den
die heiiTblutige Frau am Morgen nach einem
italienischen Ballfest in seiner Wobnung
besucht hatte. Als sie vormittags nacb
Hause kam, da wurde sie mit einem Armee-
revolver niedergeschossen. Der Zeuge,
einigermatfen verlegen, weil er seinen billigen
Triumpb nun vor dem unglucklichen Gatten
ausbreiten oolite, erhohte die Sympatbien
fur den Angeklagten, er konnte eine ge-
wisse erotiscbe Selbstgefalligkeit nicbt ver-
beimlicKen. Der Vorsitzende, von dem
galanten Durcbelnander angewidert, sagte
zu dem Morder : ,,Nach dieser Aussage
kann kein Zweifel uber den sittenlosen
Lebenswandel Ibrer Frau bestehen". Der
Angeklagte wies diese ibm eigsntlich niitz-
licbe Feststellung mit einer einfacben Be-
merkung zuriick ' .,Dariiber babe icb als
Gatte zu urteilen v \ Das verdrofi den
Ricbter und er sagte beinabe hohnisch :
„Na, horen Sie, Angeklagter, dariiber
konnen wir uns nun allmahlich aucb ein
Urteil bilden". Der Angeklagte wollte
etwas erwidern, scbluekte aber den Satz
hinunter, als wenn er wieder sagen wollte :
Was witft denn Ibr von ibr ? Der Vor-
gang entging dem bosen Auge des Ricbters
nicbt. ce wunnte ihn, dafi der Mann, dessen
7od und Lebcn auf dem Spiel stand, mit
eolcher Gleichgultigkeit die rettende Planke
wegschob, die er, der Prasident, ibm zu-
gestoffen batte : .,Wollten Sie etwas sagen, '
Angeklagter ?** — ,.Nein'\ erwiderte er,
„Sie wurden ea docb nicbt ver3tehen". —
.,Sprechen Sie nur\ L , ermunterte der Ricbter.
immer mit kaumwahrnehmbaremspottischen
Unterton, ,,wir werden versucben, Sie zu
versteben". — ,,Icb wollte Sie nicbt be-
leidigen oder verletren, Herr Prasident,
aber icb furcbte wirklich, Sie werden das
Folgende nicbt verstehen. An dem Aben-
teuer mit diesem Herrn aus Chemnitz ist
meine Frau nicbt scbuldig und der Herr
Sanger aus Gbemnitz irrt, wenn er die
Vorgange jener Nacht seiner zaubergewal-
tigen Personlichkeit zuschreibt. Den Febler
babe i c'b begangen. Der Herr Sanger batte
mit meiner Frau am Morgen der Nacbt
getanzt, sie hatte scbon einige Glaser dart
getrunken und war amgelassen. Dieser
Zustand irritierte mich. Als sie das sab,
begann sie erst recbt mit dem Herrn Sanger
zu augeln und er unterstiitzte sie bereit-
willigst, obwohl ich daneben satf. Aber
welcher Mann bat je Mannessolidaritat ge-
halten ? Icb verlor die Rube und da ge-
scbab das Falscheste. Ich rief meine Frau
ins leere Nebenzimmer und scbrie ibr zu :
,Du, Du willst docb nur mit diesem Kerl
scMa^on. 1 " 1 ' Moglicherweise babe ich sogar
ein nocb viel roberes ^Vort gebraucbt. Sie
sab mich einige Augenblicke starr an. dann
antwortete sie mit fenem Eigensinn, der sie
zuweilen trieb : „Ja . . . Du hast recht
, . . Ja 1 ". Icb konnte nicbt langer bleiben,
ich lief nach Hause. Heute weii? icb mit
vollster Bestimmtheit, da£ diese scharalose
Bemerkung von mir die Ursache des ganzen
Ungliicks war. Sie haben meine Frau
nicbt gekannt, Sie wufiten nicbt, wie irri-
tierbar sie gewesen. Mein rohes Wort ist,
ohne dafi icb es wollte und wuffte, ein
Befehl gewesen. Die Arzte hennen das
eine Wacbsuggestion, Ich bv.Se meine Tat,
dieser Ehebruch war meine Tat""''. — Dsr
Vorsitzende sab den Angeklagten halb mit-
leidig, halb spottisch an und sagte: ,,Sie
haben recht, wir horen allmahlich auf, Sic
zu versteben. ^ Als der Angeklagte murmslte
566
,,Das wuGte icti""", wurde der Prasiden
zutn erstcn Mai zornig und aagte: ,,^Verden
Sic nur nicht frecb!" Was die Ricbter mit dem
Angcklagten taten, war diesem Nebensacbe
Es intereasiert aucb una nicht weiter.
FILM
SCHWARZE UND
ANDERE SCHMACH
Ein riesiger Saal in Berlin, grun-rot
auagemalt, ebedem ein Biersaal mit MiU-
tarkonzcrt, jetzt ein Kino mit ein biachen
Barfufftanz und Variete. Die Scbauburg.
Icb aan eine fiircbterlicbe Tanzerin mit
nackten Scbenkeln, dann eiticn Sketscb. in
dern ein Baron ein Dirnchen, das beinane
seine Tocbter ist, beinabe besessen bat.
Pikanterie fura Volk ist nocb ekelhafter
ala Zweideutigkeiten fur die Bourgeoisie,
zu deren Beruf und Wcaen Zweideutigkeit
gebort. Dann kam ah „ Extra beil age", wie
<laa Programm verkiindete, ,,die schwarze
Scbmacb", ein „Notscbrei an die Menacb-
heit von Dr. Jobn Freden". Jobn Freden
das bort sicK an wie ein Pseudonym aus
einem Roman von Stratz oder "Wolff.
(Notscbreie an die Menscbbeit soil man
nicbt anonym ausstoffen.)
Die „scbwarze Scbmacb" ist ein Pro-
pagandafilm gegen die afrikaniscbe Besatzung
am Rhein. Die Handlung stiitzt aicti auf
, Tatsachen, die in einer Broacbure der
rbeiniscben Frauenliga entbalten sind. Vv o-
rauf aber stiitzt aicb die Rbeiniscbe Frauen-
liga ? Unzweifelhaft aind am Rhein
scbeufilicbe Dinge gescbeben, Negeriiberfalle
auf Frauen, Veracbleppungen, Kindermitf-
braucb. Aber sind Frauenveretne die
ricbtige Untersucbungsinstanz fiir der-
gleichen? Sie sind, daa ist ibre Qualitat,
aittlich-national eingestellt, aber im Unter-
leib gibt ea, selbst bei nationalen Frauen,
Stromungen, die aicb weder national, nocb
aittlicb ergriinden lassen. Es ist scbon vor-
gekommen, dafl aebr blonde, aebr deutscbe
Frauen Woblgefallen an gut modellierten
Schwarzen fanden. Ein nationaler Frauen-
verein ist geneigt, alle Vergewaltigungea
der Welt zu entdecken und nocb einigc
mebr Die Wabrheit lot aber eracbreckender
und merkwiirdiger als die Vereinsscbweateru
ahnen. Immer wieder ist bericbtet worden,
dafi der Zulauf von W^eibern, die aicb zu
den neu erricnteten FreudenbUuaern fur
die Scbwarzen im Weaten meldeten. un-
erhort groff gewesen aei. Skepsis, Ibr
Dam en. Skepais!
Die Greuel dresea Filma sind gestcllt.
Die Scbwarzen, die bier vergewaltigen.
aind vom Regiaaeur angeleitet. Die Damem,
die hier bescbadigt werden, baben melir
unter der Scbmach der Kinoregiaseure zu
stobnen als unter jener der Senegalneger.
Die Zuscbauer geben in einen solcben Film
mit einer verdammten Neugier, balb national
balb sinnlicb erregt. Sie aitzen da and
warten wie jene altlicbe Dame, die nacn
der Einnabme einer Stadt durcb die Ruineu
tobt: „Wann wird gescbandet?" . . .
Dennocb ist man im Innersten gepackt,
wenn man im Film aieht, wie ein Neger
ein blondes Ma del vor sicb hinbetzt, in
sie im letzten Augenblick. in oder Gegend, zu
iiberfallen. Ein Neger, der ein vornebmes
Fraulein bis in die Halle einer Villa ver-
folgt, fletacbt hinter der Glastur die
Zabne, leckt die Lippen, spielt mit der
zappelnden Zunge. Aufregend. Hoff entlich bei
alien Zuscbauerinnen auaacbliefllicb stttlioti-
national aufregend. Die engagierten Neger
famose Mimiker, aind vom Regiaaeur takt-
voll gewablt, es sind wabrbaftig keine ab-
scHreckend bafflicbe Burscben.
Das Publikum in der Scbauburg war
bei dem GreueUFilm crregter als bei der
Nackttanzerin. Aber in die Stille der Zu-
scbauer gluckste zuweilen ein kleines, gewif
unfreiwilligea Kicbern. Im groffen Ganzen
iiberwog das Erbarmen mit den geraubten
Frauen, und wenn am Scbluff nicbt ein so
leeres allegoriscbes Bild gekommen ware,
bunderte bilfescbreiende Hande, so waren
die Zuackauer gepackt und ergriffen atu
dem Kino gegangen.
567
DIE FORMLOSIGKEIT DER RICHTER
In der vorigen ^focbe borte ich drei
Gericbtsverbandlungen in Moabit an. Icb
bedaure, dai? wir alle nicht viel ofter
Zeugen unseres GericbtsverfabreDB sind.
Vielleicht stttnde es besser urn Anseben
und "Wesen der Gericbte, wenn wir alle
von dem Rechte zuzuboren, ordentlicb
Gcbraucb macbten. Ich will bier nur e i n
Erlebnia zum Beaten geben und nacli eintr
Erklarung fragen :
Ala Zeuge bei der Verbandlung gegen
die Dadaisten — es ist iibrigenSN cbarak-
teristiscH fur ibre scbnell verleugnete Art,
dai? die Verbandlung selbst ganz biirgerlicb
— ernstbaft — sittsam, obne dadaistische
Humore verlief — borte icb den Vor-
sitzenden die Angeklagten wiederbolt fragen :
,,AVas sagen Sie dazu, Herr Grosz? . . .
Autfern Sie sich dazu, Herr Doktor
Borchardt ! . . . "W^e konnen Sie das
erklaren, Herr Herzfelde?"
Am andcren Tag borte icb die Ver-
bandlung gegen die Arbeiter, die im Sieges-
saulenprozef? angeklagt waren. Da rief der
Vorsitzende die Angeklagten so auf: ,,Na,
wae sagen Sie denn dazu, Mowes? . . .
Sic, Lemke, steben Sie auf? . . . Ant-
worten Sie, Kranz !" Nicbt ein einziges
Mai fiel es dem Vorsitzenden ein, aucb
diese Angeklagten als Herren anzusprechen.
1st das nicbt ein beschamender Mangel
an Formen ? Mufi da nicbt in dem Pro-
letarier der Gedanke an Klassenjustiz auf-
dammern? ^A^arum wird der Angeklagte
in gutem Rock, burgcrlicben Ursprungs,
„Herr Borcbardt" genannt, warum der
Proletarier in diesem verletzend unbbflichen
Ton: „Sie, Lemke" angesprocben ? War
es nicbt besser, 3 e d e d Bescbuldigten und
nocb nicbt Verurteilten einfacb ,,Herr An-
geklagter" anzureden ? Unsere Ricbter,
anatandige, brave, unbestecblicbe Arbeiter,
eind 1 eider (mit seltnen Ausnahmen)
miserable Psycbologen. Wenn Sie wiitften,
wie sehr Sie dem Ansehen ibrer Recbt-
•precnung durcb diesen Mangel an Formen
scbaden ! Und im letzten Grunde verraten
diese Autferlicbkeiten aucb wirklicb eine
innere Zweisprachigkeit. Ein von leiden-
scbaftlicber Gerechtlgkeit erfiillter Ricbter
wird eber gegen den biirgerlicben Klassen-
genossen als gegen den Arbeiter die Form
verletzen. Er wird lieber Herrn Grosz
„Sie, Grosz!" anrufen, als einem nocb nicbt
verurteilten Proletarier den ,, Herrn" ver-
weigern, auf den der Blusenmann genau
so viel Ansprucb bat wie der Mann im
gut gescbnittenen Scbwalbenscbwanz.
BRIEFE ANS T.-B.
BANKNOTENSCHICKSALE
Icb batte im Juli 1919 geschaftlich in
Prag zu tun. Da man damals deutscbes
Geld nur in bescbranktem Umfange mit-
nebmen durfte, wech*elte icb in Berlin bei
der Deutacben Bank tscbecboslowakiscbes
Geld ein und bekam alte osterreicbiscbe
lOOKronennoten mit aufgeklebten Stempel-
marken. Bei der Patfrevieion in Boden-
bacb wurde icb von einem Grenzsoldaten
zur Seite genommen und nacb tscbecbo-
slowakiscbem Geld gefragt, worauf icb
nicbtsabnend meine vermeintlicb guten
Noten vorwies. Er erklarte die Stempel
obne nabere Priifung fur falscb und be-
dauerte sehr, die Noten bescblagnahmea
zu miissen. Auf meinen Protest bin er-
bielt icb aber unter Einbebaltung meines
Passes die Moglicbkeit, die Noten der
Filiale des Bankamtes zur Priifung vor-
zulegen. Aber aucb dort wurden die
Stempel fur falscb erklart und die Noten
bescblagnabmt. Icb erbielt daruber eine
Bescbeinigung und konnte meine Reise fort'
set2en. Weitere Nacbricbt sollte icb vom
Bankamt in Prag erbalten. Natiirlicb
dauern solcbe Entscbeidungen selii' lange,
denn das Bankamt ist eine Abteilung des
Finanzministeriums und derartige Staats-
beborden mussen ibre unfeblbaren Bescbeide
reiflicb iiberlegen. Icb stellte mir daber
568
eine Frist von aecba Monaten, die icb aber
au« Vorsicbt nocb zweiroal verlangerte.
Endlicb, ala 1 x / 2 JaKrc vergangen waren,
wagte ich die Anfrage in Prag. mufite aber
aus der eitigegangenen Ant-wort erkennen,
dai? fetzt flelbst altosterreicbiacbe Rekorde
von den Nacbfolgestiaten gescblagen werden.
Daa Bankamt dea Finanzministeriums teilt
mir in seiner, anerkennenawerterweise
deutscb ertciltcn Antwort mit, ,,da(? ea
iiber das Sckicksal der bescblagnabmten
Banknoten mit gefalecbten Stempelmarken
bisber nicbt entacbied en bat. Die ent-
giltige Entacbeidung wird seiner Zeit in den
Tagesblattern verbifentlicbt. Die Bank-
noten bleibch bis zu dieaer Zeit bei un»
deponiert."
Da das „Tagebucb"' den wirtscbaft-
licben und politiacben Beziebungen zu den
Nacbfolgestaaten des friiberen Osterreicb-
Ungarn besondere Aufmerkaamkeit zu-
wendet, wird es vielleicbt von Wert und
im Intercast der vieUn auf diese Art ge-
scbadigten Deutacben esin, wenn ea einige
freundlicb gebaltene Anfragen an daa
Bankamt dea Finanzminiateriums in Prag
ricbten wollte :
1. diente die damala ziemlicb allgemein
durcbgefiibrte Bescblagnabme der iiber
die Grenze kommendea, gestempelten
ostcrreicbiacbcn Banknoten als Scbutz
gegen die mitunter aucb gcfalscbten
Stiicke? Wenn fa, warum mul? diese
Nacbpriifung xaat zwei Jabre dauern ?
2. W'enn ein Stiick mit gefalacbtem Stenipel
erkannt wurde, weabalb iat nicbt
wenigatena der Wert der altcn oster-
reicbiscben Noten auagezablt worden ?
Mitte 1919 bekam man fur die ge-
sterapelte tacbecboslowakiscbe 100 Kronen-
note etwa 70 Mark, fur die alte un-
geatempelte oaterreicbiscbe Noie noch immer
iiber 50 Mark. Der Verluat ware also
nocb immer ertraglicb gewesen. vVollte
man annebmen, da/? die Entscbeidung des
tscbecboslowakiscben Finanzministeriums
aufgeacboben worden iat, bis die alten
osterreicbiscben Noten einen moglicbst
niedrigen Kurs erreicbt baben, dann ware
dieser Zeitpunkt aucb a ebon langst ein-
getreten. Jedecfalls lafit die fetzige Un-
klarbeit iiber die Stellung des Finanzmi-
nisteriums zusammen tnit der unglaublicben
Verscbleppung der Angelegenbeit nur den
ScbtuiZ zu, dafi die game Aktion eint.*
unfairen Abwebrmafinabme gegen die In-
flation, oder zu deutacb einer Beraubung
verzweifelt abnlicb siebt. Dr. M.
DEUTSCHER ORDNUNGSSINN
Der Geb. Sanitatsrat Dr. Gerster
acbreibt dem T.-B.:
„Die deutscben Postbeborden baben
Zeit und Ordnungssinn'\ So scblosaen
Sie, verebrter Herr Groffmann, im 14. Heft
des T. B. Ibren ,,Sto(?seut2er". Aber ea
gibt nocb mebr Zeit und Ordnun?s»inn
in B crlin. Den Lesern des T.-B. zur
Freude teile icb mit, dal? aucb die „Reicbs-
uniallversicberung, Veraicberungsgenoaaen-
achaft der Privatfabrzeug- und Reittier- .
besitzer, Berufagenossenacbait Nr. 68,
Berlin SW. 11, in der gliicklicben Lage
ist. Zeit und Ordnungjsinn in. dieRepublik
berubergerettet iu baben:
Im Jabre des Heils 1913 batte icb
mir von den Adlerwerken in Frankfurt a.M.
ein Auto, Adler limousinelandaulet, sccba-
sitzig in pracbtiger Ausstattung zum Marcben-
preise („Es war einmal") von 15600 Mark
gekauft und war im September 13 der ge-
nannten Genossenscbaft beigetreten worden.
Im Jabre des Unbeils 1914 wurde am
1. August mein Auto, daa icb kurz vor-
ber nocb mit alien mogltcben Malicen aus-
geatattet hatte, von der Heeresverwaltung
requiriert und zog am 4. August in tadel-
loaem Zustand, mit drei nagelneuen Re-
aervereifen beladen, zum Tore binaus zur
Auto-Muaterung nacb Wiesbaden, wo die
Hecretfverwaltung die groffc Gute batte
569
da* von Sachveratandigen aui 20000 Mark
ge wertete Auto urn 1 0000 Mart anzu-
kaufen. Daa Auto war ich darait gliicklich
los, nicht aber, wie man denken aollte,
aucb die edle Genosaenschaft der Privat-
ffthrzeug- und Rtittierbeaitzer, bei dcr ich
micb natiirlich aofort abgemeldet batte.
Am 21. Januar 1915 schrieb tie mir,
da£ aie von cincr vollstandigen Lbachung
meirier Mitgliedschaft absehen mbchte, weil
ea nicbt ausgeschlosaen crscbeinc, datf ich
rair nacb Beendigung dea Kriegea wieder
ein Fahrzeug ansckatfe. So rubrend mir
der Optimismus 'dcr Genoaaenschaft aucb
eracbicn, mutfte ich ibr docb mitteilen, aie
miigc mich, wenn sie sicb von etner Ent-
tauechung bewahren wollc, lieber gleich
^boz von ihrer Mitgliederliate atrcichen.
Sie tat es. abcr ibr liebevollea besorgtea
Gedenken entzog sich mir nicbt.
Am 14. Marz 1919 teilte sic mir mit,
C9 sei ein Irrtum. da(? aie micb nur bi?
xum 1. August 1914 die Versicherungs-
p rami en babe zahlen lassen, denn sie babe
nun in Erfahrung gebracbt, dal? icb aucb
tm September und Oktober 1914 noch
einen Chauffeur gchabt batte. Mein Ein-
wand, dal? dieser Mann nicht nur in eincm
fremden Miet-Auto gefahrcn babe, fuhrte
xu hitxigem Briefwechsel, den ich nur da-
durcb beenden konnte, daff ich ihn einatcllte
Meine Hoffnung, nun vom langen Arme
der Genoaaenachaft nicht mehr erreicbt xu
werden, crwies sich aber ala trugcrisch.
Am 1. April 1920 ricbtete aie an micb
den ^^unflcb» ihr mitsuteilen, ob und seit
welchera Tage icb wieder die Haltu n g
eines Kraftwagens. Pferdefuhrwerks. Reit-
riere. Motor- oder Segelboots aufgenommen
babe und dabei cinen Kraftwagenfuhrer,
Kutacbcr, Pferdepfleger, Bootslcute oder
andere Peraonen, wenn auch nur zeitweisc.
beschsftige. Icb konnte die Genosaenschaft
mit der Veraicherung nacb beatem Wisaen
und Gewiaaen beruhigen, datf icb (da leider
kein Schicber !) weder an Kraft wagen,
Plerdefuhrwerk und Rcittier, noch, 4a in
den Bergen dea T aunit* wphrcend. an
Motor- und Segelboot denken libnnc, *lc
mbge alao fiir jetxt und fur *pat«r jeg'lichc
Hoffnung auf micb aufgeben.
Daraufhin lieber Leser, meinst du wohl.
batte die Privatfanrzaug- und Reittier-
beaitzer - Genossenacbaft in Berlin ibr
Augenmerk von mir abgewandt und ibrc
Zeit und Muhewaltung lobnenderen Ob-
und Subjektcn zugewandt?
Nein. lieber Leser, du irrst. Am
22, Marz 1921, alao fast sieben Jahre
nach Aufgabc meiner Mitgliedschaft, schrieb
aie mir:
,,Wir teilen ergebenat rait, da/? wir
Ibrc Kraftwagenhaltung tnit Wirkung vom
4. August 1914 ab in unaerm Betriebs-
verzeichnia gelbscht baben. (In Fcttdruck :)
Es wird hierbei auf die Bestimmung des
§ 653 der Reicbaveraicberungaordnung hin-
gewiesen, wonacb Sie verpflicbtet aind-
von derWiederaufnahme einerKraft\v;)g<Mi-
Pferdcgespann-, Rcittierhaltung oder der
Inbetricbnahme eines Segel- oder Motor-
boots . , . Anzeige zu cratatten".
Gluckliehe Genoaaenaehaft ! Gliicklicbc"
Deut.chea Reicb ! Gluckliehe Republik !
Mit aolchem Aufgebot von Zeit und
Ordnungaainn. vonTinte und Papier w^erdeo
wir alle bochkommen. Wir wcrd^n
una binaufacbreiben !
Gcrster, Braunfeh.
ftcnia
5(0
DER ANTIKE EROS IN HANNOVER
Das Borsenblatt fur dan deutschen
Bucbhandel. ein hochgradiges sittenstrenges
Unternehmen, wenn es sich urn politische
Schriften und Biicher handelt, nimmt
keinen Anstand, zwei BiicKer do* Ver-
lages Hermann Steegcmann in Hannover
roit folgender fettgedruckter Wiirdigung
anzuzcigen :
,,Dic«e Biicher aua meiner neuen
Abtcilung „Der antike Eros" sind
trots ihres aigenartigen Stoffes Meister-
werke deutecher Dichtung. Lesen Si«
die Biicher vor, wenn man vom
§ ,175 spricht".
Die „Meiaterwerke deutscher Dichtung 1 '
"m den § 175 riihren von cinem Herrn
Max Sidow und ein em Anonymus, der
«ch nur Olaf nennt, her. Solange deutsche
Verleger derartige iible Spekutationen mit
vollem Mund anzeigen, diirfen sic sich
nicht wundern, wenn ibr asthttiiches
Vokabulartum an Glaubwiirdigkeit v«rlicrt.
Der antikc Eros der Herren Sidow und
Steeg«mann ist garnicbt htllenisch, sondern
offanbar ein zu kommerzicllen Zw«ck«n
antfeachaffte* literariaches Sehwein.
INHALT DES LETZTEN HEFTES
(Nr. 17):
Oswald Garrioon Villard ; Lansing liiftet
d;n Scbleier
AValther Federn : Wiener wirtschaftlichcs
Tage-B»ch
Friedrich Wolf: Biltboven
Stefan Groftnann: Der Siegwsaulcnprozef?
Hans Bcthge: Liebeslieder
Carl Sternbeim: Fairfax
Gert KHngc: Poet
Aus dera Tagebucb
Bucherstube am
Museum
Hermann Kempf / f)r.
Walter Haeder
Moderne /RaM^
und / ^2«L
klassische | K~jPI
Literafur \ £{■■
^ Biicher
1 ' n
I schonen
/ ElnbSnden
\$l/
Wiesbaden / Wilhelmstrafte 6.
Redaktion des ,.Tage~Bucb u : Berlin W 35. Potodamer Stratfe 123 b, Tel.: Lutzow 493 1.
Venntwot-tlich fur den redaktioncllcn Teil : Stefan Grofrnann, Charlottenburg. Verlag :
Ern*t Rowoblt Vorlag, BerlinW 35. Potsdamer $tratfe 123b. Druck: R, Abendroth, Ricw
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Aktienkapital 30 000 000 M. HAMBURG R«ervckapitaj 3 000 000 M.
Tol«tfr.-Adr.: Hacombank / fur Sekretariat : Carlebanl / Ferntfespricbe : F 117, 118, 119
Stadttfc.pricbc; Hansa 1342, 1343. 5473, Elbe 3444, 3486, 3490 / Girotonto : Reichsfeank
A^usfukrung samtlicner bank-
gesckaftucner Transaktionen
An- und Verkauf und Beleihung von Wertpapieren / Kupons-Einlosung / Errichtung
laufender und Scheck-Konten / Komimasionsweieer An- und Verkauf von ^A^aren
im In- und Auslande / / Akkreditive und Auszahlungen fur Warenbeziige
BUCK- UND VERLAGS - DRUCKEREI
R. ABENDROTH, RIESA / ELBE
WERKDRUCK / KUNSTDRUCK /ZHTSCHRIFTEN
Die Deutscne Buhnengenossenschaft
Fiinfzig Jahre Gescbichte
Gescbrieben im Auftrage der
Genossenscbaft Deutscher Bubnen-Angeboriger
von Dr. MAX HOCHDORF
Zum funfzxffjabriifen Jabilanm der Genosaenaehart Deuticner Buhnen-Anjfehoritfer,
das in diesen Tagen in Frankfurt am Main felerlich betfangen wird. words dic»«l Bach
tfcachrieben. Mit tfrofiter Facnkenntnis und intensivstem Bintfehen auf all* Gcblete del
dentscben Buhnenlebens in Vergangenhelt ond Gcgenwart hat der Verfasser seine Auftfabe
crrullt und ein Werk if cschaf f en , das nicht nur als die ernte Geschichte deutachci'
Schauspielkunst der letzten funfzig Jahre betrachtet -wcrden darf, londcrn daruber
hinaus als Allgemeine deutache Kul t nr< eachicnt e juntfatcr Zeit dares
Mannififaltigteit seiner Prohleme Aneprueh auf das Intercede aller Leaerkreise baben moll.
A.ufl dem Inhalt :
Der Schauapieler und die Seele / Der Scbauapicler und der Staat / Die crate Sehauipieler-
jenoeaenschait / Daa Theatertfeseti / Daa Fach /Die ,,Saiaon" / Parteien / Im Weltkrietf / n. a.
Mlt 14 Tafeln.
Preia: In Pappband M. 30, — , Vorzugsausjfabe in Halbleder auf gutcm holzfrcien
Papier M. 100.—
GUSTAV KIEPENHEUER VERLAG / POTSDAM
Soeben erscbien:
^rValter von Hollander:
NARZISSOS
Eine Legende vom Mann.
Mit vier Steinzeicbnungen von Otto Linnekogel.
Einmalige Sonderausgabe in 500 numerierten Exemplaren,
gedruckt und gebunden bei Otto von Holten. Groi?quartformat.
Preis ML 45.-
Nr. 1 — 50 in Halbleder gebunden und vom Verfasser signiert;
die Steinzeicbnungen auf der Handpresse abgezogen und vom
Kiinstler signiert, Preis Mk. 150.— einscbl. Luxussteuer.
Von alien Buchhandlungen zu bezieken oder dtrekt vom Verlage
Hans HeinrickTillgner, Berlin W 5, Ansbacberstr.5?.
KURT WOLFF VERLAG
MUNCHEN
Soeben erschien:
Carl Sternheim
BERLIN
oder JUSTE MILIEU
brocntert 7 Mark
Die ^Gazette de Lausanne « vom 29./3. 2J achreibt;
£in kleines Buch, gerade erschienen, erregt in diesem
Augenblick in Dcutichland sturmisiche Discussion,
Es Kat einen der geistreichsten Autor des zeitge-
nossischen Deutschlands, Carl Sternheim, zum Ver-
lasser. IJternheims Buch i at gliinzend! Esist
uber die tieferen Uraachcn des Scheitern* der deutschcn
Revolution nichts Eindruckevolleres erschienen. —
Verlangen Sic in ibrer Buchhandluntf uud tails die
die Beatellung ablehnt, dxrekt vom Verleger
M u n c h e n , Luisenstratfc 5 1 .
FRANZ FERDINAND
BAUMGARTEN
»Die Mutter
«
Eine Erzahlung
G«h«ftet Mark 14.—, gebunden Mark 20.—. in HalMedcr Mark 32.-
Gebrochen an Leib und Seele kchrt
der Sohn zur Mutter zuruck, die ihre
Ideate und lhre Ambitionen in ihm
weiterlebend wahnte. Sie muf? von
dem Sterbenden erf ahren , da(? ihre
Giite des Sobnes Leben verdorben hat,
da(? der Sinn ibres Lebens verspielt ist.
— Die gedankenreiche und kulturge-
sattigte Erzahlung Baumgartens iat ein
erlesenea Prosakunstwerk, eine Meiater-
arbeit, wie sie nur selten gelingt, —
u mii n i MU TTWTii n iifnfTiiiiiii H 'ii m i ii m i M ii HMW i M ii mn iiiiww m i n ii m ii mM « ini iii n il i iiiiii i i
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FRIEDRICH SCHNACK,im „Uterarisclien Ecno":
Baum ist ein Mcister im Dialog, den cr rait leise spottiscner
Uberlegenbeit durch alle Tonlagen schwingt. Er saugt die
Zarthett jeder Gefuhlsabstufung in semen Stil. Farbe und
Lichtschattierungen erregen ihn his ins Blut. Seine Gedichte
«nd von behutsaraer Inbrunst .... Die Ausstattung des
Wcrkes ist ruhmcnswert, von delikatem Reiz.
MARTIN FEUCHTWANGER in der „Saale-
Zeitung": Die Werke, die in den beidsn Banden gesamznelt
sind — Gedichte, Roraanc, Romanfragmente, Novellen —
atmen einen Geist, der dem konventionell denkenden und
mit der Schablone fiihlenden Menschen fremd ist. Aber
aie lasjen ihn in eine Welt blfcken, die schoner, erhabener,
reiner, grotfer und reicner ist, als diese, und nach der sich
die Besten — unbewutft — eehnen.
Zu bezieben durcb alle Bucbbandlungen oder direkt durch den
ERNST ROWOHLT VERLAG / BERLIN W 35
Das Tage -Buck / Heft 19 Jakrg. 2 / Berlin, 14. Mai 1921
thomas wehrlin FLtJSTERN IM REICHSTAG
Wen kat Ekert kerufen? Wer riet Ekert, wen er kerufe? Wer
lenkt Ekerts Auge in die verkorgenen Gegenden, in denen vielleickt der
Mann steckt, den wir kraucken? Zwei Jakre Prasidenten-Erfakrungen
geniigen wakrsckeinlick nickt, um Deutscklands Verwaltung und Wirt-
sckaft so gut zu kennen, dai? man mit sickerem Gnrr den Einen, den
Rettenden, keraussckirfen konnte.
Nur ein Prinzip gelte kestimmt: Wer sick keute zur Mackt drangt,
keweist sckon dadurck, dai? er der Ungeeignete ist! Man katte Strese-
mann aus der Liste streicken sollen, nur weil er sick selker draufgesetzt
kat; man zweifle an Sckiffers Fucksgesickt, weil ikm immer wieder die
Hand zuckt, sick auf die Liste zu setzen. Man veranstalte in Gotten
namen eine pompose Gedacktnisfeier fur den Fureten Bulow, weil er
immer im Begriffe ist, Deutscklands Tkron zu kesteigen.
Wer tesckreikt das letzte Kapitel ties S t in nes- Romanes? Wer
kat Okren fur die Wandlung des in Spaa nock so Wagemutigen?
Man mutfte von Reickswegen einen Stinnes-Kommissar ernennen, der nickts
zu tun kat als die ^^andlungen im Kopfe des Allmacktigen aufmerksam
zu verfolgen. (An Stresemanns Kurven ist Stinnes" Linie nickt mekr ganz
verlatflick festzustellen.) Stinnes, der Kraft deats eke, der alien Gewalten
Trotzende, ist in den letzten Wocken merkwurdig sanft geworden.
Wurde er die Feder zur Untersckrift in London nock immer in Ent-
rustung fortwerfen? Druckt sie dock ikm selker in die Hand!
Perverse Situation: Die Parteien trackten die Verantwortung von sick
akzuwalzen, aker die Stresemanner aller Parteien sind entscklossen, die
Verantwortung auf die leickte Sckulter zu nekmen. Eine gesunde Situation
lage gerade umgekekrt: Die Parteien mutften endlick Staats parteien sein,
vor allem auck die Sozialdemokratie, und die Einzelnen katten m sick zu
geken und sick zu prufen, ok sie der Aufgake gerustet und gewacksen sind.
Helfferick wo kist Du? Ewig Erzurater, Losgeker, Ziffernakrokat,
alter Milliardenequilikrist, strengster Okerlekrer der deutscken Nation!
Sind Sie in diesen Sckicksalsstunden nur damit kesckaftigt, Zeitungsartikel
in amenkaniscke Zeitungen zu sckreiken? Zaklkar in Dollars, zu depo-
nieren in einer Sckweizer Bank. (Was fur ein Gesckrei katte Helffenck
gemackt, wenn Erzkerger sick ein Sckweizer Konto angelegt katte.) Seit
wann ukrigens, Cato Helfferick, kestekt Ikr Sckweizer Konto?
Letzte Quelle der deutscken Misere: Die starkste Partei des Reicks
ist okne einen einzigen sckopferiscken Kopf! Die Sozialdemokratie ke-
stekt nur aus lauter kraven, recktsckafrenen, mittelmaiSgen Hermann
Mullers Armes vermullertes Deutsckland!
577
GUSTAV KAUDER DER TECHNARCH
Charles Ferguson zaklt zu den fukrenden Finanztkeoretikern A merikas
una nock spezieller, als Kredittkeoretiker, gilt er ukerkaupt als erste
Autontat des Landes. Er genorte zn Jen Beratern des PrasiJenten Wilson,
war 1912 Mitglied einer Kommission, die AA^ilson nack Europa zum
Studium der dortigen Bank- una Kredit - Metkoden gesandt natte, und
er sollte von seinem damaligen Besuck ner auck den leitenden deutscken
Bankdirektoren nocn kekannt sein. Er hat mekrere bcdeutende Bucker.
gesckrieken, von denen zwci auck deutsck (bei Diedencks) ersckienen sind
Und wakrend des Krieges bis m die Panser Verkandlungen kinem war
er der Finanzsackverstandige der {Commission des Oners ten House.
Dann, angesickts dieser Verkandlungen, und durck die Erkenntnisse
einer neuen Entwicklung, die sick sckon lange in ikm vorkereitet katte,
triek er von Wilson ak, ukerkolte die Ansckauungen der wirklick
regierenden Manner, oder — wie sie es sagten — er wurde ein „crank",
ein Eigenkrodler, Spintisierer, Utopist. Heute, wenn er gelegentlick einen
Artikel fur die groJ?en amerikaniscken Blatter sckreikt, etwa einen An-
gnff gegen die smnlosen Reparationsklugeleien oder dergleicken, dann
drucken lbn die Zeitungen nock in der seiner Autoritat gekukrenden
kockacktungsvollen Aufmackung, aker dock auck mit dem gewissen
Zweifel in der angekangten redaktionellen Bemerkung, die kesagen will:
^.ke's a crank, you know". Ferguson siekt tatsacklick wie ein ,,crank"
aus und predigt wie ein solcker. Er gekort zu den reckt zaklreicken
amerikaniscken Intellektuellen, die in lkren vielen Berufsweckseln gelegent-
lick auck einmal minister of tke gospel, Pnester und Prediger gewesen
Bind. Heute mackt er den Eindruck eines uberempfindsamen, etwas
femimnen Aestketen, eines altmodiecken Gkevakers, denkkar unamerika—
nisck. Er verkringt fast alle seine Xage und Nackte 1m National Art
Cluk in New York, wokin fast alle in- und auslandiscken Intellektuellen
lrgendemmal kommen, und deskalk sitzt er dort, wie eine Spinne 1m
Net z, um seine . Opf er zu f anges, seine Ideen in sie kineinzureden und
sie dann als Verkreiter seiner Heilslekre in die zu kekekrende Welt
zuruckzusenden. Dort ist ikm auck der Sckreiber dieser Zeilen in die
Griffe geraten und ist ikm kiermit zu iVillen.
Unter den cranks Amerikas gikt es viele Salonbolsckewisten. Aber
Ckarles Ferguson ist nickts weniger als ein Kommumst. Er glaubt nur,
daft man es aus dem Kommumsraus auck mckt welter auf den ricktigen
AiVeg zuruck kat, als aus den ekenso falsck gewordenen wirtsckaftspoli-
578
tiscken Tkeorien der westlicken Zivilisation. Er reitet keine Attacken
gegen den Bolackewismus: einmal recknet er die Bolsckewisten zu der
Art politiscker Sckackspieler, die sick irgendeinmal ganz allem matt
setzen; und dann lekt er ja nickt in Ruffland, sondern in Amerika,
kat also in diesem semen Lande das zu kekampien, was er rur dessen
Irrtumer kalt.
Er glaukt, dai? nickt nur die Finanzsysteme des gescklagenen Mittel~
europa rettungslos ersckuttert sind, sondern auck die Finanzsysteme Eng-
lands — von Frankreick erst garmckt zu reden — und selbst Amerika
in ganz genau dem gleicken Grade. Die Anlasse sind versckieden —
Amerika z. B. kezeicknet er den Anlaf? als wirtsckaftsdiatetiscke Gold-
und Warenverstopfung — aker die Ursacken sind ukerall gleick: Uber-
alterung und eine vollig verkekrte politiscke Ansckauung der Finanzleute.
Die Finanzleute der westlicken Zivilisation, sagt er, versteken vor allem
nickt s von Finanz, wie sie durck ikr kilfloses Gestammel iiker die
Reparatxonsmilliarden wieder keweisen. Sie kennen von der Finanz nur
nock die Tkeologie, aker mckt mekr die Bikel, nur nock das X Y Z,
mckt mekr das ABC. Ikr Grunddenkiekler ist der : well es lknen
gelungen ist, den Staat kis zu einem gewissen Grad zu kommerzialisieren.
glauken sie keute, dafs die Polizei- und AuKenmackt des Staates die
Quelle der Produktion ist. Die verkalkte Sopkistik ikres Ver-
standee verkmdert sie, die Urwakrkeit wieder zunnd en : dai? gerade um-
gekekrt erst die produktive Organisation der Gesellsckaft die moderne
Staatsmackt kegrundet, moglick und wirkKck gemackt kat. Sie seken
mckt, das Gesckaft, Industrie, .Kredit etc. also die Produktion vollig
autferkalb der Politik liegen. Sie treiken Europa und die Welt immer
tiefer in die Sackgasse, weil sie unkewuft: immer kestrekt sind, statt aus
der Kriegswuste zuerst wieder die Weltproduktion okne politiscke Ruck-
sickten aufzukaueu, lieker die sckwankende Mackt ikrer versckiedenen
Staaten mit Finanzmittelcken zu starken. Europa liegt auf dem Sterke-
kett, weil die Arzte, die es kerkeiruft, die gleicken Pfuscker sind, die
es erst krank gemackt kaken. Diese Arzte sckaffen eelker die Kranken-
etuken-Stickluft. die die wirtsckaitlicke Welt sckon lange kleicksiicktig
gemackt kat: Die Atmospkare. in der jeder eker strekte, Staatssckiitz-
ling oder Rentner statt Produzent zu werden.
Es gikt drei grotfe Tataacken, die einen volligen Ansckauungs-
wecksel errordern : das Leken der Welt in diesem Entwicklungsakscknitt
ist unloskar an einen ungekeuer kompkzierten teckniscken Apparat ge-
kunden ; aker die Arkeitsmoral der Welt, die den Apparat in Gang
579
kalten soil, ist durck den Krieg tier ersckuttert worden; una die grofie
Arbeitsfakrik Welt kann nickt genug zur Beseitigung der Kriegsver-
wustung erzeugen, weil sie, mit der politiscken Ukersteuer des Krieges
welter kelastet, ikre Kaufkraft eingekuft kat. Der Ausweg ist ein
einziger : Steigeruug der \Veltproduktion okne jede politiscke Unter~
sckeidung durcn Kokstorraustausck und gegenseitige fCred it ge wanning,
Dieser Ausweg wird niemals von der Gemeinplatz-Geistigkeit der Poli-
tiker una Geldleiker getunden werden, die nur an die V alutisierung
, % berecktigter Ford«rungen denken. Die Fukrung und Auisickt iiker
den lekenserkaltenden Prozef? muff den „Mei stern der Erzeugung"
ukergeken werden. Der rvapitalismus muK aufkoren, plutokratisck und
poll tie en zu sein, er muli seikstzwecklick, intensiv, also techno-
k r a ti a c k werden.
Ckarles Ferguson rordert em neues Regierungssystem der >A^elt
dais er die Tecknarckie nennt, geeignet und kerakigt, das errorderncke
intensive produktive Zusammenspiel (team- play) der lA^elterzeugungskrarte
kerzustellen. Zu den Meistern der Erzeugung recknet er di e Ingenieure,
Bankiers, Kaufleute, die den Produktionsprozels nickt lcksucktig, sondern
sckoprensck verstenen ; die sollen die Politiker in der Regierung
aklosen. Er predigt eine Produktionsregierung der AA^elt, er predigt ale
H err sen ait des Erzeugerverstandes vor alien anderen Sckopfern der
ICultur, und dies wenigstens Kir so lange, kis diese Kultur ikre trag-
fakige, wirtsckaftkeke Basis wiederkergestellt kat. Das kalt er fur die
ricktige Aurlosung des Marxscken Reckenexempela von den drei (wirt-
sckartlicken, politiscken, sckongeistigen) Stockwerken des Gesellsckaftskaues.
Der Politiker, der ^Capitalist soil akdanken. Die Beziekungen der
V olker sollen durck die Tecknarcken geregelt werden, die nur an die
gememsame Welterzeugung denken, und nur nack deren Gesicktspunkten
,,Poutik treiken. Wieder einmal stekt die ^^elt an einem Punkt der
Gesckickte, wo die Staatsiorm durckaus mckt das Vorausgesetzte und
Endgultige, sondern das V eranderlickste und Nekensacklickste ist.
Dakei fallt wokl jedem sogleick em; auck der Tecknarck ist nur
ein utopisckes Ideal. Auck die Tecknarcken werden sick als mensck—
kcke Unzulanglickkeiten erweisen, sie werden mit em em anderen Denk-
system dock die gleicken Fekler kegeken, wie die Politiker, Am wenigsten
Glauken nndet Herr Ferguson kei den erleucktetsten Kaufleuten. Im
Nekenzimmer des Kluks, als dieses Gesprack stattfand, sai? Sir Alfred,
Boot, das rlaupt der Cunard-Lmie, unkestreitkar einer der kesten und
kultiviertesten Praktikerkopfe der ^A^elt. Er sak durck die offene Tur
580
herein, erriet die Predigt, der on Opfer er unmittelkar vorber gewesen
war, und 1 act cite nur sckadenfrok.
Herr Ferguson sat das Lacbeln, aber er zuckte nur die Ackseln.
Er siekt trotzdem Morgenkckt. Zwar an die nackstliegenden Symptome —
das etwa Hoover einen so gerickteten Einflui? auf das neue amenkaniscke
Kabinett erkalten konnte — glaukt er nickt. Hoover fekle zum Teck-
narcnen eine wicbtige Eigensckaft: Psyckologie. Herr Ferguson ist eken
ein kif?cken „crank", Hoover ist ikm zu gegenwartig. Hoover gikt es
sckon, deskalk mteressiert er ikn nickt. Statt dessen kolt er einen Brief
aus der Tascke. Von einem )ungen Russen — lck glauke, Maximoii
war scm Name — den die Sowjetregterung nack Berlin gesandt katte.
Dieser Maxim ori let Ingemeur, nickt Kommunist. Trotzdem kaken mm
die Volkskommissare em Stuck Land ukerlassen, auf Jem er seine (agransck)
tecknarckiscken Ideen tm kleinen versucken darf. Er ging nack Berlin,
urn sick zunackst etwas Masckinene zu versckaffen. Von .dort sckriek
er Ferguson. Das ist die erste Selksteinsickt des Kommumsmue. Die
Volkskommissare kesckaftigen sick angekuck zur Zeit ukerkaupt nickt
mekr mit kolsckewistiscken Fragen, sondern nur mit den Riesenproklemen
der Tecknisierung und Elektnsierung Rulslands!
„Seken Sie, sagte Herr Ferguson, „in den versckiedensten Kopren,
unakkangig von em an der, dammert das gleicke Lickt. In Paris kaken
sick aknlick gesinnte Manner zusammengerunden, die zunackst eine Zeit~
sckrirt zurVerteidtgung lkrer Idee kerausgeken, „Le Producteur , 16 Rue
Geoffroy-Marie. Zu diesen Leuten kake lck mick durckgefunden. Ein
paar italieniscke Ingemeure wiederum kaken sick zu mir gerund en, Ingemeure,
die allem den Sinn der let it en italiemscken Arkeiterkewegung ncktig
erfatft und begnffen kaken, dal? die teebnisebe Idee auck die Losung der
Arbeiterfrage, die neue Stutzung der Arkeitsmoral kedeuten wird. Denn
der Arkeiter mit seinem groKen Instinkt fur den Produktionsprozei?, der
sick der nur lcksucktigen Fukrung der Politiker und Plutokraten nickt
mekr unterstellen will, wird sick dem erzeugeriscben Meisterverstand
des Tecknarcken willig unterordnen. Auck in England gikt es ein
paar Wirtscbaftstkeoriker, Landsckaftsarckitekten. Reformbaumeister
deren protestantiscbes und konstruktives Gekirn von selbst auf die gleicben
Wege kam, und aie nun mit der Herausgabe eines gemeinsamen Jakr-
buckes kegonnen baben. Diese alle also sind jetzt untereinander und ick
mit lknen in Fuklung. Sie organisieren sick fur ihren Marsck nack der
neuen Mackt,
Nur aus Deutsckland kak*n wir nock nickts getorfc* und Deuteck-
581
land war dock Jem tecknarckiscken Prinzip vielleickt sckon naker als
irgendein anderes Land der Welt. Jetzt kat man dort den „Wirt-
eckaftsrat^ gegrundet, der dock nur cin — unerkanntes Kind der gleicken
Idee ist, und auck sckon ein viel kraftigeres Kind sein konnte, wenn
seine Zusammensetzung nickt leider wieder politisck, d. k. parlamentarischr
statt selektiv erfolgt ware. Deskalb bitte ick Sie, von unserer Idee, in
Deutsckland zu erzaklen. Wenn mir die potentiellen Tecknarcken
Deutscklands sckreiken wollen. So werde ick mick ireuen, sie mit uns
in Verkindung zu kringen. Und wir werden dann unserera Ziel alle
einen groi?en Sckritt naker gekommen* sein. Denn aucn kier ist Deutsck-
land unentkekrlick.
Der Sckreiber dieser Zeilen hat sick kiermit acmes Auftrages ent~
ledigt. Briefe (moglickst in engliscker Spracke, denn er kann kaum et-
was deutsck) erreichen Herrn Ckarles Ferguson mi National Art Club,
15 Grameroy Pask, New York City.
leo mathias BEWERTUNG GEISTIGER ARBEIT
IN SOWJET-RUSSLAND
Unter den Reisenden durch Sowjetrutfland ist Leo Mathias der iuner-
licli unabhangigste. Sein Auge und sein Kopf stnd in Moekau nicht hypnoti-
siert worden. Das werden unparteiische Leser aus eeinem bedeutenden Werke:
„Genie und Wahnsinn in Rutland 14 erkennen,. dat? nach Pfingsten im Krnet
Rowohlt Verlag erscheint. Der vorliegende Aufsatz ist in diesem Buche
nicht enthalten.
1.
Das Geld ist in Rutland nock nickt abgesckafft; aus den ver-
sckiedensten Grunden. Einer dieser Grunde ist, daK die Absckatfung
des Geldes der Regierung die Pflickt auferlegen wurde, jeden Menscken
mit samtlicken Produkten zu kekefern, die er gebraucht. Die Regie-
rung verfugt aber nock nickt ' iiber samtlicke Produkte. Sie muU daker
die Arbeitslei'stung bezaklen oder dafiir sorgen, dal? sie bezaklt wird,
damit der Einzelne sick alles daa katifen kann, was er gebrauckt und
nickt vom Staate erkalt. Da nun die Lebensverkaltntsse auf dem
Lande andere sind als in der Stadt, und selbst der Sckauspieler in der
Stadt mekr gebrauckt als der Kulissensckieber, so ergab sick daker auck
fur He kommunistiscke Regierung die Notwendigkeit der ungleick-
mauigen Bezaklung.
Die Bezaklung erfolgt entweder in bar oder durck Pajocks.
M PajocV* ist die Bezeichuung fur eine Karte, die das Anreckt gibt,
583
Lebensmittel von Jen staatlicken Verteilungsstellen zu empfangen.
Dieses Anreckt kat zwar jeder Mensck, der arbeitet, und jeder
empfangt auck tatsacblick Kartoffeln, Apfel, Brot oder sonst irgend
etwas — aber die Quantitaten sind meistens so gering, dai? es nicbt
mogbck ist, davon zu. existieren. Existieren kann man nur mit einem
Pajock. Der Pajock ist also eine Art Zusatzkarte.
^A^er erbalt nun dieac Zusatzkarte? Im allgemeinen: alle Men-
scben, die fur die Regierung unentbebrlick sind. Vor allem also:
samtlicke Kommunisten; dann: die SpeziaKsten, an erster Stelle die
Arzte und Ingenieure; aber aucb Museumsbeamte, Lebrer, Scbriftsteller
und Kiinstler. Ferner; die Mitglieder der Sowjets, die Militars, die
Arbeiter und die Kinder. Wabrend jedocb samtkcke Kinder einen
Pajock bekommen, bekommen ibn nicbt alle Museumsbeamten. Der
Pajock wird also nicbt 'immer ganzen Gesamtbeiten bewilligt. Auclt
unterscbeidet sicb der Pajock fur 3ie Akademiker von dem Pajock fur
die Arbeiter; es gibt die verscbiedensten Pajock art en.
Icb weii? nicbt, was der Arbeiter bekommt. Jedocb erbielt man
im Oktober 1920 auf den akademiscben Pajock pro Monat: 35 Pfund
Mebl, 25 Pfund Grutze, 3 Pfund Butter, 3 Pfund Ol, 2 l /2 Pfund
Zucker, 20 Pfund Heringe, 700 Zigaretten und 10 Scbacbteln Zundbolzer.
Da der Pajock nur eine Zusatzkarte ist, batte man autferdem nock den
Ansprucb auf die Lebensmittel der allgemeinen Karten, also vor allem
auf Kartoffeln. Da der Preis fur samtlicbe Waren des akademiscben
Pajocks im Oktober vorigen Jabres pro Monat 1200 Rubel betrug
(man bekommt aucb die Pajockwaren nicbt ganz umsonst) und das Ge-
balt eines Akademikers (d. b. nicbt alle Akademiker!) ca. 5 bis
7000 Rubel — so war es daber moglicb, mit dem akademiscben Pajock
zu existuren.
Man mutf dies alles wissen, um die Bewertung der geistigen Arbeit
in Rutland beurteilen zu konnen.
2.
Es gibt in Rutland eine Art Gewerkscbaft, die den Namen bat:
Allrussiscbe Vereinigung der Arbeiter der Kunst". Zu dieser Ver-
emigung geboren samtlicke Kiinstler, mit Ausnakme der Sckriftsteller
und samtlicbe Arbeiter, die der Kiinstler gebraucbt; also: Tbeater-
arbeiter, Peruckenmacber, Klavierstimmer, , Souffleure, Garderobiere,
Bucbbalter etc. Der Zweck dieser Vereinigung ist es, Einstellungen
und Entlassungen zu uberwacben, Bescklul?e zu reaksieren und, vor
allem, die Tanfe zu bestimmen.
583
Eo muK im voraus gesagt werden, dais die Wsciabis (russiseke
Abkurzung rur diese ..vAllrussiscke V ereimgung ) kein embeitbcbes Prin-
zip gerunden kat, urn kunstlenscke Arbeit zu bewerten. Man bat zwar
ganze Systeme ausgearkeitet, aber alle diese Systeme smd unbrauebbar.
So nat man versucnt, dig Zeit, die die rlerstellung ernes Kunstwerkes
erfordert, kei der Bewertung zu kerucksicktigen. Aoer abgeseken
da von, dai? erne solcke Berucksicktigung des Zeitmoments in der Musik
und Sckauspielkunst ganz unmoglick ist, kann aucb der Maler nicbt
sagen, wie lange er an einem Bild gearbeitet bat. Er kann kockstens
sagen, wie lange er gepinselt bat. Die Vorkereitung, also das wick-
tigste, wurde als Zeit nicbt mitgerecknet werden. Man bat daker das
Zeitprinzip wieder fallen lassen, jedock wird es nock angewandt bei
der Bewertung der Plakatkopien. Plakate werden namlick in Rutland
senr kaufig mckt gedruckt, sondern mit der Hand vervielfaltigt (raeistene
durck Trafarette- Arbeit). Die Arbeit ist also eigentlick ein Handwerk,
das jeder Zimmermaler ausuben kann; sie wird jedock als Kunst bei-
wertet, una zwar nack Zeit und auKerordentlick kock. Man kann
nut dies en Kopien manckroal mekr Geld verdienen als nut dem
Original, denn beim Plakat original ist ausscklieulick der Bildwert
entsckeidend.
Nickt entsckeidend dagegen ist er wiederum in der reinen Maler ei.
Man bewertet kier weder die Zeit, nock den Bildwert — sondern
(eckt revolutionar!) den Namen des Kunstlers. Und zwar sind sarat-
licke Kunstler in Kategorien eingeteilt und kaken Taxen. So gibt es
cinen Tarif. nackdem der Maler A. fur jedes Bild 30 bis 40000
Rukel erkalt, und der Maler B. 50 bis 60000 Rubel (Hocksttaxe fur
1 920). Er erkalt dieses Geld naturkek nur, wenn der Staat eins
seiner Bilder kauft. Dies gesckiekt zwar sekr viel kaufiger als kei uns,
aber dock nickt so kaufig, dai? er okne Pajock sorgenfrei leben konnte.
Viele Maler sind daker gezwungen, ibrc Bilder an Spekulanten
zu verkaufen.
Ganz anders liegen die Vcrkaltnisse am Tkeater. Der Tarif fur
diese Berufe ist so differ en ziert, dai? er fast das ganze Tarifbuck fullt.
Und zwar untersckeidet man a) die Kunstler, die an Moskauer und
Petersburger Tkeatern spielen, k) Kunstler. die an alien ubrigen Tkea-
tern spielen. Jede dieser keiden Gruppen ist wieder untergeteilt in:
Mitgkeder der autonomen Tkeater und Mitglieder der nicktautonomen
Tkeater. Die Mitgkeder der autonomen Tkeater in keiden Grofi-
s tad ten oder in der Provinz, und die Mitglieder der nicktautonomen
584
Tbeater in den beiden Grotfstadten oder in der Provinz, z erf all en
wieder in Scbauspieler, Opernsanger, O p ere t tens anger, Mitglieder des
Ballettkorps, Musiker, Regisseure etc. — und alle diese Gruppen wie-
der in „Kategorien*\ Und zwar gibt es bei den Scbauspielern funf
Kategorien. Rollen von grower Bedeutung, Rollen von mittlerer Be-
deutung, Ensemblerollen, bessere Statisten und Statisten. Bei den Opern-
und Operettensangern : secbs Kategorien; namlicb: Sanger der ersten
Partie, Sanger, die die erste Partie doublieren. Sanger der zweiten
Partie, und Sanger, die die zweite Partie doublieren, Sanger der
dntten Partie und debutierende Krafte.
Bei der Festsetzung der Tarife iat der individuellen Bewertung
ein kleiner Spielraum gelassen. Scbauspieler (oder Scbauspielerinnen) der
ersten Kategorie erbalten z. B. in den beiden Gro#stadten 4350 bis
4800 Rubel, in der Provinz 4200 bis 4650, Scbauspieler der funiten
Kategorie in jedem Fall nur 1200; Opern- und Operettensanger der
ersten Kategorie m den beiden Grol?stadten 4800 bis 5040 Rubel, in
der Provinz 4500 bis 4650,; Sanger der letzten Kategorie in jedem
Falle 3400 bezw. 3000.
Die Honorare sind zwar lm Verbaltnis zu den Lonnsatzen der
Arbeiter sebr bocb — aber der Arbeiter erbalt meistens einen Pajock
und der Scbauspieler nicbt. Trotzdem lebt der Scbauspieler lm Durcb—
sebnitt besser als der Arbeiter, denn er erbalt 1) 60 bis 150°/o Zu-
scnlag, 3e nacb der Teuerung des Rayons, in dem er spielt, und 2); bis
100°/o Zuscblage fur Requisiten (abgeseben von den Kostumen, die ge-
liefert werden); autferdem verdient er durcb Vortrage und Gastspiele.
Aucb Lraucbt ein Scbauspieler der ersten Kategorie nur funfzebnmal
im Monat zu spielen, und ein Scbauspieler der ubrigen Kategorien
boebstens zwanzigmal. Die Lage der Sanger ist sogar nocb besser,
denn ein Tenor und ein Sopran ist nur verpflicbtet, acbtmal im Monat
zu singen, und ein Sanger letzter Kategorie nicbt baufiger als seebzebn-
mal. Singt er baufiger, so erbalt er, ebenso wie der Scbauspieler, (au#er
den Zuscblagen fur Requisiten etc.) nocb besondere Honorare, Scbau-
spieler, die 100000 Rubel im Monat verdienen, sind daber keine Ausnabme.
Besondere Honorare erbalten aucb die Stars, jedocb ist eine Hocbst-
grenze von 6000 Rubeln festgesetzt. Diese Grenze ist jedocb fiktiv —
denn die meisten erbalten mebr; aucb gebt kein Star ein Engagement
ein, obne Lebensmittel zu fordern. Scbaljapin singt nicbt, wenn er nicbt
Mebl, Butter. Eier oder Kase bewilligt bekommt. Der Wert dieser
Lebensmittel gebt naturlicb in die Hunderttausende. Scbaljapin ist da-
585
ker keute der reickste Mann in RuMand. Er verdient im Monat
durckscknittnck einc MilKon. Die Einkommensuntersckiede sind also
(kedmgt durck die Ubergangsgeldwirtsckaft!) auck keute nock in Ru In-
land senr kedeutend; denn ein Garderokier kekommt 1290 Rukel monat—
lick, ein Buckkalter2600, ein Friseur 1620 kis 3400, ein Klavief summer 2500.
Unerwaknt bKeben bisker die Komponisten und die Sckriftsteller
Das Pnnzip der Bewertung ist kier wiedetum em anderes, denn man
oewertet nier nicnt den Autor, sondern ausscklietfkck Ckarakter und
Umfang des Werks. So erkalt jeder Dickter _fiir jede Gedicktszeue
27 Rubel 8000 Rubel fur 40000 BucWaben im Roman. - Bei
K.omponisten erfolgt die Bewertung pro Viertelblatt; der Satz fur eine
rvammerensemblesonate betragt z. B. 30 Rubel und fur ein Orckester-
stuck mit Solomstrumenten 35 RubeL Jedock mul? das Honorar in.
jedem Falle mindestens 2500 Rubel betragen. Ein solckes Mindest-
konorar bestekt fur die Sckriftsteller nickt (die sick der Wserabia
nickt angescklossen kaben und einen eigenen Tarif besitzen); )edock ke—
zaklt die Literariscke Akteilung jedem Scknftstelles Honorar, auck wenn
man — aus Papiermangel — seine A^Verke nickt drucken kann; sie
mussen zum Druck von der Verlagsabteilung nur angenommen sein.
3.
Es ist sckwer, aus der Gestaltung des Tarifs, der aussckkebkck
durck die Ubergangsgeldwirtsckaft bestimmt wird, auf die zukunftige
Bewertung geistiger Arkeit zu sckkei?en. Bedenkt man, dal? ein Volts—
kommissar ca. 7500 Rubel kekommt und ein Sckauspieler (durck die
Aufscklage) bedeutend mekr, so konnte man glauben, der Sckauspieler
gekore zu den ersten Mannern im Staate. Bedenkt man andererseits,
dal? em Volkskommissar nickt weii?, -was er mit seinen 7500 "Rukeln
anfangen soil, weil er alles geliefert bekommt, selbst die rvleidung,
wakrend ein Sckauspieler mit dem dreifacken Gekalt kaum leken kann,
so kommt man keinake zu der entgegengesetzten Uberzeugung. Aul?er—
dem ist auck der Untersckied zwiscken der Bewertung eines Sckau—
spielers und eines Lynkers 7 z. B. so grois, dau man von einer allge —
mem en Bewertung geistiger Arkeit ebenso wenig reden kann, wic von
einer allgememen Bewertung bei uns. Auck labt es sick nock gar—
nickt sagen, welckes von den Bewertungsprinzipen siegen wird.
4.
Die Notwendigkeit, dem geistig Arkeitenden kestimmte Privilegien
zuzugesteken, ergibt sick sen on jetzt. Der Viohnist kann z. B. nickt
Sckneesckippen, denn er kann nickt spielen, wenn seine Finger kalt
586
<sind. Auck mull ikm das Studium als Arbeit angerecknet werden,
denn er hat tagkck seeks Stun den zu uben. Samtkcke Musiker sind
<laker von den kommunalen Arbeiten, die sonst }eder zu vernckten nat,
befreit. Sie sollen sogar wakrend der letzten Monate dea rusaisck-
polmacken Krieges vom Miktardienst befreit geweaen sein, „weil aie ikre
Arbeit mckt fur sick leisten, aondern rur alle.
Ea ist jedock ckarakteristisck fur die rusaiacken V erkaltniaae, dai?
dieae Vergvmatigungen nicbt rur samtlicne ICunatler besteken, aondern
fast ausscklieflick nur fur die Musiker. Malern z. B. wird ibre Arbeit
nur aelten als Dienat angerecknet, und Scbriftatellern faat me. Samt-
licbe Scb rifts teller, rait wenigen Ausnabmen, sind daber gezwungena
lrgendeine sog. soziale Tatigkeit auszuuben, die sie sicb jedock frei
-wablen durfen.
Ea ist Lei dieser Bestimmung wie bei so vielen Bestimmungen der
Sowjets faat unmoglick zu aagen, ob es sicb una prinzipielle Entsckei-
dungen oder Matfnakmen ad boc bandelt. Daa Letztere konnte man
glauken, wenn man bedenkt, dai? in Rutland wegen Papiermangels kaum
istwas gedruckt werden kaDn, — und abgeseben davon die Intelligenz
so rar ist, dai? die Regierung auf die Mitarbeit von auck nur zekn
Menacken mckt ver2ickten darf. (Man verlangt ubngens mckt, dai? der
Sckriftateller Sckrauben drekt. aondern die meisten sind in der Litera—
riscken Abteuung bescbaftigt.) Aucb spricbt die Stellung, die man den
Musikern gegenuber einnimmt, a a rur, dais es sxcb um eine Maimakme
ad koc kandelt. Dagegen apnckt allerdmgs die (falacke) Lekre Bogda—
noirs, nack der die Trennung von Kopfarkeit und Handarkeit die Ur—
sacke aller Ubel ist, die durcb den Kommumsmua beseitigt werden
sollen. Aber was bedeutet die Lebre eines Einzelnen, wenn scbon die
Scbuler eicb gegen diese Lebre wen den? Denn die Kunstler des Pro—
letkults treten in demselben Augenbkck aus den Fabriken aus, wo sie
vom Proletkult Stipendien erkalten.
5.
Ick erzaklte Radek von den unkaltbaren Zustanden auf diesem
"Gebiete. Er gebraucbte einen sekr kraftigen Ausdruck und fugte kin—
zu — was ick ackon wuJ?te — , dai? die letzte Ursacke aller dieser
Ubelstande der Mangel an klardenkenden Kopfen ist, vor allem aber
sine Folge des unkeilvollen, verwirrenden Einflusses des Proletkulta
„Die Besten gebraucken wir fur die Politik. — Es ist im Augenblick
■nock vieles blodsinnig geregelt. Icb weii? ea. Aber ick kann am Tage
nickt mekr als 16 bis 18 Stunden arbeiten."
587
HUGO VON HOFMANNSTHAL NAPOLEON
Difficele est, proprie communia dicerc
Horaz.
Dal? ein solckes \Vesen an einem bestimmten Tag ernes bestimmten
Jakres gestorben ist und da2 dieser Tag wn Ring des Jakrkunderts wieder~
kekrt, keleucktet uns grell das Paradoxe imseres Verflocktenseins nut dem
kinter uns Liegenden, das wir nut dem Namen M Gesckickte" verdecken.
Einerseits ist er abgetan wie Sesostris oder Dsckingiskkan, andererseits
gegenwartig, sogar leibkck in gewissem Smne.
Er ist das letzte gro#e europaiscke Pkanomen. Denken wir lknt
gelegentKck in geistigen Zusammenkangen, wie Mensckenalter, Jakrkundert*
so wird nickt er, aber unser aui lkn kezuglickes Erlebnis der letzten
kundert Jakre — denn die letzten kundert Jakre gekoren geistig nock zu
unserem Leben — durcksicktig.
Vor siebzig, acktzig Jakren war die europaiscke Pkantasie von ikm
erfullt, aber nock ganz in der Region der Sympatkie und Antipatkie^
Der groJ?te Teil der Franzosen und ein sekr grower der Deutscken, uker-
kaupt die Likeralen aller Nationen, standen zu seinem Bilde in einem
eentimentalen Verkaltnis; er war das Objekt lkrer Seknsuckt, so autferst
unliberal, fa in gewissem Sinne ein Verackter des Liberalen er auck
wieder gewesen war. Das Sentimentale scklug sick meder in unzakKgen
Anekdoten, zum Teile in Gedicktform. Die Figur ties klemen Korporals*
die Lteder von Beranger gekoren kierker. Mit allem, was mit ikm
lrgendwie zusammenking, wurde em iCult getneben; mit seinem Sonne,
dem Herzog von Reicksstadt, so gut als mit seinem kleinen dreieckigen
Hut. Das Bild des gefangenen Adlers, der mit Zorn und Veracktung
in die Stabe seines Kafigs beift, grub sick in Milkonen Kopfe. Die
Ukerfukrung der Leicke von St. Helena nack dem Invakdendom war-
fur kalk Europa eine Emotion, nickt den kistoriscken Sinn, sondern das
Gemut aufregend; es gmg nickt um ein en Toten, sondern um eine nock
lekende und wirkende Mackt. (Das zweite Kaiserreick war die Um-
setzung dieses Geistigen in ReaKtat, bis zur Karnkatur.) Demgegenuber
stekt in den gleicken Dezenmen die Herabwurdigung und gewollte Kalte
der Englander, wie sie kulminiert in der Napoleon-Biograpkie von Walter
Scott. Aber Goetke war gro# genug, gleick nack dem Sturze zu sagen:
Lal?t mir meinen Kaiser in Ruk'l und Byrons Haltung war von Antang
an so wie allem Groi?en gegenuber: er katte das Organ dafur.
Vor funfzig Jakren ruckte die Gestalt fur die Gekildeten aus dem
poKtisck emotionellen Bereick in das der analytiscken Forsckung. Maifc
588
keleucktete seine Abstammung, krackte ikn mit Itaken una der Renaissance
in nakeren Zusammenkang. Er sei von Haus aus ein Condottiere, durcn
Verkettung von Umstanden erst im acktzeknten Jakrkundert kervortretend,
mitten in eine weltkistoriscke Krise, die ?r mit Kalte und Ukerlegenkeit
kekandelt, wie eine Stadtkrise des funfzeknten. Zugleick wird die Be-
sonderkeit seiner Konstitution auseinandergelegt, das stupende Gedacktms,
die Willenskraf t, die Fakigkeit, alle seine Krafte zu kommandieren ; datf
er eine Angelegenkeit mit volliger Drangake seiner Krafte kekandeln,
dann den ganzen Komplex wie in eine Lade legen, die Lade zustolsen*
eine andere auf zieken kann : dies alles, so oft er -will und immer wieder,
okne Ermudung. Aker wozu das? Gerade was der Analyse und Inter-
pretation widerstekt, kei ikm wie keim Feuer und wie keim \Vasser,
davon gekt die Gewalt uker die Seelen aus. W'as sick von ikm eigent-
lick erkalt, ist eine magiscke Gegenwart. Er ist eines der wenigen ln-
dividuen, die von unzakKgen Menscken auck keute nock korperkck vor-
gestellt werden, und zwar emdrucksvoller und genauer, als man mastena
Aie Mitlekenden vorstellt. Von seiner korperKcken Ersckeinung sind zwei
Bilder fortwirkend. Das eine mager, mit romisckem Prom, krenn'enden
Augen, wirrem kurzen Haar, unzakKg oft gemalt und ideaksiert zum
Typus des jungen Genius der Xatkraft und rlerrsckersckaft. Das andere
nock wirkkcker, aus den spateren Lekensjakren (aker er war nocn nickt
sicksundvierzig, als er von der AA^eltkukne akging), gedrungen, ieist, die
Cesicktsfarke gelklick ungesund; das Auge verkaltmsmaisig Idem im ge—
xullten undurckdnnglicken Gesickt, aker der Buck von rasender Kraft,
wenngleick eiskalt; die Stimme immer gespannt, wie in Zorn oder Un—
^eduld; die Anne gewaltsam rukig gekreuzt uker der von nesenmaisigen.
Spannungen erfullten Brust; die ganze Ersckeinung keinake kurgerlick;
ganz unromantisck, sckeinkar kockst fai&ick, in AkVirkKckkeit aker un-
zuganglick, der Analyse widerstrekend, ganz unmittelkar, aul?er eken durcn
Ale Vision. Das eigentlick Treikende, das, wo von im Innern dieser Er-
sckeinung die Seelenlampe sick nakrt, kaum mekr erratkar. Denn der
Rukmsinn ist spiirkar sckon aufgezekrt: cine sckneidende AVeltveracktung,
kestancUge Gereiztkeit, furcktkare Anspannung sprickt aus jeder AiiKerung,
der innere Zustand sckeint eine Art von luziferiscker Verzweiflung,
kalanziert durck ungekeure, nock immer unersckopfte Krafte des Planena
und rlandelns.
Das Verkaltnis der tausend Einzelnen, die eine solcke Figur in sick
tragen, zu dies em auf nickt mekr vorkandener Wirklickkeit kerukenden
Pkantasiekild ist kaum aufklarkar: die Emotion, die davon ausgekt
589
zwiscben Scbauder und, trotz allein, Li eke; magiscber Hingezogenbeit unci
SicL-gescblagen-Fublen; das ganze Verbaltnis das des modernen Menscben
zu cincr aktiven mytbiscbcn Gestalt. Der Kern davon, wenn wir ein-
oringen, ist dieser: wir abnen eine der groi?ten VerwirHicbungen des In-
alviduums 1m okzidentalen Sinn: als Fusion des Fatalen (nicbt des Ideellen)
mit dem Praktiscben. Insorern ist er, wie wenige, von beiden Hemi-
spbaren des europaiscben Daseins aus gleicbzeitig zu gewabren: von der
politischen und von der geistig-konteraplativen. So wird er, und gerade
aucb dem Orient gegenuber — und insbeeondere gegenuber dem euro*
paiscben Orient, das ist Rutland — zum 'Sinnbild des europaiscben
Titaniscben und wirklicb „quasi Alexander redivivus". Das von der
Renaissance Gewollte, von AA^esen wie dem Hobenstaufer Friedricb II.,
Dante, Lionardo, Micbelangelo teils Gelebte, teils Geabnte wird nocb
einmal Gestalt, das beij?t gescbicbtKcbe Wirklicbkeit und Sinnbild zu-
gleicb. Im Sinnbild ist alles beisammen: Allmacbt und Sturz, wunder-
bar Praktiscbes und fast wabnsinmge Uberbebung. Das iaszimert das
tiefste Europaiscbe in uns, das aur bocbste Anspannung, ja bewul?te Uber—
spannung der individuellen Kraft binauswill, nicbt eigentbcb am Emzelnea
und Praktiscben bangt, es aber aucb nicbt, wie der Orientale, veracbten
una aus dem Spiel lassen "will, sondern es zu unterjocben und einem
grotten, bis ans Transzendente streifenden Plan unterzuordnen strebt.
Darum, weil er Symbol des bandelnden europaiscben Individuum»
ist — oder wie Goetbe es ausdruckt: Kompendium der Welt — gebt
er jeden an, der bandelt oder zu bandeln glaubt; darum ist aucb jedes-
neue Detail merkwurdig, das von mm bekannt wird, und wird begieng
aufgenommen. Das Detail bat immer den ungebeuren Hintergrund des
Ganzen: worm wir im wesentlicben das gleicbe Ganze, aus Ideen und
praktiscben \Viderstanden gemiscbt, erkennen, mit dem wir als Incbviduen
zu ringen baben. Am ergreifendsten wirkt dann ein Aussprucb, wie
etwa dieser, getan auf dem Krankenbett, wenige AVocben vor seinem
Tode : „Zu denken, dal? es micb jetzt mebr Willenskraft kostet, das eine
meiner Augen aufzumacben, als fruber einmal eine offene Feldscblacbt zu
lierern. Man spurt, dai? das wortbcb war, und es wird einem scbwindlig,
wenn man aicb diesen Abgrund von Kraft und Scbwacbe im Individuum
vereinigt vorstellt.
V erst ark end tritt binzu, daC er, wenn aucb aus einem alten Ge-
scblecbt, docb aus ganz burgerlicben Verbaltnissen bervorkommt, dies
etwa gegenuber Friedricb dem GroKen. Der Artillerieleutnant, der im
kleinen Garmsonen von der Besoldung lebt und matbematiscbe Bucber
590
studiert: von dieser Basis aus gebt es dann ins ungebeure; una es ist
die Basis von immer wieder Millionen Existenzen junger Leute. br ist
nicbt zunacbst ein ubernatiirbcber Menscb. Die riesige W^llenskraft,
die magiscben Zwang um sick verbreitet, offenbart sicb erst alimablicb
an den Aufgaben. In gewissen neuen Situationen ist er unsicher, bei-
nabe angstlicb, macbt Febler. (Die Einzelbeiten des acbtzebnten Bru-
maire sind in dieser Beziebung eretaunlicb.) Der ungebeure Spielersinn
entfaltet sicb nacb und nacb, ganz begreiflicb aus der matbematiscben
Anlage. Dazu kommt, als Ausgleicb, eine wunderbare Gelassenbeit
Menscben und Verbaltnissen gegenuber. Goetbe vergleicbt lbn einem
Juden mit einem Probierstein in der Hand, der ganz kalt und rubig
auf alles zugebt, es mit einem Stricbe pruft, ob es Gold, Sdber oder
Kupfer. Er taxiert die Objekte, aucb die ideellen, scbwer zu durcb-
scbauenden Macbte, durcbscbaut sie, meistert sie: er gebraucbt' sie, aber
er bangt nicbt ab von ibnen. Jedes scbwacbere Individuum braucbt
Dinge oder Komplexe, die ibm aufbelfen, weil es immer wieder sicb
von sicb selbst verlassen fublt. Das ist seine Lage nicbt. Er bat die
Herrscbaft uber sicb selbst; das ganze Wesen bleibt immer von einem
Punkt aus zusammengebalten. Er kommandiert semen Korper, sein Ge-
dacbtnis, seine Geduld, seinen Zorn. Denkkraft und ^A/\lle marscbieren
vereint. Jeder konnte so sein, fast mem and ist so.
Das eigentlicb Singulare aber ist dies: neben dem ungebeuren bon
sens 3ebt ein ungebeures Ernstnebmen der eigenen Plane und der da-
binter stebenden eigenen Personen, das direkt ms Mystiscbe xubrt.
Hier sind wir mit einem Scbntt durcb den Erdmittelpunkt bindurcb in
die unserer normalen AA^elt entgegengesetzten Region gedrungen. Denn
was wir die normale Welt nennen, ist die ^A^elt der Selbstsucbt, die
aber bei wacbsender Klarbeit in Selbstirome umscblagt, -weil iruber
oder spater die Umstande ubermacbtig werden. Er aber kennt keine
Ubermacbt der Umstande. Grenzenlos im Aufsicbuebmen von Ent-
scbeidungen, emprmdet er sicb selbst als Fatum gebend und kein Fatum
cmpiangend. Goetbe, der alles sab und verstand, bat aucb dies ge~
seben und mit der gro#ten Klarbeit nocb bei jenes Lebzeiten ausge-
eprocben: „Bildet eucb nur nicbt ein, kluger zu sein als er: er verfolgt
jedesmal einen Zweck; was ibm in den Weg tritt, wird niedergemacbt
aus dem ^Vege geraumt, und wenn es sein leiblicber Sobn ware, Er
licbt alles, was ibm zu seinem Zweck dienen kann, so sebr es aucb
von seiner mdividueLUten Gemutsstiinxnung abweicbt. Daber kommt es
aucb auf ems binaus, ob man von ibm geliebt oder gebatft wird. Er
591
lebt jedesmal in emcr Idee, einem Zweck, em em Plan, und nur bei dies em
muJ? man sick in ackt nekmen, in den Weg zu treten, weil er in
diesem Punkt keine Sckonung kennt. Das gleicke in lapidarer ICurze
sprickt er selkst aus, in dem Errurter Gesprack mit Goetke, wenn er
die Poetisierung des Scnicksals durck dTe neuen Dickter als sckwacklick
und unwakr akleknt. „Es gikt kein Sckicksal, die Politik ist das
Sckicksal. (Als Centrum dieses Sckicksals verstekt er sick selLst, das
ist sous-entendu.)
rlier gent er uber das Europaisck*-mdividuahstiscke, uber das, was
die Renaissance aus zwei Zeitaltern, deren Erke sie etns ins andere
gescklagen katte, ausdestilliert kat, kinaus: in der Kraft, nickt in der
Ricktung. Etwas davon ist in uns alien. Das Menscklicke und das
Unmenscklicke — das uker die Menscken Hmweggekende ■ — Kegt in
uns, als Antriek oder Versuckung: wslcke Gewalt es gewinnen kann
und in welcken Grenzen, dal? tst das morakscke Haupttliema unserer
Existenz. (Goetke stellte Napoleon aus der Welt der Moralitat kin-
aus unter die grouen pkysiscnen Ursacken.) Darum seken die grouen
Russen Tolstoi und Dostojewski in ikm scklecktweg den Wirkel des
Daseins. Seine Figur ist geradezu der Angelpunkt, urn den lkr Denken
sick drekt, sorern es sick auf das Okzidentalisck-europaiscke keziekt.
Sie nekmen in einer grotfartigen Weise den Gedanken auf, der sick
unter seinen Zeitgenossen festsetzte, als die ganze Wuckt eines solcken
Wesens auf iknen lag: er sei dem Antickrist der Ofrenkarung Jokannis
gleickzusetzen. Damit macken sie ikn zum mytkiscken Trager dessen,
■was iknen feindkck ersckeint: des europaiscken Okzidents. Der Feld-
zug von 1812 ist dann der Versuck, diesen, mit zusammengekallter
Heereskraft und Tecknik. dem europaiscken Orient aufzudrangen, und
dessen Akwekr durck Naturmackte: also ein grower mytkiscker Vorgang.
Fur uns, die "wir zwiscken den Zeiten kangen, ist er em ungekeures
Sinnkild und kein Monstrum, wenngleick au#erkalk der Sittlickkeit
stekend. Wesen solcker Art wecken in uns ein Gefiikl, dai? in keine
der Kategorien pai?t. Sie reimgen aker und wecken auck, indem sie
etwas in uns kerukren, das tot liegt und von keinem analytiscken
Denken kerukrt wird; nur die kockste. seltenste Syntkese, vollzogen in
der lekenden Gestalt, rukrt uns ins Mark, Je nack der Glaukenskraft
des Gemutes orrenkart sick dann kinter dem Seltensten selker nock cm
Hokeres, Letztes, Aksolutes, und die Seele keugt sick vor dem
fiocksten.
592
CARL STERNHEIM
FAIRFAX
VII.
Zu Haus aber raste Fairfax wie ein Urwaldbiif f el ; Das
scblug dem Fal? den Boden aus! Affront! Skandal! Und noch
einmal Skandal ! Und er kam Daisys Antlitz mit geballter Faust
so nab, dai? der das spottiscbe Lacbeln fiir Sekunden aus den
Ziigen scbwand.
Als er aber Atem bolte, fragte sie kiibl: „Wozu der Larm?
Auf?er Dir bist Du, weil Du spurst, wie recht icb hatte und Dich
scbamst, nicbt mitgelacbt zu haben. Das war. Hypokrisie, die
Dir nicbt stebt."
Fairfax acbzte : ,JJnd meine riesigen Plane mit Frankreicb T*
Daisy antwortete: „Mir scbeint vielmebr, es bat Plane mit
Dir. Sollst Du ibnen, oder wollen sie Dir pumpen?"
Fairfax scbrie: „Aber irrsinnige Verzinsung! Auf* lange
Leben in die europaiscbe BudeT"
Daisy: ,Jcb glaube einfacb nicbt daran. In nicbts bin ich
bier nocb auf meine Kosten gekommen, und was icb wollte, war
deinem Ebrgeiz gegeniiber Kleinigkeit. Nur sparsam ist dies Volk
in alien Trieben, und aucb der Hatf, auf den Du baust, quillt
nicbt von innen, ist nur Fassade. Sind wir Amerikaner nicbt
mebr binter ibnen, macben auch sie den Laden zu und geben fiir
immer scblafen. Deine Darleben aber kannst Du in den Scborn-
stein scbreiben, und icb werde Dir fiir mein vieles verscbwendetes
Geld die grotften Grobbeiten macben."
Fairfax: ,Jbr fanatiscber Elan?"
Daisy: „Ornament!"
In diesem Augenblick rief amTelef on dringend die Polizeidirektion :
ein Indian er sei letzte Nacbt auf einem Gaskantelaber in Mont-
martre verbaftet worden, der sicb beriefe, er stande bei Mr.
Fairfax in Dienst. „AkVas los sei, was er verbrocben babe?" —
„Uble Sacbe. Attentat auf betagte franzosiscbe Biirgerin.
Offentlicbkeit und Presse tobe!"
Fairfax kreiscbte in den Apparat, franzosiscbe Offentlicbkeit
scbeine uberall auf falscber Fabrte. Mitfverstanden babe sie den
Indianer! Nicbts als seinem metapbysiscbem Bediirfnis der Liebe
fiir den groi?en franzosiscben Bundesgenossen und Bruder babe
der so zartlicben Ausdruck geben wollen. Das sei docb selbst-
593
verstandlich! Man solle schleunigst die- offentliebe Meinung auf-
klaren, den Indianer beimschicken und inn Fairfax nicht nervos
machen. Schluf?!
Daisy aber eagte: „Du siehst, eie sind nicht im Bild, kauen
altc BegrifFe wieder, treten bei Fuf? und baben keine hinreichende
SpanmrogP
Dann aber sab sie ibn damonisch bei den Worten an: .,Ver-
echwenden willst du Dich, Papa. Icb will es aucb, und wir
baben es dazu. Diese bier aber sind kleine Sparer, die nicbt ein-
mal sicb selbst verbrauchen, und an denen nicbts zu verdienen ist."
„Auf keine Art?" fragte Fairfax.
„Auf keine P
^Auf deine nicbt. Wohl aber auf meineP raste Fairfax.
^Dicb darfet Du, und icb kann micb verschwenden, Aber mit
autferunsstehenden Kraften miissen wir Maaf? balten. Auf dera
ganzen Erdball giebt es nocb immer keine so totsicbere Sacbe
wie den im ubrigen unverstandliehen Erbhai?* zwiscben diesen
beiden Volkern. Wir baben keine Wahl, und also stebt uns
Kritik nicbt an, Vermiese mir die Sacbe nicbt P Hier gliihte er
Tatenlust und belle Wut. „Haben Franzosen von sicb aus nicbt
mebr die Kraft, tatlicb zu werden, baben sie docb scblussig be-
wiesen, wie stark sie sicb defensiv verbalten und alle Welt fur
eicb in Bewegung bringen konnen. Das geniigtP
Daisy zuckte Acbseln und ging binaus. Sab sie docb, das
war vorlaufig nocb des Vaters fixe Idee.
Der verriet aber bald, dai? aucb er von Frankreicbs rein
passiver Kraft docb nicbt bis ins Letzte iiberzeugt scbien, urn so
mebr, als er gegebene Beweise davon, dai? ein grower und
venninftigerer Teil des siegreicben Volks unter keinen Umstanden
mebr an diesen Sieg glaubte, nicbt unterdriicken konnte und wollte.
Aber er bewietf aucb , wie er mit alien Kraften weiter
bemiibt war, vorbandene Flammen zu scbiiren, weil er, wie ge-
sagt, keine andere Wabl zu baben glaubte und Daisys immer
haufigeren Einwurf, das kultivierte Europa zu lassen und sicb
ernsthcb um den Bolschewismus zu kiimmern, geflissentlicb
uberborte.
Einen ukrainiscben, mit alien Wassern gewascbenen Juden
batte er gefunden, der mit unbescbreiblicben Temperamentsaus-
briicben ibm dennocb Frankreicbs Cbauvinismus als grobe Klasse
594
wieder einblies. Dieser — Plexin mit Namen — batte einen
scblicbten Gelebrten mitgebracbt, der sicb verpfliebten wollte, in
seiner Kleinstadt des Perigord taglicb ein Biicblein von dreifiig
Seiten gegen Deutscbland zu scbreiben. Fiinfzebn Hefte in Oktav
lagen vor, sodal?, fange man gleich mit dem Massendruck an, er
einen Vorsprung von vierzebn Tagen und jeder Franzose bald
sein taglieh Haf?gesanglein auf dem Fnibstiickstiscb babe.
Der ersten Lief erun gen Titel seien glanzend: „Berlicbingen
und Hobenzollern", „Wagner und der Wotanismus", „Der
Boscbismus", „U-Boot und Expressionismus", JKolossal. u. e. w.
Plexin kreisebte vor Gliick und scbrie ein iiber das andere
mal auf engliscb Fairfax zu, so etwas sei docb nocb nicbt da~
gewesen ! Statt im Perigord vom Morgen bis zum Abend Triiffeln
zu fressen, scbufte das Schwein, bis ibm Scbaum vorm Mund
stebe. Ein Menscb, der, wie ein Backer Brot, Biicber backe !
Hinten stopfe er Stoff binein, und vom fielen wie Semmeln
fertige Biicber beraus. Beweise solcber Elan nicbt die Giite einer
Sacbe, zebntausend Druckseiten Hal? von einem Mann in ein em
Jabr geliefert, kenne er sicb in der Welt iiberbaupt nicbt mehr aus
Ubrigens stande so ein Kerl in der Welt nicbt allein, be~
lebrte, als der Professor mit Vertrag fiir das erste Hundert
Biicber binaus war, Plexin Fairfax. Aucb fiir Deutscbland babe
er spater eine entsprecbende Kraft in Bereitscbaft, jenen Barden
Ginzkey, der neunzebnbundertvierzebn die beriibmte Ballade von den
masuriscben Seen gedicbtet batte, die der Kaiser babe zuschutten
lassen wollen ,'scblie^licbaber auf Hindenburgs Bitten tels quels gelaseen
hatte; deren letzter Vers lautete:
„Er reibt sicb die Hande: Gerettet mein Sumpf!
Der Sumpf ist Trumpf, der Sumpf ist Trumpf,
Er schluckt die Russen mit Rumpf und Stumpf.
Und bunderttausend verscbwanden im Sumpf.
Der Sumpf ist Trumpf, der Sumpf ist Trumpf.
Verscbluckt sind die Russen mit Rumpf und Stumpf !"
Er bofie, diese Potenz lebe nocb. Sonst gabe es dort be-
stimmt andere.
Aucb niedagewesene Propaganda, Frankreicbs zerstorte Ge-
biete betreffend, balte er bereit. Von einem Prachtalbum mit
tausend Ansicbten des zerkartatscbten Reims verspracbe er sick
595
nocb andern Absatz als selbst von dortigen Cbampagnermarken
und alle Babnbofe, Ztige, Trambabnen des Erdballs wolle er mit
wiister Darstellung zerfetzter franzosiscber Ortscbaften pfl astern.
Ausscblag fur Fairfax aber gab die scblie^licb bewiesene
Haltung der franzosiscben Regierung bei scbnell sicb folgenden
Konferenzen in Genf, Briissel und anderswo. Da fand er sie,
durcb seinen Rat gestiitzt, storriscb und scbneidig genug, die scbon
iiberall drobende wirklicbe Friedenslust der Volker energiscb zu
bremsen. Nocb immer sab er in Frankreicb die einzige Kraft,
jene labmende und totlicbe Friedensstille in Europa verbindern
zu konnen, von der er driiben ersten Begriff bekommen, und die
ibn auf und davon gejagt batte.
Plexins Vorscblag gefiel ibm; jetzt sei der Augenblick ge~
kommen, Deutscbland auf sicb wirken zu lassen, zu gutem Ge~
lingen der Plane die Gegenspieler zu kennen.
Docb nicbt jab J Friscb fiir wicbtigen Eindruck zu sein,
moge er in der Scbweiz erst einen Scbluck neutraler Luft nebmen,
vielleicht aucb kurz nocb die Nase nacb Oesterreicb bineinstecken.
Gro!?e Vollmacbten fiir Plexin liel? Fairfax zuriick und lan~
dete Tags darauf mit Gefolge in Bern, Hotel Bellevue.
(Fortsetzung folgt.)
PETER ALTENBERG WORTE FUR FRAUEN
Eine junge Malcrm, dcren Lebcn Altenberg mit jener andachtigen Giite,
die nur cr besafi, verfolgte, scbickt nnr zwei Ansicbtskarten des Dicbtcrs
zur Veroffentlickung. Neben einem scbonen Madcbenkopf steben Altenbergs
mabnende Worte.
Miner Briefleserin
In deinen zartlicben Handen haltst Du sein Herz, seinen Geist, lieb-
licbe Leserin — — — !
Una das gescbriebene AlVort wird dir zu Nabrung und Trank!
„Scbreibe, dai? Du micb liebst! Schreib es, wenn es aucb Luge — — — !
Von dem ^Vorte allein lebt ein liebendes Herz.
Seid milde mit den Kamfifern!
Edle Frauen und AkVeltentruckte Dicbter durfen ibre Seelen aus-
wacbsen lassen bis sie die ^^elt umfangen.
Aber der Mann tcluQ seine Seele Lescbneiden, da(? sie ibm nicbt
auswacbse ins Unnotige und Grenzenlose. Denn er bedari seiner guten
Krafte fur die beilige Tat des Tages!
Frauen und Dicbter, seid milde und sanft mit unermudeten Kamprern!!
596
AUS DEM TAGEBUCH
LETZ1ER BRIEF AN DEN
POLIZEIPRASIDENTEN
Herr Polizeiprasident. Nach langerer
Uberlegung, vielleicbt angeregt durcb roeine
Auff orderung, im vorletzten T.-B. sich zum
Tode ^filhelm Siilts zu autfern.. baben
Sic sich entschlossen, mir die von Minister
Severing am 14. April angekiindigte Richtig-
stellung am 29. April zugehen zu lassen.
Sie scbreiben mir : „Die angestellten Er-
mittelungen haben erwiesen, daG die von
Ihnen wiedergegebene Zeugenaussage den
Tatsachen -wider spricnt. Es ist nicKt richtig,
dai? ein Polizeioffizier den verwundeten
Suit mit dem Futf gestotfen oder mit Worten
irgendwie beschimpft babe. 1 "'
Icb gebe Ibre so spat gefundene Ricbtig-
Btellung wieder und bedaure ibre Kurze.
Sic batten sicb, Herr President, uber alle
von mir bebaupteten Tatsacben au(?ern
aollen. Icb frage Sie nocb einmal : 1st es
wahr, dafi der lebensgefabrlich verwundete
Suit im Polizeiprasidium nicbt auf einer
Babre, sondern wie ein gescblacbtetes Kalb,
an alien Vieren liber die Treppe gescbleppt
wurde ? Habt Ibr kerne Krankenbabren
am Alexanderplatz ? Ist es ricbtig, dafi
Ibr den von der Treppe gescbleppten Siilt
nicbt auf ein Bett, sondern auf die Steln-
flietfen niedergelegt babt? Stimmt es, datf
der lebensgefabrlicb Verletzte nicbt ins
Lazarett, sondern ins Gefangnis nacK Moabit
gebracbt -wurde? Ist linen bekannt, dai?
der um 1 j$12 Ubr mittag Verwundete erst
um sieben Ubr abends in die Charite ge-
scbafft -wurde? Wissen Sie, dafi Siilt an
„innerer Verblutung" gestorben ist? Und
mtissen Sie nicbt zugeben, daf? [der Trans-
port uber die Treppe, das stundenlange
Liegenlaasen, der verspatete operative Ein-
griff diese ^innere Verblutung gefordert
baben? Wissen Sie, dai? der sterbende
Suit — und man liigt nicbt leicht auf dem
Totenbett — aeinem Weib und Kind ge-
scb-woren bat, er babe keinen Fluchtversuch
gemacbt? Watum baben Sie all dies nicbt
untersucbt? Ware es nicbt L kluger, dies
Alles, nacbdem Sie es nur bescbweigen,
nicht bericbtigen konnen, vor ibren alten
Genossen zuzugesteben und Ibre Wiirde
binzu-werfen, weil sie Sie zwingt, abscbeu-
licbe Taten und Tatenlosigkeiten mit ihrem
gutem Namen zu decken ? Ware nicbt die
Totung Wilbelm Suits Gelegenbeit zu einem
schonen Abgang gewesen ? Dann batten Sie
sicb morgen, onne das Haupt errotend zu
senken, -wieder unter Ibretf alten Genossen
bewegen konnen.
Ein Wort zu Ibren Ermittelungen :
Eines Abends kam der Arzt Dr, A.
B r a m e r , den icb bisber nicbt kannte,
in eine Versammlung auf den neben mir
stebenden Cbefredakteur einer grotfen Ber-
liner Zeitung zu und f rug ihn : „Nun waren
Sie mit meiner Meldung zufrieden?" Dieier
Dr. Brsmer hatte am Tage der Erschietfung
Siilts im Polizeiprasidium zufallig zu tun.
Er bat, auf den Scbuff berbeieilend, dem
verwundeten Siilt erste oberflacbliche Hilfe
geleistet, dann -war er burtig an den Fern-
597
«precber gesilt, die Zeitung zu verstandigen.
Nua erziiblte Dr. Bramcr : ,,Aber dieae
Leutc sind rob ! Ein Polizeioff izier stief? an
den vor ibm liegenden Siilt mit dem Fuf?
und sagte : „Verrecke Du Aaa." Icb sebe
nocb die pendelnde Fufibewegung des Er-
zablcrs. Die Geacbicbte, , im Ton so un-
erfindbar ecbt, erregte micb. Ubrigens aucb
den Erzabler, einen Osterreicber. der da-
zu bemerktc: „SoIcbeRobeiten warendocb
bci una unmoglicb."" Die Erzablung ging
mir nab. Als icb dann borte, wie syatem-
matiacb man den Verwundeten batte ver-
bluten lassen, da scbrieb icb sie nieder.
Herr Dr. Braraer, der, wie icb jetzt
erfubr, nicbt nur Arzt, sondern aucb poli-
tiscber Agent gewesen ist, tracbtete seine,
aus freien Stiicken, unmittelbar nacb dem
Erlebnis entsprungene Erzablung im Polizei-
praaidium abzusebwacben. Aber aein
elastiscbea Gedacbtnis war allzu willig.
Vor dem Untersucbungsricbter bat der
Cbefredakteur, der Bramera Erzablung wie
icb gebort bat, gleicbfalls bekundet, daf?
Dr. Bramer die robe Autferung einem
Polizeifunktionar in den Mund gelegt bat.
Fraglicb war ibm nur, ob ea aicb urn einen
Beamten oder Offizier gebandelt bat.
Am 14. April aucbte der Student M.
W^. Herrn Dr. Bramer auf, um aeine Dar-
Btellung fiir aeine Partei zu Uberprtifen.
Aucb ibm gegeniiber aprach der Arzt von
einem Polizei offizier oder Beamten, der
die Autferung „Verrecke Du Aas,'' getan
babe. Efn Protokoll dieaer Daratellung
wurde unmittelbar nacb dicser Besprecbung
abgefatft.
Vor dem Untersucbungsricbter erzablte
Herr Dr. Bramer eine nocb viel robere
Autferung einea Polizeibeamten : Siilt lag
totenblatf, verwundet auf der Treppe. Da
trat ein Beamter auf den trefflicbenScbiitzen,
den Kriminal -Wacbtmelster Jannickc zu,
klopfte ibm auf die Scbulter und sagte
freudigerregt: „Brav gemacbt, mein Junge."*
Wenn Sie, Wilbelm Ricbter, Polizei-
prasident und Sozialdemokrat, nun einmal
scbon im Ermitteln sind, warum baben Sie
dieae Angabe des Herrn Dr. Bramer, an
der er bis zum Untersucbungsrichter fest-
bielt, nicbt aucb zum Gegenstand derUnter-
aucbung gemacbt? Soil ieb's Ibnen sagen?
Weil Sie ein macbtarmer, im Polizeipraai- -
dium bitter einsamer Mann sind, der, aelbst
wenn er mocbte, gar nicbt kann. Nicbt
Sie baben daa Polizeiprasidium, sondern
daa Polizeiprasidium bat Sie!
WIGEGU
Herrn Oskar Tietz, dem Besitzer des
grotfen Warenbauses in Berlin, wurde eine
Ubr gestoblen. Was tat der Beatoblene?
Lief er zur Polizei? Setzte er 200 An-
gestellte eines Detektlvburos in Bewegung?
Hein, er scbrieb folgenden Brief an die
Zeitungen :
Sebr geebrter Herr Dieb!
Sie werden es mir nicbt ubelnebmen,
wenn ich Sie nicbt bei Ibrem Namen,
sondern bei ibrem Titel nenne. Sie baben
sicb mir aber nicbt vorgestellt. obwobl
Sie mir einen Besucb, und zwar in meiner
Weatentaacbe, abgestattet baben. Icb will
davon sebweigen, ob ea gerade boflicb
ist, wenn ein Beaucber gleich bei aeinem
ersten Besucbe eine goldene Ubr mit-
nimrat. Icb will Ibnen aber unter Dis-
kretition mitteilen, dai? Sie sicb insofern
vergrlffen baben, ala Sie mir eine Ubr
weggenommen baben, die fiir Sie voll-
kommen wertlos ist. Denn die Ubr iat
von so eigenartiger Pragung , dai? Sie
daran gebindert sind, sie in Geld um-
zusetzen, Sie muliten denn das Innere
des Deckels, in dem einEmailbild meiner
Kinder sicb befindet, und die Bucbstaben
H. T. auf seiner autferen Seite zer-
trummern* und den Kreialauf der Jabres—
zeiten und der Gestirne, den Ibnen daa
Zifferblatt anzeigt, aufbaltcn. Sie konnen
bei der Gestalt der Ubr, die jetzt von
jedermana gekannt iat, nicbta andercs tun.
598
als sie in ihrem diebessicheren Tresor
aufheben und werden sicherlich jedes-
mal Ihr Gewissen achlagen horen, wenn
Ihnen daa Schlagwerk der Uhr die
Srunden, Tage, Wocheo, Monate und
Jahre verkiindet. Fur mich hat die Uhr
einen unachatzbaren Wert, weil es ein
FamilienstUck ist, an dem ich mit meinem
Herzen hange, und ich kann mir nicht
vorstellen, dal? Sie ao schlecht sind, dafi
Sie einem Menachen nicht auch cine
Freude machen konnen. der, wie ich, Sie
hiermit bitttt, mir meine Uhr zuriick-
zugeben. Ich will dann auch Ihren Titel
fallen lasaen und zu Ihrer Entschuldigung
annehmen, dati Sic auf unserer gemein-
samen Fahrt im Autobus Nr. 8 am
23. April, nachmittags, zwiachen Pota-
damerplatz und Potadamer Briicke, nur
einmal nach der Uhr sehen wollten und
in dem Gedrange meine Weatcntaache
mit der Ihrigen verwechaelt haben. Ich
will jsogar, wenn Sie mir meine Uhr
zuruckbringen, mich fur Ihre anstandige
Geainnung, daC Sie mir nicht auch noch
die Uhrkette weggenommen haben, er-
kenntlich zeigen, und Ihnen eine Be-
lohnung von 2000 Mark mit Dank uber-
reichen.
Drei Tage nach Veroffentlichung dieses
Briefes konnte man in denselben Zeitungen
lesen, datf Herr Tietz aeine Uhr jwieder
habe. Er iat verstandigt worden, dafi aeine
Uhr bei einem Handler liege und gegen
Zahlung von 2200 Mark abzuholen sei.
Damit war Herr Tietz zufrieden.
Aber der Fall hat prinzipielle Be-
deutung und verdient genauere Betrachtung.
II.
PrinzipielL wichtig iat, dal? Herr Tietz
tn seinem Briefe und Verhalten den Beruf
der Diebe prinzipiell anerkennt. L Das ver-
rat sich achon in den correcten gesellachaft-
lichen Umgangsformen. ,,Sehr geehrter Herr
Dieb**. In dieaem Tone hochachtungavoller
Ergebenheit iat der ganze Brief dea Be-
Btohlenen, gehalten. Keine moraliache Ent-
ruatung, kein Von-oben-Herabsehen auf
den Spitzbuben. Im Gegenteil: VerrtanJ-
nia fiir seine Situation, Annahmc etnea
Mitfverstandnisses, Erorterung der geachaft-
lichen Verwertung dea angeeigneten Ob-
jektes. Hochst nuchternc, affektlose, moral-
freie Korrespondenz. Man kann sagen:
Mit dieaem Brief erlebt der Beruf der
Taachcndiebe (seine gesellschaftliche Aner-
kennung. Wenn etwas noch stort in dieser
Korreapondenz, so ist es das altvaterische
leider durch neueren Sprachgebrauch noch
nicht ersetzte Wort „Dieb". Es ist da*
einzige peinliche Wort in dem so ver-
standnisvollen Brief des Herrn Tietz. Zu
aeiner Entachuldigung kann Herr Tietz
anfiihren. daff er das antiquirte Wort nur
angewendet hat. weil ein so grelles Wort
zur Verbffentlichung in den Zeitungen not-
wendig war. Er hat es gewisaermafien aU
Auslage-Arrangcur verwendet, umdieLeser
vor daa Schaufenster seines offentlichen
Briefes zu locken. Im Grunde widersprach
ea dem Sinne und der Geainnung dea Briefes.
Ware Herr Tietz eeinem verstandniavollcn
Herzen gefolgt, so hatte er den Dieb andera
angeredet. Etwa : ,,Sehr geehrter Geachafts-
freund."
m.
Wie mag Herr Tietz zu den neuem
Umgangaformen mit Dieben gekommen
sein ? Seine Milde ist erstaunlich, diesen
Giitegrad erreicht man nicht mit einem
Schlage. Er mufi achon friiher mit Dieben
zu tun gebabt haben. Bedenkt man, dafi
ein grotfer Warenhauabeaitzer Giiter aller
Art einzukaufen hat, Schuhsenkel und
Schweinefett, Seidenstoffe und Eisschranke,
GartenbankeundStrohhute,Bohnen,Marme-
lade und Luxusdrucke. Rasierapparate, Ju-
welen und Briihwurrte, so wird man die
Milde im Umgang des Warenhausbesitzers
mit Warenbesitzern begreifen. Die Zeiten
sind vorbei, da man Tuche in der ^^ebeTei
und Zuckerin den Zuckerf abriken einkaufte,
Es haben sich iiberall andere Instanzen da-
zwiachen fverzeihen Sie das harte Wort)
599
gcschoben. Hcrr Tietz hat den voruber-
gebenden Beeitzcr seiner Ubr als eine aolcbe
Zwischeninstanz facbmanniscb eingeacbatzt
unci ist an ihn mit einer gescbaftlichen
Proposition herangetreten, wie man den
unertlarlichen Besitzern von "Wagenlad-
ungen Marmelade, Teppichen, Kohle nabe-
kam. Welcber gewiegte Einkaufer kann sicb
beute auf cine grundliche Unterauchung der
Herkunft dcr notwendigen Artikel einlassen ?
IV.
Ich machc Herrn Tietz einen Vorschlag:
Sein gelungenea Uhrenexperiment mufi or-
dentlich verwertet werden. Herr Tietz
beaitzt cin groffea Warenbaua in Berlin
und nocb einige in anderen deutschen Stadten.
Er ziebe aus seinem gegliickten Versucb
die Lebre fur die Allgemeinbeit und er-
offne in semen Warenhausern eine eigene
Abteilung, betitelt: Wigegu, Das beitft
xu deutacb: ^Af iedererwerbung gestohlener
G iiter. Die Organisierung der AA^igegu
ist ganz einfacb. Der Bestoblene meldet
bei der ^Vigegii den DiebstaHl mit gleich-
zeitiger Festsetzung dea Rtickkaufbetrages
an. Die gedruckten Listen der taglich voll-
zogenen Diebstahle werden in der Lesehalle
der Wigegu ausgehangt, die Listen werden
aucb in der Tag espr esse angezeigt. Der
Dieb liest die Listen, wendet sicb ver-
trauensvoll an die Einkaufsstelle, dieae stellt
den ebrlicbenMakler zwischen dem friiberen
und dem augenblicklicben Beaitzer des Gutes
dar, fuhrt die Ausgleichverhandlungen und
beziebt fiir die Perfektionierung eine Ver-
mittlungsgebuhr von 10°/ . Allmablich
wird sicK die Institution der Wigegu ao
einbiirgern, dai? die Diebe selbst den urn-
standlicben und gefanrvollen Weg zu.den
offiziell nicht anerkannten Heblern und
Trodlern scbeuen und ibre Erwerbungen
selbst bei der Wigegu anmelden werden.
In diesem Falle w£rd eine von den Zwiachen-
beaitzern berriibrende Liate taglich er-
ecbeinen. Mancber Bestohlene wird dann
vielleicbt erst durcb die Wigegu von
seinem Verluste in Kenntnia gesetzt -werden.
DicVorteile der Wigegu sind einleucbtend t
Sie erxnoglicbt jedem Bestoblenen die Riick-
erwerbung der entwendeten Giiter zu einem
angemesaenen Preia, die W^gegii muff ihre
ganzeMacbt einaetzen, urn Ubervorteilungen
der Bestoblenen hintantzuhalten. Ea musaen
Hochstpreise (in Prozenten) fiir die Riick-
erwerbung der fachmannisch eingeacbatzten
Guter festgelegt werden. Der Enteigner
wieder weii?, wobin er oich mit dem eben
erworbenen Gut wenden kann. So wird
dem illegalen Scbleicbbandel und vor allem
der Ausbeutung der Diebe durcb die
Handler entgegengearbeitet. Die Volks-
wirtschaft aber bat an dera W^rken der
Wigegu ein besonderes Intereaae, weil er-
fahrungagemaff nabezu 50°/ der gestoblenen
Gegenstande zerstort, verdorben, ver-
schmisaen -werden, eine Verschwendung mit
Sachgiitern, die von der W^gegii allein
wirkaam verbindert werden kann.
Schliefllich wird in vielen Situationen
der Diebstabl garnicht wirklich auagefuhrt
werden' miiaaen. Es -wird die Anmeldung
bei der Wigegu und eine Anfrage bei
dem zu Besteblenden genugen. Ist er zu
der notwendigen Butfe bereit, so wird
mancber kostpielige und gefahrliche Ab-
tranaport iiberbaupt vermieden werden
konnen.
V.
Der Staat bat an dem Aufbliiben der
Wigegu ein beaondere9 Interesse. Die Kosten
der Sicherbeitspolizei und der Gefangnis-
erhaltung wacbsen in alien Stadten ins Un-
gemessene, obne dafi die Erfolge der (ver-
alteten) Institution nennenawert waren.
Die Wigegii erhalt sicb aus Eigenem, wird
sogar voraussicbtlicb mit grofiem Gewinn
der teste %&tmatftt
600
arbeiten, vorausgeaetzt. da I? sic nicht ver-
staatlicht wird. (Eine Reichs-WigegU mit
cinem Reichskommissar an dcr Spitze und
8000 Beam tin im Getolge wiirde den ge-
sunden Gedanken naturlich toten.) Die
Wigegii wiirde nun eine aufierordentliche
Entlaatung, aowoM dcr Polizeibehorden als
dcr Gcrangniaverwaltungen zur Folge haben,
Vielleicht konnte ein Teil der erfahrenen,
nun uberfliissigen Polizeiheamten bei der
Wigegii argestellt werden. Auch dcr Ge-
danke einer staatlichen Subvention der
Wigegii wird nicht von der Hand zu
weisen sein.
Wird durch die Wigegii die SicKer-
heitapolizei iiberfluasig? Kcineawegg. Es
wird iramer noch illoyalc Diebe geben, die
aicb der Vermittlung der Wigegii nicht
bedienen wollen. Sia treffe die voile
Schwere der alten strafgeaetzlichen Methode
Man wird also kiinftighin zu unter-
flcheiden haben : Zwischen dem legalen,
von Beatohlenen und Behorden anerkanntcn
Diebstahl und dem illegalen, den Beatohlenen
und die Wigegii briiskierenden, aozusagen:
unorganisierten Diebstahl. Kein Zweifc 1 ,
daU die zweite Form die uberholte, riick-
standige Methode darstellt. Die Zukunft
gchort der exakten Organisation, auch auf
diesem Gebiete, und deshalb, Herr Oakar
Tietz, vollenden Sie Ihr begonnenes Werk
und eroffnen Sie am 1. Juni die erste
Abteilung dcr Wigegii in Ihrem Warenhaua.
BUCHER
EIN BEKENNTNISBUCH
Jakob Waasermann: Mcin Weg
ala Deutscher und Jude (S. Fischer
Vcrlag 1921)
Gcachichtaklitterungen wic die von
Bartcla ergietfen sich in kaninchenhaften
Auflagen auf das ohnedies genug drang-
salierte deutsche Volk, die Verdachtigunj?
cine judische Schwiegermutter zu besitzen
i*t ehrverleteeader als die freschuLdigimg ,
mit Miindelgeldcrn durch gegangen zu sein,
die Relativitatstheorie ist ein Humbug,
weil ein Judc sie der Welt kundgetan :
In diescn Zeitlauftcn hemmungalosen Masaen-
wahns erscheint eine Scbrift, die von
sonatigen Vorzugen abgesenen, das seltene
Verdienst hat, mit Wurde und Gewisscn-
haftigkeit, mit Mut und Verantwortungs-
gefiihl iiber Dinge zu rcden. die der Pobel-
diakussion v erf all en schienen. Washerman n A
Buch ist kcine Anklage, keine Apologie^
kein Kompendium zur Judenfrage, keine
detaillierte Lebensgeschicnte. Waasermann
begniigt sich mit autobiographischen Skizzen
und Betrachtungen: aber sein individucllcs
Erlebnis wird Symbol einca fiir Tausende gii 1-
tigen Schickaale, sein Buch, als Rechenschafts-
bericht iiber das eigenc Schaffen cntworfen-
wird Gerichtstag iiber die Zeit. So wie
die Dinge heute liegen, jst Wassermanns
Sache mehr als die ci'gene, mehr als die
der deutachen Judcn ; Waasermann fiihrt
dis dunce Phalanx der Verantwortungs-
bewutften gegen die Uberzahl der Schlag-
wortaklaven. Der Bekencer Wassermann
befindet sich in der gliicklichen Lage, die
Leopold von Ranke in der Formel urn-
schricben hat: ,,Das Grofite, was dem
Menschen begegnen kann, ist, in der eigenen
Sache die allgemeinc zu verteidigen; dann
erweitert sich das personliche Dasein zu
einem welthistorischen Moment*',
Obwohl der Autor bia zu den Wurzeln
seiner Probleme dringt, liegt der Schwer-
punkt des Buches nicht im Problematischen*
M*l£
601
AVofl McSe sich da aucli Neues sagen? Wer
'will denn horen, ^wer sick iiberzeugen
lassen? Und doch 'ware schon Unermel?-
lichcs erreicht, wenn ein paar Hakenkreuz-
ranatiker nach der Lektiire dieses Buches
Friedrich Hebbels Erkenntnis sich zu eigen
machten: „Der Jude ist gerade so schlecht
wie der Mensch", Wassermann hat viel-
zuviel Ehrfurcht vor dem Irrationalem
urn zu wahnen, mit Argumenten gegen
Instinkte streiten zu konnen. Das Ein-
malige, das Unverlierbare, das Facinierende
diescr Confessionen steckt iiu Biographischen,
in der Erziihlung. Wer es nocb nicht
wufite, wird es aus Wassermanns Doku-
menten erfahrea : der Kiinstler ist der Be-
sessene, der vom Kunsttrieb Damonisiertc,
der Sklave seiner Begabung, deren Herr
zu werden seine eigentliche Berufung, seine
gottliche Sendung ist. Schon in friihen
Knabentagen, da er mit phantastischen Er-
zahlungen die Mutter erscbreckte, den
Bruder beherrschte, dem Vater ein ratios
stolzes Lacheln entlockte, bewegte sicb
A^assermanns Geist in Bilder und.Figuren.
Seine Phantasie wurde scin Fatum. Mau
wird nur, was man iat, Waasermann hat
die Scbale der ScKmacb bis zur Neige ge-
leert als Jude, ala Deutacher, ala Dichter;
bat gehungert und gehatft. Aus Leiden
und Liebe ist ihra die eigentliche Geatalt
seines Herzena geworden* Auf sein eigenes
Ich geatellt, „ohne Mythos, obne Mutter",
ging er seinen Paasionaweg, den Fern-r
stehende. die autfere Erfolge fur weacntlich
halten, mit einer Triumphstratfe ver-
wechselten. AiVerden die Erbpachter der
Herzenstragheit ihr Ohr dieeem Bucbe ver-
harten, demNotruf eine3 deutachenDiehters?
Waasermann bJetet keine schnellfertigcn
Losungen, nicht einmal Trost. Er fordert
keine Gerechtigkeit, er littet nicbt um
Liebe. Der Ha£ regiert, Dummbeit be-
herrscbt die Stunde. Was sollen Wasser-
manna Leidensgenossen tun? „Icb 'will
meine Leiden lebren, stolz zu sein".
P.M.
ANEKDOTEN
KLE1NE POLNISCHE ORTSCHAFT
Wahrend des Krieges besuchte eine sehr
hohe Dame, wegen ibrer Einfalt ebenso
bcriihmt wie wegen ihrer Priiderie, ein
Lazarett im Oaten. Ein j'unger Hauptmann
fiihrte sie von Bett zu Bett.
Die hohe Dame beugte sich ilber einen
Vcrwundetcn-i
,.Wo wurden Sie verletzt?"' frug die
hohe Dame giitig.
Die Antwort kam klar heraus : „In der
linken Arachbacke !"
Etwas vcrwirrt und vorwurfsvoll
starrtc die hohe Frau den jungen Haupt-
mann an, sic brachtc nur einc Silbe
heraus: „Wie? L ''
Doch der junge Offizer rettete die
Situation, indem cr achncll erklarend hin-
zufiigte: „Kleine, polnische Ortachaft!"
1NHALT DES LETZTEN HEFTES
(Nr. 18):
M. Erzberger.' Politik oder - ?
Kaaimir Edschmid: In einer eigenen Sache
Wirtschaftlichea Tagebuch
Roda Roda: Der verlegene Herr
Stefan Grofimann : Schumann verlangt seinen
Tod
Christian Morgenstern : Die Dummheit
spricht
Carl Sternheim : Fairfax
Aus dem Tagebuch
Redaktion dea „Tage-Buch" : Berlin W 35, Potadamer Stratfe 123 b, Tel: Liitzow 4931 .
Vcrantwortlich fiir den redaktionellen Teil : Stefan Grotfmann, Charlottenburg. Verlag :
Ernst Rowohlt Verlag, Berlin W 35. Potadamer Straffe 123b. Druck: R. Abendroth, Riesa
602
Irische Volksmarchen
Gesammelt und nerauagegeben von
DOUGLAS HEYDE
Aus dem Nemriscnen verdeutsckt.von
Dr. KATE MULLER
tfeheftet M. 15. — * gcbunclcn M. 20. — , Haltpcrgament M. 32.—
DEUTSCHE RUNDSCHAU, BERLIN: ..Die hubsch
ausgestattete, auf gutem Pafiier gedruckte Sammfung der
irischen J^farchen, denen Kate TrfuPer eine ffussige deutsche
Form gegehen hat, kommt just zur rechten Zeit, um auch
uber die Krafte lebendiger Kunst, die in die sent wet ver-
kannten Vo7£ wirksam sind, die Deutschen zu unterrichten.
A.uflerordentHch 1 ebendig sind diese Volksmarchen,
in doj&fiehem Sinn. Sie werden noch heute von Jvlund zu
Jyfund im VoJke weitergegeben, und zum andern ist in
ihnen et'ne ur sprung] i ch e Frische und Eigenart, die ein unmtttef"
bares GefuW von der Luft der ,,griinen Insel" vermittelt."'
MUNCHENER ZEITUNG: tf Das Bandchen bereitet
einen reinen Genu/?. Es sind fihantasievo)?e Geschichten,
in denen die wundersamsten Dinge in jener naiven Se1bst~
verstandJichkeit vorgetragen werden, die nur das J^larchen
kennt . . . Diese Geschichten haben die wahre Naivitat
der VoJktuarchen. Ihre Phantasie ist romantisch, vielfach
verwildert, immer $kru£ellos. Es ist der reine, wahrhaft
primitive Brunnen der VoJksseeJe, an dem man hier trinkt."
Zu tezieaen durcn alle Buckkandlungen oder direkt durcn den
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DER ANBRCICH
Mittit>och, 18, Mai 1921, abends 4 /28 Qhr
Philharmonic mit dcm
Philharmonischen Orchester
MAHLER
FEIEB
(t 18. Mai 1911)
DIBIQENT:
OTTO KLEMPERER
PROQRAMM:
MAHLEP: 2WEITE SINFON1E
SOLISTEN:
OLQA SCHAEFFER
JOHANNA ■' KLEMPERER
Karten bet Bote & Bock utid bei W e r t h e i m
Das Tage-Buck / Heft 20 J akrg. 2 / Berlin, 21. Mai 1921
m. erzberger DAS TEUERSTE MINISTERIUM
Reichsmimeter a. D. IN DER WELT
Unser armes Volk liat sick in den letzten 10 Monaten den Luxus
geleistet, das teuerste Ministerium der Welt zu besitzen : dieses.
kat uns namlick — so weit man es neute genau kerecknen kann — ca.
50 Milliarden Goldmark oder mekr als 500 Milliarden Papiermark ge~
kostet. Eine geradezu weltgesckicktkche Leistung des Kahinetts Simons.
Der amerikaniscke Avantageur, Arkeitsminister Brauns, wird wokl wieder
in volliger Verkennung aller Tatsacken sagen, daf? dies die „Konsequenz
von Versailles" eei, wakrend es dock in Wirkkckkeit nur die Konse~
quenz der unglueltsehgen gedanken- und ziellosen PoKtik sext Januar 1921
ist. Dai? wir zaklen mutften, ist die Folge der Ludendorff-Depescke an
Wilson, die Folge des verlorenen Krieges — nicnt des Friedens voa
Versailles — wann wird endkck das ganze Volk diese Grundwakrke:t
eineeken ? Frankreick kat 1871 nicnt infolge des Friedens von Frankfurt
seine 5 Milliarden kezaklt, sondern weil es den Krieg verloren hat. Heute
trifft uns das Gesckick — nur karter und brutaler. Dai? wir aker die korrende
Summe von 132 Milliarden Mark bezahlen sollen, das kaken wir aus-
sckhei?]ick dem Kabinett Simons und seinen pari amenta risen en Sckild~
tragern zu verdanken. Nock vor 2 Monaten waren wir urn ca. 50
Milliarden Goldmark billiger weggekommen, die seitkerigen Storungen
unseres Wirtsckaftslekens nicnt mitgerecknet. Ick sprecke es ganz of fen
aus : diese Mekrkelastung verdanken wir nur der unverstandigen, nickt
einmal sckonen Geste von London mit ikren Feklern zuvor und danack.
Ein flucktiger Blick auf den Leidensweg der Repararationsangekote
keweist dies : Vor 2 Jakren koten wir wakrend der Friedensverkandr
lungen unter kestimroten Voraussetzungen 100 Milliarden Goldmark zins-
los an — vergekens ; erne Gesamtsumme wurde im Vertrag nickt genannt.
\ on da ak eetzt ileider das deutscke Gesckrei nack der Nennung der
Gesammtsumme geradezu sturmisck und kysterisck ein. Ick warnte als
Minister und kake unkekummert darum zunackst unseren eigenen Bedarf
okne Reparation in Ordnung gekrackt. Dieses Ziel ist und kleikt er-
reickt, pokald die von mir gesckaffenen Steuergesetze durckgefukrt sind,
woran allerdmgs nock manckes feklt. Seit der im Januar 1920 voll-
zcgenen Ratification des Friedens kat leider Deutsckland trotz meines
609
steten D ran gens nack meiner Amtsniederlegung keinerlei Initiative mekr
entwickelt; es tat die Wakrkeit des Satzes nickt kegriffen, datf ein gut-
williger Schuldner das Tempo una die Moke seiner Leistungen itn Volker—
leben genau so kestimmt, wie ea im Privatleken der Fall ist. Weder in
Spaa nock sonstwo kaken wir _geredet s kis_ entweder Fock als Sckreck—
mittel ersckien oder unsere Unterkandler in London als ,,der reine Tor'
kinausgeketen wo r den sind. Unsere Energielosigkeit und den Mangel
jeder Initiative — wcr zuerst die Milkardenzakl nannte, katte in der
Welt sckon viel gewonnen gekakt — nutzte are Entente als alleinig reg—
samer Faktor umso grundlicker aus. Im Juni 1920 verstandigte sie sick
in Boulogne auf 42 Jakreszaklungen von je 3 bis 7 GoldmilKarden : einea
Monat darauf verteilte die Entente in Brussel das ,,Fell des deutscken
Baren". Frankreick erkielt 52 °/o, England 22 °/0 usw. In Spaa sckwiegen
wir kieruker; unsere Minister redeten daselbst so entsetzKck weltfremd,
daf? Lloyd George verzweifelte und Miller and sick amusierte. Im Herkste
kamen engkscke und franzosiscke Unterkandler nut dem ganz gesunden
Vorscklag eines Provisonuras fur 5 Jakre ; statt nut Leiden Handen zu—
zugreif en, sagte das Kakinett Simons steifleinen : Wir kaken nack dem
Fnedensvertrag das Reckt, die Gesamtverpflicktung zu erfakren ; aker wir
kaken mckts gegen eine vorlaufige Akmackung. Was uns eine Wokltat
war, gaken wir wider willig als Gesckenk. Dieses unkegreifKck kukle
V erhalten trug erkeklick zum Sckeitera dieses Gedankens kei. Deutsck-
and sckwieg weiter. Dann kamen Ende Januar 226 Milliard en G old-
mar kforderung in 42 Jakren und 12 °/o Ausfukrabgabe — ein deutscke*
Nein von 4 Wocken Langc nut Protest, Sackverstandigengutackten usw.,
Am 1. Marz enoUick unser ganz ungeniigender Gegenvorscklag : 30 Mil-
harden verzinskare Goldmark, In den Stun den des Ultimatums kamen
zwei Vorscklige von Lloyd George; die Dauer der Annuitatsperiodea
zu erortern oder 30 Jakre je 3 MilKarden nebst 30 % Ausfukrabgabe
von Sendungen in die alliierten Lander. Verlegenkeit erzeugte den neuea
deutscken vorscklag: ein Provisorium fur 5 Jakre zu sckaffen gema£
den Pariser Annuitaten. Abbruck — Triumpkempfang in Berlin —
Ferien — unvorkereitet das Berner Interview mit glattem Umfall — 14Tage
Pause — wuraeloses Unterwerfen unter Hardings Sckiedsspruck, der
auuerst kalt ableknt und aucb die Vermittlung nickt einmal ubernimmt,
okwokl die Regierung nunmekr 50 MilKarden Goldmark Jetztwert oder
200 Gold -f MilKarden Annuitaten ankietet. Jeder Tag kringt eine neue
diplomatiscke Niederlage; „Okrfeige** urn ,.Okrfeige w ' stecken wir eia.
kis die Reparationskommission 132 GoldmilKarden Jetztwert fordert.
610
Jede angeregte Zwisckenakrion fallt unter Jen Tiack. Die Entente kotnmt
nut dem Einkeit-Ultimatum, vom 12. Mai ,,das Rukrgebiet zu beaetzen
una alle anacrn muttanscken MaKnanmen zu Wasser una zu Lande zu
«rgreiren, wenn Deutsckland die Bedingungen (Entwarfnung, Akurteilung
der Knegsverkrecker, Zaklung von 132 Goldmukarden, Sickerkeiten und
Burgsckaften) mckt annimmt \ Dann aker folgt der m Deutsckland kaum
beacktete folgende Satz : „Diese Beaetzung wird solange dauern,
kis Deutsckland diese Bedingungen c rf ul It kaken wird." Klipp
und klar wird also gesagt, dai? eine etwaige Annakme der Bedingungen
nack der Besetzung nickt die Zurucknakme der Beaetzung kerkeifukren
wird; sondern die Besetzung bleikt auf 36 oder 37 Jakre oder linger,
sic kleikt mindestens die nacksten Jakre. Man denkt nickt an die Wakr-
keit des Satzes, dau ea immer killiger ist, einer Ukerackwemmung durck
cine Regulierung der Flutflaure vorzukeugen, als erst die verwustende
Ukersckwemmung emtreten zu lassen und dann den Fluf? zu kanaksieren.
Aker wir katten ]a daa — teuerste Kakinett der ^^elt!
Auck keute nock ist man sick in unserem Volke mckt klar, wai
wir durck den Akkruck der Londoner Verkandlungen versckerzt kaken
und was jetzt von London aus diktiert worden ist. Der Gegen warts—
wert der Pariser Forderung von 226 Milliarden Mark ist 83 Milliarden,
dazu treten 12 °/0 Ausfukrabgabe; an Burgsckaften und Garantien war
ao gut wie nickta neues gefordert; nur die Zolle aollten ein ,j>esonderefl
Pfand" kilden. Daneken kestand fur uns akcr die gutbegrundete Aua-
sickt, die Jakresleistungen kerakzusctzen durck Verlangerung der Zaklungs-
friaten — auck nack dem Akkruck katte ein aolckes Angekot nock gute
Auasickten gekakt Ick weii? auf das bestimmteate, dai? Lloyd George
nock am 1. Mai mit einer deutscken Offerte in dieser Ricktung recknete.
Aker nicktfl geackak. Wie die Apostel an Ckriati Himmelfakrt gen
Himmel sckauten, so unsere Minister nack WaakingtoiL,
Die Panser Verkandlungsvorschlage kaken wir akgeleknt; wie stent
nun das Londoner Diktat aus? 132 Milliarden Goldmark mit 5°/o
Zins und 1% Amortisation zaklbar in 36 Jakresraten — jakrlick fast
2 Milliarden und 26°/o des ^^ertes unserer Ausfukr oder eine gleick-
wertige Leistung. Dazu aker treten nock folgende Sickerungen:
1. Deutsckland wird durck eine Garantiekommisyion der intern a tionalen
Finanzkontrolle unterstellt. 2. Die Zolle wcrden verpfandet. 3. 26°/°
anseres Ausfukrwertes wird verpfandet. 4. Eine Milliarde Goldmark
ist innerkalk 25 Tagen zu zaklen. 5. Auck „direkte oder indirekte
Steuern" konnen in Pfand genommen werden. 6. Die alliierten Mackte
611
kekalten sick das Reckt vor, auck mekr aLj 26% Auafukrausgake zu
erkeken kei Anrecknung auf una ere Sckuld. 7. Verpflicktung 2ur
Material- und Arkeitslieferung fur die Wxederkerstellung der zer-
etorten Gekiete. Diese Garantien sind die watkin sicktkaren Ver-
sckarfungen gegenuker den Pariser Vorscklagen; was sie lm einzelnen
kedeuten, ist unsckwer auszumalen. Ein wesentlicker Untersckied ke—
fltekt allerdings zwiscken Paris und London; er kann fur dte Zukunft
von kockster Bedeutung fur uns werden; Nack den Pariser Vorscklagen
sollten wir einen neuen Vertrag scklieisen; das Londoner Ultimatum
ist der Form nack nur die Ausfukrung des Friedensvertrages; diese
Ausfukrung ist je nack den Gesamtverkaltnissen zu andern — zu unsern
Gunsten, es kann auck sein zu unseren Ungunsten. Freilick war kei
einem neuen Vertrag eker fur uns die Mogkckkeit. sofort eine Linde-
rung zu erreicken als kei einem Diktat; das darf man me vergessen.
Ein anderer nickt genugend keackteter Untersckied kestekt darin, dal?
die Pariser Vorscklage uns eine gekundene Hockstsumme (85 Milliarden
Jetztwert) nannten und dal? das Ende der Zaklungen akzuseken war.
Das Londoner Diktat nennt zwar auck eine Hockstsumme (132 Milli-
arden Jetztwert). stellt es aker ganz in das Belieken der Entente (Art.
11) wie lange wir zaklen mussen: mit der Steigerung unserer Leistungs~
fakigkeit werden immer neue Bons ausgegeken. kis wir jakruck ca„ 8
Milliarden Goldmark aoKefern; das ist die Verzinsung und Tilgung von
132 Milliarden. Paris kegrenzte unsere Zaklungen, London legt uns eine
ewige Rente auf. Das Ultimatum recknet ganz kestimmt mit jakrkcken
Zaklungen von mindestens 3 MilKarden, welcke die Verzinsung (5 Iq)
und Tilgung (l°/o) von 50 Milliarden gewakrleisten. Jeder 3 MilKarden
ukersteigende Betrag wird zur Verzinsung der restierenden 82 Milliarden
verwendet, die ganz oder teilweise — je nack der Hoke unserer Zak-
lungen — in den Markt gegeken werden,
lm Widerstreit der Meinungen ist es wertvoll, gegenukerzustellen,
was in den nacksten lOjakren Deutsckland nack den unverander-
ten Pariser Vorscklagen und dem jetzigen Londoner Ultimatum zu
zaklen katte. Dabei ist entsckeidend die Summe des Wertes unserer
Ausfukr. Leider erkalt man kieruker immer nock keine amtkcken
Zaklen; das ist ein fur die Politik wie 6ie ^vVirtsckaft gleick unertrag*-
jucker Zustand. Alle biskengen Sckatzungcn sind ganz unsicker, da sie
zwei kedeutsame Momente mckt kerucksicktigen: einmal die durck den
ICrieg und die Blockade gewaltig vergrowerte Industriealisier -
ung Deutsckland?., die unsere gewerklicke Leistungsmogkckkeit trotz aer
612
Gebietaverluste in Jen meiaten Artikeln — nickt in alien (Koklea, Kali*
Eiaen aind vermindert) — erkokt kat; aodann den Umstand, aaL durck
das Steigen der Weltmarktpreiae der Wert der Goldmark keute
um ca. 50% geaunken 1st. Wenn Deutsckland keute dieaelbe Waren-
menge ausfukren konnte wie 1913, wurde es statt 10 Goldmilliarden
mindenstens 20 Goldmilliarden dafur erkalten. Dieser Ledeutsame Ge-
aicktapunkt tritt in den deutscken Auslasaungen fast volkg in den rlinter-
grund. Es ist zuzugeken, dai? ein Sinken der Weltmarktpreise die Lage
wiederutn verandert. In Betracbt kommt welter nickt in letzter Lime
der Umstand, datf durck eine rukige Weltpoktik auck die Weltwirt-
ackaft sick kraftigt, die Kaufkraft steigt und unsere Ausfukr sick keben
wird, Wenn ick fur das Jakr 1921 6 Milliarden Goldmark Ausfukr
ackatzungsweise einstelle* entferne ick mick mckt von der Wirklickkeit;
fur die nacksten Jakre darf ick mit einem rascken Aufatieg recknen —
immer rukige Weltverkaltniaae und keine Sanktionen vorauageaetzt. Daa
Jakr 1923 darf man bei dteaen Voraussetzungen mit bereits 10 MlLK~
arden Auafubr einsetzen. Daraus ergibt sick folgendea Bild der Forde-
rungen fur die nackaten 10 Jakre:
Jakr.: P a r is e r Vorschlage: Londoner Ultimatum:
1921 2 Milliarden -p {12°/ 2 Milliarden -f- (26 fl /°
von 6 Mill. Amfukr) von 6 Mill.)
0.72 Mill. ' = 2,72 1.56 Mill. = 3,56 .
Goldmilliarden Goldmilliarden
1922 2 Milliarden -f- (12% 2 MUliarden -r. {26%
von 8 Mill: Ausfuhr) von 8 Mill.)
0,96 Mai. — 2,96 2,08 Mill. = 4,08
Goldmilliarden Goldmilliarden
1923 3 Milliarden - (12% 2 Milliarden + (26°/ u
von 10 Mill. Ausfukr) von 10 Mill.)
1,2 Mill. — 4.2 2.6 Mill. = 4,6
Goldmilliarden Goldmilliardea
1924 3 Milliarden - (12% 2 Milliarden — (26%
von 11 Mil!.Au?fuhr) von 11 Mill.)
1.32 Mill. — 4.32 2.86 Mill. — 4,86
Goldmilliarden Goldmilliarden.
1925 3 Milliarden + (12% 2 Milliarden -p (26%
von 12 Mill. Ausfukr) von 12 Mill.)
1.44 Mil!. — 4.44 3,12 Mill. = 5.12
Goldmilliarden Goldmilliarden
1926' 4 Milliarden - (12°/° 2 MilHarden -J- (26%
von 13 Mill. Ausfuhr) von 13MU1J
1,56 Mill. — 5.56 3,38 Mill. = 5,38
Goldmilliarden Goldmilliarden.
1927 4 Milliarden + (l2°/ 2 Milliarden ~r (26%
von 14 Mill. Ausfukr) von 14 Mill.)
1.68 Mill. — 5,68 3.64 Mill. < — 5,64
Goldmilliarden Goldmilliarden
613
JaKr: Pariscr Vorschlage: Londoner Ultimatum:
1928 4 Milliarden + (12% 2 Milliarden + (26 7o
vonl5Mill.Aueruhr) von 15 Mill.)
1,80 Mill. = 5,80 3,90 Mill. = 5,90
Goldmilliarden Goldmilliarden
- 1929 5 Milliarden -f (12% ._ 2 Milliarden 4- (26% __
vonl6Mill.Ausfunr) von 16 Mill.)
1,92 Mill. = 6,92 4,16 Mill. = 6,16
Goldmilliarden • Goldmilliarden
1930 5 Milliarden + (12% 2 Milliarden + (26%
von 18Mill.Ausfunr) von 18 Mill.
2,16 MU1. = 7,16 4,68 Mill. = 6,68
Goldmilliarden ( Goldmilliarden
Die Gegenuberstellung zeigt, daf? in Paris der teste Faktor die
Vorkand katte, in London dagegen der keweglicke; sie beweist auck
Jal? die Entente mit einem rascken wirtsckaftlicktn Aufstieg Deutsck-
lands recknet; denn sie will uns nickt entgegenkommen. Wenn der
^iranzosiscne Stinnes" — Loucneur — reckt erkalt, und wir sckon 1925
eine Ausfunr von 25 Milliarden Goldmark batten, mufften wir nack den
Pariser Vorscklagen 6 Goldmilliarden bezaklen, nack dera Londoner
Ultimatum aker 8,5 Milliarden. 25 MilKarden Goldmark Ausfukr ist
nack den keutigen Weltmarktpreisen nickt mekr als kockstens 10 bis
12 Milliarden Goldmark im Jakre 1913. London nimmt also wokl in
den einzelnen Jakren mekr Rucksickt auf uneere Leistungsrakigkeit*
ralft uns aber insgesamt viel riicksicktsloser an als Paris.
Aker nickt nur rinanziell kaken wir das teuerste Kakinett ge-
kakt — auck politisck. Der Akbruck in London kat nickt nur in
eler ganzen neutralen "Welt uns sckwer gesckadet — Simons sak seine
Fekler immer ein, wenn er ins Aufland kam — ; er kat auck den all—
gem em erwarteten Friedensscklul? mit den Veremigten Staaten ersckwert
und verzogert; auck die neueste Verzogerung der Resolution Knox ist
zu be a ck ten, Amerika stekt keute mit beiden Fuuen im Lager der Ent-
ente. Aker das scklimmste Kapitel ist Okerscklesien. „Pans ist
eine Messe wert " — Okerscklesien nundeatens zwci. In London war
im Marz eine uns angenekme Losung der oberscklesiscben Frage anzu-
kaknen, wakreckeinKck auck zu erreicken. Heute weii? man» dau die
Entente uker Okerscklesien nickt entsckeidet, bis die Reparation ge~
regelt ist. Die Polen aker wollen nickt mekr warten und sucken
v»vollendete Tatsacken" zu sckaffen — mit Warsckauer Hure una
Pariser Duldung. Ick kin fest uberzeugt, datf die Rebellion in Ober-
ecliesien gleickzeitig mit der auf 1. Mai in Aussickt genommenen Be—
setzung des Rukrgebietes erfolgen sollte. In London aber bremste man
614
fur (las Rubrbecken; in Oberscblesien konnte und wollte man mcbt
mebr abblasen, um Berlin bandgreinicb zu zeigen, wie viele glubende
Eisen man im Feuer bat. Oberscblesien scbeint trotz der guten Ab~
Btunmung beute ernstb'cb fur una gefabrdet; es ging aber ganz sicber fur
una verloren, wenn Focb durcb das Rubrtal zoge una langer dort
bliebe* Der Verlust Oberscblesiens ist der sicbtbare Anf*ng der Zer-
trummerung des Reicbs. Andere Absplitterung und Loslosungen
wurden folgen, wenn an die militariscbe Besetzung die wirtscbaftlicbe
Auabeutung sick scblietft. Es nutzt nicbts, den Kopr in den Sana zu
rtecken; man bat beute nur kubl zu fragen und zu beantworten; wie
retten wir die Einbeit des Reicbs? Alles andere stebt in zweiter
Lime. Nicbt uber finanzielle und wirtscbaftbcbe Fragen wird jetzt
allein entscbieden; die Reickseinbeit stebt auf dem Spiel — ganz
wie in Weimar. Scbon damals wu£te man, daf? in 2 Jabren keine Re-
vision des Friedens zu erwarten sei — wokl aber spater. Die Zeit
bat seit 1919 fur uns gearbeitet, sie wird welter fur uns arbeiten, wenn
wir nur em einbeitb'cbes Rcicb bleiben urtd vernunftige Politik treiben.
Hasardpolitik ist immer unvemunftig und stets verwerflicb. Losen wir
una auf oder werden Teile abgesplittert — jabrelange Zollgrenzen und
wirtscbaftlicbe Ausbeutungen der besetzten Gebiete sind Abspbtte-
rungen gleicb zu bewerten — dann bilft uns keine veranderte Welt-
lage mebr. Ein balkanisiertes Deutscbland ist fur alle Zeiten obn~
macbtig. Werden wir jetzt national zerrissen, so ist die nation ale
Wiedervereinigung auf Jabre binaus unmogb'cb; wir werden immer
ecbwacber und ecbwacber — ganz der Spielball unserer Gegner.
Darum iat eine nationale. Einbeitsf ron t nacK autfen zu scbaffen:
gegen alle Reicbszertrummerer mussen wir uns wenden. Diesem groi?en
nationalen Gesicbtspunkt bat sicb alles andere unterzuordnen ■ — nament—
licb alle Parteipobhk; wie es Aie W^ abler aufnebmen werden usw. Es
bandelt sicb um das deutscb-franzosiscbe Rennen auf Let en und Tod.
Wer bait es langer aus' ein zernssenes, gemartertes* besetztes Deutscb~
land oder die brutale Macbt von Focb? Es sind die reicbsten Gebiete,
die uns entzogen werden sollen: fast der ganze Steinkoblenbergbau —
fast die ganze Hutteninduetrie — fast alle Stablwerke — fast die ganze
cbemiscbe Industrie usw. A^enn Frankreicb diese Scbatze und Werte
zur Ausbeutung zur Verfugung gestellt werden, ist seine wirtscbaftlicbe
und politiecbe Hegemome in Europa zunacbst gesicbert; es ist das reicbste
Erzland und bat nun Koble und Koks, um der grotfte Stablproduzent
mit alien Nebenprodukten zu werden. Eine wirtscbaftlicbe Volker-
615
wanderung nacli Westen wurde sick vollzieken: nickt nur das poutiscke,
auck das wirtsckartkcke Angesickt von Europa wurde sick verandern.
Una aker sind dann alle Macktmittel genommen, urn wirtsckaftlick zu
erstarken. AA^enn die Akleknung des Ultimatums nur die Beaetzung dea
Rukrgekietes kringen und damit die Reparationasckuld von una nekmen
wurde, ^vare die Entsckeidung erketKck leickter gewesen; aoer sie knngt
mckt nur die sckwer sckadigende Besetzung, sondern nimmt auck die
Sckuld nickt weg. Das Ultimatum sag* begreiflickerweise garnickts
daruker, welcke finanzielle und wirtsckaftlicke Matfnakraen nack der
Akleknung eintreten warden; dai? sol eke kommen wurden, ist nack den
Londoner Bespreckungen leider sicker. Ick tauscke mick auck daruker
nickt, dai? diese mindestens 3 Milliarden Goldmark ergeken werden,
also die Verzinsung und Tilgung der eraten 50 Milliarden Bons —
naturlick zu einem Nackteil unseres Volkea, wie er garmckt akzuaeken
ist. Die auck aufgeworfene Frage, ok niekt im Falle der Annakme dea
Ultimatums dock spater kei Verzug der Leistungen die Besetzung kommen
werde, kann keute von niemandem keantwortet werden; sie stekt auck
garmckt zur Entsckeidung. Man keackte aker genau, was in London
m politiackem Kampf urn das Rukrgekiet vor sick ging.
So klar der ^vVeg vom Standpunkt der Autfenpolitik gewiesen ist,
so unklar ist alles vom innenpolitischen Standpunkt. Zunackst rackt es
sick ungemein kitter, dai? die Frage der kayeriscken Einwokner-
wenr von der ukeraus sckwacken Regierung Fekrenkack-Simons ver—
sckleppt und widersp rucks voll kekandelt worden ist. Als ick im
Novemker 1920 kereits auf diese sicker kommende Gefakr falls Bayern
sick nickt fugen wurde, kinwies, regnete es eckt kayeriscke Sckimpr-
worte gegen mick: keute kat man die Besckerung. Wurttemoerg und
Baden sind okne Landessckietfen, Weitfwurstessen und andere Helden-
taten des killigen Auftrumpfens und Maulaufreitfens mindeatens so gute
v.Ordnungszellen" als Bayern, dessen Regierung in orfener oder ver-
steckter Rekellion gegen Reichsregierung and Reicksgesetze stekt. In
Bayern kerrsckt wieder einmal die gedaakenlose Pkrase, die dem
Reicksganzen so sckwer sckadet. Sckon im Novemker sagte ick zu
einem fremden Diplomaten, datf lokaler Ortssckutz, ausgestattet
mit Gummiknuppel und Stutzen gewii? aufreckterkalten werden
konnte, genau wie die Feuerwekr; er kejakte ea okne weiteres. Nur
Militarwaffen und Zentralorganisation wird mckt gestattet; auck fur
die Zwecke nickt notwendig, die man in Muncken angeokek erreicken
will. Fur den Eigensinn und die Kurzsicktigkelt einer Regierung Kakr
soil nun das ganze deutscke V oik leiden.
Parteipolitiscke Gesicktspuakte drangten sich am Sonntag und
Montag in den Ultimatumstagen atark in den Vordergrund. Es war
616
nicbt nur so, dais eine Fraktion ibre Stellungnabme von der der andern
abbangig macbte, son a em nocb cine andere Erwagung spielte eine groue
Rolle. Die Ablebnung des Ultimatums wurde als der ganz logiscbe
Scbritt der seit Januar betriebenen Politik des Protestes und des Nein-
salens bezeicbnet. Den Deutscbnationalen 'war der \A/ille gescbeben.
Blieb man dieser Pobtik treu, dann wurden dieser Partei alle die ver~
logenen Trumpfc der Agitation aus der Hand gescblagen; die Folgen
dieser Pobtik muKten sicb rascb einstellen. Die Annabme des Ulti-
matums wendete mindestens fur die nactiste Zeit die sebweren Ubel dei
Besetzung ab; aber solange konnte man kraftigst nationaustiscbe Ver—
betzung treiben. Darum sagten sicb mancbe; „Jetzt naben wir es satt,
immer den Rucken berzubalten, wenn eine groue Geiabr drobt. Laist
den andern die Entscheidung, da nur bierdurcb eine inner pobtiscbe
Gesundung zu erreicben! Diese aber sei mindestens so wicbtig und
bedeutungsvoll wie die Abwendung der Besetzung; ja mancbe Kreise
seben diese als viel notwendigere Voraussetzung fur den Wiederaufstieg
unseres Volkes an.
So fielen die ^ uriel nacb langem, langem Hangen und Zogern.
Die Volkspartei bat sicb zunaebst als regierungsunf abig erwiesen;
nacb ibrem ^A^illen wurde die Aulsenpolitik seit Januar geleitet; sie war
Cborfubrerm der unentwegten Neinsager. Mancbe ibrer Fubrer batten
den Mut, die Konsequenzen aus dieser Politik zu zieben; aber die
Mebrbeit der Fraktion ging nicbt mit. Die burgerKcbe Koalition zer-
bracb; die Sozialdemokraten mutften in die Brescbe springen mit alien
daraus sicb zu ergebenden Folgen im Reicbe wie in Preutfen. Man
spracb ja vor vier Wochen so viel von den konformen Regierungen;
in Preutfen aber bat die Koalition der Reicbsregierung eine sicbere
Mebrbeit. So ist am spaten Dienstag abend die Hauptgefabr durcb
Bildung der neuen Koalition gebannt worden.
Freilicb darf man sicb nicbt tauscben: die Hauptarbeit stebt erst
bevor. Die eiserne Zeit beginnt. In dieser unsagbar sebweren
Prufungsstunde mussen die sebweren Febler der jiingsten Vergangenbeit
taglicb rufen, wie man es nicbt macben darf, wenn man uneer Volk
retten will, ^^ieder einmal bat die Regierung erst der militarise ben
Gewalt der Gegner sicb gebeugt und damit dem Militaristen der
Welt neue ^A^arren geliefert — wieder einmal bat die ungluckselige
Zickzack politik seit Januar, die so ecbt nationalliberal war, una viele
Milliard en gekostet — wieder einmal bat die Scbaukelpolitik unser
Internationales Anseben sebwer berabgedruckt — wieder einmal
wurde in der ganzen AA^elt der Eindruck vcrstarkt, dai? Deutscbland erst
zablt, 'wenn die Faust an seine Keble druckt. Finanziell — wirtscbaftlicb
— poKtiscb — raoraliscb baben wir das teuerste Kabinett der Welt gebabt.
617
* * * DIEJUDEN
Wir siebzekn katkokscken Geistkcken kaben diese nackfolgende Er-
klarung verfaut una mit unsern Namen untersckrieben ; wir ubersenden
eie Iknen mit der Bitte um Abdruck in Ikrer Zeitsckrift, die wir mit
lebkafter Teilnakme lesen und deren Haltung und Inkalt uns die Gewifi-
keit geben, unsere Bitte nickt vergeblick zu stellen. Es wird ja der Tag
mckt mekr tern sein, an dem die Kircke ex catke'dra einen, dem Sinne
nack mit unserer Erklarung gleicklautenden Brief erlassen wird, und bis
dakin werden wir es geduldig ertragen, datf man unsere geistlicke Ver-
rassersckaft an diesen Zeilen kamisck anzweifle, diese fur eine Judenmacke,
oder wie eonst das Wort in diesem Jargon keitft, ausgebe. Was wir
zu erklaren kaben ist aber dieses. Es ist eine Folge der deutscken Nieder-
lage — die ein Volk getroffen kat, in nickts darauf vorbereitet, sie cbrist-
licb zu tragen — da{? ein solckes ltnmer nock waknkefangenes, zu keiner
reuevollen Einsickt bereites Volk, von Hal? erfullt, den Sckuldigen an
eeinem Sturze suckt, nickt an die eigne Brust in Demut klopfend, son-
dern auf ernes Andern Brust mit der Faust scklagend. Dieses aus Reick-
turn und Traumen vou nock groi?erem Reicktum in Armut erwackte und
gesturzte Volk suckt sick unter seinen Wort- und Gesckaftsfukrera,
seinen Leitern und Lenkern eine unmensckkcke Sckuldfigur, die sie mit
all den ubeln Fkcken und Lumpen ikrer eignen Verfeklungen und Laster
uberreick ausstattet, damit man mckt merke. dai? es selber alien diesen
Plunder des Lasters immer getragen kat. Menscken, deren ganzes Sinnen
auf Bereickerung durck alle Mittel stand, wollen nun, da sie
Ubelstes damit angencktet kaben, nicbt nur nicbt Verantwortung fur
mre Lasterkaftigkeit tragen, sondern sic stellen sick so, als ob sie es nie
gewesen waren, sondern — die Juden. Das Pogrom, sckamloser, von der
nerrsckenden Klasse in ostlicken Staatawesen fruker geduldeter, ja ge-
forderter Brauck, Regierungseinricktung fast, soil, nack den AA^unscken
einer in des Sturzes allgemeiner Verwirrung sick bei uns vordrangenden,
eigene Sckuld leugnenden und sick jrtaatsretterisck gebardenden Klasse vom
reicken Leuten, die es nock nickt genug sind, auck kei uns Institution
werden, dazu dienend, von Einsickt in eigeae Sckuld und Reue daruber
zu befreien, dazu kodernd, eines armen Volkes Besinnung damit zu be-
tauben, dai? man ikm zum Opfer kinwirft, worein es seine Zakne ver-
beil?e, seine Augen in Haf? bknd macke und das Herz sick weiter ver-
roke, damit der Blutweg, der fur die Herrsckenden so eintraglicke. nie
ein Ende finde. Es ist nun weder unsers Amtes, nock Zweck dieser
618
Erklarung, die Regierungen auf das Reden und Tun dieser Leute auf-
merksam zu macken, die una kier nur in einem einzigen, aber den wicn~
tigsten Punkte angenn, darin namlick, dai? sie sick aus unerfindlicnen
Grunden Christen nennen, denn sie sind worn, vielerlei, aber Onnsten
aind diese Leute mitmckten, welcke ganz in lkren. truben Las tern ver—
karrend den Juden als den bezeicknen, der allein und zum Sckaden der
Nickt-Juden diese Laster besitze. Nickt an die Nickt-Juden wenden
wir uns mit unsern Worten, sondern nur an die Ckristglaukigen, so lau
ikr Glauke auck immer sei, aker dock sei, an diese Ckristglaubigen und
an deren Fiikrer, unsere Bruder ira Amte der Seelsorge wendea wir uns
fordernd, datf sie jenen argen Leuten in nickts Folge leisten, die den Sturm
auf den judiscken Kassensckrank predigen, urn erne danack gierige Menge
vom eigenen akzulenken — ja, nickt nur nickt Folge leisten, sondern lkrc
Stimme dagegen erkeken; denn dieses kommt lknen vor allein zu, und 1st
es ikre keilige Pilickt, ikre Sutane nickt m diesen widerkcken, r alack en
und gefalsckten Kreuzzug »gegen die Juden* sckleiren zu lassen. Wie
/denn kann es em katkokscker Glaukiger und gar em katkokscker Pnester
xnit seinem Glauken vereinen, zu verlangen, dab em V oik vermcktet
werde, dem die keilige K.ircke durck fast zwei Jakrtausende ikren Sckutz
angedeiken lief?, und zu dessen Gunsten unsere allersckmerzkckste Liturgie
zu Gott am Karfreitag ketet? Aus welckem Stamme sind die PatriarckeiL,
Aie Propketen, die Apostel, die Evangeksfcen, die ersten Martyrer, okne
dal? wir zu sprecken wagten von der Heiligen Jungrrau und unserm Er~
, loser selker, welcker der Lowe von Juda -war und ein unaussprecklicker
Jude in seiner irdiscken Gestalt? Urn unsers Glaukens und seiner keiligen
Person willen ist es glaubens- und gottlos rur Ckristen, di: Vermcktung
eines Volkes zu predigen oder solckes s tills ckweig end zu billigen, vor dem
wir als einem der leidenvollsten aller Volker eker unser Knie keugen
muBten und unsere Lippen reinigen, bevor wir semen Namen ausspreckeru
wie einer der Dickter dieses Volkes, ein armer judiscker Sckneidergeselle
gesagt kat. Statt dessen seken wir ein angekkck gesittetes, ja sick ckrist-
lick nennendes oder gar auck glaukiges Volk wie Indianer das Kriegs-
jjeil sckwingen, urn die Juden zu skalpieren, weil sie, sie allein, sonst kein
Ckrist, kein Deutscker, kein Patriot, kein Stinnes und kein Krupp, auf
Gelderwerb versessen seien mit alien Smnen, wakrend diese Cknsten,
Deutscke, Patnoten, Stinnes und Krupp s franziskaniscke Armut sucken,
den Nacksten lieben, das Gewand der Bufe tragen und sick in Demut
vor Gott keugen — welck ein Sckauspiel, diese 60 Millionen Deutscke,
Patnoten und Cknsten, und nickts als armseKge Kneckte Gottes, von einer
619
Lalben Million Juden, nickts als reicken Juden, in Sklavenketten gekalten.
■und zum Satansdienst des Geldes gegen ikren Willen gezwungen!
Da/? die Tuden zum grotften Teiie die Depositare dies Reicbtums der
Welt sind — dieses Faktum zu erklaren und dessen Grund zu finden
kaben sick Okonomen— und Moraliaten, Psyckologen und Etknograp kea
verbrauckt und ausgegebea. Konnte nickt emfackere Losung darin liegen,
dal? sick dieser Reicktum als Fluck und Zeicken, uns zur Warnung, auf
die Juden gelegt kat? In den keiligen Sckriften des alten Bundes ist dae
Wort Silker ein Synonym und Bild fur das lekendige Wort Gottea,
dessen Depositare die Juden waren, bis sie es an das Kreuz scklugen —
um in ikrem weiteren zerstreuten Dasein das Simulakrum zu kekalten
als Leitstern ikres wandernden keiinatlosen Lekens. Und auck dieses
Simulakrum, das Geld, kreuzigen sie, denn solckes ans Kreuz keken ist
die Hockkaltung, die Isolierung des Geldes aus dem Leibe der Armen.
Gottes Fluck zwingt die Juden, das Geld zu konfiszieren.
Wem aker solcke Deutung zu mystisck ist, wem sie zu fromm ist,.
zu sekr im Sinne unsers Glaukens, dem bletbt nur eines: Beispiel zu geben
in der Milkcktung solcker Kreuzerkokung des Geldes. Va divitibus!
sagte der Erloser. ^Ver immer sick bereickert, der verkauft den Herrn!
Nur wer den Leib und das Blut unsers Herrn Jesu Ckristt verkauft,
kann reick sein, nur der! Jene, unsere Bruder, dienen Gott nickt, welcke
die Messe bei Pontius Pilatus lesen, aber ikre Sutane keben, wenn sie in
den Stall von Betklekem treten. Sie wollen ikren Klienten — und das
Essen bei ikm — nickt verlieren, dem sie eagen, Jesus kabe jenes Wort
nur von den scbleckten Reicken gesprocken, und die guten Reicken seien
ikm durckaus angenekm. Auf welcke Exegese der Reicke gern so gut
ist, ein Wokltatigkeitsfest zu arrangieren, bei dem fur den Armen der
SckweiJ? der Tanzer in Stromen fKetft. Es ist wakrkaft dieser gute
Reicke der reckte kose Reicke, denn er klekt uber die Armut, diese
fKetfende Wunde an des Herrn Seite, ein Pilaster, damit man die
Wunde eine Weile nickt sebe.
Die von den Juden als den bosen Reicken sprecken, mogen dock grund*
licker sein! Aker sie sind, alle diese Antisemiten und NationaKsten, nur die
erkitterten Konkurrenten^ die besseren Zugang verlangen zum goldnen Kalb*
das sie anbeten wie diese Juden auck. Gebt das Beispiel! Gebt das Beispiel^
das allein beweisende, dai? ikr, die Juden kassenden Ckristen, nickt Juden
seid oder sein wollt, das Beispiel im Glauben wie im Tun. Damit er~
lostet ikr die Welt und die Juden von ikrem Flucb.
620
stefan sz&celi HERR THEATERDIREKTOR
Er: * Vor allem mockte ick kemerken, dal? ick die Wunscke der Autoren
stets in Ekren kalte; ick rede iknen nickt drein, ick versteke mckts
von Literatur, ick weil? ganz gut, daf? ick ein Esel kin, ein alter
Blodian, der sick nur aufs Gesckaft verstekt . . . aber daraur
wenigstens ordentlick. Das sage ick klotf, damit Sie keine Angst
zu kaken kraucken, datf man in meinem Tkeater auck ins Stuck
kineinredet, dai? man iikerkaupt irgendwie den Autor zu keeinrlussen
suckt, kesonders den Autor ernes so guten Stuckes,
Ick: Jawokl.
Er: Tj'a. Das wollte ick Iknen nur sagen. Sie konnen ganz rukig sein :
ick kin nickt so, wie die anderen Direktoren, die immer mit allerlei
Einwanden und Vorscklagen ankommen, zum Beispiel wegen der
Primadonna mu#te man nock dies und jenes, oder es ware kesser
so oder so, und dal? der jugendlicke Liekkaker lieber kieruker und
daruker; wie gesagt, so etwas dulde ick nickt, ick erlaube so etwas
nickt, so etwas gikt es kei mir nickt. Denn wer immer was immer
auck redet: ick weii? am kesten, dal? ein gutes Stuck immer em gutes
Gesckaft ist, und ein gutes Stuck ist nur dann ein gutes Stuck,
wenn der Autor es. gut gesckneken kat.
Ick: Jawokl.
Er: Und wenn das Stuck gut ist, dann lasse ick es spielen, auck wenn
es kein Gesckaft ist, zum Teufcl nockmal! Denn die Hauptsacke
ist die Literatur, und auck das Niveau; ick bin nickt so, wie die
anderen Direktoren,
lck: Jawokl.
Er: Na, seken Sie. So ist das auck mit Ikrem Stuck. Sie kaken das
Stuck gut gesckneken, und da soil es auck gut kleiken. Da darr
man nickts andern. Und mag auck der Regisseur kommen, und der
Dramaturg. und die Lya Lo, und der jugendlicke Liekkaker, und
der Logenscklietfer, und wer sonst nock will; ick lasse Iknen nickt
dreinreden.
Ick: Jawokl.
Er: Nem, und nockmals nein. In solcken Sacken versteke ick keinen
Spatf. dal? Stuck kleikt, wie es ist; der Bankdirektor keiratet zum
Scklul? das Sckreikmasckmenfraulein, das ... v
Ick: Verzeikung kitte . . .
621
Er: Wie kitte?
Ick: Verzeikung kitte, der Bankdirektor keiratet dock zum Scklutf gar-
nickt das Sckreikmasckinenfraulein, sundern . . .
Er: Was! Der Bankdirektor keiratet nickt das Sckreikmasckinenfraulein?
Ick: Nein, pardon, das ist ja gerade der Kern — das Mark des Ganzen . . ,
Er: Was fur Mark?
Ick: Das Mark des Stuckes, das . . .
Er: Ikr Mark vielleickt, aker nickt das Mark des Stuckes. Ist denia
so was sckon dagewesen? Der Bankdirektor soil mckt das Sckreib-
maackinenfraulein keiraten?! Sie kaken wokl den Verstand ver-
loren, junger Mann?! Sie denken dock nickt etwa, dai? tck in
meinem Tkeater ein Drama spielen lasse, worin alle Leute gegen
die Wand rennen, — oder wenigstens gegen die Kasse, um ikr
Eintrittsgeld zuruck zu verlangen?! Neee, ausgescklosscn, der Bank-
direktor keiratet das Sckreikmasckinenfraulein, keziekungsweise die
Film diva ...
Ick: Was fur Filmdiva?
Er: Das Sckreikmasckinenfraulein wird inzwiscken fur den Film ent~
deckt. Sie lilden sick dock nickt ein, dai? sie Iknen zulieke drea
Ak*e lang im Buro kocken wird? Was? Das Sckreikmasckinen-
fraulein wird im z. eiten Akt von dem grotfen Filmregisseur entfukrt . .
Ick: AVas fur Filmregisseur?
Er: Den Sie als LekramtskandicUten gesckrieken kaken, Sie Kamel; Sie
glauken dock nickt etwa, daf? die Lya Lo sick mit einem Lekramts-
kanditaten einlatft?
Ick: Aker, ick kitte . . .
Er: Sie kaken gar nickte zu kitten, sondern merken Sie sick, dai? die
Dame von Welt, die Sie zur Bankdirektorsgattin protegiert taken,
sckon im ersten Akt den Pfad der Tugend ketreten kat und ins
Kloster gekt, denn das kraucnt man der Rukrung wegen, und dai?
die Aktien, die eckon ganz sckleckt gestanden kaken, zu steigen
keginnen . . .
Ick: Um Gottes willen, wessen Aktien?! . . .
Er: Die Aktien des Tkeaters, Sie Unglueksseliger, was dackten Sie
denn?! Meinen Sie vielleickt, da£ man das Tkeater zu Ikrem
Vergnugen erkaut kat?
(Am. itm U»tfari*ck« ifeewetat tM BiAk« FrieJmft»«.>
622
hugo markus GEDICHT AUF E1NEN LEHRLING
Dcr Lekrling Heinricli. An einem blaublauen Julitag zwiscken
den weitfen Figuren der Brucke; Verkauferin mit drei Korben Rosen.
Er kauft beide Armc vollcr Rosen. Hebt sie gegen den blauen Himmel
in den Farbenakkord blau-rosa-weii? binein. Er batft Bouquets. Er
liebt leidenscbaftlick Kruge nut bundert von derselken Blume. Er hat
das Gefukl; an solck einem blauen Tage mui?tc man beide Arme voller
Rosen diese kreidekleicker, vor Hitze itakeniscken Stra&n kingebn und
alien unbekannten Madcken eme Rose zuwerfen. Allen schonen Mad-
cken und den nicktsckonen auck, damit sie durck solck eine Zartlicbkeit
erklukn. O. Heinrick Lat manckmal auck baccbantiscke Gedanken.
Aber ibm let es mcbt genug, das zu denken; so etwas denken an einem
blauen Tage vielleickt alle Menscken. Aber keiner tut es. Man mufte
es tun. Die Kluft zwiscken Gedanken und LebeD mu# versckwinden.
Und er will ee tun. Er bat einen solcken "Wunsck. Sckonkeit mckt
nur in Buck em zu lassen; er will die Poene nerausreitfen aus der Poene
ins Leben. Er sckuttet seine Borse vor der Verkaufenn aus, okne zu
fragen. Fiir Rosen fragt man mckt nack dem Preis. Und dai? ikm
das Geld morgen feblen wird, ist eine Sckonbeit mekr. O, er let sekr
ubeimutig. Nuu er ab«r die bleicke Strafe gekt, und die sckonen
Madcken zwiscken den weitfen Denkmalen des Belle-Alliance Platzes
kommen, let er sick mckt sckon genug zu dem, was er plant. Ein
Sckonerer katte das gedurft, er mckt. Er konnte nickt lekendigen Fruk-
kng darstellen, Statue des F rub lings sein, obwobl Frukling genug in ikm
war. Etwas traurig gekt er weiter. Scklie^lick iaiTt er den Entscklutf:
er wird einem Madcken alle Rosen sckenken. Nickt eine Rose
vi el en, eondern viele, alle einer! Symkol seines Leben 8 soil das sein.
Er kommt an der Portierswoknun| vorbei, wo das Kind mit dem
mngcputzten Naecken zukause ist, mit dem er sick angefreundet kat.
Em sckwangeres Madcken, die Sckwester jenes Portierkindes, stekt vor
der Tur. Da gekt es ikm durck den Sinn, dai? sie sick an der Rosen*
sckonbeit verseken soil. Und ein sckones Kind davon kekommen, sein
Kind sozusagen im Geiste. Madonna, die dort mit dem ke ill gen, wie
Ckristus vaterloeen Kind*. Vielleicbt wird es ein Madcken, dem man
Rosen knngt. vielleicbt ein Knake der wagen darf, Rosen zu kringen.
Aber das schwangere Madcken mackt ikm im Wozu-Ton ernst und
traurig Vorwurfe uker seine Versckwendung. S«klielflick kauft er seine
Rosen fur seine letzten zckn Mark von ibr zuruck und gekt weiter
623
Da stent er vor em em wundersckonen jungen Menscken seines
Alters. Errotend vor Sckam, Neid und Bewunderung fa(?t er den
nesigsten Entsckluf? seines Lekens, wie ikn deuckt. Und wirklick ist
ee etwas ganz GroSes ja Ubertnebenes, das kleinste so Unkonventionelle
zu tun. Erkittet den Sckonen, dal? er sick zum Frukling steigere und
rosenkringend durck die Lande, durck die Stratfen zieke an seiner statt.
Damit Sckonkeit sei, damit Sckonkeit in der Wirklickkeit werde. Er
will ikn dafur lieken, Er kofft kei ikm auf intuitives Verstandnis ; ist
der Andere mckt auck jung? Und okendrein sckon, also doppelt jung ?
Der rremde Junglmg aker sagt, da{? er keine Zeit kat, weil er zum
ruisballkluk mui?. Dann siekt er Heinrick kalt an, Perversitat kei iktn
vermutend. Das shmmt auck! denkt Heinrick, den Blick sofort ver—
stekend, denn lck Leke die Sckonkeit, aker nickt das Gesckleckt. Und
aur diese Weise, wenn man so will, keide Gesckleckter, weil eken uber—
naupt mckt das Gesckleckt. ^A^emgstens in dieser Stunde nickt.
Heinrick kommt nack Hause: keide Arme voller Rosen. Ist kei
ikm em Fest? Nein, gegenteils. Er kat ukerall Aksagen kekommen:
von sick selbst, von lkr, von ikm. Niemand kat ikm seinen Reicktum
abgenommen. Niemand will die Rosen auck nur gesckenkt kaben*
niemand sie durck die Welt tragen. Heinrick f Gilt: alle Kruge
seines Zimmers (nickt Vasen!) mit den Rosen. Und plotzlick ist
ikm festlick, scklagt ikm das Herz. Ikm ist als mutfte keute nock
das Madcken kommen, das er nirgends getroffen kat, das Madcken
dem er alle seine Blumen geken mockte. Alles ist ge3ckmuckt. Alles
ist Aknung von lkr und Verkeitfung, der ganze Rautn duftet nack ikr,
die es mckt gtkt, atmet eine Akwesende. Und in seiner Gedankenstille
zwiscken so uppigen Blumenopfern wird er ani Ende fur sein eigenes
Gefukl auf ein ^Veilcken zum jungea, spatromiscken Kaiser Heliogakal,
wokl wert jenes Madckens, das er nickt well?, das nur in des Raumes
Verkeitfung lekt.
Da scknllt drau#en Glocke. Botsckaft vom Gesckaft. Dort ist
grower Arger kei der Akendsckickt. Heinrick kat falsck ins Wackter-
kuck fur den Nacktdienst eingetragen. Tobelmaier, der an der Reike
war, ist mckt ersckienen : Da mutft nun selkst kommen und den Nackt-
dienst zum Sonntag kesorgcn; gesckiekt Dir auck ganz reckt! ruft ikm
der Kollege eikg zu, der die Botsckaft kringt und ist ' kereits weiter-
gewekt, seinen Sonnakendakendfreuden entgegen.
Heinrick findet auck, Aa.Q ikm ganz reckt gesckiekt. Nackts im
Dunklen denkt er an sein Zimmer. Ein Zimmer ist festlick gesckmuckt,
624
un
man
'" i Zimmer stekt voller Rosen. Aker niemand verweilt in Jem Zimmer.
j ed a .s leere Zimmer gekort dem grol?en Niemand, gekort Gott, dem
bekannten Gotte. Wie seltsam, sick sein Zimmer vorzustellen, wahrena
abwesend ist. Und die Mobel kalten inne, kalten den Atem an
und warten. Jedes leere Zimmer gekort dem unbekannten Got*. Jedes
leere Zimmer gekort der Erwartung. 1st die Erwartung der unbekannte
Gott? — Plotzkck deuckt ikn, so allein und sick selkst unsicktkar in
dem grotfen dunklen Fabrikraum, als sei da auck keiner. Als set er
uberkaupt nickt anwesend. Als sei er selbst Niemand, jener grobe Nie-
mand, dem alle leeren Raume der ganzen Welt gekoren, aur den alle
leeren Raume der ganzen Welt warten, auck seme feme, rosenge—
sckmuckte Stube. Plotzlickes Glucksgerukl gegen Morgen: aur Dick
wartet wer ! — Dein Zimmer !
stefan grossmann REINHARDT AM SCHEIDEWEG
lck ennnere truck ernes Gesprackes nut Victor Adler, dem Aller—
wetsesten, worm er die Jakre von vierzig bis runrzig besonders rukmte.
„Es sind <lie beaten Arbeitsjakre " sagte er, „man ist nickt mekr so sukjektiv,
man siekt den Anderen, der Unterleik meldet sick nickt mekr so storencL
Es kommt eine gesunde Stetigkeit in die Arbeit." So sprack em un
Grunde karmomscker, em gluckkcker Mensek. (Wie vxel Gluck katte
Victor Adler bis zu seinem Tode! Er sak nur den Zusammenbruck des
Alten, erlebte den ersten Triumpf der Sozialisten und wurde vor dem
ersckutternden Versagen des europaiscken Soztalismus gnadig weggerarit.)
Ja, so sprack ein gliicklicker Mann. Die vierzigerjakre konnen
namlick auck die kntiscke Epocke des Mannes sein, 1m Besonderen ist
es die geiakrlickste Epocke 1m Leben der Manner, die nickt altera wollen.
Sie sollten den groKen Stnck unter lkr Jugendzeitalter tun, indes treibt
es sie, eine zweite Jugend zu erstreben, zu erleben, zu erzwingen. Sie
sollten lkr Werk an Stetigkeit ausbauen und eine qualende Unruke
zwmgt sie, reizbarer und emprindncker als je, ibr Oeuvre 1m Stick zu
lassen, nut dem kunosen Geiukl der Zwanzigjakngen 1m Herzen: Ich
kaue Neues aur. Zu diesen Gerakrdeten der vierzigjakre gekoren vor
allem die ICunstler. (Eine Statishk der besten ICunstlereken wird er—
geben, dab m den V lerzigerjakren die kockste Sckeidungszifrer erreickt
wird.) Man denke an em Goetkewort, „Mein Leben war ; eine Folge
von Pubertatsepocken". Die Pukertatsepocke in den Vierzigerjakren ist
gerakrKcker als die erste und zweite. Ganz leise sckimmert von Ferae
625
die Aureole leiser LacLerucLkeit — fur den ZuscLauer — Burger, nicLt
rur den Handelnden selLst, den Kunstler. Der eiebzigjaLnge GoetLe
aer Ulnke lieLte, 'war fur sicL selLst nicLt lacLerlicL una ist eg rur
una Leser nut mcLten. ALer der Kellner in den LoLmiscLen Badern
mi^ Llode gegrinst taken, —
ReinLardt lat Leute in der zweiten Halfte der VierzigerjaLre. Icb
LaLe aus der Entfernung den Eindruck, als wurde lLm das erste Altera
micbt ganz leiclit. Es ist cine merkwurdige UnruLe und ZerrissenLeit
in lLm. ZiemlicL plotzlicL Lat er sick entscLloeeen, seine drei TLeater
in Berlin an Felix Hollander zu geLen. ELenso plotzlicL LescLlol? er,
Hollanders Direktion zu fundieren. Er ist als Besitzer und sonst nock
am AA^onl und ^A^ene seiner Berliner Tneater Leteiligt. DsnnocL ist
er m Berlin nur menr ein Gast. Er wollte un Ausland als Regisseur
tatig sein, erne zicmlich unglucklicLe Idee, weil der Regisseur an die
Spracne geLunden ist, m die iLn sein ScLicksal gestellt Lat. Es karo
bisner nur ein Operettengastspiel in KopenLagen zustande. Bis gestern
natte ReinLardt den Film (Lis auf ein einziges Experiment) perLorresziert,
er war dem K.mo gram. Der Film Lat lLm sein EnsemLle zernssen,
aer Film zerstort in Berlin alle recLtscLaffene ProLenarLeit. Plotzlicn
nort man, dal? ReinLardt von der starksten deutscb-amenkaniscLen Ge-
flellflcLaft mit einer Millionengage engagiert ist. Daneben laboriert er an
dem Salzburger Projekt, Lei dem sicL, nacL und nacb, allerlei tuckiscne
Hindernisse erneben. Und scLliefflicn ist es gar nicLt ausgescLlossen,
Jai? er wirklicL einmal ein LitfcLen im BurgtLeater arLeitet, nicLt nur
mit Berliner Darstellern, sondern vielleicLt sogar mit den ScLauspielern
dee BurgtLeatere, eoweit er mit iLcen und ale mit lLm Kontakt linden
Und von ferae lockt Amerika.
Da sind ein Lil?cLen viel Plane. Das Ledeutet Leben in Berlin*
>Vien, Salzburg, KopenLagen, morgen wabrscLemlicL aucL m New York
una in den amenkaniscLen Prarien. SeLr lockend, sebr aLenteuerreicK
anzienend genug fur em en ZwanzigjaLngen. Fur den V lerzigjaLngeu
Ledeutet die Fulle der Projekte vorerst Zersplitterung, zum Ten Ver—
aacnlassigung, vielleicLt sogar Vernichtung des Leutigen Besitzes,
Dze ReinLardtLuLnen, gewii?, verdanken iLm aucL heute mancnen
0cLonen Abend. Dai? mul? geletfentlicn, nicLt sekr gerne, sogar die
Berliner Kritik anerkencen, diese Kntik, die ja seinerzeit sogar ein en
literariscLen conunis voyageur, wie Barnowsky, gegen iLn auszuspiele*
versucLte. Aber ganz unbegrundet ist dieee Reserve der Kritik dock
nicLt. Sie fukJt gaaz deutlicb: ReinLardt ist nur meLr mit LalLem
626
Herzen in Berlin, er ist stets auf Jem Sprung, ibm zu entflieben, die
Ebe mit Berlin ist in Scbeidung begriffen. Wer aber mocbte mit dieser
StaJt, die das vergetflicbste, also undankbarste Publikum bat, cine Liaiaon
eingeben? In dieser kritiscben Zeit tat Reinbardt in Leopold Jessner
einen grotfen Rivalen erbalten. dem Publikum und Kritik mit der Hitxig-
keit der ersten seebs Monate bulcligen, viel bei&r buldig.n als dem einst
,.Napolebn der Bubne*" Genannten. Das alles fnft an der Seele. Man
kann getrost propbezeien: Die Entfernung Rembardts von Berlin wird
nocb mebr wacbsen.
Wird er im Burgtbeater arbeiten ? Icb mocbte es bezweifeln. Solcbe
Arbeit mui? ganz oder garnicbt geleistet werden. Zwei MonatC al»
Regisseur berumgasteln, das lai?t sicb selbst dies brucbige Burgtbeater
nicbt gefallen. Das wird keine frucbtbare Umarmung, das wird hloS
an Gelustel und Gemocbte.
Salzburg? Icb wage nicbt zu propbezeien. Aber da ist an grotfer
sctwer dirigierbarer Verein, da ist eine Lokalpartei von einiger Provinx—
entscbiedenbeit, da sind allerlei baubebe Hindernisse. Es wird Stetig-
keit und Zabigkat notig sein, diese AA^iderstande zu uberwinden, Stetig-
keit. Max Reinbardt!
Aber der Film? Icb gebore nicbt zu den Facbsimpeln, die glauben*
weil Reinbardt einmaL, vor Jabren, einen Film, fur den ibm ein zaembcb
angweibges Bucb geliefert wurde, ibm nur zu sebwacbem Erfolg bracbte,
werde er aucb kunrtigbin furs Kino mcbts Au&rordentlicbes leuten.
Das ist Unsinn. Lubitscb ist Reinbardts Film kind. Und wer wissen
will, wie man Reinbardtscbe Regie~Einfalle auf die Lei n wand bringen
kann, der sebe sick den neuen Dan ton- Film an, in dem Reinbardt* In-
szenieruiig ziemlicb ungeniert — — — verwertet wird. Nein, ick bin
vielmebr uberzeugt: Reinbardt wird im Film sebr act one, fabeltaft be—
wegte, ja grandiose Bilder scba&en, man mui? ibm nur die ricbtigen
Bucber einbandigen. Dann -wird der Vater den Sobn, wird Reinbardt
Lubitscb uberlupitscben. Freib'cb, ganz leise gefragt : Lieber Max Rein~
bardt, ist dies ein Ziel? . . . Wabrscbeinbcb, denn e* kann Milliooen
bringen;
Ein Kunstler in den Vierzigerjatren stent am Scbeidewege, Ebe-
sem nabm Reinbardt den Film cyniscb und das Tb eater ernst. W^ird
er nun den Film ernst und das Tb eater cyniscb nebmen? Hat er aucb
den Glauben an die Zukunft des kunstleriscben beutigen Tbeaters ver-
Joren? Er ware, wabrbaftig, nicbt der Einxige.
627
CARL STERNHEIM FAIRFAX
VIII.
Hicr aber batte er wirkliche Sensation!
Scbon nacb acbtundvierzig- Stun den merkten Daisy und er,
obne nocb mehr als einen Spaziergang durcb die Lauben der
Hauptstrai?e an mittelalterlichen Brunnen vorbei erlebt zu baben,
dies Land und Volk unterscbied sicb von alien kultivierten menscb-
licben Gemeinscbaften, die sie geseben batten. Hier gab es samt-
licbe Voraussetzungen nicbt, die sonst unbedingt herrscbten.
Hier wollte offenbar kein Mitbiirger auf den anderen wirken,
keinen Eindruck durcb Besonderbeit scbinden, wodurcb Larm,
Scbreien, Gestikulieren, alle grelle Farbe, scbrille Dynainik, die
kostete, gespart wurde. Hier gab es — in einer Demokratie! —
wie keine menscblicben aucb keine Standesvorurteile, berrscbte
kein eitler Geist kleiner Kreise, sondern alles Volk dacbte
dreispracbig — unisono. Wodurcb anstelle tausend taglicber er-
habener Dummbeiten Einzelner Eindruck einer Totalvernunft trat,
was pbantastiscb wirkte.
Fairfax und Tocbter batten GewiiTbeit, bier seien sie menscb-
licbe Gimpel, Excentrics, Peripberiscbe und kamen sicb komiscb
vor, als sie saben, ibr Reicbtum berecbtige sie zu nicbts vor
anderen, weil es nicbt nur keine Statte. ibn zu zeigen, gab, aber
aucb alle Gegenstande feblten, ibn fur sie auszugeben. Nicbt ein~
mal das kleinste Andenken an Wilbelm Tell war zu kaufen!
Daisy fand sicb im scblicbtesten Pariser Kleid auf f alien d und
kaufte Regenmantel und Galoscben. Die Sioux bekamen Haus-
arrest und durften sicb auf der Strafe uberbaupt nicbt zeigen.
Aber es war Fairfax erwiesen, die Scbweiz aus solcben grund-
satzlicbem Gegensatzzu aller umwobnendenWelt spiele aucb keinerlei
Rolle in Wirklicbkeit, sondern sei Eiland anderswo nicbt moglicber
menschlicber Haltung, dem keine europaiscbe Bedeutung zukommen
konnte. Im Gegenteil werde sie es alsbald scbwer genug baben,
solcbe freie Einzelbeit zu verteidigen und zu bebaupten.
Fur ibn, seine Ziele und Weltanscbauung war sie nicbt nur
uninteressant, docb geradezu langweilig. Er reiste ab.
Um in Salzburg anzukommen und vor grotferer Uberrascbung
zu steben.
Er batte docb Zeitungen gelesen, in denen vom bsterreicbiscben
Elend spaltenlang die Rede gewesen war. Er erinnerte sicb genau
der fettgedruckten, scbreienden Aufscbriften, die die Not mit
kreiscbendenWorten gekundet batten, und war vorWirklicbkeit 3tarr
628
Zum erstenmal begann er, am endlichen Einfluf? der Presse,
der bis dabin in seiner Weltordnung festgestanden hatte, zu
zweifeln, da er bier den Abgrund zwischen konkreter Wirklich-
keit und Zeitungsberichten uber sie vergleicben konnte. Impulsiv
drahtete er seinen Propagandachefs, auch Plexin, die fur Zeitungs-
reklame ausgeworfenen Summen urn secbzig Prozent zu kurzen.
Vor allem aber stunde er endgtiltig vom Ankauf der einundsecbzig ibm
angebotenen franzosischen Tageszeitungen und Wochenschriften ab.
Als er am ersten Mittag in Salzburg mit Daisy durch schlamm-
aufgeweicbte Stratfen zu jenem nabem Stadtplatz am Dom schritt,
vor dem beute der beriihmte Scbauspieldirektor das mittelalterlicbe
Passionsspiel auffuhren sollte, stellte er fest, die Menscben starben
stebend auf der Strafe.
Und gerade das war das Erstaunliche, daf? sie sich nicht ein~
facb mit letztem Seufzer friedlicb in den Schlamm und alle Viere
von sicb streckten und verreckten, sondern in ihrem Blick noch
stolze Leucbte der Verzweiflung stellten, ebe sie um die nachst^
Ecke in ibr Ende wankten. Pbantastiscb die Lappen, mit denen
sie ibre BloI?en deckten, grotesk, was sie auf Haupten und an Fii#en
trugen. Daisy und Fairfax waren ganz verstummt und grau und
meinten, mitten in der Holle zu steben,
Daisys flehendem Blick, umzukehren, begegnete Fairfax mit
Hinweis auf den Kathedraleplatz, wo sich grotfartig Phantastisches ,
vorzubereiten schien. Sie traten bin und nahmen auf Tribiinen
ibre Platze ein.
Vor den offenen Kircbenportalen war die Biibne aufgeschlagen,
und der erste Mime trat im Augenblick aus dem Dominnern ins
Freie, als samtliche Kirchenglocken der erzkatboliscben Stadt auf
Befebl des Biscbofs vor einem Publikum zu lauten begannen, das
Fairfax mit einem Blick zu drei Vierteln als Israeli ten, zu einem
Viertel als internationale Snobs erkannte, die iippige Toiletten
und feistes Fleiscb in heitfe Sonne spreizten.
Rings um den Platz aber lungerte das zerlumpte Volk und
nielt sicK an gespannten Seilen hoch.
Daisy zog den Vater am Rock, der aber war geblendet. Solcben
Kontrast batte er noch nirgends gekostet und, hingerissen, genof?
er ihn. Diese Salzburger Festspiele waren Kost fiir starke N erven
und gaben von einer Spannfahigkeit des europaischen Herzens Be-
weis, gegen die seine, selbst mit Indianermilch gefiittert und erst
recht die aller Amerikaner noch immer gering war. Hatte er sich
manchmal gestanden, er sei doch wobl aus Stahl gemacht, mutfte
er hier zugeben, mit Europa Schritt zu halten, miisse er das Meiste
noch hinzulernen.
629
Als aber der beftigste Eindruck verwunden war, und Daisy
plotzlicb an seiner Seite nicht mebr sal?, rif? er sicb von dem mit
raffinierter Kunst abscbwirrenden Spiel los und suclite sein Kind
hinter den Tribiinen.
Gerade kam er— zurecbt, einen-Skandal zu scblicbten, der an-
gesicbts von Ort und Umstanden leicbfc\batte beikel werden konnen.
Einen scbreienden wiitenden Volksbadfen sab er um Daisy, den
er durcbbrecben mufite, um seine Tocbter bei einer leeren Droscbke
2U finden, deren Pferd. unsagbarer Klepper, als Sack tot zu
Boden lag.
Daisy, in vom Kutscber unbewacbten Augenblick, batte dem
berben Falben eine so groi?e Morpbiummenge aus ibrer Spritze
scbnell in die Weicben gejagt, datf er glatt bingefallen war umd
seinen Atemrest als Wolkcben ausgeblasen batte.
Ein Dolmetscber versicberte immer wieder der Menge, die
junge Dame babe den Anblick des um Erbarmen flebenden ver-
hungerten Gescbopfs nicbt mit anseben konnen. Sein Jammer, als
grotfter im verbeerten Europa gescbauter, babe ibr das Herz zer-
fleiscbt und sie zur Tat augenblicklicb bingerissen.
Fairfax wortlos, streckte eine Hundertdollarnote von sicb
Aber sei's der Anblick solcben Geldscbeins raubte dem Besitzer
des Tiers den Verstand oder er war scbon vorber nicbt bei Trost
gewesen, er scbrie, ein vtber das anderemal aufscblucbzend, nicbt
Geld sei, was er wolle und nicbt diese Scbatze Arabiens. Sein
Roi? babe er geliebt, sein Rotflein, braunes Peterlein, das einzige
Wesen, das ibm auf Erden nocb nabegestanden und genau wie
er und alle Umstebenden — bier macbte er grotfe Geste — ein
Recbt auf diesen unvergleicblichen osterreicbiscben Sckmerz in
Ganze bis zum natiirlicben Ende gebabt batte. ^vVozu Vo!k murrte,
scbnob und naeb vorn scbob.
Da aber wurde plotzlicb aucb Daisy bysteriscb. Vor dem
alten Mann fiel sie in die Knie und bat weinend, um seine cbrist-
licbe Verzeibung.
Und wie Atem des Himmels berubigte augenblicklicb diese
Gebarde die erregte Menge: es bob der Kutscber die Scblucbzende
auf und kiii?te erst sie, dann das tote Pferd zartlicb auf den Mund.
Ernst und ergriffen ging alles auseinander. Daisy immer
weinend, an des Vaters Arm, der verdutzt, das Ganze sinnlos und
autferbalb der Zusammenbange fand.
Und der nocb gleicben Abends mit Suite nacb Miincben
entflob.
(Fortaetzuntf foltft.)
630
AUS DEM TAGEBUCH
CASANOVA ODER TRISTAN
Casanova -ward nie routiniert.
Was trostet ? Ein Wort, ein Brief,
<ein Gedanke ? Nein, die Entdectung der
achonen Stirn einer Anderen.
Casanova war ein sauberer Geist, er
liat Gott nie pathetisch in seine Handel
gezogen.
¥
Liebesaffaren zwischen einem reifen
Mann und einer reifen Frau sind nicht mehr
Duelle auf Leben und Tod. Das Gefecht
findet statt, es starkt die Muskeln, aber die
Spitzen der Fleurettklingen sind vorsichtig
eingewickelt : Wozu wieder Blutvergietfen ?
Lotte, Wertkers Lotte ist die Patin
Casanovas.
Casanova oder : Was Kaben die Frauen
aus Tristan gemacht !
*
Sentiraentalitat bat die Frauen una die
Unscbuld gebracht. Wieviel Frauen sind
heute innerlicb leicbt genug und casanova-
reif?
Die deutscbe Ubersetzung von Casanova
lieiift Tristan.
SCHUMANN ERHALT SEINEN TOD
Der preutfische Justizmimster Am Zehn-
hoff hat ein sanftes Riibren in der Brust
gefiihlt. Icb hatte ibm den Aufsatz
,, Schumann verlangt seinen Kopf" im
Heft 18 des ,,Tage-Bucb"" zugeschickt, be-
40.
[ %XV&
freundete Abgeordnete hatten eine Anfrage
an den entschlutf-kranken Minister vor-
bereitet, da — nach fatft neun Monatcn,
in denen Schumann immer wieder seina
Hinrichtung verlangt hat — entschloff sich
der Minister gnadigat zur Ungnade. Er
lief? den Akt nicht langer liegen. Er ent-
schlol? sich, sich zu entachlietfen. Er ge-
wahrte dem zum Tode Verurteilten seinen ,
Tod. Am 9. Mai wurde der sechsfache
Morder Friedrich Schumann in Moahit
hingerichtet.
Der Herr Minister wurde begluck-
wiinscht. Sein EntscMuff ist ein Neun-
monatkind geweaen. Immerhin, es ist zur
Welt gekommen ! Billiger und mensch-
licher Denkende als der Herr Justizminiater
hatten gedacht, Herr Am Zehnhoff habe
schon das moralische Recht auf Bestatigung
des Todesurteils verwirkt. Man kann einem
Menscben Allesmogliche drei Vierteljahre
scbuldig bleiben, nur nicht den Tod. Hat
man einen Verurteilten neun Monate,
Nacht fur Nacht, auf seine Hinrichtung
wart en lassen, hat man dann, nach solcher
Qualfrist, noch das Recht, den Verurteilten
aufs Schaff ott zu zerren ? Diirfte man ihn
drei Vierteljahre in die sui?e Gewohnheit
des Lebens sinken lasaen, um ihn plotzlicn
berauszureiffen ? Die verspatete Hinrich-
tung Schumanns ist der beschamendste Fall
biirokratischer Bequemlichkeit. Immerhin,
Herr Am Zehnhoff entschlotf aich! Wie
gut, daf? der Akt Schumann wenigstena im
neunten Monat nach dem Todesurtcil dent
cbristglaubigen Justizminister in die Hande
gefallen ist ! Der Akt hatte sich ja
griindlicher verkriechen, die Friat hatte ja
aucb zwei, drei, neun Jahre dauern konnen.
BERLHSTW8
■^WTgil OEM UMDCN |
Aft&SBO ^ AVECHSaELcMANN-
631
Gewil?, der Justizminister batte menials das
Recbt verloren, den Verurteilten eines
Morgens mit seiner Hinricbtung zu iiber-
rascben. Er -war so cbristlicb, den zum
Tode Verurteilten nur 260 Nacbte in Un-
gewifibeit uber sein_Scbicksal zu lassen!
Aber in der 261. Nacbt raffte er sicb zum
Entscblui? auf, er war so gnadig, keine
Gnade zu uben und winkte dem Scbarf-
ricbter Scbwietz aus Breslau.
Es ist nicbt bekannt, oh der gnadenlose
Herr AmZehnboff der Exckution beigewobnt
hat. Die Zeitungen stellen nur test* dafi
der Kriminalassistent L a b m a n n , der
seinerzeit Schumann festgenommen, der
Hinricbtung beiwobnte. Der batte sozu-
sagen ein moraliscbes Anrecbt darauf. Der
Xod dea Scbumann war Labmanna Sacbe.
Plotzensee, in dem der Morder neun
Monate auf seinen Tod gewartet batte,
war nur das K.gl. preufiiscbe Sanatorium
Labmann gewesen, in dem der Deliquent
auigefuttert wurde. Jet2t kam der andere
Labmann und besicbtigte die letzte Stunde
seines Scbiitzlings. Darf man boffen, daf?
Labmann, der Zuscbauer, kunftigbin rascber
xur Stelle ist ? Wenn scbon kein anderes
Argument auf die Seelen der Am Zebn-f
boffs wirkt, daiin mui?te der Finanzminister
in solcben Fallen gebieteriscb dazwiscben-
fahren. Die Kosten far die neunmonat-
licbe Erbaltung Scbumanns waren unnotig.
^IVenn Ibr scbon nicbt mit Leben spart,
ihr Gnadenlosen, so spart wenigstens mit
Erbaltungskosten.
ESELN ODER OCHSEN?
In der Zeit, da iiber Deutscbland das
Ultimatum der Entente King und die Polen
in Scblesien vorruckten, gab es AVablen in
der Stadt Zosscn, nabe bei Berlin, fast in
Berlin. *
Hobepunkt der Agitation : Die Sozial-
demokraten fubrten einen Esel durcb die
Stadt. Den batten sic mit Guirlanden und
schwarz-weitf-roten Bandera gescbmuckt.
Der Esel trug ein Plakat : ,Jcb Esel wable
fcurgerlicb !"
Gegenagitation der Burgerlicben : Sie
eebafftenscbleunigst einen rotbraunen Ocbsen
xar Stelle, acbmuckten ibn mit roten Ban-
dern und bingen ibm ein Plakat urn
„Und icb Ocnse wable sozialistiscb !"
Der „Lokalanzeiger", der dicse Erzab-
lung bericbtet, fugt binzu : Am Abend
batten die Burgerlichen die Majoritat. Die
Zeitung triumpbiert : ,,Der Esel batte also-
den Ocbsen geschlagen !"
Ja, wackerea Blatt aller Esel, Du bast
Grund zum Triumpb.
Ware der Sieg auf die andere Seite
gerutscbt, dann batte das Blatt der aiegen-
den Ocbsen ein jubelndes Gebriill ausge-
stotfen.
W^e verloren steben aber die Unzeit-
gematfen da, die siebweder den Eseln nocb
den Ocbsqpt anacblietfen wollen. In der
Schicksal*«tunde Deutscblands bleibt uns
nur die "W abl zwiscben Eaeln und Ocbsen.
O, du trauriger deutscber Stall !
EINSTEIN, FALCONER UND ICH
Herr Falconer, Stadtrat in New York*
bat es abgelebnt, Professor Einstein zum
Ebrenbiirger zu wablen. Also aucb dort
Antisemiten ? Der Menscb lauft wobl mit
dem Hakenkreuz berum und tragt den
Gummiknuppel unterm Mantel fur die
Andersglaubigen, die ibm in der fiinften
Avenue begegnen?
Nein, es ist viel, viel scblimmer. Scbam-
loa bat der unwiirdige vor versammeltem
Senat erklart, er verstebe nicbts von Relativi-
tatstbeorie. Es braucbt nicbt binzugefugt
zu werden, dafi der Banause von seinen
gelcbrten Kollegen uberatimmt wurde. Ein-
stein ist Ebrenbiirger von New York.
Nun aber scblagt das ungebeuerlicbe
Wellen bis an die fernsten Gestade. Nacn-
dem Herr Falconer von den Redakteuren
fur lokale Begebenbeiten und kleines Feuille-
ton aller mittelcuropaiscben Zeitungen ge-
zucbtigt worden ist, tritt bier Einer auf,
der nicbt ungerecbten Rubm urn sein Haupt
glanzen seben will. Gestutzt durcb Falconers
Bekennerxnut eoll ein furcbtbares Gestand-
nis abgelegt werden: icb, icb, icb bin der
andere Verworfene. Falconer und icb, wir
sind die beiden Einzigen, die von der Rela-
tivitatstbeorie nicbts versteben.
632
Wo soil ich anfangen und wo auf-
horen? In Quinta haperte es mit der Regel
de tri, den pythagoraischen Lehraatz ver-
mochte ich nur aus Achtung vor meinen
Lehrern anzuerkennen, die Logarithmentafel
gebrauchte ich wie ein chineaisches Kind
den Suan-Puan, ohne wahre mnere Be-
gnadung. Und ala sinus und cosinus am
Horizont erechienen, wurde ich zum Militar
eingezogen. So ist daa Ungliick uber mich
gekommen, Falconer(B ruder, ich griitfeDich!)
mnS ea wohl ahnlich ergangen aein.
Daa erate Mai horte ich von dem grotfen
Ereignis, als ich in der SommeVfrische meinem
Tiachnachbar, einen Trikotagefahrikanten
aua Glauchau in Sachaen, fragte, ob er
viel oder wenig Milch in den Kaffee nehme.
Er erwiderte: „In dieser Beziehung halte
ich ea mit Einatein. 1 " Und auf meine be-
ach eiden-ehrfurchtsvo lie Gegenfrage lachelte
cr: „Nun, allea ist relativ/'
Ware ich damala ernatlich in mich ge-
gangci, wer weifl, ob ea mir nicht noch
gelungen ware, den Abatand einzuholen,
der mich jetzt fiir immer von meinen Zeit-
genosaen trennt. Nun aber iat es zu spat.
Falconer und ich sind dem Geapott der
Welt uberliefert.
An der Produktenborse wagte ich es
noch einmal einen Bekannten auazuforschen.
,,Waa?" erwiderte mir dieier entriistet
,,von dem Einach haben Sie nichts gehort,
der die Relativitatsdriiae erfunden hat?
W'enn man die einem herausnimmt, weil?
er nicht mehr, wie alt er iat und wie spat
dafi es iat?"
Ala Ehrenatein zum Ehrenprotektor der
Produktenborse proklamiert wurde, driickte
ich mich scheu von der Feier. Da war
kein Falconer, der dagegen gestimmt hatte.
Alle hatten sie es verstanden.
In Prag hat er achlietflich angefangen,
Geige zu apielen. Es war noch eiae Viertel-
stunde Zeit und nichts mehr zu erklaren.
Jetzt hat er aich gar des Zionismua an-
genommen. Allea andere ist schon relativ
geworden. Daa einzige Absolute, was es
noch in der Welt gibt, ist Falconers und
meine Unwissenheit.
Aber trotz allem ist da ein Tropfen
Siitfigkeit in ao viel Bitternis. Es gibt
auch eine Solidaritat der Verderbtheit, cine
holde Gemeinsamkeit der Verlorenen ! Es
lebe die Internationale der Unbildung \
Riicken an Riicken mit Dir, Falconer,
ford ere ich mein Jahrhundert in die
Schranken ! Rudolf Olden.
BRIEFE ANS TAGE-BUCH
MOSKAUER SCHICKSAL
Ein Ruase schreibt mir :
Die Moskauer „Isweatija ,,t vom 27. April
berichtet, datf der amerikaniache Ingenieur
Mr. Keally vom hochaten Revolutions-
Tribunal zu 2 Jahren Gefangnis varurteUt
worden sei. — Die Motivierung dtesea
Urteils lautet :
,,Mr. Keally gelang es als bedeutender
techniacher Spezialiat nach So wjet-Ruflland
zu kommen, angeblich mit dem ideellen.
Bestreben, beim Aufbau der ersten aozia-
listischon Republik der Welt behilflich zu
aein. Den ihm zugeteilten hohen Postett
eines Experten beim Obersten Volkswirt—
achaftsrat bekleidend, hat er das in ihn
gesetzte Vertrauen der Sowjet-Regierung
getauscht, indem er ilber die afghanistaniaebe
Grenze verleumderische Brief e ins Ausland
achmuggelte, die von bourgeoiaen Zeitungen
gegen Sowjet-Ruffland ausgenutzt werden
»CAlA
\ARIKTEBliHNE
63$
eollten, urn die mit uns geschlossenen
Handelsvertrage zu untergraben.""
Also lautet der offizielle Bericht des
Tribunals.
_Es ist_ nicbt uninteressant. die Vor-
gescbicbte dieses Falles zu betracbten.
Mr. Keally, ein rotwangiger, blau-
augiger amerikaniscber Ingenieur, Typus
Gibson-boy, ist mit Professor Lomonoasow
mua Amerika nacb Rutland, gekommen.
Ihn mag das Interesse an dem ungebeuren
tecbnischen Experiment bmgezogen baben,
fur PoKtik bat er sich nicbt im geringsten
intereseiert. Er wurde Lenin vorgestellt,
•war entxiickt von dessen glanzendem Eng-
liscb, unterbielt sich lange mit ibm und
verspracb, — auf Lenins ^^unscb — die
wirtscbaftlicbe Lage in Rutland eingebend
iu priifen und sein Gutacbten abzugeben.
Er erbielt einen Freibrief, der es ibm er-
moglicbte, alle Fabriken zu besucben und
in den betreffenden Volkakommissariaten
und vor allem im Obersten Volkswirt-
ecbafterate die notigen Informationen ein-
xubolen. Sieben Monate bescbaftigte er
sich damit. Daa Resultat war ein aus-
fubrlicber Brief an Lenin, dessen Kopie in
Moskau von Hand zu Hand ging. In
diesem Briefe gab Mr. Keally, praktiscb
-und micbtern, wie es seine Art ist, dem
Vorsitzenden des Rats der Volkskommissare
ein genaues Bild der wirtscbaftlicben Lage
RuCIands. Er zeicbnete mit ungebemmter
Aufrichtigkeit die Kurve des Niedergang
von 1917—1920 und scblofi mit der Er-
kenntnis, es gabe nur eine Rettung : die
rote Armee in eine atrengdisziplinierte
Arbeiter-Armee zu verwandeln. Diese Idee
Keallys wurde ausgefubrt, wie aucb eine
Rcibe sonstiger Anregungen.
Damit bielt er seine Mission fur be-
endet und bat um seinen Auslandspai?.
Zwei Monate -wurde er von einer Stelle
seur anderen, von Pontiua zu Pilatus geecbickt
— und stiefi zuletzt immer wieder an
cine eherne Mauer : Die AuUerordentiicbe
ICommission verweigerte ibm daa Auareise-
Viffum. Er wan dte sicb personlich an.
Lenin. Am nachsten Tag wurde er ver-
baftet.
Mr. Keally batte zuviel gesehcn, wulfte
zuviel. Er batte binter die Kulissen Po-
temkinV geguckt — un<l 4as--w*r- und ist
in Rutland ein Verbrecben. Drum mutftc
er auf irgendeine Weise verscbwinden.
Seine Briefe ins Ausland boten den Vor-
wand.
Wer Keally kannte, wei£, daff er nur
die Wabrbeit acbreiben konnte. Aber in
dieaem Riesenreicbe liegt ja leider Alles —
wie Mitja Karamasoff sagen wurde —
,mit den Fersen naeb oben". Da ist
Einer, der vom Baume der Erkenntnie
pfluckte : — und dafur mui? er im Para-
dies b 1 ei b e n.
Sergei TchaJm'n.
WIR ENTSCHLUSSKRANKEN
In dem Aufsatze ,, Schumann verlangt
seinen Kopf" tadeln Sie den entscblutf-
kranken, entscbeinungsunwilligen Justiz-
minister Am Zebnboff und nennen inn
.,unfahig zur Gnade, unfabig zur Ungnade/*
Als wir Ibren Artikel lasen, mein Mann
und icb, da stimmten -wir Ibnen zu, aber
am nacbsten Tag entdeckten wir, dal? wir
selber entscblutfkranke Leute sind. Icb will
ibnen nun meinen Fall vortragen, vielleicbt,,
beurteilen sie una entscblutfkranke Leute
dann ein bitfchen eanfter.
Wir baben seit vielen Jahren einen
sobwarzen Dackel. Er siebt beute nicbt
mebr sebr biibscb aus. Aber es war ein-
mal ein scbwarzer langhaariger Dacbsbund
mit grotfen glanzenden Augen. Sein Fell
■war einmal glanzend und weicb, beute ist .
es freilicb struppig. Seine Nase scbnupperte
friiber nacb Ereigniesen, beute b'ingt sie
teilnabmslos und miide, und wenn man ibn
uber die Stratfe scbleicben siebt mit mudem,
durcb Jen Scbmutz gescbleiften Schwanz,
so kann man sicb den jungen, luatig lau-
fenden Manne garnicbt vorstellen. Gertern
iet er nun auf der Strafie mit knapper Not
634
dem Oberfahren entronnen. Ala wir das
sat en, da erkannten wir, datf es unsere
Pflicht ist, iho 2u toten, bevor er wirklich
uberfahren wird. Weil wir ibn Kebhaben,
tniissen wir ibn toten. Wir wollten uns
mit einem Freunde in Verbindung setzen,
der ibn mit etner gnadigen Morphiumspritze
aus seinem miiden Leben befreien sollte.
Mein Mann aagte, icb soil ihm telefo-
nicren, und icb sagte, mein Mann soil ihm
telefonieren. Endlicb aber raffte mein
Mann sich auf und ging 2um Fernsprecher.
Am nacnaten Morgen um 8 Ubr sollte der
bcfreundete Arzt kommen. Der Tag war
sehr traurig. > -' / ne erbielt sein letztes
Mirtagessen- * .offelpfannkuchen, die iSt er
eo gem. br bekam ein gropes Stuck .
Dann durfte er den letzten Spaxiergang mit
uns machcn, nocb einmal in die Sonne.
Aber, oh Wunder ! Er konnte an dem
Fruhlingstag wieder ein bitfchen laufen, er
konnte den Schwanz wieder beben, nur
ein kleinea bi£chen, aber immerhin, und er
poussierte aogar mit einem Hundeweibcben,
und das alles an dem letzten Tag ? Abends
legten wir ibn auf eein Kisaen, etellten ibm
dasWasser zu* und unsere Kleinste etreichelte
ibn oft und sagte ibm so lange gute Wortc
bis er bebaglicb knurrte. Am nachsten
Morgen waren wir schon um 6 UKr wacb.
Abnen Sie warum ? Damit wir um 7 Uhr
unserem Freund, dem Henker, telefonieren
konnten : Hole ibn noch nicht. Ein btfchen
geschamt baben wir uns wegen unserer
Entschluflkrankhcit. Aber er lebt, er ge-
nietft die Wurstzipfel und die Hunde-
weibchen und sein Kissen, und wir hoffen,
dal? ein gnadiger Herxscnlag uns das
Richteramt abnebmen wird.
Veracbten Sie uns jetzt als entschlutf-
krank oder eehen Sie den preutfiachen
Justizminister mit etwas nachsichtigeren
Augen an? Ware er brutaler, so ware
er entechlutffahiger. Es ist schon ein Fort-
schritt, datf die Menachen sicK nicht mehr
so rascb zur Grausamkeit entschlietfen
konnen. *W<* 5.
INHALT DES LETZTEN HEFTES
(Nr. 19):
Thomas Wehrlin : Flustem im Reichstag
Guatav Kauder : Der Technarch
Leo Mathiai : Bewertung geistiger Arbeit
in Sowjet-Rutfland
Hugo von Hofmannsthal : Napoleon
Carl Sternheim : Fairfax
Peter Altenberg : Worte fiir Frauen
Aus dem Tagcbuch.
Dieiem Heft* Iietfen Prospekte feel: a) dee Verlatfea Guotav Kiepenoener. Pot 8 a*m. t) dct Verl*«e«
»Der kommende Tag-, A.-G., Stuttgart, c) des Kinderheimi »Haus an der Sonne*, Saarow (Mark).
Redaktion des „Tage-Buch" : Berlin W 35, Potsdamer Strafe 123 b, Tel.: Luteow 4931 .
Verantwortlich fiir den redaktionellen Teil : Stefan Groflmann, Charlottenburg. VerUg :
Ernst Rowohlt Verlag, Berlin W 35. Potsdamer Stratfe 123b. Druck: R. Abendrotb, Riew.
Zum IQjakrigen Todeetage Gustav Maklers:
KARL JAKOB fflRSCH
Zebn Original-Steinzeichnungen zu den Sinfonien MAHLERS
Unter Aufaicht des Kiinstlers auf der Kunsthr - Presse "Wor£swede gedruckt
Ausgabe A, Nr. I— X je 1500 Mark / Ausgabe B, Nr. 1—90 je 800 Mark,
100 Einzelblatter je 200 Mark. — Die Preise verstehen sich excl. Luxussteuer.
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635
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i. Retif de la Bretonne ill Shrift
steller, der Reformator. Von Dr. Eugen Diihren
(Dr. med. Iwan Bloch).
A.US der groQen franzdsischen Revolution . . , Besondere
Kafiitel uber die Reform der GeseVschaft: Der Mensch.
J / a)s GeseVschaftswesen ; die Frauenfrage etc. etc. / /
lfien Marquis de Sade
2. Neue Forschung
iiber den
und seine Zeit. Von Dr Eugen Diibr
Ein Kafiite) behandeh die soziologischen und
fcolitischen Anschauungen des tollen ?darquis.
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des ,Jungen Deutschland" und der Berliner Lokal-
dichtung. Mit Portrait und 7 Tafeln. Geheftet M. 14.—
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von 1848. G/assbrenner war der Schbpfer der demo-
kratischen Anschauungsuftise des Berliner Burgers.
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FRIEDRICH SCHNACK im „Literariflcben Echo":
Baum ist ein Meister im Dialog, den er mit leise spottiscber
Uberlegenheit durch alle Tonlagen schwingt. Er saugt die
Zartbeit jeder Geftiblsabstufung in seinen Stil. Farbe und
Lichtschattierungen erregen ihn bis ins Blut. Seine G edict te
sind .von bebutsamer Inbrunst .... Die Ausstattung des
Werkes ist ruhmeiiswert, von delikatem Reiz.
MARTIN FEUCHTWANGER in der „Saale-
Zeirung": Die AVerke, die in den beiden Banden gesammelt
sind — Gedicbte, Romane, Romanfragmente, Novellen —
atmen einen Geist, der dem konventionell denkenden und
mit der Scbablone tiihlenden Menscben fremd ist. Aber
sic lassen ibn in eine Welt blicken, die scboner, erhabener,
reiner, grotfer und reicber ist, als diese, und nacb der sicb
die Beaten — unbewutft — sehnen.
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Ein neuea Tagebucb einer Verlorenen gibt uns Emmy
Henninga in ,,Das Brandmai".
Wer den Band mit den veracbleierten Geliiaten nach
Pikanterien in die Hand nimmt, kommt n i c h t auf seine
Recbnung. Aucb derjenige nicht, der sicb in aelbatgerecbter
Unversebrtbeit binsetxt : ,,Wie erfreulich, einen Menscben
zu Grunde geben aeben, wenn man aelbat geaund iat !* k
Die ,,Verlorene" bejabt den von altera ber umstrittenen
Dualismus im Menscben. Ibre SecU lebt loagelost vom
Korper ihr inniges, eraatee Leben in aufricbtigem Gottsucben-
Die Animierke liner in — die Kabarettaangerin — die
Scbmierenkombdiantin — die kann sink en. nicbt verainken!
Alles aufiere Geacbeben iat unweaentlicb, das innere Er-
lebnia wird zum Ereignis. Mit kiinsteriscber Geataltungs-
kraft bringt una die Dicbterin ibre Heldin in glaubbafte
Nabe. Wer soil daa wertvolle, nacbdenklicbe Bucb lesen ?
AUe die nicbt fragen : ,,Soll icb meines Brudera, meiner
Scbwester Hiiter aein 7
Das ^JVerk ist durcb jede gute Bucbbandlung oder direkt vom Verlag xu berieben.
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DIE KULTUR DER DEKADENZ
ECKART VON SYDOW
weieb kartonUrt 34 Mk., in Halbleinen tfebuaden 42 Mk.
Dai Pbanomen der Dekadenz wird in diesein W«rk prifinant erfaUt und die Aus-
wirknntfan auf den rerscbiedensten Kulturgebieten klargostcllt. Al* MusterbeUpiel der
Vertreter d«r Dekadenz bat der Verfasaer Cbarlcs Baudelaire tfcwahlt, dwim seltsames
Wun auf di« letrt* Generation der Dicbter so bexaubernd gewirkt hat.
KURT HILDEBRANDT KURT HILDEBRANDT
Norm und Entartung dea Mcnachen
272 S«it«n tfeb. 37 Mk.. tf.k. 33 Mk.
Norm und Vcrfall dea Staateu
248 Seit«o tfeh, 23 Mk.. tfeb. 29 Mk.
DAS WILDE SAUSELN
WOLFGANG GOETZ
Mlt cittern m*brfarbitf«n Umscnlatf* ron Paul Scbeuricb - gcb. 12 Mk.. ««b. 18 Mk.
Dir DichtCT ftibrt cinea kleiaen rom Sckickaal ickwtr vcrnacblatfitften Dortpfurcr anf
frofica Irrwefea uber tine Gedaakentund* xnr wakren Erkenntnis selnta Gotte*. Aua
br«it«r G«ma«blichk«it treibt das Back In atemlos* Hast Uneln, mn daaa mlt «non
▼•Ilea Akkord trostllcbea Vertraueas zn sekliefien.
SIBYLLE UND DER PAPAGEI
von
HADRIAN M. NETTO
Bin. SJzborJer UyU. <<)>■ 1» Mk.. «.b. 18 Mk.
ARMIN T. WEGNER
Im Hauae der Gliickaeligkeit.
Aufzcicbnuntfen an* der Turkei
fleb. 12 Mk., tfeb. 17 Mk.
ARMIN T. WEGNER
Der Weg ohne Heimkehr
Ein Martyriam in Briefer
get. 12 Mk.. ««b. 17 Mk.
S)nW
Die
nalhgerettete Seele
EIN GEDICHT
Einmalige Auflage von 650 numerierten Exemplaren
AUSGABE A:
50 Exemplare auf echt van Geldern-Biitten
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Das Tage-Buck / Heft 21 Jahrg. 2 / Berlin, 28. Mai 1921
leo Matthias MUSEEN IN SOWJET-RUSSLAND
1.
Die zaristiscke Regierung katte fur die Museen kein Geld ukrig.
Die kekanntesten Galerien, wie die Eremitage in Petersburg, waren ent-
weder Privateigentum des Zaren oder wie die Tretjakow-Galerie in
Moskau Privatsammkmgen, die der Stadt gesckenkt worden waren, let
weii? nickt, ok es ukerkaupt cine Akteilung fur Museumsangelegenkeiten lm
russiscken Kultusministerium gak, — sicker ist, daii sic sick nut den ent-
spreckenden Akteilungen in weateuropaiscken Staaten mckt verglcicnen
konnte.
Jetzt ist es umgekekrt. Die Museumsverwaltung ist ein ungekeurer
Apparat geworden, der nock nut dem letzten Dorf an der ckinesiscken
Grenze in Verkindung stekt.
Die Ursacken (rind klar : Durck die Nationalisierung aller Guter
war die Regierung vor die grotfe Aufgake gestellt, samtucke Kunstguter,
die kiaker in Privatkesitz waren, zu erfassen. Es mutften also Muwums-
keamte nack alien Himmelsgegenden ge^andt werden. urn erst einmal den
Bestand aufzunekinen und daa Material zu sickten. Ala man soweit war,
mutfte man das Proklem der Raumfrage loien. Da die wenigen vor-
kandenen Museen vollgestopft waren, und neue Bauten nickt ausgerukrt
werden konnten, kam man auf den Gedanken, die leerstekenden Palaste
und Landkauser fur diese Zwecke zu verwenden. Und zwar konsemerte
iran in einigen Fallen gleick die ganzen Hauser mit Mokeln, Teppicken,
Bildern und Bronzen! So: die reicken Privatkauaer Arckangelakoje und
Neskutsckni- Garten kei Moskau. In anderen Fallen trug man die Gegen-
stande kinzu, die zum Stil der Emricktung patten. So: keim Stroganofi-
Palast, Sckuwaloff-Palast und Jusupoff-Palast in Peterskurg. Auck die
kerrlicken franzosiscken Pnvatsammlungen von Tscktackukin und Morosoff
in Moskau wurden nickt auseinandergenssen. (Tscktsckukin kesitzt die
kedeutendste Matisse-Sammlung der Welt; fur den Treppenflur seines
Hauses malte Matisse: „Musik * und „Tanz'\ Autferdem sak ick dort:
kostkare Cezannes, darunter „Mardi gras" ; dann versckiedene Bilder von
Henry Rousseau, darunter eine groiie Urwaldlandsckaft. Ferner : em
Dutzend Gauguins und Derams und zwei Sale mit Picassokildern au*
alien drei Pkasen seiner Entwicklung).
641
Die kedeutendsten russiscken Privatgalerien existieren also nock.
Von den ubrigen kat man es mir versickert, una zwar sagte mir das
em Mann, der der Sowjet-Regierung nickt freundlick gesinut war. Ick
hake daker keinen Grund, das Gegenteil xu vermuten. ^A^aren die
"Eigentuiner Kenner~ikrer Galerie, so kekei? man sie sogar ~ale Konser-
vatoren; so den Beeitzer der kedeutendsten Sammlung russiscker Ikonen
m Moskau. Der ekemakge Besitzer wurde wie jeder andere Museums-
ar beiter kekandelt. Die meiaten Eigentumer smd jedock gefloken.
2.
Es ist klar, daw die Verkaltnisse ntckt immer so cintack lagcn
Denn in den meisten Fallen kandelte es sick nickt um grotfe Sainmlungen'
oder ganze Hauser, die Museumswert kesai?ea und sofort besetzt werden
cone ten, sondern um einzelne Gegenstande der versckiedensten Art, deren
Dasein selbst Spezialisten verborgen gebkeben war. Man kann daker
mckt feststelien, -was an Kunstwerken, besonders durck die Bauern-
unruken auf dem Lande, verloren gegangen ist. Ick glaube, daf? kaupt-
tackhck nar kunstgewerklicke Gegenstande versckwunden sind :
Stickereien, Ukren, Porzellane, Teppicke, Mokel — weil namlick diese
Dinge auck Gekrauckswert kaken, und man sie kaufiger an Orten findet,
wo ete ikre Herkunrt mckt verleugnen konnen, z. B. in Bauernkausern.
Jedock mag ein Ten dieser Gegenstande auck gekauft sein, denn ^ie
Bauern smd die reicksten Leute augenkKcklick.
Es -war also mckt immer moglick, jede Scknupftakakdose und jeden
dob elm zu retten. Die Tatsacke aber. dai? jetzt jeder Dorfsowjet in
Ruuland von seinem Museum traumt (und diese Museumsmanie kat kereits
Formen angenommen, die geradezu grotesk smd), ist em Beweis dafur,
daw man die Kunstgegenstande nirgends acktlos kekandelt. Die Akteilung
fur Museen unrerstutzt naturkck dies Interesse an den alten Dingen, und
so gibt es in Rutland sekr viele neue Museen, in die alle Kunstgegen~
stande wandern, die in dem Museumsbezirk gerunden worden sind.
Trotzdem reickte der Platz mckt aus. Man kat daker in einigen
Fallen, wo sie nickt kenutzt wurden, die Dorilcircken als Museen em-
gencktet und in anderen Fallen, wenn der Gottesdienst nock stattfand —
sick nickt darum gekummert. Man kat die Keller vollgestopft und die
Glockenturme vermauert, \im die Sacken unterzubringen — trotzdem
reickte der Platz nickt aus. Jbs gtkt m Moskau Raume, wo die Biider
wie die Bucker gereikt sind, es gikt in Peterskurg Hauser, die wie
Soeicker kis zur Decke angefullt sind mit Milliardenwerten. — Es kleikt
nickte anderes ukng, als, vorlaufig, den Riegel vorzulegen.
642
3.
Die Beamten der Museumsabteilung war en sicberlicb xu tried en,
wenn sie our diese Arbeit des Sortierens zu bewiltigen batten. Aber
man bat dieser Abteilung aucb nocb sebr viele Kircben und Klbster
unterstellt, denn die Kircben sind in sebr vielen Fallen arcbitektomspb
bedeutend oder baben Fresken, die roancbmal ebenso berubmt zu sein
verdienten wie die Giotto-Fresken in Padua. Die Kloster aber besitzen
haufig einen Scbatz an Gold- und Silbersacben, dessen Kunst wert den
Metallwert um das Tausendfacbe ubersteigt — ganz abgeiebeh von den
Ikonen und Stickereien, die baufig von einer unbescbreiblicben Scbou-
beit sind.
Soweit diese Gegenstande zum Ritual gebraucbt wurden, lietf man
sie naturlicb in den Handen der Geistlicbkeit. Aucb lief? man ibnen
alles, was keinen Kunstwert batte. Kunstwerte jedocb, die nicbt ge~
braucbt wurden, wurden als Museumsgut bescblagnabmt — in einigen
Fallen leider zu spit. Denn da die Kircbe nacb der Trennung vom
Staat auf die Almosen ibrer Glaubigen angewiesen ist, verkauften Popen
und Moncbe die kostbarsten Gold- und Silbersacben — zum Metallpreis.
4.
Da man ein ungebeures Material zur Verfugung batte, war die
Moglicbkeit gegeben, bei der Anordnung strenger als bisber zu speziab-
sieren. So bat man die Tretjakow-Galerie ale Nation almueeum cinge-
ricbtet (diese Galerie ist in zwei Jabren um ungefabr tausend Nummern
gewaebsen). So bat man aucb die Absicbt, ein besonderes Museum fur
die westeuropaiscbe Gemaldekunst zu grunden. In vielen Fallen find
aolcbe Griindungsabsicbten bereits verwirklicbt worden. Es gibt ein neuei
Museum fur orientaliscbe Kunst (das bisber in Rutland feblte!) ein
Museum fur griecbiscbe und romiscbe Kunst, ein Museum fur das Jabr 1840
(die russiscbe Goetbe-Zeit, da Puscbkin um 1840 lebte) und ein Museum
fur Malereikultur, in dem die Bilder der Jungsten bangen.
Besondere Aufmerksamkeit widmet man der Volkskunst, die uberall
gesammelt wird, selbst auf den Knegsscbauplatzen, wo bin die Muieums-
abteilung Beamten entsandt bat. Das Material, das man fand, war so
reicbbaltig, dai? man allein — fur Kinderspielsacben ein besonderes
Museum grunden konnte. (Es gibt Bauernfamilien in Rutland, die jabr-
bundertelang mcbts anderes als Kinderspielsacben sebnitzten, meistens
Puppen, die oft von bob em Kunstwert sind. Vor der Revolution kauften
Handler diese Sacben auf und zogen damit zu den ^A^allfabrtsorten, denn
kein Wallfabrer versaumte es, lrgendetwas seinen Kindern mitzubnngen.(
643
Erwaknenswert ist nock ein Museum, das ein Mittelding 2 wise lien
Zeugbaus unci Scbatzbaus ist. Man findet namlicb dort die „Likorbiber
von Peter dem Grotfen, das Feldbett Napoleons (aus zartesten Daunen!)
und dergleicken Dinge, aber auck einen sekr grotfen Teil jener mit Edel-
s tern en besaten Kronen, Reicbsapfel, Zepter, Ringe, Kolliers und Gekaxrger -
die Pnvatei gen turn der Rom an oris waren, Hierbin ist auck ein grower
x eil Tom Tafelgescbirr der Zarenfamilie gewandert. Icb sak im zweiten
Stock dieses Museums (das im Kreml' kegt) ackt Tiscbe von vielle'tckt
zekn Metern Lange, vollgepackt mit 91 lb erne n und goldenen Gegenstanden
dieser Art. Es gikt in Europa wakrsckeinlick kein Museum, dessen
Sckatze auck nur annakernd einen solcken Wert kaben — und dabei
kabe ick nur ein Zebntel etwa geseben; denn das meiste liegt nocb in
150 bis 200 grotfen Kisten versiegelt.
(Anmerkung fur Skeptiker; Da ick skeptisck bin, kabe icb die Stick-
probe macken lassen : Sie waren gef ullt.)
Nock eine Anmerkung, diesmal fur Neugierige: SamtKcke Gold**
und Silbersacken, die keinen Kunstwert kaken, kegen im Staatstresor.
Die Regierung verfugt uber diesen Sckatz ebenso fret, wie Aie deutscbe
Regierung uber unseren ekemaligeu Sckatz an Gold* und Silbermunzen.)
5.
Das Pubkkum, das alle diese Museen besucbt, unterscbeidet sick sekr
wesentlicb von dem Puklikum vergangener Zeiten. Die Intelligent feklt.
Man kat entweder keine Zeit oder ist so revolutionsverargert, da/? die
Atmospkare des Museums nur Ermnerungen an Vergangenes weckt. So
sagte mir ein ekemaliger Grof?kau£mann und Kunstverstandiger, dai? er
unrakig sei, ein Interieur aus dem 19. 'akrkundert zu seben, obne fur
Tage erregt zu sein. (Es 1st tnram. bier zu spotteln — es ist aber aucb
inranx, zu beulen.)
Da die Intelligenz re kit, setzen sicb die Besucber also bauptsacblicb
aus Rotgardisten, Arbeitern und Sckulern zusammen — jedock begegnet
man, selbst am Sonntag. einzelnen Wanderern nur selten. Dagegen baurig
ganzen Rudeln, die gerubrt werden. Es soil en durck solcke Fubrungen,
die vom Regiment, der Fabrik oder der Scbule ausgeben, in einem Jakre
rund bunder ttavu end Menscken in Moskau belebrt worden sein.
Soweit die Tatsacken — die nicbts besagen. Man kann eie be-
werten, viae man will. So 1st es ganz zweirellos, dau unter den einzelnen
Wanderern sebr viele find, die aus Langerweile das Museum besucben,
oder .we'll es M :um gut en (proletarischen) Ton* gebort. {Es gibt in Moskau
644
bereits so ctwae.) So iat es auck ganz zweifello?, dal? viele sick nur an
den Funrungen beteiligen, wcil sic auf diese Weise auf einige Stunden
von der Kaserne oder Fabrik befreit sind. Andererseits beweisen die
Fragen (die man sammelt), da£ in vielcn Fallen einc Anteilnakme vor-
nan den ist, die viel starker ist als das gewoknlicke „Interesse . Die
meisten dieser Fragen geben namlick auf die Tecknik. Dieses Faktum lflt
eine Leuckte. die manckes erkellt — vor allem die Wertlosigkeit jenw
Kunstgesckwatzes. mit dem prole tariscke Pastoren ikre Gemeinde anoden.
Das Interesse an der Tecnnik ist so stark, dai? die Museums abteilung es
kerucksicbtigen mul?. So sak ick in einem Museum Glaskasten, in denen
die versckiedenen Pkasen der etnaillierten Silberfiligranarbeiten zu seken
waren. Die Kasten waren zu offnen, und man konnte die Gegenstande
in die Hand nekmen, Aknlicke kleine Ausstellungen sind fur alle
Museen und alle Kunstteckmken geplant.
Diese Begierde, den teckniscken Prozel? kennen zu lernen, reickt
naturlick nickt aus, um auf Grund der kisker gegekenen Tatsacken von
einer Kunstliebe des Proletariers zu sprecken. Diese Begierde ist nur
ein Boden, von dem aus ein Verweben mit diesen Dmgen deukkar ware,
Ob es moglick ist — und ob es gut ist* bleibt kier nickt zu erortern.
HERMANN STEHR RAT DES GREISES
Lai? nie dein Herz vom eignen Herzen fangen.
Was es empfindet, soil es okne Bangen
auck ganz verstromen, dai? am neuen Tage
es wieder neu des Lebens Wunder trage.
Hock ziekn die Sterne, tausend Blumen bluken.
Gib Dick nur ganz in deinem Gluck und Muken
und lasse keine Form in Dir erkalten,
so prufst Du durck des Lekens Vielgestalten.
Des Daseins tiefste Knecktsckaft keif?t Ennnern.
An diesen klasaen Bildern unsers Innern
zerbrack mekr Men«ckenkraft, als Mord und Brand
in alien Kriegen jeroals uberrannt.
Ana dem ecbonen, etill«n ..Letensbucli", doa H«rmann Stchr
to vtr0ang«#n JaHr« Im V«rl«#« S. Flsetur crmbdinM liefi.
645
KARL FRIEDRICH NOWAK KRONRAT WEGEN
BREST LITOWSK
In den n&cbsten Tagen crachtint bei Gcorg D. W. C a 1 1 w e y Verlag 'fur
Kulforpolitik Mttnchen : „Der Sturz der Mittelmachte" von Karl
Frledricn No wale. Zum eratenmal sind, abgeaeheir^von bisher gleicnralle
unbekairaten deutachen und dsterreicbioch-ungariscben Zuoammenbangen, daa deutsch-
engliscke Vcrfltandigungawcrk von 1914 und deutflch-engliscbe Friedensverband-
Iung«n 1918 mit den wirklicben Uroachen des Sturzcs KiiMmanna behandelt.
Neu irt auch das Bild des tragischen BulgarenzusammenferucHes mit der bfoher
onbekanntcn Abdankungigctehicnte dee Zaren Ferdinand und der Brest Litowaker
Verbandlungea. Zur Polcndebatte wird Kapttel „Breot Litowsk", dae ick dem
Werk entnekme, gerade recht koramen.
In der Tat muftcD jetzt in Berlin Bescklusse gefafft werden, die
wick tiger waren, als die Bescklusse Petersburg oder Wiens, Kaiser
^Afilkelm wartete in Berlin, Der Generalfeldmarsckall von Hind en burg
war mit General Ludendorff eingetroffen, urn sick mit dem Staatssekretar
von Kuklmann und mit General Hoffmann zu kegegnen. Ein General-
stabsrat trat zusammen. General Ludendorff verbarg seine Verbitterung
nickt. Er kam sogleicb auf General Hoffmann zu, erregt, aufgekrackt,
mit entrusteter Stimme:
„Wie baben Sie das zulassen konnen, dai? diese Note kerauskam?\
General Hoffmann pflegte selten die Fas sung zu verlieren. Aber
.etxt veretand er Ludendorffs Frage nickt, nock wemger die ganze Situation,
aus der die Note gesckaffen sckien.
„Die Herren sind ja aus Kreuznack gekommen, Exzellenz. Ick
kabe annekmen mussen, da(? das dort vereinbart worden ist. "
General Ludendorff bestritt auf das bestimtnteste :
„Nein, es ist gar nickts vereinbart worden."
Die Feststellung traf zu. Denn in Kreuznack war am 18. Dezember
in der Anwesenkeit des Kaisers zwar uber die meisten Tkemen ge~
sprocken, aker es war nickts vereinkart worden. Kerne Forderung und
kerne Haltung. Auch uber Kurland, Litauen und Polen war gesprocken,
aker auck daruker nickts verabredeV worden. Zwar mackte Ludendorff
kein Hekl aus seinem AtVunsck und dem AA^unsck weiter Kreise, der
nack einem Besitz der Randstaaten ziele und auck den Besitz eines
breiten polniscken Grenzstreifens fur wicktig zum Sckutze der Grenze
kalte, indes der Wunsck war nickts als Forderung gegeben. Uberkaupt
batte die Bespreckung den Ckarakter loser, unverbindkeker Unterkaltung
getragen, und es katte sogar gesckienen, als wollten die Generate den
Diplomaten nickt vorgreifen. Sonst pflegte die Art des Generals Luden-
646
dorfi ireiuch bestimmter una klarer zu sein. Aber gerade zur Rand**
ataatenfrage war der Standpunkt des Staatssekretars von Kublmann, als
Kurlanda una Litauens Zukunft gestreift wurde, nock am klarsten gewesen.
,,Icb kann meine Bedenken zuruckstellen \ batte er betont, „gegen ein
Aufzieben der deutscben Fabne in den ostlicben Randstaaten, aber {ck
wurde energiscb abraten, j em als die Fanne dort an den Mast zu nageln."
Damit war seine Politik in Brest bestimmt. Er lavierte. Er
wartete ab, Er wollte alle Turen offenbalten. Er batte sicb in Kreuz-
nacb merit gebtmden. Niemand batte ibm widersprocben. Der Kaiser
ibm zugeatimmt. Er konnte also dag allgemeine Fried ens an ge bo t, was
Kreuznacb anlangte, zunaebst rubig aussprecben. Aber kaum war e«
ausgesprocben, meldete sicb Ludendorff mit Protest. Als trotz des
Fnedensangebotes der Zusaminenstotf mit den Russen kam, sab der Staats~
sekretar em, daf? er militanscbe und politiscbe Notwendigkeiten in den
Randstaaten nicbt ganz uberseben konne. Er sucbte nacb der Formel.
Irgendwie konnte man sicb vielleicbt dock nacb beiden Seiten einigen.
Aber jetzt verlangte General Ludendorff unzweideutig den Randstaaten-
besitz. Nur der Weg dazu war die Sacbe des Staatssekretars. Er ver-
langts, da{? die Fabne an den Mast genagelt werde.
Der ersten Ausspracbe der Generalstabsberatung folgte am Abend
des 2. Januar 1918 ein Kronrat im Scbloi? Bellevue. Vollig einig war
man nocb immer nicbt, namentlicb, was den breiten polniscben Grenz-*
streifen betraf, den General Ludendorff verlangte. Er war ein Gegner
der ^austro-polmscben Losung" der Polenfrage, andererseits legte er auf
die gleicbfalls oft erwogene „germano~polniscbe Losung" die Polen an
Deutscbland angliedern wollte, nicbt sebr grotfen Wert. Er verlangte
^einen breilen polniscben Grenzstreifen", der freilicb Polen taib ver-
stummelte — 1 J /* Millionen Polen wobnten auf dem Streifen — , wobei
es dem General gleicbgiltig war, was der polniscbe Rest unternabm. Der
Kaiser ging bier nicbt mit dem General Ludendorff. Er batte am Neu-
)abrstage den General Hoffmann zum Frubstiick geladen und danacb
emen eingebenden Vortrag uber die Auffassungen des Generals zur Polen~
frage erbeten. Hoffmann wunscbte keinen polniscben Zuwacbs fur
Deutscbland. Wenn es nacb ibm ginge, nabme er nicbt einen eiuzigen
Polen. Er selbst ware, wenn man ibn frage, nicbt nur gegen eine
„germano-polmscbe Losung", sondern aucb gegen einen „breiten polniscben
Grenzstreiren, Man solle genau nur soviel oder so wenig polniscben
Bodens nebmen, daf? moderne Gescbiatzc nicbt den Tborner Babnbof
c^z.xisSia kaiKia Die gleicbe Vorsorge musse man im Bendziner
647
K oklengebiet in Oberscklesien, von den Hoken von Mlawa ker una bei
Ostrowiec treffen. Es handle sick um wenige Quadratkilometer. Rund
100000 Polen bewobnten sie. * Mekr Polentum ware nur Unneil . . .
Da nunmekr der General Ludendorff abends in Bellevue wieder auf den
breiten Grenzstreifen zuruckkam, war Kaiser Wxlbelin anderer Meiiiuhg.
Aucb der Staatssekretar Latte den Kaiser bestarkt. Er wollte auf den
Polen zuwacks nunmenr endlick verzickten, wollte sick uberdies fur die
„aufitropolniflcne Losung entsckeiden, die mm gleickfalls der Staatssekretar
eropfakl. Der Kaiser Latte eine Karte in den Kronrat mitgekrackt in
die eine Linie eingezeicknet 'war; die Karte breitete er jetzt vor den
Generalen und Staatsmannern aui den Tisck.
,.Meine Herren, Sie finden in dieser Karte die kunftige Grenze
zwiscken Preulsen und Polen eingezeicbnet, wie lck sie als oberster poll-
tiscber Leiter und als Oberfeldberr fur ricktig halte.
Dann motivierte der Kaiser nock :
„Ick beziebe mich dabei auf das Urteil eines austfezeichneten und
beruienen Fachmannes. Namlick kier, des Generals Hoffmann,
Die Grenzlinie stammte von der Hand des Generals. Der Staats-
sekretar batte ikr namentlicb inn Hinblick aui die moglicke „austro*-pol-
niscbe Losung' der Polenfrage zugestimmt, die er, um Deutsckjand die bessere
Stimmung des Bundesgenossen zu erkalten, fur Osterreick-Ungarn wunsckte.
Aber plotzlick ergab sick ein Zwisckenfall. General Ludendorrf
verlor ein paar Augenblicke ganzlick Form, Haltung und Ton. Eigent-
lick murrte er mit dem Kaiser. Oder er sckrie. Seine Nerven zeigten
sick unbekerrsckt. Uber seinen Kopr kinweg durfe der Kaiser V ortrag
von keinem General kegebren. Die Grenzlinie des Kaisers konne mcbts
Endgultiges sein. Er musse sick dies nock sekr uberlegen. Auck der
Generalfeldmarsckall murrte.
,,Wir mussen die Angelegenkeit wokl nock studieren."
Darauf der Kaiser:
„Also erwarte lck nock V ortrag — —
Der Kronrat sal? vor dem okersten Kriegskerrn peinlick berukrt.
Allerdings katte der Staatssekretar, selbdt in offener Differenz mit
Ludendorff wegen des Grenzstreifens, dem Kaiser widerraten, sicb auf
General Hoffmann zu berufen. Dem Ersten Generalquartiermeister scblug
der Kaiser vor, dock seibst fur eine Weile nack Brest Litowsk zu geken,
um all die verwickelten Pobleme an Ort und Stelle zu studieren. Der
Generalquartiermei*t*r glaubte, sckroff ablebnen zu sollen. Der Kronrat
&ng auscinander.
we
WALTHER FEDERN WIENER WIRTSCHAFTL1CHES
TAGEBUCH
Zur Zeit, wo sicb die ?cbwere Faust der Alliierten auf Deutscbland
medersenkt unci ea jeder Entscblul?freibeit beraubf, wird aucb Deut*cb-
oaterreicn gezwungen, seine Wirtscbaft nacb dem Willen der Auslander
einzuricbten. indem die in Aussicbt genommenc Hilrsaktion des Volker-
bundea von der Ausfubrung eines Sanierun ga programmes abbangig gemacnt
ward, daa lie Delegierten des Finanzkommitees der Regierung und den
Parteien zwar in der liebenswurdigsten und woblwollendsten Weise aber
docb aufzwingen. Nur stuckweise lernt man dieses Programm kennen.
Was der Volkerbund tun wird, daruber wird er erst auf Grund dej
Bencbtes seiner Delegierten bescbbetfen; was diese lbm vorscblagen, kann
man nur andeutungsweise aus emer Antwortnote, welcbe die Regierung
auf ein ibr von den Delegierten ubermitteltes Memorandum uberreicbt
bat und aus unbeglaubigten Meldungen einiger Blatter, welcbe von einer
Anleibe von 500 Mill. Scbweizerfrancs wissen woollen, entneLmen. Aus
dieser AntwortDote ergibt sicb, dal? die Regierung mcbt obne schwere
Bedenken ibre Zustimmung zu den 1m Memorandum ausgesprocbenen
Forderungen gegeben bat und die politiscben Parteien, deren Zustimmung
von den Delegierten verlangt worden war, batten sie in nocb boherem
Mai?e< aber sie mutften trotz ibrer Bedenken zustimmen, da uns sonst die
Kredite, die zwar gewii? keine Sanierung bringen, uns aber docb fur
etwa 2 Jabre zu leben erlauben wurden,. verweigert werden wurden.
So 1st es nun an dem Volkerbund, zu sagen, was er fur Deutscb-
osterreicb tun will, umsomebr, als die Regierung weni|stens die Situation
soweit gerettet bat, als aie verlangt bat, dai? das innere Sanierungs-
programm nur parallel mit der autferen Hilfsaktion durcbgefubrt werde
und datf beide ein einbeitlicbes Ganzes bilden musaen. Denn wie lie
Regierung sagt, konnen die mit dem Sanierungsprogramm verbundenen
sebweren Opfer der Bevolktrung nur zugemutet . werden, wenn die aus-
landiscben Hilrsmabnabmen die Hebung unseres Geldwesens und die
Stabilisierung unserer Valuta wirksam in Vollzug setzen. Urn den
Wirkungen weiterer Notenvermebrung vorzubeugen, muften daber lie
zur Sicberstellung der Lebensmittelimporte, zur Entlastung des Valuta-
marktes und des notleidenden Staatsbausbaltes erforderlicben auslandiscben
Kredite aucb von der Anleibe vorscbutfweise zur Verfugung gestellt werden.
Einer unter Beteiligung auslandiscben Kapitals neu zu grundenden
Notenbank soil nun das ausscblietflicbe Recbt der Notenausgabe
ubertragen werdeo, wobei eine eatsprecbende Teilnabme Osterreicbs an der
649
Verwaltung dieses Institutes zu sicbern ist, Cbaraktenstiscb genug lai?t
das sogenannte iubrende Blatt, die ,,Neue Freie Presse* , diese Einflul?-
nature Osterreiclis durcb emen Finanzpolitiker als grundlegenden Febler
erklaren, weil die Notenbank Jem Einflul? des Staates soviel als moglicb
entzogen werden musse. Sie wurae es also Leber seben, wenn die Ver~
fugung uber unsere Notenbank, uber Jen offentlicben unJ privaten Kredit,
ganz in Jie Hande von Auslandern gelegt werden wurde. Sie glaubt
nocn beute, dais das ganze \Vabrungsungluck Osterreicbs dadurcb ejt~
stand en ist, daf? der Staat die Notenbank in die Hande bekam und semen
Zwecken dienstbar macbte, und weil? mcbt oder stellt sicb, als ob sie
nicbt wutfte, das in alien Krieg fubrenden Staaten die Notenbank den
staatlicben Geldbedurfnissen selbstverstandhcb zu Willen sein mufte,
Als die wicbtigste Aufgabe der Notenbank wird in der Antwort-
note die Aufrecbtbaltung des Goldkurswertes der Krone bezeicbnet
AiVie sie diese Aufgabe erfullen soil, wenn und msolange unsere Handels-
und Zaklungsbilanz ein so entsetzlicb bones Passivum aurweist, das ist
das Gebeimnis der Volkerbunddelegierten. Im Jabre 1920 baben wir
uber 60 Mill, dz Ware eingefubrt und nur 13 Mill, dz ausfubren
konnen. Dal? sicb in absebbarer Zeit daran viel anderu wird, erscbeint
ausgescblossen, Aber fur die Regierung ist das wobl eine Zukunftssorge,
denn erst bei Grundung der Notenbank wird dieser Geldkurswert unter
Berucksicbtigung der macbtgebenden, volkswirtscbartlicben und staats-
finanziellen Verb alt nisse festgesetzt werden und aucb die endgultige Fest-
setzung einer neuen Geldeinbeit wird erst bei Sicberung und Inangnff-
nabrae samtlicber Samerungsmaunabmen vorgenommen werden. Das ent~
kraftet aber nicbt die Bedenken gegen diesen Prograraropunkt, denn die
Volkerbundaktion soil uns ja nur die Getreideimporte fur die nacbsten
zwei Jabre sicbern, und dann stunden wir vor derselben verzweifelten
Situation wie beute, aber mit einer neuen Geldeinbeit und Notenbank,
die neuerlicb beillos diskreditiert wurden, wenn die neue Notenbank
ebensowenig imstande ware wie die alte den Goldwert zu sicbern und
die neue Geldeinbeit ebenso einen\ wacbsenden Disagio verf alien wurde
wie die alte Krone. Darum baben alle vernunftigen mlandiscben Finanz-
politiker die Scbaffung einer neuer Notenbank und den Ubergang zu
einer neuen Wabrung erst fur den Zeitpunkt empfeblen zu konnen geglaubt,
wo die Aufrecbtbaltung Jer Stabilitat auf absebbare Zeit gesicbert erscbeint.
Das gescbiebt aber Jurcb die gegenwiirtige Volkerbundaktion kemeswegs.
Zur Sicberung der auslandiscben KreJite und der Scbuld des Staates
an die neue Notenbank -werden das Tabakmonopol, das Zollgefalle,
650
eventuell auck die Staatsforste verpfandet und Jen auslandiscken Kredit-
gekern ein suksidiarea Vorzugspfandreckt auf den gesamten Realkesitz in
Deutackosterreick in der Hoke von 4°/o des Vorkriegswertes eingeraumt.
Das ist das Ckarakteristiscke an unserer Not, dais wir unsere bee ten
Einnakmequellen und unseren Besitz dauernd verpianden muss en tiir den
Dienst einer Anleibe, die uns iur kaum mekr 2 Jakre das Leben ge—
wakrleisten wird. Um auck nur diese Anleike sickerzustellen, mussen
die Zolle und Takakpreise wesentlick kinaufgesckraukt werden eken
ist wieder eine Verdoppelung der Takakmonopolpreise in Vorbereitung,
die oknedies sckon weit koker sind als die Preise der Tabakrabrikate in
Deutsckland — und gleickzeitig sollen alle anderen indirekten Akgaken,
die kereits groteak koken Eisenkakntanre — die dem groMen Teil der
Bevolkerung das Reisen oknediea sckon unmoglick macken — fur Personen
und Frackten wesentlick erkokt werden, denn die staatlicken Betrieke
sollen ikre Ausgaken selkst decken. Diese Erkokung der Tarife und
Akgaken muQ unvermeidkckerweise eine neue Teuerungawelle kervor-
rufen, und dakei sollen gleickzeitig die Lekensmittelzusckusse des Staates
allmaklig akgekaut werden, damit daa Budgetdeftzit allmakkg sckwindet.
Aua dem Memorandum der Delegierten des Vollcerkundea weif? man
auck, datf aie wunsckten, dal? dem System der fortwakrenden Gekalta-
erkokun gen Zugel angelegt werden. Da von ist in der Antwortnote
der Regierung nickt mekr die Rede. Vermutlick iet es der Regierung
gelungen den Delegierten klar zu macken,. dai? man nickt gleickzeitig die
Preiae aller Bedarfsartikel kinaufsckrauken und den Verzickt auf ent-
spreckende Einkommenvermekrung der orgamaierten Angeatellten und
Arkeiter verlangen konne — Aie nickt oder UDzulangkck orgamsierten
geistigen Arkeiter und die kleinen Rentner mussen oknedies daraur ver-
zickten und nock mekr kungern. AVenn aker erkannt wird, dai? neue
Teuerungswellen unvermeidlick neue Loknkewegungen zur Folge baben,
dann rragt man sick, wie aur dieaem \Vege das Budget ins Gleickgewickt
gekrackt werden aolle. Denn ein groiier Tea der Mekreinnakmen wird
auf Erkokung der Beamtengekalte, Steigerung der Preise aller Sackguter
— denn nickt nur die Staatskediensteten werden Lokn- und Gekalts—
erkokungen verlangen — , aur Erkokung der Rukegenusse, Arkeitalosen—
unterstutzung u. s. w. aurgeken. Eine sckeinkare Entlastung ward 1m
wesentlicken nur "insoweit entsteken, als die Besckairung der Lekensmittel
auf Kredit es dem Finanzroimsterium erlauben wird deren K. oat en nickt
ins Budget als Ausgake einzustellen, sondern klos die Zinsen der kierrur
auigenommenen Anleiken.
651
Es wird daker sclir notwendig sein zur Deckung defl kedeutenden
restlicken Defizits innere Anleiken aufzunekmen, zu deren Sickening eine
weitere 2°/0ige Hypotkek auf alien privaten Realbesitz in Aussickt ge-
nommen ist. Ok das Kapital sick dadurck von seiner Anleikesckeu
wird akkringen lassen, kleikt akzuwarten. Die Regierung selkst ist jeden~
falls skeptisck, denn sie gikt den Delegierten zu kedenken, da/? ein Erfolg
einer inneren Anleike nur zu gewartigen ist, wenn der Kredit Osterreicks
und das Vertrauen in seine Bevolkerung wteder kergestellt sind. Dies
Lite zur Voraussetzung, dai? durcli die Mitarkeit der Vertreter der
Delegierten des Volkerkundes, die voile Sickening der Durckfukrung des
gesamten Finanzprogrammes gegeken ist. Auf den ursprunglicken Vvunsck,
dais zuerst die innere Anleike aufgenotnmen werden sollc, was als un»-
erlai?licke Voraussetzucg jeder auswartigen Hilfsaktion kezeicknet worden
war, ist also die Regierung nickt eingegangen und sckeinen die Delegierten
verzicktet zu kaken.
Bisker kake ick i ur die finanzpolitiscken Bedenken gegen das
Programm kerukrt, das alle Aussickt kat erfolglos zu kleiken und das
Defizit und die Notenpresse nxckt zum Stillstand zu kringen, auck wean
das innere und aulsere Sanierungsprogramm zur Durckfukrung gelangt.
Viel eckwerwiegender sind die wirtsckartkcken Bedenken. \A/enn eine
neue Teuerungswelle sick erkekt, wenn wegen der Erkokung der Brot-
und Meklpreise, der indirekten Akgaken, Tarife und Monopole Arbeiter
und Angestellte riesige Loknforderucgen stellen, wie soil dann die In~
dustrie auck nur ikre kiskerigen Exportleistungen aufrecktkalten, zumal»
wenn gleickzeitig versuckt werden sollte, den Kronenkurs zu keken und
dadurck die Exportpramie zu verringern? Nickt darum kandelt es sick,
dai? das Finanzprogramm die Sanierung nickt kringen und eine neuerlicke
Enttausckung kereiten durfte, sondern dai? sckon seine sckrittweise Inan-
griff nakme zu all unseren kiskerigen Noten nock dieGefakr einer tiefgekenden
Aksatz- und Arkeitskrise, eines sozialen Notstandes scklimmster Art, die
vollige Zermurkung des Mittelstandes kerkeizufukren drokt, Und deskalk
ist es sekr zweifelkaft, ok die Regierung gut keraten war, sick mit den
genngen Milderungen dee ursprunglicken Finanzprogrammes der Delegierten
zu kegnugen.
Es ist ja gar kcin Zweifel, finanzpolitisck ist das ganze Programm
sekr gut gedackt und wurde es sick in Deutsckosterreick nur darum
kandeln, einer versckwenderiscken Wirtsckaft Einkalt zu"tun, dann ware
der Plan sekr gut. Nun wird niemand kekaupten wollen. dai? unsere
Staats- und Privatwirtsckaft den Erfordernissen, sick rack einer sekr
632
kurzen Dcckc zu strecken, genugend angepatft kat. Die Staatsverwaltung
wirtsckartet sckleckt, die Beamtenzakl ist viel zu groi? und es darken
kauptsacklick nur jene Kreise des Mittelstandes und gewisse Arkeiter-
und Angestelitensckickten, die nickt in der Lage smd ikr Einkommen
mit den steigenden Preisen zu erkoken. Die anderen leiden zwar viel-
fack Not am Notwendigen, aker sie kaken Geld fur Ukerflussiges. Die
1 Mill mc Wein, welcke im vergangenen Jakr in das Weinland Deutsck-
o^terreick eingetukrt wurden, konnen cur zum genngen von den uker
Edelvaluta verfugenden fremden und keimiscken Sckiekern vertrunken
worden sein. Sie beweisen, was man oknedies sckon wulste, daf? werte
Kreise der Arbeitersckaft glauken, sick ein oder einige Viertelliter Wein
tagKck vergonnen zu raussen. Ein keilsamer Zwang zur Sparsamkeit tut
uns also gewil? not. Und es mag ein nakekegender Gedanke sein, da-
durck, dal? man die Preise der unentkekrlicken Lekensmittel und der un-
entkekrlicken Genutfmittel, Takak und alkokoltscke Getranke, erkokt,
okne eine entsprecbende Erbokung der Gekalte und Lokne eintreten zu
lassen, die Moglickkeit zum Verkrauck von Uberrlussigem der Bevol-
kerung zu entzieben. Aber abgeseken davon. dau es sekr fragkek ist, ok
die Regierung trotz Unterstutzung der Vertreter des Volkerkundes,
welcke mit der Regierung unsere Wirtsckaft in alien Zweigen kontrollicren
sollen, genug Autontat Kaken wird, um diese Entkaltsamkeit zu er-
zwingen, ob es ibr auck nur endlick gelmgen wird, was zu versucken sie
langst aufgegeben bat, die Einfukr entbekrlicker Guter wie eken AVetn,
viele Kolomalwaren und anderes zu drosseln, ist es ein verkangnisvoller
Irrtum zu glauken, dal? unsere Not auck iiur zum grotferen Teil aus der
gewil? unzulassigen Genu&uckt weiter Kreise stammt. Die etgentlicbe
Ursacbe der Not ist, wie es die Gro(?deutscke Volkspartei' erklart kat.
daf? wir aul?erstande sind, mit unserem kargen landwirtsckaMicken und
mdustriellen Produkhonsapparat genugend Guter zu erzeugen, um auck
nur ein entbekrungsreickes Leben zu fristen, und diesem Ubel kann durck
das Sanierungsprogramm des Volkerkundes nickt gesteuert werden. Es
ist, wenn uberkaupt, nur durck jakrzekntelange inteneivste Arbeit zu keilen
und diese zu unterstutzen und zu organisieren ware Aufgake einer Hilfs-
aktion, welcke mebr leisten will als uns durck ein paar Jakre vor dem
Verbungern zu sebutzen. Dszu kaken aber d'\e Mackte, die diesen Staat
gesckarien babsn. weder d^n Willen nock die Fakigkeit und so wird
ackliel?lick dock nicbts ubng kleiben al«? uns den ^vVeg geken zu lassen,
den die Abstimmung in Tirol neuerhcb als den von der ganzen Be-
volkerung erseliutea erwiesen bat. dea Anscklui? an Deutsckland.
653
Stefan grossmann REISE DURCHS GENIESSENDE BERLIN
Pnngstsonntag war icb — in Beilin. Bis vier Ubr nacbmittags lag
ten zubause m meiner grun verdunkelten Wobnung, es war kubl una
ganz still, una von der Strafe drang kern Larm herauf. In Doberau
oder Warmbrunn ist es, denke icb, am Sonntagnacbmittag nicbt so rubi^.
Da keimte in mir der Gedanke: Jetzt kannst Du Dir Berlin anseben,
jetzt ist es ertraglicb. Icb ging durcb die Potsdamer Stratfe. Es war
sonnig, aber berrbcb menscbenleer. Kein AA/agengerasseL Nur dann und
wann gab eine vollgepiroprte Stratfenbabn die Sicberbeit, dal? nun die
Letzten ausgezogen waren. Icb kam an einem Kino vorbei. War es
geofrnet? Ja, die Saalturen standen weit offen, man scbaute in einen
rinsteren, ecblaucbartigen Saal. Viele leere Bank<. (Tut das wobl, ein
Kino mit ganz leeren Banken zu seben!) Die Saalturen waren fast aus-
gerenkt vor Oifenbeit, als wollten sie durcb em bil?cben einzurangende
Sonntagssonne endlicb die dicke Luft, die bier aeit Monaten stoekte, er~
neuern. In dem verscblag sucbte icb die Kassieretm. Sie batte sicb
nlnten aur ein Sofa gelegt und scblummerte. Allen Kassierennnen aller
Kmos wunscbe icb jeden Tag einen so gesunden ungestorten Scblaf. Icb
gen o is die Pbotograpbien im V orraum. Man batte, wenn Jemand ge-
kommcn ware, ein Lustspiel gegeben, acb, ein deutscbes Lustspiel. Es
rubrte den Titel: „R.oscben aur der Mannerjagd*. Da, das scbmppiscbe
Madcben mit der ungebeuren Seidenscbleife bintcn im Haar, das war
orrenbar Roscben. Lebst Du wirklicb nocb, Roscben mit der ungebeuren
Scbleire? Du . bist deraelbe scbamige Wildfang, wie 1890, zu Lubliners
und Gustav von Mosers Zeiten. Nur bast Du beute den Mut, Deine
Wade zu zeigen und bist uberbaupt ein klein wenig angewedekindet. Da,
neben Dir, stebt Deine Mutter. Die wurdige magere Dame mit der
komiscben Hocbrrisur. Wie m den Acbtzigerjabren wird die arme, nicbt
mebr scbone, vom Leben verbraucbte Frau iu den Possen verbobnt und
verulkt, der Humor der Volksunternebmungen ist mcbt menscbbcber und
nicbt milder gewordea. Und wer ist dieser selbstgeralUge, olige, sorgsam
gescbeitelte junge Mann ? Ob, es ist der Star und Scbwarm aller
Roscben mit Scbleifen am Hinterkopf. Vor zwanzig Jabren trug er einen
gewicbsten Scbnurrbart, beute gebt er engbscb-glattrasiert umber, aber er
scbraeiut dieselben verbeerenden Bltcke uai sicb und beiratet, scblieiriicb,
die Tocbtcr dee Kommerzienrats. Siebt man dtese Pbotos, so weil? man :
Die Welt stebt still. Roscben wird ewig leben und der geolte Herzens-
toter und der Kommerzienrat und die^e Sebwanke und die menscblicbe
654
Dummkeit. Es tat wokl, diese Bilder sick anzuseken und sick zusagen:
Heute, wemgstens keute, werden die Gekirne mit diesem Brei nicht vcr-
kleistert. Erquickend war der Blick uker die leeren, leeren Banke.
Dann kam ick an einem Luxuskaffee vorkei. Hier wurde urn diese
Zeit, allnackmittagkck, Geige gequietsckt und dazu Klavier gestrampelt.
\Venn man von Berlin nickts wui?te, als dai? es seit zwei Jakren fast
kein Lokal mekr gikt, in dem man UDgestort cine Tasse Tee oder ein
Glas Bier trinken kann, sondern dai? man uberall durck diese fanatisck
falsche Musik dem Irrsmn nake gekrackt wird, dann wutfte man von der
Stadt des menscklicken Larnies genug. Ergeken nakme ick den ver-
wasserten, versauerten Mosel dieser pomposen Lokale kin, wenn dock
diese Quartettmustk nickt nock viel verfalsckter ware als diese "Weine.
Ekedem kewunderte man an den Berliner Musikern die unverleugkare
Natur des preu&scken Beamtenstaates. Der Geiger, der ein en Slraufi-
walzer spielte, tat das mit detn Gleickmut des preuftscken Steuerkeamten.
Jetzt ist auck das verfalsckt, der Neukollner Steuerkeamte markiert Rigo,
den Zigeunerprimas oder, seit drei Monaten, die amerikaniscken Musik-
kanden. Aker die Dissonanz, die zu dem grotesken Humor der Jazz-
kande patft, wird kier aus Pflicktgefukl verukt, und der weicke kikkemde
Sckmelz des Violinsolos Rigos gekt kier in eine allmaklicke Verscklafen-
keit uker, die dem ukeranstrengten Steuerkeamten nicht ukelzunekmen ist.
Zu dieser Musik, zu diesen ^Yeinen genoren die nuckternen Damoninnen
dieser Lokale, diese unkeimlick aufgetakelten Spree- Spanierinn en, die ja
dock mckts Anderes als die Verrecknung mit der Quartierfrau im Kopfe
kaken. Wakrend sie, Bein uber Bein gescklagen, in sckillernden Roken
dasitzen und glutvolle Blicke uker die kier versammelten EinwoWr von
Gorlitz, Glauckau, Riesa, Wittenkerge und Elsterwerda werfen, recknen
sie still im Kopfe: MO fur Sauerkokl, 2.79 fur Margarine, 3.40' fur
Harzerkase, 6.20 fur Streickwurst und 21.80 fur Mampe mit dem
Doppelgespann. Namlich, Lulu im Palais de danse ist auck aus Glauckau,
Gorlitz, Riesa oder Elsterwerda und sie verstellt sick nur, urn das vor
dem Landsmann angstlick zu kergen. Aker es gikt ein Wiederseken
kei Sauerkokl, Harzer Kase und Streickwurst. Sie linden sick im sack-
siscken Himmel. Auck das Laster ist ein muffigea Kleingewerke. Heute,
Pfingstsonntagnacnmittag, kann man sick in diesem Palais zum 5 Ukrtee
getrost niederlassen. Weit und kreit keine damoniscke Ersckeinung.
Wenn namlick Pfingstsonntag gekommen ist, mit all den vollgepfropften
Strain- und Stadtkaknzugeo, da ukerfallt die grotfe Claire aus dem
palais de danse ein unuberwiailicker Heim>vek nack Sonntagsgedrange,
655
Dunnbier und Kaffeekocken un Freien unci Jem Friseurgekilfen, mit dem
man sick Lin term Bus en am Seeufer niederlassen kann. Dann wirft die
grotfe Claire das Pariser Modell aus dem Sclineideratelier in die Ecke
und mackt sick auf scklickt zureckt. Der Friseurgekilfe, gottseidank,
findet sick immer wieder und das sckwitzige Gedrange auck und, mit
Mucken und Froscbgequak, auck der Busck am Havelsee. An solcken
Tagen lok ick mir das Palais de danse. Der Ventilator eaust durck dae
kalkdunkle Riesenlokal, die pomposen Plusckvorkange bauscben sick und
streuen alle monatelang gesammelten Bazillen in den graugrunen Raum
Auf der Estrade ruken sick die mi#braucbten Geigen aus und das Klavier
laJ?t das ewig getretene PeJal sanft~melancbolisck kerunterkangen. Die
Notenstander, auf denen seit zekn Monaten derselbe Scklager liegt,
freuen sick ikrer endlick nackten Stabe. Endlick, endlick ist der Nack-
mittag gekommen, an dem die Frage. warum denn weinen, wenn man
auseinandergekt, nickt gestellt und nickt beantwortet wird. Es ist, als
ob alle diese mi^brauckten, blode aufgeputzten, gesebmuckten Lokile ibren
Sabbatk bielten, ikre Reinigung, ikre Heiligung : Sie aind frei von ikren
Gasten ! Ick nekme mir vor, an jedem Pfmgstsonntag nackmittag ins
Palais de danse zu geken. Aber in welcbes? Jedes Viertel, jede groi?-
berliner Hauptstratfe kaben lkr palais de danse. An diesem Ruketag ging
ick durck die FriedricbstraUe. Plotzlick stand ick vor einem baufalligen.
sckwarzlicken Haus, mit unkeimlicker Toremrakrt. Wenn man ein
bi#cken die Atmospkare berocb, batte man das Gefubl : Saurer Keller.
Mause, grotfes Ungeziefer. Ick blickte auf Da bing iiber dem Tor ein
gropes Sckild: Palais de danse der Friedricbstadt. Solcke franzoeiscb
aufgetakelte Tanzkauser gibt es jetzt in jedem Viertel, bis kinaus in den
Norden und Osten der Stadt, bis tief in die Proletarierquartiere. Ge~
wok'nlick tritt da eine Nickttarizerin auf, die koke etkiscbe Funktionen
erfullt, denn sie nimmt der oknebm allzu genuKgiengen Bevolkerung fur
ein paar Stunden alle Lust an der Nacktkeit, ibr folgt gewohnlick e:n
Lokalsanger, der ein Couplet singt, nack dem Reimrezept, nack dem in
Berhn jetzt Bankel erzeugt werdee :
Guste,
ack kuste
mir emmal ins Gesickt,
Sonst kau ick,
Sonst sckau ick
Nickt mekr ins Sonnenkckt.
656
Solcne Lieder konnen zu jedem Namen, wie beim Schnellphotograpnen,
in funf Minuten fix und fertig sein. Der Besteller kann gleicn darauf
warren. Es braucnt nur der ricntige Reim zum Tautnamen gefunden
werden :
Rose
o kose
beut abend in der Laube
odsr l>2i Traube,
mit Deinem Scnatz
zum ersten Scnmatz !
Oder aucn;
, Elvire,
xcn eclimiere
Dir scbnell cm en K.uu
USW.
^^/ober ich das Allea weitf? IcK war nie in einer dieser kostlicken
Freudenstatten, kenne kein Lied aur Guste oder Rose. Aber keut nack-
nnttag gtng lck durck die leere Stadt und sak vor jedem dieser Tanz~
kauser die Fotografien der Nackttanzenn, des Lokalsangers, der Duettisten,
lck babe die Licktbilder von Pia Mia und Grete Liesentkal geseken, ick
san das Bild des sckelmiscben Duettistenpaares Pepi Danmnger und Rudi
Stolz. Die besak ick besonders lange, weil lcb nicbt genau entsckeiden
konnte, ob der Mann Pepi ist und die Dame Rudi oder umgekekrt.
Vielleicnt batte ick das Problem gelost, aber da bemerkte ick zu meinetn
Sckrecken, dal? eine groi?e pompos gekleidete Person an xmr voriikerging
und eintrat. Das war gewil? die grotfe Claire, aus Grunau zuruckgekekrt.
Da erschrak ick, dau es Abend geworden war und rannte scbleunigst in
meine mit resten Holzladen abgejcklossene Woknung zuruck. Wenn icb
sckon das gemetfende Berlin kennen lernen soil, dann nur in Stunden. in
denen es nickt anwesend ist. Pfingstsonntag 1922, nacbmittags 4 Ubr,
siekt mick das palais de danse wieder.
657
CARL STERNHEIM FAIRFAX
IX.
In Bayern aber gab es von Anfang bis zum Ende nur Ver-
driel?lichkeit und Mitfverstandnisse fur Fairfax. Nichts klappte.
Gleich im Hotel -war Notiges nicbt gerichtet — man hatte infolge
seiner iiberstiirzten Ankunft kaum eine Ahnung, wer er war —
und als er am nachsten Morgen aus wiistem Traum, Daisys Er-
lebnis in Salzburg betreffend, erwachte, schien drautfen auf Korri-
doren der j ungate Tag angebrochen.
Bei balber Nacht war kontrollierend die Fremdenpolizei im
Hotel erschienen und hatte die Sioux ohne spezielle Einreise-
erlaubnis fiir Bayern betroffen. Diese aber, die sicb durch
briisken Einbruch uniformierter Beamten bedrobt sahen, waren
augenblicklicb auf den Kriegspfad aufgebrochen, und minutenlang
sausten Tomahawks und andere harte Gegenstande hinter der
fliehenden Polizeitruppe her, wahrend die benachbarten Zimmer
sich offneten, und vor Schreck halb ohnmachtige, diirftig beklei-
dete Hotelgaste das chaotische Durcheinander nur noch verstarkten,
Und dann schien es zum Autfersten zu kommen. Sieges-
trunken und durch das Autferordentliche autfer sich gebracht
machten die Indianer Miene, einigen ^Veibspersonen, die sich ihnen
aufdringlich genaht hatten, in deren Zimmer zu folgen, was diese
da die Geschichte vor aller Welt vor sich ging, nicht dulden
konnten und sich schreiend verbaten.
In diesem Moment erschien Fairfax auf der Szene, donnerte
— und zerknirscht zogen sich schleunigst die Sioux zuriick. Fiir
ihren Herrn aber begann ein Vormittag schwierigster Zurecht-
stellungen. Es raste die Polizeidirektion, und nur eine lange,
dringende Telefonade des amerikanischen Botschafters in Berlin,
eines Vetters Fairfax, der drdhte, aus der S ache einen diplo-
matischen Zwischenfall zu machen, rettete die Indianer vor
Schlimmstem. Es telefonierte entschuldigend Fairfax mit dem
gekrankten Prasidenten des Freistaats Bayern, der President mit
Berlin, Berlin mit dem preutfischen Gesandten in Bayera, der mit
dem amerikanischen Konsul in Miinchen, der mit dem bayrischen
Justizminister, der mit der Polizeidirekiion, die mit Fairfax, Fair-
fax mit ihr und noch einmal dankend mit dem Staatsprasidenten,
658
bis gegen Mittag alle Beteiligten mit Einschluf? der verbindenden
Telefonistinnen vollig erschopft waren und endlicb Rub gaben.
Nicbt so die Miinchener Zeitungen. die abends mit flammcn-
den Artikeln erschier en: „ D i e rote Schmach!" und „^Vie
weit soil es noch komtnen?!" und das Ungeheure, dai? sich er~
eignet hatte in so satten Farben malten, dal? die gesamte Ein-
wohnerwehr an abendlicben Biertopfen Revancbe kochte, die
altesten Kellnerinnen schworen: dos gibts fei net! und die Wasser-
madchen sich kicbernd ihr Teil dachten.
Anderen Morgens aber, instruiert, widerriefen die Redak-
tionen das Ganze, behauptend, es handle sich vielmehr urn die
Indianertruppe, die der Gabriel Niederhuber fur die Oktober-
wiese engagiert habe, und die das p. t. Publikum mit noch nie
dagewesenen Tricks ergotzen werde.
Immerbin mufsten die Sioux sofort nach Berlin vorausreisen,
und nur auf abermalige personliche Vorstellung beim Freistaats-
prasidenten gelang es Fairfax, Erlaubnis zu erhalten, dal? eine ein-
zige Indianerfrau, die er nicht entbehren konnte, wenige Tage, die
er id Miinchen bleiben wollte, mit ihm verweilen durfte. Daisy
bingegen war mit kurzer Trennung von Mumfo ohne weiteres
einverstanden, was Fairfax ein bedeutendes Zeichen schien.
So stellte er, worauf es ihm im grotfen Zusammenhang seiner
Reise ankam, nur das Grundsatzlichste iiber Bayern und seine
Bevolkerung fest, es sei zwar das enfant terrible Deutschlands,
und das kernige Mannsvolk mit griffestem Messer in der hinte-
ren Hosentasche fiir lokale Ausschreitungen durchaus nicht unge-
fahrlich, im ganzen aber stande die bayrische Mentalitat zu gro-
f?en politischen und wirtschaftlichen Weltfragen in uberhaupt
keinem erwahnenswerten Zusammenhang weil, ohne Rohstoff*
produktions- und welthandelslos nur auf Bier, Literaten und
Gspusiwirtschaft eingestellt, das Land, fiir Deutschlands Gesamt-
schicksal mehr als der kleinste Industriebezirk qualite negligeable sei.
Daruber beruhigt, sab er sich noch genietfend einige Besonder-
heiten der hiibschen Stadt an, ein Atelierfest, auf dem Daisy ein
iiber das andere Mai errotete, einen Aufzug Sonntagsmorgen der
bebanderten Studenten und der Einwohnerwehr zum nationalen
Bekenntnis vor die Feldherrnhalle, der ihm wohlgefiel, und jenes
ratselhaft verwitterte Zwitter an der Ecke Perusa- und Theatiner-
stratfe, das, fiir Fremde nach Abstammung, Tracht, Geschlecht und
659
Beruf unkenntlicb, von Wissenden als weiblicbe Trambabn-
weicbenstellerin erklart wird.
Aber scbon war ibm in Miincben die Eigenscbaft der Men-
scben aufgefallen, durcb die gleichwobl der Bayer sicb als ecbter
Deutscber beweist, und aus der Fairfax scbon an dieser ersten
Etappe den entscbeidenden Unterscbied der Bevolkerung zur fran-
zosiscben besonders feststellen konnte: unmatfige Konsum-
fabigkeit!
Grade jenes Vermogen, das Daisy glatt den Franzosen be-
stritten batte, und das im Grund Voraussetzung und conditio sine
qua non aller Fairfax's cben Plane und die eigentlicbe Qualitat
war, urn die die Welt den Deutscben mebr als urn seine
ScbaflFenskraft beneidet.
Er fubr, den Kontakt mit Bayern ein Weilcben zu verlangern,
ganz simpel Scbnellzug erster Klasse nach Berlin. In seinem Ab~
teil sa# ein eingeborenes Ebepaar, das gleicb nacb Abfabrt des
Zugs ein Korbcben bervorzog, mit leckeren Etfwaren bis zum
Rand gespickt.
Da es fur Fairfax und Daisy Problem war, was und wie-
viel ibr Gegeniiber genietfen wiirde, stellten sie fest: zwei Biicbsen
Olsardinen von Pbilippe und Canaud, eine gut gebratene Gans,
von der nur das Skelett blieb, je eine Blut- und Leberwurst, drei
Taieln Scbokolade und Traubenrosinen. Dazu zwei Flascben
Rotwein und einen festen Scbluck Benediktinerliqueurs.
Die batten den letzten Bissen nicbt getilgt als der Kellner
des Speisewagens vorbeilief und zum ersten Mittagessen rief. Wie
auf ein lang erwartetes Signal startete das Paar zum Diner.
Daisy trumpfte den Vater an: „Lauf durcb den Zug, zu
seben, wie alle Welt sicb regaliert, und da(? bier keine Ausnabme
gescbab! Das lebt saftig, bliibt und vertilgt Stoff auf Stoff, datf
es dem nacb Verbraucb verlangenden Produzenten bier besser als
anderswo zu Mut sein mul?. Welcbe Entscbliisse du aucb scblietf-
licb fatft, welcbe Ziele du aufstellst, jedes ist falscb, in dem solcbe
Genutfreude, solcber Verbraucbstaumel des Deutscben nicbt ange-
messen berticksicbtigt ist."
Und nacb einem Augenblick: „Und battest Du mit dern
Glauben an der Franzosen Elementarbaf?, dieses Volk vernicbten
zu wollen, re bt, und ware er Dir als Kreatur nocb so sympa-
tbiscb, als Hersteller, der von nicbts als dem allgemeinen Ver-
6G0
brauch abhangt, bleibt fiir Dich zu iiberlegen, auf wessen Seite
Du dicb schliefftich schlagst."
„Du hast fiir die Deutscben ein Faible." Sagte Fairfax.
„Ich finde rn.it Einschku? der Deutscben Dein Europa zum
Kotzen*' fubr Daisy fort, „wie icb aucb Amerika fiir eine Fair-
fax kaum erlebenswert fand. Seit meinem ersten Lebensjahr lang-
welle icb micb driiben wie bier zum Er barmen, und Ursprung-
liches in mir ist iiberhaupt nocb nicbt beriihrt. Immerhin bin icb
gerecht genu^, anzuerkennen, iat die Welt so erbarmlich be-
schrankt, mir der Deutsche ein Exzei? zu sein scheint. Und daf?
ist, was die Ubrigen argert."
„Aber dieser Exzei?. wie Du richtig sagst, hat als solcber
keine Spitze. Ist an sich niemand feindlich oder nur alien zugleich."
„Wafl heifit das?"' Fragte Daisy.
„Er hat gegen keinen Einzelnen Tendenz. Ist nicht direkt
zielstrebig, sodal? man ihn nicht leiten, kaum beaufsichtigen kann.
Nichts ist an ihn anzuschlietfen, nicht auf ihn zu rechnen wie
auf der Franzosen soliden Trieb etwa. Das ist klar! Diesen
Deutscben ist es gleicb, mit wessen Hilfe oder gegen wen sie
Vielfresserei und Verschwendung befriedigen, und darum ist der
Trieb, als in der Weltwirtschaft unkalkulierbar, schlietflich des
Zinsverlusts wegen unprofitlich."
JDas verstehe icb nicht. Jedenfalls ist er sympathisch."
„Sympathisch?" Schrie Fairfax. „Seit wann bis Du senti-
mental?"
„Seit kurzem vielleicht." Sagte Daisy,
Am Anhalter Bahnhof in Berlin war noch ganz anderes
Halloh als seinerzeit bei der Ankunft in Paris. Hier hatte Plexin,
der selbst herubergekommen war und in einem Dutzend Sprachen
schrie, fluchte und kommandierte, vorgesorgt. Es wimmelte auf
dem Bahnsteig und in Vorhallen von offizieller Welt und Privat-
publikum, da der Ruf ging, Fairfax kame, Deutscbland in Not
zu h elf en.
Man spannte die Pferde von des Amerikaners Wagen und
zog ihn im Triumph vor sein Hotel Unter den Linden, wo er
und seine Tocbter auf Scbultern der Starksten in ibre Gemacher
getragen und gezwungen wurden, brausende Hurras der sich stets
noch vergrotfemden Mengen entgegenzunehmen.
661
Unten pries ein Redner die engen bistoriscben Bande beider
groi?en Nationen, und was sie gemeinsam in Zukunft vermocbten.
Fliegende Wurst-, Eis-, Bretzel- und Limonadenbandler wie Ver*-
kaufer bunter Ballons, Flaggen und Medaillen hatten zusamt den
Bediirfnisanstalten inmitten der grotfen Allee, wie Fairfax von
oben erkannte. ren?enden Absatz.
Am anderen Morgen bracbte Daisy dem Vater Sternbeims
jiingsterscbienenes Bucb Berlin oder Juste milieu, das ihr alle
Welt seiner krassen Feststellungen wegen, begeistert empfoblen
hatte. Aus ibm konne er sicb scbnell uber die Hauptstadt,
Deutscbland und vor allem daruber unterricbten, daf? wirklicb,
wie sie beide geabnt batten, des Deutscben unersattlicbes Bediirf-
nis dessen markantestes Merkmal sei. Aber nicbt wie der Ver~
fasser, der dem Thema zu nabstebe, miisse man diese GenuKsucbt
brandmarken, sondern sie uber Deutscbland binaus fiir Europa
fruchtbar machen. Das sei ibr Urteil!
Und von diesem einzig moglicben G ener als tan d-
punkt aus, anderen Vblkern durcb Vermittlung der
Deutscben Bedurfnisse beizubringen, moglicbst viele,
bauptsiicblicb unnotige und immer kostspieligere, kame keiner der
westlicben Stamme, die samtlicb bis zum Rand gesattigt seien,
aber wie sie vorausgesagt babe, Rutland und nur Rutland
in Frage.
Fairfax liei? sicb dal? Buch vorlesen, fand das Meiste ricbtig
und wiinscbte, der Verfasser lietfe einmal, durcb Gefubl nicbt
gebunden, seine Feder iiber Amerika aus. Er werde ibm zu dem
Zweck Gratisreise und Aufentbalt dort verscbaffen. In der
Tat aber war er nacb der Lektiire imstand, was in Berlin sicb
ereignete, vom Fleck we'g zu begreifen: wie iiber Ziele polihscber
Gruppen von den Junkern zur autfersten Linken dies gemeinsame
Ideal iiberwog, urn keinen Preis das wiederaufblubende Gescbaft
^Deutscbland", von dessen Gedeiben aller Deutscben Genuf?fabig~
keit abbing, zu gefabrden.
Hinter diesem alle Welt blendendem Gesicbt stand Abnei-
gung gegen Frankreicb, die Kulissenzauber macbtiger Gruppen
blieb, weit zuriick und wurde nur durcb der Franzosen Anwurfe
mubsam am Leben gebalten. Das aber war scblimme Entdeckung
auch fiir den Fall, dal? Daisys Bebauptung, Frankreicbs Cbauvi-
nismus seibst habe keinen langen Atem, falscb war und geniigte,
662
Fairfax zu verwirren. Derm er selbst war viel zu grade Natur, aw
dal? er geglaubt batte, bei solchem doppeltem Antlitz Deutscblands
konne man auf dem Umweg iiber sein zweites, scbwacberes Ge-
sicbt ans Ziel schielen.
Hier Katte er die Hand nicbt mehr am Hebel. In alien bis~
her durcbreisten Staaten war des Einzelnen und der Nation Be-
kenntnis treuberzige und grade Sacbe gewesen. In Deutscbland
jedocb lebte ein Relativismus, der gefahrlich schien, indem nie-
mand nur das, was er zu sein vorgab, aber nocb etwas anderes
dazu war.
Fairfax dacbte nach — was? Und entschied: alles! Aber
nicbt wie in Amerika, wo alles — nicbts bedeutet, weil der
Ameiikaner, begebrt er aucb die ganze "Welt und Welt immer
anders, keinem Ding bleibenden Wert und Wicbtigkeit zumitft,
sicb wie ein Scbauspieler aus stets anderen Rollen und wecbselnden
Szenen fortspielt, sondern im Sinn, datf der Deutscbe zum Ideal
der sicb im iibrigen andernden Welt eine bereits starre Voll-
endung verebrt: datf es dem Deutscben gut gebt!
Wie aucb der Jude unter der Bedingung stets der forscbeste
Fortscbrittler war, datf Israel Gottes auserwabltes Volk bleibe #
So sebr er naebdachte, und wie ibn Plexin zu iiberzeugen sucbte.
aus Selbsterbaltungstrieb scbon sei Haf? gegen die Entente und
Frankreicb Deutscblands oberstes Muf? — der Amerikaner zwei-
felte bartnackig im Entscblutf, zumal er wutfte, als Jude war
Plexin diesmal spietfgesellt.
Aucb Daisy traute er in dieser Frage keine Meinung zu,
weil sie zwiscben ibrer naiven amerikaniscben Kraftverscbwendung
Wunscb, sicb im eigenen Leben durcb alle Korper und Welten
bindurcbzuentwickeln und der Deutscben Hast, die trotzdem an
ein Hoberes als menscblicben Fortschritt, „das deutscbe Gluck"
namlich glaubt, nicbt unterscbied.
So war er in Berlin zum erstenmal obne das donnernde Hocb-
gefiibl, das sonst Atmospbare um ihn sebwangerte und Welt vor
seine Fiitfe sebmii?; aber er boffte auf scbleunige Erleucbtung von
autfen. Der Teufel mocbte wissen, wober!
663
RUDOLF KXSTNER MAHLER-AUFERSTEHUNG
18. Mai. Der einzige Tag im Jakr, den ick nickt kalendarisck
emprinde. Denn dieses Datum krennt Sommer unci A^inter auf der Seele.
JDieser Tag im Jalire 1911 kat inn una genommen — und gegeken. Nun
sen en wir semen Auratieg, seken, wie die Betasteten, Muden, — aker er*t
reckt die Jungen, Zukunftspracktigen zu lhm pilgern. Wie sie an dieser
Quelle von Musik trinken und taumelnd vor Gluck oder Sckauer ins
Leben zuruckgeken — nut tausend neuen Kraften, Einsicbten besckenkt.
Vor Jakresfrist in Amsterdam kuldigte die ganze Welt seinem Geist.
Jetzt in \Vieskaden sak ick, eines Abends mit der Mainzer Elektriscken
keruberkommend, franzosiscbe Offiziere in die dsutscke Partitur des JLied
von der Erde versunken, Janet) en einfacke Madcben eifrigst uber eine
populare Maklerbiograpme gebeugt, engkscke Sol da ten zeigten sick gegen-
seitig einen tkematiscken Fiikrer . . . Dann waren sie alle im Kursaal,
als der ramose Sckunckt den Ausklang seines mutigen Makler— Festes
dingierte, sawen mit fkegenden Pulsen, mit kingebenden Seelen — durck
keine geograpmecken oder nationalen, kesetzten und unbeaetzten Grenzen,
durcn keine konressionellen Scbranken getrennt — und empfingec aus dem
rlerzen dieses Gottsucbers Makler die Lieder von der Trunkenbeit im
Fruklmg, vom Einsamen im Herbst, vom Jammer der Erde, vom namen-
losen Gluck des Scbeidens. — „Ewig, ewig . . ."
A^/ir funlen es immer deutkeker: Mabler wird der Beetboven des
20. Jakrkunderts, ja er kann in der Tat der Musik-Messias dieser
Generationen werden. In seinem AA^erk vollziekt sicb die Befreiung vom
Krampt, von den Fesseln aller Konventionen — aller Konfessionen. Wer
konnte reiner, wakrkaftiger in die Welt des Wunderkorn geleiten, wer
nat lkre Unscnuld, ibr Gluck ergreifender' besungen als dieser deutscn~
bokmiscke Jude ? Mul?te nickt allein vor dieser Tatsacke aller barbariscbe.
tolpelkaxte aber ack so unsekge Rassenkai? kesckamt versinken? Kann Geist
der Liebe, Auferstekungsglaube, kann tiefste Menscblickkeit erkakener
verkorpert werden wie in der zweiten, in der ackten Sinfonie Maklers, —
konnen Naturkeke, Eins-sem mit dem Kosmos in all ikren Gekeimnissen
ergreifender erfuklt sein, als es in den sogenannten Wunderkorn- Sin fonien
(erste, dritte, vierte) gesckiekt? Und ist nickt die Spiegelung von Maklers
tragisckem Rmgen als Mensck und Kunstler mit der Umwelt, mit den
letzten Dmgen — und lkr keldisckes Durckkampfen zur Bejabung des
Lebens, wie sie finite, seckste, siebente mit jedem Takt giukend aussagen,
ersckutternd in ikrer ^A^akrkeitskraft ?
684
Das ist ja das ewig neu, immer starker sich erschlietfende W under
an Mahlers Musik: dai? sie trotz ihrer gigantischen formalen, stilietischen
oder instrumentalen Bedeutung, ihrer kolossallsch von Beethoven aus uber
Bruckner hinweg aufgerichteten Entwicklung der Sinfoniegattung, — trotz
dieser mit fabelhaften technischen, artistischen Wegbahnungs-Kraften er-
folgenden musikhistorischen Tat doch im Letzten so menschlich, so eeelen-
haft wirkt. Auch auf sonst unvorhereitete oder gar musikalisch unge~
hildete Horer mit elner niederzwingenden, unerklarbaren Kraft. Sle nat
ehen das Geheimnis atler grol?en, aller zeitlosen Kunst.
Die Zeichen fur eine allumfassende Besltznahme von Manlers
Lcbenswerk durch die AtVelt mehren sich und kommen aus den ver-
schiedensten Lagern. Ich mochte heute nur kurz aber eindringllchst aux
Paul Bekkers jungst*) erschienenes Analysen-Werk zu Manlers Sin-
to men weisen, das wohl als das erste grundlegende Buch uber Mahlers Musik
respektiert werden muK, dessen \Vert ehen in seiner muslkallschen Eln~
stellung liegt. Doch auch hildende Kunstler werden mehr und mehr von
Mahler ergriffen. So komrat jetzt zum zehnten Todestag eine Mappe
Steinzeichnungen **) von Karl Jakob H ir s ch CWorpswede) heraus, die neben
ihrer aulserordentlichen kompositorischen Kraft, neben der AA^ eichhelt ihres
Tones, neben aller graphischen Kunst in der Tat ein merk wurdige AkVahlver-
wandschaft mitvielen w esenszugen vonMahlersMusik aufweist. Hirschbat
aui diese zehn Blatter in erstaunlichem Mai?e jenes kosmlsch**panische Element
in Mahler projiziert, das durch alle Sinronien zieht. Er ist,GefuhlundTempe'-
rament ef moglichen es ihm, zu einem der Herzwege dieser Kunst vorgedrungen
und weii?in]edem der Blatter lrgend ein id relies, inneres Motiv jeden^Verkes
zu symbollsieren. Der ganze Zyklus eine der seltsamsten Erscheinungen im
Phanomen der Begegnung zwischen Musik und bildender Kunst.
Ein flammendes Ereignis bracbte der Gedenktag in Berlin selbst:
Die Auferstehung der Zweiten Smfonie unter Otto Klemperer in der
Philharmonic Sie war gezeugt vom Damon der Liebe, dem Damon
eines ungeheuren Wiliens und von tiefster seelischer Verbindung mit dem
Schopfer. Sie hatte die Gnade der Vollendung. Klemperer hat an
dies em Abend Berlin erobert — er hat aber noch mehr: bat tausenden
Menschen em unverge Miches Erlebnis geschaffen. Es kritisch zu sezieren,
daraufhin, mit welchen Mitteln es ' gelang, ware profan. ' Die Ekstase
dieses Musikers verwandelte auch Aie Menscben zu Ekstatikern.
Es war der schonste Kranz auf das tcure Grab in Grin zing.
*) boi Schu*t«r C? Loeftlcr, Berlin.
**) V«ktf Adolf JiAfjp*, feU*Wg.
%65
AUS DEM TAGEBUCH
GRUNDSATZE
Der Eifcrsucbtige ist der Moinung,
andere Manner batten einen ao scblecbten
Geacbmack wie er selber.
Am beaten beiratct der. der ea no
lange aufacbiebt, bie cs 711 apat iat.
Junggeselle beitft jener. der tine Frau
braucbt, aber frob let. nocb kcine gekriegt
zu baben.
Daa grofitc Gluck in der Liebc ist,
datf ein anderer aie gebeiratct bat.
Daa Scblimmate an der Ebe 1st, datf
sic die Frauen glauben macbt, allc Manner
aeicn ebensolcbe Narren.
*
Kein Mann ist alt genug, datf er nicbt
emer Frau nacbscbaut. Keine Frau ist
fett genug, daf? sie nicbt hoffte, ein Mann
wtirde ibr nacbacbaucn.
Die Frau ist Scblange, Apfel und
Baucbweh in einem.
Den Mann betrilbt es, da# er bald
iterben werde. Die Frau, dati sie vor so
langer Zeit geboren wurdc,
In der guten alten Zeit battc ein Mann
cine Frau und seebs Kinder. Heutc bat
er aeebs Frauen und mancbmal ein Kind.
Witwer nennt man einen auf Ebren-
wort Freigelasaenen.
Abetinenzler : ein Menecb, rait dem
man nicbt tnnken mocbte, nelbet wenn
er tranke.
Fortacbritt: ein Praretf, durcb den die
Menscbbeit den Bart, den Blinddarm und
den iieben Gott lot geworden ist.
Optimist: ein Mann, der die best*
Freundin seiner Scbweater beiratet.
Liebc auf den eraten Blick : Arbeite-
eraparung.
Liebc: die Illusion, daff aicb cine Frau
von der andern unteraebcidet.
Reebteanwalt, einer, der una vor den
Dieben acbiitzt, indem er ibnen den
Gegenatand der Versucbung wegnimmt.
Unaterblicbkeit : der Zuetand einea
Toten, der nicbt glaubt, daff er tot ut.
Ebegatte: Halsweite 40 und Kragen-
weite 38 ein balb.
Humanitat: einer ist ebrlicb traurig
dariiber, dai? die Kinder dea Nacbbarn
von Wolfen zerriasen werden.
Gewissen : die innere Stimme, die uns
warnt, datf wer zuscbaut.
&SB&BQ S-VVEtWBtiELMANN
m
Der Pastor: Billetenbandler vor dor
Himmelstur-
Berubmtbeit: einer. den viele Leute
kcnnen, die nicbt zu kennen er frob ist.
+
Kilrza: die Qualitat, durch welcbe
Cigaretten, Liebesgescbicbten, Reden und
Apborismen ertraglicb warden.
H, L. Mencken.
bOcher
Emit Weill: Franta Slin (Ce-
rt ossenscbaftsverlag, Wien) Stern der
Damon en (Georg Miiller Verlag, Miin-
cben). Seine krassen Stoffe kdnnten dazu
verfubren, Ernst Weifl fur einen ver-
spateten Naturalisten zu halten. Bet iKm
aber iat die Vision das Primare, nicbt die
Beobacbtung. Die Arbeiten von Ernst
Weil? sind seeliscbe Kunst, so sebr sie
aucb der realen Welt verbaftet bleiben.
In „Franta Slin** reizt es die fantastische
Kraft des Dicbters, das Scbicksal eines
Menscben zu gestalten, dem aus korper-
licber Verwundung grauenbafteVerstumrae-
lung der Seele erw'acbat. Franta Slin, der
Zeugungstihigkeit beraubt, wird zum anti-
sozialen Tier, Er qualt seine Frau, vor
deren Augen er sicb nicbt zu entkleiden
wagt, zu Tode und in einem Absteige-
quarticr wandelt sicb sein Trieb, dem Er-
losung versagt ist, in Mordlust. Dunkel-
tiefe Zusammenbange werden offenbar ;
wir erleben das Sexuelle als wicbtigsten
Weg ins Soziale.
Ira „ Stern der Damonen" wird eine
Hintertreppengescbicbte als Vorwand be-
nutzt: Blutscbande, Vatermord, Gerichts-
verhandlung. Aber die auffere Hand lung
ist nur der Vorbang vor seeliscben Land-
echaften rait unermetflicben Weiten. Der
Visionar Ernst Weif? apielt mit der Ewig-
keit, jongliert mit dem Kosmos. Weil
er die Menscben lieb.t, wie der beilige
Franz, muff er grausam *cin. Nur wer
in Wunden gewublt bat, kann Wunden
beilen. Die Biicber von Weitf sind durcb-
strorat von Feinbeiten, durcbduftet ron
den Bliiten gutiger Erkenntnis. Sein ins
Gipfelhafte gesteigertes Kdnnen entroitft
den Dingen und den Menscben die
Wurzeln der Geheimnisse, die so alt sind
wie die Menscbbeit. Ernst Weitf meistert
wie keiner die Kunat des bescelten
Realism us.
Voltaire: Mein Aufenthalt
in Berlin, O. C. Recbt Verlag Mun-
cben 1921.
Diese Arbeit Voltaires ist andertbalb
Jabrbunderte lang aus Grtinden der Staats-
sicberbeit in Preuflen verboten gewesen.
In Wirklicbkeit ist sie aber dem Ruhme
und dem Rufe Voltaires gefabrlicber al*
dera preutfischen Staate. Voltaires Auf-
zeiebnungen sind nur ein Racbeakt, nicbt
etwa, wie man vermuten diirfte, die Aus-
einandersetzung eines Geistesfiirsten mit
einem Gewaltinbaber. Hier spricht nicbt
der Autor des ,,Candide k \ der alle
Geistesmacbte zur Einbeitsfront gegen den
Macbtmiffbraucb zugammcnfatft, bier spricht
nur der binausgeworfene Kammerberr,
Daft Friedricb ebrgeizig und taktlos war,
daff seine Verse sicb mebr durcb Quanti-
ty als durcb Qualitat auszeiebnen, datf er
in den Frauen eben nicbt die Krone der
Scbopfung sab, wutften wir aucb obne
Voltaires Hintertreppengescbwatz. Im
Zeitalter des Milliarden-Defizits feonnen
wir una nicbt einmal daruber aufregen,
dafi Kbnig Friedricb der Tanzerin Barba-
rina 32 000 Pfund zablte, „weil sie
Mannerbeine batte", wie Voltaire be-
bauptet.
Her besteZ&hhar&i
667
IN EIGENER SACHE
Es ist kcine genekme Sacbe in eigener
Sacbe zu sprecben, aber trotzdem eine ge-
wicbtige Sacbe, denn wer sollte scblief?-
lich geeigneter sein, sick zu propagieren,
als der Tater selbst.
Icn weise also Kin auf ,,Die ununter-
brochene Reihe** unter meinem Namen.
Die Absickt war kcine, darum wurde
ea zur Kunat.
Die zugrundeliegende Ursache war zur
Zcit . der Entstekung unbewutft, darum
wurde ea kein Feuilleton.
Der nacktraglicb bekannte Sinn geht
auf Folgendea :
Wir haben Friiblinge erlebt und Som-
mer und Liebe — wohl scbon geniigend,
und Dichter, die es aussprecben — inehr
als geniigend, (sodatf man fast annebmen
konnte, jeder wurde darin jetzt Bescheid
wissen).
Aber Dicbter war en friiher (und aoll-
ten es jetzt vielleicbt aucb nocb sein)
solcke, die etwas von Dingen ersckniif-
felten, die nicht alien zu Tage liegen, die
vielleicKt Einigen in unterbrocbenen Lich-
tern auftauchen, die ibnen aber noch nicht
zu einer ununterbrochenen Lickt - Rt'ke
wurden.
Eine neue Erlebniawelle stebt vor der
Menschkeit : hin zu der unmittelbaren
Seele, zu der vom Kb'rper ununter-
brochenen Seele.
In dieaer Linie bewegt sicb das Ganze.
Aknt Ibr etwas?
Lest ,, Die ununterbrocbene
R c i h e " von Hans Koester, Verlag
Ernst Rowoblt.
Hans Koester.
Hiermit alien Verwandten, Freun-
den und Bekannten die freudige Nacb-
ricbt, dati unser vielgeliebtes
MILCHEN
beute unter Befreiung vom Mundltcben
das Abiturium gliicklick best an den bat.
Seine Gb'nner :
Hans. Herbert. Hugo. Oakar.
Welck freudige Kunde ! Nacb sckweren
Wocben ist Mtfchen gestern gliicklicb von
der Last des Abituriums entbunden wor-
den. Nun .ist sic bereits autfer Gefahr.
Hans, Herbert, Hugo, Oskar atmen er-
leichtert auf . . . Milcben aber bat sicb
entscblossen, als stud. pbil. zu inscribieren.
Sie wird, obwokl Hans und Herbert ab-
raten, dem Wunscke von Hugo und Oskar
folgen und sog'eicb, zielbewuiZt, an das
Thema ibrer Doktorarbeit berangeben;
,,Die matbematiscben Grundlagen der
Leibniz scben Pkilosopkie'*
INHALT DES LETZTEN HEFTES
(Nr. 20):
M. Erzberger : Das teuerste Ministerium in
der Welt
% * Die Juden
Stefan Szekely : Herr Theaterdirektor t ,
Hugo Markus: Gedicnt auf eiaen Lebrling
Stefan Grotfmann : Reinkardt am Scbeide-
wege
Carl Sternheim : Fairfax
Aus dem Tagebuck.
SCAM
STUD. PHIL. MILCHEN
Ein Breslauer Tagebuck-Freund schickt
mir diesoe Inserat aus einer grotfen
Schlemschen Zeitung :
idik — ym
Redaktion des ./Tage-Buck" : Berlin W 35. Potsdamer Stratfe 1 23 b, Tel : Lutzow 4931 .
Verantwortlieh fur den r«daktionellen Teil : Stefan Grofimann, Cbarlottenburg, Veilag :
Eratf SLowohlt V«rUg t Berlin W 35. Pot»d*m«r SW« i$3b. Druok; R. Abtadrotk, Ricea.
668
Zum lOjanrigen Todestage Gustav Mahlerg:
KARL JAKOB HIRSCH
Zehn Original-Stein- O • /* • "X /f 1 1
«icnnung« *„ den OUtf 0711671 JYl d fl I 6V S
Unter Aufsicbt dea Kiinatlera auf der KunstUr - Presse VPorfswede gedruckt
Auagabe A, Nr. I-X je 1500 Mark / Auagabe B, Nr. 1—90 je 800 Mark,
100 Einzelblatter je 200 Mark. — Die Preiae verateken flicb excl. Luxusateuer.
Beatellungen bei jeder Buch- und Kunatkandlung oder vom Verlage:
Adolf Harms Verlag, Hamburg, Hansastrafie 38
FRIEDRICH COHEN IN BONN
Soeben ist in meinero Verlage eracbienen:
ERNST ROBERT CURTIUS
Maurice Barres
und dii geiatigen Grundlagen dea franzosiacben Nationalismus
Vornebm ausgestatteter Band von VIII, 256 Scitcn, Gchcftct Mark 30.—
Gcbundcn Mark 38 In Halbleder Mark 70.—
Ernst Robert Curtius crate* Wert ,,Dle Llterarischen Wegbereiter des neuen Frankreiehs" bat
fll'ck durcb seine acbone Sacblichkeit die Resonanz des gebildetcn Deutscblands erzwuagen. Ei
gebdrt zn unaerer Lit era tar ala cin glaozender Versuch, die Brucke zu acblagen zwiscben Deuticb-
land und dem unbekannten neuen Frankreicb. Folgericktig ist ea von Curtius, In dlesem
zweiten Bucbe das Tbema entschlossen anzupacken, das in den ..Wegbereitern" acbon leiss an-
gestimmt war : Das Tbema des franzosiacben Nationalismus. Die geistige Slgnatur des franzosi-
acben Nationalismua beraaszuarbeiten, inn bcgreifen zu lebren als das bewunderungsw«rt«,
aber aueb gefabrlicbe Produkt einer neuen folgericbtlg durcbgefubrten polltiscHen Ideologic.
ja Metapbyaik ist die Aufgabe, die Curtius sicb stellt. Darummacbte er Maurice Barres
zum Helden eeines Bucbes. — Curtiua'Bucb 1st ants hochste aktuell. aber
ea i a t nlcbt sensationellt Ein Stuck wiasenscbaftlicbe Llteraturgesobicbte, das fast
'wider Willen xu einem Stuck Politik wird
Soeben eracbeint:
STINNES
von Dr. HERMANN BRINCKMEYER
Aua dem Inbalt: Stinnea im Kriege / Montankonzern /
Seine Beziehungen im In- und Ausland / Stinnea und die
Presse / Stinnea in Spa / Stinnea und die Sozialisierung
Geb. 14,— M. Geb. 10— M.
WIELAND-VERLAG / MUnchen, Leopoldstratfe 3
KARL FR. NOWAK
Der vveg
zur Katastroftne
16.— 25- Auflage / Geh. 10.— M, gebunden 12.— M.
Dem Buch voraus geht ein Geleitwort von
Feldmarschall Conrad von Hotzendorf
Die Presee uoer das Buck:
„Was Nowak an Tatsachen gibt, ist schlechthin er~
schiitternd." FRANKFURTER ZE1TUNG
,,Fiir weitaus die meisten Leser wird dieses Buch eine
Offenbarung bedeuten." DIE ZEIT, W«n
„Wer immer die Geschichte dieser letzten Jahre lernen
will, muf? dieses Buch lesen." NEUE ZORICHER ZTG.
„Eine im lapidaren Stil wuchtig aufgebaute, scharf
kritische Darstellung der vielen Stadien der Welt-
tragodie." BESLAUER ZEITUNG.
mum iii i ii i iiii m i nn ti i i i iiii m i t nun imn i nm iiii i u nTii m ii m wiiirmiiii i i H ii i ri
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Dargc 9 t e I 1 t in Vortragen
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Geb. 82 M., fiir Skandinavicn 12 Kr.
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Ich erapfand von Kapitel 2u Kapitel deutlicher, wie wenige Biicher iiber
Shakespeare in dem nachsten halben Jahrhundert noch aktuell bleiben konnen
nebeu dieeera. Ea ist em Buch iiber Biicher, das una cbenao stark ina Blut
geht wie ins Gehirn; denn es ist eigentlich kein Buch iibcr Biicher, sondern
ein Buch uber die Welt. Letyziger TageWatt.
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Das Tage-Buck / Heft 22 Jatrg. 2 / Berlin, 4. Juni 1921
Stefan grossmann DER AUFERSTANDENE MATHIAS
In I einem Riesenr aum, im Frankfurter Hippodr om, spncbt Er z~
bexger. Funftausend Leute lauscben. Die Zentrumsorganisation klappt,
wie immer. Heut Abend aber sitzen unter den folgsamen Partei-
genossen aucb viele Feinde. Icb Lore gesptocbenes Gift, ebe die
Vereammlung beginnt, besonders a It ere, magere Daxnen — Typus:
Nationaler Frauenvereinsvorstand — murren und murmeln, nocb eke
si e den gebaJiten Matbias aucb nur zu Gesicbt bekommen.
Er tritt auf das Podium, gro#, breitscbultrig, mit bocbroten ■
Back en und lustig durcb den Riesenr aum fliegenden Augen. Die kleinen
beinabe krankbaft weii?en Hande balten eicb an den Kanten des Pultes.
Mubelos jjbeberrscbt die klare Stixnme den Riesenraum. Er bat die
Kunst der kurzen Satze. Er gewinnt durcb seine Klarbeit. Kerne
Spur von Gereiztbeit ist in ibm. Kein Bedurfms, den Horer aurzu-
peitscben. Er spricbt ganz frei, aber au* einem -woblerwogenen Gedanken*-
eystem beraus. Dies nennt er „cbristlicben Solidarismus'\ Das 1st die
Frucbt monatelanger Zuruckbaltung. Er sagt sicb, sebr nucbtern, sebr
fest: Will icb innerlicb aufbauen, so muJ? icb das Seelenmaterial ver-
wenden, das nocb nicbt angefreseen 1st. Dies 1st fur Million en scblicbte
Menscben ibr Cbristenglaube. Aber icb mul? dies Cbristentum zeit-
genial interpreter en. Also kein Militarcbristentum, keine demutige
Untert an en religion, sondern die Sozialisierung des cbnstbcben Gefubls,
eine bebuteame Uberleitung zum Sozialismus, die den Eigentumsbegnir
nicbt aufbebt, sondern nur einscbrankt. Unzweifelbaft antikapitalistiscbe
Politik, aber keine tolpelbafte, gescbweige denn utopistiscbe. Das erlautert
er an seiner Steuerpolitik. Er sagt den Zuborern auch sebr unangenebme
Dinge. Vor allem immer wieder: Wie Viele von uns, insbesondere
von den Besitzenden, zieben fur ibre Lebensbaltung wirklicb die
Konsequenz aus der Tatsacbe uriseres Besiegtseins? AiVie Viele leben
nocb immer so und ricbten si en so em, als wenn wir den sebwersten
Krieg gar nicbt gebabt und verloren batten? ^^ie, fragt er mit aller
G elassenbeit, ist es moglicb, dal? die Leute, die den Krieg ver Keren
b a If en, immer nocb erne politiscbe Rolle spielen, durfen? Er erinncrt
daran, in welcbe Mauselocber sicb die franzosiscben Besiegten von 1870
673
verkriecken mutften. A^ir aker, wir kuldigen nock denen, die unser
Grab sckaufelten. Er erzaklt: Im Sommer 1917 tragte ick den Graren
^^estarp: „Wurden Sie einen Fneden akzeptieren, der den Status quo
bringt, ohne Grenzveranderungen, okne Kriegsentsckadigung, mit dem
Kolonienkesitz?" Westarp erwiderte: ^NeinT* In die National ver-
sammlung zu Weimar konnte der aussckweixende (jrat nocn nickt
gewaklt werden, im Reickstag ist er wieder da.
Das Alles sagte Erzkerger okne Gekassigkeit. Ick glauke, er katft
nickt einmal Helfferick. Er siekt den mageren, katflicken Giftspntzer
mit einer Art Staunen und sogar Mitleid an. Dieser woklkeleikte,
dem Lekensgenul? nickt akgesagte Mann kann lacken! Das kann sein
dusterer Anklager nickt, der immer nur nack der Lekensmittelkarte
gegessen kat und immer von einem Krankenlager zu kommen sckeint.
Es mui? ein nickt zu ersckopfender Fond von Sonnenerlebnis der
Kindkeit in dem kreit gekauten Matkias sein, das kewakrt lkn vor
Selkstanklage und Ickgrukelei, das gikt ikm ein kerzkaftes Lacken, eine
unkeirrkare Selkstsickerkeit in Stunden, da kranklicke Naturen in Getakr
gewesen waren, an sick selkst irre zu werden. Es erquickt, einen
Mann vor sick zu kaken, der, okne selkstgefallig zu sein, kerzkart zu
sick selker Ja sagt. Der sick nickt einen Augenklick um. das sckert,
was er den Menscken sckeint, weil er eken in sick zukause ist und
weifi was er ist. Drum kat er die Zeitungsjaucke von sick akgesckuttelt
wie ein kerausgesprungener Pudel das AA^asser. ^Vie der Matkias
Erzkerger, ekemals Sckullekrer in einem kleinen wiirttemkergiscken Nest,
keute vor den 5000 Horern unkeirrt und gerukig redet, da spuren
selfcst die murrenden, mageren nationalen Frauenveremsvorstandlennnen :
Der stekt auf festen Beinen. Der ist von auuen nickt umzusckmeil/en.
Deskalk wokl kam es in der Riesenversammlung nickt zu dem
erwarteten Krack. Im Anfang regnete es Zwisckenrute. Erzkerger
fangt sie auf, yvie em Kind Balle, und wirft sie lustig zuruck. Einmal
ruft ein klutjunger Student: „Durch Sie ist Deutsckland fur immer
verioren!" Erzkerger antwortet im Nu: „Fur immer verloren? \Venn
ein kleiner Junge die Augen zusckliel?t, deskalk sckeint die Sonne dock !
Der ganze Saal lackt. Einmal erzaklt Erzkerger, wie gesckickt sein
Kakinett die Frage der nack dem Versailler Vertrag notwendigen Aus-
lieferung der Kriegsverkrecker kekandelt kake. Ganz eac&lick, okne
Rukmredigkeit. Da kreisckt ein kysteriscker Helf ferickist dazwiscken :
„Was kaken Sie denn geleistet?" Erzkerger konnte jetzt eine lange
Liste von Arkeiten aufzaklen, denn zu den Faulen gekort er ja nickt,
674
aber es liegt iktn besser. sick jetzt uber das Rednerpult vorzubeugen
und ganz koflick zu fragen: „Waren Sie verreist ?"* Der Saal tat
wieder voll Froklickkeit.
Und clock wird Erzberger nie zum Volksfanger seiner Politik,
sum patketiscken Demagogen, Sein Feld sind Ziffern. Moglick, ja,
wakrsckeinlick, dai? ikn sein unzerreitfbarer Optimismus gelegentlick zu
rosenrot stimmt. Er glaukt ja auck jetzt an eine stetige Aufstiegslinie
trotz der Exportabgabe. Was die Jakreszaklungen anlangt, so recknet
cr mit einem verdoppelten Koklenpreis, der unsere rranzosiscke V er—
recknung mit einem Scklage erleicktern wird. Es gekort emiger Mut
dazu, einer Riesenversammlung dieae Koklenpreisverteuerung als eratrcDcns—
wert darzuatellen, aber dieserNaturdemokrat ist immerVolkslekrer gebueben.
Zuletzt bleibt den Horern die Erinnerung an em en trotz aller
Recknerei unerscbutterlick Zuversicktkcken. In dieser Zeit der dusteren
Propketen und der leeren Entrustungspplitxker erquickt dieses unzer-
atorbare Erzbergerscke Lacken.
Nackts geleitete ein Zug von Tausenden den auferstandenen Matkiaa
2U seinem Hotel, Ick begriff die Leute.
frank rirter SERGEANT HEYNEN UND
DAS VOLKERRECHT
Diese Betrachtungen ruhren von einem Manne her, der im Kriege Ge-
legtnheit genug tatte, unsere Gefangenenlager mit eigenen Augen anzusehem.
Was er liber die Vorgange in Heme schreibt, sei besonderer Aufmerksam-
keit der Leser empfoblen.
Der Landsturmsergeant Heynen, der vom Reicksgerickt jetzt zu
ssekn Monaten Gefangnis verurteilt worden ist, war geliefert, nock eke
«r vor den Sckranken stand. Nickt umsonst ist die Reike der Leipziger
Prozesse gerade mit seinem Fall eroffnet worden.
Erstens war er kereits von Militarricbtern wegen gleicker Vergeken
vorbestraft, seine neuerlicke Verurteilung konnte also keinesfalls belastend
rur die deutscke Kriegsobngkeit sein.
Zweitens vermockte er sick aur keinen klaren Vorgesetztenkefekl
zu beruren, war also, rormell geseken, nickt Exponent ernes Systems,
"sondern nur Einzelperson.
Und drittens ist eben der Landsturmsergeant Heynen keiner von
denen, die unserem Herzen teuer sind ; und man kann, solange nur der
Herzog steken bleibt, den Mantel leickt fallen lassen.
Der Landsturmsergeant Heynen kat also eine scbleckte Presse ge—
fiiabt. Selbst vom reckten Flugel des deutscken Blatterwaldes war nickt
675
das Jeidenscbaftlicbe Rauscben veraebmbar, das nack dem Vorspiel der
grouen Protest be wegung zu erwarten geweeen ware. Die nation ale ScbmacJb
wurde nur in kleinen Dosen verabreicbt, im groi?en und ganzen. war
Heynen em zwar diensteifriger aber rober Unteroffizier, der die bumanen
Verordnungen der Heeresleitung ubertreten batte und seine Strafe in
Wirkbcbkeit verdiente.
Es fallt mir nicbt ein, die Robbeit leugnen zu wollen. let wei#
allzugut, wie es im Mibtar- und Gefangenenbetrieb zuging, um mir nacb
den Presebencbten mebt das ganze, unsympatbiscbe Bild des wilden
Mannes Heynen ausmalen zu konnen. Aber eben weil icb weif?. wie
es nut den Gefangenen und ibren ebenso gefangenen vVacbtern gebalten
wurde, mocbte icb dem Kriegsverbrecber Heynen nock nacbtraglicb das
Plaidoyer nacbrufen, das im Leipziger Gericbtssaal mebt zu boren war-
Denn trotz allem war dieeer Robling nur ein armer Teufel, und seine
Scbuld nur zum Teil seine eigne.
Was wuKte der Sergeant Heynen vom Volkerrecbt und von Ge*-
f angenenbebandlung ? Vermutlicb nicbts, er -war nie daruber belebrt worden,
Aber er las Zeitungen und blatterte oft in den Witzblattern. Da standi
dais Grol?britamen das gememste, niedertracbtigste, tuckisebste Land der
Erde sei. Da waren Kankaturen, die den Tommy, den Cityman, den
Politician in abscbeuerregendsten verzerrungen wieder gaben. TagKcb,
stundlicb kam das dem Sergeanten Heynen vor Augen ; er sab es in
aller Offentlicbkeit vor sicb geben, borte vielleicbt sogar, dai? den Ur-
bebern buldvoll Orden verabreicbt worden waren. Konnte er auf den '
Gedanken kommen, dai? „Herabwurdigung der Nationabtat" u«erlaubt
sei, batte er AnlafZ, sein subjektiv wabrscbeinlicb ebrlicb empfundenes
„Bntiscbes ScbweinP zu unterdrucken ? ^A^abrbaftig, er durfte eicb be-
recbtigt fublen, das Scbwein auszuspreeben. Als Rekrut war es ibna
sicker selbst und von eigenen Landsleuten oft genug straflos ins Gesicbt
gebrullt worden.
Nun blieb es allerdings mebt beim Scbimpfwort. Die Gefangeneia
sollten ins Bergwerk und wollten nicbt. Heynen batte es ibnen nicbt
befoblen, er war nur beauftragt, den Befebl durebzurubren. ,,\iVie Sie
das macben, ist Ibre Sacbe P Also um jeden Preis ! Was ware gescbebeu,
wenn er sicb nicbt durcbgesetzt, wenn er mit der Meldung zuruckgekebrt
ware, er babe die Gefangenen nicbt zur Arbeit bewegen konnen ? La£<t
uns offen reden : erledigt ware er gewesen ! Donnerwetttr, Scbliff, k. v. — t
ab nacb Westen ! Das Feld der Ebre war aucb fur Heynen, den scboa
verwundeten, ein Feld des Grauens. Mil?bandlung, mebr als das, Uber—
Miwbandlung. Ebe er sicb selbst dem aussetzte, mitfbandelre er lieber
nocb die andern. Er war wirklicb in intellektueller Notwebr.
Und -was sab er von Hobergestellten, von Ma#geblicben um sicb
her mit Gefangenen anstellen? Icb weiK nicbt wie es ra He,rne war,
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aker ick kannte manckes andere Lager. Ick sak, wie em Oberst einen
Cefangenen kerannakm, der, auf semen Feldwebelrang sick beruiend, cue
Arbeit mekrfack verweigert batte. Er liel? einen ubermannsboken
Stackeldraktpferck errickten, gerade breit genug, einen Menscken stekend
aufzunekmen; zum sitzen oder gar liegen bot er keinen Ixaum. Darein
wurde der Gefangene, obne Decken, obne Abendessen, drei Nackte
lang von 7 Ubr abends bis 7 Ubr morgens eingesperrt, und in zweien
Jieser drei Nackte regnete es in Stromen! Das war etne kunl ausge-
keckte Strafe. Was im Affekt alles begangen wurde, — immer unter
dem Gefukl, dass mit unseren eigenen Leuten auf der anderen Deite
nickt anders verfakren werde — entziekt sick fast der Besckreibung.
Als besonders drastisckl ist mir das Aurtreten ernes kerkuliscken Ornziers—
atellvertreters, der mit Stolz Metboden sudafnkamscker Kaffernbekana-
lun$ vorzufukren pflegte, in Erinnerung. Mit zweitausend Gefangenen
waren wir nack langen A^anderungen in einem russiscken Gekoft ange-
langt, in dem den Gefangenen, die in einer Sckeune untergekrackt waren,
nack fast zwei Tagen zum erstenmale wieder Essen verabreickt wurde.
Ala die Reike kerum und nock ein Rest im K easel geblieben war,
-wurde — fur die besonders Hungrigen, — nock einmal das Tor ge-
«ffnet. Da naturkck alle besonders kungrig waren, drangte sick die
ganze Masse wirr voran und als auf Zuruf keine Ordnung zu erzielen
war, nakm der befeblskabende Afrikaner eine kurz zuvor gefallte junge
Birke auf und scklug mit dem Baumstamm minutenlang blindlings in die an-
gestaute Mensckenmenge. Nekenan stand einHauptmannundspendeteBeifall!
Hundertmal sak ick, wie von verantwortlicken Vorgesetzten Aus-
ackreitungen an Gefangenen mit ikrer ganzen Autoritat ebenso gedeckt
warden, wie Sergeant Heynen jetzt vom General Fransecky gedeckt
werden a o lite. Arztekoromissionen sak ick in Etappenlagern, die kockat
unsentimentaliscken Kommandanten sogar Anlatf zu Besckwerden ge-
■geben batten, Inspektionen vornekmen und das Urteil war nie anders
als vollig befnedigend.' Im Feldlazarett sab ick Gefangene, die nack
vierwockentlicker Arbeit bmter der Front, kuckstablick zu Skeletten
aezimiert, verlaust und zerscklagen, zusammengebrocben waren; was sie
kerickteten, war Miukandlung und Betrug um ikr bii?cken Essen.
Hungertypkus, sagte der Arzt; Anzeige aker erstattete er nickt. „E»-
iommt mckts dabei keraus als nutzlose Sckererei!**
^/as sollte Sergeant Heynen, der sicker aknlickes erlebt katte. der,
von je kundert Rokkeitsakten sicker nur je einen und den ganz sicker
n»r zogernd bestraft sak, — was sollte Sergeant Heynen nickt fur er~
laukt kalten? Inmitten der Psyckose und selkst unter Druck? In
l^akrkeit war er nur Riidcken einer Masckine!
Stellt die GroKen vor Genckt, die nack unten nur abfarbten! Ja
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fftellt sie immer kin vor Gerickt, selkst wenn es unmogkck ist, lkre
ivollegen von der anderen Seite, die teilweise nickt kesser, teilweise
vielleickt nock scklimmer waren, ekenso kekandelt zu seken!
Etwas von Gerecktigkeit ist auck im emseitigen V erfakren. Una
neilsame Absckreckung ist es jedenfalls! Denn wenn kunftigkin ~uck
nur der VerKerende eines Krieges regelma&g solcke Saukerungen vor-
nenmcn muj?te ( — Kriege sckeint es ja, Gott sei's geklagt, auck weiter—
bin geben zu wollen, — ): da niemand im voraus weils, wer gewinnen
wird, wurde sckon aus dieser ungleicken Justiz, dieser Teiljustiz, dieser Halb-
justiz Segen erwacksen. Angst vor Strafe ist nock immer ein Kulturf aktor !
Mit den Kleinen, den unsckuldig Sckuldigen aber kabt Erbarmen?
Landsturmsergeant Heynen muj? nickts und darf mckts vom V olker—
reckt wissen. Fur lkn gibt's Befekle und gibts em System. Vor dae
Forum gekoren die Befekls- und Systemmacker. Die da sagen; „\Vie
Du,s mackst, ist Deme Sacke! " Die Gewalt zum kocksten Gotte er—
keken. Und Die den Feldzug der Rokeit und Verketzung leiten!
paxton hibben DIE TRAGODIE EINES
KLEINEN LANDES
Das kedeutsamste Ereignis, das im Zusammenkang nut russisckent
Affaren seit Wrang'els Zusammenbruck stattfand, tragt das Datum aee
19. Februar 1921. An diesem Tage ging Georgien, der letzte Scuts-*
punkt der Antikols eke wist tn zwiscken In di en und dem Mittelmeer, zwiscken
w/auem Meer und Persisckem Golf, zum Sowjetismus uber. Damit
ward ein langer Feldzug stiller aber wirksamer Moskauer Propaganda
gekront, einer Propaganda, deren Starke mcbt so sekr in dem bestand,
was RuKlana fur die transkaukasiscken Staaten zu tun sick fakig oder
will en s erklarte, sondern in dem, was Hie westeuropaiscken Macnte
nickt fur sie taten. Geradeaus drei Jakre kaken die transkaukasisckem
Staaten auf lrgendwelcke Aktion der Friedenskonferenz, des Ob erst en,
Rates, der Volker bund vers ammluag oder jener europaiscben Einzelregie-
rungen gewartet, die ein Interesse daran batten kaken mussen, den \Yeg
nack Indien und dem mittleren Oaten der mcktsowjetiscken Welt offen
zu kalten. Sie warteten vergeklick, die Sowjetisierung der georgiscken
Repubhk konnte also nickt uberraecken. Sie ruckte seit lang«r Zeit
immer naker, und wer dieser Entwicklung auck nur okerflacklick Auf—
merksamkeit zuwandte, mu£te Besckeid wissen. Am 11. November 1919
sckickte lck eine Depescke an die ,,Ckicago Tribune, in der lck den
678
Jamais stattgebabten Versucb bescnneb, in Georgien cine bolscbewistiscbe
Revolution durcbzufubren, — cin Versucb, Jer scbon in jenen Tagen
urn ein Haar gelungen ware. Mane Botscbait wurJe in Konstantinopel
von Admiral Bristol angebalten, Jer Jen Commander Haynes nacb
Tiflis g an ate, um mien zu frag en, was leb mit Jer Absendung einer
derartigen Depescbe bezweckt babe. Icn versucbte, Con man Jer Haynes
da von zu uberzeugen, dab meme Darstellung in jeJer Einzelbeit zutrerie,
JaK Georgien — sen on Jamais ! — revolutiousreii sei un J dau, wenn nocb
lrgenJein ernstlicber V ersucn unternommen werJen wurde, Jie Regie*-
rungsrorm Georgiens zu andern, er wabrscbemlicb erfolgreicb sein werde.
Icn sagte lbm, die georgiscbe Armee sei von bolscbewistiscben IJeen
durcbtrankt unJ man tonne merit daraui zanlen, dal? eie Jem Sowjet—
einflui? Wider stand leisten werde. Icn sagte ibm iiberbaupt einz ganze
Reibe von Dingen, die neute jedermann klar sin J. CommanJer Haynes
bezog seine Iniormationen aber zumeist von zaristiscben russiscben Rerugies
unJ wollte mcbts glauben, als was eie ibm erzablt batten. Meine Bot-
scbait wurde also mebt weiterbefordert. Nun aber bat jener „ernstlicbe
Versucb" Jocb stattgeiunden unJ Errolg gebabt. Am 10. Marz
wurde sogar B a turn, unter Jen Kanonen Jer alliierten Scbwarzenmeer-
rlotte, fast kampflos sowjetieiert. So viel uber Jie Einricbtung Jer Zensur!
Seit jenem 11. November 1919 bat sicb vieles in Transkaukasien
ereignet; aber mcbts Javon bat Jie Stellung Jer Antibolscbewisten ge-
starkt. D em kin ward besiegt. Wrangel begann seine Unternebmung
unJ erlitt elenJen Scbilfbrucb. Mister Colby scbrieb seine berubmte
Note vom 11. August 1920, in der er es ablebnte, „die Unabbangig-
keit Jer sogenannten Republiken Georgien unJ Aserbeidscban" anzuer-
kennen. Der armeniscben unJ georgiscben Republik wurde t^ie Zulassung
2um VolkerbunJ verweigert. Mustapba Keroal bracb in Arroenien ein
und eroberte Jas Lao J, unbekummert darum, dal? President Wilson
wegen der armeniscben Grenze mit der Turkei gerade ^vermittelte".
Und, als wicbtigstes von all em, — : am 28. April 1920 verwandelte
sicb die Moslem republik Aserbeidscban, durcb eine verbaltnismafig un-
blutige innere Revolution und kemeswegs durcb irgendwelcben Einfall
Jer russiscben roten Armee in eine Sowjetrepublik, — — und war zu*
frieden damit!
Dieser Umsturz war Jer sebwerste Scblag fur Jie Antibolscbewisten,
mebt nur in Transkaukasien unJ im nab en Osten, sonJern aucb in
HVesteuropa ; un J zwar vor allem desbalb, weil , Jer Sowjetisierung
Aserbeidscbans ein verbaltnisma£ges Ge Jeiben Jes LanJes folgte. Wabrend
679
die Brit en, solange ibre Okkupation Transkaukasiens dauerte, (November
1918 bis Juli 1920), die Olquellen Baku's gescblossen gebalten batten, —
und zwar um die Eigentumer der OUandereien niederzuzwingen und
aie- dazu zu veranlaspen, ibren ;Besitz fur emeu Pappenatiel bntiscben
Kapitalisten zu verkaufen, — offnete SowjetruiTland die Bobranlagen
wieder, und 60000 unbescbaftigte und unzufnedene Arbeiter waren
endlick wieder imstande, ibren Lebensunterbalt zu verdicnen. Naturlicb
zog Sowjetrul?land aus dem Ole Nutzen; aber das konkrete Beispiel
dafur, daf? einer Bekebrung zum Sowjetsystem materieiles Gedeiben folge,
war den Kommunisten viel wertvoller, als das Brennol. Das -war ein
Ol erfolgreicber Propaganda fur sie ; und die russiscben Agenten, die
ganz Transkaukasien anfullten, verfeblten nicbt, den Vorteil daraus wabr-
zunebmen. In Armenien s. B. mu#te erne Propaganda dieser Art un-
widersteblicb wirken, — in dies em Armenien, das sicb ausscKlieuiicn
von amerikaniscben Almosen nabrte, das keiae Mitt el zur Verteidigung
gegen s ein en bundertjabrigen Feind, die Turken, besau, das keine land*
wirtscbaftlicben Mascbinen, und kein Vieb mebr sein Eigen nannte, und
das von einer balben Million bilfloser Flucbtlinge aus Turkiscb-Armenisn
uberscbwemmt war, deren Gegenwart ein bereits verwustetes Land cock
armer macbte ! Aucb bereiteten gerade in jenen Stunden die tiirkiscben
Nationalisten eine Offensive gegen die armeniscbe Republik vor. Hilfe-
rufe in die Autfenwelt bracbten keine andere Antwort als scbone Pbrasen.
Im spaten Oktober begann der Angriff. Am 4. November fiel Kara,
und die siegreicbe turkiscbe Armee durcbdrang Armenien faktiscb wider-
standslos. Die Lebre war also nicbt mii?zuversteben : — Aserbeidscban
batte dadurck, dai? es den Kommunismus annabm, gewonnen; Armenien
war dadurcb, dai? es dem ICommumsmus Widerstand leistete, zerstort
worden. Am 6. Dezember erbob sicb das armeniscbe Proletariat also
gegen eine Regierung, deren beste Manner, — immer dem Oberstea Rat
nacblaufend, — den grotften Teil ibrer Zeit in Paris oder Genf oder
San-Remo oder London damit zugebracbt batten, eine Hilfe zu erbetteln,
die niemals kam. Die Sowjetrepubbk Armenien wurde proklamiert.
Nun war nur nocb Georgien ubrig. In Georgien war der Druck
des Elends und wirtscbaftlicber Anarcbie niemals so groK gewesen, wie
in Aserbeidscban und Armenien. Es gab allerdings aucb in Georgien
einige bunderttausend Flucbtlinge, meist antiboLscbewtstiscbe Russen, die
mit alien Reicbtumern, die sie befordern konnten, nacb Tiflis gefloben
waren, — unproduktive Herrscbaften, gleicb wertlos fur Arbeit wie
fur Kampf. Aber Georgien besitzt zwei Ausgange nacb der See, —
680
Saturn unci Poti, — una gewisse Mengen Nakrungsmittel und sonst
notwendiger Bedurfmese konnten aus der westlicken rlemispkare em^c-
iukrt werden. Gewifc waren die Georgier in grower Klein me, und da
ikr Papiergeld au&rkalk Transkaukasiens wertlos war, fiel es iknen
sckwer, ihre Einkauie lm Auslande zu bezaklen. Aber Georgien produ-
ziert das teste Mangan der Welt, und Mangan ist sekr gefragt; Mangan
wurde also gegen Nakrungsmittel und lebenswicktige Rokstoffe emgetausckt.
Auck befindet sick alles, was die Russen an Industrie in Transkaukasien
uberkaupt etabliert batten, in Georgien. Tiflis, vor dem Krieg eine
viertelmilkon Emwokner zaklend, ist durck den Zustrom von Fliickt*-
lingen fast aux eine Million angesckwollen. Es nimmt sick rait elekt-
ruckem Lickt, elektnscker Stratfenbakn Fabriken und ^Verkstatten, einer
grotfen Oper, einem russiscken Ballett und ausgezeicknet gepflasterten,
sckon angelegten Stratfen sekr 1 stolz aus. Aller dem Kriege entronnener
Woblstand Trans kaukasiens katte sick eben in Georgien zusammengefunden.
Die Regierung war sozialistisck, aber nickt bolsckewistisck. Einige
der besterzogenen und klarsten Politiker des kaiser licken Ru^Iands &ekorten
ikr an, — Manner, die intelligent genug waren, zu erkennen, datf der
Sozialismus die Regierungsrorm der Stunde sei und sick der sozialistiscken
Ricktung anzupassen. Das Grotfgrundeigentum wurde konfisziert. Die
Manganminen und ^ie Seidenraupenzuckt, diese beiden Hauptquellen der
Exporteinkunfte, wurden nationaksiert und ikr Gewinn zum staatkcken
Einkauf lebenswicktiger Guter verwandt. Die grotfen privaten Klubs
nut lkren pracktvollen Garten wurden gegen ein Eintrittsgeld von wenigen
Cents der ganzen Bevolkerung geoffnet, Ein Platz in der Oper kostet
8 Cents. Im ganzen strengte man sick sicktlick an, den Wunackcn der
radikalen Elemente Recknung zu tragen, gleickzeitig aber auck eine Re~
gierungsiofm keizubekaltcn, mit der die westeuropascken Staaten zu ver-
kekren willens sein .wurden.
Prasident Jordama, der den Lekren Karl Marxens so lange ge-
dient katte, sickerte das Vertrauen der Radikalen; wakrend sein Stell-
vertreter Guguckekori. jung, .kosmopolitisck und von koker Kultur, die
europaiscken Missionen im Stile traditions ret ckster westlicker Diplomatic
kekandeite. David Gkambasckidse, georgiscker Gesckaftstrager in Lon-
don und Pans, war^ein Weltmann, der grotfte Zuversickt in die Sta-
kiktat seiner Regierung und in die gute Gesinnung seiner Landsleute
einzuflotfen wufite. Sogar die reaktionaren Franzosen konnten nickt
ackselsuckend uber eine Regierung kinweggeken, in deren Aufen-
681
ministerium Pnnz Napoleon Murat — Ururenkel das Marsckalls una
Vetter des franzosiscken Senators Pnnz Joaclum Murat, — cine koke
Stelle einnakm.
Es war daker vom Standpunkt der europaiscken Mackte aus aller
Anlal? dafur gegeken, als mensckewistiscken Regierung in lkrem Existenz-
kampf zu keif en; und keiner dafur, G corgi en der steigenden Fiut des
Kommunismus gleickguttig zu ukerlassen. Und dock taten sie das!
"Womit England, Frankreick und Italien sick wakrend der ganzem
Dauer der kritiscken Okkupation, die erst im letzten Juli endete, ke-
sckaftigten. das war ausscklieflick darauf kerecknet, das Land nack aller
Moglickkeit auszukeuten.
Die Gewissenlosigkeit, mit der die georgiscke Repuklik und das
georgiscke Volk an der Nase kerumgefukrt und ausgeplundert wurden,
ist kaum zu kesckreiken. Als ick im Spitsommer 1919 nack Tiflis
kam, entfalteten dort drei ^Missionen^ der AUiierten eine eifrige Tatig-
keit, — eine kritiscke, eine franzosiscke und eine italieniscke. Ikre
Mitglieder waren alle in sckimmernd kriegeriscke Uniform gesteckt
worden. Es kandelte sick dakei urn Bankiers, Agenten und Ingenieure,
die ikr Lektag keine Kanone geseken und keinen Sckuff gekort katten
und deren Generalsakzeicken vor Jugend glanzten: man katte sie in
Uniform gesteckt, damit sie den Eingekorenen wicktiger und autonta-
tiver ersckeinen sollten. Ikr Gesckaft war pure Konzessionsjageret; sie
jagten nack Minenreckten, ^/asserreckten, Eisenkaknkonzessionen* V er-
tragen mit Stadtgemsinden und Anleikekegekungen, — : nack alien,
kurzum, was nickt niet- und nagelfert war. Um seiner Unakkangig-
keit willen mutfte sick Georgien auf Generationen kmaus mit Haut und
Haaren derselken Metkode gesickerter fremder Kapitalinvestitionen aus-
liefern, der Venizelos, gegen den Preis seiner dauernden Premiers ckaft^
Grieckenland ausgeliefert kat.
Am keitfesten kegeks-t wurden Ait Kupferminen von Alaverdi,
unmittelkar sudKck von Tiflis. Kaum waren die Alkiertenmissionen ui
Georgien angekommen, als die Intriguen, mittels deren sie sick in den
Besitz dieses wertvollen Okjektes setzen wo lit en, einen Zekntagekrieg
zwiscken Armenien und Georgien kervorriefen, den General Sir Mr.
Rycroft damit keendete, da(? er die ginze Provinz in eine neutrale
Zone verwandelte. Die Franzosen Leffen sick nun von den Armenieren
<lie Minen selkst versckreiken, einen Scklag, den die Briten damit
parierten, dai? sie die strittige ZoneV mitsamt den Minen okne Vor-
kenntnis der Franzosen zu Georgien scklugen. So wurden die National-
682
leidensckaften von aui?en ker kunstlick aufgestackelt, so wurden die
Femdsekgkeiten zwiscken Sowjetarmenien una Georgien entzundet, die
erst jetzt, durck die Sowjetisierung Georgiens, gelosckt worden sind!
Denselken Kurs verfolgten die Alliierten kinsicktlick der Mangan-
minen von Mingreka, der Takakfelder von Sukkum, der Seiden-
zucktereien von Kutais und ukerkaupt kinsicktkck jegkcken georgisckea
Eigentums, das ^^ert kesa& oder ^^ert zu gewinnen versprack. Es
war geradezu eine Scklagerei; ]ede Mission unterminierte die anaere, —
intriguierte, — kesckwatzte, — lockte, urn kommerzielle Vortexle zu
erkalten, mit Furspracke kei der Fnedenskonferenz, — oder drokte,
wean es gait, die Verleikung einer IConzession an einen Konkurrenten
zu verkindern, mit der Aufteilung Georgiens unter die ukngen trans-
kaukasiscken Staaten. Die Englander mackten kauptsickkck in An-
leiken. Ein Brigadegeneral vertrat ein kekanntes Londoner Fmanz-
kaufl und versuckte, Georgien durck eine Dauerkypotkek nack Art des
englisck-persiscken Akkommens vom August 1919 an die Kette zu
legen. T)ie Franzos*en waren Spezialisten in Gruken, wakrend die
Italiener kauptsacklick Gewekre, Munition und Sckuke, die sie dent
Osterreickern akgenommen katte n, untersckiedslos an Georgier, Aserkeid-
sckanier und Armenier verkauften, damit in alien dm Landern die
Heere, die sick gegenseitig umkringen wollten, gut ausgeriistet waren.
Und im Verlaufe dieser Auskeutung wurde der transkaukasiscke
Rukel (der mindestens ekenso solide fundiert gewesen war, wie Pfund,
Franc oder Lira), mit vereinten Kraften von den drei Gro&nacktea
ruiniert. Dann kauften sie mit ikrem Papiersterlings, = franks, =
oder lires menscklicke Arkeitskraft fur einen Dollar im Monat und
keraukten ein verelendendes und verzweifelndes Volk seiner letzten.
personKcken AVertstucke. Juwelen, Teppicke, Pelze, Silker — : allea
mutften die Georgier notgedrungen fur Brot verkaufen. In B a turn
zaklte lck einmal 60 B alien, jeder 10 unsckatzkar wertvollc persiscke
Teppicke entkaltend, die ein einziger Offizier der alliierten Heere zu-
eammengekauft katte und nackkause sckickte. Die georgiscken Zoll—
wackter konnten mckt einmal Zoll davon erkeken, denn der Herr
Aksender katte sie als Heeresgut deklariert.
Da es in diesem Lande derart leickt war, scknell reick zu werden,
wunsckte keine der europaiscken Nationen, dal? Georgien durck Ge—
wakrung angemessener Kredite wirtsckaftKck stakilisiert und zu einer
Regeneration aus eigener Kraft kefakigt werde. Und okwokl sic an—
fangs ^^iderstand leisten wollten, wurden die Georgier mit der Zeit
683
do en zum Nacbgeben gezwungen, — bier zu einer Konzession, dort zu
einem Grubenrecbt, bier zu einem Munizipalkontrakt, dort zu em em
Auftrag auf rollendes Material. Und nut jedem Zugestandnis wucbe
die Gier der Exploiteure. Die GeldmitteJ, die Georgiene Regierung
mstana setzen so Uteri, ibre Armee zu bezablen, ibre bescbaftigungslosen^
murrenden Arbeiter zu versorgen, und ibre rumosen Steuern zu er—
lei en tern, wurden j miner langer zuruckgebalten, danut es lrgend einem
verepatet eingetrotfenen Scbieber mogkeb ware, e ben falls nocb Bo den
zu fassen. Es war dieselbe Politik, die die alliierten Macbte seit dem
^Vaffenstillstand alien kleinen Nationen gegenuber verfolgt baben, —
von Polen und Griecbenland bis zu Aserbeidscnan und Siam.
Im Falle Georgien, der nur ein Beiepiel ist. baite das Hubn goL-
dene Eier legen konnen. Aber die Vertreter AA^esteuropas waren
blind; sie saben nicbt, wie rascb in Georgien die Zabl der Tausende
ansckwoll, die nicbt wuften, wober sie ibre nacbste Mablzeit nekmen
eollten. Es gab FamiKen, die nie etwas anderes als groJ?ten Luxus ge-
kannt batten, und die jetzt auf die StraJ?e geworfen wurden. weil sie
eine Hausmiete von 5 Dollars im Monat nicbt mebr zablen konnten-
Und als leb zum V ermieter ging, urn zu protestieren, land lck, daK er
zwar in einem groi?en Haus lebte, aus dero er aber, um nicbt zu ver—
bungern, langsam Mobel, Tafelleinen und Silber ausverkauite.
Es war sebreckhek. es war grotesk, es war irrsinnig. Das Land
war reick, das Volk scbrie nacb Arbeit. Es batte semen Zugang zum
Meer, es konnte seine Erzeugmsse versckiffen, und diese Erzeugmsse
wurden auf dem >A^eltmarkt begebrt. Aber durcb eine Plundernng
mit vereinten ICraften, — eine stumpfsmnige Plunderung, denn sie stack
daa Hukn, das goldene Eier batte legen konnen, ab, — wurde das
Land, statt dab man ibm auf die Seine gekolfen batte, ruimert. Man
bielt es nut Gncckenlapd, Polen, Osterreicb. Serbien, Syrien und Per—
sien ]a ebenso, und man wird es aucb mit der Turkei so balten, vor—
ausgesetzt, dal? Mustapba Kemal es erlaubt.
Nur: in Georgien konnte die Sacbe nicbt lange wakren. Sowjet-
ruf?land lag zu nabe. Man sab das Beispiel Aserkeidsckans vor sick,
das vor der Ausbeutung durcb AiVesteuropa ekenfalls in den Kommunismus>
geilvicktet war und dem erkokte Prospentat gelobnt batte. Die Ge-
duld der Georgier gmg zu Ende. Als der Oberste Rat nack drei—
jakrigem Warten die Unabbangigkeit Georgiens ecblietflicb dock nock
anerkannte, war es zu spat. Die Operation war erfolgreick, — der
Patient aber starb.
684
HUGO V. HOFMXNNSTHAL ERSATZ FUR DIE TRAUME
^Jas die Leute im Kmo sucken, sagte mem FreuncL mit dem icn
aur dieses Tkema kam, was alle die arbeitenden Leute im Kino sucken,
ist der Ersatz fur die Traume. Sie wollen ikre Pkantasie mtt Bddern
hallen, starren Bddern, in denen sick Lebensessenz zusammenraut, me
gleicksam aus dem Innern des Sckauenden gebtldet sind und mm an cue
Nieren geken, Denn solcke Bilder kleikt iknen das Leben sckuldig, —
(Ick rede von denen; die in den Stadten oder grof/en zusammenkangen-
aen Industnebezirken woknen, mckt von den anderen, den Uauern, den
Sckiffern, ^^a id ark ei tern oder Bergbewoknern.) — Ikre Kopie sind,
leer, mckt von TVatur aus, sondern eker durck das Leben, das die ue-
sellsckaft sie zu fiikren zwingt. Da smd diese Ankaurungen von koklen-
gesckwarzten Industrieorten mit nickts als einem Streifcken von ver-
dorrtem Wiesengras zwiscken iknen, und den Kmdern, die da aurwacksen
von denen unter seckstauaend mckt eines im Leken eine Eule geseken
Latte oder em Eickkorncken oder eine Quelle, da sind unsere Stadte
diese endlosen, einander durckkreuzenden Hauserzeilen; die Ha user seken
einander aknkck, sie kabea eine kleine Tur und Streifen von gleick-
formigen Fenstern, unten sind die Laden; nickts redet zu dem, der
voruberkommt oder der ein Haus suckt: das einzige was sprickt ist die
Nummer. So ist die Fabrik. der Arbeitssaal, die Masckine, das Amt,
wo man Steuer zaklen oder sick melden mub; nickts davon bleibt
kaften als die Nummer. Da ist der A^erktag: die Routine des Fa*
krikslekens oder des Handwerks; die paar Handgriffe,immer die gleicken;
<las gleicke Hammern oder Sckwingen .oder Feilen oder Dreken; und
zu Hause wieder der Gaskocker. der eiserne Ofen, ^±& paar Gerate
tmd kleinen Masckinen, von denen man abhangt. auck das durck Ubung
so zu bewaltigen, das ?ckuel7iick der, der sie immer -wieder kewaltigt
selber zur Masckme wird, em \Verkzeug unter Werkzeugen. Davor
fluekten sie zu unzakkgen riunterttausenden in den finateren Saal mit
clen beweglicken Bildern. Dal? diese Bilder stumm sind, ist em Reiz
mekr; sie sind stumm wie Traume. Und im tieisten, okne es zu wissen,
furckten diese Lsute die Spracke; sie iurckten in der Spracke das
^Verkzeug der Gesellsckart. Der V ortragssaal ist neben dem Kmo
das Versammlungslokal ist erne Gasse weiter, aber sie kaben mckt diese
Gewalt. Der Eingang zum Kino ziekt mit emer Gewalt die Sckritte
der "Menscken an sick, wie — wie die Branntweinsckanke : und dock
ist es etwas anderes. Uber dem V ortragssaal stekt mit goldenen Buck-
ataken: „Wissen ist Mackt!* aber das Kmo rutt starker: es rurt mit
685
Bildern. Die Mackt. die iknen durck das ^A^issen vermittelt wird, —
lrgend etwas ist iknen unvertraut an dieser Mackt, nickt ganz Gber-
zeugend, beinake verdacktig. Sie fuklen, das fukrt nur tiefer kinein in,
die Masckinerie und unmer weiter vom eigentKcken Leben weg, vom
dem, wovon lkre Sinne und em tieferes Gekeimnis, das unter den Sinnen
sckwingt, lknen sagt, dass es das eigentkcke Leben ist. Das \Vissen^
die Bildung, die Erkenntnis des Zusammenkanges, all dies lockert viel—
leickt die FesseL, die sie um ikre Hande gescklungen fuklen, lockert sie
vielleickt fur den Moment zum Sckein, um sie dann vielleickt nock
fester zusammenzuzieken. All dies fukrt vielleickt zuletzt zu neuer
Verleitung, nock tieferer Knecktsckaft. (Ick sage nickt, dai? sie dies
■agen; aker eine Stimme sagt es in lknen ganz leise.) Und ikr Inneree
wurde kei ailed em leer kleiken. (Auck dies sagen sie sick, obne es sick
zu sagen.) Die eigentumhcke fade Leere der ReaKtat. das Wesen, dae
den euSen undefinierkaren Sckauder der aknenden Begierde tief in die
dunkle, kekende Tiefe des Herzens kineinwarf — und nun ist es wieder
cine Kiste mit zaukerkaftem GerumpeL die sick auftut : das Kino. Da
liegt alles often da, was sick sonst kinter der kalten undurcksicktigen
Fassade der endlosen Mauser verkirgt, da geken alle Turen auf, in die
Stub en der Reicken, in das Zimmer des jungen Madckens, in die l Hallfi-
des Hotels, in den Scklupfwinkel des Diebes v m die Werkstatt des
Alckimisten. Es ist die Fakrt durck die Luft mit dem Teufel Asmodi,
der alle D acker abdeckt, alle Gekeimmsse freilegt ; aker es ist jQickt
h\oS die Beeckwicktigung der qualenden, so oft enttausckten Neugier
wie keim Traumenden ist kier einem gekeimeren Xneb seine Stillung
bereitet; Traurae sind Taten, unwillkiirlick misckt sick in dieses
sckrankenlose Sckauen ein sutfer Selbstbetrug, wie em Sckalten und
Walten mit diesen stummen dicnstkar voruberkusckenden Bildern, ein
Sckalten und Walten mit ganzen Existenzen. Die Landsckaft, Haue
und Park, ^A^ald und Hafen, Aie kinter den Gestalten voruberwekt,
wackt nur eine Art von dumpfer Musik dazu — aufrukreni wei£
Gott -was, an Seknsuckt und UJ>erkebung, in der dunklen Region, in,
die kein gesckriebenes und gesprockenes Wort kinabspnngt — auf dem
Film fliegt aber indessen in zerissenen Fetzen eine ganze Literatur vorbei ,
nein, ein ganzes ^^irrsaal von Liter a turen, der Gestaltenrest, von Tau-
senden von Dramen, Roman en. iCrmunaigesckickten ; die k ist oris ck en
Anekdoten, die Halluzinationen der Geisterseker, die Berickte der
Akenteurer; aker zugleick sckone Wesen und durcksicktige Gekarden.
Mienen und Blicke, aus denen die ganze Seele kervorkrickt. Sie leben
686
und laden, ringen und vergeben vor den Augen des Traumenden; und
der Traumende weii?, dal? er wack iat; er braucbt nicbts von sick
drauKen zu lassen; nut all em -was in ikm ist, bis in die gebeimste Falte,
starrt er aur dieses rummer nde Lebensrad, dal? sick ewig drekt. Es ist
der ganze Mensck, der sick diesem Sckauspiel kingibt; mcbt ein einziger
Traum aus der zartesten Kmdneit, der xncbt m Scbwingungen geriete
Denn wir kaben unsere Traume nur zum Sckein vergessen. Von jedem
einzelnen von iknen, aucb von denen, die wir beim Erwacken sckon
verloren kaben, bleibt em Etwas in uns, eine leise aber entsckiedene
Farbung unserer Affekte. es bleiben die Gewobnkeiten des Traumes in
denen der ganze Men set ist, metr als in den Gewobnbeiten des Lebens
all die unterdruckten Besessenkeiten, in denen die Starke und Besonder-
beit des Individuums sicb nacb inn en auslebt. Diese ganze unterirdiscke
V egetation bebt bis in ibren dunkelsten AA^urzelgrund, w ah rend Siie
Augen von dem flimmenden Film das tausendfaltige Bild des Lebens
ablesen, Ja, dieser dunkle ^iVurzelgrund des Lebens, er, die Regionen,
wo das Individuum auibort Individuum zu sein, er, den so selten ein
Wort erreicbt, kaum das AVort des Gebetes oder das Gestammel der
Liebe, er betet nut. Von lbm aber gebt das gebeimste und tieiste
alier Lebensgeruble aus: die Abnung der Unz erst orb arkeit, der Glaube
der Notwendigkeit und die Veracbtung des blof? ^A^irklicten, das nur
zufallig da ist. Von mm, wenn er einmal in Scbwingung gerat, gebt
das aus, was wir Gewalt der Mytbenbildung nennen. Vor diesem
dunklen BLck aus der Tiefe des 'Wesens entstebt bKtzartig das Sym-
bol: das sinnlicbe Bild rur geistige Wabrbeit, die der Ratio unerreick—
bar ist. Icb weil?, sckloi? mein Freund, dal? es sebr verscbiedene AiVeisen
gibt, diese Dinge zu betracbten. Und icb weii?, es gibt eine ^Veise,
sie zu seben, die legitim ist von einem anderen Standpunkt aus und ^ie
mctts anderes in all dem siebt als ein klaglickes "Wirrsal aus industrie-
ellen Begekrhckkeiten, der Allmacbt der Tecbnik, der Herabwurdigung
des Geistigen und der dumpfen, auf jeden *Weg zu lockenden Neugierde.
Mir aber scbemt die Atmospbare des Kinos die ainzige Atmospbare,
in welcber die Menscben unserer Zeit — diejenigen, welcke ^ie Masse
bilden — zu einem ungebeuren, wenn aucb wunderlick zugericbteten
geistigen Erbe, in ein ganz unmittelbares, ganz bemmungsloses Verkalt-
nis treten, Leben zu Leben und der vollgepfropfte, balbdunkele Raum
mit den vorbeifliefenden Bildern ist mir, ick kann es nickt anders sagen,
beinabe ebrwurdig. als die Statte, wo die Seelen in einem dunklen
Selbsterkaltungsdrang binflucbten, von der Ziffer zur Vision.
687
CARL STERNHEIM FAIRFAX
Inzwischen sagten ihm iippige Vergniigungen nichts. Theater
und Kino waren ohne Ausnahmen banal, und Nacktes wurde auf
dcr Szene wie iiberall zu kraf? angeboten, als daf? es gewirkt hatte.
Im Gegenteil ging Daisy, sich zu unterscbeiden, auch abends im
boben Kleid. Das Weibliche, in alien Preislagen, drang ungeniert
bis in Fairfax Ankleidezimmer und war wie Ungeziefer scbwer
zu entfernen.
Die Sioux, die er nacb Haus batte scbicken woUen, weil sie
sich infolge lockeren Lebens, das sie uberall trotz Aufsicht ftihrten,
nicht vermehrten, und die er ein wenig satt hatte — zehn
Kilo war er schwerer und zum schwersten Rennen fit geworden —
hatten, ohne dai? Daisy sick widersprecbend einmischte, docb das
Engagement nacb Miancben zur Oktoberwiese gefunden, von dem
in Zeitungen damals scberzbaft die Rede gewesen war und fiihlten
sich, wie sie mitteilen lietfen, bei Bier und Weitfwiirsten wie nie
im Leben zu Haus.
Fairfax, stand er gegen Abend vorm Hoteleingang und lie!?
Berliner Leben an sich vorbeilaufen, batte eine Sechzehnjahrige
bemerkt, die in Bluse und Hut mit aufgekippten Niistern, wie eine
Gerte scblank seit Tagen vor ihm stricb, bis endlicb sich sein
Blick in sie verfing, da(? er lustern -war, zu wissen, -was sie bedeute,
ibr wxnkte, worauf sie kam.
Nutte sei sie, sagte sie. Berliner Spezies des halbfluggen
Madchens ; ihre Eltern Portiersleute am Kurfurstendamm. Sie babe
nur einen Hal?: Armut! Was ihr gescbebe, sei gleich. Aber mit
annen Leuten wolle sie nie wieder zu tun baben. So lange wiirde
sie* unter den Linden spazieren, bis sie den mit der recbten Valuta
gefunden habe: Entente oder besser Neutralen. Wolle er sie,
konne er sie baben. Er sahe anstandig aus. Aber erst Garantiet
Im ubrigen tate 3ie, was er wolle; gehe auch nachtraglicb ins
Gymnasium, wunsche er mebr als hohere Tochterschule !
Er ging mit ihr essen, und sie uberfral? sich so, daf? der erste
Abend mit ibren Ubelkeiten peinlicb endete. Bald aber wurde
sie nett und manierlich, und er fand in dem ihr eingericbteten
Heim reizende Unterbaltung. Auch Daisy, die gebeten batte, bei
688
ihr den Tee nehmen zu diirfen, war nach dem Besuch begeistert,
weil Alice von Fairfax gesagt hatte: „Ihr Alter macht Laune. Er
ist wirklich ein gro(?zugiges Original."
Andrerseits war es Fairfax nicht entgangen, wie Daisy Blicketi
eines im Hotel wohnenden hochgewachsenen Blonden nicht nur
nicht auswieh sondern sie feurig erwiderte. Der bartlose Schlanke
mit nicht gutgetragenem Monokel war der Erbgraf Schleyn-Weyn-
Reitzenstein, aus purstem Blut gezogen, mit deutschen und aus-
wartigen Fiirstenhofen verwandt. Katboliscber Westf ale, letzter Sprof?
klotziger Feudalitat, stand er im sozialdemokratischen Berlin und
unter Kleptokraten, dieFiscbundKartoffelmit dem Messer schlangen,
wie vom Mond gefallen ein wenig hohl. Doch gabe er, schliigen
man ibn an, noch edlenTon, hatte man den Eindruck. Boshafte sag ten,
er sei prahistorisches Uberbleibsel, weil er sich mit Weibern nickt ab-
gab, von jenem Baron Thunder ten Thronkh abstammend,
den Voltaire unter dem Namen Candide unsterblich gemacht hat.
Jedenfalls war er blendend, Legationsrat im Auswartigen Amt
und mit seinen VWgesetzten bis zur hochsten Stelle fieberhaft
neugierig auf Fairfax und das, was er vorhatte. Der Gedanke, mit
Daisy zu flirten, war ihm also schon von Berufs wegen gekommen,
ebe sie selbst Eindruck auf ihn gemacht hatte. Fairfax aber hoffte,
durch ihn letzte Ausschlusse und den ricktigen Start zu bekommen,
bevor er seine Anwesenheit in Berlin offiziell machte.
Man lernte sich kennen und gefiel sich. Als Diplomat war
Bodo Schleyn diskret, offenherzig als Weltmann, sodaf? Fairfax
alles, was er wissen wollte, erfuhr : daf? wirklich das deutsche
Geschaft wieder zu laufen anfing, man zu Riesenproduktion und
grotferem Verbrauch als je auf dem Sprung war und nur durch
der Franzosen storendes Verhalten verwirrt, aufgekalten und, fuhren
sie mit ihren Schikanen fort, gezwungen sei, sich trotz damit ver~
kniipften Risikos ostlich zu orientieren.
Daisy strahlte. Der Franzose sei Europas Fakir und hindere
der naiven Deutschen und der Welt Konsumdrang. Aber man
konne auf dieser Erde nicht mehr nach individuellen Zwangsideen
leben. Wer auch nur ein Vorurteil habe, sei fossil!
Der Erbgraf begriff nicht, was sie meinte, freute sich aber,
Eindruck gemacht zu haben. Fairfax jedoch tiberlegte zum ersten-
mal griindlich mit Plexin, ob man Frankreich bremsen, alle Kriegs-
plane abbrechen und es mit einem der Welt von den Deutschen
689
vorgemachten Friedensverbraucb versucben solle. Vielleicht bringe,
wie cs dcr Krieg getan batte, wirklicber Frieden binsicbtlich
neuer Konsummoglicbkeiten uberrascbende Aufscblusse. Wenn
man alle Scbleusen offne !
Plexin, der erst nicbt wollte, fand nacb einer Wocbe Berliner
Aufentbalts, das Ding diskutabel. Konnte man wirklich Europa,
spater die Welt soweit bringen, wie bier scbon ein breites Publi-
kum tagsuber AiVarenbauser, abends und nacbts Kinos, Theater,
Weinstuben, Cafls, Bars und Kabaretts pliinderte und leertrank
konnte man voraussetzen, jedermann wurde durcb strenge Er-
ziebung zu solcbem leiblichen und geistigen Grotfverschleii? reif, war
die Sacbe zu macben.
Genaue Untersuchung, sorgfaltigstes Experiment an Vertretern
mebrerer Volker verlangte Fairfax, und Plexin, in abgescblossenen
Raum, beobacbtete Wirkungen auf je einen Polen, Serben, Italiener
und ukrainiscben Landsmann.
AA^ahrend aber die drei ersten machtig erhohten Umsatz von
GenuCmitteln mit Ausnabme deutscben Cbampagners vertrugen,
und aucb in der Verscbwendung taglicher Gebrauchsartikel, Feuer-
zeug. Papier, Tabak, Toilettenbedarf nicbt faul blieben, versagten
aie vollig auf geistigem Gebiet und waren nacb der Lektiire weniger
Biicber mitTiteln wie „Das Verlangen nacb Grenzenlosigkeit", „Ge-
ecbichte als Sinn des Sinnlosen", .,Eros und die Evangelien", von denen
der Deutsche mit einem Haufen Zeitungen und Broschiiren taglich be*
quem ein Dutzend liest und begreift, scbon mebr tot als lebendig.
Mit dem Ukrainer aber, der sicb anfangs in leicbter Ver~
dauung geis tiger Speisen bis zur hochsten Bewu£tseinspreislage
leistungsf ahig gezeigt batte, erlebte Plexin, als er ibm schlieiHich auf-
gab, innerbalb acbtundvierzig Stunden das gesamte Werk der beiden
indischen Poeten : Tagore und Yo-Him-Bim, der deutscben Leib-
dicbter, zu kennen, eine Katastrophe: Der starb daran!
Bevor dies Resultat sicb ergeben hatte, scbien jedocb des
Erbgrafen Verbal tnis zu Daisy soweit fortgeschritten, dal? alle Welt
erkannte, zwischen ibnen mutfte bald Entscbeidung fallen.
Durcb den plotzlichen Tod seines Vaters, des regierenden
Fursten Scbleyn-^^eyn-Reitzenstein war Graf Bodo in abgriindige
Trauer versetzt und scbien so trostbediirftig, datf nur eines Weibs
hingebende Liebe ibm den Heimgegangenen ersetzen konnte. Man
£ab 2war, wie Absicbt, ein freies barmoniscbes Leben zu opfern,
690
ifam scbwer wurde, aber als einziger Ausweg taglicb mebr ein~
leucbtete, unci wie cr mit dem Entscblui? seiner Heirat offenbar
andere, wichtigere verband.
AuCerdem gliihte allmablicb Atmospbare, die sicb iiberall er-
bebt, wo ein Ding in Scbwung ist, und Bewegung, Hin- und Her*
laufen war urn ibn. Herren im Gebrock und Zylinder kamen,
die tuscbelten, sorgenvolle und dann erloste Mienen macbten, als
sie ibm freudig auf die Scbulter klopften.
Daisy war so pracbtvoller Laune, daf? Fairfax sab, sie er-
wartete den Antrag mit Freuden. Sie scbenkte Alice eine ibrer
Perlscbniire, deren wertvoller Besitz das Madcben bis an scm
Lebensende zur Kapitalistin macbte, trail erte, sang und biipfte nur
so berum.
Eines Morgens endlicb lie!? offiziell sich Fiirst Bodo melden
und erscbien in strablender Aufmacbung der ebemals Pasewalker
Kiirassiere, Regiment Konigin : weitfem Roller mit Karmoisin, silber~
scbuppigem Metallhelm in den Nacken, Lackstiefeln bis zur Hufte
und einen Pallasch, der aufgestiitzt, ibm an die Brustwarzen reicbte.
Im ganzen glicb er Lohengrin durcbaus.
Er bat um der abwesenden Daisy Hand; fugte aber, ebe Fair-
fax geantwortet batte, binzu: von seiner mannlicben Leidenscbaft
abgesehen, stande er bier als Deutscber und Preutfe vornebmlicb,
verbande mit seiner personlicben Frage an das Scbicksal grof?ere,
uberpersonlicbe fiir sein uber alles geliebtes, in tiefster Not befind-
licbes Vaterland: Ob Fairfax bereit sei, die Mitgift so grot zu
geben, daf? nacbdem mit ihr die gesamte Kriegsscbuld
Deutscblands an die Entente bezablt sei, genug bleibe,
mit Daisy standesgemaf? leben zu konnen.
Hier zum erstenmal war Fairfax in seinem Leben platt und
wutfte fiir den Augenblick keine Silbe zu sagen. Der Fiirst
der seines Gegeniibers Bestiirzung sab, zog sicn taktvoll zuriick,
indem er binzufugte, er werde seine Forderung, die Alpba und
Omega seines Lebens sei, scbriftlicb besser begriinden.
Fairfax aber, alleingelassen, durcbblitzte nacb dem ersten Scbreck
der Gedanke: warum nicbt?!
War die Summe bundertundzwanzig Milliarden Goldmark an
sicb scbon nicbt unerscbwinglicb, scbien Daisys Leidenscbaft, dea
Fiirsten unbeugsamer Wille, docbaucbdie rein gescbaftlicbe Seite der
Angelegenbeit dringend wert, die Sacbe kaltbliitig zu iiberlegen.
691
Was wiirde erste Folge eines seiner Kriegsschulden
ledigen Deutschlands sein? Das Hinauffliegen seiner Valuta
und seiner samtlichen mo bile n undimmobilen Werte doch!
Und legte man, ehe noch eine Seele von der geanderten Lage
wvu?te, zu niederem Kurs Hand auf samtliche deutschen Vorzugs—
werte — sollte es nicht moglich, wahrscheinlich, notwendig sein,
aus den zweifellos marchenhaften Kursdifferenzen die bezahlten
Milliarden nicht nur wiederzuholen, sondern — bier ergliihte
Fairfax vom Scbeitel zur Soble — ■ noch traumhafte Vermogen
dariiber hinaus zu gewinnen?
Er sprach mit Daisy, die iiber des Fursten Antrage aus dem
Hauschen und doppelt in ibn verliebt war. Das sei, weil? Gott
doch ein Kerl und endlicb strikter Beweis dafiir, was eigentlich
in jedem Deutschen fur eine Nummer stecke ! Plexin aber, mit dem
Fairfax seine Ideengange im allgemeinen beredete, fand die Per-
spektive, man helfe, indem man Deutscbland grof?ziigig beispringe,
sich selbst noch viel grotfziigiger, von schauerlicher Grotfartigkeit
und bebauptete, so eng mit Deutscbland verschweu?t, kdnne man
es zu noch viel 'gewaltigerem Massenverbrauch stacbeln und um
anderes in der Welt sich uberhaupt nicht mehr kummern.
Drei Tage lang griibelte Fairfax iiber Kalkiilen und kam zum
Ende, das Geschaft sei ricbtig und in seiner sentimentalen Auf-
machung besonders aller Konkurrenz iiberlegen. Er traf langsam
Vorbereitungen, sich des gesamten Kali, Kohlen und Eliktrizitats-
fonds Deutschlands zu versichern und sandte Plexin mit Gegen-
befehlen nach Frankreich, durch die der dortige gesamte Haubetrieb
langsam auf tote Geleise geschoben werde sollte.
Des Fiirsten Bodo angekiindigtes Schreiben batte gro#en Ton.
Neben des Forderers Heroismus strich es auch den von Fairfax
hinreichend heraus und machte aus der Sache historische Ange-
legenheit fiirkiinftigen Geschichtsunterricht mit der Jahreszahl 1920.
Fairfax' Antwort war kbmglich und kurz.
Am Abend der mit distmguiertem Pomp gefeierten Verlobung,
der der Reichskanzler und der Staatssekretar des Auo'eren bei-
wohnte, beide als einzige Bescheid wissend, iiber das, was Deutsch-
land bevorstand und bis zu Tranen geriibrt. gelang es dem immer-
hin sechzigjahrigen Amerikaner, zu seiner kleinen Alice heimge-
kehrt und von Erfolgen geschwellt diese, wie sich spater heraus-
stellte. zur Mutter eines Knaben zu machea.
692
Eine Wocbe verging alien Beteiligten in innerem dulci jubilo.
Die Reicbsamter reehneten fieberbaft, Fairfax kontrollierte und
arbeitete hinter Kulissen der Borse und Presse im Scbweil? seines
Angesicbts. Bodo und Daisy tronten auf Wolken, und Plexin
drabtete, man gabe wieder Wagner in Paris, und es wehe neuer
Wind im Elyse'e und Palais Bourbon. Scbon erbob sicb vom
Zentrum des Hotels „Unter den Linden" ein unerbortes fnscbes
deutscbes Selbstgefuhl und obne dai? jemand Genaueres wuf?te
stromte aus Fairfax Milieu Zuversicbt auf offizielle Welt.
Allentbalben begann die deutscbe Valuta sprungbaft zu steigen*
und sogar das Publikum auf neutralen Markten, wo Fairfax kaufte,
bekam Witterung und deckte sicb bis an den Hals mit deutscbem
Geld ein. Innerbalb acbt Tagen batte bei einem Wertunterscbied
von elf Punkten nacb oben Fairfax auf dem Papier bereits ein
Drittel der gesamten vom Fiirsten geforderten Summe verdient und
sab ein Gescbaft im Gang, das all sein Wunscben, besonderes
Vorbereiten, Pbantasieaufwand glanzend recbtfertigen wurde. AA^ie
nocb nie im Leben war er frob und gelobte Alice, als er wieder
einmal mit ibr durcb die Siegesalleen, die sie einen Traum der
Scbonbeit fand, ging, ibr samtlicbe Denkmaler samt Siegessaule
zu kaufen und in New York in seinem Park in gleicber gartne-
riscber Aufmacbung wieder binzustellen, und als Alice, dal? die
Anlage verkauflicb sei, zweifelte, versicberte er mit glucllicbem
Lacben, er babe Mitt el, die deutscbe Regierung gefiigig zu macben,
zumal das Symbol nacb Berlin nicbt mebr passe. Worauf
Alice Freudenscbreie ausstiei?,
Docb da gescbab ein Unerbortes : eine der Telefonistinnen
des Hotels, aus Kriegszeiten gewobnt, alle von ibr aufgefangenen
interessanten Gespracbe der dazu eingesetzten Beborde zu iiber-
mitteln, batte zu Anfang des Fairfaxscben Aufentbalts eine Unter-
baltung von Zimmer zu Zimmer zwiscben dem Sioux Mumfo und
Daisy aufgezeicbnet und einfaltig wortgetreu an die vorgesetzte
Stelle weitergegeben. AVeiJ? der Himmel, wer eines Morgens dem
Fiirsten . Absebrift dieses vertrauten Gespracbs auf seinen Schreib-
tiscb gewebt batte, jedenfalls konnte der aus dem Tenor des Ge-
spracbs, knappen Ausdrueken den nicbt zu iibertreftenden Grad
der Intimitat zwiscben beiden sprecbenden Personen nicbt ver-
kennen. Er erbleicbte. Fiiblte, er stand vor Katastropbe !
Nocb sucbte er in anbetracbt dessen, was nicbt fiir ibn aber
693
fur Hoheres auf dem Spiel stand, die Wahrheit von sich zu schieben,
doch gab eine Unterredung mit dem betreffenden Telefonfraulein,
das ihn merkwvirdig an sab und sich genau der Umstande und aucb
an anderes erinnerte, keine Moglichkeit zur Ausflucht mehr.
So kraC war das Mai? der Gewitfheit!
Sofort wollte er bandeln und als Koloi? von Bronze vor Fair-
fax treten. Aber als er ans Hotel kam, stand wartend der ^A^agen
zur Fahrt ins Theater schon bereit, er mui?te zu Daisy und ihrem
Vater einsteigen und schnell ins Theater fahren. wo er „Minna
von Barn helm" auf der Scene sah.
Nun versuchte er es innerlich mit Cynismus, mit „wenn schon",
bii? Zahne zusammen und suchte zur moralischen Blasieitheit
der Zeit aufzuturnen. Er glorifizierte sein an sich erhabenes Ziel
ins Grenzenlose, und also seinePflicht; aber immer wieder wurde, er
von der Buhne her in Minnas und vorziiglich Tellheims Schicksal ver-
webt, und als jener Hohepunkt des Dramas stieg, wo Tellheim zum
Fraulein von Barnhelm mit einem Ton — o solchem Ton! sagt:
Tellheim : Meine Ehre !
Fraulein: Die Ehre eines Mannes wie Sie —
Tellheim: Nein,mein Fraulein. Sie werden von alien Dingen recht
gut urteilen konnen, nur hieruber nicht. Die Ehre ist nicht nur die
Stimme des Gewissens, nicht das Zeugnis weniger Rechtschaffenen.
Fraulein : Nein, n e i n , ich w e i i? wohl. Die Ehre
ist — die Ehre !
Da schossen Bodo im Hintergrund der Loge Tranen in Stromen a us
den Augen und er wufste, es war alles vorbei, und er konne mit diesen
Amerikanern nichts gemein haben, die kein kleinstes Ehrgefuhl, ge-
schweige das eines Legationsratesim Auswartigen Amt,Feudaladeligen,
Pase walker Kiirassiers und vor allem eines schierenPreuisen verstanden*
Am n ache ten Morgen der Auftritt mit Fairfax war lapidar.
Markig legte Bodo den Tathestand hin und orgelte nichts als das
Wortchen „Ehre'\ Doch als Fairfax nicht begriff und Daisy herein-
bat, stand denkmalhaft Schley n-^Veyn-Reitzenstein im Kiirassier-
koller, Faust am Pallasch, die andere Hand beschworend erhoben
und sagte : „Meine Ehre ! Deutschlands Ehre vor allem I"
Daisy, ohne sonderlich beruhrt zu scheinen, klirrte mit noch
metallischerer Stimme, wahrend sie ein sutfduftendes Schnupftuch
gegen die Tiir schwenkte! „go out quickly!"
(SekluU folfft.)
694
AUS DEM TAGEBUCH
KASTNER : BUSONIS C OMMEDI A
DELl/ARTE
Derselbe Mann, der die gotiscnen
Schauer eines Johann Sebastian. Bach aui
cine pianistische Formel gebracht, der der
Musik des Thuringer Riesen neue Farben
gegeben und darait alien spateren Gene-
rationen die Mbglichkeit, BacK zeitlos zu
empfinden, zu spielen — der Schopfer der
„Fantasiecontrapunktistica*\ des pathetisch-
feierlichen Concerto und zaklreicber tief-
ernster Werke : er bat Jdieaen „Arlec-
cbino" gepragt! Dieses kostlich fesche,
moussierend rhythmisch „theatralische
Capriccio." Spietfertum, Ehe, deren Treue
des Lasters Anfang, Ende der Liebe, — ■
Soldateska. die Form des numerierten
Menschen, der sicb aelbst aufgibt! all dieae
Normalitaten, Schranken, Feaseln sind dem
Freien, dem nietzacheschen Tanxer verhaift.
Er verfiihrt, Sobn Bergamos, des dante-
liebenden Schneiderleins Matteo Weibcbcn,
inszeniert eine Maskerade einfallender
,,Barbaren", — spietft einen arientchmach~
tenden Ritter, nut dem seine eigene Colom-
bina ihn betrugt, auf aein Holzschwert.
Chaos, — Tbeatermond ziebt aui, —
der trunkene Abbate und Dottore schwanken
uber den Scheintoten — neugierige Burger
verschwindem vom Fenster, so wie Hilfe
man von ihnen fordert („Es ist ein selt-
samer Hang in den Menschen, ihre wahre
Giite zu verbergen . . .", — rettend er-
scbeint ein Asinus, uber dessen Menschen
beachamendes Haupt sicb ein Quartett
wolbt, das wundersame Herzstuck voa
Busonis Partitur.
Eine gottlich leichte Partitur! In ihr
ist, erstmals in diesen Zeitlauften wieder,
als ob es keinen Wagner, Strautf, Scbreker
je gegeben, kristallene Klarheit, ist schwe-
bende Grazilitat. 1st Transparenz tou
Mozart, Skepsis, Spott, heinesche Ironie von
Busoni. Flitzende Trompeten-Heiterheit,
pointillierte Arabesken, — wundervolle
Parodie des Rampenstiels^Donizetti wird
beschworen, Rossini erneuert, uberall aber
lugt Busoni selber hervor. Wie hat dies
alles letzte Form, wie weise ist es instru-
mentiert. Welch ein Geist hat in diese
alte Primitivitat das barmoniscbe Gesetz,
nein, die Bewegung der Neuzeit gcfugt !
Es geht also docb ohne Wagner-Pathos,
ohne teutonischen Schwertritt. Das konnte
freilich nur die romanische Fakultat in der
Universitas dieses seltsamen, kostbarea
Menschen Busoni zuwegc bringen. Alles
klingt, vibriert, spruht vor Laune, Spiri-
tualist.
Grower Ehrenabend fur Schilling's Staats-
oper. — Wurde von Leo Blech zu solch
federnder Leichtigkeit studiert, daJ? mai
nicht mehr gewabr wird, welch eine
Arbeit dahinter. Die Hansa eine entxuckenje
Colombina, Miithel sprach und tanzerte
launig-leicht den Arlecchiao, Zador und
Stock vraren mit Geist und Witx Abbate
und Dottore, Henke ein parodi»tucker
Tenorritter — — die Spielleitumg Horth •
hatte richtigstes Tempo, echten Komodien-
geist, mitschopferisch auch das Szenenbild.
695
Vorher ging, aus Busonis bekannter
Suite gewonnen, . die von Gozzi aus ge-
schaffene „Turandot**. Hier paart sich
Bern grotesken Humor, der Travestie schon
vielfach Busonische Fantastik, gipfelnd in
der Ratselmusik, ihre schonsten Musik-
einfalle — nur die grob an der Ohrober-
flache — in Turandots , Gemach und bei
der inneren Wandlung der aus jung-
fraulicher Angst grausamen Prinzessin, dann
in der Miindung zum gliickseligen Fu(?-
sftftzen-Rhytmus der chinesischen Secle ....
Auch da entscheide^ das Tanzerische. —
Von der Staatsoper so verschwenderisch,
wie stilvoll reicb ausgestattct, weckte auch
Turandot, durch die Artot cxotisch schon
verkorpert, Jubel. Nach dem beschlietfen-
den Arleccbino feierte man Busoni, den
Unseren, mit Enthusiasmus und Liebe.
Busonis Muaikkomodien werden sicherlich
ihren Platz in der Gescbicbte der Gattung
crbalten. Heute sind sie abcr lebensvollste
Existenz — mogen sie keimend auf unsere
Jungen wirken.
FLORENZ (Eine Entlarvung)
Von Franz Dorneeiff,
Immer wieder babe icK gedacht: ,,Nein,
es ist nicht moglich, es iet zu irrsinnig, es
giebt noch einen Gott, der latft sowas nicht
xu. Aber leider bat mich^meine Forschung
cines Schlimmcren belehrt. Scbon gleicb
am ersten Tag schopfte icb Verdacht. Vor
der Loggia dei lanzi sagte icb mfr : das ist
ja die nachgemachte Fcldherrnhalle" und
vor dem Palazzo Pitri, „sieh an, die Resi-
dent aus Muncben,'* vor Or San Michele,
„aha, Warenhaus Wertheim, Faesad* Leip-
zigcr Platz.'" Dann konnte icb beim besten
"Willen keine Italiener fin den, sondern blol?
Englasderinnen, die in eigens fur sic hin-
geatellte picture-galleries liefen. Icb ging
nicht Ihnen, sondern meinemVerdachtc nach
und kann heute mit voller Sicherhcit fol-
gendes sagen (weinen mochte man):
Die alte Kunststadt, die Kunststadt,
Florenz, die angeblicbe Zentrale] der
Renaissance, ist nocb keine 50 Jahre alt,
also gar nicht ecbt, sondern eine englisch-
amerikanische Falschung. Sie
verdankt ibr Dasein einem Preisausscnreiben
mebrerer amerikanischer magazins, Harpers
Weekly, Munsey u. a. betreffend die
creation of the. worlds finest artistic filace
in Italy. Die Bekanntmacbung wurde seiner
Zeit alien Abonnenten im geschlossenen
Briefumschlag ins Haus geschickt. Die
natiirliche Wortkargheit der Angelsacbsen
bat die strengste Geheinihaltung bis heute
ermoglicht. Den Preis und Bauauftrag er-
hielten ecblicfilich einige Londoner Limiteds.
Man munkelt von der Army und Navy Co.
und den Royal Purveyors of Orange
Ttfarmelade. Durch die Bevorzugung der
englischen Unternehmer erfuhr die Ricbtung
des Places eine wichtige Verschiebusg. Die
amerikanischen Bewerber, Redakteure von
New Yorker Lady journals, hatten in aller-
dingsungewohnlicbcr/r/W/tyvorgeschlagen,
durch die Pariser Filiale der American Ex-
press Co. eine §lace x rather french, ein
hohemian town zur Erholung der Yankees
von ubertriebenem Ladys realm at home
anlegen zu lassen, wurden aber bald von
den Abonnentinnen belebrt, datf zu einer
artistic f>lace notwendig \fiowers, traditions
und old things gehoren und dal? das nur
englische Firmen leisten konnten.
Die Londoner Limiteds begaben sich also
dran. Der Name /Vowers-Stadt stand fur
schdnheitsdurstendc Englander sofort fest.
Eine vcrscbamte Einsenderin schlug sogar
Elisabeths Italian garden vor. Die end-
gultige Benennung Florence lieferte die
sachsiscbe Hauptstadt Elbflorenz, die auch
durch ihre Lage an einem Fluff vorbildlich
war. Obne weiteres stand ferner fest*
dafi in der neuen flace eine cathedral stehen
mufite: sie wurde moglichst scheckig aus-
gefuhrt und in listiger Anpassung an die
Landessprache il duomo genannt. Aus
Munch en nabm man „die Feldhcrrahalle"
696
iieruber, stimrate aber dieae bocbtrabende
bajuvariscb-renommistiscbe Bezeicbnung auf
Loggia dei Laczi herab. Ebenso die Rendenz,
deren florentiniscbe Nacbbildung nacb der
Tocbter des einen Managers Kitty j>alace
gctauft wurde, was im Lauf der Zeit durcb
Femassimilation zu Pitti\£a)ace geworden
ist. Das batte schon vor zw« Jabren ein
bekannter Spracbwissenscbaftler geseben,
aber die wissenscbaftlicben Konsequenzen
zu zieben sicb gescbeut. Aus ibrera eigenen
Land macbten die Englander zunacbst ein-
mai die Oxforder Radch'ff camera na:b
und atellten sic als Baptisterium fur etwa
ungetaufte jBesucber neben die cathedral,
Aber uber die castles ware belnabe die
ganze Sacbe in die Briicbe gegangen. Die
Englander [wollten absolut casths bereitt
baben, Palazzi in Rustica-Sttl. So gut es
in Warwick und Heidelberg castles gebe,
milsse es auch in Florence castles geben, wo-
raoglicb balbzerstorte wie dort. Die
amerikaniscben Auftraggeber bielten zwar
diese expensive things fiir reicblicb nixo-
omraus, lietfen sicb aber umstimmen durcb
den Hinweis auf den deutscben Militaris-
niua, vor dem man uberall gescbutzt sein
musse.
' Um die notwendigen galleries zu ftillea,
wurden einige Raff aels, Micbelangelos u, s. w,
aus dea Bestanden der Vorfabren Pierpont
Morgans zur Verfiigung gestellt. Die Ecbt-
beit ist nicbt bei alien viber jeden Zweifel
erbaben. Aber das Tollste kommt nocb.:
etlicte betriebsame Mitglieder der Prae-
raffaelitic Society entwarfen mit Hilfe von
nacbgelassenen Pbotograpbien von Mrs.
Morris und Mrs. Rossetti eine Masse
Bildnisse pbtbisiscber Girls und scbrieben
darunter pbantastiscbe Namen wie Bottic-
und Signorelli, was horn A. D. I 450
u. dgl. mehr.
In jede Stadt gebort eine Fauna. Die
Versucbe, Italiener dazu zu bringen. in
Florence Bevolkerung zu spieien, scblugen
febl. Dagegen batte ein leiser Wink m
vder Seufzerspalte des Daily Telegrapb eine
Masseneinfubr von Angeln und Sacbsen
zur Folge. Besonders die britiscbeo
Sacbsen erinnern sicb fa immer wieder mit
Webmut, datf sie 449 n. Cbr. als die
einzigen Germanen in der Volkerwande-
rung nicbt nacb Idablcben gedrungen sind
(sondern nacb England), und sucben diese
Versaumnis wett zu raacben. Tbos Cook
and Son spedierte Menscben und Gepack
umsonst unter der Bedingung, daff in
Florence bios italieniscb gesprocben werden
soil. Wie letcbt aber das Florence f>eo£h
dies Verbot iibertritt und feste cockneyt,
ist allbekannt. Wenn sie in ibre galleries
geben, sagen sie : andiamo far l'lngleae.
Es tut mir leid, da(7 icb so viele Keb-
gewordene Reiseerinnerungen storen muff.
Aber die Wabrbeit uber alles ! Mo gen
die in Grund und Boden blamierten Histo-
riker und Kunstgescbicbter sicb datnit ab-
fin den, wie sie wollen. Es erinnert sick
autfer den Lebenden kein Mensch daran,
„Florenz , ' k geseben zu baben. Dafl mam
sicb in Deutscbland wie in Frankreich bo
bereinlegen lassen konnte, ist nur erklar-
licb durcb ein politiscbes Bestreben, daa
seit Algeciras die Presse bier wie dort be-
berrscbt : die offentlicbe Meinung Italiend
nicbt verletzen.
DIE APFELSINE
Aus zwei Moskaner Bricfeo.
15. April 1921.
,, — — — Und nocb eine Nacbricbt,
welcbe Sie traurig stimmen wird, alter
Freund : Die Scbauspielerin Muratowa von
Kunstlertbeater Stanislawsky's ist scbwer
krank. Seit einem Monat bungert sie, —
<3>ce/rrt£>ct^£ct
derbeste %&.ljnarii
697
bei standig er hotter Temperatur, weil ibr
Magen dieses entsetzliche Brot und den
Roggenbrci, von dem wir una nun scbon
uber 1 Jabr ausschliei?lich nahren, nicbt
mebr vertragt. Sie bat Fieberphantasien,
die me die Umwelt garnicbt mebr erkennen
lassen und in welcben sie immer wieder nur
▼on einem einzigen A^unsche spricbt : Von
einer Apfclsine. — Der Arzt sagte mir
gestcrn, es eei dies eine derartige Sehnsucht
da£ er nicbt fiir ausgcschlossen bielte, die
Muratowa wieder gesund zu machen, wenn
ibr dieser Wunscb erfullt werden konnte.
Lie£e sich das nicbt irgendwie arrangieren,
lieber Freund ? "Ware es Ibnen nicbt mog-
lich, durcb eine der Sowjet- Delegation en
wenigstens eine einzige Apfelsine bierber
zu schicken ?
Erinnern Sie sicb und andere gute Leute
an die unverge£licben Abende, welobe wir
der Muratowa verdanken. Denken Sie an
inre Charlotte Iwanowna in Tschecbows
^Kirschgartcn", an ibre Mutter in „Onkel
>Vanja** — und daran, was diese Frau
jetzt unter den furchtbarsten Umstanden
leidet. Versucben Sie mit alien Mitteln,
die Ibnen zur Verfiigung stehen, dieser
grofien Kiinstlerin wenigstens ibren letzten
Wunscb zur erfiillen, denn bier ist keine
Apfelsine aufzutreiben, trotzdem -wir be-
reit waren, Unsummen dafur zu bezahlen."
2 W ocben spate r.
« -" - — — — Die Muratowa ist in-
zwiscben gestorben. Wiedei ist Rutland
urn einen wertvollen Menschen armer. Kann
man das einen naturlichen Tod nennen ?
Und ibre heitferschnte Apfelsine hat sie docb
micbt bckommen.
Fur uns aber ist dieses Wort „Apfel-
eine", ein ungehcures Symbol geworden
und Sie wiirden staunen, wie oft wir dieses
Wort jetzt in unserem Kreise boren. Es
ist uns ein Symbol fur Aljee, dessen wir
bcraubt worden sind, i&r AHes, was es bei
Innen dort drautfen giebt, fur Alles, wo-
698
ran wir scbon selbst die Erinnerung ver—
loren haben, dessen Duft, Schonheit, Frci-
beit und Seele wir nur nocb im Traume
erleben. „Apf elsine" ist fur uns ein warroee-
Ziminer ebenso -wie ein sattes Kind, eine
funktionierende Wasserleitung, wie ein
neues Bucb. ,, Apfelsine" ist uns ein paar
ganze Stiefel und cine Reise, eine sorglose
Stunde und eine Meinungsfreiheit, und vor
Allem, vor All em, trcuer Freund, ist „ Apf el-
sine** die heitfe, uns zu Tranen erschutternde
Sebnsucbt, wiedereinmal mit der ganzen
Welt verbunden zu sein und von Menschen
ebenbiirtig betracbtet zu werden.
Die Muratowa ist tot, wir standen um
ibren Sarg und in ernes jeden Kopf zitterte.
der Gedanke: Wer wird der nachste sein ?
Und : Giebt es fur uns nocb eine Apfel*-
sine; — — — — —
Ubcreetzt von Sergei Techalnin.
TAGORE-WOCHE
Im Darmstadt gibt es eine Schule der
Weisbeit. Ibr Lebrer und Leiter ist
Hermann Graf Keyserling, ibr Protektor
ist der abgesetate Grotfherzog Ernst Lud-
wig, ibre Schiller sind — nun Leute, die
rascb einen Kursus der Efleucbtung bei
einem eben vielgenannten Pbilosopben mit-
macben wollen, Es sind mebr Grafen ale:.
Arbeiter, mebr woblbabende als arme
Leute unter den Scbulern der Weisheit.
Man darf annebmen, datf die Darmstadter
Scbule eine betrachtliche Anzabl sebr
weise gewordener Hofbeamter a. D., hochst
einsicbtiger Kommerzienratsgattinnen und
sogar eine Anzabl weisheitsbeflitfcner
Offmere zeitigen wird. Ibren Abscbluff
soil die Darmstadter Geisterneuerung am
Juni erbaltcn. Da trifft nam lie b Rabin-
dranath Tagore beim Groffherzog Ernst
Ludwig ein und dann wird es in Darm-
stadt erst bocb .hergehen. Bei der Weifl-
heitstagung, die in der letzten Maiwocbe
stattfand, eoll Graf Keyserling — icb
folge den korrekten Bericbten der Darm-
stadter Zeitung — folgendes gesagt baben?
„,Es soil Allen, die den Wunech baben,
mit dem Dicbter und Weiscn in persbn-
liche Beziebung zu tret en, dazu Gelegen-
beit gegeben werden". Armer Rabin-
dranatb ! Da seine ^A^erke in bundert-
tausend Biicbern zirkulieren, wird es nicht
wenige geben. die mit dem Inder in Fiib-
lung — die Offiziere, bevor sie AA^eis-
neitsschuler wurden, nannten es ' Tucb-
fublung — treten wollen. Eg wird kein
kleines Gedrange rings urn den Inder
berrecben ! ,,In vertrauter Zwiespracbe
oder in kleinem Kreis in den atillen
Raumen der Scbule der Weisheit oder in
den scbbnen Garten dee Grotfberiogs von
Hessen.*' Graf Keyserling wiinscbte, dafi
,,Taueende nacb Darmstadt berbeistremen
mbgen." Dann wird eine erklecklicbe
Anzabl von vertraulichen Zwiespracben
und kleinen Kreisen in der Scbule der
^Afeiebeit arrangiert werden miissen. Der
Andrang wird enorm sein. Keyserling
empfieblt dub alb, sicb recbtzeitig Zimmer
2U sicbern und empfieblt die Gastbofe zur
Traube, den Darmstadter Hof, das Babn-
bofsbotel, die Gastbofe zur Post, Kobler,
Prinz Karl, Vereinbaus, und zur Not
Frankfurter Quartiere, Rabindranatb
Tagore -wird auch Vortrage balten und,
rwar in engliscber Spracbe. Aber da-
durcb s«ll ei cb Niemand abscbre ken
lassen. Das Oberbaupt der Weisbeits-
schule erklarte am Ende: ,.Es ist nicbt
■otig, datf man Tagores Spracbe verstebt,
aucb nicbt engliscb ! Dem Reiz seiner
Peraonlichkeit wird sicb Keiner entzieben
konnen: Die vertraulicben Zwiespracben
-werden sicb also, im Notfall, auf die
Spracbe der Augen und Hande bescbran-
ken und in dem kleinen Kreise -wird
man sicb, wenn man nicbt engliscb kann,
mit weicben Gesten verstandigen. Kein
Zweifel, zu solcben Unterbaltungen wer-
den sicb junge und alter e Darner der
besten Kreise sofort melden, es wird
Zimmerbestellungen in der Traube und
Post regnen. Andere, weniger erleucbtete
Naturen, werden sicb mit Ansicbtskarten
begnugen, die seinen woblgelockten Cbrisrus-
kopf zeigen. Die Scbiiler der Weisbeit
werden dem Inder lauscben und inn be-
geistert beklatscben, aucb wenn ibnen nur
sein Mienenspiel verstandlicb sein wird.
Der wabrbaft Weise ist eben geniigsam.
AUSLANDER (5STERREICHER)
Der junge Kapellmeister von Szell
batte im Hessiscben Landestbeater wirken
sollen- Hinter Herrn Generalmusikdirek-
tor Balling. Die Orcbestermitglieder
straubten sicb gegen Szell, der kein
Wagnerianer ist. Balling lebnte ibn au»
einem Gegensatz der Nationen und Ge-
sinnungen ab. Aber Szell batte bei seinem
Gastdirigieren Erfolg und soil sein Amt
als zweiter Kapellmeister antreten. Da
verfassen die Orcbestermitglieder eine
Eingabe an die Intendanx oder an das
Ministerium, in der sie sicb weigern, un-
ter ,, einem Auslander (Osterreicber)" zu
spielen.
Dies bat sicb im Frubjakr 1921 er-
eignet. Wahrend a 1 1 e Parteien Deutscn-
lands bei unzabligen Gelegenbeiten die
Idee des Zusammenscblules Osterreicbs an
Deutscbland immer wieder klar und laut
bekraftigt baben.
SCAjA
IVAKlfiTEBllrWEI
699
Ed eind sehr deutsch gesinnte Leute,
die diese kurzaichtige Formcl ., Auslander
(Osterreicher)" anzuwenden wagten.
^Afann je hitte ein Italiener einen
Triestiner fiir einen Auslander erklart?
Uns Deutschen konntc das W^lrfbliro
vor einigen Wochen durch alle Zei-
tungen die Nachricht tiber mitt ein, ein
Deutscher aus Warnsdorf in Bohmen,
hart an der tschechiachen Grenze, set ein
„Angehoriger des tschechoslovakischen
Volkes". Da kann man nur sagen, natio-
Bale Geographic: ganz ungeniigend. Drol-
lig iibrigena, daff das Wolffbiiro, welches
dieae Nachricht in die Welt sandte, selbst
von einem ,,Auslander Osterreicher)"' ge-
leitet wird.
Der Darmetadter Streich iat doppelt
besch amend, weil es sich um einen Musi-
ker handelt. Wenn die guten Orcbester
Deutschlands alle Musiker entlietfen, die
aua dem Auslande Oaterreichs stammen,
dann wiirden mancbe Geigen weniger
klingen. Und von Rechtswegen miitften
dann auch die Meiater unaufgefiihrt blei-
ben, die aua dem Ausland Osterreich
stammen: Von Haydn, Mozart und Schu-
bert bia zu Anton Bruckner. Hugo Wolf
und Gurtav Mabler. Lauter osterreich-
iache Auslander.
BILDE, KONSTLER!
In der Festschrift zur Jahrhundertfeier
des Scbauspielhausea schreibt Leopold Jetfner,
der Intend ant, ein feierliches Vorwort. Der
erate Abaatz lautet:
Der Schinkelbau iat das Werk
mutiger Uberzeugung — mutig und
iiberzeugt, wie die Arbeit, die in ihm
geleistet werden soil.
Der Iutendant der ersten Staatsbiihne
sollte in einem ' besseren -Vcrhaltnis zur
deutfichen Sprache stehen. W^er ist da
mutig und uberzeugt? wiirde jeder Lehrer
in der Grammatikstunde fragen. Dock
kein Anderer als der Schinkelbau.
Der zweite Absatz, gra ramatikaliach
leidlich, ist in einem noch schlechteren
Deutsch geachrieben :
Und wie dieser Bau in der Ar-
chitektur seiner ungebrochenen Linien
von der Realitat alltaglicher Stein-
werke zu der Idee schauspielerischer
Weibestatte aufstrebt, so soil unser
Wirken iiber die Darstellung hinaua
Verkiindigung menscblicher Idee sein.
Ein Theatermensch, besonders wenn er
als Spielleiter ein grofies Talent ist, darf,
wenn er zur Feder greift, Plattheiten von
sich geben. Besser iat's, wenn er dafur
einen Dramaturgen bestellt. der dergleichett
Manifeste redigiert — mutig und uberzeugt.
bOcher
Johannes Buchholtz: Egholra
Gott. Gyldendalscher Verlag. 1920.
Der Weg dieses Egholra geht zwiscbea
beiden Satzen : Ich tue meine Pflicht gegen
Gott, — da mochte ich doch sehen, ob er
sich um die seinige heruradrucken kann'"'
und ,,Ich finde, daf? wir Gott nicht nur
ein grotfea Brandopfer dargebracht habcn,
aondern dafi wir auch — gewisaerma(?en —
gliihende Kohlen auf sein Haupt gesammelt
haben 1 ". Was dazwischen liegt ist ein
Elend, Diese Photographen aind ein merk-
wiirdiger Menschenschlag. Erinnerung aa
den Windbeutel. Nichtatuer und Floten-
blaser Hjalmar Ekdal liegt einem immer
in einer Gehirnwindung. Vielleicht dafl
die Dunkelkammer mit dem roten Licht
doch auf manche Ganglinien wirkt 7 Von
Anfang bia zum Ende : Hunger, Not,
Schreie, Weinen, Frisren. trockene Gaumen,
zerschlagene Glieder. Aber Egholm ist
immer getrdstet: Durch die Bibcl, Gott,
durch die Jtfhannesbriider, von semen
Traumen, seinen ErKadungen (wenn erst
700
die Turbine fertig iet, bin icb Millionar).
Um ihn zu Hause : Grauen, Elend, Schmutz.
Drauflen : Die Reichen, die gottlos sind, die
Glucklichen. EgKolm iet rettungslos in seinen
religiosen Erfinderwabn verstrickt. Einmal
ist das Zimroer bis iura Februar ungebeizt.
Als die Kalte in den Wanden kracbt, zer~
backt Egbolm die Kiicbenbretter seiner Frau.
(Das nurnebenbei). Seine Idee ist die Turbine,
▼orwartsund ruck warts lauft. Seine Idee die
ist vielleicht Gott in der Mascbine. NacK
einem kindischen Versuch verbrennt er das
Scbiff, Egbolm ist wieder zufrieden. —
Das Bucb uberrascht nicbt im Text. Es 1st
nordiscb klar und eelbstverstandlich ge-
schrieben. Bucbboltz macbt keine Umwege.
Aber es erscbiittert durcb die Zeichnung.
Eine brennende Mitte, ein Zentrum ent-
stebt, auf das alle anderen Personen radikal
zulaufen : Egholm. Das Mitleid, das Ibsen
nicbt kannte, weht um den armen Erfinder
und Pbotograpben. Das macbt da9 Bucb
menscblicb. B.
Iwan G o 1 1 : Die Cbapliniade.
Eine Kinodicbtung. Rudolf KammererVer-
3ag Drssden. Was von Cbaplin uber das
gro(?e Wasser gekommen ist, verlauft in
dem Sandbaufen der Politik und den Salz-
seen der kommunistiscb-reaktionarenKinde-
reien. Das ist ewig ecbade. Chaplin ist
der bestbezaKlte Filmkomiker, die enortnste
Gro^e Amerikas, Cbaplin roaseiert das
Baucbfell nun derttau send dek ant enter Mil-
liardarssbhne und ebcnsolcher Tochter, alter
Jungfern, abgearbeiteter Manner, stier-
nackiger Negerboxer und trubsinniger Selbst-
mordkandidaten durcb Figur, Geste, Ge-
sicbt, Ebegescbicbten. Er bringt alle zu
einem erscbiitternden Lachen. Amerika
versinkt, wenn Cbaplin an der Flimmer-
wand biip ft, fur einige Stun den von Frisko
bis New York in brullende Vergessem-
beit.
Cbaplin grinst — Amerika grinst.
Dada bat ibm als geisrigsten Clown
der Welt reklamiert.
Das Bucb ist ein W^itz, eine Satire*
eine eminent ernste Angelegenbeit : ^Venn
Pallenberg zum tausendsten Mai die Sacbe
znit Lola binter sicb bat, zerkn alien boffent-
licb alle Kritikerfedern vor Scbmerz.
(Tbielscber bat leiderjC barleys Tante scbon
zum tausendsten Male auf die Bretter ge-
zerrt.) Das will besagen : das Grin sen
Cbaplins, das Gesichterscbneiden, die ewigen
Faxen sind zu einem furcbtbaren Leiden
geworden, 2ur Ursacbe einer seelischen
Krankbeit. Das Grinsen, mit dem er
Millionen entziickt, ist binter der Maske
eine namenlose Trauer. Die ganze Welt
lacbt, feixt, scbreit, boxt sicb in dieRippen:
„Docb icb bin traurig wie jeder Prophet*,
(sagt Cbaplin).
Die [furcbtbare Tragik des Grinsen-
mtissens taumelt auf der weitfen Wand.
Dicbtung? Aus den Flimmerbildern beult
das Elend der Ekel vor dem eigenen Ge-
sicbt. Goll kam dem Kurbclkasten mit
Etbik.
Pallenberg ! Pallenberg ! P.
M e 1 c bi o r Vis cb er: Sekunde
durcb Hirn. Verlag der Silbergaule
1921. Man nimmt dasWerk mit Zweifel in
die Hand, aber nacb den ersten Seiten wird
man gepackt, bei den nachsten mitgerissen, der
Wirbel, dasHetzen und dieHetz erweisen sich
allem Urspriinglichen Mitftrauen gegenuber
als ecbt, es ist nicbt der ublicbe Reicbtum
an klownartigen Ausdeutungen sentimen-
taler und ironiscber Beziebungen, wie sie
sonst das W'eeen des Dadaismus aus-
macben, sondern wabre Kraft, eine Full©
von Erscbeinungen, ein Querscbnitt nicbt
allem durcb ein Hirn, sondern aucb durcb
eine grotfe Welt. Hier ist Obermut, in
des V/ortes ecbteeter Bedeutung, die alten
Kontinente. Zeiten, Volker, Menscbcn und
Sagen, Marcben und Witze jagen durcb-
einander, Webmut scbimmert im Ver-
weeungslicnt, uber allem aber ist eine, das
unerlcrnbare: Jugend. In jeder Zeile
701
dieser aufcrordentlicben Arbeit iat das
mubelosc Gnadengeschenk: Dicbtung. Bine
Sekunde durcbs Hirn, cine Traumsekunde
durcb das Hirn einea rasend abstiirzenden
Menscben, die Verwandlungen der Venus,
die tausend Gesicbte dea Erdgeistes, Kopfe
und ibr Gegenteil im Tausendkilometer-
tempo erlebt. angesaugt von einem uber-
macbtigen Drang nacb Dasein, weggebaucbt
als Traum und "Wabnbild. einfacb und
verzerrt, glaubig und teufliscb, das ist der
Mut, der mit dem Scbleier der Maja
spielt. Dada ist eine Form, seibst Dada
.ist eine Form fiir einen Dicbter.
E. W.
ANEKDOTEN
DER ZUH&RER
In einem aestbetiscben Gespracb sagt^eine
Dame empbatiscb: ,,Acb, wenn man das
konnte, iiber der A^elt — wie ein Aar
eebweben !"
Der Partner fragt: „Wie mbebten Sie
weben?"
LETZTE WORTE
Grafin X wird in der Fremde, in
einem Hotel, von einer scblimmen Krank-
beit ttberfallen. Gegen Morgen wird der
Zustand kritiscb. Der Arzt klingclt dem
Kellner, dal? er einen Eisbeutel berein-
bringe. Die Crafin aus einer Obnmacbt
erwacbend, den befrackten Menscben er-
blickend. mit giitigem Verstandnis zum
Arzt: ,,Scbrecklicb, daff ein Menscb scboa
vor 8 Ubr morgens im Frack hcrum-
laufcn mul?.'"' Dann war ate im Jenseitd.
INHALT DES LETZTEN HEFTES
(Nr. 21):
Leo Mattbias: Museen in Sowjet-Rutfland
Hermann Stebr : Rat des Greises
Karl Fr. Nowak: Kronrat wegen Brest-
Litowgk
"Waltber Federn : ^^iener wirtscbaftlicbefl
Tagebucb
Stefan Groffmann : Reise durebs v geniei?ende
Berlin
Carl Sternbeim: Fairfax
Rudolf Kastner: Mabler-Auferstebung
Aus dem Tagebucb.
Redaktion des „Tage-Bucb" : Berlin W 35, Potadamer Straffe 123 b, Tel.: Lutzow 4931 .
Verantwortlicb fiir den redaktionellen Teil : Stefan Groffmann, Cbarlottenburg. Verlag :
Ernst Rowoblt Verlag, BerlinW 35. Potsdamer Stratfe 123b. Druck: R. Abendrotb, Riesa.
Diesem Heft liegt ein Prospekt des Gyldendalscben Verlags, Berlin, bei.
£ t f dr e
(Sari 3Rompe
Die futjrettbc 2H a r f e
702
RICHARD BLUNCK:
Per Impuls des Expressionismus
Dies Buck holt die letzten Triebkrafte dea Expreasioniamus herauf.
Seine iiberzeugende Kraft und die eindringlicke Geiatigkeit macken ea
zu der glanzendaten Widerlegung aller Perflpektiven Hauaensteins,
Worringera u. a. vom Ende dea Expressionismua! Ein unbeugaamer
Idealismus sprickt sick in dem Werkchen aus, ein Menacklickkeitsempfinden,
daa stark an Ludwig Rubiner errinnert,
Ladenpreia M. 10.50 — Vorzugsexemplare auf Biitten, signiert M. 33. —
Verlag von Adolf Harms, Hamburg
Vorratig in alien Buckkandlungen.
KARL FR. NOWAK
Der vveg
zur Kat astro phe
16.-25. Aufiage / Gen. 10.— M„ gebunden 12.- M.
Dem Buch voraus geht ein Geleitwort von
Feldmarschall Conrad von Hotzendorf
Die Prease iiber dia Buck :
„Was Nowak an Tataacken gibt, iat achlecktbin erschutternd/*
FRANKFURTER ZEITUNG.
„Fiir weitaua die meisten Leaer wird dieaea Buck eine Offenbarung be-
deuten." J-^DIE ZEIT, Wien.
,,Wer iramer die Gesckickte dieaer letzten Jakre lernen will, muf? dieaea
Buck lesen." NEUE ZORICHER ZTG.
„Eine im lapidaren Stil wucktig aufgebaute, ackarf kritiscke Darstellnng
der vielen Stadien der Welttragodie." BRESLAUER ZEITUNG .
ffT M itwrwiiiiii i ii i iii i iiii i ii in iii i iiwwwiiili i iliili H wtwii' l Ti t ini m w m ii'niiiiw un t Mi iiii m iil mi
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BUCH- UND VERLAGS - DRUCK/EREI
R. ABEND&OTH, RIESA / ELBE
WERKDRUCK / KUNSTDRUCK /ZEITSCHRIFTEN
Dafl Tage-Buch / Heft 23 Jabrg. 2 / Berlin, 11. Juni 1921
thomas wehriin . ANSCHLUSS - FALLEN ?
I.
Die Salzburger Abstimmung ist verlaufen wie die Tiroler: Alle
Hande La ben sicb fur die Heimkebr ins deutscbe Mutterland erboben.
Das Resultat wird in Steiermark das gleicbe sein und scblietfiicb — em
paar Monate fruLer oder spater, das spielt keine Rolle — wird auck
Oberosterreicb und am Ende aucn A^/ien mit ungefabr derselben Einbellig-
keit fleinen Vereinigungswillen bekunden. Der moraliscbe AVert dieser
Abstimmungen ist von der Entente, besonders von der kleinen, au&r-
ordentlick ernont worden. Diese neuen, eben erst aui Grund des Selbst*-
bestimmungsrecbtes gegrvmdeten Staaten steben wie die bungrigen Raub—
tiere urn das verwundete, ausgebungerte, balb verblutete AA/ud und stoUen
furcbterlicbes Gebrull aus, wenn das darniederliegende Osterreick nur
einen leisen Laut, nur eine eebwaebe ^A^illenskundgebung von sicb geben
will. Der sudslaviecbe A^ebrwolf erbebt sogar die Pranken und drobt sie
aul das eben rrei gelassene Karntcn nxederiallen zu lassen und die
tscbecbiscbe Wildkatze, gestern erst dem K. K. Kafig entsprungen,
funkelt mit allerlei Ultimata drobend rack W^en, von der unganscben
Hyane gar nicbt zu reden, die den Racben nacb dem Burgenland macbtig
aufreitft. Dies alles bat die Salzburger so wenig wie die Tiroler gc~
scbreckt. Vergebens reiete der Bundeskanzler — Bundesabkanzler nennen
inn die AA^iener — nacb Innsbruck und Salzburg. Soeben wurde em
Telegramm, em allzuplump gefalscbtes Telegramm des neuen Reicke-
kanzlers in A^ien veroffentlicbt, aber Aie Entbullung der frecben Fal-
scbung wird die AA^iener erst recbt in Abstimmungslust versetzen.
Es mull bier, lm T.-B.. ein T^ort uber die Notwendigkeit des
Anscblusses gesagt werden. Wcnn der Krieg lrgendeinen Sinn gebabt
bat, so war es der, dab er die Konstituierung der Staaten nacb natio-
nalen Gemeinscbaften besiegelt bat. Das ist der Sinn der sudslawiscben
Embeit, das 1st die Berecntigung Polens, das ist die Ursache der tscbecb-
lscben Erbebung gewesen, das bat Triest und Trient zu It alien zu-
gebracbt, das bat die neue Grenze nacb Danemark gescbaffen, desbalb
ware die recbtzeitige Aufgabe Lotbnngens nn Sommer 19 1 7 eine staats—
manniscbe Tat gewesen. Nacb diesem Gesetze muJ? Osterreicb zu
Deutscbland kommen. Unweigerlick Ist to das Grundsatzlicbe unbe-
zwciielbar, so wird man ganz freimutig uber die Taktik sprecben durfen.
705
II.
Wir Deutscnen mussen uns daraui einstellen, aaU die Anscnlu£-
propaganda mcht von neute aur morgen oeendet sein wird. Erne gluck-
licne Konstellation, die von der nationalistiscnen Besessenheit der Fran-
zosen herbeigeiunrt werden konnte, kann vielleicnt schon in zwei, drei
Jahren eine Situation scnarien, in der das Wort SelDstDestimmungsreclit
aurgenort nat, ein klagliches V okaoel zu sein. Docn werden die An—
scnlui/rreunde gut tun, miutrauiscfa gegen aie Entwicklung zu sein und nut
einem viel langeren Xercmn zu rechnen. Diese Janre des Harrens werden
ausgenutzt werden mussen, denn dem Deutscnen Tenlt die Zamgkeit des
nationalen Elans. ^A^ir werden gut tun, die Gesckicnte der italieniscnen
und iranzosiscnen Irndenta zu studieren. Vv ir werden die Liebe zum
Detail naben mussen, die JTlingabe an die jMosaikaroeit, die V oroereitung
des Anscnlusses lm Innern. Es werden Recntsangleicnungen und Wirt—
schaftskontakte unzerreilTbarer Art gescnarren werden mussen. Verbindungs-
wege in der okonomiscnen wie in der wissenscnaitlicnen und kunstlenscnen
Welt. Es wird eine Veremneitlichung der Gewerkscnaitsbewegung wie
der Indu&tneverbande angebannt werden mussen, es wird em em Austausch
der Xalente, vor all em emer dauernden Verbruderung der Jugenden vor-
gearbeitet werden mussen. Der Anscnluligedanke, der lm Osterreicniacn—
Deutscnen v olksbund eine weitraumige Orgamsation gerund en nat, wird
in alien Stndten, in alien Landscnarten eine ieste Heroerge baben mussen. Ea
wird eine senr zahe, senr nucnterne, senr ins Detail genende, vielraltige
V orbereitungsarbeit aui Jahre mnaus geleistet werden mussen. Vor allem
'word eine naturlicne Scnlafmutzigkeit, zu welcner der Deutsche in natio-
nalen Dingen neigt, immer wieder vertneben werden mussen, rreuicn audi
eine gewisse home Runmredigkeit, die nur den Argwohn der anderen
\Velt wacnruft, onne rrucbtbar zu wirken. Diese Grotfmauligkeit 1st
ubngens meistens die rvenrseite der Scnlafmutzigkeit. Nein, der Anscnlufi-
gedanke darr nicnt zum Dekorationsstuck von Sedanreiern werden, einmal
lm Janr aus der Rumpelkammer hervorgebolt. Vielmenr ist eine stille,
ideenreicae, ins Wirtscnarts- und xvulturleben eingreiiende, emsige Arbeit
no tig. Die Propaganda wird, je nachdetn, senr laut sein mussen oder ganz
leise. Wir werden, wenn nur das Blut durch den ganzen deutscnen
V olksorganismus zirkuliert, aucn lernen: In beikeln Stunden zu scnweigen.
Die Bewegung wird ebenso kubn wie scnlau sein mussen. Wir werden
ein Faktor sein mussen, den jede Regierung zu beacbten baben wircU
aber -wir werden wissen, dai? die Notwendigkeiten der Regierung eine*
besiegten V olkes jeweilig, notgedrungen, andere sein mussen als die des V olkes.
706
Wir werden gelegentkck den Ministern unangenekm sein mussen. Aber
es ist anzunekmen. dal? es Icemen deutscken Reickskanzler, keinen Aulsen—
minister menr geken wird. der , mcnt lm Innersten zu uns Ja sagt. Aber
wir werden uns und er ward sick uberlegen, ob es klug ist, sein lnnerstes
nervorzukolen.
III.
Im Prinzip ist zu sagen : Deutscke, stellt Euck den Ansckluf? nickt
allzu kequem vor. Die idylliscke Situation, in der Deutsckland dera
Volkerkund angekoren und Osterreick kei lkm ganz ergekenst urn die Zu«-
lassigkeit der Vereinigung ansucken und das Ansucken kewilligt wird,
diese opferlose, idylKscke Art der gesckicktKcken Erfullung wird nickt
kommen.
Die Anscklutfbewegung wird um ikre keroiscke Jugendepocke nicht
kerumkommen. Das wird, furckte ick, fruker festzustellen sein, als die
Idylliker aknen. Wenn wirkKck Svidslawien die Krallen nack Karnten
ausstreckt, wenn dem gequalten Osterreick zur Strafe fur eine rein
tkeoretiscke Akstimmung Kreditsckwierigkeiten gemackt wurden, dann
sckafft die Entente in Osterreick eine Stimmung der Verzweiflung, die,
da die naturlicken Wege der Willensoffenkarung veratopft sind, zu
Exploaionen fukren mu£ So wird, auf der Basis von Unterernakrung
and Hoffnungslosigkeit, in Osterreick ein Nationalkolsckewismus gezucktet,
der seine Friedrick Adler zeitigen konnte. Das ist traurig. Jeder von
uns wird diese Tragodie zu verkindern trackten. Aker es sckernt, dau
die Franzosen, die Sudslawen, die Tsckecken aur dieser Entwicklung
erkarmungslos, erkarmungslos auc k gegen ikre eigenen Rcprasentanten,
kesteken wollen.
Alle vorkereitende Detailarkeit fur den Ansckluf? wird nutzlos
ecuu wenn nickt ernes Tages der Staatsmann in Deutsckland erstekt,
aer den lAfillen zur Tat, den Mut zum Risiko kat. >A/ir waren
vielleickt sckon geeint, wenn in der sogenannten Revolution 1918 — 1919
dieaer sckopfenscke Staatsmann gelekt katte. Die Turen zur National-'
versammlung in \Veimar katten von Anfang fur die osterreickiscken
Akgeordneten weit geof f net, ikr Einmarsck in die erste Sitzung feierlick
vollzogen werden mussen. ^Vir kaben, tkeoretiscke Deutscke, im
Winter 1918/19 mekr resolutioniert, als revolutioniert.
IV.
Aber die Stunde wird von uns Deutscken zu waklen sein. Der
Adler und die Scklange, Tapferkeit und List, werden in unserem
707
Wappen sein. Wir mussen axe Kunst lernen, uberrasckend au*zuweicken
und iiberrasckend da zu sein.
Im Augenklick, dies sage ick als Einzelner und ale meine person-
licke Meinung, wird es vielleickt no tig sein, sick in der sckwiengm
Kunst dec Ausweickens zu uben. Die Volksakstimmungen* kerz-
erquickend, wie sie sind, werden vielleickt unter brock en werden mussen.
Vielleickt wird es opportun son, die Kligkckkeit der nnanziellen und.
wirtsckartkcken vorscklage der commission dee reparations auswirken
zu lassen und den Franzosen keinen Vorwano zu geben, em Reno—
vierungswerk abzubrecken, das sie zu einem kalkwegs befnedigenden-
Resultat garment fukren konnen. Nock steken Tsckecken, Sudslawen*
It alien er mobilisiert an den Grenzen. Nock kaken sick die Ver-
dauungsstorungen mckt ganz gezeigt, die durck dad Verscklucken der
Slowakei, durck den Gegensatz von Kroaten, Slovenen zu Serb en, durck
das Auffressen von Sudtirol entsteken mussen. Die Anscbluubewegung
darr mckt zur Anscklulttalle werden. Die V olksabstimmungen, so wokl
sie alien Deutscken tun, konnen, wenn es sein muJ?, getrost aufge—
sckoben werden. Die Gesckickte wird dennock tkren >*Veg gen en.
Das kaken wir, denke ick, seit 1914 gelernt.
stefan grossmann WALTHER RATHENAU
Nun ist er Exzellenz.
Er war bisker mckt wenig: Prasident der A. E. G., Aursicktsrat
unzakliger Gesellsckaiten, Mitgked und Zentrum der Soziaksierungs—
koxnmission, der gelesenste sozialpsyckologiscke .Sckriftsteller der letzten
Jakre, Freund Gerkart Hauptmanns, Hermann Stekrs, ScklofZkerr auf
Freienwalde, der entzuckenden Residenz der Konigin Lmse, Freund und
Forderer vieler Kunstler, vor allem ein Arbeiter im (Stadt)-Garten des
Xlerrn. Um das alles zu sein und auck gesellsckaitkck zu gel ten, mwste
Ratkenau ungekeuer fleiffig sein. Er mutfte Geselligkeit und Einsamkeit
genau dosieren, er durtte mckt Neigungen leken, die seine Tagesordnung
z ernes eru Junggeselle, der er ist, kat er in seinem personkeken Leben
— ick will mckt sagen: lmmcr, denn dad ware zu traung — aker #o—
weit es Fremde keokackten konnen, Planwirtsckaft ketrieben. Der
Tag muf?te exakt eingeteilt sein. Um dieac Stunde Sitzung, um diese
Stunde Empfange, um dieee Stunde Betriebsbesicktigung, um so viel Ukr
708
Kommissionskeratung, punktlickes Frulutuck, punktlicke Muse, punktlicke
Hauptmaklzeit, ratiomerte Geselligkeit, ja, man mockte oei eincm s»
frucktkaren Autor annebmen: Punktlicke Inspiration. I mm er tin ist aa~
zunekmen, dai? der ausgefullte Tag Ratkenaus cine Luftlucke entkielt,
«in Ventil fur das Unvorgesekene, ein bificben Spiel in diesem ratio-
nale iert en Dasein. In all dem gerausckvollen Leben sckien mir Ratkenau
stets den Eindruck eines ganz einsamen Menscken zu macken, der, wenn
*r aus den Arbeits- und Gesckaftskezirken sick zuruckziekt, in emer
xiemlick kuklen, sturmlosen, manckmal ein wenig unkeimlicken Isolie rungs-
Zone zuruckbleibt. Es gibt wenige Menscken in Berlin, die von der
Legende und. von Klatack so versckont geklieken sind wie Ratkenau.
ICeine amoureuse Affaire, die offentlick geworden ware, gesckweige denn
eine Tollkeit, uber welcke die Stadt mifkilk'gend — killigend den Kopf
geackiittelt katte. Immer ration alisierte Wirtsckaft, immer geordnetes*
pi an voiles Leken.
Kann rair denken, daf? Ratkenau lack ein wird, wenn er dies liest.
Denn wenn uber all Plan wirtsckaft denkbar ist, auf dem Gekiet der Seele
kerrscht ireies Spiel der Krarte. Hier versagt, glucklickerweise, die
Organisation, in der lekendigen Seele wird immer Unerwartetes una
TJnkereckenkares produziert. Niemand weilt daruker kesser Besckeid au
Ratkenau, der Kunstlerseelen kenackkart ist. Niemand ist, mitten in der
t a dell o a funktiomerenden Zentrale des elektriscken Industrialismus uber-
zeugter gewesen, dau der Betneb, die Organisation, die Grotfstadtfassade
der Seele bitteren Sckaden zufugt als er. Keiner kat mit starkeren
Argumenten der „Meckanisierung* des Lekens entgegenzuwirken gesuckt.
In der unvergetfKcken Totenrede, die er seinem Vater gekalten kat, rukmt
er als erste und starkste Tugend des Verstorbenen: „Er katte die Kraft,
nur das Einfacke zu kegreifen . . . Welcke Frage an ikn kerantrat, er
fatfte sie mckt leickt, er walzte sie mit sick, er trug sie auf sein Lager,
er lekte und kampfte nut lkr, und langsam wick das Verworrene, das
Vielfaltige, und Vielspaltige, und es trat kervor die Einfackkeit, die nickt
in den Dingen lag, sondern in dem reinen Geist, der sie ketracktete,
und dann stand die Losung da, unerwartet, wie von der Natur geboren*
wie von einem Gott gesprocben, selbstverstandlick und dock vorker nickt
gefunden. Denn alles Eckte ist einfack und kindk'ckem Geist erscklossen.*"
Diese Rede, die Ratkenau am Tage der Beisetzung des Vaters gekalten
hat, stekt mckt zurallig als erste Arkeit in der funfkandigen Ausgake seiner
Scknrten. Es ist die starkste und reinste Gedankendicktung, die seinem
Herzen entsprossen ist. Dai? er diese inkaltlick rein gegliederte, astnetisck
709
vorbildbafte Rede am Grabe seines Vaters balten konnte, zeigt RatKenau
alfl den Meister der Form, der er ist, als den Herrn der Rede, uber
axe er wie selten Einer gebietet, vielleicbt aucb ais den Wort-Freudigen,
der 111 keiner Stunde des Let ens vom Scbweigen uberwaltigt wird. Icb
glaube, \Valtner Rat hen au wird, wenn sicb ibm am Tage der Erlosung
die liimmelstore weit ofrnen, im gottbeben Licbt erne BegruJ?ungsrede
von ubenrdiscber Bedeutung an den Ewigen balten, und er wird, da er dann
uber alle Eitelkeiten des Lebens binaus sein wird, nicbt einmal bedauern, daj?
er sie nicbt mebr in den bcbluuband seiner gesammelten Werke stellen kann.
Waltber ist seines Vaters Emil RatLenau Sobn. Gewitf, er wurde
scbon in em gutes Haus geboren. Er war der Erbe seines Vaters, des
rJegrunaers der A. E. G. Wenn es je Ansatze zu einer wabrbaft ver—
antwortlicben Industneanstokratie gegeben, so Legen sie bier vor. Ratbenau
wurde wabrbaftig besser fur sein Amt erzogen und vorbereitet als es ]e
nut prmzlicben Pratendanten gescbab. Seme Erziebung zum Tecbmker
scbeint planvoll: planvoll, dai? er in verscbiedenen Werken des In- und
Auslandes in immer selbstandigeren ^Virkungskreis arbeitet; planvoll seme
Erziebung zur wirtscbamicben International it at, wabrend der Vater docb
nocb an die nationale \Virtscbart gebunden scbien. Diese weitsicbtige
Erziebung gab ibm von Anfang das grol?e Format. Ein gewisses
Grandseigneurtum des Kapitalisraus; das jedocb nie protzig wurde«
Er ist ein deutscber Industnekapitan geworden, d. b. ein gelebrter
Scboprer. Ein klem wenig Dozententum ist er nie losgeworden. J a,
aer nicbt beirrbare Dozententon ist mit den Jabren in ibm immer aus-*
gebildeter geworden. Ein junger Freund, der sein Vertrauen gemeut.
runmte mir einmal ganz begluckt, wieviel man im Gespracb von ibm
babe, Anregungen, Ratscblage, Beobacbtungen. „Wenn er so die recbte
Hand auf meine Knke Scbulter legt" — Ratbenau ist von bohem Wucbs
und legt gern kleineren Leuten die Hand auf die Scbulter — ,.dann
wird meine Scbulter eber mude als mein Kopf."
Die Gabe, das Verwickelte einfacb zu seben, bat er von semem
Vater geerbt. Sein Auge siebt Zukunft.
Er bat den JVneg vorausgeseben, als die meisten Deutscben nocb
bL'nd waren. Er bat 1912 in einem Aufsatz, der unvergessen bleibt,
das fnedengarantierende Rustungsubereinkommen mit England verlangt.
Vergebneb. Er bat im selben Jabr, 1912, die Erstarrung Preu#ens und
die furcbtbaren Folgen seiner Vorberrscbaft mit profetiscben \Vorten
geacbildert: ,,Nicbt von der Arbeiterscbaft droben uns Gefabren, denn
aem beutigen Soziabsmus feblt die Kraft positiver Ideen. Zwei andere
710
a
Angriffskrafte werden die preu&scke Staatsauffassung ersckuttern: Mangel
n iukrenden Ge is tern und ungleicke Verteilung der Lasten: keide
entspringen auck dem einstmals so kewakrten Aristokratismus der Ver-
waltung, Die Zeitlauf e akneln in seltsamer Weise der E p o en e
Friedrick Wilkelm II. Moge es diesmal keiner sckweren
Ersckutlerung kedurfen, um das innere Gleickgewickt
nerkeizurukren.
1913 warnte er wieder: JDas deutscke Volk ist so aussckliefflick
mit seiner Wirtsckaft kesckaftigt, dai? es nickt daran denkt, sick mit
seiner poktiscken Zukunft zu kerassen!
Und nock deutk'cker wurde er in dem Aufsatz: Eumenidenopfer,
Klipp und klar sckriek Ratkenau 1913 in der Wiener .,Neuen Freien
Presse": Wird die Verlangerung der Dienstzeit in Frank-
reick Gesetz, so ist der Krieg kesiegelt und zwar als
ei n AV erkzeug England e, das ikn nickt keute und nickt morgen
Bondern zu dem Zeitpunkt entfesselt, der ikm gefallt. Die doppelte
Spannung, die gefakrKcker als ausgesprocken, zwiscken England und uns
ausgesprockener als gefakrlick zwiscken Frankreick und una kestand,
gewinnt jetzt ikre voile Explosionskraft, versckarft durck Rutland s
Empfindlickkeit, das die Milk'ardensaat im Festungsgurtel langs seiner
Grenzen aufsckietfen siekt. Durck jenes Eumenidenopfer, das uns ver-
kundet wird, nack dem Gesetz kundertjakriger Wiederkekr, wird nickt
e|in Sckicksal gewendet, sondern kesckleunigt.
So klar wie Ratkenau 1913 sak kein Deutscker das Kommende.
Er war auck 1914 unkeirrt (und kalf, die Rokstoffwirtsckaft zu
organisieren). Von 1916 war er durck Ludendorff nickt mekr zu ver-
wirren, nickt mekr einzusckucktern. Der Beredte wurde sckweigsam.
Er kat jetzt lange gesckwankt, eke er zugriff. Entscklotf er sick
zum Ja, dann weii? er A^eg und Ziel.
JOHANN GEORG JACOBI AN DIE DEUTSCHEN
Ein kluges Volk, kekannt mit allem Sckonen,
Lie!?, in At ken, den weisen Sokrates
Auf offentKcker Bukne koknen —
Dock aur von Aristopkanes,
Dem Liekling sckarzender Camonen;
Und als der weise Mann die Bukne selkst kestieg.
Da — neigte sick das Volk, und sckwieg.
711
friedrich M. minck LENIN ODER TROTZKI?
Der Verfas»«r, vor einige* Wocben auj Sowjotruffland xuriick-
gekehrt, wo or in Freiheit und in der Zelle dm ruwiscbe Schicksal
rtudiercn konnte, i*t ala Vorfaoaer cine* gutra Buches uber da*
Rateayrtem in Deutacbland kein Unbekanntcr.
Es war an einem Abend 1m Buturka~Gefangnis der russiscken
Tackeka (Autferordentlicke Kommission zum Kampfe gegen Konter-
revolution). Von den Wanden sckauten reckt unkunstlerisck ausgefukrte
Portrats Karl Liekkneckts und Rosa Luxemburg* sowie der Fiikrer der
russiscken Revolution auf die durck Hunger und Entbekrungen aller Art
gesundkeitkck sckwer mitgenommenen Insassen des sogenannten „Kom mu-
ms tie cken K. or rid or kmab, die zusammengekommen warco, urn einen
Vortrag des mit inkaf tier ten russiscken Kommunisten Larin zu koren.
Wir flaxen eng zusammengepferckt auf den als Scklafgelegenkeit dienenden
Holzgcstellen unserer Kammer.
Larin, ein sympatkiscker Mensck, cmer der wenigen ekrlicken
Kommunisten, die ick in Rutland kennen gelernt kabe, war, wie lck
korte, wegen Spekulation emgesperrt. ^A^er apekultert in Rutland nickt!
Wcr nickt verkungern will, muf? spekulieren, d. k. er mull mit den
paar Hakseligkeiten, die er zur Verfugung kat: mit Pelz, Leibwascke,
Stiefel und anderem auf den Bazar geken, sie dort zu verkauien ver-
sucken und dann fur den Erlos emige Lebensmittel erwerben. Wer bei
solcker „ Spekulation" ertappt wird oder wem sie soast nackgewiesen
wird, fallt in die Hande der Aul?erordentlicken. Meiatens sind es die
kleinen Verkrecker, die man rafst oder ea sind solcke Personen, deren
man sick aus irgend welcken politiscken Grunden entledigen will. Auck
in Rutland ist es so, daf? man 1m beaten Fall immer nur diejenigen bc-
kommt, die man kriegen will!
Larin sprack uber die poutiscke Lage, uber die ungekeuren wirt—
sckaitlicken Sckwiengkeiten, uber die Lage in Kronstadt und die Streitig-
keiten zwiecken Lenin und Trotzki. Er kedauerte die ernste politiscke
Differenz zwiscken den keiden beaeutendsten Fukrern der russiscken Re-
volution, kedauerte, dai? sick lkre Meinungsversckiedenkeit in der Gewerk-
sckaftsirage zu einer solcken Sckarie entwickelt kabe, und icsbesondere,
dal? der Streit nickt nur in die russiscke, sondern auck in die Inter-
nationale Offentlickkeit gedrungen seu Larin sprack lenimstisck und
daker sehr kritisck. Er konnte, da er sckon in den Han den der 1 sckeka
war und unserer Versammlung selkstverstandkck Spitzel in ausreickender
Menge beiwoknten, nickt ganz frei sprecken. Das Spitzel wesen ist elne
712
der traurigstenErscbeinungen der russiscbenRevolution.Einer meiner Leidens-
geiabrten klassifizierte die Bevolkerung Rufilands nacli zwei groftn
Gruppen: Gruppe 1 sole tie. die bespitzeln, provozieren, „tscnekisten una.
das Proletariat ausbeuten, Gruppe 2 solcbe, welcbe bespitzelt, provoziert,
tscbekietet und ausgebeutet werden. Gruppe 2 teilte mem Freund wieder
in drei Abteilungen ein : a) solcbe, die . gesessen baben, b) -solcbe, die
sitzen, c) solcbe, die sitzen werden. Ee bedari keiner Erwabnung, daf?
eine solcbe Klassifizierung, unter starkem subjektiven Emflui? ausgesprocben,
kein absolut ricbtiges objektives Bild geben kann, denn ea gibt ganz
zweifellos aucb Gruppen, allerdings kleine Gruppen, die mebt in den
Rabmen solcber Klassifizierung bineinpaseen, — im groKen und ganzen
aber cbarakterisiert diese Trotzki-Atmospbare den Trotzki-Geist Sowjet-
rutflands ricbtig. Das muis icb, der icb selbst abwecbeelnd zu Gruppe 2c
und 2b gebort babe, bestatigen. Das deckt sicb aucb vollstandig nut
dem, was Trotzki in seiner Streitscbrift gegen Kautsky sagt: Solange die
aui den tiefsten Antagonismen berubende Klasseneinstellung der Geflsll-
scbaft bestebt, bleiben die Repressalien das notwendige Mittel zur Unter-
werfung des ^^illens der gegnenscben Seite.
Es ist, so nabe es mancbem liegt, unzweckmaJUig, diesen Geist des
Terrors mit moraliscber Entrustung abzulebnen. Jeder, der so ranatiscb
ist, wie die Trotzki-Ricbtung, wird im Terror a 11 em das Heil seben und
ibn anwenden, aucb wenn er kein Anbanger Trotzkis ist. Viel zweck-
mafiger ist ee, die Wirkung des Terrors zu betracbten und dann zu be—
nrteilen, wie weit man mit seiner Anwendung kommt. Zweifellos ist der
Terror unter Umstanden sebr nutzlicb. besonders dann, wenn er von
qualifizierten Personen mit Genie und nicbt mit Wabnsinn angewendet
wird. Aber scbon bei seiner Anwendung in unserem Strafgericbts—
verfabren (Todesstrafe, Zucbtbaus) seben wir, dai? Terror nicbt die ab-
scbreckende AA^irkung zeitigt, die er zeitigen sollte. Man kann mit Terror
im besten Falle eine Verminderung des Nicbtgewunscbten erzielen, man
kann vielleicbt eine Ricbtung, eine Klasse unterdrucken, nieinals aber eine
individuelle Leistung erzwingen oder einen ^A^illen ertoten. Wenn
Trotzki sagt: Der Terror des Zarismus war gegen das Proletariat ge-
ricbtet. Unsere Au#erordentlicben Kommissionen erscbietfen die Guts*-
berren, Kapitabsten, Generale, die die kapitaKstiscbe Ordnung wieder_
berzustellen bestrebt sind, — so sollte Trotzki docb aucb bedenken, dai?
trotz des zaristiscben Terrors die sozialistiscbe Revolution gesiegt bat
und dai? also bewiesen ist, dai? der Terror kein sieggarantierendes Mittel
ist. Ist er es aber nicbt, so ist es amnios, dai? die russiscben Kommu-
713
msten, die nack Xrotzkis Ansickt die anerkannten V ertreter der Ar-
keiterklasse sind, den Xerror derartig an we ad etu, dab er dem Proletariat
die Mogkckkeit ernes wirtsckartlicken Auikaues nimmt und sie miolge—
dessen in das unsagkeke intend kineinstoflt.
Eine Ursacke des Elends ist die — Organisation. Die Expropriation
der Expropriateure kedingt nack Xrotzki^s Rezept durckgef ukrt : Bureau-
kratisierung, Sckematisierung, Ertotung der Arkeitsfreudigkeit der EinzeL-
person und iniolgcde*sen Minderung der Arkeits-Produktivitat und Ver-
fall. Ick sage damit nickts gegen die Idee der Expropriation a a sick,
aker eine Form der Expropriation, die die wirtsckaftlicke Lage des Pro-
letariats nickt nur vorukergekend, sondern dauernd verscklecktert, ist ja
fur das Proletariat selkst sinnlos. Die Zustande in Sowjet-Rutfland ke-
weisen, dal? eine Expropriation, die eine kureaukratisierte Organisation
kedingt, ein unendkek sckwerer wirtsckaitlicker Fekler ist. Man orga—
nisiert. Man entwirrt wun der voile Zeicknungen, sauker und farken—
pracktig ausgerukrt, auf denen die Organisation dargestellt ist. Dr. Alrons
Goldsckmidt kat in seinem interessanten und lesenswerten Bucke uker
die Wirtsckafts organisation Sowjetr uplands einige solcker Zeicknungen der
Mitwelt zuganglick gemackt. Solcke Organisationszeicknungen werden
dem fleitfigen Forsc.ker kei den Besucken der russiscken WirtsckaTts-
kekorden in Massen vorgelegt Auf mick kaken sie nickt die von den
Vorzeigern erkoffte AA^irkung ausuken konnen, da ick sckon vorker die
Praxis der russiscken Organisation zu grundkek kennen gelernt katte.
Auck ick kewundere den Fled? der russiscken Kommumsten, ikre ideale,
kingekungsvolle Denkarkeit und ikren zum Xeil sekr ernsten Willen —
aker nickt ikre Organisation. Ick kann sie nickt kewundern, da sie
nickt klappt und da es — ick mu(? eg offen aussprecken — dem russiscken
Proletariat nie so sckleckt ergangen ist, wie jetzt. Der Industriearkeiter
kungert und der Bauer kat keine Industrieprodukte. So siekt es in
Rutland tatsacklick aus und so mul? es ausseken, da der Organisator
Xrotzki und seine Freunde ein verunglucktes Experiment gemackt kaken.
Sie expropriierten, indem sie nationalisierten, Dureaukratisierten, zentra-
lisierten, dann wieder etwas dezentralisierten und die landwirtsckaitlicken
Produkte zwangsmatfig erfassen wollten. Sie preliten die Bezuge der
Einzelnen in Normen, okne die mdividuellen A^funscke zu kerucksick-
sicktigen. Ikre Organisation ertotete iis Grundlagen der Sekatfensrreudig-
keit der Einzelperson. Der Komtnunismus ist aker dann erst eine denk-
kare Lekensform, wenn er die Zusammenfassung des Sckatfens aller zu
einer lekensvollen Arkeitsgemeinsckaft, wenn er die Harmome der
714
'Vielkeit kedeutet. Allerdings ist er dann kein Trotzki-Kommu-
caismus!
Man versuckte die Produkte durck Organisation zu erfassen. Der
Versuck ist mitfgluckt. Die Arbeiterklasse wolltc uker Jen Produktions-
-prozei? verfugen. Stattdessen verfiigten Diktatoren uber den Produktions-
prozei? und uter die Arkeiterklasse ! Man wollte eine Planwirtsckaft
•durckfiikren, man kam aber nur zu einer bureau kratisiert en Wirtsckaft
mit sinkender Produktion und unausfukrkaren Planen, unausfukrbar dea~
wegen, weil immer die Voraussetzungen feklen.
Die Fackleute, die der Sowjetregierung zur Seite steken oder die
winter der Diktatur des Proletariats sick kemuken, sick redlick kemuken,
-diese Voraussetzungen zu sckaffen, sind lkrer Zakl nack viel zu germg.
Die Kontrolle der Partei kekindert sie. Die „Au(?erordentkcke" „uber-
wackt" sie in einer nur zu oft die freie Bewegung der Fackleute „ganz-
lick stillegende^ Weise." Man sprickt von lknen veracktkek als von den
„.Spez." Und dakei kann das russiscke Proletariat ebenso wenig, wie
irgend ein anderes Proletariat okne die freie Wirkungsmoglickkeit, okne
<die personlick interessierte Wirksamkeit der Spezialisten die Voraus-
setzungen fur sein wirtsckaftlickes Woklergeken sckaffen. Das aber ist
<dock letzten Endes der Sinn einer proletariscken Revolution. Der rus-
siscke Kommunist lebt der Revolution urn der Revolution willen.
Die Autoritat der Partei stekt Trotzki an erster Stelle. Nack
seinem AAMlen mu^ diese Autoritat unwidersprocben und ikre Disziplin
tadellos sein. Er verlangt Kadavergekorsam, und diesen nickt nur vom
IClassengegner, dem Burjui, wie man in Rutland sagt, sondern auck vom
nickt kommumstisck gesinnten Arbeiter und Bauern. Trotzki bait es
iur ricktig, erforderlickenfalls den „zuruckgebKebenen Teil der Arbeiter-
klasse" zu zwmgen, sick nack der Spitze zu rickten. Das gilt auck fur
<die Gewerksckaften, Trotzki will alles ertrotzen, erzwingen. Trotzki
will alles militarisieren und ins Matflose uniformieren. Das ist sein Rezept.
Ikm gegenuker stekt Lenin. Auck er ein eckter Bolscbewist, ein
eckter Marxist. Auck er ekenso sckuldig wie Trotzki an der Ver-
gangenkeit, an dem Elend des russiscken Proletariats. Das keweisen seine
Taten und Reden aus frukerer Zeit. Sogar im Dezemker 1920 sagte
er nock: ^Vir durfen nickt auf Zwangsma&iakmen verzickten, wir kalten
4ir Diktatur des Proletariats (d. k. die Diktatur des Zentralko mites der
ruasiscken kommunistiscken Partei und der Aul?erordentlicken uker das
Proletariat, vgl. Trotzki: Terrorismus und Kommunismus, Anti-Kautsky
Seite 88) aufreckt. Die Diktatur des Proletariats sckrickt nickt einmal
715
vor einer sckarfen, entscblossenen, rucksicktslosen Auswirkung staatkcken
Zwanges zuruck.*
lA'orin unterscheiaet er sick nun von Trotzki? Weskalk ist er
mckt nur die iloirnung vieler Kommunisten, sondern auck vieler Partei-'
leser? ^Vesnalt erfreut er sick so relativ grotfer Bekektkeit auck kea,
den sonst dem Kommumsmus durckaus akleknend gegenukerstekendext
Bauern? Ist es das mstinktive Erkennen, dai? in Rutland eine starke
• Hand da sein mu£ die regiert, dau Rutland einen Diktator
krauckt, aker einen Diktator, der zugleick auck em Mensck ist? Ein-
Mensck, der aus semen Feklern lernt, der seme Fekler eingestekt, der
urn des Wokles des Proletariats willen lieker vom Dogma akweickt ale
dai? er dem Proletariat weitere Entkekrungen zumutet.
Lenin ist ein ernster, denkender Mensck. Er erkennt, dal? immer
und immer wieder die wirtsckaftlicken Aufgaken als die wicktigsten unA
grundlegendsten sind. ,Je tiefsckurfender die Umkildung ist, die wir
vbrzunekmen keaksicktigen, umsomekr mxxQ man das Interesse und dae
Verstandnis fur sie wecken, immer neue und neue Millionen und Dutzende
Millionen Mensck en von ikrer Notwendigkeit ukerzeugen. Lenin tritt
fur restlose Heranziekung aller Gewerksckaftsmitgkeder zur Neu—
organisierung der Grundlagen der ^Virtsckaftspolttik Rufilands ein". Er
erkennt, dais Rutland «n, Land der kleinen Bauern und unter dieses
Urns t and en der Ukergang zum Kommunumus ungleick sckwieriger ale
unter lrgend welcken anderen V erkaltmssen ist. Er tritt dem parteiloserj
Bauern verstandnisvoll gegenuker, „weil er die Mwee ist und weil da*,
was zu tun ist, nur dadurck gesckeken kann, da£ m dieser an sick
aktiven, selkstandigen Masse die Ukerzeugung verkreitet wird, dai? die
Bauernwirtsckaft mckt mekr wie fruker ketrieken werden kann. Er
spnckt es of fen aus, dais der Bauer kein Sozialist ist, und dock tritt
er dafur ein, dal? alle Parteimittel, ParteimogKckkeiten und Krafte aus—
genutzt werden, in erster Lime den parteilosen Bauern zu stutzen. Die
alten Mitt el konnen nickts k el fen, sagt er weiter, es genugt mckt, da£
Dekrete zur Annakme gelangenf, Bekorden gegrundet. Papier e in Umlauf
gesetzt und Befekle in die Welt gesandt werden, sondern dai? eine kessere
Bestellung der Felder im Frukjakr, erne gewisse Besserung in der
kauerlicken Klein wir tsckaft, auck wenn sie nock so elementar sein sollte,
erzielt werden. Jedenfalls md? daa als Massenersckeinung erreickt werden..
„Okne einen solcken Sieg, okne eine praktiscke Hekung der Masse der
Kleinkauermwirtsckaften gikt es fur uns keine Rettung". „Okne diese Basis
sind kein wirtsckaftlicker Aufkau, keine gro&n Plane, ist nickts moglick.^
716
Lenin siekt was ist, Er erkennt die Fekler. die auck er gemackt
dat una die mm memand zum Vorwurl macken kann. aenn der Versucn,
■sine grofje Idee, und sei es auck mckt die tnarxistiscke. erstmalig zu
verwirklicken. ist lmtner eine gigantiscke Aufgabe. Als Verstandes-
inensck stellt er sick seinen eigenen frukeren Maunakmen gegenuber
Lritisck ein. Das erniedrigt ikn nickt sondern latft sem geistiges Ukergewickt
asm Gewaltmenscken Trotzki gegenuber nur urn so klarer kervortreten.
So kam Lenin zu seinen Vorscklagen. die dem bolsckewistiscken
a. k. dem marxistiscken Ideal absolut entgegengesetzt sind.
Die deutscke Industrie kann kein Interesse daran htben, Lenins
JBestrebungen entgegenzu wirken, wenn er weiter die Ricntung beibebaite"'
diS er eingescklagen kat. Fur das deutscke Proletariat aber ist der Sieg
-der Lenin'scken Ricktung in Rutland eine Frage von allerkockster
Bedeutung fur seine eigensten Interessen. Gekngt es Lenin nickt, Sowiet-
rulZland aus seinem Elena! wieder kerauszufukren, so liegt die Gerakr
nake. daf? es einem ckaotiscken Zustand entgegengekt. In diesem Faile
sci?t aber zugleick auck das Interesse Deutscklands ukerkaupt getrorten.
Dal? Deutscklands Anleknung an em Leninsckes Rutland eker moglick
iflt. als wenn Rutland einer monarckistiscken Reaktion oder volligen
Zerfall seiner staatkeken Selbstandigkeit entgegengekt, liegt auf der Hand,
Oie fioffnung auf ein parlamentansck-demokratisckes RulTLand kalte lck
bei der ganzen Psyeke des russiscken Volkes fur unbegrundet.
Die Emstellung zur Frage Lenin oder Trotzki kann also nickt
zweifelkaft sein. Ist der Sieg Lenin's, die Niederringung des Trotzkiscken
X errorismus und Utopismus mit alien semen verderklicken Auswirkungem
fur das kurgerltcke Deutsckland die einzige Garantie fur die Innekaltung
der getroffenen Vertragsabraackungen, so ist er fur das gesamte deutscke
Proletariat, gleickviel weicker Parteincktung es gegenwartig folgt, von
beaonderer Bedeutung. Die Wiederkerstellung SowjetrufHands ist aber
atckt moglick, okne unverzuglicke Lieferung von landwirtsckaftlicken
Cjeraten, Masckinen. 1 ransportmttteln, Cliemikaken und okne Gestellung
aeutscker Fackleute und qualifizierter Arbeiter. Wie aber kann ein
deutscker Fackmann unter den keutigen Verkaltnissen in Rutland arbeiten!
Solange das Trotzki scke System dort nock kerrsckt iund es kerrsckt trotx
Learns Erfolg kei den Sowjetwaklen), so lange kann man kein em deutscken
Teckniker, Wirtscbaftier oder Arbeiter eine erfolgreicke Tatigkeit i*
.Ruuland versprecken.
717
Paul ernst EIN DEUTSCHER CASANOVA
Die Lebensennnerungen Casanovas werden fur absekbare Zeit die-
Men set en lmmcr lebkafter kewegen, denn das, was sie darstellen, wirtS
uns immer mebr feklen: das sorglose, unmittelbare Dakinleben, das Aui~
geken lm AugenbKck und dam it audi Aus^cbopfen dea AugenbKcks,.
Es ist j a dock keute, ale ob cine Arbeitsteilung in der Mensckkeit kin-
slcktlick des Lebens stattfinde: das unmittelbare Leben b!eibt dem Prole-
tariat aufbewakrt und die kokeren Stande sind in steigendem Mai?e axil'
mittelbares, reflectiertes Leben gestellt. Es mul? wokl eine gekeime:
Absickt der obersten Lea tun g der Gescbickte kier vorliegen, denn beide
Kreise werden durcb die Verteilung sckwer gesckadigt und konnei&
ikretwegen lkre Aufgabe in der Gesellsckaft nickt so erfullen, wie sic
mutften. In einer solcken Zeit, wo die kokeren Stande fast nickt mekr
wissen, was KindKckkeit, AugenbKck und Unmittelbarkeit ist, muQ der
kekenswurdige Spitzbube Casanova notwendig als eine Art Erzieker
wirken, mdem er wenigstens ein gennges Gegengewickt gegen die Un-~
natur sckafft, die sonst leickt in bloi?e Gemeinkeit geraten wurde, unj,
in einer solcken Zeit mui? denn auck ein Mann wieder zu Ekren kom-
men, der zwar mit geringerer Begabung aber mit gleicbem Temperament:
gelebt und gesckneben kat: Jokann Conrad Friederick mit seinem BucL
„Vierzig Jakre aus dem Leben eines Toten*\
Das versckollene Buck wurde vom Verlag Georg Muller neu ge~
Jruckt; die beiden ersten Bande sind ersckienen, die Halfte des ^Verkes, unc£
geben bereis ein voiles Bild des ganzen. (Jokann Conrad Friederick
Der Gluckssoldat oder Vierzig und nock funfzekn Jakre aus dem Leber?,
eines Toten. Muncken, Verlag von Georg Muller 1920,)
Wir leben in einer Zeit, in welcker die Gesckickte vernekmli^k>
gekt. Auck Friederick lebte in einer solcken Zeit, er war sogar in
gewissem MaJ?e an den gesckicktKcken Handlungen keteiligt. Soicks
Zeiten sind geneigt, das Menscklicke uber dem Gescbicktlicken zu ver-
gessen. Wenn man aber einen Querscbnitt durck sie macken konntc,
so wurde ein em zum Bewui?tsem kommen, da(? die gesckicktKcke Bewegung
nur nack einer einzigen Ricktung gekt und dai? die Menscken unbeirrt von
ikr lkr mensckKckes Leken fukren, indem sie die gesckicktheben Er-
eitfnisse nur als Stoff fur ikr Leben benutzen. Es wird einem geken,
wie man ein gropes gesckicktlickes Ruinenwerk betracktet, in dessen
Kammern und Salen sick Menscken angesiedelt kaben, die von der
Gesckickte, die kier vor sick ging, nickts aknen. Dai? Friederick mit
seinen menscklicken kleinen Abenteuern gleickzeitig eine kandelnde
718
Person grower gesckicktk'cker Ereignisse ist, das gikt seinen Ennnerungen
fur den nackdcnklicben Beokackter nock emen besonderen Reiz.
Friederick wurde 1789 in Frankfurt am Main als Sokn eines an-
gesekenen Burgers geboren: er erlebte nock das alte reicksstadtiscke
Wesen in bevorzugter Stellung seiner Eltern und zugleick wirkte die
zeitgenossiscke grotfe deutscke Dicktung auf inn ein; zu Goetke katte
er durck die Mutter, welcke dem elterlicken Hause kefreundet war
eine unmittelbare Beziekung. Dem Zug des damaligen Idealismus fol-
gend, wollte er zur Bubne geken, indessen die Eltern ikn fur den
Kaufman ii sstand kestimmt katten; ein Ausgleick der auseinandergekenden
AVunscKe wurde gefunden, indem man inn Knegsdienete nekmen heS
und zwar franzosiscbe.
Als franzosiscner OHizier kat Friedericli den Krieg in Siiditalien
und Spanien mitgemackt, spielte dann in Neapel eme Rolle am Hofe
Murats, kekrte nack Napoleons Sturz nack Frankreick zuruck, trat in
preuft'scke Dienste, die er jedock nacn vier Jakren wieder verKei? und
lekte von 1820 tie 1858 als Journalist und Sckriftsteller in Frankfurt,
Mainz, Koln, Mannkeim, Stuttgart, Paris und Le Havre,
Konigreicke wurden wakrend Friedericks Leken gesturzt, kegrundet,
wieder gesturzt; die tiefsten Veranderungen der gesellsckaftlicken Ver-
fassung gingen vor sick, Gesellsckaftsklassen versckwanden und
bildeten sick; alle W^erte der Menscken wurden umgekekrt, und
telket das Heiligste kliek vor grundlegenden Veranderungen mckt
tcwakrt; dler Gluckasoldat lekte rustig und unkekummert sein Leken:
ein Krieg katte fur ikn die Bedeutung, daf? er eine alte Lieksckaft ak-
dankte oder eine neue ankaknte, und der Umsturz der Gestllscnafts-
klassen veranderte das Bild seiner Kameraden und Vorgesetzten. Viel-
leickt findet man, dal? Friederick nickts ist als irgend ein Krautcken
oder auck Un krautcken, das an einem verfallenden alten Gemauer
wuckert: man kat damit wokl reckt; aker es gesckiekt dock mckt
selten, dai? ein solckes Grun, das an sick gleickgultig ist, einen tiefen
Eindruck auf uns mackt, weil es in Zerfall und Zerstorung unbekum~
mert bleibt — und spatere Zeiten seken ikn dann mit demselben
Erstaunen an, wie wir Friederick ketrackten.
In Zeiten, wo die Sckritte der Gesckickte so sckwer droknen wie
keute, ersckeint uns allee Gesckickte: Erzaklungen, wie die Friedericks
zeigen uns ansckaulick, dal? die Gesckickte immer zugleick auck Storf
fur das Leben der Kleinen ist. Gewil? kaben beide Auffassungen reckt;
' 719
una wer es veretekt, sie in seiner Brust zu vereinigen, der um(al2t &t
grolfte Spannung, w el eke Menscken moglick tat.
Yvelcker Art ist die Spannung? Eines der wunderkarsten Worte
lm neuen Testament war mir immer der Satz von Gott, der seine
Sonne sckeinen laut uker Gereckte und Ungereckte. ^$7\r sind keute
ieickt geneigt, die Religion durck die Bnlle einer etwas sauerLcken
Moral zu ketrackten, vor welcker so ein leicktsinniger Friedenck wenig
Cmade linden wurde. vvir kaken mckt die Spannung der wakren
Rekgion; Gott ist rreiuck auck der Gott der Heersckaren, und Cknstua
nat auck die \A/ecksler aus dem Xempel getrieben, die dock sckliej?-
kck mckts taten, als lkre kurgerkcken Gesckaite zu betreiben. Konnten
wir diesen Gott mit dem anderen vereinigen, der seine Sonne sckeinen
labt, ao katten wir die Spannung, so kitten wir die Moglickkeit zu
einer eckten Religion, die uns in den keutigen ICampren, reckt gut tun
wurde. Nur ein klemer K.unstgrirf des Denkens ware notig: wir
muttten an den Gott, der seine Sonne sckeinen latft, denken bei den
andern und an den Gott, der die Wecksler verjagt, bei uns seloer.
Friedenck ist ein Sckurzenjager, man kann lkn auck ein en prores-
sionellen Verfukrer nennen. Vtelleickt durren wir es mckt allzu sckwer
nenmen, das er als Deutscker rranzosiscke Dienste nakm. Damale
dackte man nock anders uter das Nationale; immerkin, eine Empfek-
lung ist es mckt gerade fur lkn, EinmaL, ein einzigesmal kommt es vor,
dais er sick Gedanken mackt, er musse in seinem Beruf grundlicker
studieren; das ist in Toulon, wo er die Spursn Napoleons verfolgt.
Gewoknkck ergikt er sick offenbar okne jede Gewissensbisse dem ge-
sckartigen Nicktstun des durckscknittlicken Soldaten trots ein«r vor-
kandenen kokeren Begakuag. Man kann ikn gewil? aker niekt als eine
sittlick wertvolle Person kinstellen. Aber in den unzakUgen, oft reckt
verwickelten und sckwiengen Lagen zeigt er sick mckt ein einzigesmal
gemein; und das will viel ketfsen.
Goetke mackt einmal eine reizende Bemerkung iiber den GlI Bias,
durck welcke er die unverwustlicke AA^trkung des Romans erklart ; Sie
lautet etwa so, dai? Gil Bias gerade so weit Spitzbube ist, dai? es einem
nock angenekm ist. Casanova stekt auf einer kokeren Stufe me Gil
Bias, Friedenck auf einer nock kokeren wie Casanova, aber die drei
Manner sind von derselben Rasse.
Sekr merkwurdig ist, dal? die drei Manner versckiedenen Nationen
angekoren; Gil Bias ist zwar erdicktet, aber er ist ganz Fransose, der
andere ist ein ItaLiener umd der Dritte ein Deutscker. Die grofien
720
Urbilder der Mensckkeit aind ubernational, das Gil Bias — Caaanova —
Friederick — Urbild gekort zu iknen. Das iat aekr merkwiirdig!
Gibt es nickt cine Art Erklarung dafur? Der Herausgeker dea
Friederick erklart die Denkwurdigkeiten fur .,Wakrkeit und Dicktung"
aie wirken auck so. Auck Casanova kat Wakrkeit und Dicktung go-
sckrieken: das soil nickt als Vorwurf gesagt sein; ganz naturkck muf?
der Selbsterzakler, keaondera wenn er Lagen beackreibt, wie die Beiden,
auf ein dickterisckea Gestalten kommen, aus Eitelkeit, wenn wir punta-
nisck aein wollen; ricktiger vielleickt aua einem tiefverborgenen Sckon-
kei tssinm Denn sollte man sick nickt denken konnen, daj? daa Urbila
irgendwie als eine Sckauung in der Menackkeit lebt. das sie seknsuckts-
voll an ikm kildet als an dem Urbild der Unscbuld und Heiterkeit des
■unbekummerten jugendlick-sinnlicken Lebens, das ja in der Wirklick-
keit nie moglick ist, weil jedes Gluck, das nickt hlofl rem innerlick ist
irgend ein Leid einer an der en Seele erzeugen muu. Friederick und Casa-
nova kaken ikr Leben genau so gedicbtet, wie Leeage das fesken dea
"Gil Bias gedicktet kat. und ikr lctzter Grund war deraelbe, den Leaage
katte: der Menackkeit ein Traumbild als errullt kinzustellea.
Gottfried Keller kat einmal die Odyssee sekr sckon gedeutet
als die Dicktung des seknsucktigen Traums dea in der Fremden Irren-
<len; er wird die Deutung selkst erlekt kaben. Der erfullte Traum
einea jeden Mannes wokl in jungeren Jakren ist das Leben des Gm
Blaa oder Casanova, und dieaem Umstande verdanken die Bucker lkrea
kaupteacklickaten Reiz. ^^er kat ea nickt empfunden kei Casanova, wie
widerwartig am Ende der Alternde wirkt? Hier kat sick der Dickter zu
sekr an die Wirklickkeit gekalten. Er ist wakr geblieben: waa kann aus
einem Sckurzenjager anderes werden, als em Verapotteter und unglucklicker
Greis? Aber wir wollen nickt ^Wirklickkeit, wenn wir un? durck
anmutige Erzablungen in einen Halbscklummer wiegen lassen. wir wollen
unser Traumland: Casanova batte jung sterben mussen.
Die beiden ersckieaenen Bande von Friederick brecken ab, wie
er mitten in seinem bunten Leben iat: der Leaer ztttert, dal? ikn d»e
Sckluf?bande nickt in daa verdriel?kcke Alter fukren werdea.
721
CARL STERNHEIM FAIRFAX
..Sthlufi)
XL
Fairfax, innerhalb nachster zwolf Stunden, in denen noch nie~
mand den Verfall ahnte, verkaufte die iiberall gekauften Mark-
milliarden und Werte mit einem Vorteil von dreizehn Punkten
und stellte trotz der auf ihn niedergesausten moralischen Schlappe
einen Baargewinn von einigen Milliarden aus der Sache Reitzen-
stein fur sich fest, so dai? sie schlietflich nicht umsonst gewesen
war. Nach dieser Frist aber fiel jahe Stille auf die Fairfax, und
sic blieben achtundvierzig Stunden in Berlin in Eis isoliert. Nur
noch von des Fiirsten Verschwinden horten sie, und dai? der
Reichskanzler bei Anhoren des neuen Tatbestands hell aufgeschluchzt
und in Erschiitterung gewankt, schlietflich aber Bodo mit Trost
und Lob zugestimmt und in Erholungsurlaub entlassen babe.
Am dritten Tag jedoch bracb in Berlin aus beiterem Himmel
ein kommunistiscber Putscb los, der alles andere Interesse scbnell
begrub und jeden nur an seine person licbe Sicberbeit denken lie]?.
Insbesondere war das Regierungsviertel, in dem Fairfax Hotel lag.,
bedroht ; er sal? mit Daisy plotzlich binter berabgelassenen Fenster-
laden gefangen, und aie konnten das einzige europaiscbe PLanomen,
das sie noch nicbt geseben batten, aus nachster Nabe betrachten.
Fairfax, der, alsMascbinengewebrkugeln an das Holz prasselten,
bedenklicb wurde, ricbtete sicb an Daisys Haltung auf, die seit
des Fursten Verschwinden strablenden Blick und irgend ein Per-
sonliches batte und wagte, gierig durcb Rouleau xritzen auf die
Stral?e zu spaben. Allmahlich packte ihn unten das Feuergefecht
so, daf? er sicb selbst vergai? und kaltbliitig Kampfmetboden der
beiden feindlichen Parteien verglicb.
Er tadelte die Kommunisten, die sicb aui?erlich aucb im Kampf
von keinem Spief?burger unterschieden. 'Wie sollten sie, im scblicbten
Arbeitsrock, den im Kugelregen* so notigen beroiscben Nimbus
von Mann zu Mann verbreiten? Diese nacb aui?en zur Scbau ge-
tragene Bediirfnislosigkeit sei nicht nur den Erfolg gefahrdend*
sondern abstol?end. Hier, wie iiberall brauche naturlich gerade der
kommumstische Soldat eine die kriegerisehe Pbantasie beflugelnde
Ausstattung nebst Ehrenzeichen, und hatte er, Fairfax, mit dieser
Branche zu tun, wiirde ihn kein gegenteiliger politischer Standpunkt
abhalten, den mai?gebenden Stellen fur eine solche, sachgemai?e&
722
Offert zu machcn. Abgesehen davon, dafi auch die proletarischen
Waffen minderwertig schienen, da es auf gegnerischer Seitc nach
stundenlangem Geknall noch keinen Toten gab. Ware wahr-
scheinlich der Bethlehem Steel works, die schon vor dem Krieg
mit Deutschland gearbeitet hatten.
Daisy, vorgebeugt den Ereignissen folgend, warf ihm einen
kalten Blick zu, den er an ihr noch nicht kannte, und der ihn
bewog, weitere Anmerkungen zu den Ereignissen fur sich zu behalten.
Als aber allmahlich Bleiben an der den Angriffen am meisten
ausgesetzten Lindenfront nicht langer tunlich schien, Krach, Panik
und Explosionen aus der Hotelhalle bis in die Stockwerke drohnte,
hielt es Fairfax geraten, den von dem an alien Gliedern schlotternden
Hoteldirektor uber die Dacher der Nachbarhauser angewiesenen
Riickzug mit anzutreten, der kopflos mit den Gasten, dem gesamten
Personal und fast von Sinnen ausgefuhrt, im Keller eines
Ministeriums miindete. Hier stellte Fairfax erschiittert, dai? Daisy
sieh nicht mehr bei ihm befand, fest.
Obwohl durch preutfischer Reichswehr Heldenmut der Putsch
am anderen Morgen erstickt war, blieb Daisy verschwunden, und
Fairfax in Zerschmetterung wurde nur durch Alices matflose Zart-
lichkeit undSicherheit aufrechterhalten, das Kind werde bald wieder
zum Vorschein kommen. Dafiir sprach auch der Umstand, dais
trotz erdenklicher Nachforschungen nicht das geringste Zeichen an
den Tag kam, es sei an Daisy ein Verbrechen oder erne Bluttat
verubt. Nur das stellte sich heraus, es war aui?er ihr der Haupt-
radelsfuhrer und Veranlasser des Aufstands, Agent der Sowjet-
regierung, ein gewisser Turtelbaum oder Tirtoieff, wie in einen
Abgrund verschwunden.
Nach bangem Harren, wahrenddessen Fairfax, im tiefsten uber
die problematischen deutschen Eigenschaften enttauscht, durch
Plexin wieder Anschlui? an das eindeutige Frankreich genommen
und der franzosischen Regierung Entschku?, Deutschland gegeniiber
jetzt strikt als unerbittlicher Gerichtsvollzieher aufzutreten, gebilligt
hatte, er hielt er in der Stunde, da er mit Alice von Berlin uber
Paris nach Amerika aufbrach, diese Ansichtskarte Daisys aus
Moskau, die wer weif? wie, zu ihm gelangt war :
„Vaterchen : nach martervoller Langeweile, die nur Du manch~
mal giitig unterbrachst, hat mich Iwan Turtelbaum, in der Ge-
schichte Tirtoieff genannt, der erste Held, den ich sah, mit
723
sturmender Hand im Hotel Bristol genommen und in ein Dasein
scbwarmender Bewegung und bimmliscber Moglicbkeiten bierber
gerettet, wo icb begeistert und von den Matfgebenden berzlicb
empfangen bin. Selbst selig und von all em begliickt. was icb hier
sich vollenden bofife, rufe ich aus tiefstem Wissen urn Eure aus-
gepumpten Kulturen Dir zu: Vive la barbaric mein guter alter
Jimmy! Daisy.**
Mitunterschrieben aber batten autfer Tirtoieff — Tscbitscberin
Lunatscbarski, Gorki und scblietflicb Lenin selbst.
Wabrend aber Alice scbrie: ,Jcb babe Dir immer gesagt, das
Madcben bat keine Manieren und Erziebung. sonst triebe es sicb
nicbt mit solcben Banditen berum'\ sab Fairfax aus fliichtiger
Labmung erwacbt, in dem Umstand, dal? Lunatscbarski und Tscbit-
scberin, die Offiziellen, vor allem aber, dal? Lenin selbst seinen
Namen bingesetzt batte, dessen bedeutungsvollen Wink an ibn !
Und in dem er titaniscb sicb iiber Welt und Cescbebenes
reckte, glomm bocb in ibm der erste Funke fur einen anderen
Plan, vor dessen grausiger Gewalt er selbst erscbrak.
JOACHIM RINGELNATZ FLIE UND ELE
Fuegena entxernten sick die Fliegen.
Dock lieKen sie aur Ei und Kaviar
Zwei, dreu vier Fliegen exkr em en te liegen.
Die al? der Mensck una ward ea nicht gewakr.
Ein Elerant kemerkte dies en Fall
Una rollte einen senweren, golanen Ball
Ntckt obne leises Lackeln durck den Stall,
724
AUS DEM TAGEBUCH
RABINDRANATH TAGORE _
FEIER IN BERLIN
Brief eines Berliner Madchens :
„Icb kenne kein Buch von Rabindra-
nath Tagore, alter ich habe ee immerhin
gelernt, seinen Namen richtig auszusprechen.
Natiirlich nahm ich an der Feier- in der
Universitat zu seinen Ehren teil. ich stand
mit ein paar tausend Anderen, die den
indischen Dichter genau so gut kannten
wie icb, vor dem Portal der Universitat.
Ee war sebr heiiZ, daa Gedrange auiZer-
ordentlich, aber -was tut eine Jung* Ber-
liner Dame nicht fur einen Dichter, von
dem alle Zeitungen voll sind ? Das Warten,
cng ancinander gepretft, dauerte blof? ein-
emhalb Stun den. Neben mir stand ein eehr
netter, grotfer Kerl, der einen ganz an-
genehmen Gerucb hatte. Endlicb wurde
das Portal geoffnet. Unbeschreiblichea Ge-
drange. Meine Cousine wurde ohnmachtig,
die Freundin raeiner Cousine lachte, sodafi
man ea durch zwanzig Reihen norte, meine
Bnrokollegin verier das Maue Seidenb&nd
lhrea Hexndes uber der recbten Schulter.
Aber wir drangen in den Saal, unaere
Sommerkl eider tcussen neu geplattet wer-
den, einige achwachliche Herren waren dem
"W einen nabe. Mein groffer Kavalier batte
micb mit eiaernem Arm festgehalten. Auf
der Treppe horte icb binter mir Hilferufe,
aber wir batten keine Zeit, una umru-
wenden. Leider -war der Saal ecbon be-
aetzt, ala wir oben anlangten. Aber ieb
batte einen Platz nabe an der Tur auf dem
Korridor erobert. W;nn ich mich auf
die Scbultern des Grotfen, rechta, und auf
einen anderen Herrn, links, stutite und
mich in die Hohe schwang, konnte icb
vorne einen grauen Herrn mit grower Brille
sehen, der eine Rede halten wollte, Aber
das war nicht Tagore, cr sab nicht genug
indiech aue und so rief man ibm zu:
,Jialt die Klappe!" Plotzlich gab es einen
Massenruck und Maasenschrei : Die Ver-
sammlung drehte eich um. Der Rektor
von Harnack — das war der Bebrillte —
hatte die Schutzpolizei holen lassen ! Die
ersten Grunen tauchten auf. Meine Cousine
scbrie : „^A^ ird gescbossen ?" Aber daa
war dumra und angstlich und alle lachten.
Plotzlich gewahrten wir einen Mann, der
von der Schutzpolizei eskordiert wurde.
Wir dacbten : 1st es ein Verhafteter ?
Aber es war Rabindranath Tagore, dem
ein feierlicher deutscber Empfang bereitet
werden sollte. Wir waren emport, dai?
der indische Dichter von Polizisten be-
gleitet wurde. Dabei konnte er nicht
einmal die Ansichtskarten unterachreiben,
die wir ibm entgegenstreckten. Es war
taktlos, den Trager des Nobelpreiaea von
ignobeln Scbutzleuten bereintragen zu
lassen und so pfiffen wir aua Leibeskraften.
Die Anderen waren dartiber wutend, Es
war achpner a la bei einer Premiere.
Aber die Griinen — war ein Leutnant an
der Spitzc ? — drangen siegreich vor I
, Rabindranath Tagore konnte aufa Podium,
geboben und geachoben werden. Er soil
auch geredet haben. Aber englisch, ^aa
veratanden wir alle nicht. War wahr-
acbeinlich, nach dem monotonen Tonfall zu
achliefen, auch etwas fade. Daa fanden
die Anderen auch. Wir lietfen den hinter
uns Drangenden unaere Platxe, ea gab ein
Bucherstube am Museum
Hermann Kempf / £)r. Walter Haeder
Moderne
und
klassische
Literatur
Wiesbaden / WilhelmstraBe 6.
725
'Geschicbe und Gewoge, and niemand horte
auf die gar nicht laute Stimme des oil en
Indiers. Aber im Ganzen war es dock ein
ulkiger Abend und icb mochte, wenn es
irgend gent, n achate Woche unbedingt aucb
nach Darmstadt kommen, uro den Rummel
dort mitzumachen — in der Scbule der
Weisheit." _
EIN K. K. DIPLOMAT
Als Professor Ludo Hartmann (un-
notigerweise), sein Amt niederlegte, blieb
«9 monatelang unbesetzt. Unter alien Leuten,
die nacb dem osterreichischen Gesandten-
poeten augten, war der Legationsrat Post
am geschartigsten. Er ist zwar ketn Meister
der Schrift und aucb keiner des Wortes,
aber er gehort zu den alten k. k. Diplo-
maten glattester Fasson und kann sicb je
nacb Bedarf schwarzgelb. schwarzrotgold
oder rotlich f arben. Herr Post bat wieder-
bolt und in sehr deutlicher Form seine
antir epublikaniscbe , habsburgfreundliche,
anschlutfgegneriflche Gesinnung geaufiert.
Aber als Hartmann ging, bat er an ver-
ecbiedenen Stellen sicb als Anschlutffreund
ausgegeben und, seit Karls Hofinungen auf
den Einzug in die Wiener Hofburg ge-
achwunden sind, ist Herr Post aucb nicht
mehr kaisertreu. Immerbin war es gefahr-
lich, den glatten Herrn, dem die Politik
cter Zweideutigkeiten xur zweiten Natur
geworden ist, die Fuhrung der Geschafte
so lange zu uberlassen. Dr. Riedl, der
neue Gesandte, achien sicb von Wien sebr
scnwer zu trennen und er bat, da er in
handelepolitischen Problemen Osterreichs
autoritar ist, aucb nacb seiner Ernennung
seinen Vfirkungakreis in Wien nicht ganz
aufgegeben. Solcbe Spa thing, wenn eie an-
dauerte, wiirde dem Anseben des oster-
reicbiscben Staates und des Gesandten
schaden, sic wiirde dem Stellvertreter des
Gesandten, eben jenem Herrn Post, autfer-
ordentlich viel Macbtmbglichkeiten eln-
raumen und ein in vielen Zimmern des
Ballplatzcs und der Wilhelmstratfe, viel-
leicht sogar bei Herrn Dr. Stockbammer,
beliebter Beamter wiitfte mit dieser Doppel-
rolle des Gesandten gejchickt zu spielen
und zu spinnen.
Da bat nun, knapp ehe Dr. Riedl nacb
Berlin kam, Herr Dr. Post die Freundlich-
keit gebabt, sich unmoglich zu macnen.
Er bat ein Gesprach mit dem Reicbskanzler
Dr. Wirtb verQrfentlichen laaaen, eine
Unterbaltung, in der er dem Reicbskanzler
nabegelegt hat, gegen die Volkaabstimmungen
in Osterreich aufzutreten. Herr Dr. Wirth,
der nicht wul?te, dal? er in Post einen
alten, habsburgfsch gesinnten Anscblufffeind
yor sich hatte, bekannte sich, wie es sicb
von selbst versteht, zum Anschlutfgedanken
und gab nur zu, wie es ibm nabegelegt
wurde, dai? man iiber den Termin der
Volkaabstimmung aus taktiachen Gr linden
verschiedener Memung eein konne. Das
war das Gesprach eines Diplomaten rait
einem Anderen. Selbstverstanlichea Gebot
solcher Unterbaltung : Schweigeh. Herr
Dr. Post aber liel? da fur sorgen, dal? die
Unterredung (naturlich in entstellter Form :
,,Der Reichflkanzler schreibt einen Briel
gegen die Volksabstimmung") in die Zci-
tungen komme. Also: Er provoziert (ver-
traulicb) die Bedenken des Kanzlers und
annonciert (offentlich) die von ibm selbst
hervorgerufene vertrauliche Antwortl
Wenn das nicht schielendes Rankespiel
altester Diplomatenscbule ist, dann soil sicb
Herr Dr. Post das Schulgeld von den
Jesuiten zuriickgeben lassen.
Die Pfiffigkeit war tolpelbaft, wie es
diese Politik der Scblauheiten immer ist,
weil sie sich zu scbnell offenbart. Sic
war tolpelhaft, weil sie den neuen Ge-
sandten Dr. Riedl zu scbnellerem Antritt
in Berlin nbtigen wird und weil anzu-
nebmen ist, daf? ein gradliniger Politiker,
we es Dr. Riedl ist. sich hiiten wird, mit
einem so eben ertappten Hintertreppen-
diplomaten zu solidarisieren.
Gerade im rechten Augenblick war
Herr Dr, Post so treundlich, sich zu er-
726
ledigen. Wenigetens fur Berlin. Auf dem
Ballplatz odcr in Aranjuez, in Karla
.spanischer Residenz, wird man ilm darur
wiilkomnien heiffen.
WILHELM HEIRATET WIEDER
EinHerr FranzGotke,Flensburg,Bioden~
atratfe 3 nimmt aua dem Aufruf der katho-
lischen Geistlichen die Juden betreffend
(Tagebuch Nr. 20) Anlaff, einige Fragen,
zu stellen, die nach eignem Dafurhalten zu
beantworten rair von den Verfasaern jenes
Aufrufesfreigestelltwurde. HerrF. G.fragt :
M Wissen Sie, daS es vor dem Kxtege
cine antisemitiache Bewegung gab ? — Ant-
wort: Icb gehore nicht zu denen, die alles
Gute ab 1918 datieren. In Rumanien.
Polen, Rufiland und Wien hatte man schon
ror Jahrzehnten erkannt, wie gefahrlich
die Juden diesenbetreffenden Kulturvolkero
,,Kennen Sie den unbeilvoilen Einflufi
der Juden wahrend des rCneges?" Abge-
aehen von den vielen deutachnational-ju-
dischen Journalisten, welche auf Befehl
Hetzartikel schrieben, kenne ich die grofferen
Juden Krupp, Stinnes, Thiesaen etc, die,
weil sie so gute Geschafte raachten, mit
dem Krieg nicht aufhoren wollten. und
kenne den alten Juden Ludendorff, der
erst dann erklarte, der Krieg musse auf-
horen, ala er iKn verloren hatte. Fiir
welche patriotische Tat L. noch heute
Achtung und Schutz der deutschen Juden-
schaft genietft.
„Wissen Sie, wer die geirtigen Fiibrer
der jammervollen glorreichen Revolution
i? v * Fur das Jammerliche dicser so-
genannten Revolution sind zunachst die
dentachen Monarchen, bekanntlich tauter
Juden, verantwortlich, einerseits indem sie
im A us I and blieben, andererseits aich da-
hin begaben. Ferner die jiidischen Matrosen
von Kiel. Dann naturlich die Juden Noske,
Ebert usw. Der christliche Streeaemann
hatte die Sache gafiz andcrs angepackt.
„Wiasen Sie. wer nach der Revolution
an den leitenden Stellen saC ?** Zunachst
niemand, denn niemand wollte sich draut—
setzen. Als das die zweite Parkettreihe
merkte, riickte die vor und besetzte die
crate Reihe. Alao sitzen nunmehr in den
leitenden Stellen die altbewahrten judisch-
preutfischen Beamten der wilherainischen
Zeit, zumal in der Wilhclmstratfe, derem
Amtsprache bekanntlich jiideln ist. In
Bayern heitfen diese Saujuden — um mien
landesiiblich auszudriicken — Roth, Pohner
und Kahr,
„Kennen Sie den ganz ungeheuren Ein-
fluff der Juden, auf geistig-kulturellen Ge-
bieten ?" — Schon wie Prof. Einstein ganz
kleln war, hab ich gesagt: der wird noch
einmal der Verderb dea deutschen Volke*
auf kulturellem Gebiet, gegen den die Juden
Herzog, Bloehm, Thoma, Sudermann etc,
nichts sind.
,,Wisaen Sie etwa nicht, da(? Jesu kein
Rassenjude war ?" — Auf Distanz flag ich
Ihnen ins Ohr, datf der von Ihnen genannte
Jesu ein urgermaniacher Handlungareiaender
aus Kotzachenbroda war, von den alten
Hebraern aua Chriatenhaff gekreuzigt.
,,KennenSie die wesentlichaten Endziele
des Judentums, dem auserwahlten Volk
S ■^EaisaBLMANW
727
Gottes?** — Dieae judiscbe Frecbbeit, aicb
for auacrwanlt xn balten, -war mir scbon
bei dean Judcnkseebt Wflielm II. zuwider,
der immrr von cinem deatacben Gott apracb,
der mit una was beaonderes vorbabe.
„Ist Anbetung desScbacber gotta Jab web,
der so vorziiglicbe Geacbaftc zu macben
v erst and, Religion ?** — Obne Einblick in
die Gesibaftebucber dee Jab web zu baben
bedaure icb, Aa£ der cbristlicbe Jabweb
keine so guten Geacbafte macbt, wie die
Cbriaten gern batten, dafi er fur sic macbe,
wonun sic iKn Tag fur Tag bitten.
„Iat Liebe sum deutacben Volke, der
energiscbe Kampf gegen aeinen Untergang
durcb Rasaenmiacbung in geiatijjer und
materieller Hineicbt uncbristlicb ?** — Gott
bewabre! Aber dank der Resolution unserer
national empfindenden mutzentragenden
Studcntcn, weder cine Farbige nocb cine
Jfidin zu beiraten, kann una ja nicbta mebr
paaaiercn. Zumal bei der lacberlicb ge-
ringen Zabl }udiecber rVofltiruierter — was
eiae GexneinbeitderjudiacbenMadcbcniat —
aicb aucb keine sexuelle Gewobnung an
judiscbe Bettgenoaeinnen ausbilden kann.
Die furcbtbare Strafe des Bierverscbieasca,
die jeden deutacben J tingling trifft, der cine
Judin beiratct, gibt una die Gar antic, dai?
es in Hinkunft keine Judenatamxnlinge mebr
geben wird, aondern nur reinrasjige Ger-
manen. Denn welcber deutscbe Mann
konnte, in Bierverscniei? geateckt, eein Leben
nocb ertragen ?
Daznit bin icb am Ende Inrer Fragen,
Herr F. Gotke in Flensburg, daa daniacHer
Raubgier cntriosen zu baben wir uns 5 ebon
urn dcseentwillen gratulieren muesen, wcil
Sie unaerm Vaterlande da durcb erbalten
blicben. Ibrc Fragen baben die ungebcure
Tiefe ibrer Probleme blitzartig aufgedeckt.
Sie baben den deutacben Finger an die
siternde Wunde gelegt, — nebxnen Sie ibn
nicbt tv eg ! Bald koxnxnt der Tag unserer
definitiven Entjudung. Einmal wird una
die Entente ja docb in Rube lasscn, und
dann : wir eind unserer €0 Millionen und
baben 100 000 Soldatcn. Es gibt 600 00O
Juden in Deutscbland. Leicbt nimmt ce
ciu braver deutscber Mann mit drei Juden
aui, denn die Bande 1st feige. In einer
b alb en Stunde Arbeit sind wir sie alle
loa. Wer dann am Kneipabend die meiaten
Tropbaen — leicbt erkennbar an gewissen
ieblenden Sacben — beibringt, der wird
Fucbamajor,
P. S. Die Uberecbrift dieaer Antwort
waklte icb, damit diese von unsem Patrioten-
mit Neugierde his zu Ende gelesen werde,
B.
PRINZ MAX DEMENTIERT SIGH
Die Zeiten an der n aicb. Und die
Menecben aucb.
Als Prinz Max von Baden am 1. Ok*
t ober 1918 zum Reicbakanzlcr ernannt
wurde, -war er der Mann der neuen Ricb-
tung, war er aufrecbter Demokrat.
Man erinnert aicb vie! leicbt nocb, was
er sclber aagte und waa er von aicb eager*
UcJ?. Man erinnert aicb vielleicbt nocb,
wie seine freibeitb'cbe 'Waacbecbtbeit den
Mebrheitaparteien, von Sozialiaten, Demo-
kraten und Zentrum, nacbgepruft wurde,
als ein gewitfer Privatbrief sie in Zweifcl
etellte. Ee war en peinlicbe Auaacbutf-
sitzungen, der Prinz batte aicb seiner Haut
zu webren. Aber scblietflicb folgte die
Ebrenerklarung. Dem Prinzen war ea
gottlob gelungen, seine Demokratie befrie-
digend nachzuweisen.
Die Zeiten andern aicb. Und die
Menecben aucb.
Herr Karl Friedricb Nowak gibt ein
Bucb uber den Sturz der Mittelmacbie
bcraua. Nabezu aamtlicben fubrcnden
Staatamannern, erklart daa Vorwojt, bat
,,der endgultige Text zur sacblicben und
bandscbriftlicben Bcricbtigung vor der
Ubergabe an den Druck vorgelegen/*
Dem Prinzes Max, unglueklicberweiae,
off enbar erst nacb vollendetem Druck !
Denn die Stellen, die von ibm bandela
728
-und die er korrektionsbedurftig find, sind
erst im fertigcn Bueb bericktigt.
Auf Sette 256 find drei Satzc durck
dicke blaue Stempellinien und «in einxel-
nes Wort mit ebenf&Us blauem BUistift
sorgfaltig unkenntlick gemacbt, — genau wie
«i bei der alter en russiscbenZensur ttblicb war.
Letder deckt weder Stempelfarbe noeb
Blaurtift die DruckscKrift genugend. Man
kann aucb jetxt nock die Satze lesen,
gegen die Kgl. Hobeit Einspruck erboben.
Sie lautcn:
„ E r war ein katboliscber
Fiirst. Demokraten undZen-
trumsieute konnten mit i b m
zufrieden aei n."
„ D a s Mebrbeitsprogramm
wurde daa prinziplicbe Pro-
gram m."
Und das durebstricbene Wort heiSt
,, den", — in detn Satae: ,.Schon als
Micbaelis kaxn, — — — — — — wax
Prin* Max fur die Kanxlerscbaft von
den Freisinnigen vorgescblagen worden."
Max wSnscbt beute also nur „voa
Frewinnigen*' vorgescblagen worden zu
sein. Er wiinscbt beute nicbt, dafl das
Mebrbeitsprogramm sein Programm ge-
wesen sei. Und er wiinscbt nicbt, daff
Demokraten und Zentrumsleute mit ibm
zufrieden sein konnten.
Ja, ja, die Zeiten an der n sich. Und.
den Menscben stebt mindestens Deckfarbe
zur Verfugung, Wenngleicb sie oft nicbt
genugend deckt! Lscbw.
BDCHER
Oskar A, H. Schmitz: Scbein-
werfer uber Europa. Georg Miil-
ler, Muncben.
Bekanntlick kann man aus den Biicb-
ern der Reisescbriftsteller zweierlei kon-
statieren. Erstens: was der Verfasser aus
dem Lande gemacbt bat. Zweitens: was
das Land aus dem Verfasser gemacbt bat.
Die Sacbe ist sebr einfacb. Mm lese
daraufbin einmal ad l) die vers:biedcnen
Indiea- und Japaabiicber der BomeU,
Ewers, He##e und Kellermann ; ad 2) die
Ruflland»bymne Holitscbers. Aus diesent
Grunde bescbaftige man «ck aucb mit
dem Rullandkapitel dea Oskar A. H.
Scbmitx. Der war vor allem BoUcbe-
wismus, so 1914, dort, mit Literatur be-
sebwert und eimgen anderen Lander -
kenntniwen (Italien 1 903. Sksndinavien
1912, Sudosteuropa so dazwiscben), ein
wenig professoral veranlagt. Es iat nicbt
uninteressant zu lesen. was er uber
Masaryk sagt und uber die russiscke
Seele, nacbdem einige augenfallige Ver-
anderungen bet beiden vorgegangen sind.
Sein Auge war immer often, empfanglick
fur die ruasiscbe Ebene, die sebwermtttig-
bellen Nacnte des Nordens, die siidlaa-
discbe Landscbaft und italieniscbe Weick-
beit. Seine Hand war immer bereit zu
scbreibes. Daber ist mancbes uberfluffig.
doziert, lebrbaft. unwwentlicb. Der Ver-
•uck, txefer unter die Oberflacbe zu kom-
tnen, wird stets gemacbt, aber die Netz-
baut ist nicbt so *ebr der Brecbungen
fabig, wie sie es sein mutfte, um dent
Wesen naber zu kommen. Der Schein-
werfer bat nicbt das Quecksilberlicbt
der Kinoaufnahmen. Es ist alles nock
unter der Petroleumlampe gescbrieben.
Gemutvoli, Temperiert. (Holitscber wt
in der bolscbcwistiicben Atmospbare
seines acbarfen Gesicbts verlustig ge-
gangen.) Daa Kapitel aus dem Kjrieg ist
vollstandig fiberfluffig. B.
SCftlA
[ Die lM
729
Das Geacbenk der scbonen
E r d e. Idyllen von Heinricb Eduard
Jacob. Miincben Rolandverlag. So ganz
haSt dxescr Dicbter die Menscben, dafi er
nur cine Erde obne Menscben will. Er-
stickt vom Ge stank der Zeit, wirrt er sein
Herz an die Dinge, ruft die Dinge an,
wublt sicb ins Mark aller Dinge vor, fullt
nch mit ihrem Blut, verwandelt sicb in
sic, wird sie selbst, spricbt mit ibren ge-
Keimen Zungen. Wo ist die bebaglicbe
Naturfreundscbaft Ludwig Ricbter ? Wo
die Idyllik Getfnera, dem eonnigansteigendes
Gras und gerundete Linie der Baume nur
Rabmen waren urn den klein empfind-
samen Menacben ? Hier lobaingen die
Dinge aelbst. Hier ist aus Dingen, die ein
Nichta scbeinen, mit mikroakopiscben Augen
ein Grotfee gemacbt. Fiscbe, die aus dem
See springen, daa wolliistige Gold einer
Ananasscbeibe, die aebwirrend atebende
Muckenaaule — ebensoviele Ereignisae,
betaubend, scbickaalbaft, bymniscb in sicb.
Ausgerottet ist der Menscb, die Erlosung
vom Menscben ist gefunden, und als Fund
stebt da — der Menscb. Denn wie mutf
dieaer Menacbenfrind die Menscben lieben,
dai? er, nur die Dinge zeigend, dennocb
das Menscben auge preist, daa allein diese
Dinge siebt. Ein erstmaliges und ein-
maliges Bucb.
VPilhelm Schmidthonn,
ANEKDOTEN
DER THEATERPRINZ
Ludwig Ferdinand , der Miincbner
Tbcaterprinz — d. b. zwar ein ecbter
Wittelabacber, aber nicbt ein Prinz wie
er geradewegs aus dem„Dornroflcben"kommt
sondern eKer aua dem Hofbraubaua —
Ludwig Ferdinand also fragt Albert Stein-
ruck einmal mit vor Nacbdenklicbkeit gc->
f urcbter Stirn, den Finger an der Naae :
„Sagen's amol, Steinriick, wcr is eigent-
licb die grotfere Scbauspielerin. die Durieux
oder die Eyaoldt ?"
„Daa kann man wobl nicbt so ent-
sebfiden, Komglicbe Hobeit, — jedc in
ibrer Art . . . .".
, ,Na ja, aber wenn mans bait docb
vergleicbt ...."' drangt der witfbegierige
Prinz.
,.Na," sagt zogernd Steinriick, die
grotfere Kiinstlerin iat vielleicbt docb die
Eysoldt . . ,"
,,Wera scbo recbt babn," aagte Lud-
wig Ferdinand gedankenvoll. „Aber — - —
mager ! Mager ! V*
NOCH NICHT LITER ARISCH
Eine sebr geistreicbe, fur Miincbner
Format und Miincbner Anapriicbe grande
amoureuse, wurde von dem Herauageber
einer neuen Zeitscbrift, der in ibr eine neue
George Sand witterte, urn einen Beitrag
gebeten. Sie erwiderte lacbend : „Icb denke
garnicbt daran, in die Literatur einzutreten,
solange icb ea nocb auf dem
naturlicben Weg erledigen kann.**
3NHALT DES LETZTEN HEFTES
(Nr. 22):
Stefan Grotfmann : Der auferstandene
Mattbias
Frank Furter : Sergeant Heynen
Paxton Hibben :Tragodie einea kleinen Landes
Hugo Hofmannstbal : Ersatz fur die Traume
Carl Sternbeim: Fairfax
Aug dem Tagebucb.
Rcdaktion des „Tage-Bucb" : Berlin W 35, Potadamer Stratfe 123 b, Tel.: Lutzow 4931.
Vexantwortlicb fur den redaktioncUen Teil : Stefan Grotfmann, Cbarlottenburg. Verlag :
Ernat Rowoblt Verlag, BerlinW 35. Potadamer Strafe 123b. Druck : R. Abendrotb, Rie»»
730
6 Badcr Mk. 7.— . 22 Bcder Mk. 12.—
Itfiir echt in da r grSntri Dose
Narhqhmungen die als ebtnsuntt o?zc;d\':fl :t>?rne.i,
■wetsc man 2uriidi. Mi/er Mnofkiul-Btiiier nocknt<ti:kennl.
veriange sojort umumsi Vtrwdi!^: j: let unrf Oiusthf*
Westphal& Co., Chtm rtitmk, Frr.'tiijuri a.M.-Eit'.<.
. OSKAR WILDE
Uoer Frauen, Liebe una Ene
Naeb den Uebereetanntfen von Max Roden. Rudolf Lotbar,
Frieda Ubl, Paul Wertbeimer o. a. aastfewablt and bcarbeltet
Papfoand 30 Mark Ton Rudolf Pau«t Halbfranaband 3) Mark
Daa tfanze Werk Ut U swei Farben, ach-wara and floldtfelb. aaf feinrtem. bliitenweiflem
wad nolxfreicm Papier tfedruckt. DU Zeicbnuntfen fur die Tltel, dm Setxacbmack und die
Einbinde lieterte Curt Votft, Ncntcmpelbof. Der Pappband wird mit bun tern Papier besoflca
nnd mit Goldachnitt nnd Goldtlteldraek 0elietcTt, die Halbfranzanstfabe iit in gotera, ecbtein
Leder tfcbnadaD and mit handkolorierten Papiaran bezoden,
EDWARD STILGEBAUER
Burgenn Louise
Broeebiert M. 12.- Roman Gebunden Mk. 15.—
Stiltfebaaere Roman iit in crater Linie ein Bacb, das ana die Leiden nnierer Zeit trafen
lehrt. Aber nock mebr : ei laflt aocb in one die Hoffnantf niebt zu ecbanden werden, denn an
dam Tatfe, da Robespierre* Haupt fallt, durcheebwirrt ein Name — von den meisten noeb
ung'ebort — Pari* : Bonaparte ! Ei enditft also mit der alle bentc bewetfen.de Fratfe : Wer wird
dieser W^elt nnd dieser Zeit Erloser ■ein ?
LEO TOLSTOI
Die Kreutzersonate
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Zu bczleben durcb jede Bttchbandlantf nnd
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FRIEDRICH SCHNACK im „Literariscne» Echo":
Baum ist ein Meistcr im Dialog, den er mit leice spottischer
Uberlegenbeit durch allc Tonlagen schwingt. £r eaugt die
Zartbeit jeder Gefuhlsabsturung in seinen Stil. Farbe und
Lichtocbatticrungen erregen ihn bis ins Blut. Seine Gcdichte
sind von bebutsamer Inbrunst .... Die Aueetattung dca
Werkcs ist rubmenswert. von delikatezn Reiz.
MARTIN FEUCHTWANGER in der „Saale-
Zeitung": Die "Werke, die in den beiden Banden gesaxnmelt
sind — Gedicbte, Romane, Romanfragmente, Novellen —
atmen einen Geist, der dem konventionell denkenden und
mit der Schablone fiiblenden Menschen fremd ist. Aber
sie lassen inn in eine Welt blicken, die bc boner, erbabener,
reiner, grower und reicber ist, als diese, und nacb der ricb
die Beaten — unbewutft — achnen.
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deuten." DIE ZEIT. Wie£
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Buck lesen." . NEUE ZORICHER ZTG.
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Das Tagc-Bnch / Heft 24 Jahrg. 2 / Berlin, 18. Juni 1921
LEOPOLD SCHWARZSCHILD DAS UNMOGLICHE
MISSTRAUENSVOTUM
Gesetzt den Fall, unter 19 Sackverstandigen entstunde ein Streit
aaruker, ob cine Faroe violett, rot oder blau sei. 9 Stimmen entsckieden
sick fur violett, 5 fur rot una 5 fur blau. Wie ware da das demo—
kratiscke Prinzip anzuwenden?
Die Frage ist unsckwer zu beantworten. Gibt man uberkaupt etwas
auf Mekrkeitsvotum, so muK man sick fur Violett entsckeideu. Denn
es hat 9 Stimmen erkalten, jede der beiden anderen Farben aber nur
funr. So mackt es dor gesunde Mensckenverstand.
Man kann es allerdmgs auck anders macken. Man Icann sagen
funf plus fun i, also zekn Stimmen kaben sick jedenfalls gegen Violett
erklart. Diesen 10 kontra- Violet ten steken nur 9 proviolette Stimmen
gegenuber. Violett ist also abgetan. Das ist logisck, wenn es auck
Blodsmn ist. Der Parlamentanemus bat es legalisiert!
Wenn namkck in emem 469kopfigen Parlament, das wir beispiels-
kalber Deutscker Reickstag nennen wollen, 156 Mitgkeder das Kabinett
zu rot, 87 aber zu blau finden, so ist das Votum von 225 Mitgliedern,
den en es gerade ricktig violett sckeinr, ubertrumpft. Violett kat zwar
eine weitaus grotfere Stimmenzakl auf sick vereinigt als jede der beiden
anderen Farben. Aber man recknet die beiden anderen Voten aritk-
metisck zusammen und konstatiert fro mm und nucbtern, dai? 225 pro-
viol ett en 243 kontra- violette Stimmen gegenubersteken. Das violette
Kakinett ist also erledigt. MVas nack ikm kommen soil, sckiert das
Gesetz nickt.
So kerzKcke Aritkmetik ketreikt man, wenn man die Quartaner~
weiskeit vergessen kat, dal? es nickt nur auf die Zakl, sondern auck aufs
Vorzeicken ankommt, das -f* 2 plus — 2 also keineswegs 4 mackt!
Die Sacke ist mitnickten leere Tkeorie. Sie katte am 4. Juni, als
es sick um Vertrauens- oder Mifcauens votum fur Wirtk und seine
Leutc kandelte, sebr aktuell werden konnen. Es katte sick da — bei
vollen Fraktionsstarken und okne kunstkeke Teilabstimmung, — tatsack-
Kck ereignen konnen, dai? 225 Stimmen ikm zwar Vertrauen bekundet
katten, dai? er aber dock uker ein kegrundungslos votiertes Mitftrauen von
737
243 Mitgkedern gesturzt ware, — eines Sammelsunums von Mcmun^en,
von denen inn 87 als zu nationalistisck una J 56 als zu pazmstisck verwarren.
Das ware der Gipfel politiscken Unsinns gewesen. Den a in der
Tat, eine Regierung soil aktreten, wenn die Mekrkeit llire Politik durck
eine andere ersetzt wunsckt. A.oer das „andere spielt dock wokl auck
eine Rolle! Eine Regierung soil keineswegs aktreten, wenn eg unmoglick
ist, an ikrer statt erne Koaktion zustande zu kringen, die mit groKerer
Ankangersckait eine andere Politik treiken konnte, iA/enn die Gegner—
scnart sick also nur aur s Negative, nickt im entferntesten aker aur Posi-
tives erstreckt.
Was ist zu tun, dal? diese Groteske nickt dock nock emmal ^A^irk-
lickkeit werde, 3a, dal? sie aucn als Drokung nickt mekr uker der Politik
sckweken bleibt und sie zu unwurdigen Bocksprungen zwingt?
Die Losung let sekr einfack und prokat. In den Artikel 54 der
Reicksveriassung, der von dem V ertrauen spnckt, das die Regierung keim
Reickstag gemeisen muis ( — vielleicnt auck nur in die Gesckartsordnung — )
1st der Satz emzurugen, dais Miistrauensvoten sacklick motiviert
sein mussen.
AkVenn es nickt mekr genugt, nur die lapidare Formel: ,JDer Reicks-
tag wolle kesckliei?en, der Regierung das Vertrauen zu versagen zur A.k—
stimmung zu kringen, sondern wenn auck nock ein „weil . . . mnzu-
gefugt werden mud, dann wird es ipso racti unmoguck, dai? die keiden
oppositionellen Plus- und Minus- oder Rot- und Blauminontaten zu
einer ministersturzlenscken Majoritat scklecktkin sick vereimgen. Dann
wird es mindestens zwei MiKtrauenaantrage mit versckiedenen Motivie—
run gen geken : und keide werden von der allein arkeitsrakigen xvoahtioa,
die in Wakrkeit auck zaklenmamg weit uberlegen 1st, nack Reckt una
Billigkeit niedergestimmt werden. Zum Sturze des Mimsteriums kann ea
nur nock kotnmen, wenn eine durck sacklicke UDereinstimmung mekr als
aul?erlick zusammengesckweii?te, eine in sick regierungsiakige, eine wirklicn
erkkerecktigte und erkiakige Mekrkeitsopposition entstanden 1st. Zum
Sturze des Ministenums kann es aker nickt mekr kommen, -wenn nack
dem Sturze die Lage nur nock verworreaer ware.
In England, dem Mekka des Parlamentansmus, mogen die Dinge
anders liegen. Man kat dort weit klarere Parteiverkaltnisse, numenscke
Konstellationen wie kei uns, sind dort praktisck (vorerst nock) aua-
gescklossen. Wir aker kaken nun einmal diese Zersplitterung. Wir mussen die
IConsequenz daraus zieken, oder der gauze Parlamentansmus wird morgen
kompromtttiert sein, Rerormiert lkn oder er ketzt sick selkst zu 1 ode.
738
Stefan grossmann CAILLAUX' ERINNERUNGEN
Ick sak Caillaux im Mai 1914 in Mamers. Georges Weill, At-
geordneter von Metz, gestern Deutscker, keute Franzose, memals Sozia-
li3t, und ick fukren im Frunjakr 1914 durck Frankreick, urn die
>Vakloewegung zu erleken. In einer Sommernackt sprack Caillaux auf
oem finsteren Marktplatz von Mamers. Er stand auf einem Tisck im
Freien, von einer einzigen elektriscken Lampe grell keleucktet, und alle
funf Minuten rollte sein Haupt-Wort viker die wogende Menge: „La
paix ... la paix ... la paix". Er ist sckon damals glukend gekaft
worden, denn er katte ein an deutscken Mustern ausgearkeitetes Ein-
kommensteuergesetz durckgesetzt. Das krackte die eleganten Leute
furckterlick auf, weil Caillaux, aus ikrer Finanzwelt stammend, sie nickt
gesckickt gesckont katte. Ukerall in Paris, entstanden Helffericke der
Steuerunlust. Der „Figaro"» das gekaufteste Blatt, eroffnete einen
Feldzug infamster Tucke. Herr Calmette, der sckmutzige Antikorrup-
tionist, wurde von Frau Caillaux medergestreckt. Damals gerade reickten
Pariser Poktiker sekr zartlicke, sekr intime, sekr pkysiscke Liekesknefe
Caillaux^ an seine Frau von Hand zu Hand. Sie waren von der
Figaro-Clique in Umlaut gesetzt worden, um Caillaux lackerlick zu
macnen. Man sckamte sick, diese Scklafzimmerexstasen anzuseken und
— verscklang sie. (Lekre ,fur Poktiker: ^A^ enn Du eine Steuer reform
wagst, dann verzickte aur em erotisckes Leken.) Als der Krieg aus*r.
krack, gak es nur zwei gefakrlicke Leute in Paris: Jaures liel? man er—
sckieuen, Caillaux, der sein Mmisterium mitgemackt katte, wurde ver—
dacktigt, verleumdet, ins Ausland gesckickt und sckliemtck als Clemen—
ceau, der Skrupellose, kam, ins Gefangnis gesteckt, neken Toksucktige
und Morder, Das Buck von Caillaux (das in einer vorzuglicken deut-
scken Ukersetzung von Henning Pfannkucke soeken im Rkeinverlag,
Basel ersckienen ist) ist eine erregend minutiose Darstellung aller Ranke,
die Clemenceau gegen ikn spinnen lietf. Jede Weile entstand eine
Affaire, in die eine auf den Pfiff gekorsame Presse Caillaux* Namen
verwok. Zuerst wurde er in die Angelegenkeiten dee Pariser ^Journal"
gezerrt, das die Weisen von der TkVilkelmstratfe im Kriege dem Aken—
teurer Bolo akkauften, mit dem Erfolg, datf wir Deutscken um
10 Milhonen Francs erleicktert wurden, okne den geringsten Nutzen
davon zu kaken. Caillaux' Ungluck war, dau er in der getnisckten
Gesellsckaft, die sick um Pariser Fmanzleute drangt, viele Bekannte
katte. Er katte einmal kei einem Dritten mit Bolo gespeist: Also kat
er Frankreick verkauft! Wakrkaftig, so scklossen die Spurkunde und
739
Untersucbungsricbter Clemen ceaua! Fur Jic Zeitung „ Bonnet rouge
dee unglucklicben Soziabsten Almereyda batte Caillaux in Friedene—
zeiten Unteratutzungen gewabrt. Im Kriege ist der notleidende, un*
ebsuvinistisebe Almereyda seinem Mitarbeiter Duval zum Oprer ge-"
fallen. der aus der Scbweiz vermutLcb deutscbe Gelder erbalten bat.
Caillaux war vom Au gust 1914 in vor sicbtigster Distanz ge bite ben.
Trotzdem verwob lbn eine perride Presse in alle diese Arfairen. In
Sudamerika batte sicb der Soon von Agnes Sorma, der junge Graf
Minotti, an ibn berangedrangt. Em Itabener, von dessen deutscber
Mutter Caillaux nicbts wufee. Jedes Wort, das er mit Minotti ge-
sprocben, ist mit Hilfe ubertreibender Agenten zum Pariser Unter-
sucbungsricbter gekommen. Eine ganze Horde von Agenten, Diplomat en,
Untersucbungsricbtern bat sicb dauernd mit dem Aurstellen von Fu&-
angeln fur Caillaux bescbaftigt. Scbliei?Jicb konnte er nicbt leugnen,
dai? er der einzige iranzonscbe Politiker war, der wufite, das es wirt*-
scbaftlicbe Scbicksalsgemeinscbaften zwiscben Deutscbland und Frankreicb
gab, die kein leerer Patriot wegscbreien konnte. (Desbalb wird Caillaux.
Tag nocb einmal kommen.)
Von Deutscbland aus gescbab nicbt wenig, um Caillaux in Frank-
reicb unmogbcb zu macben. Mitten im Krieg lobten ibn die deutscbea
Zeitungen! Jede Zeile deutscber Anerkennung dezimierte Caillaux
Macbt. Ein Huldigungsartikel der Wiener „Neuen freien Presse" ist
durcb alle nationalistiscben Blatter der Entente gewandert. Dann img 1
die Entente dtie Telegramme des tolpelbaften Grafen Luxburg aur, der-
Caillaux'' Lob uber alle Dacber Frankreicbs auescbrie. Da Luxburg
nicbt nurfein Dummkopf, sondern aucb em flunkernder Scbwatzer -war*
denn es gab keinen Kontakt zwiscben ibm und Caillaux, und da zur
Sicberkeit die Telegramme. Luxburgs nocb an bitfeben geralscbt ver—
offentlicbt wurden, so batte Caillaux an der deutecben Anerkennung 1
ersticken konnen. ScbbeiHicb wurde in Paris nocb bekannt, daf? die
deutscbe Regierung (in einer viel zu spaten Stunde) ibre Pressekonre-
renz ersucbt batte, Caillaux* Naraen nicbt eitel zu nennen. Lauter
Klemigkeiten, aber der demagogiscbe Journalist begniigt sicb gerne mit
ein paar Indizien. Die Flobe, die Caillaux taglicb stacben, die parted
iacben Ricbter, die ibn kleinkriegen wollten, iibersaben aber die Baren-
natur dieses Gulliver. Alle Stricke der Rankune und Intrigue, allex
Eifer der Zwerge und Spitzbuben war vergebens: Er lag nur eine Zeit-
lang webrlos am Boden der Untersucbungszelle. Als er vor de»
Senat gebracbt wurde, da rii? er die Gespinnste der Stricke vom Leib
740
■und von all den Tsckandala-Verleumdungen kliek kerne an seinem
iraftigen Leibe baft en. Nack seiner Verteidigungsrede ware er freige-
sprocken worden. Da vertagte der President die Sitzung. . . Aker
cs gelang Clemenceau nur, ikn aus dem Sen at zu vertreiben, mckt, lkn
xu toten. Und dai? Caillaux am Leken blieb, das wird der alte
Heifer des Cornelius Herz nock furckterlick zu fuklen bekommen.
Immer wieder mufte ick fcei dieser Sckilderung pfiffiger Tucken,
mit denen man Caillaux fesseln und entkraften und auskluten lassen
wollte, an Gulliver und die Zwerge denken. Das ist das Erquickende,
das Hcrzerfnsckende an dies«m Sckicksalskuck: Am Eode erkekt sick
der Besckimpfte vom Boden, der Starke ricktet sick wieder auf, die
Floke und Zwerge purzeln von ikm: Gulliver kommt immer wieder!
WALTHER RATHENAU UBER PRODUKTIONSPOLITIK
Die hier beginnenf J Publikation, in Deutschland nock nicht
veroffentlicbt, ist die WieJergabe einea Vortragea, den Walther
Rathenau, im Oktober 1920 be! der Tagung dea D cutset en Be-
amtenbundea im Lehrervereinanaua in Berlin gehalten hat.
Ick will uker den Gegenstand sckreiben, der keute die offentKcke
Meinung aller Lander kewegt: uber SoziaKsierung. Ick bitte urn die
Erlaubnis, den Gegenstand etwas abzuandern und als Tkema der Be~
tracktung zu waklen : das Problem der Produktionspolitik. Es
wird im Verlauf der Ausfukrungen klar werden, dal? die Produktions-
politik der eigentlicke Scklussel des Proklems ist, das uns bewegt
Der Begriff der SoziaKsierung ist zum Scklagwort geworden und
wir wissen, dal? die Scklagworte, die eine Zeit bekerrscken, fast niemals
ganz und niemals ricktig die Probleme decken, mit denen die Zeit sick
mnerKck befatft. Unter SoziaKsierung verstekt ein jeder etwas anderea,
und vielleickt ist nur das dem offentKcken Gewissen gemein, dai? man
glaubt, mit einem einkeitlicken Rezept, mit einer einkcitKcken Matfnakme
Ketfen sick alle Note unserer Zeit abstellen. Es kandelt sick also darum,
dai? wir den Begriff auflosen. Wir mussen kinabsteigen in die Grund-
tendenzen, die unsere Zeit bewegen, urn zu versteken, in welcker Weise
neu aufgebaut werden kann, um den Begriff zu finden, der nickt als ein
Rezept, sondern als eine Gedanken- und Organisations^ rm uns dazu
fukrt, das Neue zu gestalten, das uns auferlegt ist.
W^ir werden also die Grundtendenzeu zunackst zu betrackten kaken*
die unsere Zeit bewegen, und da kaben wir drei zu untersckeiden.
Die erate Grundbestrebung, um die es sick kandelt, ist die Forderung,
die Guterverteilung der Nationen und der Welt zu einer gereckten zu
741
gestalten. Jeder von uns empfindet die Ungerecktigkeit, die in der Guter-
verteilung der ^^elt, im Genu!?, im Verbraucksanspruck obwaltet.- Jeder
▼on uns fuklt, dal? es em Bedenklickes ist, wenn Generationen una
Generation en in der starksten Differenzierung auiwacksen kinsicktuck
d ess en, was iknen im 'Gutergenui? der Erde zustekt, und vor allem, -was
sie keansprucken konnen kinsicktuck der Umwandlung von Gut era in
das starkste Agens der Zeit, namkck in die Bildung. Der Ausscklul?
von der Bildung ist die karteste Folge ungleicker' Guterverteilung. Das
Streken, die Guterverteilung gereckter zu gestalten, als sie ist, ist als die erste
und vielleickt die bedeutendste Grundtendenz unserer Zeit zu betrackten.
Die zweite Grundtendenz, die wir ins Auge iassen mussen, ist die
Forderung der Mitkestimmung. Es wird als eine Ungerecktigkeit emprun—
den, und mit Reckt, wenn weite Kreise der Volker ausgescklossen sind
von der Bestimmung ikrer wirtsckaftlicken Gescbicke. Die Analogie
dieeer Frage baben wir erlebt im vergangenen Jabrbundert. Da kandelte
es sick nicbt um die Bestimmung und Mitbestimmung in der W lrtsckart,
sondern um die" Bestimmung und Mitbestimmung in der Politik. JCs
nandelte sick um die Fragen der Autokratie, des Konstitutionalismus una
der Demokratie. 'Was -wir auf politisckem Gebiet erlebt baben, begegnet
una im Laufe dieses Jakrkunderts auf wirtscbaftKcbem. Auck kier
werden wir von der Autokratie den Weg zur Demokratie geken una
die Tendenz, die Grundbestrebung, ^ie dort kmrukrt, ist das Streben naca
Bestimmung und Mitbestimmung.
Die dritte Tendenz, die wir ins Auge zu i ass en kaben, ist die der
Hebung des allgemeinen ^Voklstandes. Denn es ist klar, da# die Guter-
mengen der Welt und die Gutermengen der einzelnen Lander nickt im
entfernten keute ausreicken, um einem jeden diejenige Existenz zu ge-
wakren und ikm denjenigen Anteil an Gutern nackzuweisen, der rur
seine Erkaltung, fur seine Entwicklung, fur seine geistige Ausbildung er-
forderkck ist. Es ist also die dritte Tendenz diejenige, die wir am nack-
drucklicksten ins Auge zu rassen kaben, die Tendenz der Gutervermek-
rung, das keil?t die Tendenz der Produktion.
Stellen wir uns nun kritisck gegenuker diesen versckiedenen Ten-
den z en und den Formen, in den£n sie sick ausgewirkt kaben, so kommen
wir zu folgender Betracktung: Die Grundtendenz der Guterverteilung Lst
diejenige, He urspriingkck dem marxistiscken System zugrunde gelegen
kat. Von der Guterverteilung ist man ausgegangen, als man dazu sckntt,
durck den grofien Gedanken der Verstaatlickung aller Betriebsmittel die
Guterverteilung gereckt und den Erfordernissen einer groben Nationai-
wirtsckaft entspreckend zu gestalten. Aker in dem AugenbKck, wo man
diesen Gedanken zu Ende denkt, ergeken sick Konsequenzen, die nack
jeder Kicktung kin Sorgen und Bedenken erwecken.
742
^^enn wir zunacbst ins Auge fassen Jen Grundbegnff des &ystems»
den Begriff des Mebrwertes, finden wir, dal? 50 Jabre lang sicb kaum
jemand die Mube genommen bat, diesen Mebrwert zu errechnen und
wirkbcb festzustellen, ob die Verteilung dieses Mebrwertes eine solche
erbeblicbe Veranderung im Wirtscbaftsleben des Voltes bervorruit, dal?
man sagen tann, durcb diese Verteilung werden die Verbaltnisse grund-
sturzend umgewandelt. Die Berecbnungen sind in letzter Zeit vielracn
gemacbt worden, und man bat sie gemacbt sowobl im rlinblick aui die
Gesamtwirtscbaft des Staates wie aucb im Hinblick auf die Emzelwirt-
scnarten der Unteraebmungen.
'Wenn -wir die Einzelwirtscbaften der Unternebmungen betracbten
Aktiengesellscbaften oder irgendwelcbe groi?e Produktionswerke, und rest-
stellen, reebneriscb, wie groK diejenigen Betrage sind, die das Werk
eigentlicb als Mebrwert erutngt nat, und uns nun fragen, wievxel wurde
es auf den Kcpf des Angestellten und des Arbeiters ausmacben, wenn
dieser Menrwert restlos verteilt wurde auf die KopfzabL, so ergibt sicb
das sebr betrubende Resultat, dal? die Zanl eine aui?erordentlicb maisige
ist. Es ist eine Zabl in der Grotfenordnung von etwa 250 bis 300 Mark
per Janr und Kopf, das beii?t eine Zanl, die germgfugig ist, wenn man
sie in Vergleicb stellt zu einer irgendbeuebigen nocb so maKigen Lobn-
erbobung, wie sie neute alle wenige Monate an der Tagesordnung ist.
A^enn also ein Unternebmen semen gesamten Menrwert ausscbutten
wollte an Angestellte und Arbeiter, so wurde das Ergebnis neute unter
den gegenwartigen Vvirtscbaftsverbaltnissen ein durcbaus unbeinedi gen—
des sem.
Zu emem einbeitbcben Gesamtergebnis kommt man, wenn man, aus—
gebend von dem Nationalersparnis eines Landes, sick Recbenscbaft daruber
ablegt, ."wie grol? denn der Mebrwert in einem gesamten Lande ist. Die
Gesamtersparms eines Landes mub den Mebrwert umiassen. GroKer
kann er nicbt sein als das, was das Land in seiner Gesamtbeit erspart,
das neiist mebr konsumiert als produziert. Die Dirferenz zwiscben Pro—
duktion und Konsum in Deutscbland ist vor dem Knege verecbieden
gescbatzt worden. Man kann wonl annebmen, dais sie in der Groi?en—
ordnung von 5 bis 6 MiUiarden gewesen ist. Es wurde sicb daraus er-
geben, dal? ein Betrag von 5 bis 6 Milliard en jabrkcb verteilbar ware,
wenn man den ganzen Mebrwert zur Verteilung bringen konnte. Das
ist ein Trugscblui?, denn dieser Mebrwert ist bisber nicbt verbraucbt,
sondern — das wird aucb von der Xbeorie bestatigt — zur Akkumu—
lation verwendet worden. Er ist bineingesteckt worden in Mascbmen,
in Apparate, in Gebaude, in Eisenbabnen, in Hafen, in Transportanlagen
des Landes, und ein Land, das siek entwickelt, wird diese Investitionen
und Erneuerungen niemals entbebren konnen, es wird also niemals in der
743
Lage sein. den gesamten Erfcrag seiner wirtsckaftKcken E rap amiss e zu
verteilen. AA^enn man aker recknet, daf? tatsackkck in einem Lande an
gewisser Luxuskonsum gekerrsckt kat, der nickt verteilt worden ist, und
annimmt, dal? dieser wenigstens katte verteilt werden konnen, so ergibt
sick recknerisck, Aa£ es sick kier um einen Betrag von etwa 1 k Mil-
liarden gekandelt kaben konnte, der verteilkar gewesen -ware, wenn man
verzicktet katte auf irgendwelcke ungleickmatfige Entloknung der ver-
sckiedenen Arbeit er des Landes, wena man also die Bedingung geatellt
katte, dal? jeder Generaldirektor, jeder Gekeimrat oder Professor genau
so gelekt katte wie jeder Arkeiter; dann waren etwa 1 /* MdKarden
verteilbar geworden. Und dieser Betrag — das kann man leickt aus~
recknen — durck 60 Milkonen dividiert, wurde eine Grotfenordnung er-
geken, die nock kleiner ist als diejenige, die lck vorkin genannt kabe. Es
kame ein Versckwindendes auf den Kopf der Bevolkerung, wenn dieser
Betrag verteilt worden ware; mekr katte aber nickt verteilt werden konnen.
Wir werden also bei der Betracktung der Giiterverteilungsfrage
zwingend darauf kingewiesen, da£, wenn wir die Giiterverteilung ernes
Landes anders regeln — und sie wird und mul? anders geregelt werden
— dann Grunderfordernis ist, datf wir die Quellen des Landes starker
flietfen lassen, dal? wir seine Produktion erboben, dai? wir die Betrage,
die verteilbar sind, vergrotfern, denn wo nickts ist, bat der Kaiser sein
Reckt verloren. Mit anderen Worten: Aie Betracktung des Guter-
verteilungsproblems fubrt uns zur Betracktung wiederum der Probleme
der Produktionserbokung. Nur durck Produktionserkokungen sind wir
imstande, diejenigen Betrage, Ale verteilbar sind, so zu erboken, dai? flie
in der ^^irtsckaft der Allgemeinkeit etwa Entsckeidendes ausmacken.
Ick komme zu der Kritik der zweiten Tendenz, namlick der Kntik
des Mitbestimmungs-, beziekungsweise Bestimmungsrecbtes. AA/ir. wissen,
dal? man in Rufland davon ausgegangen ist, zu sagen: alles, was die In-
dus trial wir tsckaft betrifft, mag zunackst einmal in die Brucke geken ; wir
sind ein Land des Agrariertums, wir sind ein Bauernlani, die Industrie,
die Arbeitersckatt ist nur eine sckmale Fassade, wir konnen fur ein paar
Jakre okne weiteres verzickten auf eine gesunde Industrial wir tscbatt, wenn
wir nur einen Grundsatz verwirklicben, namlicb die Vernicktung der
Ausbeutung. Wir wollen nicbt mekr arbeiten fur einzelne Menscken,
wir wollen nur nock arbeiten fur den Staat, wir wollen nur nock ar-
beiten fur die Gemeinsckaft. Das ist die Tendenz der Mitbestimmung,
beziekungsweise die Tendenz des Gegensatzes zur Privatwirtsckaft m
ikrer kockstgesteigerten Form, in derjenigen Form, in der sie die Leiden-
sckaft des Ressentiments angenommen kat, indem sie namlick mekr zu
einem Racbegefubl geworden ist gegen das Vergangene, als zu etner auf-
bauenden Tendenz fur das Zukunftige.
744
Wir kaken die Tendenz Rutflands in Deutsckland nickt zu ke~
furcnten. Wir geken organisck vor una wir naben weder das Gerukl
eines Ressentiments, nock kaken wir das Gerukl lrgendeiner Leidensckait
in den Mittelpunkt gestellt, wo es sick um die Fragen des reinen Auf-
kaues kandelt. AVir konnen also von dieser extremistiscken I endenz
akseken und sagen, es Kegt kei uns die Bestrekung vor, mitkestimmend
zu sein, sowokl in den Betrieken, wie auck in denjenigen btellen, wo die
Guter in ikrem Verkekr geregelt werden. Wir ketrackten es als ein
Reckt. wir ketrackten es als eine Pflickt, Verantwortung mitzutragen.
Wir wollen nickt mekr unser Sckicksal akkangig wissen von der Ent-
ecklieliung eiruger wemger einzelner.
Diese Tendenz 1st gesund, aker auck ikr steken Sckwrerigkeiten der
Verwirkkckung gegenuker. Die Verantwortungen, die keute getragen
werden muss en, sind sckwer. Die Entscklusse, die in der Wirtsckart
von einem Tag zum andern ge£ai?t werden mussen, sind aulterordenthck
verantwortungsvoll und errordern die rasckeste Beweglickkeit. An sick
ist es sckwer, mit einer grof?en Zakl von Mitkestimmend en scknelle,
sckwerwiegende Entscklusse zu trerren. Aur der anderen Seite mui? die
Zakl der Bestimmenden derartig emgedrungen sein in die Tiere des
Proklems, daj? sie wirklick mit der vollen Elastizitat m ]edem Augen-
klick sagen konnen : ,.Ja, das ist ricktig, das muK gesckeken, das mack en
wir nut .
Ein solcker Zustand eriordert eine koke teckmscke Emsickt und
kommerzielle Erfakrungen, von denen ick glauke, dai? sie in unserem Lande
erreickt werden konnen und erreickt werden. Es wird aker eekr sckwer
sein, sie von einem Tage zum andern zu erreicken. \Vir kaken heute
Lander, wie zum Beispiel die Tsckecko*-Slowakei oder Polen, die tatsack—
lick kei der grol?en sick stets kaufenden Menge der Aufgaken nickt
wissen, wo sie die verantwortlicken Menscken kernekmen sollen und wir
sind nickt mekr weit von diesem Zustand entfernt. Die Gesckulten
und Verantwortlicken unterliegen keute der Last lkrer Arkeit und lkrer
Verantwortung und die Zakl derer, die zur Verfugung steken und die
voile Verantwortung tragen konnen, ist nock nickt so grol?, wie man es
rai ersten Augenkkck glauoen konnte.
Mitkestimmung also mu^ erfolgen, aker es mui? zur Mitkestimmung
allmaklick eine Sckulung gesckaffen werden. Es mul? ein Hereinwacksen
der Allgemeinkeit in die grotfen, sckwer durchdnngenden Aufgaken statt-
finden, mit der sick keute nur eine verkaltmsmamg kleine Zakl von
Menscken kesckaftigt. Die Tendenz ist zu kilkgen. Sie ist mit alien
Kxaften zu forderm aker uker ein gewisses Zeitmai? 'werden wir nickt
kinwegkommen. In der Gesetzgekung der Betneksrate seke ick die
MogKckkeit, dai? die Arkeitersckaft sick in grotfmdustrielle, in groffkom*-
745
merzielle Aufgaken kineinarkeitet. Ick glauke unci koffe, dal? trol? aller
Sckwierigkeiten, die der Durckfukrung des Gesetzes sick entgegenstellea
werden, allmaklick aus dem Betrieksrategesetz eine gegenseitige Sckulung
der Arkeitgeker und Arkeitnekmer erfolgen wird. Auck der Rcicks-
wirtsckaftsrat ist eine Sckojrfung, die der Tendenz der Mitkestimim-ng
gereckt zu werden versuckt. Sie ist dazu kestimmt, ein pantatisckes
Gremium zu sein, in dem die grol?en Wirtsckaftsfragen des Landes er—
ortert und bescklossen werden sollten, aker auck *kier wird es langer
Anlaufzeiten kedurfen, kis ein wirklick gleitendes, reikungsloses Funktio-
nieren des Apparates mogkck ist.
Wie aker auck sick die Frage der Mitkeetimmung und des Mit-
kestimmungsrecktes gestaltet, auck sie -werden nur dann die Moglickkat
kaken, dem Lande Befriedigung und Woklstand zu eckaffen, wenii
gleickzeitig die Produktion so gesteigert wird, dal? sie den
Sckwierigkeiten des Anlaufs solcker neuen Organismen gewacksen 1st,
Auck kier werden wir wiederum verwiesen zu dem Punkte, dal/ immer
wieder die Frage des Produktionsproklems sick in den V ordergrund stellt*
und dal? wir dieses Produktionsproklem eingekender zu ketrackten kaken
als lrgendein anderes.
Ick komme nun zu dies em Produktionsproklem selbst, das aufgekaut
ist auf der dritten Grundkestimmung, die den allgfememen ^A/oklstand
des Landes fordert, so dal? die Notwendigkeit sick una aurerlegt, unsere
Produktion so umzustellen, so zu gestalten, dal? sie, von neuartigen V or—
aussetzungen ausgekend, die Gutermenge des Landes auf ein vielrackea
steigert, die jakrKck erzeugt wird. Das ergikt sick von selbst, wenn wir
unsere Lage ketrackten und wenn wir sie nut unserer frukeren Lage
vergleicken.
AkVir kennen die Wirkungen des Versailler Fnedens, wir wissen,
dal? aus dem starken und reicken Lande, in dem wir gelekt kaken, ein
armes und kedrucktes, durck Konkurrenz gesckwacktes Land geworden ist.
Die Notwendigkeit, fur ein solckes Land sick neuer Metkoden der Pro-
duktion zu kedienen, kegt aul?er Zweirel.
Wenn wir unS friiker fragten, wo kommt der Ubersckui? unserer
Ernakrung ker, den wir kraucken, so war die Antwort einfack. \Vir
konnten daraut verweisen, dal? Deutsckland eine Menge Gutkaken lm
Auslande katte, dal? es grol?e industrielie, wirtsckafthcke Besitztumer
uker See und in alien Landern kesal?. Wir wul?ten, dal? wir die Renten,
Aie man uns sckuldig war auf diese Unternekmungen, einfordern konnten
und in jeder Art von Rokstoffen, in jeder Art von Nakrungsmitteln.
Das ist nickt mekr der Fall. Wir kaken alles, was wir kaufen, uni
selkst zu erarkeiten. In Zaklung geken konnen wir merits anderes mekr
als, unsere eigene Arkeit, und das \Venige, was uns an Rokstorien
gskKeken ist, das ist im Augenklick eigentKck nur nock etwas
746
K.okle, und davon gekt mogKckerweise nock em weiterer Teil uns ver—
loren. Wir kaben also zum Einkauf der Matenaken, die wir sum
Leken Lraucken, nickts weiter verfugkar als unsere Arkeit. Da* er—
fordert, dau wir diese Arkeit so fruckttragend, so wirkungsvoll wie
moglick macken, dai? wir lkren Nutzeffekt auf das kockst denkbare
Maximum steigern.
Eme zweite Gefakr stent una kevor una es ist keute kaum der
Versuck gemackt, lkr entgegenzutreten. Sie iet grower als alle Gefakr en
aus dem Vertrage von Versailles zusammengenommen ; sie ist sckwerer
zu kekampfen als lrgendeine andere rem wirtsckaftkcke Gerakr: das ist
die Gefakr des Zusammenkruckes unserer Kultur. Die Starke Deutsck—
lands kat darin gelegen, dai? es seine ganze Vv'irtsckaft auf Wissensckaft
i und amen tie rt kat, denn Teckmk ist nickts anderes als angewandte Wissen-
sckaft. ^A/ir waren in der Lage, Lei einem unvergleickkcken Hockstand
unserer Sckulen und Polyteckniken so viel gesckulte Krafte keranzukilden,
wie das Land lrgend error der te. Wir waren in der Lage, alle Exp en—
mentationen zu oezaklen, deren die Wissensckaft bedurfte. Institute von
ungeaknter Grotfe und Leistungsfakigkeit zu sckaffen und zu crkalten,
cine Literatur lm Lande zu verbreiten, die von keiner Literatur teck-
niscker oder wissensckaftkcker Art lrgendeines an der en Landes ukertroffen
oder auck nur erreickt wurde. Unsere Handfertigkeit war auf einen
Grad gestiegen, der in alien Lantern Bewunderung fand. Die Feinkeit
unserer Ap par ate und Masckinen, die Genauigkeit unserer Prazisionsarkeit
war dasjenige Element, das der deutscken Tecnnik Eingang m alle Lander
offnete. Aoer, mul? man sick fragen, wie konnen solcke Verfeinerungen
der Wissensckaft, der Teckmk, Handfertigkeit, des allgemeinen Kultur-
zustandes aufreckterkalten werden in einem Lande, das verarmt und dcrart
verarmt ist. Die Frage ist sekr sckwer zu keantworten, Sckon keute
eind unsere Institute der Wissensckaft in groliter Bedrangnis. ^^ir
kennen die Bedrangnis des intellektuellen Mtttelstandes, der der Kern,
und der Trager unserer ganzen geistigen' und teckniscken Entwicldung
gewesen ist. Es ist eoenso kekannt, dafs es kaum mekr moglick ist, aus—
landiscke Zeitscknften in Deutsckland zu kalten. Wir wissen, daf? es
sckwer geworden ist, Bucker kerzustellen und zu verkaufen zu Preiser,
die ersckwingkek sind, Wir werden jede Anstrengung auf uns nekmen,
mussen, um diese Gefakr des Kulturkruckes, die in einer Generation sick
vollzieken kann, zu keseitigen. Aker wir werden diesen Aufgaken nur
dann gewacksen eein, wenn wir abermals zu der Frage Stellung nekmen
das Land so produktiv zu macken wie lmmer moglick, denn ein aksolut
verarmtes Land kann sick dreken und wenden wie es will, es kann Ait
Atmospkare der Teckmk, es kann die Atmospkare der Wissensckaft,
«s kann die Atmospkare der Handfertigkeit nickt aufreckt crkalten.
Weitere Auf«at*e foljfea.)
747
wilhelm michel PHILOSOPHISCHE MAITAGE
IN DARMSTADT
In Darmstadt bestebt cine Gesellscbaft fur freie Pbilosopbie. Sie
kat einen geistigen una einen gesellscbaftlicben Mittelpunkt. Den erste-
ren bildet Graf Hermann Keyserling, den letzteren der ebmalige Gro£~
nerzo^. Diese Gesellsckaft bestebt keute aus 400 Mitgkedern, darunter
viel Adel, GroJ?industrie una ^A^elt, ^ Ikre kauptsackkcke Unternekmung
ist die Sckule der Weisbeit, geleitet von dem Pbnosopben Keyserling,.
organisiert von dem Verleger Otto Reicbl, der kem Pbilosopb, sondern
ein tiicbttger Gescbaftsmann ist. Ende Mai bielt die Gesellscnart ihre
Frubjakrstagung, eine ^iVocke von zekn Vortragen, garniert mit kunstle—
riacben und gesellsckaftlicken Veranstaltungen.
Da gikt es nun zwiscken Form und Inkalt grelle Widersprucke und*-
bedeutsame Beziekungen; AiVidersprucbe, die sick in Ubereinstimmungeia.
auflosen, Beziebungen, die zu AiVidersprucben werden. Der Grundung
lief eine Propaganda voraus, die denkbar ungesckickt und mitfverstand-
lick war, sofern sie eine emstkafte geistige Sacbe verwirkkcken sollte;
gesckickt und unmii?verstandlick, soweit sie eben docb gewissen Keyser-
ling'scken Gedanken uber Geistverleibung entepricbt. Der Name des>
Gro^kerzogs stand darin an betonter S telle. Die Folgen zeigten sick,
alsbald. Die ersten Veranstaltungen des Bundes waren uberlaufen voia
Leuten, die vorber alien geistigen Darbietungen angstkck aus dem,
^Vege gegangen waren; die sogar das mlZcben Pbilosopbie in Kaur
nabmen, urn sicb in guter Gesellsckaft zu fuklen; 1m vordergrund stete
die Gesckaftigkeit eines Verlegers, der im Dienst am Geiste stent wie
Pilatus im Credo.
Wie gerat Keyserling in einen solcken Apparat? In einen Apparat,
den alle ^^elt als einen gesellsckaftkck und politisck exklusiven Sckon-
geisterkluk erkennt oier mi^kennt* von subalternem Geldgeist in Gang
gesetzt, ablebnend und mitftrautsck gegen die geistig Sckaffenden, zu*
ganglick und weitoffen fur eine sonderbare Adeptenmenge, der en Mit—
gKedsckaft sick staffelt nack sckwer ersckwinglicken Beitragssummen?
Es -ware wunderscbon, wenn man zwiscben Keyserling und diesera
Apparat einen scbarfen Tr en nungss trick zieben konnte. Etwa auf der
Linie: Geistige Menscken geraten oft in sckiefe Lagen, weil sie nur
ikre Antriebe befragen und nicbt den Sckein. Aber just Keyserling ist
nickt von diesem Scklag. Dieser verdacktige Apparat gekort entweder-
zu ikm; dann verwisckt er sein Bild ala geistige PersonKckkeit. Oder
748
**r gekort merit zu mm; dann widerlegt er den Politiker, der ICeyser*-
Img lm rlerzpunkt seines ^^ollens ist. So oder ao : diese ungeistige
L«murengruppe urn inn, diese gesckmackswidnge Propaganda, dieser uker—
tucktige Verleger, dieses Bundnis mit lackerlicken gesellsckaftlickexi
Mackten, diese kleinen Scklaukeiten und grotfen Feklgnffe der Organi-
sation — all das stent zu KeyserLng in irgend einer notwendigen
JDeziekung.
Dieser Zusammenkang ist nackzuweisen.
Keyserlmg, das leidet keinen Zweifel, ist ein Kopf. Die Natur
pragte inn vielleickt als den Hegel einer Zwielicktpenode, die nack Ge-
wiwkeiten kungert, nacn Sinn in ikrem Chaos, nack gestaltender Tat in
anrer Umdrangtkeit von tausend ungelosten Problemen. Sie gab ikm
weltlicke und magierkafte Zuge wie dem grof?en Simon, sie salbte inn
anit einen Scnub mystiscken Ckrisams, sie gab ikm wirkKcke Energie
des Denkens, um die sckattenkafte, keute ecliier gespentiscke Welt der
Ersckeinungen zu durckdnngen, sie umgol? seinen Ausdruck mit Anmut,
trankte seinen Willen mit Tatlust, verliek ikm die ^^/iirde einea
Ttfystagogen und die Gesckmeidigkeit eines Jesuiten. Wesentlick ist fur
ikn die eminent praktiscke Ricktung, die in der Gesckickte des deut-
scken Denkens mekrfack angedeutet ist. Die Frage, wie Geist und
Materie sick in den Gestaltungen der Welt bekriegen und vertragen,
atekt 1m Mittelpunkt seines Denkens. Die Wakrkeit, dai? nickts
Geistiges okne Verkorperung ist, scklug keftig und entsckeidend in ikm
em, Daraus entsprang die aktivistiscke Stimmung seines Wesens, der
Drang, am Problem der Verleibung denkerisc^ und tatig mitzuarkeiten.
So verleiben sick seine Emsickten durck die Sckule der Weiskeit. So
verleibt sick die Sckule der Weiskeit durck diese sonderkare Gesell-
sckaft fur freie Pkilosopkie. So verleibt sick diese Gesellsckaft durck
die argerniserregende Werkearbeit, die ikr voraufging. Mitkin steken
diese fragwurdtgen Dmge scklietflick dock reckt nake am Kernpunkt
der Keyserling'scken AtVeltdeutung, die sick in ikrer Auswirkung vollig
als Politik grotfen Stils entkullt.
Keyserling gak wakrend dieser Frukjakrstagung in drei Vortragen
viel kluge und erfrisckende Dinge. AA^ie sick in der Gesckickte der
Gsist verleikt, war der Gegenstand des ersten Vortrags. Was in der
Gesckickte „binn ist, ward sckarf gesckieden von der jeweiligen Ver—
formung in Parteien, Programmen, Einricktungen, Ideologien, Siegen und
Niederlagen. All diese Dinge sind symbolisck kedeutsam. Alle weisen
aber aus der Spkare der Gestaltungen kinuber zu einem „Sinn", der
749
keraklitisck die Gestalten durckflutet. Der zweite Vortrag kekandelte
Jad Proklem der politiscken Tat: wie der Mensck gesckickkildend tatig
-wird aus dem Smnversteken keraus. Es Itam zu der Feststellung, aau
Ideologe und Realpolitiker der politiscken Tat gleickermatfen okerflack-
lick gegenukersteken. Der eine siekt von ikr nur den Geist, der andre
nur den Korper; keide sckweken also in kunstjicken Akstraktionen,
keide sind daker zur Unfrucktkarkeit verdammt. Als Merkmal der
Ideologic ward angegeken, daJ? sie rait nickt vorkandenen Mitteln
arkeite; Dauerndes erzeugt im politiscken Bereick nur der eckte Staats—
mann, der weder der Ideologic nock der platten Realpolitik verfallen
iflt. Der dritte Vortrag versprack als Ergeknis des denkerisck erfaiZten
und praktisck gekandkakten Sinnverstekens „Weltukerlegenkeit". Uker-
all krannte in diesen Darlegungen der Ekrgeiz eines MensckeD, der
grenzenlos kewegt zu kleiken wiinsckt gegenviker alien Angriffen der
Verfestigung. Es gekort durckaus zum "Wesen des Keyserling'scken
Denkens, den dicktesten, gefakrlicksten Stoff nickt zu sckeuen. Er kat*
ana dem Drang zur Verkorperung, Lust zu alien VermeDgungen
zwiscken Geiet und Materie. Sein Begriff des „gegebenen Mittels" 1st
grenzeclos anpassungsfakig, lai?t sick auf Bismarck wie auf Lenin an-
wenden; leider auck auf die Ge'sellsckaft fur freie Pkilosopkie, in der
die teaser e "Welt Darmstadts tut, als sei das Pkilosopnieren em
Gesellsckaftsspiel.
Erfrisckend nannte ick Keyserlings Darkietungen, weil sie einen
Gesckmack nack Weltall kaben und mindestens im ansckauungsma&gen
Verkalten dem "Weltwiderspruck nicht illusionistisck ausbiegen. Die
wilde ^A^elt der Antinomieen zwiscken (politisckem) Sckein und (ge-
sckicktlickem) Sein wurde von Keyserling reick und sckon entraltet,
Meine Einwande gegen ikn keginnen kei seiner Vorstellung davon, wie
der Mensck sick in dieser Welt urteilend und tatig tewegt; Einwande,
die sick kis zu unzweideutigen Akwekrgefuklen steigern. Laotse klieb
im geistigen Fluten, Konfuzius $ng in die Verfestigung. Eine Art
Versckmelzung von Laotse und Konfuzius sckien sick als Ziel semej
Strekens kerauszustellen. Man fviklte: um flutend zu bleiken, mui? er
doppelzungig sein gegen die Verfestigungen; um in der \Velt der Ver~
feetigungen zu gelten, mul? er doppelzungig sein gegen das Flutende, den
Geist. So, auf doppelter, dem Gotte akgesekener Verraterei rukt sein
Unterfangen: Eritis sicut Deus. Vielleickt darf der Mensck nickt
w e n i g e r erstreken als dies. Vielleickt aker siekt der gottweite Mensck
tfanz anders aus, als der vieldeutig sckillernde Magus KeyserKng'scker
750
Pragung. Die gottlicke Scniefe — ein kolderlinisckes Wort tauckt auf:
die gottlicke Untreue — andert vielleickt, auf die Ekene der Menscken
gefallt, Ricktung und Ausdeknung. Der menscktcke Gegenwert zur
Doppelzungigkeit des Gottes keitft vielleiclit Gute oder Reinkeit, nickt
Titanismus; was also bedeuten wurde, dai? menscbkckes Aufsteigen zum
iutfersten Sinnversteken sick nur in etkiscker Uferlosigkeit autfern kann,
nickt 'gleickma&g in der Uferlosigkeit des Tuns in weltlickem Stoff.
Magiertum, sagte ick, aeke ick kei Keygerling; stellenweise sogar
Salonmagiertum. Weltratsel, das in Gesellsckaftskleidung den Saal
betritt und kofKck ist zu den Damen. Das strenge Auge der Wakr-
keit, geraildert durck ein Monokel. Grauen des Weltwidersprucks
kinter einer kavaliermai?igen Irons urkana. Ein wirkKcker Denker vor
einem zweifellos scknurrigen Parkett, das dock irgendwie zu ibm gekort.
Da merke ick einfuklend Bedroktkeit.
Man soil *sick den Fall Keyserling nickt leickt macken. Hier kat
ein Mensckenkirn seine Faasungskraft betracktlick gest*igert. Was man
als aufgescklossener Geist von der ewigen Weltwerdung intellektuell
erfassen kann, mit Scblangenklugbeit und Taubenfrommigkeit, kat
Keyserling erfatft. Ick glaube durcbaus, dai? eine Stimmung des feineren
Hineinborckens in alles Gesckeken von lkm ausstraklen Kann eine
Stimmung der Gelassenkeit vor den gcspenstiscken Wirbelbildungen Aes
Tags kei gleickzeitiger Bereitsckaft, das Geistig-Eigentlicke durck dieses
Sckaumen unbeirrt kindurckzusteuern. Aber meinen Lungen tun die
Sckwaden von su&m Jesuitentum nickt wokl, die sick in seine At-
mospkare miscken. Die Lust zum Paktieren mit unwertigen Dingen
verdrie^t mick. Die Umnebelung gewisser Strecken der Menscbbeits~
grenzen sckreckt mick ab.
Und nun wieder die Aussetzuug Tag ores vor einer Besucker-
menge, die zuverlassig zu grotfen Teilen aus scbmakkckem Gaffpokel
besteken wird. Amerikaniscke Anpreisung bemake, .Gesckaftigkeit von
lackerlicken Gesellsckaftsrypen, Herandrangen von Traktatckenkopfen und
Dakeigewesenen. Damit der Inder einen gunstigen Eindruck von
Deutsckland mitnimmt! Wcnn er ikn nickt sckon kat; wenn lkm die
deutscken Auf lagenzif fern seiner Bucker und die grenzenlose Pubkzitat
seines Nam ens bei uns nickt scbon sein Verkaltnis zu Deutsckland be~
stimmt baben: dieser Konfluxus von allerband Menscbkeit ward ikm
nickts Neues sagen. Man stelle Ludendorff oder Spengler oder Trotzki
oder die Courtks-Makler offentk'ck aus, so werden sie ebenfalls ge~
zogen kommen.
751
Wir nab en in Europa eine bestimmte Uberlieierung in der Hand-
kakung und Propagierung geistiger Mackte. Ukerliererungen sind mckt
keilig. Jede verdient gepruit, viele verdienen keseitigt zu werden. Aber
sie verlangen, selbst zu inrer v erdrangung, ricktige Einsckatzung, Tkeo—
retisck weil? das ein Politiker wie iveyserling sekr genau. Ick bin aber
der Memung, dal? er diese ricntige Einsckatzung weder bei der Dann-
stadter Organisation seiner Sacke nock bei der Tagore-Ausstellung ke-
kundet hat. Was auszusprecken war, merit aus veracktung seines
Geistwerks, sondern aus der Empfindung seines mckt unbedingten, aber
zweirelios vorkandenen. vv ertes.
M, PALfoLOGUE: KALAJEW
In der ,, Revue dea deux-mondea" erzahlt Maurice Pale"ologue — in
Frankreich konnen Diplomaten acoreiben ! — dieae erachutternde Begegnung
der Grotffiiratin Elisabeth Feodorowna mit dem Studenten Kalajew, der
ihren Gatten, den Grotffiiraten Sergius, getotet hat. Vor der antiken Grotfe
dieses Zusaromentreffens verschwindet alle Opportunitatspolitik dea Abendlandes.
Als der Groi?furst Sergius am 17. Februar 1905 urn 3 Ukr
nackmittags ma Wagen durck Moskau rukr, warr der Terrorist Kalajew
erne Bombe nack ikm, die Sergius in Stucke zerril?.
Die Grol&urstin Elisabetk befand sick gerade nn Kreml, wo sie
eine Rote Kreuz- Arbeit fur die Verwundeten der Mandsckurei or-
ganiaierte. Bei dem furcktbaren Larm der Explosion eilte sie kerba, so
wie sie war, okne Hut. Man sak, wie sie sick aur den Korper ihres
Gatten wari, dessen Kopf und Arme, vom Rumpr getrennt, unter den
Trummern dies ^Vagens lagen. Dann kekrte sie ins grotffurstKcke Palais
zuruck und vertiefte sick in glukendes Gebet.
Wakrend der fiinf Tage vor den Leickenfeierlickkeiten korte sie
nickt auf zu keten, Diese lange Andackt inspirierte sie zu einem selt-
samen Sckritt. Am Tage vor der Beerdigung bat sie den Polizeiprasidenten
zu sick und befakl ikm, sie sofort in das Gefangms Taganka zu rukren,
wo Kalajew vor semem Ersckemen vor dem Kriegsgerickt in Hart ge-
kalten wurde.
Sie ging in die Zelle des Morders und sprack zu ikm: „AVarum
kaken Sie meinen Mann getotet? Warum kaken Sie Ikr Gewissen mit
einem so sckrecklicken Verkrecken kelastet?" Dem Gerangenen, der sie
zuerst mit bosem und mil?trauisckem Blick empfangen katte, war es aur-
752
fallend. dai? sie mit Milde sprack und nickt der „GroJ(?furst sagte, sondern
.,mein Mann". ,Jck kake Sergius Alexandrowitsck getotet , antwortete
er, „weil er sick zum ^Verkzeug der Tyrannei und zum Auskeuter der
Arkeiter gemackt katte. Ick kake das Urteil des sozialistiscken una
revolutionaren Volkes vollstreckt". Sie antwortete wiederum senr sanrt:
.,Sie irren sick, mein Mann liebte das Volk und war nur auf sein \Vonl
kedackt. Fur Ikr Verkrecken gibt es keine Entsckuldigung. Lassen Die
ak von ikrem Stolz und kereuen Sie. ^A^enn Sie den Weg der Reue
kesckreiten, werde ick den Kaiser kitten, Iknen das Leken zu sckenken
und von Gott werde ick erf leken, datf er Iknen verzeikt, wie ick Iknen
sckon verzieken kake." Der Gefangene war von dieser Spracke ekenso
ketroffen wie uberrasckt, aker er katte die Kraft, der Groisfurstin zu
aagen: „Nein, ick kereue nickt. Ick muf? fur meine Sacke sterken; ick
werde sterken." „D«± sie mir jede Moglickkeit nekmen, Ikr Leken zu
retten, lassen Sie mick wenigatens Ikre Seele retten, da Sie kald vor
Gott treten mussen. Hier ist das Evangelium. Lassen Sie es is ick Iknen
vorlesen kis zur Stunde Ikres Todes." Er mackte eine akwekrende Be*-
wegung und antwortete : „Ick werde das Evangelium lesen, wenn Sie mir
gestatten, Iknen mein Tagekuck vorzulesen, damit Sie versteken warum
ick Sergius Alex an dr o wits ck getotet kake." „Nein, nickt ikr Tagekuck;
ick will nur fur Sie keten." Sie ging fort und lietf das Evangelium zuruck.
Sie sckriek an den Kaiser, um Gnade fur den Morder zu erlangen.
Die Offentlickkeit katte von ikrem Besucke im Gefangnis Taganka er-
fakren. Seltsame, romantiscke Versionen liefen um; man glaukte, Kalajew
katte eingewilugt, ein Gnadengesuck emzureicken.
Einige Xage spater erkielt die GroKrurstin vom Gefangenen einen
Brief, der ungefabr folgenden Wortlaut kat: Sie kaken meine Lage
miiTbrauckt. Ick kake keine Reue kewiesen, denn ick kake keine em—
pfunden. Wenn ick Sie angekort kake, so gesckak es desk alb, weil ick
in Iknen die keklagenswerte Witwe eines Mannes erbkekte, den ick
getotet kake. Ick katte Mitleid mit Ikrem Ungluck, weiter nickts. Die
Auslegung, die man unserer Zusammenkunft gikt, entekrt mick. Die
Gnade, die Sie fur mick fordern, will ick nickt.
Der Prozefi nakm seinen Verlauf; die Untersuckung zog sick sekr
lange kin, well man vergekens die Mittater suckte, deren rlaupt Boris
Sawinkow war. Im Mai wurde Kalajew zum Tode verurteilt. Ala
am nacksten Xage der J ustiz minister keim Kaiser zum Vortrag ersckien,
fragte er lkn, ok er die Aksickt katte, Kalajew zu kegnadigen, wie die
Grotffurstin EKsaketk geketen katte. Nikola us II. verkarrte in Sckweigen;
753
dann KeK er nacblassig die Worte fallen: „Haben Sie nicbts Anderes
in Inrem Portefeuille?" Und er verabscLiedete ibn. Aber bald Janack
hcU er den Direktor des Polizeidepartexaents kommen und gab ibm einen
gebeimen Befebl.
Kalajcw wurde von Moskau nacb dem berucbtigsten Staatsgefangnis
aer Festung Scblusselburg gebracbt. Am 23. Mai urn 11 Ubr abend*
erscbien der Staatsanwalt Feodorow, der die Untersucbung gefubrt batte,
in der Zelle dee Verurteilten, den er fruber als Student gekannt batte
wnd erklarte ibm; ,Jcb bin ermacbtigt, Ibnen zu sagen, daf? seine Kaiser-
licbe Majestat geruben wird, Sie zu begnadigen, wenn Sie urn Gnade
bitten. Kalajew antwortete rubig und fest: „Nein, icb will fur meine
Sacbe fiterben.*" Feodorow spiacb mit aller Beredsamkeit auf ibn ein.
Kalajcw weinte, aber er gab nicbt nacb. Scblie#licb sagte er: „Da Sie mir
80 viel Mitleid erweisen, lassen Sie micb an meine ' Mutter scbreiben."
,Ja, scbreiben Sie, Icb lasse Ibren Brief sofort befordern/* ALs der
Get an gene mit Scbreiben zu Ende war, macbte Feodorow nocb einmal
den Versucb, ibn zu uberreden. Kalajew blieb fest: ,Jcb will und icb
mutf sterben. Mein Tod wird meiner Sacbe nocb nutzlicber sein, als-
der Tod des Groi?fursten Sergius es gewesen iat. Der Staatsanwalt be-
griff, dai? es ibm niemals gelingen wurde, diesen unbeirrbaren W'illen zu
brecben; er ging binaus und ordnete die Urteilsvollstreckung an. Um
1 Ubr mittags wurde Kalajew in den Festungsbof gefubrt und ging
obne "Widerstand an den Galgen. Er lie# sicb den Strick um den
Hals legen, obne ein ^iVort zu eprecben.
Nacb dieser Tragodie bielt Elisabetb Feodorowna ibr weltlicbes
Leben tur beendet. Von nun an bescbaftigte sie sicb ausscblieiZlieb mit
religiosen Ubungen, ibr ganzes Leben weibte sie Werken der Barmberzitf-
keit und der Askese.
Am 15. April 1910 verwirklicbte sie einen lang gebegten Lieblings-
plan: Sie begrundete eine Frauengemeinscbaft, deren Abtissin sie wurde.
Martba und Maria geweibt, erbob sicb das Kloster in Moskau in einem
dtadtviertel auf dem recbten Ufer. Die Nonnen widmea sicb vor allem
der Kranken- und Armenpflege, Aber bevor die Grotffurstin dem
weltlicben Leben entsagte, befiel sie ein letztes Mai der Wunscb nacb
Eleganz: Nacb ibren Angaben mutfte der Maler Neaterow, ein Moskauer
Kainstlet\ an Kleid entwerfen, ein seltsam einfacbes Gewand von bira-
tiscber Scbonbeit und Strenge.
Die Beziebungen der Grotffurstin Elisabetb zur Kaiserin Alexandra.
sind nicbt berzlick Der eigentlicbe Grund ibres Zwieepalts ist Rasputin..
754
In Jen Augen der Grotf/iirstin Elisabetb Feodorowna iet Rasputin cin
Betruger und Heiligtumsscbander, ein Sendbote des Satans. Semetwegen
baben die beiden Scbwestern oft gestritten : Jetzt sprecben sie mcbt mebr
mitemander. Ein anderer Grund ibres Zwiespalts ist ibr Wetteiter, sick
in Askese und Mildtatigkeit zu uberbieten. Jede glaubt sicb der Anderen
an tbeologiscbfn Kenntnissen, an Austibung der Evangelien~Gebote, an
Versenkung in Gott und Verebrung des Kreuzes iiberlegen. In Zarskoje~
Selo erscbeint die Grotffurstin Ebsabetb nur ganz selten.
friedrjch wolf DER LETZTE MOPS
oder : Die AX^iedergeburt der Erde
Das Problem lag auf der Hand! Aime war ein Rassemops, blut-
rein bis zur Dido von Kartbago. Er war der einzige, der den Brand
der puniscben Veste uberlebt. Kraft seines Blutes ! Nie war das
Elixier eines seiner Abnen anders denn mit pboniciscbem Element gemiscbt.
Das war sein Stolz und Stab.
Er batte keinen Sprof?. Er geborte der Witwe eines Privatus in
der Lindenstratfe. Das beif?t, es ging ein Gerucbt, das tierabnlicbe Wcsen,
das der Oberstleutnant a. D. an einer Leine binter sicb berzog* sei eine
M opsin gleicb untadeligen Stammbaums.
Nicbts batte naber gelegen, als beide seltenen Exemplare, die m
ibrem Fett und Blut verbrannten, zu paaren. Allein der Oberstleutnant
a. D. straubte sicb entscbieden gegen die Vermiscbung der M opsin, die
eeinen Namen auf dem Halsband trug, mit einem Zivilmops. Gesellschaften
zur wissenscbaftlicben Erforscbung ncbteten Bittscbreiben ; em nambafter
Kynologe, zudem Kamerad, spracb vor ; der Oberstleutnant widerstand.
*
Aime — seinerseits erwacbte eines Morgens in seiner K.orbwiege,
streifte nacb einem abnungsvollen Frubknurren die gebakelte Decke: ,Ja,
wir Hunde sind clock b ess ere Menscben ! zuruck und ermittelte nach
einigem Han und Her, dab seme Eigentumenn, die Privata^ mcbt mebr
aktionsf abig war. Sie war verscbieden.
Aime, im Restbesitz dunkler Triebe, witterte Freibeit und sprang
durcbs Retiradeufenster in den Garten. Sem eigener Herr! — Er stand
auf der Strafe, leinenlos, ungebunden, kraftgescbwellt. Er sog nacb
recbts und links ; nicbts bielt lbn. Etwas nur zog, zog. Er wuKte
nicbt, was es war, nocb wie ibm gescbab. Gexolgt von einer Kolonne
Mitbunde trabte er vor em femes Haus. Groise Starke uberkam lbn;
755
er warf sein Haupt in den Nacken, sein Mopssckweif peitsckte die
Flanken, und mit einem Grofeiergebrull. das &e Fenster erklirren lief?,
rokrte er jakrlang betrogenes Elementarverlangen zu der letzten seiner
Art. Sckweigend, jedock demonstrative karrten &ie Scbaren der Mit-
kunde. In den Fenstern lagen die Menscben, besorgt, erwartungsvolL,
sckaulustig. Drunten krullte empor der Mops donnernden Urlaut. Plotz-
Kck — dock katte niemand es anders erwartet — zerknallte ein Fenster,
und keraussprang die Mopsin, glassckerbenbespickt, aua dem ersten Stock!
Hock wogte . . . und fast drokte zu gesckeken, was mckt anders als
gesckeken konnte .... da trat der Oberstleutnant aus dem Haus, jede
Fiber gestrafft, kleicke Entscklossenkeit in den mannkcken Zugen. in der
Faust eine Reiterpistole. Er sckol? sie meder. Sie!
Und versckwand. —
Dies alles war das Werk eines Augenblicke, zugleick aber das
Samenkorn endlosen Gesckekens.
Hockauf sprang. Aime und sank scknaubend uber die tote Mopam.
Aufkriillten tausende von Mitbunden. Das Viek in den Stallen brullte.
Hunderte von Katzen miauten, Kakadus scbrieen, Ziegen meckerten,
Laubfroscke sprangen korbar gegen ikre Glasdeckeln, Kanai^envogel ver-
weigerten die Nakrung! Brave Bierwagengaule zernssen die Sielen und
donnerten ubers Pflaster, dal? die Scbauf enster splitterten ; Kuke wandelten
rollenden Auges uber die Leipziger Stratfe und fra#en Cbicoree und
Ananas aus den Delikatesseladen. Myrtaden der Geister domestizierter
und vermensckter Tiere flatterten, stampften, brausten rackescbnaubend
durck die Stein wiiste und die Glaskerker der Stadt. Scbon sp route
Gras durck den platzenden Aspkalt. Vereinzelt lebten nock Menscben
auf Dackern und in Kassensckranken. Uber verfallene Baknkore und
Ministerien wolbte sick sekr statig die milde Bucklung von Maul-
wurfskugelri. —
Ein grotfes Verdienst aber batten die Spatzen und Tauben. Be-
vor sie ikrer Urfreikeit sick kin^aben und ^ie ekemauge Stadt ver~
lie#en, sturzten sie in Wolken uber einen Guterbaknbof : es spntzte
Gerste und Korn; vom Wind und Flugelscklag verstreut, staubte es
Tiber die niedermalmende Metropole.
Bei einem Marzregen crkob sick die Erdc, grim, grim, grun, Nur
aus einer W^iese spiel?te kandkock, sckief, sckwarz und weil? ein seltsames
Gewacks; darauf nock stand: ,,Die geekrte Kundsckaft wird gebeten . . .
Eine weidende Kuk stampfte es in den Grund.
756
STEFAN SZfeKELY DAS MADCHEN
FriiKling. Sonnenachein. Stimmung. Baume. Blumen. Duft. Der
Jungling. Das Madchen. Und tiefc Stille. Grofiartige, andacHtige
FruhlingsnacHmittaga-Stille.
Der Jungling: (weick) Und dann sak ick Sie, wie Sie sick gegen die
Saule leknten, em wemg mude vom Tanzen, ermtzt, das
Gesickt gerotet . . . Da sak ick Sie zum erstenmal . . .
Dann, zwei Wocken spater, im Tkeater — Sie sai?en
in der dritten Loge links, mit Ikrer Mutter, im dun Idea
Seidenkleid, das Haar einfack nack kinten gekammt
und . . . und waren sckon . . .
Das Madcken: (sckweigt.)
Der Jungling: . . , Auf dem Ball waren Sie auck sckon sckon, aker
im Tkeater waren sie nock sckoner . . . und . . . una
als ick Sie zum dritten Male sak, und als ick Sie
kennen lernte, an jenem Akend . . . da 'waren Sie
viel sckoner, viel, viel sckoner . . . Und so oft ick
Sie seitker sak, wurden Sie immer sckoner, una:
jetzt . . . jetzt . . .
Das' Madcken: (sckweigt.)
Der Jiingling: . . . Jetzt gekt es nickt mekr weiter , . . Denn jetzt
smd Sie sckon am sckonsten, so sckon, daw Sie garnickt
mekr sckoner sein konnen und . * . und . . .
Das Madcken: (sckweigt.)
Der Jiingling: . . . Und jetzt mull ick endlick sagen, dai? ick Sie
lie be, dai? . . . dai? ...
(Stille und Pause.)
Der Jiingling: . . . Warum sind Sie so kleick?
Das Madcken: Ok — nickts . . . Ick kak ein kii?cken viel Kuckei*
gegessen. Fakren Sie nur fort.
(Dratsch von Barbara Fricdmann.)
75T
AUS DEM TAGEBUCH
FRIEDA WALDEN
Vor rtwa funfzekn Jakren sak ick die
Schauspielerin Frieda Wagen am Josef-
stadter Theater in Wien. Sie spielte in
franzosischen StUcken. nickt die derben,
auagelassenen, aondern die geistigen, auf
flinke Plauderei gestellten RoUen. Sie war
damals nickt mekr in der ersten Jugend,
katte einen Grafen Hohentkal gekeiratet,
wurde im Tkeater nur Frau Grafin ge-
nannt und war im Leben etwas unfroh.
Der Graf katte ihr einen Sohn besckert,
der geistig nicbt ganz normal war. Ed
plaudert sick sckwerer und lackelt aick
weniger leicht, wenn man zukause einen
sckwacksinnigen Jungen bat. Aber Frau
"NA/agen war nock immer cine sekr kubscke,
scklanke Erschemung, ikre seidene Blond-
keit cntziicktc, und tie hatte nock immer
ein sekr einladendes, delikates, nur ganz
wenig ahgenutztes Lackeln. Die Huldt-
gungen, denen in Wien eine Sckauspielerin
ausgesetzt ist, die pikante Dinge zu sprecken
weil?, ackienen sie nickt sekr zu interessieren.
Das nannte sie, etwas mude und von der-
<*leicken ubersattigt, „Sckmus".
Kurz darauf keir.atete sie in Berlin
Harry "Walden. Ick wufite nickt re;ht,
ob ick ikr gratulieren oolite. Die Frau
eines ersten Sckauspi^lers sein, besonders
dieses von Frauen umachwarratcn Mannes,
das siekt nur aus der Entfernung wie
Gliick aus. Es gekort sekr viel innere
Festigkeit, sekr viel Toleranz, sekr viel
miitterlicke Liebe dazu, neben ein em aolcken
Mann auazukalten. Von Walden wutften
wir uberdies. dai? eine damoniacke Kraft
ikn immer wieder aus der Bakn wart.
Er konnte mitten aus der Arbeit, an*
Eleganz und Geaellsckaft versckwinden, um
nack ein paar Tagen in ein em Stratfen-
graben gefunden zu werden. Etwas Un-
bandigea warf ikn immer wieder um.
Dieser gepflegte, saubere, woblerzogene
Mensck, aus einer begiiterten kultivierten
Familie stammend, katte in periodiscken
Abstanden eine unbezakmbare Neigung,
sick im Kot schlafen zu legen, Seine
Natur, die auf der Biikne nur Liebene-
wiirdigkeit sckien, katte ihre Untiefen.
W r ar der blonden, vora Leben ohnekin
sckon etwas zerzausten Frieda A\^agen zu
gratulieren, ais eie t von vielen Frauen be—
neidet, sick mit diesem nicbt nur ckar-
manten Manne verband ?
Sie bat viele Jakre feat bei ibm ausge-
kalten. Hat ihre eigene Schauspielerei als
nebensacblick an den Nagel gekangt und
war nur mekr Pflegerin zweier krank-
h after Menscken, ibres unkeilbaren Soknw
und ikree, wie es eckien, keilbaren Harry.
Jakrelang ist es ikrer festen Betreuung ge-
lungen, den Gatten vor Riickf alien zu be-
wakren, kein Zweifel, sie war die starkerc
Kraft, und als sie am Ende dock versagte,
da verstand eie es wenigstens mit grower
Umsickt, Harrys Sckwacke zu verkleiden
und zu verbeimlicken. So sind dem Schau-
spieler andertkalb Dezennien guter Arbeit
ermoglickt worden, kei Reinkardt und im
*^ip£
A2ABO S
758
Burgtheater. Sie ubersiedelten ganz nach
Wxen, bezogen ein reizendes Haus in
Sievering, hart an den Weinbergen. Harry
lebte mit seinen schonen Bucnern und in
den Garten und Buchen dcs Wiener-
xv aide*. Eine rreundlicne Sonne leuchtete
•eine Zeitlang in sein Altwiener Hauschen.
Lctzte Harmlosigkeit und Frohheit hat nie
lange in seiner Seele gewotnt, ein Ber-
liner Trieh zur Unruhe und Betaubung
hat ihn nie ganz verlawen. Frau Frieda
war zum Gltick keine Frau Alving. Sie
satf abends neben ibrera Kammerherrn und
-trank mit, ohne ihn durch Moralspruche
beaaern zu wollen. Die Geschichte wurde
unfrohlicber, weil Frieda schneller alterte
als er und weil es einer Liebenden schwer
fallt, sich nur in der Mutterroile zurecht-
zufinden. tJberdies hatte sie so w«nig
okonomische Talente wie er. Es kam eine
Menge Geld ein und ging ein Heidengeld
auf. Seit 1914 hiefi es sparen. Darauf
veratanden sich Beide nicht. Einmal, tm
vorigen Jahr, aah ich Frau Walden auf
der Strafe wieder, sie war eine alte Frau
mit schlechtem Teint geworden, machte
einen etwas vernachlassigten Eindruck, die
Salondame schien verachlumpt, die Grafin
proletarisiert. In sein Wesen war eine
unheimliche Starrbeit gekommen, eine Ab-
geatorbenheit, die ich mir zuerst nicbt er-
klaren konote. Dann erfuhr ich, daff alle
Drei, Walden, Frau und Stiefsohn, Mor-
phinisten waren. Seine Zerruttung trieb
ihn aus dem Burgtheater, in einem kl einen
Theater spieite er Direktion und ver-
kracbte. Er mutfte aua seiner schonen
Wohnung aus den Weinbergen her aua und
kam, ganz arm, verschuldet, zerriittet, mit
ge*chwachtem Gedachtsis, ohne Kraft der
Konzent ration nach Berlin, wo ihm eine
erbarmungsloa gerechte Kritik den To ten -
schein schrieb.
Jetzt war Frieda schon der armen
Frau Alving ahnlicher. Sie veranstaltete
in dem kummerlich moblierten Zimmer,
wo sie hausen mutften, ein festliches Abend-
csacn mit Rheinwein und Sekt, mit
Blumen und leckersten Gerichten. NacK
dem Souper bekam jeder eine Spritze.
Die Doaia ist groffer gewesen als sonst.
Nachdem die beiden Manner in den er-
loamden Taumel versetzt waren, schnitt
sie Einem nach dem Andern die Adern
auf. Als man Harry Walden fand, da
safi er mit cihobenem Arm da, die Hand
schien sanft abzuwehren, als wollte er
sagen: „Bitte . . . nicbt!*' Aber es gibt
Brief e von ihm, die beistatigen, daff er
seinen Tod von Frieda Wagen erbeten hat,
wie Oswald Alving seine Muater angc-
flebt bat, ihn hinuberzubefordern, wenn
er zu lallen beginnt: ,,Die Sonne . . .
Die Sonne . . ."
In diesem Augenblick ist das Schickjal
von Frieda Wagen noch nicht entschieden.
Wird sie ein gnadiger Tod mit hinuber
ins gemeinsame Grab nehmen? Wird sie
Rede stehen miissen fur eine Tat, die zwei
zerstorte und verbrauchte Leben beendigt
hat? W^ird man die Schwerverletzte auf-
pappeln, dam it sie dann, von rechtswegea,
langsam, in Qual verzehrt, absterbe? Gabe
es noch eine rweite Frieda Walden, sie
zoge die schicksalbringende Spr'tze aua der
Tasche und nulfe der Verwundeten hin-
uber, mit jener ungluckaeligen Entschlossen-
heit, die dieser armen Seele zu eigen war
und die sie bewahren muffte von dem Tage
an, da sie Frau Frieda Walden geworden.
DIE RUSSISCHE GEFAHRTIN
£ ' Werden ia den preuffischen Gericht*-
s'ilen keine Schick sale erfullt? Zerschellen
dort nicht Existenzen? Lebt dort nicht
Wahn und Schuld und Vernangnis das
lctzte Kapitel aus? Man vergleiche die
lebendigen Gerichtsberichte von Wiener
Zeitungen mit den trockenen Tatsachen-
meldungen Berliner Blatter und , wirl
sogleick . erkennen, wie unausgebildet ia
Preutfen der Sinn furs Menschliche ist.
Tragodien sind hier wie. dort. Aber in.
759
Berlin hat Niemand das Ohr fur das
Geschehnis und deshalb auch nicht die
Hand zur Niederschrift. Ich finde in
einer AViener Zeitung den folgenden Be-
richt. Man lese ihn, wie eine Novelle
Ton Maupassant odcr Tschechow. Die
Figuren leben. Sogar der Ri enter, einiger-
mai?en fassungslos vor dem Schicksalhaftcn
der Begebenheiten, scheint ein beseeltes
Verhandlung beim Bezirksgericht Leo-
poldstadt gegen die Scbneidergehilfengattin
Karoline Bbhm wegen Mitfhandlung ihres
Gatten. Die Frau war angeklagt, ihrem
Gatten im Laufe eines ehelichen Zwistes
ein Schaff Wasser ins Bett geschiittet und
ihm dann mit ein em Bajonett mehrere
Stiche versetzt zu haben.
Die verharmte Frau erzahlte, daff sie
seit der Heimkehr ibrea Mannes aus den
Aufregungen nicbt bcrauskomme. Er babe
cine Russia aus der Gefangenschaft mit-
gebracht und lasse sie nun mit ihrem clf-
jahrigen Kind darben, wahrend er die
Russin und deren Kind futtere.
Uberdies babe er, erzahlte die Frau,
scbon die Ehescheidungsklage eingebracht.
Ricbter : Das gibt Ibnen aber kein
Recht, das Leben Ihres Mannes zu ge-
fabrden.
Angekl.: Ich hab* ihn ja nur, weil es
gar nicbt mehr zum Aushalten war, mit
einem Hafen Wasser angeschiittet,
Ricbter : Das Attest spricht aber auch
▼on Stichen mit einem Bajonett.
Angekl. : Die bat mein kleiner Bub,
der sich meiner angenommen hat, dem
Mann beigebracbt.
Ricbter: Das ist ja ganz romanhaft,
wie der elfjahtige Buchutzer seiner Mut-
ter auf den Vater mit einem Bajonett
losgeht!
Nun Tvird der Mann, Schncidergehilfe
Karl Bohm als Zeuge vorgerufen. Er
erzahlte in aichtlicher nervoser Gereiztheit,
die, wia er erklart. eine Folge teiner Lei*
■den in den Tier Jabren Miner Kriegs-
gefangenschaft ist, dai? seine Frau ihm nacb
Rutland geschrieben babe, sie set leidend
und sehe voraus, daf? es in diesem Leben
fur sic kein ,Wiedersehen mebr geben.
diirfte. Er babe, zumal die Frau schrieb,
sie bringe sich ohne ibn besser durch, in
Ruffland gebeiratet. „Das muflten Hun-
derte und Bessere als ich tun, um nur
einigermaflen ein ertragliches Leben fiihren
zu konnen," erzahlte er. Als er hierher
zuruckkehrte, babe die russische Regierung
ihm seine Frau mit ihrem Kind als die
Frau eines Ssterreichischen Staatsbiirgers
nachgescbickt. Icb stand nun mit zwei
Frauen da. Die Wiener Frau macbte
mir das Leben beiff und qualte mich bie
aufs Blut. Ich konnte auch das Kind der
Russin und sie nicbt im Stiche lassen'und
habe sie bei meiner Schwester in Mahren
untergebracht. Meine Frau erstattete so-
fort eine Strafanzeige wegen der Doppelebe.
Ricbter: ^A^as ist dann geschehen?
Zeuge: Bis jetzt ist die Sacbe noch
nicht entschieden. Ich babe versucht, mit
meiner Frau weiter zu leben. Aber sie
hat es soweit gebracht, daf? ich zu jeder
Arbeit unfahig wurde. Sie drobte mir v
mich umzubringen, und dann batte sie
mich korperlicb mitfhandelt. Icb -wall ja
nicbt, datf sie bertraft wird.
Angekl,^ Ich will ihm ja auch ver—
zeiben.
Ricbter: Sie sind ja beide eigentlicb
gar nicht gegeneinander feindlicb gesinnt!'
Vielleicht latft sich die Sache doch noch.
zum Guten wenden. Wie ist es denn mit
den Bajonettstichen? Ibre Frau bebaup-
tet, dafi Ihr kleiner Bub Sie verletzt hat?
Zeuge : Es ist moglich.
derbeste %&hnar£i
760
Angesicbt* dieaer Stimmuag spracb der
Richter die Wiener Frau von der Aa-
klage frei und ermabnte sie, mit detn viel-
gepruften Gatten etwaa Mitleid zn baben.
Der Mann gab nocb an, daff die ruasiacbe
Frau jetzt einen Diensrposten gefunden
babe. „Der Hauptverdruff b«tebt bait
darin, daff die Frau nicbt will, datf icb
micb dea Kindes der Russia, das docb
aucb mein Kind iat, annebme."
Ricbter: Veraucben Sie eben beide,
eine Lebensmoglicbkeit in dieaer Ver^
wirrung zu finden !
Soweit der Wiener Bericbt.
Wie oft, frage icb, bat man einen
preutfiscben Ricbter in so verstandnis-
vollem Tone sprecben boren? Wann, je,
liat ein Berliner Journalist Obren fur
so einfacbe Scbicksalstone gebabtund gezeigt?
1st bier die durre Heiraat der nicbta
ala Correcten?
BtfCHER
Auffenberg - Komarow. Aus
Osterreicbs Hbhe und Niedergang.
Eine Lebensscbilderung, 1921. DreiMasken-
Vtrlag, Muncben 4, 528 S., broacb. 45 M.
Die k. u. k. Arraee zablte, ala sie
in den Krieg zog, unter ibren bbcbsten
Fiibrem zwei Genies: Conrad, Potiorek —
und zwei Talcnte: Auffenberg, Boroevicb.
Die Genies sind gestraucbelt ; Auffenberg
eiegte bei Komarow, in der grbtften Be-
wegungsscblacbt der osterreicbiscben Ge-
scbicbte; Boroevicb bielt am Iaonzo einem
elfmal ubcrlegenen Gegner elfmal stand.
Dieser klcine Moritz Frciberr von
Auffenberg (von sebwabiscbem Uradel)
bat nun seine Biograpbie gescbrieben —
und da er auf der Hbhe seines Lebens
mit auf der Kommandobrucke des bster-
rcichisch-ungarischen Staatstcbiffes stand,
ist seine Geacbicbte zugleicb j'ene von
Osterreicbs Untergang geworden.
„In der Familie Auffenbergs gabs immer
Tragbdien:** ein ferner Vorfabr scbon ift
unter Franz I. rum Gemeral aufgestiege*.
in den Kerker gertoffen und . . , rehabili-
tiert wordea; ala er die Freudenbotsckaft
empfing, traf ibn der HirnschJag. . .
Moritz von Auffenberg, unser Zeit-
genosse, ward 1852 geboren. Ala jungar
Leutnant kam er zum Regiment Benedek;
er bat spater — als Sieger, nicbt als Be-
siegter — Benedeks Los gezogen.
Ein sonderbarer, ecbt oaterreicbiacker
Zufall lenkte die Aufmerkaamkeit Franx
Ferdinands auf Auffenberg : nacb einen
Generalsempfang im Wiener Belvedere
stand Auffenberg nocb plaudernd nut
Feldmarachalleutnant Tialar in der Ecke.
Plbtzlicb nahte sicb der Erzberzog und
zog . . . den General Auffenberg in*
Gesprach uber sudslavische Fragen. Er
meinte, mit Tislar xu reden. Auffenberg
aber erwies sicb so woblbescblagen, so
ideenreich, da£ Franz t Ferdinand dea
klugen Mann binfort nicbt aus den Augea
lietf: Auffenberg wurde Korpskommandant
in Sarajevo, Kriegsminiater — immer voa
des Tbronfolgers Gunat getragen, von der
Scbbnbrunner Clique umso sc heeler an-
gesehen.
Als tfriegsminister vollfobrte er eine
kiibne Tat: er wars, der auf eigene Ver-
antwortung, gegen den einstimmigen Be—
schlui? dea Ministerrats jene 30,5 cm
Morserbatterien einstellte, die nacbmals
soviel belgiscbe und russische Forts in
Staub und Ascbe legten.
Ende August 1914 scblug er sein
Tannenberg und fubrte (da die Nachbar-
armeen recbta und links zertrummert
waren) den Ruckzug an den Dunajetz
durcb. obne aucb nur eine Kompagnie
einzubiitfen; dieaer Ruckzug wird, solaag
ea Militarscbulen gibt, als Muster fur
Bewegung dieser Art gelebrt werdeh.
Ende September 1914 war Auffenberg
abgesagt. Obne Grund — ja, obne d«n
Scbein einea Grundea. Dieses Mannes
sicb zu begeben, war eine Dummheit —
761
nicbt die einzige im gro£en Krieg, die
Habeburg beging — immerbin cine der
grobsten.
Es folgte ein Kesseltreiben gegen
Auffenberg, das aucb wieder cider) nicbt
cinzig dastent in Oaterreicbs Gescbicbte. . .
Man setzte inn in Haft, Licit Haussucbung
bei ihm — angeblicb, urn ihn cines klei-
nen Vergehens zu uberweisen, in Wabr-
teit: um sicb seiner Aufscbreibungen zu
feemacbtigen ; denn man furcbtete, es
konnte aus dem Beacbuldigten eines Tags
•in erbitterter Anklager ersteben . , .
£r bat sicb erboben und scbrieb ein
dickes Bucb ; scbrieb es .nicbt mit Galle;
miocbte ein paar Tranen in seine Xinte.
"Wenn icb beut stockenden Atems
dies Bucb von Oaterreicbs NiedergaDg
leae, fallt mir das ^Wort eines ironiscben
Mundes ein — er gebort einem der geist-
reicbsten Menscben der k. u. k. Armee:
^Auffcnberg* mag sicb mit seinem
Scbicksal abfindcn ; Habsburg bat einst
seinem ^^alle»-tein nocb ganz anders
bedankt/* Roda Roda.
HEINRICH EDUARD JACOBS
„TULPENFREVEL'\
Unlust an der Zeit, in der wir leben,
bat unsere Kiinstler dem Realism us, ja der
Wirklicbkeit Uberbaupt, feind gemacbt.
Ob sicb unsere jungen Dramatiker eyro-
bolistiscbe Pbantasiclander ausdenkcn, in
denen ibre Stiicke spielen, ob sie dazu
▼ergangene Zeiten , vor uns bin bauen,
oder aucb nur unsere eigenen Verbaltnisse
tn uberzeitKcber Verzerrung wiedergeben,
« gescbiebt aus demselben Motiv — und
■lit demselben Ziel: das Gewollte im zeit-
fremden Gewande auffallendcr, bedeut-
samer, gultiger zu zeicbnen.
In Jacobs „TulpenfrcveT* (uraufgefubrt
am 31. Mai 1921 im Mannbeimer National-
Theater mit wannen, von Akt zu Akt.
wachscndcm Wiedernall beim Publikum)
wird ein durcbaus in unsere Zeit passen-
der Stoff, Zusammenbrucb do auf Aus—
beutung einer Luxusindustrie basierenden-
Reicbtums der bollandiscben Tulpen-Grotf-
zucbter im 17. Jabrbundert, in den weite,
durcb das Spekulieren dem Tulpenbandel
verkettete, Volksscbicbten mit bineinge-
rissen werden, gezeiebnet — im bistoriscb
festgelegten Gewande mit Uberzeitlicbem
Hinweis auf den Grundsatz Rousseau 'scber
Etbik: ,,Allea ist gut, wie es aus den
Han den des Scbopfers quillt, allea ent-
artet unter des Menscben Hand. — **
Dieser etbiscbe Grundgebalt, und diese
Tecbnik (einen zeittendenziosen Stoff in
antikisiertem Gewande zu zeigen) ver-
bindet den „Tulpenfrever k zu einer Kette
mit den beiden anderen ^A^erken der
letzten Scbaffemperiode Heinricb Eduard'
Jakobs, des Drama's ,,Beaumarcbais und
Sonnenfels*' (bei Georg Miiller, Muncben
und des Dialoges r £iic Pbysiker von
Syrakua" erscbienen wie der „Tulpen-
frevel" bei Ernat Rowoblt, Berlin).
An Grotfziigigkeit der {Composition,
dramatiscber Wucbt und Farbenpracbt,
stebt dieses Drama iiber den anderen
Scbopfungen Jacobs, an Gepflegtbeit des
Stils, Ecbtbeit des Etbos, Einbeit und
Wirksamkeit scblecbtbin iiber Vielem was
in der letzten Zeit gescbrieben wurde.
Erstaunlicb iet die Vielgestaltigkeit der
Handlung, die vora Kammerspiel im
Hause des Tulpenmagnaten Tbomas Kerke-
ringk zu breitem und bewegtestem'Volks-
drama anscbwillt ; aus dem massigen,
latuen Gewoge der Volksbandlung in
Episodales sicb verlauft, wieder in den
Strom der Gesamtbandlung gebannt wird
und an fast kelner Stelle konstruktiv oder
autferlicb wird. Die kotburniscbe, sebwer
dabinflutende Prosa des Jacob'acben Dramas
ist von eigener Leucbtkraft, obne je un-
dramatiscb zu werden und wird natiirlicb
und bildkraftig empfunden in der Um-
gebung von ZucbtMumen und altnieder—
landiscb gewandeten Menscben.
762
" Die AuHiihrung im Mannheimer Natio-
nal-Theater war recht gut und mit liebe-
voller Einiuhrung bercitet von der Hand
des Herrn Ober-Regiaseur Lotz.
Georg Zivier,
APELL AN DIE PORNOGRAPHEN
Die Berliner Polizei wollte die Berliner
Pre sac davon Uberzeugen, dafl ihr Kampf
gegen die Filmunzucht nicht obne Berech-
tigung ist. Zu dieaem Zweck fiihrte sic
etlicbe Dutzend Filme vor, zu deren Kenn-
zeichnung das Wort ^schweinisch 1 " eigent-
licb zu milde ist.
Da die Menachheit offenbar starkes
Bediirfnis nach Pornograpbie bat, gibt cs
aucb Pornographen. Ich wende micb an
das Minimum von Intellekt und Geschma:k,
das ich in den pornographiachsn Hirnen
vermute und meine folgendes:
Liebe Pornograpben! Ihr verderbt Eucb
dasGeachaft ]a aelbst, indem Ibr der Phanta-
sic des geneigten Beachauers aucb nicht
einen Zentimeter Spielraum IaiZt, Ibr leidet
am Laster des Allzudeutlichseins. Ibr ver-
ekelt uns den nackten Menscben. Stiir2t
Eucb docb auf den bekleideten. Die einxige
Sensation ist, da# in Euren Bildern einxnal
cine angezogene Frau herumlauft. Ibr
Quantitataeseln glaubt, die Menge tut es^
naralich die Menge der incinander ver-
schlungenen GliedmaCen, Ibr, die Ibr
sicherlich gute Geachafte macht, kauft Eucb
einmal Leonardi da Vincis Tagebucb auf
Kaiserlicb Japan. Leonardo meint, nur
dic gottgewollte eingeborene Leidenscbaft
konne die Menscben dazu zwingen, den
Sexualakt, der sicb in Leonardos Kunstler-
augen als Maximum von Hafilichkeit dar-
stcllt, auszuiiben. Ibr wifit gar nichts von
der Kunst der Ubergange. Bei Eucb wird
das Sexuelle nicbt in die Handlung ver-
webt, eg wird keine biibacbe Fabel er-
funden, als deren Schlutfpunkt man sicb
schlietflich einen Vorgang gefallen lassen
wurde, dem wir alle unseren Ursprung
verdanken. Ibr fangt mit dem an und
hort mit dem auf, was das Burgerliche
GeaetzbucbBeiwohnungnennt. Eure einzige
Variante ist, dafl Ibr normale Akte mit
lesbischen Akten abwechseln lafit. Nie ein
Einfall, nie grotesker Humor, immer nur
als Nebenbandlung der Kammerdiener oder
die Kammerzofe, die durchs Schliisselloch
die Wonnen des Herrn und der Herrin
belauschen und achlietflich dem Beispiel
inrer Gebieter folgen. Ein Badekarren,
der sicb im Rbytbmus des nur durch Ge-
dankenstriche auszudruckendenKorperspiels
bewegt, ist das auaschweifendste, was Eure
Pbantasie ausgeheckt bat. Eure Monotonie
erzeugt ticbts als Langeweile.
Der Polizei wiinscbt man in ihrem
Kampf alles Gute, aber man muff sicb klar
daruber sein, dal? die Verachweinung unseres
Sexuallebens das Ergebnis einer nocb nicht
ganz 2000 Jabre alten Unkultur iat. Wenn
die Menscben nicht nur in Scblupfwinkeln
aondern im Lichte liebten, kiinnte die
Deutsche Zentral - Polizeistelle zur Be-
kampfung unziichtiger Schriften etc. aich
anderen Zielen widmen.
Wart Ihr, Pornograpben, weniger geist-
arm, so kiinntet Ibr Euren Verfolgern die
Jagd viel saurer und hindernisreicher machen I
Mt)NCHENER IDYLLEN
Aus den „Muncbener Neuesten Nach-
richten" vom 27. Mai fiscbt ein Freund
des Tage-Bucbes zwei hochat traurige An-
tigen heraua. Die Erate lautet:
9mm
ImnmMttm
763
In der Dankaagung in No. 217 5. 8.
Fran Grete Sebaaf,
«beraalige H of lak a is -Witwe
mnfi es ricntig beiffen I
ebemalige HolUkais-Gattin.
Der Hoflakais-Gattin Sebaaf folgt die
Askiindigung der Detektiv-Familie Wur-
inann :
Statt beaonderer Anzeige !
Fur die vielen Beweise berzlicber
Anteilnabzne in dieaen schweren Tagen
oagen wir, autferatande, jedem einzelnen
zu danken, alien denen, die unaerm
lieben Dabingegangenen die letxte Ebre
erwieeen, ihm Blum en auf a ein en letzten
V/cg mitgaben, innigaten, warmaten
Dank.
Inabesondere danken wir Herrn
Pfarrer Gatzenmeier von der Alt-
katboliacben Gemeinde fur seine Grab-
rede, der Abordnung der Einwobner-
■webr, dem deutscben Detektivbunde,
dem Verband der Detektive Miincbena,
in desaen Namen Herr Tierbacber so
scbon gcsprocben, den Stammtiocb-
freunden, die den Entscblafenen nocb
besonders durcb ibren weibevollen
Gesang ebiien und dem Sparverein
Rbeintal fur ihre berrlicben Kranz-
spendenund ebrendenWorteamGrabe.
Muncben, den 27. Mai 1921.
In tiefer Trauer
Familie Wurmann.
1st Muncben eine Erfindung von Carl
Sternbeim ?
ANEKDOTEN
DER TANZER
Eine Matinee in den Muncben er Kammw-
apielen. Ea tanzco verscbiedene Tanzer
und Tanzerinnen. Vor mir sitzt ein be-
geiatertea, friacbea Madel aua der Provinz,
die angcatrengt bemtiht ist, zu erraten, ok
aie einen Tanzer vor aicb bat oder eine
Tanzerin.
Peter Patbe tanzt eine Paatourelle tm
einem weii?en Kleid, mit einer blonden
Perriicke und blauen langen Suivez-moi
Bandern.
Er iat ferttg, Applaus bricbt loa, er
reifft die Perriicke berunter und acbwenkt
aie grutfend. Darunter flattert sein eigence
balblangea Haar.
Die Kleine vor mir bat An mit atetn-
loser Aufmerksamkcit atudiert, zuletzt mit
freudiger Gewitfheit, — bei dieaem An-
blick aber bricbt ate enttauacbt in die
^/orte aua :
,,Ach nun war icb acbon so aicber,
das iat ein Mann — und nu is es dock
eine Frau !"
DIE GUTE ALTE ZEIT
Einem beute arrivierten Scbriftsteller
ging ea in der Zcit vor dem Krieg baufig
aebr dreckig. Er pflegte dann zu Aacbinger
zu geben. Als er einmal wieder nur nocb
einen Groschcn batte, kaufte er sicb bei
Aacbinger ein Glaa Bier und verapeiste
dazu Brodcben, die ea damals gratis gab.
Ala er daa neunzebnte Brodcben verscblungea
batte, beriibrte eine Hand aeine Scbulter, -
drebte ibn dem Ausgang zu und die Stimme
des handfesten Geachaftafiibrers raunte ibm
ins Obr : „Wenn Sie mal wieder Durst
baben, junger Mann, — die Backeret iat
druben." 1,
INHALT DES LETZTEN HEFTES
(Nr. 23):
Tbomaa Wcbrlin : AnscblulZ-Fallen
Stefan Grotfmann : Waltber Ratbenan
Jobann Georg Jacobi: An die Deutecbea
Friedricb M. Mink: Lenin oder Trotzki?
Paul Ernst: Ein deutscber Casanova
Carl Sternbeim '. Fairfax
Joachim Ringelnatz '. Flie und Ele
Aus dem Tagebuch.
Redaktion dee ,.Tage-Bucb" : Berlin W 35, Potsdamer Stratfe 123 b, Tel: Liitzow 4931.
Verantwortlicb fur den redaktionellen Teil t Stefan Groffmann, Cbarlottenburg. Verlag :
Ernat Rowoblt Verlag, Berlin W 35. Potadamer Strafie 123b. Druck: R. Abendrotb, Rie#*.
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ftetjen i^rer raufteigfiltigen ?unftlecifdjen Aueftattuug
roegen on erfter Stelle und geboten in die QSfidj-eiei
einee jedcn QSudjerltebljabete. 3 U ©efd)en?ea
find fie oottteffUd> geeiguet.
*
Q) b 1 I ft a n d
©OCtl)C
SamtUct)* poet. Sd)tlften
On 15 "Bandtn
©cfermann
©efpcddje mit 6oett)e
On 3 Odnden
§eine
i g C flU6
gebel
poetifdje QDerCe
On 1 'Band
Kleift
SdmtUdje QPecfe
On 5 <8anden
g a b c n :
Stiller
SfimtHcbe QUecEc
On 13 <8anden
IRorifc
3amtUd)t TDtxlt
On 3 <8dnden
£)ebbel
SamtUdje QDer?e
On 10 <8dnden
©eamattfdje 3Dettc
On 4 <Banden
3 to c i f p r q d> i g e Queg Qben;
§omcc6 Odyffee QttibelungenUed
etfe^(fd) und 3>eurfd> On 2 <Banden
1.<Band (2. 03d. ecfd)elnt fm fjerbft)
Alt* nnd 2Uuljod)deutfeb,
On 2 *Bfinden
Sbctfefpeare
Cnglifd) und©eutfd), bte f«§t folgende7 <8dnd«: £jaral«t, «omto
und Julio, Bommttnad)tetraum und QDintecmatdjen, Othello,
Kontg C«at, ©ec Koufmann non Q)enedfg, ©t* lofttgen
QDetbtt oon SDfndfoc
pcets eines feden <Bandee in ^olbleinen odec Knnftfcalbtedet
IK 30.— ; tn edjt §albteder odet cd)'t £>albptcgamtnt 7R 50.— und
dec ubUdje Q3ud)t) 5 ndUc-Xc uccungojuf di lag. Sdratlfdjc Aas*
gaben roecden nuc ooUftdndtg geUefect.
Sondecausgaben 3U Gcfd)en?3inecEcn:
©oettje, ©edidjte SbaCefpeate, £>amtet
Oa^olbpttgLin 30.— CngUfd) u. ©eutfdj. On §albpetgt. 2H40,—
$>ie £empelUaffi?crauegaben find dutdj Jede 'Bud)*
bandlung ertjdltlid).
Qlnfer Q)crlQgeoct3cid)ni8 mit Angabe det jnrjeit oot*
cfitigen Auegaben roltd ouf QCDunfdj Eoftenftei oetfandt.
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Soebenist erechienen:
Die Abenteuer qes Herrn
Tartarin aus Tarascon
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DAUDET
Neu ubersetzt von KLABUND
Mit 20 ganzseitigen Litnograpmen und vielen Vignetten
von GEORGE GROSZ.
Preis in Landkoloriertem Einband Mark 30. —
Zu Daudets „Tartarm oat Grosz, < der starkste
satyriscne Zeictner unserer Zcit, Bilder gcscnarfen,
die zu semen test en Aroeiten zu zanlen sincL
Das BucL ist durch jede Buchhandlung
oder durcn den Verlag zu naben.
ERICH R.EISS VERLAG /BERLIN W 62
Daa Tage-Buck / Heft 25 Jakrg. 2 / Berlin, 25. Juni 1921
thomas wehrlin AN HERMANN MULLER
Sind Sie jctzt wirkltcb der Fubrer der sozialdemokratiscken Partei ?
IcK unterscbatze Sie nickt, ick scbatze den Typus Hermann Muller.
Sie sind ein grundanstandiger Kerl, nicbt gerade verwegen, wie Freunde
erzaklen, die in den paar revolutionsaknlicben Novembertagen neben
Ibnen waren, aber dafur besonnen, leidltck klug, Sie sprecken emiger-
matfen franzosiscb (desbalb wurden Sie Autfenmimster), Sie konnen
fliefiend sprecken und dann und wann gibt es in Ibren Reden einen ganz
sebwacben Scbimmer von Humor. Gabe es ein Examen rur Staats-
manner — warum eigentlick gibt es nicbt im Parlament eine geknde
Prufungskommission? — so wurden Ibre volkswirtscbartkcben Kennt-
nisse genugend, Ibre Spracbkenntnisse befriedigend, Ikr sittlickes Ver-
balten lobenswert befunden werden. Mutften Staatsmanner eine gute
Note in selbstandigem Erfassen bistoriscber Situationen erbalten, dann,
freilick, wurde die Zensur weniger gut ausiallen. Sie sind sckon ein-
mal durcbgef alien in den sckweren Sommertagen 1914, als Sie in Paris
Ibren soziakstiscben Genosaen in der Kammer ankundigten, die deutscben
Sozialdemokraten wurden gegen die Kriegskredite stimmen. So er~
leicbterten Sie es Marcel Sembat mit semen Leuten, Mann fur Mann,
scbneil ins Patriotenlager zu zieken.
Aber Ibr seid nun einmal alle nur Innenpoktiker. Es ist ja kein
Zufall, da I? o^ie grotfe sozialdemokratiscbe Partei sick zu ein em Parteitag
vor dem Kriege als Rererenten tur auswartige Poktik Otto Bauer aus
Wien bolen mutfte. Es gibt in der ganzen grouen S. P. D. keine funr
Leute, was sag 1 icb, keine drei Leute, die aucb nur die grouen rran-
zoeiscben, engliscken, amerikamscken Zeitungen regelma&g verrolgen.
Furckterlick ist diese Eingeengtkeit, dieses mckt uber die Grenze-Seken-
Konnen in einer Epocke, in der Alles da von abbangt, deutscbe Politik
aus der AVeltlage abzuleiten. Jetzt feblt die Ubersickt eines Friedrick
En gels, der A^eltblick selbst eines Wilbelm Liebknecbt, a\ie europaiscke
Einfiiklungskraft Viktor Adlers. Unter den Mebrkeitssozialisten gibt
es, Koster ausgenommen, nickt einen Mann, der sick uber o]ie wirt-
ecbaftlicken und politiscken Vorgange autferbalb Deutscblands aus einer
anderen Quelle als der Frankfurter Zeitung informierte. Das Ver-
saumnis wird sick bitter racken. AVaren Sie ein Fukrer, voraufl'-
769
sckauend, vorsorgend, Sie wuraen auf die Sucke nack Kopfen geben
und nickt, allzuquietistisck, der beruLmten Entwickelung vertrauen.
Nun, Ikr aeid hloS Innenpolitiker.
Aber seid Ikr denn Innenpolitiker? In den letzten \Vocken kabt
Ikr Alles getan, um der Deutscben Volkspartei den Eintritt in die
Regierungsmekrkeit eckwer iu macken. Hat das Sinn ? Sie wissen,
daK wir im. Herkst die erste grotfe Panik der offentlicken Meinung
nack Versailles erleken werden. Die Kokle wird immcna verteuert,
die Miete verdreifackt, Alkokol, in Depressionszeiten notiger als je,
wird raat unerreickbar werden. Die Hausfrau wird den Zucker riel
teurer k auf en mussen, auck die Getreide- und Meklpreise werden wakr-
sckeinlick, mit dem Fallen der Mark, gesckweige denn bei Bescbneidang
der staatlicben Zusckiiese, autferordentlick steigen. Die grci?en P£an~
dungen, der Steuer wegen, werden beginnen. Jetzt mul? Versailles und
London ausgefressen werden. Konnt Ikr die neuen Steuern ableknen? Un-
moglick, weil aonet die Reickskrise wieder akut wird. Man kann jetzt
nickt raekr Staatspartei und Oppositionspartei zugleick sein. Steuer**
verweigerung keitft jetzt: Franzosenbegunstigung. In dieser Situation
siegen die verantwortungsvollen Politiker der S. P. D. uber die demago-
giscken. Aber, frage ick Sie, Hermann Muller, was fur ein In-
tereese kabt Ikr daran, der Deutscken Volkspartei die Last der Mit-
verantwortung abzunebmen? Wozu Stresemann in Helffericks Arme
treiben ? Warum die Desperadopolitiker verm ekren ? ^Taktisck be-
tracktet: Warum latft Ikr die Stresemanner das nakrkafte Brot der
Steuer opposition easen?
Die Grunde Eurer Takrik — ack, immer wieder nur Taktik! —
eind klar: Ikr fiircktet wieder einmal die Leute kinter Euck, die U. S. P.,
mit der Ikr Euck uker kurz oder lang wieder versckmelzcn werdet.
Aber so viel Vertrauen zu Euck selbst mutftct Ikr dock baben, um
Euck zu sagen: Die U. S. P.-Leute sind gute Menscken, aber miserable
Musikanten. Sie kaben nack dem November 1918, durck unkeilbaren
JJoktrmarismus Spaltung und Sckwackung kervorgerufen, sie werden
von gelekrten Demagogen geleitet, und es gibt keine scklecktere Misck-
ung in der Politik als den rabiaten Gelekrten. Bei Euck, Mekrkeits-
leuten, 1st kem Fukrer, 1 eider, aber ein gewisser bon sens, wirklicke
Vcrtrautkeit mit den guten Instinkten des deutscken Arkeiters, der ein
oittlicber, kein revolutionarer Politiker ist. Betreibt Politik nickt ah
wiasensckaftlicke Seminarubung, betreibt aie als freie Kunst instiDkt-
ffickerer Arbeiter.
1JQ
WALTHER RATHENAU CBER PRODUKTIONSPOLITIK
II.
Eine dritte Gefakr kake ick zu sckildern, Sie keatekt in der
Konkurrenz derjenigen Staaten, die im Kriege glucklicner gewesen^ Bind
als wir, vor allera in der Konkurrenz der angelsackaiscken Lander.
Vor detn Kriege war der Deutsche uberall, ick will nickt beta up ten,
sekr gerne geseken, aker dock zweifellos gut aufgenommcn. Es waren
una die Handelsverkinduogen mit alien Landern offen, Es gab k ein en
Winkel auf der Erde, der deutscke Produkte nickt kannte und ver-
wertete, und er fukr gut dakei, denn das deutscke Produkt war gut
gearbeitet, prazis, billig und scbon. Der National is mus der Volker kat
diese Verbindung zerrissen, abcr nickt nur das: unser Eindnngen ^ in
andere Lander wird mit grotftem Mitftrauen beacktet. In vielen Lan-
dern konnen wir keute nock nickt reisen, andere Lander verscklietfen
sick una ganzlick. Es wird grotfe Muke koaten, die Verbindung wieder
kerzustellen, die wir reicklick gekabt und benutzt kabes.
Wabrend dieser Zeit aber wacbst empor die Konkurrenz der
angelsacbsiscben ^^elt. In seiner Industrie war England jakrzekntelang
zuruckgeblieben, und zwar deswegen, wed es die tecbmscke Atmospkare,
von der ick gesprocben kake, nickt so stark entwickelt katte wie wir,
England iat im Kriege industriell macbtig emporgewacksen. Ea ist da-
ker nock viel starker emporgewacksen kolomal und nock weitaus starker
politiscb. England entscbeidet keute auf dieaer Seite des Weltmarktes
die Gesckicke einer kalben Welt. Die Industrie Englands, die Wirt-
sckaft Englands, die Finanzen und der Handel Englands kaben Eingang
uberall, das Land gesundet unanzicll, wacbst politiscb an.
Nickt minder gefakrkck ist die Konkurrenz Aroenkas, denn
Amerika, ein Land von wenig stark ausgebtldetem Imperialismus, kat
^ie grotfte wir tsckaft lick e Kraft der Erde dadurck, dal? es stck selbat
genugt, dai? es alle Produkte, deren es bedari, in seinen eigenen Flanken
birgt, dal? es niemals Kaufer zu sein braucbt und jedes Menscken Ver-
kaufer sein mu£ Das amerikaniscke Produkt Wird von alien Landern
verlangt, Amerika braucbt das Produkt keines anderen Landes. Aber
das ist nickt die grotfte Gefabr, sondern die grotfte Gefabr ist die, da(?
das amerikaniscke Land das weitraumigste und reickste aller Lander ist.
Die Frage der industriellen Produktion ist keute mekr denn je eine
Frage des industriellen Konauras. Nur da kann mit vollendeten Mit-
teln produziert werdsn, nur da kann Massenfabrikation und bulige
Fabrikation getrieben werden, wo ein ries en b after Absatz gegeben ist.
Die ^^eitraumigkeit und der Reicbtum Amenkas aber macken Amerika
zum Land des ungekeuereten Konsums. Der Verbrauck Amenkas an
irgendeinem Produkte kann immer so betracbtet werden, als ware er
gleick dem Verbrauck von gans Europa. Nun stellen wir una aker
vor, wie zersplittert, wie feindselig der Konsum dieaer kleinen Diminu-
tivitaaten ist im Vergleick zu der riesenkatten Einkeitswirtsckaft dieses
771
ukerseeiscken Landes! Auf unsrer Seite sckarfste Konkurrenz der klei-
nen Staaten in der Produktion und im Absatz, auf der anderen Seite
eine kolossal konzentnerte Fakrikation von relativ wenigen Unter-
nekmungen, ein rieeenkafter Aksatz, der dem Absatz des ganzen euro-
paiscken Festlandes zuinindest gleickkommt, und ein Aksatz, der berukt
auf eigener Produktion des eigenen Landes, wakrend alle euiopaiacken
Lander lkre Stoffe kaufen mussen. Dai? dieses Gleickgewickt uber-
naupt kaum mekr kerzustelien sein wird zwiscken Amerika und Europa
ist klar, und es ist sekr wakrsckeinlick, dai? in wenigen JakrzeKnten die
ganze europaiscke Politik der Staaten untereinander, die Staaten als
Gemeinkegnff sick umgestalten wird, zwangslaufig, sobald man erkannt
kat, dais diese Zersplitterung der amerikaniscken Einkeit gegenuber gar
mckt mekr Stand kalt. Es drangt sick der Vergleick mit den gesckickt-
kcben Ereignissen vor 2300 Jakren auf, als die ganz zersplitterten kleinen
Diminutivstaaten Grieckenlands trots ikrer enormen Zivilisation und
Kultur sick nickt mehr kalten und vcrteidigen konnten gegenuker der
einkeitlicken Mackt des durck ein Meer von iknen getrennten Roms.
Wir sind nock lmroer bei der Betracktung der Frage, aus welcken
Grunden es notwendig ist, unsere Proiukt on auf eine neue Basis zu
etellen, ura lmstande zu sem, denjenigen Verkaltnissen gerscbt zu werden,
die der Krieg uns auferlegt kat. Da durfen wir ein letztes Element
mckt unerwaknt lassen; das ist die Scbwierigkeit, die sick aus der Ent-
wertung unseres Geldes ergibt, die Sckwierigkeit zu bauea und anzu-
eckaffen. Diese Sckwiengkeit kaben wir niemals zuvor gekannt. Wo
wir es fur erforderlick kielten, Werke zu ernckten, war das Kapital
zur Verfugung. Wo wir Eisenbaknen, Kanale oder Sckiffe brauckten,
wurden sie gebaut ; wo wir Werkstatten vergrotfern mutften, war es
leickt, sie zu errichten. Das kat sick geandert. Heute kostet die Er~
ricktung ernes Hauses nakezu das Zwanzigfacke von dem, was wir vor
dem Kriege dafur kezaklt kaken. Das ist nur ein auderer Ausdruck
der Tatsacke, das wyr verarmt sind, denn an Dollars gemessen, kostet
das Haus nur das Einundemkalbfacke von dem, was es fruker gekobtet
kat; aber wir, deren Geldwert sick gezekntelt kat, wir konnen diese
Gekaude, diese Einncktungen nickt mebr sckiffec. Auck kierin liegt
eine enorme Gefakr fur unsere Zukunft, die wir zu uberwinden kaken.
Wir kaben eorgfaltig umzugeken mit dem, was wir kesitzen. Unsere
Kraft wird mckt mekr in den nacksten Jakren und Jakrzeknten darin
oesteken, dal? wir die Starksten sind im Erricnten neuer Werke, wir
konnen unsere Kraft nur darin sucken, dal? wir die gegekenen Werk-
zeuge, die gegekenen Werke, die gegekenen Bauten und Unternekmucgen
erkalten, dal? wir sie ausnutzen in einer "Weise, wie wir sie nie zuvor
ausgenutzt kaken, das keitft, wir werden abermals kingeleitet zu dem
PrSduktionsproblem, zu der Frage der organisierten Produktion. Immer
wieder werden wir zu diesem Puckte gefukrt : Produktionspolitik ist der
Scklussel unserer Zukunft. Produktionspolitik ist die Moglickkeit von der
sick alieiendenzen desSozialisierungskedurfmsses losen lassen, und wennwu-
die Produktionspolitik als das Zentrum unserer Erwagungen nekmen,
772
werden wir finden, dal? das Scklagwort der Sozialisierung sick auflost
in vollkommen rationell erfa#bare Begriffe.
'Wir baben gesprocken von der Notwendigkeit, die Produktions-
politik zu betreiben, wir wollen ins Auge fassen die Frage, ob sie
_ moglicb ist und wie weit sie moglick ist. Selten find Probleme dieser
Art in fruberer Zeit studiej-t worden. Es berrscbten gewisse zwangs-
laufige Vorstellungen, &e niemals gepruft sind, mit denen die Wwsen-
scbaft sicb nicbt befatfte und die der Praktiker nacb seiner Art erfak-
rungsgemai? zu bebandeln pflegte. So ging man davon aus* dai? die
kockste Moglickkeit eines Arbeiters, zu produzieren. neue Werte zu
scbaffen, nngefabr eingescklossen sei in die Gro&nordnung von 2000 bis
3000 Mark jakrlick. Man glaubte also, dai? man einen Umsatz von
vielleicbt 3000 bis 5000 Mark per Kopf der Arbeiter leisten konne,
mit Ausnabme derjenigen Falle, wo der Arbeiter an einem sebr wert-
vollen Stoff arbeite, wie etwa Gold oder Kupfer oder anderen wert-
vollen Robprodukten und war der Meinung, die Wertsteigerung, die
durcb die Arbeitskraft eines einzelnen Menscben gescbaffcn werden
konnte, sei nur ein Brucbteil dieser, sagen wir 5000 Mark, also etwa
von der Grotfenordnung von 2000 Mark. Man bat die Produktions-
fabigkeit Deutsckknds vcr dem Kriege berecbnet auf einen AiVert von
etwa 42 bis 45 Milliarden Goldmark und diese Recbnung wird unge-
fakr zutreffend gewesen sein. Auck bier kommt man wieder zu dem
gleicben Erfakrungssatz, dai? etwa die Wertscbopfung des einzelnen
Menscben begrenzt sei durcb em Maximum von wemgen Tausend Mark
per Jabr. Man bat aber selten in den Kreis der Betracbtucg die
Frage gezogen, ob denn bier wirklicb eine naturlicke gesetzlicbe Begrenz~
ung der Produktionsfakigkeit dee Menscben vorliegt. Betracbtet man
diese Frage vorurteilslos, so kommt man zu dem Ergebnis, die Produk-
tionsfabigkeit der menscblicben Arbeitskraft kangt in weitgebendem
Ma^e ab von den Einricktungen, die dieser Arbeitskraft zur Ver-
fugung gestellt werden. Sie ist praktisck auf den meisten Gebieten des
menscblicben Scbaffens nabezu unbegrenzt. Es gibt zwar Gebiete der
reinen Handarbeit, wo das menscblicbe Scbaffen in seinem Werte be-
grenzt ist. Es kann ein Koblenkauer, solange ibm keine besseren mecna-
niscben Hilfsmittel zur Verfugung steben als keute, nickt mebr als ein
bestimmtes Quantum Koble fordern. ^^Vobl aber kann zum Bei-
spiel der Arbeiter einer cbemiscbfn Fabrik, die wie ein Ubrwerk ganz
von selbst lauft, sicb lediglick auf Uberwacbungsarbeiten bescbraoken und
dabei Werte erzeugen, die ganz belubig grois sind. Als ein Beispiel mocbte
ick erwaknen, dai? keute der Arbeiter, der an einem Hocbofen arbeitet jabr-
licb ^/erte sckafft — sckaffen ist vielleicbt ein ungeeigneter Ausdruck,
sagen wir besser, dai? unter seiner Aufsicbt AA^erte entfteben — die sicb auf
roebrere Hunderttaufende Mark jabrlicb belaufen. In einer gutgeordneten
cbemiscben Fabrilt, in einem guten Elektnzitatswf rlt werden unter Fub-
rung ernes einzelnen Arbeiters Werte von ungel eurer t>roi?e gescbaffcn.
Es ist abo nicbt rur die menscblicbe Arbeit der Faktor. der die Hobe
der produzierten Werte bestimmt, sondern auck die Einricbtung, die
773
man ihtn zur Veriugung stellt. Die Leitung des Produktionsprozesses
wt entscbeidend dafur, welcne Quantitaten in Arbeit umgesetzt. kristallisiert
werden Iconnen in Werte und welcbes dcr Betrag derjenigen ^^erte ist,
die als Gesamtsumme. ein Land am Ende des Jabres an industrieller
Arbeit fertig-tellt.
Wir konnen also davon ausgeben, dal? der Nutzefiekt der menscb-
Jicnen Arbeitsleistung praktiscb nahezu unbegrenzt ist; wir konnen davon
ausgeben, da(? kein tbeoretiscber Grund dagegen spricbt, dai? 60 Millionen
Menscben, von denen 20 Millionen Erwacbsene Arbeiter sind, dai? ein
Land von dieser Grol?e etwa befjrenzt sein muli mit einer Produktion
von 40, 42 oder 45 Milliarden Goldmark. Wir konnen davon aus-
geben, dai? ein solches Land, wenn es semen Produktionsprozei? ricbtig
leitet, wenn es vollkommen durcbdacnte Einricbtungen ecbafft, ein Viel-
lacbea dieser Werte produzieren kann. Die tbeoretiscbe Moglicbkeit
ist vollkommen gegebea und dai? die praktiscbe Moglicbkeit gegeben
worden ist, das werden wir rinden, wenn wir durcb unsere Industrien
bmdurcbgeben, wenn wir £eststellen, dal? uberall da, wo wirklicb vor-
zuglicbe Einricbtungen gegeben sind, wo wirklicb die Produktionsprozesse
or gams cb ineinanderlauren, die Produktionskraft des einzelnen Menscben
eine auiierordentlicbc, weit uber den Durcbscbnitt binaufgebende ist.
Wenn wir nun mi Vergleicb zu dieser Forderurg der organiscben
Produktion, der durcbdacbten Produktion, der Produktion, die auf emem
Maximum und emem Optimum von tccbniscben Einricbtungen berubt,
wenn wir lm Gegensatz zu dieser Forderung den Zustand ins Auge
faesen, in dem eich unsere AtVirtechaft gegenwartig befmdet, so konnen
wir nur eagen : trotz unse»es berecbtigten Glaubens an die Vor2uelicb-
keit unserer ^Virt^cbaft, wie eie vor dem Kriege war, ist unsere Wirt-
scnait weit entrernt von denjemgen Forderungen, die -wir beute an pie
etellen mussen. Wir waren nicbt zu Unrecbt vor dem Kriege der
Melnung, dal? wir weit uber England standen an tecbniscber Vollkommen^
heit unserer Mittel, dal? wir weit uber Frankreicb standen, dai? wir uns
nur zu vergleicben batten etwa nut Amerika. aber analysieren wir den
Zustand unserer A^Virtscbaft genauer, so finden wir, dai? tr von der
Forderung, die wir beute zu stellen baben, nocb unendlicb weit eDtfernt
ist, aucn wenn wir abseben von denjenigen Zerstorungen, Minderungen
und Verscblecbterungen des gesamten Mecbanismus, die der Krieg und
die der Friede uns gebracbt bat.
(Welter/ Artik.l folgen.)
774
FRIEDRICH M. MINOC DIE TSCHEKA
Es kegt mir nickts daran, Entkiillungen zu kringen, sonat wurde
ick „Das rote Bacli der Tsckeka", welckes die Tsckeka, die russiscke
Oberwackungskommission zum Kampfe gegen Konterrevolution und
Spekulation,' selbst aus Anlaf? des X. Rat ekongr esses verfatft, aber auck
selbst wieder bescklagnakmt hat, kenutzen. Es entkalt die interessantesten
Dinge uber die Tatigkeit der Tsckeka, ikre Wirksamkeit im Falle
Mirkack und bei vielea an der en Gelegenkeiten.
Ick will aber keute nickt von diesem Bucke sprecken, sondern von
dem, was ick selbst erlebt kabe. Ick kake ja in kesonderem Mafie
Gelegenkeit gekabt, die Tsckeka kennen zu lernen.
Die alte Ockranka war ein ^Verkzeug in der Hand des zaristiscken
Regimes. Die neue Ockranka ist das nickt in der Hand der Sowjet-
Regierung. Sie ist vielmekr eine Regierung n e k e n der offiziellen
Regierung, die wenig danack fragt, ob ikr Vorgeken dem Willen der
offiziellen Regierung, der „Diktatur des Proletariats" entsprickt. A^enn
ick in ;den Moskauer Gefangnissen der neuen Ockranka Personen fand,
deren Haft kein Vorteil fur SowjetruiZland war, so fragt e ick mick oft
( — und ick tat es nickt allein — X ok nickt ausgesprockene Konter-
revolutionise in der Tsckeka arkeiten, die nur darauf ausgeken, die autfere
Politik der Sowjetregierung zu ersckweren und den inneren Aufkau
unrooglick zu macken. Warum gekt nun die Sowjetregierung nickt
energisck gegen die Tsckeka vor? Vv'akrsckeinlick aus zwei Grunden.
Zunackst des we gen nickt, weil sie mit der Reinigung der Tsckeka das
ganze Instrument ikrer Diktatur zerstoren wurde und sodann, weil sie
nickt die Mackt dazu kat. Lenins Rede auf dem X. Ratekongrel? kat die
Tsckeka sckon kescklagnahmt! Die Russiscke Kommunistiscke Partei und
, der Rat der Volkskommissare kaben nickt die Mackt, die Tsckeka zu
saukern. Ick kabe sickere Bericnte, dai? die Tsckeka, vertreten durck
Herrn Dserskinski als Obertsckekisten die Wunscke selbst eines Trotzki
absolut mckt beriicksicktigt, gesck weige denn reagiert, wenn ein „Konter~
revolutionar" > wie Lenin ein Anliegea kat. Ick sprecke von Lenin als
einem .,Konter revolutionary Ick will daroit naturKck nickt sagen, dal?
ick lkn selbst dafur kalte. Ick kake ]'a meine Anstckt uker Lenin an
dieser S telle sckon klar ausgesprocken, ick 'will dam it nur andeuten, dai?
selbst em Lenin m den Augen eines eckten russiscken Parteigangers oder
eines ricktigen Tsckekiaten eigentlick sckon ein Konterrevolutionar
ist, und ick zweifle nickt, dai? er langst in der Ljukjanka sitzen wurde,
775
wenn er men
tt eken gerade Lecin ware. Der Name und Einflul? einer
Personkckkeit spielt dock auck in dem „kommunistiscken" Rutland nock
immer eine groi?e Rolle, ekenso wie das Geld. Von der Bedeutung des
Geldes im wirtsckaftkeken Leken kake ick im letzten Artikel gesprocken,
auf die Bedeutung des Geldes im poktiscken Leben sei kier kingewiesen,
Man kann sick mit Geld aus den Handen der Tsckeka loskaufen. Es
ist naturlick sekr teuer, viel teuerer, als dies bei der alten Ockranka war.
Die Preise sind ja wie bekannt ukerkaupt in Rufiland gestiegen. Die
Loskaufpreise sind in Ruffland nock nickt zentralisiert. Moglick, datf die
Finanzakteilung sick mit diefem Proklem gelegentlick nock kesckaftigt.
Die Loskaufpreise regeln sick nack dem Gesetz von Nackfrage und
Angekot. BerGcksicktigt man. datf eine Million Rubel in Rutland kein
KapitaL sondern ein zwar auck dort von jedem keifl erseknter, aker
dock autferst geringfugiger Besitz ist, so latft sick leickt versteken, da£
dieser Betrag nur die Vaiutabezeicknung kei Loskaufpreisen ist. Armer
Proletarier, in wie sekleckter Lage kefindest du dick in dem kommu-
nistiscken Rufland gegenuker dem Besitzenden, dem Sowjetbourgeois, dem
Spekulanten und Sckieber!
Die Tsckeka wirkt wie der „ Willed von dem Sckopenkauer sprickt.
Sie ist uberall. Wenn der Arbeiter-Delegierte im Scklafwagen nack
Moskau fakrt und im Automokil vom Baknkof abgekolt und nack dem
Staatekotel JLux" gekrackt wird, wenn er im Delegiertensaal des „Lux
sein reicklickes und sckmackkaftes Essen verzekrt, wenn er die Sowjet-
kekorden kesuckt, immer ist die Tsckeka urn ikn. Wenn der Delegierte
im „Lux w in seinem Zimmer eitzt und arbeitet, auck dann ist die Tsckeka
urn ikn. Sie sitzt dann im Telefon, im Papierkork und in der Wand.
Wenn der Proletarier im Viekwagen nack Moskau fakrt, wenn der
Rotgardist unter freiem Himmel okne Decke oder Kopfunterlage scklaft,
wenn er sein Blut fur die Interessen der Sowjetbourgeoisie verspritzt
wenn der Sowjetlekrer unterricktet, wenn der Mann zu Hause kei
seiner Frau sitzt und mit ikr sprickt, - immer, immer ist die Tsckeka
unsicktkar zugegen. Alies wartet gleicksam nur auf die Verkaftung
durck die Tsckeka. Holitecker kat ganz reckt, wenn er das Wirken der
Tsckeka als eine Verfolgung, vor der es kein Entrinnen gibt, auffatft.
Die Tsckeka laft sick sekr wokl durck die Worte des 139. Psalm
ckarakterisieren: „Tsckeka, du erforsckest mick und kennest mick. Ick
„sitze" oder „steke auf, so weift du e*; du verstekest meine Gedanken
feme. Ick geke, oder liege, so bist du um mick, und siekest alle
e Wege. Von alien Seiten umgikst du mick, und kaltst deine
von
776
Hand uber mir. Solcbe Erkenntnis ist mir zu bocb; leb kann elc
nicbt begreifen."
Em Net z von Spitzeln und Provokateuren ist uber Rutland aus~-
gebreitet, dem aucb die Vertreter auslanaiscber Regierungen nicbt'
entgeben. Erne besondere Organisation ist die Finnland-Provokation.
Diejemgen, die Rutland gern fruber verlassen, als der R. K. P., der
Sinowjew'scben Internationale, dem Auswartigen Amt und der Tscbeka
lieb let, werden durcb Provokateure freundlicbst eingeladen, die Ausreise
uber Petersburg vorzunebmen, -wo angeblicb ein Herr Karl Eduardowitscn
Stem lbnen gern uber die wenige Stunden entfernte finniscbe Grenze
verbilft. Der Provokateur, stets eine angeblicb sebr einflutfreicbe Per-
sonlicbkeit, besorgt sogar in Lebenswurdigster ^Veise die Reisepapiere
nacb Petersburg, em aui?erordentlicbes Entgegenkommen bei dem russiscben
Bureaukratismus, bringt sie dem Opfer sogar auf den Babnbof und laft
sick scbliei?Iicb nocb mit ibm verbaften. Diese wunderrolle Einricbtung
i5t mit Erfolg ausprobiert und gibt den Untersucbungsricbtern der
Tscbeka die Moglicbkeit, gegen den Delinquenten vorzugeben obne uber-
baupt die politiscben Gesicbtspunkte, die fur seine Verbaftung bestumnend
■war en, zu erwabnen. Man bat si cb durcb seine Han dlungsweise in jedem Falle
bocbst verdacbtig gemacbt, gegen die Sowjetgesetzgebung ver stolen und der
barmlose, von den ganzen politiscben Intriguen, angeblich nicbts abnende
Untersucbungsricbter bedauert unendlicb, dal? sicb der Angeklagte von
einem Konterre volution a r zu einer solcben Tat bat verleiten lassen.
AVenn leb bier von Untersucbungsricbtern und Angeklagten sprecbe,
so dari man sicb nicbt etwa em Gericbtsverfabren vorstellen, wie es
bier in Deutscbland ublicb ist. Der Angeklagte wird unter bewaffnetem
Scbutz aus seiner Zelle zum Verbor gefubrt. Das ist einer der wenigen
grotfen Augenblicke im Leb en des Gefangenen. Wenn die Zelle auf~
gescblossen wird, so sind dret Moglicbkeiten. Entweder man wird zum Arzt
gerufen, oder zum Daprof? (Verbor) oder „wsabodu" (Freilassung bezw. Hin~
ricbtung). Natvirlicb wird die Zelle aucb sonst nocb zuweilen ge off net, aber
das sind so genau vorbergesebene Anlasse, die sicb an jedem Tag wiederbolen,
daK sie selbst bei einem Gefangenen keine besonderen Ereignisse mebr
sind. Hocbstens die Zeit der Essenausgabe ist bemerkenswert. Die
Zelle gleicbt dann einem Raubtierkafig vor der Futterung der Raubtiere.
Zum Verbor wird man dann durcb eine lange Reibe kalter und
dunkler Gange gefubrt. Im Vorzimmer des Untersucbungsricbters mui?
man einige Minuten warten, wabrend deren man Gelegenbeit bat, uber
seine Situation nacbzudenken. Wird man dann zum Genossen Unter-
777
suckungsrickter kereingelassen, 00 keginnt die Inquisition. Man ist nut
Jem Untersuckungsrickter allein. Allenfalls ist nock jemand da, tier
Protokoll fukrt. J e dock kommt es auck sekr kaufig vor, dai? der An-
geklagte das Protokoll selkst sckreiken darr. Das gesckiekt meistens dann,
wenn die Aussagen des Angeklagten so neb en sack lick fur die Bekandlung
des Falles und fur das Urteil sind, dai? der Angeklagte sckreiken kaniu
■was* er -will. AVakrend des Verkors rauckt man „Papirossi , , Auck
der Angeklagte darf raucken, Und wenn er die "25 Zigaretten, die er
von der Gefangmisverwaltung alle zekn Tage kekommt, sckon verrauckt
kat, kekommt er sogar von dem Untersuckungsrickter nock Zigaretten.
Ick kake sogar erlekt, daf? der Untersuckungsrickter, dem Angeklagten
nock einige Vorrate an Zigaretten und Takak in die Zelle mitgegeken kat.
Es ist ukerkaupt nickt ricktig, zu sagen, dal? die Beamten der Tsekeka, seien
sie nun Untersuckungsrickter oder Aufseker, nickt zuweilen durckaus mensck—
lick auftreten und dem Gefangenen gegenuker ireundlick und entgegenkom~
mend smd. Es ist nickt ricktig, die roke Bekandlung als die ukkcke und die
Brutaktat als kervorragendsten Ckarakterzug der Tsckekisten darzustellen.
Das ist sukjektiv und tendenzios. Auck die Tsckekisten sind Menscken
und deswegen sind unter iknen auck alle Typen vertreten.
Man sitzt wan rend des Verkors dem Untersuckungsrickter ganz
kameradsckaftkck gegenuker. Man unterkalt sick Man sprickt von
einem Fall und man wurde ganz vergessen, dal? es der eigene Fall ist;
wenn man nickt durck cine ke?timmte Leere im Magen daran erinnert
wurde, dal? man an der Sacke personkck interessiert ist.
Ein solcker Verlauf eines Verkors ist naturlick nickt eine Norm-
Es gikt auck Verkore, die anders verlaufen. Manckmal wird der Unter-
suckungsrickter sekr ungemutlick und ziekt den Revolver, mit der Drokung,
einen sofort zu ersckietfen, wenn man nickt die MVakrkeit sage d. k. das
zugikt, weswegen man angeklagt ist. Interessant 1st die Bekandlung des
Recktsfalles an sick. Man klagt dort namKck nickt an und kemukt
sick dann als Anklager, die Sckuldkeweise zu er bring en, sondern man
verkaftet und verlangt dann von Apm Angeklagten, daf? er seine Unsckukl
nackweist. Das ist naturlick sckwerer, umsomekr, als in dem Ljukjanka-
Gefangnis (das innere Gefangnis der Tsekeka in Moskau) jeder Verkekr
der Inkaftierten mit der Auflenwelt voUig unterkunden wird und dem
Angeklagten grundsatzlick nickts geglaukt wird. Einen Reck tsk els tand
kat man nickt. Man krauckt ikn ja auck nickt, denn nack der Ansickt
der Tsekeka ist gar kein Reckt zu erweisen, sondern seitens des An-
geklagten das vermeintUcke Unreckt, das ikm gesckiekt, zu widerlegea.
778
Daa Verkor wird nack der Revolverinquisition in den gleicken ver-
kiadlicken Formen weitergefiikrt. Man rauckt seine Zigarette wieder an.
Der Untersuckungsrickter reickt dem Angeklagten eventuell sogar Feucr.
Wakrend des Verkors ist dem Angeklagten grotfte Aufmerksamkeit
anzuempfeklen. Hat der Angeklagte zum Beispiel einen Brief kei sick
gekakt, vielleickt einen Brief ganz karmlosen Inkalts, so wird er vielleickt
gefragt, ok daa zutrifft. Beantwortet er die Frage kejakend, so wird
weiter gefragt, ok er den Inkalt dieses Briefes gekannt kake. Bejakt er
wieder, so ist erwiesen, dal? der Angeklagte ein Konterrevolutionar ist,
Denn erstens sind unter den karmlosen ^Vorten des Briefes konter-
revolutionare Mitteilungcn verkorgen. Der Angeklagte staunt dann, wm
der Untersuckungsnckter alles aus dem Brief kerausliest. Der Angeklagte
«rkennt seinen Brief gar nickt wieder und mul? nun keweisen, dai? der
Untersuckungsrickter unreckt kat. Oder aker, der Untersuckungsrickter
fragt weiter, ok der Angeklagte sick denn auck des Blattes erinnere,
welckes in dem Brief e gelegen kake; er kenne dock den Inkalt des Brief es,
Naturlick weil? der Angeklagte von solckem Blatte nickts. Bei solckem
Verfakren kommen naturlick auck Verweckselungen vor. Der Unter-
suckungsrickter kat viele Akten und dakei kann sekr leickt ein solcker
sckwer kelastender Zettel aus einer Akte in die andere geraten.
Das Leken des Untersuckungsrickters ist ukerkaupt sekr sckwer,
Er mu^ sogar oft nackts arkeiten. Die Konterrevolution kat ja zu sekr
um sick gegriffen. Eke ein Prozel? erledigt ist vergeken Monate, oft sogar
Jakre. Dakei die Ernakrungssckwierigkeiten. Von dem Pajok kann man
dock kei so anstrengender und verantwortKcker Arkeit nickt leken. Man
mutf also seken, wie man durck Spekulation etwas kekommen kann. Die
Sowj etko urge oisie kat auck ikre Sorgen, und dies umsomekr, je kokere
Posten sie im Sowjetleken inne kat.
Nack dem Verkor wird der Angeklagte dann wieder in seine Zelle
zuruckgekrackt. Man ist entweder allem oder mit einigen Leuten zu~
taammen. Die Kammer, in der lck in der Ljukjanka war, sollte fur vier
Personen reicken. ^A^ir waren zuerst auck nur vier, der russiscke
General Kkmkowski, ein Zarenokerst Maskarowski, ein Anarckist und
ick. Nack und nack kamen immer mekr dazu. Selten, dai? einmal
jemand fortging. Der ekemalige Zarengeneral, der sick nack der Oktoker-
revolution der Sowjetregierung zur Verfugung gestellt katte und . if
seinem militarteckniscken Gekiet einen guten Ruf geniei?t, sal? sckon
— man sollte eigentKck sagen: erst — sicken Monate. Er ist nack
cm em weiteren Monat in das Buturka-Gefangnis gekrackt worden. Ick
779
Lake inn aber dort mckt mekr geseken. — Die Kammern fullen sichs
also allmaklick lmmer menr. Sogar ein ncktiger ekemakger russiscker
Furst, Mitgued der russiscken kommumstiscken Partei kam. Dan is
ncktiggekende „Burjuken M , Banditen und Tsckeka-SpitzeL Als kein Plats
menr war, um em Holzgestell zum scklafen aufzustellen, mutften die
Uberzakkgen auf dem Futfboden scklafen. Decken gab es naturLxn nickt.
Man konnte sick mit dem zudecken, was man bei sick katte, A^ar
man 1m Winter verkaftet worden, so katte man eventuell einen Winter-
mantel, war man 1m Sommer verkaftet worden, so katte man naturlick
mckts und dann fror man im AA^inter sekr. Die Heizung funktionierte
in der L]ubjanka im letzten AA^inter zeitweikg. Oft war es aber auck.
sekr kalt. Sekr fursorglick war die Gefangnisverwaltung kinsicktKck
der sonstigen kygiemscken Vorncktungen. Die Fenster, von auf?en mit
Farke besckmiert, so dau man mckt kmausseken konnte, lieKen sick nickt
orrnen. bonstige ventuattonsvorrtcktungen waren auck nickt vorgeseken,
Morgens und abends wurde man unter bewarrneter Bewackung nack der
„Ubornaja (Wasck- und Toilettenraum) gefukrt. Einer der die Parascka
trug (wer die alte russiscke Literatur uber die Sckrecken der zanstiscker*
Geiangmsse gelesen kat, well?, was eine Parascka ist) ging voran. die
anderen iolgten langsam sckweigend im Gansemarsck. Ick mutfte dakex
immer an jenes Gedickt den ken, wo es keii?t: „Voran kam der Meaner
gesckritten^. Dauerte dem Aufseker die Sacke auf der Ukornaja zte
lange, so sckrie er: skarjei (beeilt euck), worauf ikm einer antwortet:;
asitsckass. Dieses Wort „ssitsckass" kat eine Bedeutung, die im Deutsckem
ackwer wiederzugeben ist. Das ^^orterbuck sagt, ssitsckass keitfe sofort*
Das stimmt aber nickt. Ssitsckass bedeutet einen emstweilen nickt naker
anzugekenden fernen Termin.
Leider gestattet mir der Raum nickt, von meinen Erlebnissen ie>
aer lsckeka nock weiter zu bench ten. Ick kabe ja nur einen Bruck—
teil von dem, was ick geseken kabe, angedeutet. Ick kabe nock nickt*
von den Folterqualen des Hungers, des Kellers und des Ungeziefer^
erzaklt. Ick kake nock nickt das Leben in der Buturka dargestellt, vol
oem ]a neuiick Mescktsckerjakow in der „Prawda* erzaklte. Das Leo err
ist naturkek nickt so, wie es die Prawda darstellt. Ick kabe auck nocL
mckt von den rlinncktungsmetkoden der lsckeka gesprocken.
Ick kabe aber alles gesagt, was zur Ckarakteristik der Tsckeka
notwendig ist, und darauf kam ee mir an. Ick will nickt Sckreckens^-
plakate roalen, sondern die Wakrkeit sagen.
780
walther federn WIENER WIRTSCHAFTLICHES
TAGEBUCH
Die Wiener Regierung kat den Staatsvoranacklag fur das zweite
Halkjakr 1921 eingekrackt, der mit fa*t 50 Milliarden Kronen Aus-
gaken und 24 Milliarden Kronen Einnakmen, also mit einem Defizit
von 25.4 Milliarden acklietft. Das ist um 5 Milliarden mekr ala Aie
Halfte dea Defizitea Acs laufenden Finanzjakres. Ea ist also nock keme
Rede von einer Beaserung. Indeasen aind kereita 9 Milliarden neue
Ausgaken fur Personalaufbeaserungen und andereg in aickerer Auaaickt,
lur die die Bedeckung in der Erkokung der indirekten Akgakegekukren,
Takakpreisen usw., gesuckt werden soil. Die Peraonentanfe aind soeken
wieder verdoppelt worden. Die Gutertarife werden ak 1. Juli um etwa
50 °/o erkokt. Dakei ketragt daa durckscknittlicke Jakreaeinkommen ernes
Staatakediensteten jetzt K 122.000 und wenn man kedenkt, da(? im
Durckacknitt davon 3 Familienmitglieder erkalten werden sollen, kann
man aick leickt ausmalen, ok die Beamten mit einem Durckscknittaein-
Icommen von rund 1100 sckw. Franca im Jakr ausretckend kezaklt sind.
Ein Sektionackef, der kockate Beamte nack dem Minister, kat jetzt em
Jakreaeinkommen von kaum 250.000 K, alao nickt einmal Frcs. 2500
und da soil eine gute Verwaltung ukerkaupt moglick sein, Ein Sektions-
ckef kat keute kaum dreimal so viel Einkommen ala ein Hilfsdiener.
Vor dem Krieg katte er 18 mal soviel. Ea gekort viel Selkstverleugnung
fur einen tucktigen Menscken dazu, um ukerkaupt im Staatsdienat zu
kleiken, und man kann aick nickt wundern, dal? die Fluckt der Staats-
k earn ten in private Stellungen immer starker wird. Datf diea der ge-
wunsckte Akkau der Ukerzakl der Beamten sei, -wird man nickt ke*-
kaupten konnen. Ea aind die tucktigsten Beamten, die weggeken.
Eine Sanierung des Budgets durck Verminderung der Peraonallaaten,
die etwa 37 Milliarden K ketragen, wird kaum moglick sein, durck
Steuererkokungen wird ea auck nickt zu macken sein. Dieser Tage
naken die Industriellen einen grotfen Protesttag gegen die unertraglicke
XJkerlastung mit Steuern akgekalten, wokei die Hauptgravamen die Nickt-
kerucksicktigung der Geldenrwertung kei der Steuerkemessung und die
ungekeuerkeken Zuacklage der Lander und Gemeinden kildeten. AkVaa
in Deutsckland kereits im weaentlicken durckgefiikrt ist, die Vereinkeit-
Lckung der Steuern und die Verwetsung der autonomen Verwaltungen
auf einzelne vom Staate nickt in Anspruck genommene Einnakmequellen
und Ukerweisungen aus dem Staatakudget stekt in Deutsckoaterreick nock
781
bevor. Uber diese Zuscblagswirtscbaft wurden groteske Ziffern vorge^
bracht, Landes- una Gemeindeumlagcn erreicben oft wett uber 1000 /•»
in einer kleincn Gem ein de 1050 °/0 der staatlicben Steuer. Da diese den
Reingewinn der Aktiengesellscbaften mit 20 °/0 trifft, kommt es vor, dai?
die Steuern samt Zuscblagen 124 /0 des Remgewmnes ausmacben.
Abnlicbes wird uber die Belastung der nicbt zur ofientncben Reck nun ga—
legung verpnicbteten Firm en, der xlausbesitzer usw. bericbtet. Es ist ja
anzunebmen, dais sicb in den meisten Fallen die Steuerpuicbtigen belies*
indem sie nur emen Brucbteil des tatsaebbeb erzielten Reingewinnes ein-
bekennen, a Der welcbe Verwilderung der Steuermoral mub emtreten, wenn
man bei ncntiger Fatierung urn ein V lertel mebr, ale man verdient hat —
das gent in der gesegneten Stadt Dornbirn in Vorarlberg fast bis zuno
Vierfacben des Reingewinnes — an Steuern entnebten soil.
Aucb die Verminderung der staatlicben Lebensmittelzuscbusse wird
das Heil nicbt bringen. Wobl sind sie fur das Halbjabr mit 10 V* Mil—
liarden K pralimmiert, aber jeder Versucb den Zuscbuf? durcb Erbobung
der Leb ens mittelpr eise zu verminderc, mul? unvermeidlicb zu einer Er-
bobung aller Lobne und Gebalte fubren.
Der Preisabbau bat immer nocb nicbt eingesetzt, aber der Industrie
beginnt es scblecbter zu geben. Sie bat lange Zeit sebr viel verdient,
aber nun druckt die unverkauflicbe AA/are aus der Tscbecboslovakei und
aus Deutscbland und der Export beginnt zu stocken. Ein Automobil-
fabrikant, der kurzlicb in England und den Vereinigten Staaten war,
bericbtet, dai? er die Automobile um die Halite bilKger lieiern konnte,
dai? aber trotzdem ntemand etwas beetellen will. Der A^Veltmarkt ist
ubersattigt und Mitteleuropa bleibt kaufunfabig. So ist nun aucb die
Stimmung der G escbaftskr eise, die sicb bisber bei der allgemeinen Not
sebr wobl gefublt bat — die Bilanzen sind zumeist sebr gut ausyefallen —
arg berabgestimmt. An der Borse gab es einen ausgiebigen Kracb der
Eirektenkurse, als die Krone vorubergebend sicb bob. Seitber ist das
Miutrauen gegen die vrelen neuen Firmcn, die riesige Gescbaftc gemacbt
baben und von denen einzelne zusammengebrocben sind, so grofs, da*
aucb die seitber wieder eingetretene starke Erbobung der Dcvisenkuree
den Effektenmarkt nicbt belebt bat. Bald wird das Pockerspiel die
euizige Ressource der Wiener sein, die von ibrem Emkommen nicbt
ieben konnen. Das Borsenspiel wemgstens, a em weite Kreise gebuldigt
baben, bat vorlaung seine Zugkraft verloren.
782
HUGO VON HOFMAJvJNSTHAL SCH^NE SPRACHE
,Jck lie be diece Spracke, sckreikt mir jemand, sckon um ikrer xormaien
Sckonkeit willen : dasselke Woklgefallen, das mick lmmer wieder zu
diesen Bandcken treikt, rukrt mick auck immer wieder an die lateiniscke
Proea der deutscken Humanist en keran. AVenn ick wenig Genusse
kenne, die sick mit der Kostkarkeit von Huttens lateimscken Dialogen
vergleicken lief?CD, so denke ick da Dei weniger an den lnkalt aid an die
Form. Nur unter den Deutscken ist das Scklagwort mogkek, daK der
G eh alt uDer die Form geke. Die Spracke an sick und zwecklos, soil
und kann Gegenstand und Ausdruck einer Kunet sein. lis kandelt sick
kier um ein Formgeiukl, das den Griecken und Romanen etwas naiv
Selkstverstandlickes ist." Gewii?, das ist ganz ricktig, man darf das sagen,
es deutet in die Ricktung kin, wo die Wakrkeit liegt, aker man muifte
nock ein wenig in ^it Tiere geken, um aui die wirkkeke Wakrkeit zu
kommen. Denn „sckon , das ist ernes von den AA/orten, mit denen die
Leute am gelaungsten openeren und kei denen sie sicr am wenigsten
denken, und v sckone Spracne oder „sckon gesckneken ist ein rrcktiges
Verlegenkeitswort, das dem in den Mund kommt, dem ein Buck meats
gegeten und ein Stuck Prosa nickts gesagt kat. Und dock gibt es
kemen sckonen und auck keinen kedeutenden Gen ait, okne eine wakrkart
sckone Darstellung, denn der Gekalt kommt erst durck die Darstellung
zur AAfelt, und es kann ein sckones Buck okne sckone Spracne ekenso
wenig geken, als ein sckones Bild okne sckone Malerei; und gerade das
ist das Kritenum des sckon gescknekenen Buckes, daU es uns viel sagt,
des Lai? lick gescknekenen aker, aau es uns wenig qder nickts sagt, wenn-
gleick es uns immerkin irgendetwas ukermitteln oder zu V erstand brmgen,
oder Tatkestande vor die Augen iukren kann. Der Tkeologe oder der
Antkroposopk tragt er uns das vor, was mm als kockste Emsickt oder
ukerirdiscke Aknung vorsckwekt — und welck kokerer Gegenstand ware
denkkar als die Zusammenkange unserer Natur mit dem Gottbcken — ,
aker tragt er es in ein em Kaurmannston, in einer akgenutzten Zeitungs-
spracke oder in einer ilauen, stammelnden Bilderspracke vor, so ist es
mckt da; aker Boccaccio kat seine Erzaklungen so kingesckneken, dal?
alles dran tur ewig da ist, und lkr Gegenstand sind die Begegnungen
von Verhekten, Ukerlistungen von Ekemannern und andere sckleckte
Streicke ; aker in lkrer Unzerstorkarkeit und geistigen, man kann nickts
anders sagen als geistigen Anmut, steken diese frivol en Gesckickten neken
den Dialogen des Platon, deren Gekalt der erkakenste ist. So kame
783
man fast in die Nake des Gedankens, es gate keinen an sick koken und
keinen an sick niedrigen Gegen stand, sondern nur Reflexe des unfatflicken
geistig-smuk'cken Weltelementes in den Personen, uod dicsc Reflexe seien
von unendlick versckiedenem Rang und ^A^ert, je nack der Beackaffen-
keit des spiegelnden Geistes. Von den Gegenstanden glettet uneer Blick
plotzlick zuruck auf den Mund, der zu uns redet. Aker auck das
Montaignescke „Tel par la koucke que sur le papier", ist erne auktile
Wakrkeit, die veratanden sein will; denn zwar ganz sickerkcli ist da*,
was den tiefsten Zauker des sckon gesckriekenen Buckea ausmackt, eine
Art von Entkullung der ganzen Person durck die Spracke ; aker diese
Mundhckkeit setzt einen Zukorer voraus ; sotmt ist alles Gesckriekene
ein Zwiegesprack und keine einfacke Autferung. Von dieser Einsickt
aus fallt wie durck ein seitlick aufgehendes Fenster eine Menge Lickt
auf gewisse Vorzuglickkeiten, an denen wir das gutgesckriebene Buck,
die gutgescknekene Seite Prosa — denn Aie Prosa und durckaus nickc
die Poesie, welcke wir kier ketrackten — zu erkennen, und die wir an
ikr x. ervorzukeken gewoknt sind. Eine kekaglicke Vorstellung oder eine
bedeutende kormge Kurze, eine reizende oder eine kukne Art zu ver-
knupfen und ukerzugeken, wokltuende Masse, eine angenekme Ukerein-
stimmung zwiscken dem Gewickt des Dargestellten und dem Gewickt
der Darftellung; die Distanz, welcke der Autor zu seinem Tkema, die,
welcke er zur Welt, und die kesonders, welcke er zu seinem Leser zu
nekmen weii?, die Bestandigkeit des Kontaktes mit diesem Zukorer, in
der man ikn verkarren fuklt, das sind lauter Ausdrucke, die auf ein
zartes, geselliges Vcrkaltnis zu zweien kindeuten, und sie umsckreiben
einigermal?en jenes geistig-gesellige leucktende Element, das der prosaiscken
Autferung ikren Astralleik gikt, und es ist keines unter iknen, das sick
mckt auf den Stil des Rokinson Crusoe ekenso gut anwenden lietfe, als
auf den Voltatres, auf Lessings Streitsckriften ekenso wie auf Soren
Kierkegaards Traktate. Auf Kontakt mit ein em idealen Zukorer lauft
es kei alien iknen kinaus; dieser Zukorer ist sozusagen der Vertreter
der Mensckkeit, und ikn mitzusckaffen und das Gefukl seiner Gegenwart
lekendig zu erkalten, ist vielleickt das Feinste und Starkste, was die
sckopferiscke Kraft des Prosaikers zu leisten kat. Denn dieser Zukorer
mub so zartfuklend, so scknell in der Auffassung, so unkesteckUck im
Urteil, so fakig zur Aufmerksamkeit, so Kopf und Herz m eins gedackt
werden, dab er fast uker dem zu steken scketnt, der zu ikm redet oder
es ware nickt der Muke wert, fur ikn zu sckreiben ; und dock mu(?
ikm von dem, der ikn gesckaffen kat, eine gewisse Unvollkommenkeit
784
zugemutet werden, mindestens eme gewiese Unvollkommenkeit der Cat*
wicklung, da(? er es notwendig kat, aur vieles erst kingerukrt zu werden;
eme stark e Naivitat, dai? er nut dem* was das Buck bring t, wirkhcn
zu ergotzen sei, und dadurck etwaa wesentlick Neues errakren werde.
Vielleickt konnte man emc ganze Rangordnung aller Bucker, und ganz
kesonders dcr kelekrenden, danack auinckten, wic zart und wie be—
deutend das Verkaltnis zu dem Zukorer in lkm erfullt sei : und mckts
ziekt em Buck und einen Autor sckneller kerunter, als wenn man inm
aasient, er kabe von diesem semem unsicktbaren Kkenten eine verworrene,
unacktsame und respektlose Vorstellung im Kopi gekabt.
Es sind also immer ikrer zwei : einer, der redet oder ackreibt, una
emer. der zukort oder liest, und aui den Kontakt zwiscken diesen zweien
laufts kinaus; aber dieser Kontakt gibt, je kedeutender er ist, in je
nokerer Spkare er wirksam wird, urn so mekr das Ubergewickt dem
Gebenden, wakrend der Emprangende in diesen kokeren Spkaren immer
leickter und dunner wird, onne dai? er ireilick je aufkoren wurde, da
zu sein. Wenn Goetke sagt, lkm sei, so oit er eine beite Kant aur-
scklage, als trete er in ein kelles Zimmer, so ist uns ein e Kcktvoller, nut
der kocksten Quelle alien Licktes kommumzierender Geist vorgestellt.
Aber ebenso,, wie diese Eigertsckait, em Lickt zu sein, spuren wir be*
anderen grotfen Autoren andere okerste Quaktaten des Geistes : die Starke,
welcke von der inneren Ordnung mckt zu trennen ist: die wakre Selbst—
acktung, welcke zusammengekt nut der Ektfurckt; die seltene Glut der
geistigen Leidensckaft. In der Darstellung eines solcken Geistea m ein en
war wakrkatt die Welt zu emprangen, und wir empiangen sie aucn,
und mckt nur in den Gegenstanden, die er erwaknt, sondern alles da*,
was er unerwaknt laut, ist irgendwie emkezogen. Gerade die Kraft una
die Ukerlegenkeit, von dem ungekeuren \A/ust der Omge unzakkg viele
xortzulassen — mckt ikrer zu vergessen, 'was die Sacke eines sckwacken
und zerstreuten Geistes ware, sondern sick mit kewutfter Gelassenkat
uker sie kinwegzusetzen; die unerwarteten Anknuprungcn und Verbind—
ungen kinwiederutn, in denen plotzuck eine nack alien Seiten gewandte
Aurmerksamkeit und Spannkrart sick orrenkart ; die scketnbare Zerstreut—
keit sogar endkck und die W 7 illkurlickkeiten, welcke zuweilen reizend
sein konnen, all dies gekort zu dem geistigen Gesickt aea Scknrtstellers,
dem Gesickt, das wir zugleick mit der Spiegelung der lA/elt emprangen,
wakrend wir seine Prosa lesen. >^ie etn Seiltanzer gekt er vor unserea
Augen aur ein em dunnen Seil, das ron Kirckturm zu Kirckturm gespannt
ist, die Sckreckmsse des Abgrundes, in den er jeden Augenblick sturzem
785
konnte, sckeinen fur inn nickt da, und plumpe Sckwerkraft, die uns alle
mederziekt, sckeint an seinem Korper macktlos. Mit Entzucken tolgen
wir sera em Sckritt, nut umso kokerem, je mehr es scneint, als ginge er
aur blotter Erde. So wie dieser wandelt, genau so lauft die Feder des
guten Sck rifts tellers. Ikr Gang, der uns entzuckt und der so eigenartig
let wie eine mensckkcke Pkysiognomie, ist die Balance eines Sckreitenden
aer semen lA^eg verrolgt, unkeirrbar durck die Sckrecknisse und An-
ziekungskrafte einer AkVelt, und eine sckone Spracke ist die Offenbarung
ones unter den erstaunkcksten Urns tan den, untef einer Vielkeit von
Drokungen, V eriukrungen und Anfeckrungen aller Art kewakrte
Gleickgewicktes.
ten inner en.
Alfred polgar FIESCO, NEU INSZENIERT
Der kunstlenscke Leiter des Tkeaters in ^^., mit 17 It Perzent am
Ertrag der Bukne keteikgt, die zu 82^2 Perzent der Firma Mauritius
15raunsckweiger — Klosettsckueselerzeuger und moderner Buckverlag —
gekorte, scklug seinem Kompagnon vor: ,,Spielen wir ,Fi«co von Sckiller \
,,Ick kaure keine Katz lm Sack", antwortete Braunsckweiger, ,.erst
mub lck das Stuck lesen."
,.Nein , sagte er nack der Lekrure. „BoIsckewistiscke Sacken passes
mir nickt. Und die spaniscken Kostume mockten ein Heidengeld kosten/*
,,Das Stuck spielt in Italien, Herr Braunsckweiger. Es ist klassisck
una dock zeitgemai?/*
„Wieso zeitgemai?? Der Sckiller ist dock schon 800 Jakre tot ?**"
,,Sie verweckseln lkn mit Leasing. Jedenialls werden die Zeitungen-
das Stuck nickt verreilsen koniten. Es ist geradezu modern. Vernna
eagt seiner Tockter: „\\/erde Du eine Hure! Ick werde das als Re—
gisseur so kerausarbeiten, dai* die Leute glauken sollen, sie smd bei Hans
Miller."
,, lA'arum spielen wir dann nickt gleick Muller?
,,Muller kekommt Tantiemen. Sckiller kekommt keine Tantiemen/*
,,Darur kosten die turkiscken Kostume ein lieidcngeld. Muller.,
Sckiller, gekuprt, wie gesprungen.*'
„Ick werde Iknen einen V oranscklag xnacken. W enn wir das Stuck
ganz modern inszenieren, expressioniettsck, wird es ein Bombengesckait.
786
Dcr kunstleriscke Leitcr maclite den Voranscklag. Fur Kostume
sctzte er nur cine geringe Ziffer ein. Im AA^esentKcken wollte er sich
mit dem Fundus von ,JKobi auf dem Maskenball" bekelfen, jenem Werk,
dem die materielle Gesundung des Tkeaters zu danken war. Hingegen
belastete den Voranscblag eine macktige Post: ,.Buknen -Vorbau und
Holzstiege ins Parkett .
„Ausgescklossen , sagte Braunsckweiger, „zu teuer.
Der kunstleriscke Leiter crklarte decitiert, daf? er auf Vorbau und
Stiege besteken musse. Das sei er sich als moderner Regisseur scnuidig.
Das Genueser Volk musse aus dem Parkett auf die Bukne kommen, aucn
der Mokr solle uber die Holzstiege sick ansckleicken. Hingegen lieKe
sick vielleickt die Meer-Dekoration der letzten Sxenc ersparen durch
Heranziekung der nock vorkandenen Leinwandwogen aus dem „Bokm in
Am en k a *.
Braunsckweiger kliek kart. Der Regisseur sprack lkm ins Gewissen*
dai? ein Tkeaterdirektor dock mckt nur dem G each aft, sonderh auck dem
Zeitgeist Recknung zu tragen kake. Der Zeitgeist verlange die Holzstiege.
plan konne uber den Expressiomsmus denken wie man wolle, aber eine
moderne Inszemerung okne Holzstiege von der Bukne ins Parkett set
eine solcke Unmogkckkeit, wie em Klosett okne AA^asserspulung.
„Reden Sie mckt in Sacken drein, von denen Sie mckts verstekn.
Fiesco, gut, Fiesco. Aker, mit Holzstiegen und solcken Narriscbkeiten
lassen Sie mick in Ruk. Im Parkett kraucV lck keine Sckauspieler, im
Parkett krauck' ick zaklendes PubKkum."
„Herr Braunsckweiger, mem Ruf als moderner Regisseur stekt auf
dem Spiel. Wenn ick keinen Biibnen -Vorbau und keine Holzstiege
bringe, werden die Leute sagen: „vieux jeu \
„Sollen sie ! Antisemitiscbe Besckimpfungen lassen mick kalt.
„Vielleickt, wenn wir mckt Eicke nenmen, sondern Sekunda-Fickte.
Da kostet der Meterzentner ak Sage nur vier- bis funfkundert/'
„Nickt zu macken.
„Und wenn ick Iknen mem Wort gebe, wenn ick Iknen sebwore,
}a wenn ick Iknen garantiere, dais Fiesco mit der Holzstiege ein Bomben-
gesckaft ist?"
„So gewii? sind Sie Ikrer Sacke?*
' „Ganz gewif/
„Dann werde ick Iknen was sagen. Macken Sie das Gesckaft allein ! Mir
ist Leber, Sie verdienen eine Million, als ick verkere kundert Kronen. Also
entweder Fiesco mit Stiege okne mick oder Fiesco mit mir okne Stiege/*
787
Damit scklol? Herr Braunsckweiger die Dekatte. Aker andern Tags
kam der kunstleriscke Letter wieder auf das Projekt zu sprecken. Er
legte seinem kapitalstarken Kompagnon dar, daff sick, set Fiesco akgespielt,
zu einem Buknenvorkau nekst Stiege, wean man nur sucke, eine ganze
Reike von Tkeaterstacken werde finden lassen und daJ?, verkreite sick in
modern en Dramatikerkreisen die Kenntnis vom Vorkandensein solcken
Requtsits in Braunsckweigers Tkeater, die dramatiscke Produktxon macn—
tigen Anreiz kiervon erkalten wurde. Als Braunsckweiger nock lmmer
unkeugsam kliek, sagte der kunstleriscke Letter : „ Also dann em anderer
Vorscklag. Ick kann aus eigenen Mitteln die Inszenierung, wte tck mir
sie denke, nickt kestreiten. Strecken Sie mir zinsenfrei das Geld vor,
und ick macke Fiesco auf eigene Gefakr."
Der Kompagnon wilKgte exn. Vorkau und Stiege wurden an-
gcsckafft Die Genueser kefen treppauf, treppak vom Parkett aut die
Bukne, von der Bukne ins Parkett. Der Mokr scklick aus mystiscker
Niederung an. Die Versckworenen satfen wie Hukner auf tkrer Steige,
und. Verrina sckmii? den Fiesco die Treppe kinunter ins Meer. Das Stuck
fiel jammerlick durck. Die Leute warren ikr rayonmertes Brot auf die
Bukne, weil sie autfer den arariscken Zigaretten nickts ukler Rieckendes
ket sick katten. Braunsckweiger zitterte um sein Geld.
„Seien Sie unkesorgt", sagte der kunstleriscke Letter. ,,Sie werden
es auf Heller und Pfennig zuruckerkalten. Die Tendenz der Holzpreise
ist eine kausierende. Oder glauken Sie, ick inszemere so ins Blaue
kinein? Ick kake fur Vorkau und Stiege den Meterzentner Holz gezaklt
nut dreikundertacktzig. In langstens einem Monat werde ick tkn um secks-
kundertvierzig verkaufen konnen . . . Hake ick^Ikncn gesagt, dal? das
Stuck ein Bomkengesckaft sein wird, ja oder nem? Ikre Dcnuld, wenn
Sie nickt dakei keteiligt sind . . . ULrigens, wissen Sie, was wir jetzt
inszenieren? ...Hamlet"; Dazu kraucke ick unkedingt 200 Quadratmeter
prima roten Plusck. Das kin ick meinem Ruf als moderner Regisseur
sckuldig."
„Ick wall mir a ukerlegen , sagte Braunsckweiger zagkaft. ,.Aker
sckon war es nickt von Iknen, dafj Sie mick nut „Fiesco" so drangekriegt
kaken. Kunst, etnen armen Kaufmann kineinzulegen, der nickts vom
Tkeater verstektT
788
AUS DEM TAGEBUCH
FREUNDE UND MAZENE
Die arme Frieda Waldcn bat im
Tode nicbt neb en it rem Harry liegen
durien. Herr Dr. Eugcn Robert, der
Direktor, bat den Zeitungen mitteilen
lasaen, datf e r , nicbt Waldens Verwandte,
die Koflten der Beerdigung trage. Scbon.
Edel. Unerwartet gutig. Darf man den
Regiaseur des Leicbenbeg'angnisses fragen,
ob er auch dafiir verantwortlicb ist, dal?
Harry Walden allein bestattet wurde, an
einem an der en Orte, an einem anderen
Tage als Frieda Walden und ihr Sobn?
Schlietflicb baben die drei so an die
xwanzig Jabre miteinander gelebt, ge-
kampft, geliebt, sie aind an einem Tage
in den Tod gegangen, und leicht wird ea
der fiircbterlich entacbloeaenen Frau nicbt
gef alien sein, erst dem Geliebten, dann
Jem Sobn und scbliefllicb sicb selbit die
PuUadern durcbzuscbneiden. Nun, dacbte
die Verzweifelte, geben wir drei gemein-
sam zur Rube. Nein, gebietet der Regis-
seur dea Leicbenbegangnissea, jetzt arran-
gicre icb: Trennung der Toten ! Ge-
trennte Beerdigungen! Getrennte Graber!
Arme Frieda Walden, nocb im Grabe
ache icb das acbiefe Lacbeln Deiner
scnmalen Lip pen.
Du battest aucb iiber das gutbe-
suchte L* icb en begangnis den Mund scbief
gezogen. Es bat allea so tadellos geklappt,
wie immer bei Roberts Premieren. . Un-
zablige Statisten — koatenlos ! — Ver-
wandte, ebemalige Geliebte, Scbwarme-
rinnen, die Bubnengenosscnacbaft, Rickelt
mit einem unvergetflicben Zylinder, Tbe-
aterdirektoren in drolliger Grandezza,
reicbe Leute bei der en Soupers W^alden
ebemals als Tafelacbmuck verwendet
worden. Neugierigc. Kino - Operateure
mit dem Aufnabme-Apparat. Automobile,
Droscbken, Equipagen ! . . . Am selben
Tag erscbien im Wiener Tageblatt eii
kurz vor dem Tode geacbriebener Brief
der Frau Walden : „Wenn Harry fetit
fur vier Monate auaspannen konnte, -ware
es wabrscbeinlicb, dai? allea wieder gut
wiirde, Aber, daa ist unmoglicb, wir
baben kein Geld."' Mit der Halfte der
Summe, die beim Leicbenbegangnia fiir
Autos, Droecbken, Omnibus und Strafien-
babn ausgegeben wurde, ware dem ab-
gebetzten Harry zu belfen geweaen. Nicbt
gereebnet die Spesen des Leicbenbegang-
nisses. Aber Regiaseure fiir Lebens-
rettungen finden sicb sebwerer als Regia-
seure fur Beerdigungen.
Jetzt, da Harry zu verweaen beginnt,
fangt die W^alden-Hauase an. In Wiener
Blattern finde icb folgende Annonce
Mobel und Gegenstande aus der
aeinerzeitigen
Auktion Harry ^Valden
werden von Mazen gegen reicblicbe
Ablose gekauft. Nur autbentiacbe
Besitzer werden gebeten, erentuellen
Falles die Gegenstande vorlaufig
scbriftlicb unter ,,Historia 1 077 1 0"
bekanntzugeben.
BERIINV6
^>HT6ft OEM UMDfiMg
AfcEABO * TtfECHSaBLMANN'
789
Die Mazene! Jetzt kauten sic seine
Schreibtischmappen, seine Schminkdose,
sein Nachtgeschirr. Als er lebte, liefien
sic den Luxusgewohnten, der ein Heim
verloren hatte, in* der trostlosen Unhcim-
Hchkeit Berliner Pensionate triib?innig
werden. Moge Harry Waldens Feder-
stiel dem neuen Besitzer in den Fingern
brennen. Auf den Sammler, der Harrys
Studierstuhl kauft, gehe die Qual und
Unrast deo rechtmatfigen Besitzers uber.
Der Verehrer, der Waldena hisforische
Seidenjoppe gegen reichliche Ablose er-
worben hat, schltipfe in sie und werde
von Glut und Frost und Fieber des An-
deren geschuttelt ! Wenn Harry Waldens
Damonen in seinen Sachen wohnen, so
werden sie, hoff' icb, durch die Satnm-
lung der Mazene unerbittli'cb geistern !
BRIEFE ANS TAGEBUCH
TAGORE IN DARMSTADT.
Verebrter Herr Grotfmann!
Ich appelliere an Ibren Mut und Ibre
Bereitwilligkeit, cine Meinung, die der
offentlicb legitimierten strikt entgegengc-
setzt ist, aucb zu Wort kommen zu lassen.
Sie werden sicb, der Sie sozusagen am
Steuerruder der offentlichen Meinung
stehen, gegcniibcr einera so machtig er-
regendem Phanomen Ibrer besondersgrotfen
Verantwortung bewufft sein und werden
desbalb nicht mithelfen, die Diskussion uber
Tagore bo einseitig weitergenen zu lassen, wie
ea bieber geschah. Icb bitte Sie, mir
sagen zu lassen, d a 1? icb Tagore
fur einen b e d e nk li c he n D t chter
und den hiesigen Teil seiner
Reise fur eine ganz bosartige
Farce halte.
Ich meine namlich — urn das vielleicht
ungeheuerlich klingende dieser Behaup-
tung zu erlautern — da(? man die sicher
anmutigen Gedanken — und Sprachmusik
Tagores nicht mit den ermudeten Ohren
heutiger Europaer anhoren darf (durch
welche der Inder blofi aus Kon-
trast ein gewaltiges Plus erhalt), sondern
da£ man sicb auf den Boden dieser
Geisteshaltung ganz und gar stellen muff,
um Eigenleistung von traditionellem Be-
sitz unterscheiden zu konnen. Denn was
an Tagore bestlcht — das Sordino seines
Sprachtons. die katzenfellbafte Weiche
und Warrac des Gedankens, die aben-
teuerlicbe Kupplung des Kontraren im
Paradox, das tropische Gluhlicht der
Sprachfarbe, die namenlos lockere harte-
loae rhytmischc Form — dies alles stellt
in dcut*cher Spracbe jederzeit ein Ereig-
nis und eine Leistung dar.
Aber im Indischen ist Geist und Laut
der Spracbe derart von so Ich em durch-
trankt (wie man an jedem Ubersetzungs-
bruchstUck indischer Literatur zeigen kann),
da I? das Eigentlicbe hier nicht aufhort,
sondern erst beginnt, (wie man ebenralls
an besagten Bruchatiicken zeigen kann).
Dieses Eigentlicbe fehlt bei Tagore. Jene
Architektur der Viaionen, jener gewaltfge
Zeugungaweg von den Abgriinden der
Intuition zum Kristall der sprachlichen
Form, jene Welt der Gesichte. die einer
Tbesia erst die Legitimation geben (die
der analytische Pbilosopb durch die
rationale Deduktion erbringt), jene Hell-
sichtigkeit des Sprechera, die seine Dogmea
so evident macbt wie geometrische Satze —
das fehlt bei Tagore. Wenn er z. B.
sagt: M der Tod aei etwas Schones — der
Kb' nig sei ein Bettler (und umgekehrt) —
der Arme sei reich (und umgekehrt) —
das Leben sei der Tod (und umgekehrt)" —
00 finde ich das nicht sehr berauscnend.
Grob gesagt: Ich glaube, Aa.6 man damit
keinen Hund hinterm Ofen hervorlockt,
Mit solchen dialektischen Purzelbaumca
kann man gelegentlich die Tiefe des Ab-
surden in der Welt ahnen lassen. bewegt
und ordnet damit aber keinen ihrer In-
nalte.
Tagore ist in Darmstadt! Damit
aktualisiert sich die Angelegenheit und
790
-nimmt cine Gestalt an, die ick vorscklage
bei gelinder Bezeicknung einmal ,,Keiter"
xm nennen. Die „GeseUsckaft fur freie
Piulosopnie" del Grafen Keyserling organi-
sierf die Veranstaltang. Das Heikle dieser
Auf gate soil nickt verkannt werden.
Tagore verlangt Zutritt fur alle Leute. die
lhn seken und sprecken wollen. Nan
sind alle Leute „im keutigen Demtsckland
cine gemiackte Gesellsckaft". Viele leiden
an der Fiktion, das „Volk der Dicktcr
und Denker" wirksam vertreten zu mussen
and lieben die romantische Allure. Da-
■lit kann man flick bei einem gut erzoge-
aen Inder ackwer blamieren. Viele
komroen xu Tagore, wie sic zu BellacKini
nnd der Boaconstriktor kommen. Ea ist
nicht leickt; Deshalb sei dieser Teil der
Veranstaltung mit Roitik versckont.
Tagore aitzt in einer „lauacnigen Laube",
die Leute, die „Wesentlickes" zu aagen
kaben (wie ea in der Presse keifit) cirku-
Ueren vorbeL Dies die Tataacben. Aber
bei den offentlicken Vorleaungen paasiert
«in Malheur. Der Teufel gibt der „Ge-
sellsckaft fur freie Philosopkie" ein, den
Saal 2u garnieren und zwar „a la Inde",
Palmen und Blumen, Blumen und Palmen
illusionieren den bengaliacksten Urwald.
Ick vermiase nock einige Pumas auf der
Galerie und Klapperschlangen an den
Kronleucktern. Und einen Fakir, der
sick lebendig begraben latft, Tagore liest!
Und Graf Keyserling eitzt neben ikm und
«ignalisiert dem ekemaligen Groffkerzog,
wenn eine beaondere schone Stelle kommt.
Zum Schluff kringt er ein dreimaliges
Hock (!) auf Indien aus, in das das Puhli-
kum „begeistert miteinstimmt". (Natur-
lick, dai? das Publikum begeistert ist und
aiiteinstimmt — wozu iat es sonst auck
da?) Also : Hock Indien! Es gcnugt
wokl. Der Berickt kann abgebrocken
werden, zumal die beruhmte Ukr anfangt
4reizehn zu schlagcn und mekr.
Zuletzt uei nock ein Kuriosum rer-
merkt: Da der ekemalige Hof die Sacke
managete, kielt sick auck das Volk der
Hakenkreuzer fur legitimiert, in groffer
Menge zu ersckeinen und pazifistiscke*
Etkos zu scklucken. Wie iknen das wokl
geackmeckt kat? Etwa so, wie dem
Lowen Ali, als er die Vergitfmeinickt
freshen mutfte. Moglick auck, dal? sie sick
geirrt kaben und Tagore mit einem Po-
gromredner verwechselten. Und seine
Versohnungsrede mit einem Aufruf zumi
Revanckekrieg !
W icktiger Nacktrag: Am
Sonntag den 12. Juni erreickte die Feier-
lickkeit ikren Hokepunkt. Tagore wurde
mitten in den Wald gesetzt, das Volk
versammelte sick um seinen Fiirsten und
urn ikn und sang auf die sinnige Auf-
forderung dieses Fiirsten („weil Herr
Tagore so gern Musik kort" — wortlick
zitiert)( „Ick weifi nicht, 'was soil es be-
deuten". Das ist nickt gelogen! Buck-
stab lick wakr ! Die Ukr, die dreizekm
scklagen wo lite (vorkin) — stellt dea
Betrieb ein! Ick weii? nickt, was soil ea
bedeuten !
Duliok! Juku! Junge! Junge!
Tkeodor Hauback.
EIN PROTEST
Mickael Zadora sckreikt mir:
Am 12. Juni veranstaltete die Staats-
oper eine Wekerfeier. Einige Tage vorker
entscklotf sick die Intendanz das Programm
durck die Aufnakme des Konzertstuckea
in F-moll von Weker zu erweitern und
lieff bei mir anfragen, ok ick in der Lage
sei, das Konzertstuck zu spielen.
Die Intendanz legte ansckeinend Wert
darauf, mick als Solisten zu gewinnen.
der teste %&hn&rZi
791
weil kcra andcrer Peanut in 00 kurzcr
Zeit die Mitwirkung uberncbmcn wolltc
•der konntc.
Absicbt der Intendanz war ea, der
musikaliacben Gcdenkfeier fur einen der
groflten deutscbenMusiker durcb Gewinnung
cinea Pianiaten von cinigem Format cine
wurdigc Pragung zu g«ben. Die recbts-
atebcnde Preese bezeicbnet nun meineTeil-
nabme an der W^eberfeier ala „taktlos"
und ,,g«cbmacklos'\ weil icb Pole sei.
Selbst wenn icb ea 'ware, ware der
Entruatungaaturm, den icb durcb meine
Mitwirkung bervorgerulen babe, unver-
•tandlicb. Hatte icb etwa entgegen den
kunetleriachen Intentionen der Inten-
danz aus politiscben Ruckaicbten dem
Andenken Carl Maria v. Webers, dem icb
micb viclleicbt verwandter f uble als mancber
dcutacbgeborenc Musiker, die Huldigung
vcraagen aollen?
Zur sceliacben Berubigung der Erregtcn
crklare icb nun, datf icb in New- York
gcboren und nocb beute amerikaniacber
Burger bin und Polen nicbt beaaer kenne,
ala alle anderen Lander, die icb auf
■aeinen Konxertreiacn beaucbt babe.
Zwiachen der Tataacbe, meiner pol-
niscben Abtaxnmung und den Vorgangen
in Obcracblesien, anlatflicb meines Auf-
tretens in Berlin, wo icb aeit 22 Jabrcn
■ncincn atandigen ^/obnsitz babe, cinen
Zuaammenbang zu kcnstruiereit, acbeint mir
aucb fur nation aliatiacbe, angeblicb der
r cinen Kunst dienen de Musikkritikcr,
•ondcrbar genug.
7*lichael Zadora.
sghOnheitspflege im wiener
WINTER 1918.
Era Proatituiertenmord. Nicbta ungc-
wobnlicbes also. ^Va< e der Beruf nicbt
ana anderen Grundcn in anserer Zeit und
OMcrer Zone wenig geaebtet, er muftc
gecbrt aein, weil er atandig Lcbenagefabr
mit aicb bringt. Heute rot, morgen tot*
Wenn , aucb die Rote geachminkt iat, der
Tod iai ecbt.
Der „FalT', die Kuliase des Wesent-
licben, die Scbale dea Kerna soil kurx
geacbildert werden. Frau Johanna Papier
nacbtmablt mit dem Gatten. Sie macbt
Toilette und verlatft, urn die empfind-
aamen Nacbbarn nicbt zu atoren, moglicbat
gerauacnloa das -Haua. Der Gatte legt
aicb in der Kucbe scblafen, das Zimmer
bleibt fur die Auaubung dea gefabrlichen
Berufea frei.
Eine Stunde apater alarmiert scbon
Herr Markus Papier den Hauameiater,
der die Polizei. Auf dem Divan de*
Berufazimmera liegt Frau Papier, bekleidet
mit Strumpfen und Scbuben, die Strangu-
lationamarken an der Keble, ein paar
Bander, die einer militariacben Leibbindc
cntfitammen, zur Sicberbeit nocb urn den
Hala geaebnurt. Aua dem Mund ziebt
man il*r Stoffatucke, den Knebel offenbar,
der aic am Scbreien bindern aollte. Rascb
tritt der Tod den Menacben an, ea iat
ibm keine Frist gegeben. Ibr vor allem
nicbt, der armen Stralfendirnc, den Un-
bekannten auf seine Abaicbten zu prufen.
Sie iat zufrieden, da£ ibr ao raacb ein
Fang gegluckt. Mcint er ea ebrlicb? Oder
xneint er die drei armaeligen Steine, die
an ibren Fingern f alscben Glanz vorapiegeln ?
Der Tatcr nabm den Hausacbluaeel
(ein aeltenes Gebraucbt stuck in der Stadt
der Sperrsecbserls) mit sicb. So sab der
Gatte, aagt er, nur cinen Scbatten nocb
von ibm durebs Haustor entsebwinden.
„Spurloa*', lautet der Bericbt, ist der
Morder entkommen. Docb nicbt ganz.
Eine fremde Ubr, die aicb bei der Leicbe
findet, die Leibbindebander, die den Hala
der Toten umspannten, aind Zeicben. Die
Polizei nimmt sie begi^rig auf, Uber
cinen gestoblencn Koffer, in dem jene
Ubr einmel verpackt war, uber ein weg-
geworfenea Pakct, in dem die banderloec
Leibbisde entdeckt wird, spurt sie docb
792
cine Fabrte aua, verfolgt sic, und nach
langer Suebe greift sic an ibrem Ende den
heute Angeklagten, der aus einem italic-
niacben Geiangnis ausgelieben wird, urn
endlicb vor Wiener Gescbworenen zu
atebcn. Desert eur, Scbleicbbandler, Be-
truger, Dieb, zwiscben Konstantinopel und
Triest vagierend, cine bose Nummer von
Kriegs-Niedrigatapler, um daa Resultat,
datf nicbt das Interessante, vorweg zu
nebmen: den Geacbworenen waren die
Indizien nicbt ausreicbend, der boffnunga-
volle junge Menscb darf in sein bagno
zuruckkebren, obne den osterreicbiscben
Kerker kennen zu lernen.
Docb dem aurmerksamen Lescr wird
erne Liickc in der ErzaMung nicbt ent-
ganyen sein, und dieae Liickc iet eben das,
urn deasentwillen erzablt wird. Der
Knebel, der angeblicbe Knebel, konnte er
nicbt beweiekraftig zeugen gegen denmorde-
riscben Liebbaber ? Woraua bestand
dieser Knebel? War der weifilicbe Stoff
nicbt aeinTaacbentucb, ein rascb abgerissenea
Stuck seiner Wascbe, das der Wiirger
bentitzte, den Todesacbrei dea Opfera zu
ersticken? Nun, der Scbein trog, ea war
kern Knebel. Markua Papier, der unaur-
merksame Gatte rait dem tiefen Scblaf,
gibt Auskunft. Was dem Mund der an
der Berufekrankbeit Verstorbenen entquoll,
aucb das war ein Teil der zum Berui
geborenden Ausatattung, Ein unbeniitzter
Vorbang wanderte allabendlicb fetzenweise
in die Backentascben der Liebessucbenden,
um fur die Zeitspanne ibrer ^^erbe-
promenade die Hoblen ibrer Wangen
wegzutauscben.
Viel Zeit ist vergangen iiber der poli-
zeilicben Fabndung. Die scbauerlicbe Szene,
die beute im Gericbtssaal reproduziert
wird, liegt mebr als zwei Jabre zuruck,
So alflo — - nocb einmal wird ea ins Ge-
dacbtnis zurtickgeruien — so sab in Wien
der Winter aus, der dem Kriegs folgte.
So sab ea aus in dem Wien, dem die
Kriegsacbuld xur La it fiel, daa den Zorn
der Lander zxx biii?en batte, die sicb voa
seiner Herrscbaft befreit fublten, die Wien
seit laagem baflten und es jetzt in aeinem
Elend ersticken lassen wollten. Sparlicb
nur brannten seltene Gaailammcn auf den
Stratfen. Ea war zu dunkel, als datf ein
prutender Blick der atreicbenden Dime
die Mord- und Raubluat ibres Zufalla-
bekannten verraten konnte. Aber keine
Dunkelbeit genugte, ibm die Locber zu
verdecken, die der Hunger in inr<
Wangen grub. Lustdirnen, FreudenmSdcben
dea Wiener Winter 1918! Die Stotf-
reate, die du zwiscben deine Zanne und
deine scblaffe Haut deines Geaicbtes
atopftest, ao llten daa beacbeidene Mai? der
Fulle, daa aucb der anaprucbalose- ^Voll-
lustkaufer in diesem Wiener Winter noct
erwarten konnte, vortauacben. Nacbdcm die
Wiener Kataatropbe vorbei iat — denn
Katastropben sind keine mebr, wenn sie
sicb einmal in die Lange zieben, — zeigt
dies nie geborte Scbonbeitsmittel nocb ein-
mal in grellem Licbt, was der Winter
1918 in Wien"' war.
Rudolf Olden.
bOcher
Bibliophiles. 1m Dr. Juliue
Sebroder-Verlag, Muncben cracbeint eine
Reibe von Bucbern unter dem Titel
„Meisterwerke der WeitKteratur mit
Originalgrapbik". Gobineaua „Renaia-
f»f4
NriMbChne
793
sauce" Kegt in franxosische Sprache vor,
mit 20 Radierungen von Sepp Frank.
Die einmalige Vorzugsausgabe von 230
Exemplarcn iat auf echtem Japan-Batten
yon van G elder Zonen in Amsterdam g«-
druckt. Wilhelm Raabes farbi'ge Erzah-
lung „Die schwarze Galeere**, cine gran-
diose Episode auo dem Kampf der
Wawergeusen gegen die Spanier hat
Bruno Goldschroitt mit 17 technitich
vollendeten Holzschnitten geschmuckt. Beide
Werke sind cine aulerordentliche Leistung
deutscher Buchkunst,
Friedrich Jarosyl DieMu-
mien von Krenzburg. Erzahlung
aus Livlands Bolschewiken-Zeit, Axel
Juncksr Verlag, Berlin W 35.
Der Roman leidet am Romanhaften,
daa macnt inn mannlichea Lesern geraein-
hin unlesbar. Dieses lcbendig erzahlte
Buch ist von solcbem Romanballast fast
frei. Es gibt eins von Er fab rung ge-
sattigte, echr einpragsame S child erung ernes
interessanten V/inkels der Zeitgeschichte.
Nach diesem Bucb wurde man nicbt ver-
muten, daff Jarosy aelbst alle Martern
des Kampf es fur und gegen die Bolsche-
wiki mit cigencra Leibe erlebt bat, eber
wurde man glauben, er set die ganse
Zeit in einer ltvlandischen Nische oder
Auwicbtswarte gestanden und babe mit
der Ob jektivitat des Dritten z ugesehen
und gelauscbt. So entstand ein leben-
gesattigtes, dokumentarisches BucK!
IlseLindea: Fanny Elssler.
Ullsteinverlag, Berlin 1921, (Bibliothek der
fuafz'g Bucber). Das ist ein reizcnde*,
grazioses, in vielen Bcitragen unvergei?-
liches Bucb fiber die schone unvergefiliche
Wiener Tanzerin Fanny Elssler. Nur
Briefe an sie, von ihr, iiber sie. Die bis
ins -Greieenalter verfuhrerische Frau wirkt
mit elektrisierender Kraft noch durch die
Briefe. Der alte Friedricb Gentz. der
sie 00 lange liebte, bis seine Lebenskraft
erlo«cb, «r«teht neben ibr und binter ibm
der Schatten des grotfen Menschenkenners
Metternich. Use Linden bat mit dem
Takt und Spursinn der sicber blickenden
Psychol o gin die Stucke zu emem blinken-
den Ganzen vereinigt.
W^ olfgangGotz: Daa wildc
S a u s e 1 n (Sibyllen Verlag, Dresden, 1921).
Diese Erzahlung vom verauchten und er-
1 oaten Pfarrer ist cine deutscbe Kunrtarbeit,
deutscb in ibren Voraussetzungen, im
Gegensatz der kleinburgerlichen Figuren
und ihres gott- und weltumspannenden
Gedankenfluges, deutscb in ihrer sorg-
faltigen Liebe zum Detail und in der
Nei'gung, jedem Seitenweg mebr als billig
zu folgen, Der Pfarrberr von Stolkewitz
erfabrt beini Stiftungsfest seines Studerten-
vereins, dal? um seinetwegea vor 30 Jabren
ein junges Madchen in den Tod gegangen.
Der Gottesfiirchtige fallt von Gott ab, der
inn, den Unwissenden, in Sunde gestoften.
Aber die Gute Gottes fuhrt den sach-
siscben Hiob -wit der in den Glauben an
die AUmacht,
Wolfgang Gotz besitzt Getnut und
Ironie, Scbalkhaftigkeit und Einfunlung.
Jean Paul wiirde dieser humor voile n Ge-
scbicbte vom gottesleugnenden Pfarrer
seioen Beifall nicbt versagea.
Hans Jagerl Kranke Liebe
(GustavKiepenbeuerVerlag,Potfldam,1920).
Dieses autobiographische Bucb des Nor-
wegers Hans Jager ftellt ein Maximum an
Exhibitionisraua. an brutalem Wahrheits-
drang dar. Es ist die Beicbte eines
Mannes, der — vermoulu wie Oscar
Alving — mit Sypb lis und an der en
korperlichen und seeliscben Leiden be-
haftct, in to tkr anker Liebe eine Frau urn-
kreist. Die Geliebte gibt sicb ibm bin,
aber Erfiillung seines Begebrens bleibt ibm
docb vereagt ; nie wird der Leidenschaft
Erlosung. Mit dem Rest an Willen und
Lebenskraft, der ibm geMieben, scbreibt
der Sterbende die Geecbicbte dieser
erotiscben Vorgange. Der Menscbbett
ganzer Jammer brullt aus diesen Geotand-
nissen eines Vcrdammten, dem nicbt einmal
794
der letste ^vVunecb g clang, von der Hand
der Geliebten zu sterben.
Hans Jagera dokumentarischer Bfricht,
der uns nichts. abcr auch gar nichts erapart,
sagt mebr uber daa Lcbcn und die Men-
achen, ala tauaend Romane je konnten.
,,Ea ist scbadc urn die Mcnschen", sagt in
Strindbergs Traumspiel die Got tin, die den
Erdgeborenen aucb nicbt helfen kann. M,
W^ erner Scbendcll: Irene,
Erich Retf Verlag Berlin 1921. In dieser
Novelle ist Schendell's Jugend-Z*aespaltig-
keit doppelt spurbar, weil Kurze aller Gc-
aichte zuaammenpretft und das Tempo
heftiger ist : der eniinente Blick, daa
genialische Umrtitfen der Geschehnisse in
Atera und Blutdruck und auf der anderen
Seite : die barocke Wirrung in ihm, alles
in libersteigirten AusHrucken zu sagen
(icb babe das echon bei seinera Roman
,,Di'enerin" geschrieben). Die Grenzen der
Linienfuhrung sind gesprengt, damit alle
Leidenscbaft bindurchquelle, das Tempo
ist getrieben von Erlebnissen aua Krieg
und ^^irreal : Eros ist zugellocker.
Dieje Novelle, Kampf zwischen Mann und
Weib, Kiinetlcr und Kiinstlerin ist iiber
Hun der te hinau3g*hoben durcb Sehkraft,
UmriGtechnik und Blutfullung. Friiher als
der Roman gescbrieben, aber nach ihm er-
acbienen, off^nbart sie d<:n ^^rg, auf dem
Scbendcll herkommt und offnet den Blick
fur die straff e Selbstzucbt seines Sohaffena ;
dcutet uber die gereiftere ,,Dienerin" das
Komroende. Sie ist wertvoll als Er-
kenntnis der Wandlung von der Herrach-
kraft des Weibes zur Dicnenden, sie iat
bedeutaam ala Stunde, B.
DAS GIBT ES
Aua der SchLesischen Zeitung fiscbt
ein Freund dea Tage-Buch folgendes In-
serat heraus:
Fein. tfeb. Herr in mittl. Jabr.
als TisdihePF t\l ■, ';!*.•£
Zuschr. o. T. 19 Got. Scblei. Zttf.
Bei dieaer kleinen feinen Hocbzeit hatt
icb gern ala Featredncr mitgewirkt.
ANEKDOTEN
DER VATER DES GENIES
In dem (graflich) Sch'schen Palais fand
ein Muaikabend zu wohltatigen Zwecken
etatt, an dem ein Werk dea jungen Korn-
gold zur Auffiinrung gebracht wurde. Ein
paar Tage vor der Auffohrung eracnicn
Korngold pere im Palais, kummerte aicn
um die Aufstellung der Sitze, ura die Be-
leucbtung, um die Akustik d« Saalea etc.
etc. Nach einiger Zeit sollte wieder im
Palais Sch. ein Musikabend zu wohltatigem
Zweck veranstaltet werden. Man scblagt
dem Graf en erne Auffuhrung der „ Stab at
Mater" von Pergoleae vor. „Scbon", aagt
er, ,,aber bitte, so r gen Sie dafur, daff micb
der alte Pergoleae in Rube latft."
KOLLEGEN
Nach der Premiere von „Scblofi Zeit-
verlust" (wie Mela Schwarz, die reizende
Sal rgriesette, Halbes „Schloff Zeitvorbei" in
ibrer Huschligkeit umgetauft hat) nach
©U 1870
gegtfindete O f ff jin
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Sdjecfe, OTectpapfete jedet Art
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795
,,SehloJ7 Zeitverluat" also begruflt Frank
Wedekind den frcudig erregten Autor am
vollbesetzten Stammtiseb in der Torggel-
atube mit den ^Vorten : „Lieberrr Max,
dies ist unstreitig Dein bedeutenstea Werk
nach ,. Mutter Erde !'' Und da der stamm-
tiachgcfeierte Autor aich einem anderen
Begliickwiinscber zuwendet. fabrt We de-
kind halblaut mit unveranderlich feierlicbem
Gesicht fort :
„ . . . . womit icb kein Urteil iiber
„Mutter Erde" abgegeben baben mochte/*
DER BELIEBTESTE
Der Scbeidungspro2etf de$ beliebtesten
und bexauberndsten Schauspielers Muncbens.
Daa Publikum ist in ibn vernarrt t selbst
die Ricbter konncn sich eioes zartlichen
^Voblwo^en5 fiir den Unband nicht er-
wetren.
Aber nun iat man beim funfund-
eiebxigsten nach weislichen Ehe-
brucK angclangt, und eogar der wobl-
wollendste Ricbter scniittelt mit scbonen-
dem Vorwurf das Haupt :
„Na, wiasens, Herr Baron, da muesens
aber schon selbst aagen . . /'
Der Verbrecber ist selbst ganz betreten
anlafflicb diesca Leporello-Regiatera, und er
murmelt kopfschttttelnd, rtuig und liebens-
wurdig-zerknirscbt :
„ Gott, A a s lappert a i c b so
zuaammen . . ."
INHALT DES LET2TEN HEFTES
(Nr. 24):
Leopold Scbwarzschild ; Das unmbgliche
Mitftrauensvotum
Stefan Grotfmann: Caillaux* Erinnerungen
Waltber Ratnenau : Ober Produktionapolitik
Wilbelm Micbel: Philoaopbiscbe Maitage
in Darmstadt
M. Palcologue: Kalajew
Friedricb Wolf: Der letzte Mops
Stefan Szekely: Das Madcben
Aus dem Tagebuch
AN DIE ABONNENTEN
UND LESER DES T.-B.
Mit dieaem Heft scblieflt daa dritte
Halbjabr dee Tage-Buches.
Um rechtzeitige Erneuerung des Abonne-
ments wird gebeten.
Eine Zablkarte liegt bei.
Wer am Tage-Bucb Gofallen bat, der
kaufe nicbt nur gclegentlich das Heft,
sondern abonniere!
(Die Verwaltung des Tage-Buch).
(„D\is neue Eur op a.") Internatio-
nale Monataschrift, Zurich, Wien, Berlin,
CHefredakteur Dr. Paul Cobn. Die viel
gelesene und namcntlich im neutralen
Aualande verbreitete Re rue, deren Juni-
Julibeft eben vcrsendet wird, nunmt an
jnnerer Ausgeataltung von Monat zu Mo-
nat zu. Die in der neuen Nummer ent-
baltcnen Aufsatze uber den Niedergang
der Luxusindustrie und uber wirtschaft-
licbe Einheit, uber das Ende der Kro-
nen wabrung sowie uber das Verhalt-
nis von Vaterlandsgefunl und Heimat-
emp fin dung dtirften allgemeinea Interesse
erwecken. Einc ganz bervorragende
Wichtigkeit bat der Aufsatz von dem
Cbef des PreseedieDetee fur das Irien-
tiniscbe Venezien Karl Hitter „Au ch-
politik in Sudtirol"; die Studie uber
„Ru£land und der Oaten" von Sergius
Minnicb diirfte manchc neue Kenntnis
ubermitteln; der Scbluff der woblgelunge-
nen Satire „Der Streik der Konige" von
Moritz Adler ist gerade in der gegen-
wartigen Zeit voll von Aktualitat, ebenio
wie der warme Nacbruf, welch en die
Redaktion ibrem jungst veratorbenen grotfen
Mitarbeiter Dr. Alfred Fried halt, Zu
beriehen diircb Verlag C. Konegen, Wien,
1. Bezirk, Opernring 3.
Redaktion des „Tage-Buch" : BerKn W 35, Potsdamer Straffe 123 b, Tel.: Liitzow 4931.
Verantwortlicb fur den redaktionellen Teil ! Stefan Grofimann, Cbarlottenburg. Verlag :
Ernst Rowohlt Verlag, BerlinW 35. Potsdamcr Stratfe 123b. Druck: R. Abendroth, Rieas.
796
Immotilien I it% I Fmanzierungen
An- und Verkauf von Wobn- ^^^^^^^^^ Beteiligungen, Geachaftsverkaufe
und Gescbaftshiiusern, Villen, Umwandlung in A. G. und
Biirohausern. G, m. b. H. — Bankkredite.
Hermann ReicnenDacn
Berlin W 9 / Linkstr. 3 am Potsdamer Platz / Liitzow 4379, Kurfiirst (9356)
Vor kurzem erschien:
Dr. ALFONS GOLDSCHMIDT
Die^A'irtscnaitsorganisation
Sowjetru(?lanas
3.-5. Auflagc
Gekeftet 40.- M. Gebunden 50.- M.
Berliner Tageblatt:
^GleicbgiiJtig, wie man aich zu dem System der Sowjet-
wirtscbaft, zu den Moglichkeiten oder Ansatzen seiner
Durchfiihrung stellen mag, dieses System ist zu einem so
groffen Machtfaktor, zu einer so grotfen Tatsachltchkeit
geworden, dat? es iiir Freunde und Gegner autferst wert-
• voll erscbeinen mud, in die Werkstatt dieses Systems in
die geistige, wie in. die organisatorische gefiihrt zu. werdeu.
Dies tut Goldschmidt in sehr instruktiver und dabet
pragmatisch-anacKaulicber Weise. Durch seine
Daratellung werden zweifellos auch manche Irrtumer,
denen sicb Europa iiber die Entwicklung und die Ab-
sicbten des bolschewistischea Wirtschaftssyateme hinge-
• geben bat, korrigiert,"
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen oder direkt durch
Ernst Rowoklt Verlag Berlin W 35
Nacb dem Aufaeben und Vergnugan, den der
1
Vorabdruck tm »Tage-Buch« den Leurn
bereitetc, eracbien:
CARL STERNHEIM
Th A TDT7 A Y
JrAIKrAA
Eine politieche Erzahlung
Kart. M. 12.— / Mit dem Motto:
ICHFINDE EUR OP A
ZUM KOTZEN
Hier ist der wiederauferstandene Candid e
Sternbeim allein ecbuf eich seinem Inhalt
adaquate Formen. Berl. Tagebl.
Sternbcira ba» in vented new form of
fiction in german litterature.
Times, London
Stcrnbeim, jc ne croia pan a exagerer, est le
plus parfait dramaturge allemand.
Figaro, Paris
*
In jeder guten
Bucbbandlung zu haben , sonst direkt vom
ERNST ROWOHLT VERLAG
BERLIN W 35
,WwW»4wWWJV4WW^^^W»'
© ie
2Tempel-Vvlaffi?et
fteb«n iljtec muftct gait igen ?ttn[tlerifd)*n Autftattung
roegen an etfter Steltt und gcl)dten in die Q3fl($)etei
einee jedcn Q3ud)erlitbbabete. 3 U ©efdjenteu
find fie ootttcffU<*> geeignet.
*
Q)oll [t and 19 e ftusgaben:
©oetljc
Samttfd)« poet. Sd)rlften
On 15 TSanden
Ccfcrmann
©e(pracb< mit ©oet^e
On 9 <8dnden
£)eine
§ebel
poettfd)* SDetle
On 1 <Band
Kleift
On 5 'Bauden
Sd)(Ucr
Samtltdje QDectc
On 13 <Bdndeu
SdmtH^t QDcctt
On ) <86ndcn
Samtlidje 2D ecfe
On JO <8dnden
§ebbel
©toroatlfcfce QDcctt
On A 'Bun den
3n>eifptad)igc ftusgaben:
gomere Odyffee WbelungenUed
©tteefcifd) und ©eurfd). On 9 <8unden Alt* nnd Steufcocfcdeutf $
1.<Band (a.QSd. cc'fdjetnt im fjerbft)
On 9 <8andca
Sbafefpeate
englifdj und ©eutf*, bU f«$t fotg«nde7 ^flndt: ©amltt, ttomeo
und )ulia, Sommetnnctjtettoum und OT tntermace^tn, Othello,
Kdnig Ctat, Dec Kaufmann oon lUnedlg, ©it luftlg«n
TOtibtt oon OTfndfot
prtfe <(ne8 Jedtn <Bandee (n §alble(nen odec Kunftbnlbledtt
m 30.-i in etfct Satbledet odet ed>t ^albpergaracnt JTt to.— und
d«t ubll$e 'Sudjbandlet^euetungeaufdjlag. SamtUcfce Rn»-
gaben roecden nuc oollftandtg gelUfect.
Sonderauegaben 3U Gefd)cnE3ioc<f en:
6oetbe,6edi$te Sbatefpeate, gamlet
On $albpccgt. 211 JO— enflif* u. ©eutfd). On $albpetgt 311 iO.-
Die XempelHaffiCetauagaben find durd) fede 'Bud)'
tjandlung etbAltlid).
^nfec Q9ctlag9oec3eid)ni© mit Angabe dcr 3ttcjeit doc.
ratiqen Au&gaben roird auf <ZDunfd) ?oftcnfcel oetfandt.
£>er£*empel • SDerlag in£eip3ig
In ternati on a) e
Festsfiiele und Konzerte
in Zurich.
BUHNENWERKE:
PARSIFAL
(24., 26. «. 30. Juni)
DIE ENTFUHRUNG
AUS DEM SERAIL
(28. u. 29. JunO.
DIRIGENT: Generalmusitdir. Bruno Walter-
MuncKen,
SOLISTEN: Emmy Kruger, Berta Kiurina,
Elieabetn Scnumann, Karl Erb,
Fritz Feinkals, Paul Bender, Karl
Seydel usw.
KONZERTE
DIRIGENTEN:Dr.ArtWNiki flC li(16.u.20Jum),
Gabriel Pi erne - Paris (2. Juli).
Si* Henry J. Wood ~ London
(5. Juli), Dr. .Volkmar Andreae
(8. Juli).
SOLISTEN u. a.: Irene Eden, Olga Ferrai, Alfred
Jergen
Prospekte und Informationen durcb das Offixielle Verkehrsbureau,
Zuricb, Urianstr. 7, das Sekretariat der Festspiele, Zurich 8, Floraitr. 52,
und alle grower en Reisebureaux.