Ein Beitrag zur Systematik
der Jugendpflege und Jugendbewegung
von
Dr. Cora Berliner,
1916.
Verlag des Verbandes der jüdischen Jugendvereine Deutschlands
Berlin C. 2., Burgstraße 26. .
3
Vorwort.
Die vorliegende Arbeit ist im Sommer 1914 begonnen. Sie
verfolgte damals ein dreifaches Ziel. Sie sollte eine allgemeine
Untersuchung sein über die Wirkungsmöglichkeiten von Jugend¬
vereinen; sie sollte ferner einen Beitrag liefern zur Frage der be¬
ruflichen und sozialen Verhältnisse der Juden in Deutschland;
und sie sollte schließlich ein möglichst vollständiges anschau¬
liches Bild geben von dem Wesen der jüdischen J ugendbewegung,
die, wie in dieser Zeit alle Jugendorganisationen, in lebendigster
Entwicklung begriffen war.
Das Material sollte neben langjähriger Erfahrung eine um¬
fassende Erhebung liefern. Zu diesem Zwecke waren 140 Frage¬
bogen an Vereine und durch Vermittlung der Vereine 14 000
Fragebogen an die ordentlichen Vereinsmitglieder versandt. Es
waren erst ganz wenig Antworten eingegangen, als der Krieg
ausbrach. Eine Fortführung der Statistik war unmöglich. Der
größte Teil der Mitglieder und besonders der Führer, ohne deren
tätige Mithilfe die Erhebung nicht durchzuführen war, eilte zu
den Waffen.
Die Arbeit blieb liegen, denn in einer Zeit, in der plötzlich
wie nie zuvor der Jugend die ungeheure Last der verantwortlichen
Tat für das Ganze aufgebürdet wurde, schienen die Fragen der
Jugendbewegung und Jugendpflege sinnlos geworden zu sein.
Aber allmählich ist es klar geworden, daß die Bedeutung
aller Jugendorganisationen nach dem Kriege ganz außerordent¬
lich zunehmen wird. Erwerbsfragen drängen sich in den Vorder¬
grund. Die wirtschaftliche Bedeutung jugendlicher Arbeitskräfte
wird ein ganz anderes Maß erreichen als vorher. Das wird auf
die innere Entwicklung der jungen Menschen — in gutem und in
schlechtem Sinne — nicht ohne erheblichen Einfluß bleiben. Aber
auch in geistiger Beziehung wird die Gesellschaft ganz andere
Ansprüche an die Jugend machen. Der einzelne wird sich seine
Stellung zur Volksgemeinschaft, zur Klasse, zur Religion, zur
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Menschheit als Ganzes weit bewußter erkämpfen müssen als vor
dem Krieg.
Für die jüdische Jugend aber haben sich alle Gemeinschafts¬
probleme mehr denn je verwickelt. Die Beziehungen innerhalb
der deutschen Volksgemeinschaft haben eine ganz andere Realität
erhalten. Und neben vielem andern erinnert das durch die Er¬
eignisse in breiteste Oeffentlichkeit gezogene Problem der jüdi¬
schen Massen den jungen Juden an seine Verpflichtung gegen¬
über den Stammesgenossen und zeigt, daß auch die innerjüdi-
schen Gegensätze sich in Zukunft viel weniger in theoretischen
Erörterungen als auf dem Boden harter Tatsachen ausfechten
werden.
Aus all diesen Gründen erschien es wichtig, festzulegen, was
vor dem Krieg an jüdischer Jugendarbeit geleistet worden ist, zu¬
mal viele von den Hauptträgern der Bewegung an ihrer Fort¬
entwicklung nicht mehr werden mitwirken können. Es ist daher
trotz des dürftigen statistischen Materials der Versuch gewagt,
selbst auf die Gefahr hin, daß nicht jede Behauptung ziffern-
mässig gestützt werden kann.
Inhaltsübersicht
Seite
Einleitung: Jugendvereine als freie soziale Erziehungsgemeinschaften 7
Die Organisation der jüdischen Jugend in Deutschland.
I. Das Unlersucliungsmaterial: Der Verband der jüdischen Jugend¬
vereine Deutschlands.21
1. Die Vereine.21
2. Die Mitglieder ..24
II. Das Wesen der jüdischen Jugendvereine.30
1. Die jüdischen Jugendvereine als soziahvirtschaftliche Organi¬
sation .30
a) Im Hauptzweck.30
aa) Die jüdischen Jugendvereine als Wohlfahrts-Organisation.
(Die soziale Lage der jüdischen Jugend).30
für die männliche Jugend.30
für die weibliche Jugend.34
bb) Die jüdischen Jugendvereine als Standesorganisation
(Die Stellung der jüdischen Handelsangestellten zur
Berufsorganisation). 34
b) Im Nebenzweck.39
aa) Allgemeine soziale Fürsorge der Jugend vereine ... 39
bb) Soziale Fürsorge für einzelne Schichten.4t
Die Jugendlichen im engeren Sinne.41
Die Ausländer.43
2. Die jüdischen Jugendvereine als sozialpädagogische Organi¬
sation . . •.44
a) Das Ziel.44
aa) Das individuelle Eiziehungsziel. (Die Bedeutung der
Stellung zum Judentum für die Persönlichkeitsentwicklung) 44
bb) Das soziale Erziehungsziel.47
Allgemein (Die Bedeutung der Neutralität für die
Erziehung zum Gemeinsinn).47
Speziell. (Deutschtum und Judentum).48
b) Die Arbeitsmethode.50
aa) Für die Individualerziehuug.50
Intellektuelle Beeinflussung.50
Ethische Beeinflussung.51
bb) Für die Sozialerziehung.51
III. Ergebnis. 55
Anhang: Jüdische Jugendorganisationen außerhalb des Verbandes
der jüdischen Jugendvereine Deutschlands.56
2
7
Einleitung.
Jugendvereine als freie soziale Erziehungs-
Gemeinschaften«
Jugendorganisationen sind in Deutschland in den letzten
Jahrzehnten in unübersehbarer Fülle entstanden. Die Literatur
darüber ist sehr zahlreich. Sie bietet aber nur Einzeldarstellun¬
gen, typische Bilder oder Aufzählungen der hauptsächlichen Or¬
ganisationen. Eine Systematik der Jugendpflege und Jugend¬
bewegung ist bisher nicht vorhanden. Auch die vorliegende
Arbeit soll nur eine Einzeldarstellung sein, bestimmt, eine Lücke
auszufüllen. Denn während die evangelischen und katholischen
Jugendorganisationen häufig geschildert sind, ist die jüdische
Jugendbewegung bisher über den Kreis der unmittelbar Be¬
teiligten hinaus kaum bekannt geworden. Um sie aber in den
Rahmen des Vorhandenen eingliedern zu können, seien die Grund¬
gedanken vorangestellt, auf denen unseres Erachtens eine syste¬
matische Darstellung aller Jugendorganisationen aufgebaut wer¬
den könnte.
Alle Organisationen der Jugendpflege und Jugendbewegung
stellen freie soziale Erziehungsgemeinschaften
schulentlassener Jugend dar. Dabei wird unter Jugendpflege im
allgemeinen die Beeinflussung der Jugendlichen durch Er¬
wachsene, unter Jugendbewegung die Selbsterziehung der Jugend¬
lichen untereinander verstanden. Beide Begriffe gehen aber viel¬
fach ineinander über. Auch bei den von Erwachsenen gegrün¬
deten und geleiteten Jugendorganisationen, besonders wenn sie
sich an die Jugend über 18 resp. 20 Jahren wenden, spielt die Er¬
ziehung der Mitglieder untereinander und ihre Mitarbeit am
ideellen Ausbau der Organisation eine große Rolle.- 1 ) Auch be-
1 ) Vergl. den Aufsatz von Pastor Clemens Schultz, Hamburg „Un¬
sere Geliilfenvereine“ (Mitt. des Bundes Deutscher Jugendvereine). —
Die von allen Jugendvereinen eingeführte „Selbstverwaltung“, d. h. die
Wahl eines Ausschusses der Jugendlichen für kleine vereinstechnische,
Angelegenheiten bedeutet natürlich nicht Selbsterziehung.
2 *
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tonen alle Jugend vereine, die irgendwie in Opposition stellen, wie
zum Beispiel die sozialdemokratischen oder manchmal auch die
katholischen, mit Nachdruck, daß sie aus der Jugend heraus ge¬
boren seien, und sprechen von sozialistischer oder katholischer
Jugendbewegung, selbst wenn die Organisationen der Er¬
wachsenen maßgebenden Einfluß auf die Vereine haben. Je
mehr sich auf der anderen Seite die jungen Selbsterziehungsvereine
der freideutschen Jugend in das gesamte Gesellschaftsleben ein-
.fügen, je mehr die Forderung der Zeit diese Jugend zur Be¬
tätigung drängt, umsomehr wird sie der Führung und Beein¬
flussung Erwachsener, einzelner oder der von Gemeinschaften zu¬
gängig werden. Die strenge Scheidung der Begriffe Jugendpflege
und Jugendbewegung, auf die heute die Jugendbewegung so be¬
sonderes Gewicht legt, erscheint daher nicht begründet. Gerade
die Darstellung der jüdischen Jugendbewegung wird den Be¬
weis erbringen, daß eine Mittelstellung zwischen beiden sehr
wohl möglich ist.
Die amtliche Ausdrucksweise (zum Beispiel in den Erlassen
des preussischen Kultusministers) versteht unter Jugendpflege nur
die Beeinflussung der Jugendlichen unter 20 Jahren, in der Lite¬
ratur wird sie häufig auf die Jugendlichen unter 18 Jahren be¬
schränkt. Das widerspricht aber allen bisherigen Gepflogen¬
heiten. Alle Darstellungen der Geschichte der Jugendpflege be¬
ginnen mit den katholischen Gesellen vereinen, den evangelischen
Sonntagssälen und der Deutschen Turnerschaft, die sich alle zu¬
nächst an die Jugend über 18 Jahren wenden. Auch heute gelten
die evangelischen Jünglings- und Jungfrauenvereine, die kon¬
fessionellen Gesellenvereine, die Mädchenklubs ganz allgemein
als Jugendpflege-Organisationen.
In vieler Beziehung wäre eine Trennung der Vereine nach
Altersklassen allerdings wünschenswert. Denn eine Entwicklung
und Differenzierung der Arbeit stellt sich erst bei den Vereinen
der „erwachsenen Jugend“, die selbsttätig mitwirkt, ein. Die Ar¬
beit an den Jugendlichen im engeren Sinne vollzieht sich fast
durchweg nach dem gleichen Schema, so daß schon mit einer
gewissen Uebertreibung gesagt werden konnte, daß es eigentlich
ganz gleichgültig sei, in welche Organisation der Jugendliche
hineingerate. Die Gründe dafür werden noch näher auseinander
zu setzen sein.
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Aber eine solche Trennung hat auch etwas Mißliches. In
den meisten Fällen besteht eine organische Verbindung zwischen
den Vereinen der Aelteren und der Jüngeren. Oft sind die ersteren
aus den letzteren entstanden, weil der Zusammenhang zu stark
geworden war, um die Gemeinschaft aufzugeben, und die Jugend¬
pfleger die Notwendigkeit und Erspriesslichkeit einer Beein¬
flussung auch über das zwanzigste Lebensjahr hinaus erkann¬
ten. 2 ) Oft haben umgekehrt die Aelteren die Jüngeren herange¬
zogen, um sich den Nachwuchs zu sichern. 3 )
Diese Darstellung beschränkt sich auf Vereine. Es muß aber
erwähnt werden, daß sowohl Jugendpflege wie Jugendbewegung
in wenigen organisierten Formen vorkommt. Die Jugendpflege
geht dabei von dem Bestreben aus, breitere Massen zu gewinnen.
Denn alle Jugendvereine, ganz gleich von
welcher Seite sie ausgehen, sind E 1 i t e Organi¬
sationen, es gehören ihnen immer nur die
besseren der jeweiligen Schicht an. Es bleibt
fraglich, ob die tiefer stehenden eigentlich gefährdeten Schichten
überhaupt anders als durch Zwangsorganisationen zu erfassen
sind. Es liegen aber mannigfache Versuche vor, wie Bereit¬
stellung von Tage-, Abend- oder Sonntagsheimen, fliegende
Werkstätten und Schulen für arbeitslose Jugendliche. Gerade
während des Krieges machte sich die Notwendigkeit einer solchen
umfassenderen Jugendpflege besonders bemerkbar, galt es doch,
bei Abwesenheit der Väter und großer Unregelmäßigkeit des
Arbeitsmarktes, wo Stellungslosigkeit und hoher Verdienst oft
schroff wechselten, große Massen Jugendlicher beiderlei Ge¬
schlechts vor Verwahrlosung zu bewahren. All diese Veranstal¬
tungen können einen erziehlichen Einfluss aber nur ausüben, wenn
eine gewisse Kontinuität in der Arbeit vorhanden ist, der
Jugendliche längere Zeit kommt, persönlichen Anteil an der
ganzen Einrichtung nimmt , und zu den Leitern in ein näheres
Verhältnis tritt. Dann aber unterscheidet sich diese Organisation
ihrem Wesen nach nicht mehr von dem Jugendverein, und es liegt
kein Grund zu einer besonderen Betrachtung vor.
“) Besonders häufig bei den Vereinen des Bundes deutscher Jugend-
vei eine (frei-evangelisch).
3 ) z. B. bei den evangelischen Jünglingsvereinen.
10
Eine andere Form freier Jugendpflege bietet die Veranstaltung
von J u g e n d f e s t e n. Sie können einen tiefen Eindruck hin¬
terlassen, wenn es gelingt, wirklich die gesamte Volksjugend
eines Ortes öder eines Bezirkes zu einer Einheit zusammenzu¬
fassen. Meistens haben jedoch diese Feste ein vaterländisches
Gepräge von bestimmter Art, und die Jugend, die solchen „un¬
reflektierten“ Patriotismus nicht mehr teilt, bleibt fern. Das be¬
deutsamste Jugendfest war das der frei-deutschen Jugend auf dem
Hohen Meißner, das etwas ganz Neues und Einzigartiges dar¬
stellte. Aber auch seine tiefen Wirkungen werden sich bei Wieder¬
holungen nicht im gleichen Maße wieder einstellen können. Die
Bedeutung, die in diesen Jugendkreisen Festen außerhalb des
Rahmens einer gefügten Organisation b'eigelegt wird, erscheint
übertrieben, so sehr solche Jugendfeste eine Bereicherung unseres
Volkslebens bedeuten können.
Wir nennen die Jugendvereine „freie“ Erziehungsgemein¬
schaften im Gegensatz zu der natürlichen der Familie oder den
Zwangsgemeinschaften, wie sie die Fortbildungsschule, das Heer
oder die zukünftigen Jugendkompagnien darstellen, und auch
gegenüber der jedenfalls nur in sehr geringem Maße auf Frei¬
willigkeit beruhenden Arbeitsgemeinschaft.
Auszuschalten sind aber auch alle freien Jugendorganisationen,
die nicht als Erziehungsgemeinschaft angesehen werden können.
Dahin gehören die meisten Agitations- und Zweckvereine, zum
Beispiel die Jugendvereine der politischen Parteien, so weit sie
sich auf die Jugend über 18 Jahre beschränken (d. h. alle, mit
Ausnahme der Jugendvereine der Sozialdemokratie, die auch
jüngere Mitglieder haben, und — wenn auch nicht ganz freiwillig
— Erziehungsvereine auf breiterer Grundlage darstellen). Dahin
gehören vor allem die Geselligkeitsvereine und die reinen Sport¬
klubs, für die nicht, wie etwa bei der Turnerschaft oder den
großen Wanderbünden, die körperliche Ertüchtigung einge¬
gliedert ist in ein bestimmtes Erziehungssystem. Ferner sind die
Standesorganisationen hierher zu zählen. Ein evangelischer
Jünglingsverein bleibt ein Jugendpflegeverein, auch wenn er
keine Höchstgrenze für das Alter der Mitglieder festgesetzt hat.
Ein Handlungsgehilfenverein gehört nicht zur Jugendpflege,
selbst wenn seine Mitglieder alle unter 25 Jahren sein sollten.
Die Tendenz ist das Entscheidende. Allerdings sind die Grenzen
- 11
schwankend. Die Vereine der weiblichen Angestellten z. B. sind
in viel höherem Maße Erziehungsvereine als die der männlichen,
weil sie noch einen erheblichen Teil ihrer Arbeit darauf ver¬
wenden müssen, die Stellung zum Beruf in die Lebensanschauung
der Mädchen einzugliedern. Gefühl für Standesinteresse und
Berufsehre ist bei den Mädchen durchaus noch nicht ein selbst¬
verständlicher Ausfluß des Eigeninteresses. Völlig ineinander
gehen die Begriffe bei solchen Standesorganisationen, die von
irgend einer Weltanschauungsgemeinschaft ausgehen. Hier wird
sich immer sehr schwer feststellen lassen, ob — um ein Beispiel
; zü wählen — der eigentliche Zweck ist, „dem Herrn Seelen zu
gewinnen“ (wie es die christlichen Vereine junger Männer aus-
drücken) oder christlich gesinnten Bäckern, Kellnern, Friseuren
eine Vertretung ihrer wirtschaftlichen Interessen zu schaffen. Wir
kommen darauf noch an anderer Stelle zurück.
Wir haben das Wort „sozial“ der Begriffsbestimmung hin¬
zugefügt, trotz der Vielseitigkeit, die ihm anhaftet. Es weist auf
die Eingliederung der Jugendvereine in die wirtschaftlichen und
kulturellen Verhältnisse der Gesellschaft hin, Es handelt sich
nicht darum, von außen her Gesichtspunkte heranzutragen, unter
denen schematisch die einzelnen Vereine zu betrachten seien, es
ergibt sich aus dem Wesen der Jugendvereine eine Reihe von
Gemeinsamkeiten, die eine Zusammenfassung rechtfertigen. Aller¬
dings liegt die Gefahr nahe, der lebendigen Struktur der ein¬
zelnen Vereine Gewalt anzutun, da ein und dieselbe Arbeits¬
sphäre, ein und dieselbe Maßnahme oft ganz verschiedene Be¬
deutung hat. Das gesamte Stoffgebiet lässt sich unseres Er¬
achtens in zwei Betrachtungsreihen ordnen, die untereinander in
Wechselbeziehung stehen: einer sozial-wirtschaft¬
lichen und einer sozial -pädagogisch en. Nicht
jede der beiden Betrachtungsreihen ist für alle Vereine gleich
fruchtbar, doch erhellt sich oft die größere Bedeutung der einen
aus Bedingungen, die sich nur aus der andern aufzeigen lassen.
Eine isolierte Betrachtung der freideutschen Jugendbewegung
würde z. B. nur auf pädagogische Probleme führen. Der Grund
dafür liegt darin, daß sie sich auf die Jugend der besitzenden
Stände beschränkt und unter diesen in der Hauptsache auf solche,
die noch nicht im Erwerbsleben stehen. Im Augenblick, wo sie
versucht, ihre Ideen auf erwerbstätige und besitzlose Schichten
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der Jugend auszudelmen oder nur eine bestimmte Stellung zu
dieser Jugend einzunehmen, wird sie auf sozial-wirtschaftliche
Probleme stoßen.
Jugendpflege als ein Zweig der Sozialpolitik und Volks¬
wohlfahrtspflege erwächst aus der Erkenntnis, daß die körper¬
liche, geistige und sittliche Entwicklung der Jugend,'von der die
gesamte Zukunft des Volkes abhängt, gefährdet ist. Während
früher die Erziehung der Jugendlichen über das schulpflichtige
Alter hinaus Eltern und Lehrherren überlassen war, muß an ihre
Stelle heute vielfach die Gesellschaft treten. Die Notstände, die
sich aus der Zusammendrängung großer Massen Jugendlicher in
den Großstädten, der Erwerbsarbeit der verheirateten Frauen,
den unzureichenden Wohnungsverhältnissen, der Unpersönlich¬
keit des Arbeitsverhältnisses ergeben, sind oft geschildert worden.
Jugendheime, Lehrlingsfeierabende, Mädchenklubs suchen ihnen
entgegenzuwirken. Die Tätigkeit dieser Vereine ist in erster
Linie eine bewahrende, man will die Jugend sammeln, um sie den
Gefahren der Großstadt zu entziehen. In allen Kundgebungen
wird die Notwendigkeit betont, dafür zu sorgen, daß die Jugend
ihre Freizeit angemessen verbringe, sie hervorzuholen aus Wirts¬
haus und Kino. Allerdings scheint uns, daß die soziale Not
mehr nach außen betont als nach innen gelindert wird. Nur
wenige Vereine kommen an wirklich proletarische Existenzen
heran, diese entziehen sich der Erfassung durch andere als
Zwangsorganisationen. Es sei denn, daß geniale Volkspäda¬
gogen, wie etwa der verstorbene Hamburger Pastor Clemens
Schultz, die Schwierigkeiten durch die Kraft ihrer Persönlichkeit
überwinden. Nachhaltige Erfolge wird diese Jugendpflege nur
erzielen, wenn ihre Tätigkeit zugleich eine aufbauende ist. Hier
muß sich die Sozialpädagogik in den Dienst der Wohlfahrts¬
pflege stellen.
Die Mitglieder dieser Vereine sind Jugendliche im engeren
Sinne des Wortes. Es erscheint uns heute selbstverständlich, daß
eine solche „Bewahrung“ für Arbeiter von 19—20 Jahren nicht
in Betracht kommt. Die ersten Anfänge dieser sozialen Arbeit
beziehen sich aber auf ältere junge Leute. Kolping begründete
1846 aus sozialen Gründen die ersten katholischen Gesellen¬
vereine; und die evangelischen Sonntagssäle in Basel (1832),
Stuttgart (1837), Bremen (1834) zählen zuerst junge Arbeiter
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und Handwerker zu ihren Mitgliedern und keine Lehrlinge.
Das war zu jener Zeit der Anfänge industrieller Entwicklung be¬
rechtigt. Damals standen die Jugendlichen noch mehr unter der
Zucht des Elternhauses oder, wo sie dieses verlassen hatten, des
Lehrherrn. Die jungen Gesellen und Arbeiter aber wanderten
in viel stärkerem Maße als heute, sie waren auch in viel höherem
Maße stadtfremd, in ländlicher Gebundenheit aufgewachsen, und
daher sehr viel weniger sicher und selbstbewußt als heute die er¬
werbende und besonders die industriell tätige Großstadtjugend
von 20 Jahren.
Für uns tritt bei dieser Jugend ein anderes soziales Problem
in den Vordergrund: Welche Rolle spielt für sie das Berufs-
interesse und wie weit ist sie außerhalb des Berufsinteresses
noch einer sozialpädagogischen Beeinflussung zugängig. Der
größte Teil der Jugend, so weit sie überhaupt der Organisation
fällig ist, wird von den Gewerkschaften und den Standes¬
organisationen der kaufmännischen und technischen Angestellten
aufgesogen. Eine rein pädagogische Organisation kommt für sie
nur auf Grund sehr enger persönlicher Bindungen in Betracht,
indem sich etwa aus einem Jugendverein heraus ein Verein der
Aelteren bildet, dem die Elite treu bleibt. Oder aber es muß eine
Weltanschauimgsgemeinschaft von sehr stark bindender Kraft
hinter der Organisation stehen. Aber auch dann gedeiht die
Arbeit meistens nur, wenn auf die beruflichen Interessen der Mit¬
glieder Rücksicht genommen wird, und wenn materielle Vorteile
geboten werden, die denen der Standesorganisationen die Wage
halten. Sehr oft wird die Tendenz fühlbar werden, zur Berufs¬
organisation umzuschlagen. Interessant ist die Entwicklung der
ältesten Organisationen für die herangewachsene Jugend, der
katholischen und evangelischen Jünglingsvereine. Diese Organi¬
sationen haben sowohl eine sozial-wirtschaftliche als eine
religiös-ethisch-pädagogische Wurzel. Es ist das Bestreben, die
letztere in den Vordergrund zu schieben. In den katholischen
Vereinen gelingt das nur für die Jugendlichen im engeren Sinne.
Sie sind reine Erziehungsvereine, die die gesamte Jugend (d. h.
nur die der Volksschule entwachsene) ohne Rücksicht auf ihren
Beruf umfassen. Hier liegt heute der Schwerpunkt der katholi¬
schen Jugendpflege. Die Jugend über 17 Jahre wird den Ge¬
sellenvereinen und den Vereinen junger Arbeiter zugeführt, die
14
in sich wiederum nach Berufsgruppen geschieden sind. Diese
stehen allerdings auch stark unter geistlichem Einfluß, aber durch
die Einrichtung der „Fachabteilungen“, durch ihre Stellungnahme
teils für, teils gegen gewerkschaftliche Organisation, werden sie
stark in das Gebiet rein wirtschaftlicher Betätigung gedrängt. Die
Rücksichtnahme auf das Berufsinteresse geht in den katholischen
Organisationen so weit, daß man für die kaufmännische Jugend
sogar den allgemeinen Unterbau aufgegeben hat. Die kaufmän¬
nischen Lehrlinge sind in besonderen Jugendgruppen des Ver¬
bandes der katholischen kaufmännischen Vereinigungen zusammen¬
geschlossen, und dies wird mit dem „besonderen Standesinter¬
esse“ der kaufmännischen Kreise begründet. 4 ) Die evangelischen
Vereine schienen einmal dieselbe Entwicklung nehmen zu wollen.
Auf den Lübecker Kirchentag 1856 forderte Wiehern eine Son¬
derung der christlichen Vereine zur Hebung und Förderung junger
Leute nach den Berufsständen. In den siebziger Jahren verlangte
Stöcker den Beitritt der Jünglingsvereine zur evangelisch-sozialen
Partei und die Umwandlung in Arbeitervereine. Aber die geist¬
lichen Leiter wehrten sich entschieden gegen jede Zurückdrängung
des kirchlichen Moments. Man begnügte sich damit, zu den
christlichen Gewerkschaften in einer Resolution wohlwollend
Stellung zu nehmen (und zwar erst 1906) 5 & ) und zu den evangeli¬
schen Arbeitervereinen ein freundnachbarliches Verhältnis zu un¬
terhalten. Im übrigen hielt man an dem Grundsatz fest, die ge¬
samte Jugend ohne Unterschied des Berufs und der sozialen
Stellung gleichmäßig zu umfassen. Dieser Grundsatz gilt 'aller-
4 ) Neuerdings macht sich allerdings eine Gegenströmung bemerkbar,
ln den Aufsätzen: „Wie erreichen wir eine umfassendere Organisation
der jungmännerwelt“ von Dr. Bernhard Tauch („Jugendpflege“ Dez. 1915
und Januar 1916) wird energisch eine Fortsetzung der Jugend vereins¬
arbeit für die erwachsene Jugend auf allgemein pädagogischer Grund¬
lage gefordert.
& ) Der Wortlaut der Resolution ist: „Die Bundeskonferenz erkennt
in den christlichen Gewerkschaften wertvolle Bundesgenossen zur sitt¬
lichen und religiösen Bewahrung der Jugend. Ohne selbst ihren Ver¬
einen irgend eine politische oder soziale Agitation gestatten zu können,
wird die Konferenz doch ihre Mitglieder aus dem Arbeiter- und Hand¬
werkerstande darauf hinweisen, daß sie in den christlichen Gewerk¬
schaften eine Standesvertretung finden, in der Glaube und Sittlichkeit
imangefochten bleiben (cit. nach Wartmann, Geschichte des ostdeutschen
Jugendbundes).
— 15
dings nur in der Theorie. In der Praxis sind all diejenigen Ele¬
mente, für die eine Standesvertretung von Bedeutung ist, all¬
mählich abgebröckelt. Doch bleibt die Zahl der Mitglieder, die
meist über 18 Jahre alt sind, immer noch bedeutend genug. 0 )
Nur die nach amerikanischem Muster arbeitenden christlichen
Vereine junger Männer haben trotz stärkster Betonung ihres ent¬
schiedenen Christentums ihre Mitglieder nach Berufsgruppen ge¬
sondert und eine umfassende soziale Fürsorge für sie in die Wege
geleitet. Ihre Führer erklären offen, daß all diese sozialen Ein¬
richtungen nur Mittel zum Zweck seien, die an der Peripherie
stehenden Mitglieder langsam an das Zentrum, d. i. die „Mission
der heilserfüllten an der heilslosen Jugend“ heranzuziehen. Es
scheint allerdings, daß die christlichen Vereine junger Männer
durch ihre vereinstechnisch und sozialpolitisch musterhafte Or¬
ganisation viele Hunderte von jungen Leuten heranziehen, in der
inneren Beeinflussung ihrer Mitglieder aber weit hinter den
Jünglingsvereinen Zurückbleiben.
Von viel geringerer prinzipieller Bedeutung ist die Frage: Was
leisten die Jugendvereine für die Förderung materieller Interessen
ihrer Mitglieder. Als Arbeitsgebiete kommen in Betracht: Woh¬
nungsfürsorge, Arbeitsnachweis, Fachunterricht, Spar- und Un¬
terstützungskassen, Vergünstigungen. Das Gewicht dieser Ma߬
nahmen ist sehr verschieden, je nachdem, ob es sich um Abstellung
wirklicher Notstände handelt, oder ob dieser „wirtschaftliche“
Zweig der Vereinstätigkeit in erster Linie ein Werbemittel ist. Die
großen Aufgaben, die sich hier der Jugendpflege stellen, beson¬
ders auf dem Gebiete der Lehrstellenvermittlung, der Berufs¬
beratung und der fachlichen Ausbildung lassen sich — von Aus¬
nahmen in besonderen Fällen abgesehen — nicht im Rahmen von
Jugendvereinen lösen.
Ueber den wirklichen inneren Gehalt der Jugendpflege und
Jugendbewegung hat unsere bisherige Betrachtung noch wenig
gezeigt. Aber lange Zeit hindurch war eine solche Betrachtungs¬
weise die allein mögliche. Eine Systematik der Erziehungsarbeit
der Jugendvereine ist erst in den Anfängen vorhanden. Und
durchaus nicht alle Jugendvereine arbeiten nach einem System.
Es ist das ein Mangel, der ja aller freien sozialen Tätigkeit an-
«) Am 1. Juli 1913 betrug sie 147 372.
16
'haftet. Und gerade die Sozialpädagogik ist als praktische Dis¬
ziplin noch kaum behandelt. 7 )
Die Bedeutung des Wortes „S o z i a 1 - P ä d a g o g i k“ ist
in der Jugendpflege eine doppelte: es bezieht sich auf die Er¬
ziehungsmethode und auf das Erziehungsziel. In methodolo¬
gischer Hinsicht sind alle Jugendorganisationen ihrem Wesen
nach sozialpädagogisch, sie können ein Erziehungsziel nur durch
die Gemeinschaft, den Verein, erreichen, mit den Hilfsmitteln, die
ihnen die Organisation bietet. Das Ziel der Vereine kann Indivi¬
dual- oder Sozialerziehung sein. Wir müssen demnach unter¬
scheiden zwischen Individualerziehung durch freie Gemeinschaft
und Sozialerziehung durch freie Gemeinschaft. Beide Ziele sind
allgemein aufzufassen und speziell.
Der allgemeinen Individualerziehung liegt das Ideal der
Humanität zugrunde, es wird meist ausgedrückt durch das Schlag¬
wort: Erziehung zur Persönlichkeit. Ihre Hilfsmittel im Rahmen
des Vereins sind intellektuelle, ästhetische und ethische Beeinflus¬
sung, denen die körperliche Ausbildung als allgemeinste Grund¬
lage, ohne die gerade im Entwicklungsalter jede Erziehung un¬
wirksam bleiben muß, zur Seite tritt. Dieses allgemeinste Er¬
ziehungsziel wird häufig auch als das der „neutralen“ Jugend¬
pflege bezeichnet und als Forderung hauptsächlich von den vielen
in der Jugendpflege tätigen Schulpädagogen vertreten, die es für
die Jugendpflege in gleicher Weise aufstellen wie für die Volks¬
schule. Sie stehen im Gegensatz zu den Vertretern der speziellen
Pädagogik. 8 )
Die spezielle Pädagogik will die Erziehung im Jugendverein
um einen ganz bestimmten idealistischen Kern gruppieren. Dieser
Kern mag Glaube heißen oder Vaterlandsliebe, Berufsehre, be¬
stimmte politische Weltanschauung. Sie geht im allgemeinen aus
von den Konfessionen oder anderen Weltanschauungsgemeinschaf¬
ten. Man hat ihr den Vorwurf der Parteilichkeit gemacht. Es liegt
zweifellos die Gefahr nahe, daß das natürliche Streben, einer
Ueberzeugung Anhänger zu gewinnen, die pädagogischen Rück¬
sichten überwuchert, und daß die Jugend hineingezerrt wird in
7 ) Die grundlegenden Arbeiten Natorps sind rein theoretisch-philo¬
sophisch.
8) Vergl. hierzu „Der Kampf der Parteien um die Jugend“, her aus¬
gegeben von der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge.
17
den Machtkampf der Anschauungen. Andrerseits erleichtert posi¬
tive Idealerfüllung die Erziehung sehr. In der Hingabe an eine
Idee liegt eine starke persönlichkeitsbildende Kraft. Es handelt
sich ja nicht um die Erziehung von Kindern, sondern um junge
Menschen, die bereits in das Leben hineingestellt sind. Wir
müssen allerdings unterscheiden zwischen den Jugendlichen unter
■und über 18 Jahren. Für die Jugendlichen im engeren Sinne
kommt der Aufbau einer bestimmten Weltanschauung kaum in
Betracht. Höchstens die Bewahrung geistigen Besitztums aus der
Familienerziehung. Daß strenggläubige Eltern ihre Kinder, die
meist auch eine konfessionelle Schule besucht haben, möglichst
früh einer kirchlichen Jugendorganisation zuführen wollen, er¬
scheint genau so verständlich, wie daß überzeugte Sozialisten ihre
Kinder von der Berührung mit der bürgerlichen Welt fernhalten.
Die Gefahren solcher Einseitigkeit sind aber auch besonders groß,
und das von Pastor Schulz geprägte viel umstrittene Wort von
der „religiösen Schonzeit“ hat eine tiefe Berechtigung. Für die
Jugend über 18 Jahren ist das Poblem sehr viel verwickelter. In
diesen Jahren hat alle Idealerfüllung den schweren Gegendruck
rein materieller Interessen auszuhalten. Das ist nur möglich,
wenn die Jugend sich für bestimmte klar erkannte Ziele einsetzt.
Qesinnungsgemeinschaften wecken und festigen die Begeisterungs¬
fähigkeit. Es kann das Ziel sein, wie etwa bei der freideutschen
Jugend oder dem Hamburger Gehilfen verein (ausserhalb der
'Jugendkreise z, B, von Avenarius vertreten), sich vom eigenen
Ich aus, mit den Problemen der Welt auseinanderzusetzen, sich
immer strebend um die Dinge zu bemühen. Dieser Forderung des
„Immer-Strebens“ liegt natürlich auch eine Weltanschauung zu¬
grunde. Eine „Gemeinschaft der Suchenden“ ist vielleicht die am
stärksten verbindende Gesinnungsgemeinschaft. Um ihr aber
wirklich anzugehören, dazu gehört eine Stärke des sittlichen Wol-
lens, die jedenfalls nur eine kleine Elite der Jugend des gesamten
Volkes aufzuweisen hat. Als Führerschulen sind diese Organisa¬
tionen von höchster Bedeutung und zwar die aus Arbeiter- und
Kaufmannsschichten geborenen genau so stark wie die der aka¬
demischen Jugend. Für die Erziehung der Massen kommen sie
nicht in Betracht.
Bei der Erziehung zur Gemeinschaft als Erziehungsziel sehen
wir, daß Individual- und Sozialerziehung kein Gegensatz ist.
18
Eigentlich kann man nur von Individualerziehung sprechen, denn
als Objekt der Erziehung kommt nur das Individuum in Betracht.
Da andererseits der einzelne nur innerhalb der Gemeinschaft denk¬
bar ist, haben alle Eigenschaften des Individuums Beziehungen
zur Gemeinschaft. Doch stellt das Gemeinschaftsleben ganz be¬
sondere Forderungen, so daß man wohl berechtigt ist, auch
inhaltlich von einer Sozialpädagogik zu sprechen.
Ihr allgemeines Ziel besteht in der Ausbildung all derjenigen
Eigenschaften, die den Menschen befähigen, sich bewußt in die
Gemeinschaft einzuordnen. Sie gipfeln in dem „Gefühl der Ver¬
antwortung aller für alle“ (Classen) und in der „Fähigkeit, wahre
Gemeinschaft mit Andersdenkenden und Anderswollenden zu
pflegen“ (Förster). Diese allgemeine soziale Erziehung ist von
dem Wesen eines Erziehungsvereins unzertrennlich. In ihr ent¬
wickelt sich die der Organisation immanente Ethik, ohne die sie
nicht gedeihen kann. Das ist aber in der Praxis noch längst nicht
genügend erfaßt. Die vielen, oft mit unerhörter Heftigkeit ver¬
folgten inneren Kämpfe der Jugendvereine führen eine beredte
Sprache. Gerade die Selbsterziehungsvereine der gebildeten
Jugend lassen die „Gemeinschaftsgesinnung“ noch am häufigsten
vermissen, ist doch zum Beispiel die Geschichte des Wandervogels
fast nur eine Geschichte der Spaltungen. 0 )
Die spezielle Sozialerziehung besteht in der Erziehung zu
einer bestimmten Gemeinschaft, in erster Linie zum Staat. Doch
auch die Kirche, die Nation, die Klasse, die Partei als Organisation
einer Idee kommen in Betracht. Als pädagogisches, also ethisches
(nicht politisches) Problem ist die allgemeine Sozialerziehung die
notwendige Voraussetzung der besonderen. Im Hinblick auf eine
bestimmte historisch gegebene Gemeinschaft sind die allgemeinen
Forderungen sozialer Gesinnung sehr viel lebendiger und ein¬
dringlicher zu gestalten. Die Besonderheit und auch Schwierig¬
keit der speziellen Sozialerziehung liegt darin, daß hier die Ge¬
meinschaft als Ganzes Ziele hat, die außerhalb des ethischen Ge¬
bietes liegen, deren Anerkennung von dem Individuum verlangt
wird.
Welche Möglichkeiten bietet die Vereinsorganisation, um das
pädagogische Programm der Jugendvereine durchzuführen?
°) Vergl. Bliihcr, Wandervogel, Geschichte einer Jugendbewegung.
19
Zunächst liefert der Verein einen Rahmen für B e 1 e h r u 11 g\
Diese kann der intellektuellen ästhetischen oder ethischen Bildung,
der Individual- oder Sozialerziehung dienen. In der Tat spielen
Vorträge und Kurse in allen Jugendvereinen eine große Rolle.
Man hat oft den Wert von Vortragsabenden bestritten. Man hat
gesagt, sie führten nur zur oberflächlichen Vielwisserei und ver¬
hinderten jede ernsthafte geistige Arbeit. Das ist aber nur sehr
mit Vorbehalt richtig. Wer direkt von der Schule fort in das
praktische Leben eintritt, hat im allgemeinen nicht die Fähigkeit
zu selbständiger Weiterbildung. Es ist erstaunlich, wieviel die
jungen Leute aus einem Vortrag im Jugendverein mit nach Hause
nehmen und wie lange sie das behandelte Thema oft noch be¬
schäftigt.
Doch in der Belehrung liegt nicht das Wesen der Sozial¬
pädagogik als Methode, sondern in den erziehlichen Wirkungen
des Zusammenlebens. Es weckt die guten Kräfte im
einzelnen, indem es Stimmungen schafft, seien es freudige durch
Spiel, Gesang, gemeinsame Arbeit oder gehobene durch Natur,
Kunst und — am stärksten von allen durch die unter der Jugend
weilende oder nur vorgestellte Persönlichkeit. Es erzieht zur
sozialen Gesinnung durch die äußere und innere Vereinsverwal¬
tung, durch den Zusammenschluß verschiedenster Elemente, die
sich gegenseitig ertragen lernen, durch die Fürsorge der einen für
die andern.
Fassen wir das Wesen der Jugendvereine kurz zusammen.
Als sozial-wirtschaftliche Organisation dienen die Jugendvereine
der Bewahrung vor den Gefahren der Großstadt oder den
Standes- und sonstigen wirtschaftlichen Interessen der Mitglieder.
Als sozial-pädagogische Organisationen fördern sie die Entwick¬
lung des einzelnen zur in sich gefestigten sittlichen Persönlich¬
keit, erziehen insbesondere zum Gemeinsinn und gliedern den
einzelnen ein in die großen Gemeinschaften des Standes, der
{Klasse. Je nach dem Alter, den Berufs- und Besitzverhältnissen
der Mitglieder überwiegt die eine oder die andere Aufgabe.
Die Wirkungsmöglichkeiten von Jugendvereinen sind aller¬
dings begrenzt. Davon, daß große Massen ihnen überhaupt
fernbleiben, war schon die Rede. Aber auch bei ihren Mitgliedern
müssen sie ihren Einfluß mit dem des Elternhauses, der Arbeits¬
stelle, der Straße teilen. Und alle jene anderen Erziehungsmächte
20
haben den jungen Menschen so viel intensiver als der Verein, in
'den er kommt, oder aus dem er fortbleibt, wie es ihm beliebt,
und der ihn meistens erst nach der Arbeit müde und unfrisch
erhält.
Es existiert kein Maßstab, um das Wirken von Jugend¬
vereinen zu messen. Die meisten Vereine weisen ihre ziffern¬
mäßigen Erfolg auf. Diese aber können genau so gut einer
guten Propaganda, einer geschickten Ausnutzung von Massen¬
instinkten zuzuschreib'en sein wie pädagogisch wertvoller Arbeit.
Vielleicht ist überall die Organisation von wirklich tiefer
Wirkung nur für die kleine Schar der verantwortlich Mit¬
arbeitenden, Die Führer aus dem Kreise der Jugend machen
eine Schule durch, wie sie ihnen sonst nirgends geböten wird.
Doch selbst bei einer solchen Beschränkung wäre die Bedeutung
der Jugendorganisationen groß genug, um unsere Betrachtung
zu rechtfertigen.
Versuchen wir nunmehr, an einem bestimmten Beispiel die
Fruchtbarkeit unserer Betrachtungsweise zu zeigen.
21
Die Organisation der jüdischen Jugend
in Deutschland.
I. Das Uniersochungsmaierml.
Der Verband der jüdischen Jugendvereine Deutschlands.
1. Die Vereine.
Unsere Darstellung beschränkt sich auf die im „Verband der
Jüdischen Jugendvereine Deutschlands“ zusammengeschlossenen
Vereine. Es ist das die einzige jüdische Jugendorganisation, die
schon allein ihrer ziffernmäßigen Ausbreitung nach wirkliche
Bedeutung beanspruchen kann. Wir werden in einem Anhang
über jüdische Jugendbestrebungen außerhalb des Verbandes
kurz berichten.
Der Verband der Jüdischen Jugendvereine Deutschlands
wurde im Jahre 1909 mit 25 Vereinen und 1300 Mitgliedern ge¬
gründet. Er zählt heute 128 Vereine mit zirka 20 000 Mitgliedern,
von denen zirka 6000 fördernde, d. h. außerordentliche sindj p )
Wenn wir nach einer allerdings sehr rohen Schätzung die Zahl
der jüdischen jungen Leute beiderlei Geschlechts zwischen 14 und
25 Jahren auf 100 000 annehmen, 11 ) so entspricht der Prozentsatz
J0 ) Alle statistischen Angaben, die sich auf die Gegenwart beziehen,
können nicht genau sein. Vergl. hierzu das Vorwort.
J1 ) Die Zahl ist folgendermaßen gewonnen: Professor Waldemar
Zimmermann gibt im Handbuch für Jugendpflege auf Grund äußerst kom¬
plizierter Berechnungen die Zahl der Gesamtbevölkerung von 14 bis 25
Jahren auf 11545 808 an. Die jüdische Bevölkerung beträgt 0,95 Prozent
der Gesamtbevölkerung. Legen wir diesen Prozentsatz der Berechnung
für die in Frage stehende Altersstufe zugrunde, so ergibt sich ungefähr
die eingesetzte Ziffer. In Wirklichkeit müßte sie kleiner angesetzt
werden, da im Altersaufbau der jüdischen Bevölkerung im Vergleich mit
dem der Gesamtbevölkerung die höheren Altersklassen stärker vertreten
sind als die niederen. Außerdem ist infolge der ganz anderen Bildungs-
verhältnisse bei den Juden die Zahl der Schulentlassenen dieser Alters¬
stufe erheblich kleiner als bei der Gesamtbevölkerung. Diese Unter¬
schiede werden aber dadurch etwas ausgeglichen, daß die jüdischen
Jugendvereiue die ordentliche Mitgliedschaft im allgemeinen bis zum
30. Lebensjahre zulassen, in der oben angeführten Zahl der Mitglieder
sich also auch solche von 25—30 Jahren befinden.
3
22
der durch die Jugendbewegung erfaßten jungen Leute dem, den
auch die evangelischen und katholischen Jugend vereine im all¬
gemeinen angeben.
Die Bedeutung der jüdischen Jugendbewegung für das jü¬
dische Gemeinschaftsleben der Gegenwart wird verstärkt durch
die sehr gleichmäßige Ausbreitung der Vereine über alle Gegenden
Deutschlands, auf große, mittlere und kleine Städte, wie Ge¬
meinden. Eine Gesamtübersicht findet sich am Schlüsse dieser
Arbeit.- 1 ?) liier seien nur einige zusammenfassende Tabellen
gegeben.
Die folgende Statistik erstreckt sich auf 139 Vereine, von
denen allerdings 11 Vereine dem Verbände noch nicht offiziell
angeschlossen sind, und 3 nicht selbständig, sondern Zweig¬
vereine sind.
Die Vereine verteilen sich auf folgende Bundesstaaten :
Preußen 107
Bayern 2
Sachsen 5
Württemberg 2
Baden 7
Messen 4
Braunschweig 1
Thür. Staaten 5
Elsaß-Lothringen 4
Hansestädte 2
Die große Zahl der Vereine in Preußen überrascht nicht,
wenn man bedenkt, daß mehr als zwei Drittel aller deutschen
Juden in Preußen wohnen. Bemerkenswert ist die Verteilung
der Jugendvereine auf die einzelnen Provinzen.
Provinzen östlich von Berlin, 1 -!)
Zahl der
Oesamt-
Jüd. Be¬
Anteil d.J. an
Provinz
Vereine
Bcvölkerung
völkerung
d. Gegamtbev.
Ostpreußen
5
2 064 175
13 027
0,63
Westpreußen
4
1 703 474
13 954
0,82
Posen
11
2 099 831
26 512
1,26
Schlesien
12
5 225 962
44 985
0,86
Pommern
4
1 716 921
8 862
0,52
Brandenburg
5
4 092 616
61 343
1,50
(ohne Berlin)
Berlin
1
2 071 257
90 013
4,34
12 ) Seite 61.
13) j. Segall „Die Zahl der Juden in Deutschland nach der Volks¬
zählung vom 1. Dezember 1910“, Zeitschr. für Demographie und Sta¬
tistik der Juden, 8. Jahrg. 1911,
23
Provinzen westlich von Berlin.
Provinz
Zahl der
Gesamt-
Jfid. Be- Anteild.J.an
Vereine
Bevölkerung
vöikerung d. Gesamtbev.
Hannover
10
2 942 436
15 545 0,53
Schleswig-Holstein
—
1 621 004
3 343 0,21
Sachsen
5
3 089 275
7 833 0,25
Westfalen
14
4 125 096
21 036 0,51
Rheinland
26
7 121 140
57 287 0,88
51 781 2,33
Hessen-Nassau
10
2 221 021
Das Mißverhältnis zwischen der Zahl der Vereine und der
jüdischen Bevölkerung ist nicht so groß wie es nach obiger Ta¬
belle aussieht. Um die östliche und die westliche Hälfte der
Monarchie vergleichen zu können, müssen wir Großberlin her¬
ausnehmen. Es gibt dann in den östlichen Provinzen 40 Ver¬
eine (Berlin und Neu-Kölln fehlen) bei einer jüdischen Bevölke¬
rung von 132 130, in den westlichen Provinzen 65 Vereine bei
einer Bevölkerung von 156 824.
Die Jugendvereine folgen genau der allgemeinen Entwick¬
lung. In den Provinzen mit zunehmender jüdischer Bevölkerung
(dazu gehören alle westlichen Provinzen mit Ausnahme von
Sachsen und Schleswig-Holstein) breiten sich die Vereine rasch
und leicht aus. In den Provinzen mit abnehmender jüdischer Be¬
völkerung (Schleswig-Holstein, Sachsen und alle östlichen Pro¬
vinzen außer Brandenburg) haben die Jugendvereine ein schweres
Arbeitsfeld, da unter den Abwanclernclen naturgemäß die schul¬
entlassene Jugend, die in das Erwerbsleben eintritt, besonders
stark vertreten ist.
Es bestehen Vereine
in Städten mit mehr als 100 000 Einwohnern
„ 50—100 000
„ 20— 50 000
„ 5— 20 000
„ weniger als 5 000
>>
n
}y
j >
37 Vereine
21
37
18
19
in Gemeinden mit mehr als 1000 jüd. Einwohnern
J 7
>>
>> )>
>> >>
}} ))
500—1000
250— 500
100— 250
>>
„ weniger als 100
42 Vereine
30
28
23
9
>>
(Daß in diesen Tabellen nur 132 Vereine erscheinen, erklärt
sich daher, daß in 7 Städten zwei Vereine bestehen, die in den
Tabellen nur einmal gezählt sind.)
3 *
24
2. Die Mitglieder.
Zusammenstellungen aus clem vorliegenden nur sehr dürf¬
tigen Material über Alter, Geschlecht, Herkunft, Bildung und Be¬
ruf der Mitglieder würden nur Zufallsresultate ergeben. Wir be¬
schränken uns daher darauf, einige Beispiele zu bringen, die den
nachfolgenden Erörterungen zur Veranschaulichung dienen wer¬
den. Leider geben auch sie ein etwas einseitiges Bild. Der ge¬
wissermaßen kleinbürgerliche Charakter, |der aus den Zahlen
spricht, ist wohl für eine große Zahl der Vereine richtig, die kleine
aber für die Entwicklung des geistigen Verbandslebens sehr be¬
deutende Zahl von Vereinen mit einer sehr viel höher stehenden
Mitgliedschaft kommt jedoch in der Statistik nicht genügend zum
Ausdruck. Mit dieser Einschränkung bieten die Zahlen mancher¬
lei Bemerkenswertes.
Alter und Geschlecht.
Eingegangene
Antworten
Männliche Mitglieder
unter 20 über 20 J.
Weibliche Mitglieder
unter 20 über 20 J.
Hannover ] J )
90
13
17
29
31
Gelsenkirchen
81
18
32
6
25
Oppeln
31
8
6
12
5
Kempen i. P.
31
11
5
4
11
Kippenheim
24
3
9
3
9
Borken (Cassel)
21
3
9
1
8
Gebürtigkeit.
Ort
Am
Ort geboren
Auswärts geboren
Hannover
33
56 (l ohne
Angabe)
Gelsenkirchen
25
56
Oppeln
9
22
Kempen i.
P.
26
5
Kippenheim
10
12
Borken (Cassel)
16
5
M.) in Hannover
bestehen für die
männliche und die
weibliche
Jugend getrennte Vereine,
die übrigen
Vereine
haben männliche und
weibliche Mitglieder.
25
Beruf des Vaters resp. der Mutter.
Hannover:
Arzt 1 Bankbeamter
Rechtsanwalt 1 Reisender
Lehrer 2 Bücherrevisor
König!. Baurat a. D. 1 Kultusbeamter
Kaufmann (oh. näh. Ang.) 44
Bankbeamter
Reisender
Bücherrevisor
Kultusbeamter
Optiker
Uhrmacher und Juwelier
Buchbinder - Innungsmeis¬
ter u. Druckereibesitzer
Bäckermeister
Metzger
Rentier
ohne Angabe
Bankier 2 Buchbinder - Im
Hotelbesitzer . 2 ter u. Drucke
Viehhändler 1 Bäckermeister
Handelsmann 1 Metzger
Versicherungs-Inspektor 2 Rentier
Agent 4 ohne Angabe
Mutter ohne Beruf
Pensionsinhaberin (Vater tot)
Geschäftsinhaberin (Vater tot)
Mit im Geschäft tätig (Vater Kaufmann)
Friedhofsinspektorin (Vater ohne Angabe)
Gefsenfurcßen :
Arzt 1 Gastwirt
Lehrer 3 Metzger
Fabrikdirektor 1 Klempner
Kaufmann (oh. näh. Ang.) 41 Maler
Agent 1 Krankenpfleger
Reisender 1 Privatier
Viehhändler 15 ohne Angabe
Mutter durchweg ohne Beruf.
Oppefn:
Rechtsanwalt 1 Gastwirt
Kaufmann (oh. näh. Ang.) 13 Destillateur
Vieh- resp. Pferdehändler 3 Klempnermeister
Fuhrwerksbesitzer 2 Rentier
Handelsmann 2 ohne Angabe
Mutter ohne Beruf
Agenturgeschäft (Vater ohne Angabe)
Ausschenkerin (Vater ohne Angabe)
2
1
1
2
4
29
r
1
26
Kgm peil:
Kaufmann (ohne nähere Handelsmann
Angabe) 18 Gastwirt
Fuhrwerksbesitzer 1 Fleischermeister
Lederhändler 1 Fuhrmann in Russ.-Polen
Fischhändler 1 ohne Angabe
Mutter ohne Beruf
Geschäftsinhaberin (Vater ohne Angabe)
Schankwirtschaftsinhaberin (Vater ohne Angabe)
Handelsfrau (Vater Fuhrmann)
Kippen fieiut:
Kaufmann (oh. näh. Ang.) 8 Handelsmann
Getreidehändler 1 Reisender
Vieh- resp. Pferdehändler 5 Metzger und Wirt
Weinhändler 1 Metzger
Fruchthändler 1 . ohne Angabe
Mutter ohne Beruf
Pensionsinhaberin (Vater Reisender)
Borfien:
Lehrer 1 Metzger
Kaufmann (ohne nähere Schuhmachermeister
Angabe) 5 Buchbindermeister
Viehhändler 7 ohne Angabe
Mutter ohne Beruf
1
2
2
1
4
27
1
1
1
1
4
1
23
1
2
1
2
3
20
Modistin (Vater ohne Angabe)
1
Schulbildung.
i M ä n n 1 i c h e M i t g 1 i e d e r.
Gymnas. oder Real- Volks- Berechtigt Nicht ber.
0rt Obcrrealsch. schule schule zum Einj.-Freiw. D.
Hannover 16 9 5 17 13
Gelsenkirchen^) 14 11 20 14 35 (ohne An¬
gabe i)
Oppeln 5 1 8 3 9 (oh n« An¬
gabe 2)
Kempen 7 — 9 2 14
Kippenheim 10 1 1 5 7
Borken — 1 11 — 12
-ö) 5 Angaben sind ungenau,
27
Weibliche
Mitglieder.
Ort
Höhere
Mittel- Volks- Ungenaue
Schule
schule schule Angabe«
Hannover
38
7 15
Gelsenkirchen
5
9 14 3
Oppeln
12
— 5
Kempen
10
— 5
Kippenheim
—
— 12
Borken
—
— 7
Beruf der
Mitglieder.
Hannover:
Männlich e.
Weibliche.
Selbständig oder leitender
Beamter:
Selbständig oder leitende Beamte:
Rechtsanwalt
1
Lehrerin
1
Selbständ. Kaufmann, 1
Selbst. Schneiderin
1
Prokurist
1
Angestellte:
Geschäftsführer (im
väter-
Kontoristin
6
liehen Geschäft)
1
Buchhalterin
5
Börsenvertreter
1
Korrespondentin
1
Angestellte:
Sekretärin
2
Rendant
1
Bankbeamtin
2
Korrespondent
4
Versicherungsbeamtm
1
Buchhalter
3
Kaufm. Angestellte
2
Reisender
1
Verkäuferin
2
Bankbeamter 1
Verkäufer 4
Schneider 1
Buchbindergeselle 1
Io BerufsYorbereitung:
Schüler 1
Referendar 1
ICaufm. Lehrling 4
Volontär 1
lm elterlichen deschäft 2
Schneiderin 2
Putzarbeiterin 1
In Berufsvorbcreitung:
Musikstudierende 1
Handelsschülerin 1
Lehrling (Kontor) 1
Lehrling (Schneidern) 1
Lehrling (Wäsche¬
zuschneiden) 1
Ohne Beruf 27
Von diesen haben 14 eine
Berufsausbildung (meist Han¬
delsschule) erhalten.
Gefsenftircfjoii:
28
M ä n u 1 i c h c.
Selbständig oder leitender Beamter:
Rechtsanwalt 1
Tierarzt 1
Selbst. Kaufmann 5
Leitender kfm. Beamter 7
Installateur 1
Maler 1
Klempner 1
Angestellte:
Handlungsgehilfen 18
Reisender 2
Dekorateur 1
Substitut 1
In Berufsvorbereünng:
Referendar 1
Student 2
Kaufrn. Lehrling 7
Oppefn:
Selbständig oder leitender Beamter:
Zigarrenfabrikant 1
Selbst. Kaufmann 1
Angestellte:
Verkäufer 5
Verkäufer u. Buchhalter 1
Verkäufer u. Dekorateur 2
Apothekergehilfe 1
In Berufsvorbereitung:
Kaufm. Lehrling 2
Apothekerlehrling 1
W e I b 11 c li c.
Selbständig oder leitende Beamte:
Lehrerin 1
Ladeninhaberin 2
Selbst. Schneiderin 2
Selbst. Putzmacherin 1
Putzdirektrice 1
Angestellte:
Disponentin 1
Kontoristin 6
Verkäuferin 10
Schneidergehilfin 1
Köchin 1
In Berufsvorbereitung:
Ohne Beruf 6
Selbständig oder leitende Beamte:
Geschäftsinhabern! 1
Angestellte:
Kontoristin 1
Fakturistin 1
Kassiererin 2
Kaufm. Angestellte 1
Im elterlichen Geschäft 1
Schneiderin 1
Putzmacherin 2
In Berufsvorbercitung:
Ohne Beruf 7
(Davon 2 mit Berufsausbil¬
dung.)
29 —
Kempen:
Männliche.
Selbständig oder leitender Beamter:
Prokurist 1
Geschäftsführer 1
Leiter des mütterlichen
Geschäfts 1
Angestellte:
Verkäufer 6
Verkäufer und
Korrespondent 1
Handlungsgehilfe 2
In Berufsvorbereitung:
Kaufm. Lehrling 4
Kippen fiaims
Selbständig oder leitender Beamter:
Selbst. Kaufmann 1
Prokurist 1
Angestellte:
Kaufm. Angestellter 2
Buchhalter 1
Reisender u. Buchhalter 2
Reisender 3
Verkäufer 1
In Berufsvorbereitung:
AAedizinalpraktikant 1
Borden:
Selbständig oder leitender Beamter:
Lehrer 1
Selbst. Schneider 2
Angestellte:
Buchhalter 1
Reisender 1
Im väterlichen Geschäft 5
In Berufsvorbereitung:
Schuhmacherlehrling 1
Weibliche.
Selbständig oder leitende Beamte:
Angestellte:
Verkäuferin 1
Kaufm. Angestellte 1
Im elterlichen Geschäft 5
Im elterl. Geschäft u. Haus 4
Putzmacherin 1
In Berufsvorbereitung:
Ohne Beruf 3
(Im Haushalt tätig.)
Selbständig oder leitende Beamte:
Ladeninhaberin 1
Angestellte:
Kontoristin 1
Bureaugehilfin 1
Haushälterin 1
In Berufsvorbereitung:
Ohne Beruf 8
Selbständig oder leitende Beamte:
Putzmacherin I
Angestellte:
In Berufsvorbereitung:
Ohne Beruf 8
(Geben alle an, Stütze im
Haushalt.)
30
II. Das Wesen der jüdischen Jugend vereine.
1. Die jüdischen Jugendvereine
als sozial-wirtschaftliche Organisation
a) Im liauplzweck.
aa) Die jüdischen
Jugendvereine als Wohlfahrts-Organisation.
(Die soziale Lage der jüdischen Jugend.)
q. Für die männliche Jugend.
Wir haben in der Einleitung gesehen, daß wir alle Jugend¬
organisationen sozial-wirtschaftlich und sozial-pädagogisch be¬
trachten können, daß aber die Bedeutung der einen oder der an¬
deren Betrachtungsweise für das Wesen der Vereine verschieden
ist. Die jüdischen Jugendvereine sind ausgesprochene Erziehungs¬
vereine von ganz bestimmter geistiger Struktur. Wenn wir trotz¬
dem eine kurze sozial-wirtschaftliche Betrachtung voranschicken,
geschieht das aus dem Grunde, weil die Art der geistigen Be¬
einflussung innerhalb der Vereine nach Form und Inhalt durch
soziale Verhältnisse bedingt ist.
Diese Gliederung hat außerdem den Vorzug, daß sie ge¬
stattet, die jüdischen Jugendvereine in ihrer historischen Ent¬
wicklung zu verfolgen.
Wir haben unterschieden zwischen dem Wohlfahrls- und dem
Standeselement. Wir müssen ferner unterscheiden, ob bei sozial-
wirtschaftlicher Betrachtung das Wesen der Organisation er¬
schöpft wird oder ob dadurch nur ein Nebenzweig der Vereins-
tätigkeit erfaßt wird.
Die jüdische Wohlfahrtspflege ist zu allen Zeiten sehr stark
entwickelt gewesen. Sie stammt aus der Zeit, in der die Fürsorge
für die wirtschaftlich Schwachen ganz allgemein auf religiöser
Grundlage ruhte. Sie hat sich aber bis in die neueste Zeit sehr
31
kräftig fortentwickelt.- 10 -) Als Wohlfahrtsorganisationen erscheinen
auch die ersten Jugendvereine, die in den neunziger Jahren des
vorigen Jahrhunderts gegründet wurden (Stuttgart 1892, Ham¬
burg 1895, Frankfurt 1896, Lörrach, Bremen, Nordhausen,
Düsseldorf, Allenstein, Erfurt um 1900). Die Vereine bezwecken
„eine Kräftigung der jüdischen jungen Leute in körperlicher, in
sittlicher und geistiger Beziehung“ (Frankfurt a. M.). „Es gilt
einen Sammelpunkt zu bilden für alle jungen Leute, besonders
für diejenigen, die von auswärts hierhergekommen sind.“ (Frank¬
furt a. M.) Es wird zwar auch die Erziehung zur Treue gegen¬
über dem Judentum unter den Gründungstendenzen genannt,
aber im Vordergrund besteht das Bestreben, die Jugend vor den
Gefahren der Großstadt zu schützen. Man bietet den Mitgliedern
ein freundliches Heim, die Möglichkeit zur Fortbildung jeglicher
Art, zu fröhlicher Geselligkeit. Der Mitgliedsbeitrag ist außer¬
ordentlich gering. Die Chefs werden dringend gebeten, ihre
jungen Angestellten zur Teilnahme an den Vereins Veranstal¬
tungen anzuhalten, „liegt es doch im eigensten Interesse der Prin¬
zipale, daß ihre Gehilfen, besonders die im jugendlichen Alter
stehenden, ihre freie Zeit angemessen verbringen“. Jüdisch sind
diese Vereine durch ihre Mitglieder, durch die selbstverständliche
Beobachtung der jüdischen Religionsgesetze bei allen Veranstal¬
tungen, durch die Heiligung des Sabbats, die Feier der jüdi¬
schen Freudenfeste.
Diese Vereine gehen aus von einzelnen Philantropen oder
häufiger noch von Organisationen Erwachsener, besonders von
den Logen des unabhängigen Ordens „Bnei Briß“, die seit 1891
planmäßig agitieren und sich häufig das Recht Vorbehalten, den
Vorsitzenden des Vereins zu stellen oder doch einen weitgehen¬
den Einfluß auf die Leitung des Vereins auszuüben.
Eine große Zahl der auf dieser Basis errichteten Vereine ist
wieder eingegangen. Die obengenannten bestehen noch, gehören
sogar zu den blühendsten des Verbandes. Sie haben aber eine
durchgreifende Wandlung durchgemacht.
Diese rein soziale Jugendpflege beruht auf der Voraus¬
setzung, daß eine große Zahl von erwerbstätigen Jugendlichen
10 ) Vergl. die jüdischen Gemeinden und Vereine in Deutschland.
Heft 3 der Veröffentl. des Bureaus für Statistik der Juden.
32
dem erzieherischen Einfluß einer häuslichen Gemeinschaft ent¬
zogen ist. Die starke Betonung der Fürsorge für die ortsfremden
jungen Leute bei der Gründung der ältesten jüdischen Jugend¬
vereine zeigt, daß man hier von der gleichen Voraussetzung
ausgeht. Leider läßt es sich nicht statistisch nachweisen, daß
diese Voraussetzungen fast durchweg für die jüdischen Ge¬
meinden nicht gegeben sind. Die Berufszählung gibt zwar Auf¬
schluß über die Verteilung der Berufszugehörigen auf die ein¬
zelnen Altersklassen, unterscheidet aber bei dieser Gelegenheit
nicht nach den Konfessionen, so daß wir nicht angeben können,
auf welche Berufsgruppen sich die jüdische Jugend von 14 bis
25 Jahren verteilt und wieweit sie überhaupt erwerbstätig ist.
Aber bereits die allgemeine jüdische Berufsstatistik beweist die
Richtigkeit der aufgestellten Behauptung. Es gibt unter den deut¬
schen Juden kein eigentliches Proletariat. 17 ) Die geringen An¬
sätze, die dazu vorhanden sind, finden sich in den wenigen
Großgenieinden. Frankfurt a. M. ist z. B. eine solche; die so¬
ziale Struktur der Frankfurter Gemeinde ähnelt in gewissem
Sinne der einer wirklichen Stadtgemeinde. Es sind alle gesell¬
schaftlichen Schichten unter den Juden vorhanden, und zwar
'nicht wie sonst, in einigen wenigen Vertretern, sondern in ge¬
wisser Masse. Hier findet sich ein verhältnismäßig großes jü¬
disches Proletariat, wie es außerdem vielleicht noch in Berlin
und einigen sächsischen Gemeinden mit zahlreicher ostjüdischer
Bevölkerung vorhanden ist. Und es ist bemerkenswert, daß der
Frankfurter Montefiore-Verein, der größte der bestehenden
Jugendvereine, den sozialen Charakter am stärksten bewahrt hat,
und daß der Berliner Jugendbund sich aus ganz anderen An¬
fängen immer mehr zu einem Jugendpflegeverein entwickelt.
17 ) Hirsch berechnet in seinem sehr instruktiven Aufsatz: „Ge¬
danken zu Segalls Buch über die deutschen Juden“ (K. C. Blätter 1912,
S. 54) die Zahl der jüdischen Arbeiter in Gewerbe, Industrie und Handel
auf 22 553. Und auch diese betätigen sich überwiegend in handwerks¬
mäßigen Betrieben. „Unter den 22533 „Arbeitern“ sind z. B. gezählt:
rund 4900 Schneider und Näherinnen, 1218 Putzmacherinnen, 2263
Metzgergesellen, 593 Bäckergesellen, alles in allem weit über die Hälfte
in solchen Berufen, die weit davon entfernt sind, proletarisch in üblichem
Sinne zu sein, ja, deren Tätigkeitsart — man denke nur an Schneiderei,
Metzgerei — immer mehr kaufmännisch wird.“
33
Im allgemeinen aber erfüllt die Schichtung der jüdischen
Gemeinschaft die Voraussetzungen einer sozialen Jugendpflege
nicht. Nahezu zwei Drittel aller jüdischen Kinder in Preußen
erhalten eine bessere als Volksschulbildung (64 Prozent, bei der
nichtjüdischen Bevölkerung nur 9 Prozent).- 38 ) Die jüdischen
jungen Leute treten also erst spät und gut vorgebildet in das Er¬
werbsleben ein. Da außerdem der Aufstieg der jüdischen Massen
in Deutschland aus ärmlichen Verhältnissen in eine gehobene
Mittelschicht erst dem 19. Jahrhundert angehört, bestehen in der
jüdischen Bevölkerung noch keine stark ausgeprägten sozialen
Differenzierungen. Man betrachte einmal die großen weitver¬
zweigten jüdischen Familien. Fast ausnahmslos findet man in
ihnen alle sozialen Stufen vom höchsten Reichtum bis zu großer
Armut vertreten. Der starke Zusammenhang, der die Juden
charakterisiert, verhindert aber die Proletarisierung dieser unteren
Schichten. Unsere Beispiele (siehe S. 26) zeigen allerdings, daß
die Zahl der jungen Leute mit nur Volksschulbildung, absolut
betrachtet, nicht so sehr gering ist. Die Jugendvereine haben die
Tendenz, die minder gebildeten Schichten anzuziehen. Das er¬
klärt sich einmal daraus, daß in den oberen Schichten die Jugend
viel weniger frei ist für soziale Beeinflussung, weil häufig Fa¬
milie, gesellschaftliche Verpflichtungen, akademische Sonder¬
interessen die Eingliederung in eine allgemeine Bewegung
hemmen. Bei der jüdischen Jugend kommt außerdem noch
hinzu, daß unter den wohlhabenden Juden das jüdische Gemein¬
schaftsbewußtsein verhältnismäßig am stärksten an Kraft ver¬
loren hat. Vor allen Dingen macht sich auch hier der starke Bil¬
dungsdrang der Juden bemerkbar. Die unteren Schichten er¬
greifen mit Freuden die Gelegenheit, sich fortzubilden, ihren Ge¬
sichtskreis zu erweitern und auch — äußerlicher betrachtet —
mit Gebildeteren zusammenzukommen. Aber absolut betrachtet,
ist diese Schicht viel zu gering, um auf ihr die Vereinsarbeit auf¬
zubauen. Und es handelt sich auch hier durchaus nicht um prole¬
tarische Jugend. Unsere Beispiele zeigen, daß auch diese
weniger gebildeten jungen Leute gerade so wie die Mehrzahl der
besser Vorgebildeten ganz überwiegend im Handel oder in stark
kaufmännisch betriebenen Gewerben tätig sind.
Dr. Erich Simon, „Das Lernbedürfnis der preußischen Juden im
Lichte der Statistik“, Zeitschr. für Demogr. und Statist, d. J. X. Jahrg. 1914.
34
b. Für die weibliche Jugend.
Der philantropische Vereinstyp tritt uns bei den ersten Ver¬
einen für die weibliche Jugend noch deutlicher entgegen als bei
denen für die männliche, und er hält sich hier auch länger. Das
liegt in den allgemeinen Verhältnissen begründet. Man hat sehr
lange jedes erwerbstätige Mädchen für hilfs- und schutzbedürftig
angesehen. Auch die Vereine für kaufmännische weibliche Ange¬
stellte werden zuerst als Wohlfahrtsvereine von älteren Frauen
der Oberschicht gegründet, die selbst dem Beruf fernstehend)
Erst ganz allmählich kämpfen sie sich zu Standesvereinen durch.
Für die Mehrzahl der jüdischen Mädchen kommt ein Fürsorge¬
verein durchaus nicht in Betracht. Bei der jüdischen Bevölkerung
steht gerade so wie bei der christlichen ein Drittel der weiblichen
Bevölkerung im Beruf.- 20 ) Aber die Schichtung ist eine ganz
jandere. Es fehlen die Arbeiterinnen in Landwirtschaft und In¬
dustrie, der Hauptteil fällt auf die kaufmännischen Angestellten,
deren Zahl sich seit der Berufszählung von 1895 bis 1907 ver¬
fünffacht hat. Die Mehrzahl dieser Mädchen wohnt bei den
Eltern, zahlt nur selten einen Zuschuß zum elterlichen Haushalt
und hat daher ihr ganzes Oehalt zur Verfügung für Garderobe
und zur Befriedigung ihrer Kultur- und Luxusbedürfnisse. Sie
bilden eine Gesellschaftsschicht, die der der jungen Kaufleute, die
das Hauptkontingent der männlichen Jugendvereinsmitglieder
stellen, durchaus vergleichbar ist.
bb) Die jüdischen Jugendvereine als Standesorganisation.
(Die Stellung der jüdischen Handelsangestellten zur
Berufsorganisation.)
Wie ist es nun möglich, daß sich in dieser kaufmännischen
Schicht eine eigene jüdische Jugendorganisation bilden konnte?
Wieso wird sie nicht durch die paritätischen Berufsorganisa-
3 ®) Vergl. Ida Kisker, „Die Frauenarbeit in den Kontoren einer
Großstadt.“ Tübingen 1911.
20 ) Wahrscheinlich sind die jüdischen Mädchen noch stärker er¬
werbstätig als die christlichen. Da bei den Juden, von den mithelfenden
Familienangehörigen abgesehen, die Erwerbsarbeit verheirateter Frauen
sehr viel seltener ist als bei der nicht jüdischen Bevölkerung, fällt auf
die Mädchen ein höherer Anteil.
35
tioneu absorbiert, die ja auch eine ganze Reihe jüdischer Mit¬
glieder zählen. Das hat in erster Linie geistige Ursachen. Der
Reorganisationsprozeß, der das Judentum der letzten Jahrzehnte
charakterisiert, setzt bei der Jugend am stärksten ein und schafft
sich eine Organisation. Die Arbeit entbehrt nicht eines politischen
Beigeschmacks, junge Akademiker stehen vielfach an der Spitze.
Davon wird noch an anderer Stelle ausführlich die Rede sein.
Aber aus geistigen Strömungen allein heraus läßt sich das Vor¬
handensein einer Organisation, die vorwiegend aus jüdischen
kaufmännischen Angestellten besteht, nicht erklären. Es besteht
auch ein Zusammenhang zwischen wirtschaftlichen und geistigen
Verhältnissen. Zum Vergleich seien die evangelischen Jünglings¬
vereine herangezogen. Auch ihre Mitglieder gehören zum großen
Teil dem Handelsstande an. Aber sie entstammen vorwiegend
den Kreisen der kleinen selbständigen Gewerbe- und Handel¬
treibenden, die sich ständig der Gefahr der Proletarisierung
gegenübersehen. Hier herrscht der politische und kirchliche Kon¬
servativismus stark. Und die Jugend dieser Kreise hält sich ent¬
weder zur kirchlichen Organisation, d. h. sie tritt in den Jüng¬
lingsverein ein, oder sie wählt die national-wirtschaftliche und
füllt die Reihen des Deutsch-nationalen Handlungsgehilfenver¬
bandes. 21 ) Die jüdische kaufmännische Jugend gehört einer ganz
21 ) Sehr instruktiv ist die Tabelle, die der Deutsch-nationale Hand¬
lungsgehilfenverband über die Herkunft seiuer Mitglieder veröffentlicht
hat. („Die wirtschaftliche Lage der deutschen Handlungsgehilfen“, Ham¬
burg 1910. S. 61 ff.)
Beruf des Vaters (der Mutter):
Selbständiger Kaufmann
Selbständiger Gewerbetreibender
Selbständiger Landmann
Freie Berufe
Oeffentliche Beamte
Privatangestellte
Gehilfen, Arbeiter
Ohne genaue Angabe
Diese Tabelle beweist unseres Erachtens nicht, wie Lederer („Die
Privatallgestellten in der modernen Wirtschaftsentwicklung“, Tübingen
1912. S. 63 ff.) annimmt, daß nur ein verhältnismäßig kleiner Teil der
dei Handlungsgehilfen aus Arbeiterkreisen stamme. Handlungsgehilfen
aus Arbeiterkreisen passen ihrer ganzen Denkungsart nach nicht in den
D. H. V., man kann sich eigentlich itn Gegenteil wundern, daß doch
19 Prozent Söhne von Proletariern sind. Kisker hat für die Herkunft
Anzahl:
Von je 100 der
Beschäftigten :
3324
10,16
9836
30,04
2659
8,12
809
2,66
5386
16,45
3986
11,99
6210
18,96
531
1,62
— 36
andern Schicht an. Es sind durchweg I<aufmannssöhne. ?? )
Sie sind nicht nur im allgemeinen besser vorgebildet, sie füh¬
len sich noch nicht als dauernd Angestellte. Sehr viele arbei¬
ten im Geschäft des Vaters in der Absicht, dieses Geschäft
später zu übernehmen. Die wenigsten haben noch die Hoff¬
nung, selbständig zu werden oder sich doch wenigstens in eine
leitende Stellung hinaufzuarbeiten, aufgegeben. Dadurch ist
zwischen ihnen und ihren christlichen Kollegen eine Kluft vor¬
handen.
Für die weibliche Jugend gilt dasselbe wie für die männ¬
liche. Hier macht sich vor allem die bessere Vorbildung gel¬
tend- 23 ), die sorgfältigere häusliche Pflege (deren Mangel Kisker so
sehr beklagt) und der stärkere Ehrgeiz. 2 - 1 )
Der Unterschied zwischen den jüdischen und den christlichen
Angestellten ist nicht so aufzufassen, als ob es nicht mindestens
so viel christliche kaufmännische Angestellte gäbe, die von der
gleichen Berufspsychologie erfüllt sind wie die jüdischen. Aber
alle Berufsorganisationen tendieren zur Masse. Die Standes¬
vereine der kaufmännischen Angestellten werden von jenen tiefe¬
ren Schichten beherrscht. Die oberen, die jüdischen wie die
von vier Fünfteln der Kontoristinnen in Leipzig folgende Tabelle aufge¬
stellt (a. a. 0. S. 55):.
Beruf des Vaters:
abs.
°/o
Höhere Beamte, selbständige Fabrikanten usw.
122
8
Mittlere Beamte und kaufin. Angestellte
296
20
Selbständige Gewerbetreibende
344
23
Unterbeamte
136
9
Werkmeister und gelernte Arbeiter
400
26
Diverse
214
14
Man vergleiche mit diesen Tabellen das Herkommen der Mitglieder
der jüdischen Jugendvereine, über das wir leider aus den im Vorwort
angegebenen Gründen nur einige wenige Angaben machen konnten.
(Siehe S. 25.)
22) Die Statistik des D. H. V. (a. a. 0. S. 62) zeigt, daß die Gehalts-
vcrhältnisse der Söhne selbständiger Kaufleute am günstigsten liegen.
23 ) Von 465 Kontoristinnen in Leipzig hatten 427 die Volksschule,
nur 38 die höhere Mädchenschule besucht. (Kisker a. a. O. S. 64.) Vergl.
hiermit unsere Tabelle S. 27.
?■*) Hirsch weist auf eine Zusammenstellung der Leistungen christ¬
licher und jüdischer Warenhausverkäuferinnen hin. Die Umsätze und
folglich die Gehälter der jüdischen Mädchen übersteigen weit diejenigen
der christlichen, an manchen Lägern erreichen sie durchweg das
Doppelte (a. a. O. S. 55).
37
christlichen, sind, so weit sie nicht Führerdienste leisten, für
andere als nur Berufsinteressen frei, und das umsomehr, je
stärker sie individuell durch den Beruf in Anspruch genommen
werden. Der Drang zu einem sozialen Ausgleich macht sie um
so empfänglicher für allgemeine Bestrebungen.
Segall 25 ) hat nachgewiesen, daß die Berufsverteilung der
deutschen Juden sich allmählich mehr und mehr der ihrer Um¬
gebung angleicht. Dieser Beweis ist allerdings von Hirsch sehr
stark angefochten worden. Aber darin stimmen beide überein,
daß auch die Juden immer stärker hineingedrängt werden in die
Privatb'eamtenlaufbahn. Damit wird auch bei den Juden der
Typ des fest besoldeten Angestellten geschaffen. Schon heute
trennt den jüdischen von dem christlichen Angestellten vielfach
weniger die Verschiedenheit der Stellung als die der Herkunft.
Entstammen erst beide in erheblichem Maße einer Angestellten¬
schicht und treten mit dem Zugehörigkeitsgefühl zu dieser Schicht
in das Leben hinaus, dann werden die Unterschiede sich stark
verwischen.
Es bleibt noch eine Frage zu erörtern, die sich gerade im
Vergleich der konfessionellen Jugendorganisationen untereinan¬
der aufdrängt: die Bedeutung der Berufszugehörigkeit der Mit¬
glieder für die innere Entwicklung der Vereine. Alle drei
Konfessionen wenden sich zunächst an die gesamte Jugend ohne
Unterschied des Berufes und des Alters unter Bevorzugung der
Herangewachsenen. Wir haben bereits gesehen, daß sich bei den
katholischen Vereinen die allgemeine Organisation nicht einmal
für die Jugend unter 17 Jahren vollständig hält. Gerade die uns
hier besonders interessierende kaufmännische! Schicht ist von
vornherein in Standesvereinen zusammengefaßt. Für die heran¬
gewachsene Jugend ist der Uebergang aus dem Jugendverein in
den Standesverein noch vor der Militärzeit erwünscht, da nur
der Standesverein die Möglichkeit habe, durch seine wirtschaft¬
lichen Einrichtungen (Kassen usw.) die jungen Leute über die
Militärzeit fort zu halten. Die evangelische Jugendpflege hat
sich, wie wir gesehen haben, nicht in gleicher Weise entwickelt.
Eine Scheidung nach Berufen konnte bei den jüdischen Jugend-
J* Segall, „Die beruflichen und sozialen Verhältnisse der Juden
in Deutschland.“ Veröffentl. des Bureaus fUr Statistik der Juden. Berlin
1912.
4
38
vereinen nicht erfolgen, dafür sind die einzelnen Berufe viel zu.
schwach vertreten. Aber die überwiegende Mehrzahl der Mit¬
glieder gehört dem Kaufmannsstande an, es wäre also möglich
gewesen, daß sich aus den Vereinen eine besondere jüdische An¬
gestelltenorganisation entwickelt hätte. In der Tat nehmen einige
Vereine (Halberstadt, früher auch Düsseldorf) sogar satzungs¬
gemäß nur kaufmännische Mitglieder auf. Und diese Vereine
•treten bei Kaufmannsgerichtswahlen usw. geschlossen hervor.
Das sind aber nur ganz wenige Vereine. Im ganzen ist die.
jüdische Jugendbewegung keine Massenbewegung, und das wäre
die Voraussetzung zur Entwicklung von Standesorganisationen.
Sie umfaßt zwar verhältnismäßig mindestens so viele jüdische
junge Leute wie die entsprechenden katholischen Vereinigungen,
aber die absolute Zahl ist viel zu gering. Wir haben bereits er¬
örtert, daß die in Frage stehende Schicht überhaupt wirtschaftlich
nicht sehr solidarisch gesinnt ist. Diese Tatsache verhindert in
einer rein jüdischen Organisation noch stärker, daß wirtschaftliche,
Interessen die übrigen verdrängen. Die jüdischen Handelsange¬
stellten werden von den Berufsvereinen nicht absorbiert, weil sie
wirtschaftlich eine besondere Schicht darstellen. Sie sind sich
aber dieser Tatsache durchaus nicht bewußt und ihr Interesse ist
nicht in der Weise einheitlich, daß es — noch dazu bei einer so
kleinen Gesamtzahl — zu einer besonderen Organisation drängen
würde. Das Vereinsleben kann nur bei Afatarbeit aller Schichten
gedeihen, und die angeführten Beispiele zeigen, daß zwar die
Handelsangestellten überwiegen, daß aber andere Schichten, die
selbständigen Kaufleute, die Handwerker und die freien Berufe
durchaus nicht fehlen. Wichtig ist, daß an der Führung der Ver¬
eine junge selbständige Kaufleute hervorragend beteiligt sind. Die
Wirkungen liegen aber weniger auf wirtschaftlichem als auf
ethisch-pädagogischem Gebiet und gehören deshalb in den fol¬
genden Teil der Erörterung.
Von zionistischer Seite ging einmal der Versuch aus, jüdische
Angestelltenorganisationen in Deutschland zu schaffen; auch von
Nichtzionisten wurde aus rein wirtschaftlichen Gründen ein sol¬
cher Plan erwogen. 26 ) Aber schon die allerersten . vorsichtigen
Veröffentlichungen stießen auch in den Reihen der Zionisten auf
2Ö ) Vergl. Siegbert Leser: „Jüdische Angestellte.“ Mitteilungen des
Verbandes der jüdischen Jugendvereine Deutschlands, 1914, S. 207.
39
den heftigsten Widerstand. Es sprechen dabei, abgesehen von
praktischen Erwägungen, sehr stark politische Traditionen mit,
die einer Vermengung wirtschaftlicher und konfessioneller Ange¬
legenheiten grundsätzlich entgegen sind. Es ist das weniger
Doktrinarismus als das Lebensinteresse einer kleinen Minorität,
die von konfessionellen Spaltungen nur Nachteile erwarten kann.
Daß jüdische Berufsorganisationen an sich sehr wohl möglich
sind, beweist die Existenz des Zentralverbandes selbständiger
jüdischer Handwerker Deutschlands. 27 ) Die jüdischen Handwer¬
ker begegnen starken Vorurteilen bei der christlichen wie auch
bei der jüdischen Bevölkerung. Sie hoffen, durch Zusammen¬
schluß diesen Vorurteilen wirksamer entgegentreten zu können.
Vor allem aber wollen sie ihre Glaubensgenossen auf die Bedeu¬
tung eines jüdischen Handwerkerstandes für die jüdische Gemein¬
schaft hinweisen, in der Hoffnung, dadurch ihre eigene wirt¬
schaftliche Lage zu verbessern und besonders eine geeignete Lehr¬
lingsschar heranzuziehen.
Zusammenfassend stellen wir fest: Die jüdischen Jugendver¬
eine sind nicht ihrem Wesen nach sozial-wirtschaftliche Vereine.
Sie sind keine Jugendpflegeorganisationen im engeren Sinne des
Wortes, es fehlen die jugendlichen, proletarischen Schichten ent¬
stammenden Erwerbstätigen. Die Mitglieder der Jugend vereine
stehen in reiferem Alter, sie gehören nicht durchweg, aber über¬
wiegend dem Kaufmannsstande an. Infolge der besonderen
sozialen Verhältnisse der deutschen Juden ist das Berufsinteresse
dieser Angestelltenschicht mehr individuell als klassenmäßig
orientiert. Daher wird sie durch allgemeine Berufsvereine nicht
absorbiert. Zur Entwicklung von Handlungsgehilfenorganisa¬
tionen auf jüdisch-konfessioneller oder nationaler Basis fehlen die
zahlenmäßigen, politischen und psychologischen Voraussetzungen.
b) Im Nebenzweck.
Allgemeine soziale Fürsorge.
Die jüdischen Jugendvereine sind nicht ihrem Wesen nach
sozial-wirtschaftliche Vereine. Damit wird aber nicht behauptet,
daß ihnen keine sozial-wirtschaftliche Bedeutung zukäme. Eine
gewisse soziale Fürsorge für die Mitglieder ist ganz allgemein
27 ) Vergl. den Verhandlungsbericht des 3. Verbandstages in Köln
1913. Herausgegeben von der Geschäftsstelle des Verbandes.
4 *
40
am Platze. Die sozialen Maßnahmen der Vereine bestehen vor
allem darin, Klubräume mit Lese-, Schreib-, manchmal auch Be¬
köstigungsmöglichkeit bereitzustellen, Wohnungsnachweise und
Rechtsauskunftsstellen einzurichten. Es wird kostenloser Unter¬
richt gewährt oder Ermäßigung für Theater, Konzerte, Vorträge,
Bibliotheken verschafft. Vereinzelt kommen auch Geldunter¬
stützungen vor in Form von Zuschüssen zu Erholungsreisen oder
von Darlehen in besonderen Notfällen. Doch bildet das die
Ausnahme, im allgemeinen beschränkt sich der Verein darauf, dem
bedürftigen Mitglied andere Hilfsquellen zugänglich zu machen.
Ueberhaupt hat das gesamte Unterstützungswesen nicht an¬
nähernd die Bedeutung wie in anderen Jugendorganisationen,
etwa den bereits erwähnten christlichen Vereinen junger Männer,
die ihre Mitglieder zunächst bei weltlichen Interessen zu packen
versuchen, um sie allmählich für den kirchlichen Vereinszweck zu
gewinnen (eine Methode, die übrigens auch in den eigenen Reihen
vielfach bekämpft wird). Bei den jüdischen Jugendvereinen unter¬
stützen die sozialen Einrichtungen die Propaganda, aber wohl
kein junger Mann ist dieser Einrichtungen wegen beigetreten.
'Jene „peripheren Mitglieder“ werden, wie übrigens bei all derar¬
tigen Vereinen, sogar zum Teil auch den kaufmännischen, viel
stärker durch Unterhaltung gefesselt als durch soziale Ma߬
nahmen.
Die Vereine nehmen sich besonders der Ortsfremden an und
versuchen, diesen das fehlende Heim zu ersetzen. Es ist aller¬
dings ein eigen Ding um diesen Zweig sozialer Fürsorge, seine
Bedeutung wird ganz allgemein, nicht nur in jüdischen Kreisen,
überschätzt, besondern auch bei der weiblichen Jugend. 28 ) Von
den männlichen Mitgliedern der jüdischen Jugendvereine ist die
Frage nach der Wohnung — so weit Antworten überhaupt vor¬
liegen — sehr unzuverlässig ausgefüllt. Die weiblichen Mitglie¬
der wohnen mit ganz geringen Ausnahmen bei den Eltern, und
.es ist anzunehmen, daß, wenn Ortsfremde vorhanden sind, sie
28) Selbst in der Statistik des D. H. V. stehen 13 194 ledige. Ange¬
stellte in den Gehaltsklassen bis 2400 M., die bei den Eltern oder beim
Prinzipal wohnen, nur 10 273 mit eigener Wohnung gegenüber (a. a. O.
:S. 28). Und Kisker zeigt, daß 70 Prozent der Kontoristinnen in Leipzig
.dort geboren sind, von den auswärts geborenen wohnen 17,7 Prozent bei
den Eltern, nur 12,3 Prozent sind allein (a. a. O. S. 50).
41
— Ausnahmen kommen natürlich vor — Anschluß an den Jugend¬
verein gefunden haben. Von größerer Bedeutung erscheint die
außerordentlich starke Binnenwanderung der Juden. Sie zeigt
sich in unseren Beispielen an den hohen Zahlen der nicht am
Orte Geborenen. Diese sind mit ihren Familien zugewandert, es
fehlt ihnen nicht der soziale Rückhalt. Wohl aber sind sie fremd
unter ihren Altersgenossen, es fehlen ihnen die Spiel- und Schul¬
kameraden aus der Kindheit. Sie sind daher einer Gemeinschaft
sehr viel leichter zugänglich.
Fürsorge für einzelne Schichten.
Die Jugendlichen im engeren Sinne.
Die jugendlichen Erwerbstätigen (unter 18 Jahren) werden
in den größeren Vereinen vielfach in besonderen Abteilungen ge¬
sammelt. Diese Abteilungen unterscheiden sich in nichts von
anderen Lehrlingsvereinen. Am Sonntag nachmittag findet ein
kurzer belehrender Vortrag statt (der manchmal auch ein jü¬
disches Thema behandelt), daran schließt sich der unterhaltende
Teil. Turnen, Wandern, Spielen, Basteln, Handarbeiten halten
die jugendliche Schar vornehmlich zusammen. Zweifellos hat bei
der Ausgestaltung dieses Arbeitsgebietes das allgemein hervor¬
tretende Interesse für Jugendpflege mitgewirkt. Es war eine
große umfassende Organisation da, die diese neue Aufgabe für
die jüdischen Jugendlichen übernehmen konnte. Die Abteilungen
umfassen naturgemäß fast nur Volksschüler, da die Schüler der
höheren Lehranstalten in diesem Alter noch die Schule be¬
suchen.
Besonders zahlreiche jugendliche Elemente finden sich in
den kleinen Vereinen im Osten und in Mitteldeutschland. Sie
scharen sich meistens um den jüdischen Lehrer. 20 )
Die Beeinflussung der Jugendlichen soll aber schon vor
dem Eintritt in das Erwerbsleben beginnen: durch die Berufs¬
beratung. Dieser sehr wichtige Zweig der sozialen Jugend¬
pflege hat für die jüdische Jugend noch spezielle Bedeutung.
Von einer insbesondere durch falsche Berufswahl veranlaßten
wirtschaftlichen Notlage unter den deutschen Juden kann aller-
20 ) Es besteht im Verbände eine besondere Stiftung, um diesen
Vereinen die Arbeitsrnöglichkeit zu erleichtern.
42
dings nicht gesprochen werden, 30 ) wohl aber scheint die wirt¬
schaftliche Zukunft der Juden in mancherlei Richtung bedroht.
Da ist zunächst das Problem der Akademiker. Die Juden sind
ganz unverhältnismäßig stark in den freien Berufen vertreten.
Die Ursache dafür liegt in ihrer geistigen Veranlagung und auch
darin, daß der politische Antisemitismus noch immer die Berufs¬
möglichkeiten gerade der intelligenten Schicht verengert. Zum
Problem wird dies aber erst in Verbindung mit der Zusammen-
drängung der Juden in den Großstädten. Hier sind die akade¬
mischen Berufe überfüllt, die Gefahr einer Proletarisierung ist
groß. In den Klein- und Mittelstädten sind die Erwerbsaus¬
sichten besser, doch gestattet hier der gesellschaftliche Anti¬
semitismus die Lage des jüdischen Akademikers im allgemeinen
wenig angenehm. Der wirtschaftliche Antisemitismus hat die
blühenden östlichen Gemeinden, in denen der Jude Gefahr läuft,
zwischen den Polen und Deutschen zerrieben zu werden, ganz
zurückgedrängt und vermehrt dadurch noch die großstädtische
Bevölkerung. 31 ) Am stärksten aber sind die Juden, die ja über¬
wiegend dem Handel angehören, von der zunehmenden Bureau-
kratisierung dieses Erwerbszweiges betroffen. Die Erwerbsaus¬
sichten im Handel sind dadurch zwar sicherer geworden, aber
auch begrenzter; die Arbeit ist mechanisiert, erfordert weniger
geistige Fähigkeiten. Das birgt gerade für viele junge Juden
einen schweren seelischen Konflikt. Da aber diese Entwicklung
unabwendbar ist, wird sich allmählich die Berufspsychologie den
veränderten Verhältnissen anpassen. Es kann versucht werden,
die jüdischen jungen Leute in den Handelszweigen unterzu¬
bringen, in denen der Unternehmungsgeist noch ein weites Be¬
tätigungsfeld findet, z. B. im Exportgeschäft. Es kann auf der
anderen Seite auch versucht werden, durch innere Beeinflussung
dem Konflikt vorzubeugen, die Arbeitsfreudigkeit weniger von
der unbegrenzten Steigerungsmöglichkeit des Verdienstes ab-
—) Vergl. hierzu die von Rechtsanwalt Dr. L. Holländer aufgestell¬
ten Thesen, die auf der letzten Delegiertentagung des Verbandes ange¬
nommen wurden. Mitteilungen des Verbandes der jiid. Jugendvereine
Deutschlands, 1913, S. 226.
31 ) Vergl. Rudolf Wassermann: „Die Entwicklung der jüdischen Be¬
völkerung in der Provinz Posen und das Ostmarkenproblem.“ Zeitschr.
für Demographie u. Statistik der Juden. 6. Jahrg. S. 65.
43
hängig zu machen, und den mehr statischen Berufen, wie Hand¬
werk, Ackerbau, mittleres Beamtentum, größere Anerkennung zu
verschaffen. Doch erscheint die Möglichkeit einer solchen Beruts-
umschichtung sehr ungewiß. Die Jugendvereine bemühen sich,
aufklärend zu wirken, und einwandfreies Material über die Aus¬
sichten der einzelnen Berufe zu sammeln. Zur Durchführung
dieser Aufgabe ist ein wirtschaftlicher Ausschuß gebildet, dem
Männer und Frauen mit volkswirtschaftlicher Erfahrung ange¬
hören. Der Verband beabsichtigt aber nicht, eigene Berufs¬
beratungsstellen einzurichten, da er sich auf den jetzt allgemein
anerkannten Standpunkt stellt, daß zur Berufsberatung nur be¬
sonders dafür herangebildete Persönlichkeiten geeignet sind, und
daß es daher ratsam ist, die Kräfte nicht zu zersplittern.
Die Ausländer.
Eine andere Schicht, für die eine soziale Beeinflussung sehr
am Platze wäre, sind die aus Rußland und Oalizien zugewan¬
derten ausländischen Juden. 35 ) An ihre Einbeziehung in die
Jugendpflege ist jedoch noch so gut wie gar nicht herange¬
gangen, nur der Leipziger Jugendverein veranstaltet besondere
Kurse für Ausländer, und in Dresden existiert ein Jugendverein
mit vorwiegend ausländischen Mitgliedern. Leider ist keinerlei
Literatur vorhanden, die die wirtschaftlichen und kulturellen Ver¬
hältnisse dieser ausländischen Juden (die zum Teil schon seit
Jahren in Deutschland wohnen) näher beleuchtet. Ihre zukünftige
Bedeutung wird stark von der politischen Entwicklung nach
dem Kriege abhängen. Jedenfalls müßte sich eine Jugendpflege
unter diesen Ausländern ganz anderer Hilfsmittel bedienen, als
der bisher ausgebildeten.
Die Bedeutung der in diesem Abschnitt erörterten sozialen
Tätigkeit der Jugendvereine wird sich erst bei der Erörterung
ihres Hauptzieles und der Mittel, deren sie sich zu seiner Durch¬
führung bedienen, in das rechte Licht rücken lassen.
* t2 ) Ihre Gesamtzahl im Deutschen Reich kann nicht angegeben
werden, doch waren im Königreich Preußen (im Jahre 1905) 38 844, im
Königreich Sachsen (im Jahre 1910) 10 360, im Großherzogtum Hessen
(im Jahre 1910) 2502 reichsausländische Juden.
44
2. Die jüdischen jugendvereine
als sozial-pädagogische Organisation.
a) Das Ziel.
aa) Das individuelle Erziehungsziel.
(Die Bedeutung der Stellung zum Judentum für die
Persönlichkeitsentwicklung.)
Die jüdischen Jugendvereine sind Selbsterziehungsvereine
der jüdischen Jugend. Ihr Ziel ist die Entwicklung der Mit¬
glieder zur Persönlichkeit, der Weg, die harmonische Ausbildung
der körperlichen, geistigen und sittlichen Kräfte. Aber die Jugend¬
vereine wollen ihre Mitglieder auch zu selbstbewußten Juden er¬
ziehen. Ihr individuelles Erziehungsziel liegt also im Bereich
der in der Einleitung charakterisierten „speziellen“ Pädagogik.
Das scheint auf den ersten Blick richtig zu sein, und aus dieser
Annahme heraus ist den jüdischen Jugendvereinen anfänglich
innerhalb der Judenheit eine starke Gegnerschaft erwachsen.
Denn das allgemeine Iiumanitätsideal, das von allen religiösen
und nationalen Unterschieden absieht, liegt den deutschen Juden
ihrer ganzen geistigen Struktur nach nahe. Die Gegnerschaft
geht aber von einer falschen Voraussetzung aus. Es handelt sich
bei den jüdischen Jugendvereinen nicht etwa wie bei den evan¬
gelischen Jünglingsvereinen darum, der jüdischen Religiosität
die beherrschende Stellung im Seelenleben einzuräumen. Das
Ziel der Jugendvereine ist viel allgemeiner. Aber schon in den
Darlegungen des ersten Teils unserer Arbeit haben wir gesehen,
daß sich allein aus den sozialen Verhältnissen der Juden eine
ganze Kette von Bindungen ergibt. Sie wird verstärkt durch
einen Jahrhunderte alten gemeinsamen geistigen Besitz. Diese
Bindungen zu ignorieren, hieße nicht die Erziehung verallge¬
meinern, sondern sie beschränkter gestalten. In dem idealen
Streben des jungen Juden muß — gerade in dem Alter, in dem
die Weltanschauung sich bildet — dem Judentum ein gebüh¬
render Platz angewiesen werden, wenn die Erziehung „wahr“
sein soil. Wenn im Anfang der Jugendbewegung oft nur diese
eine Aufgabe in die Erscheinung tritt, so erklärt sich das als
Reaktion gegen die Angriffe aus den eigenen Reihen.
45
Die Forderung, das Judentum bei der Erziehung nicht
außer acht zu lassen, wird durch zwei Umstände verstärkt: durch
den Kampf des Judentums gegen den Antisemitismus und durch
den Kampf der verschiedenen Richtungen innerhalb. des Juden¬
tums untereinander. Beide Umstände bewirken, daß sich „Juden¬
tum“ als geistiges Element nicht rein naturhaft in dem Juden
auswirken kann, sondern in das Bewußtsein gedrängt wird. 33 )
Der einzelne muß zum „Judentum“ Stellung nehmen. Aber der
Begriff Judentum steht ganz und gar nicht fest. Für den einen
ist es eine rein religiöse Gemeinschaft, für den andern eine sozial¬
kulturelle, für den dritten eine nationale. Unter den religiösen
Juden stehen sich wieder die gesetzestreuen und die liberalen
scharf gegenüber. Noch mehr kompliziert sich das Bild, wenn
man versucht, die Ansichten danach zu unterscheiden, wie sich
die Zukunft des Judentums gestalten soll. Zwischen den beiden
Gegensätzen: den Assimilanten, die ein vollständiges Aufgehen
der Juden in die Völker, in deren Mitte sie leben, wünschen oder
wenigstens Vorhersagen, und den Zionisten, die an eine soziale
Selbständigkeit in Palästina glauben, finden wir in allmählicher
Abstufung eine große Reihe von Anschauungen. Und da die
scharfe Ausprägung der eigenen Ansicht die intellektuelle Ab¬
grenzung nach links und nach rechts eine besondere Eigentüm¬
lichkeit des seit Jahrtausenden geschulten jüdischen Geistes ist,
entstehen Reibungsflächen, die zu heftigsten Kämpfen innerhalb
der jüdischen Gemeinschaft führen. Die Jugendvereine
nehmen zu den verschiedenen Richtungen im
Judentum keinerlei Stellung ein. Diese Neutra¬
lität bedeutet aber nicht, daß man an den Problemen vorbeigeilt.
Im Gegenteil, alle Fragen sollen den jungen Mitgliedern durch
eingehende Erörterung so nahe gerückt werden, daß es ihnen
möglich wird, sich eine selbständige Stellung zu erarbeiten. Aber
jede Agitation, jedes „Festlegen“ der Mitglieder auf eine be¬
stimmte Anschauung ist verboten. Man hat der Jugendbewegung
den Vorwurf gemacht, daß sie ihre Mitglieder in den Kampf der
Meinungen hineinzöge, ohne ihnen einen festen Halt zu geben,
so daß die einzelnen von Begriff zu Begriff schwanken. Das ist
38 > Nirgends werden vielleicht jüdische Fragen so lebhaft erörtert.,
wie in den Kreisen, in denen man die jüdische Abstammung am liebsten
verleugnen möchte.
46
aber durchaus nicht notwendig und ist auch nicht der Fall. Eine
sichere Führung muß vorhanden sein. Diese Führung ist formal
insofern, als sie sich in keiner Richtung festlegt. Sie ist aber
durchaus positiv. Es ist nicht ihre Aufgabe, hinter alles ein
großes Fragezeichen zu setzen, sondern überall die geschicht¬
lichen Voraussetzungen und Notwendigkeiten der geistigen
Strömungen herauszuarbeiten und ihre Zusammenhänge aufzu-
weisen.
Diese Methode wird —- in gleicher Weise wie in der allge¬
meinen neutralen Jugendpflege — mit der pädagogischen Ver¬
antwortlichkeit der Vereine begründet. Man erklärt es für un¬
recht, junge Menschen, die kaum der Schule entwachsen sind,
durch einen Mißbrauch ihrer Begeisterungsfähigkeit in eine
Schablone zu zwingen, die ihnen die Möglichkeit einer vorur¬
teilslosen Betrachtung des Gesamtproblems rauben muß.
Diese Stellungnahme liegt in den Verhältnissen begründet.
Uns scheint, daß neben den pädagogischen Rücksichten und,
diese verstärkend, das Empfinden mitwirkt, daß durch die herge¬
brachten Begriffe das Problem Judentum noch nicht gelöst ist.
Für die überwältigende Mehrzahl der Juden gibt es nicht ein
liberales, orthodoxes oder zionistisches Judentum, sondern es
gibt ein Judentum schlechthin, wenn die meisten auch nicht im¬
stande sind, diesen Begriff zu definieren. Durch ihre Arbeitsweise
erhält die Jugendbewegung einen starken Anteil an der allmäh¬
lichen Umwertung der Begriffe. Sie braucht sich auch durchaus
nicht zu scheuen, gelegentlich einem Empfinden Ausdruck zu ver¬
leihen. So brach z. B. bei der letzten Tagung des westdeutschen
Bezirksverbandes jüdischer Jugendvereine ein stark religiöser
Zug durch. Und auf der allgemeinen Delegiertenversammlung
des Verbandes im Mai 1913 war es ganz unverkennbar, daß die
große Mehrheit der Mitglieder dem national-jüdischen Ideenkreis
gefühlsmäßig ablehnend gegenübersteht.
Es ist durchaus nicht unmöglich, daß die Jugendbewegung
einmal eine positive Stellung zum Judentum einnimmt. Es ist
das auch unter Berücksichtigung aller Schwierigkeiten von einem
ihrer Führer gefordert worden/ 54 ) Wie weit der Krieg mit seiner
Gustav Löffler: „Was weiter?“ Mitteilungen des Verbandes der
jüdischen Jugendvereine Deutschlands. 5. Jahrg. Heft 5. S. 129.
47
Umwertung aller Werte eine solche Entwicklung beschleunigt
hat, läßt sich noch gar nicht übersehen. Was sich zur Zeit hier
und da an Vereinsleben bietet und vielleicht mancherlei Deutung,
z. B. in religiöser Hinsicht zuließe, kann gar nicht berücksichtigt
werden, denn die eigentlichen Träger der Jugendbewegung
stehen im Felde. Unseres Erachtens bringt allerdings diese Zeit
mit ihrem überstarken Zwang zur Bewußtheit die Gefahr mit
sich, daß Entscheidungen von außen her gefällt werden, die sich
nur in ganz allmählichem Wachstum von innen heraus ent¬
wickeln könnten.
Der Kampf des Judentums nach innen und nach außen ist
von einschneidender Bedeutung für die Gestaltung des sozialen
Erziehungszieles der Jugendvereine.
bb) Das soziale Erziehungsziel.
Allgemein.
(Die Bedeutung der Neutralität für die Erziehung
zum GemeinsinnJ
Als Hauptforderungen einer allgemeinen Sozialerziehung er¬
gaben sich: soziale Verantwortung und die Fähigkeit, Gemein¬
schaft mit Andersdenkenden zu pflegen. In welcher Weise die
jüdischen Jugendvereine diesen Forderungen im allgemeinen ge¬
recht zu werden versuchen, werden wir bei der Betrachtung ihrer
Arbeitsmethode sehen. Beide Forderungen haben aber für die
jüdischen Jugendvereine noch einen ganz besonderen Sinn. Die
wahre Demokratie in dem Sinne Walter Claassens 35 ) — Verant¬
wortlichkeit aller für alle — ist für die Juden ein Lebensinteresse.
Die jüdische Jugend soll wissen, daß in einer kleinen Minorität
jede Tat des einzelnen auf die Gesamtheit zurückfällt, und daß
daher der einzelne nicht nur verpflichtet ist, genau so tüchtig
und ehrenwert zu sein wie seine Umgebung, sondern daß er um
seiner Gemeinschaft willen bestrebt sein muß, besser zu sein als
die andern.
Und wenn Förster sagt 36 ): In Wirklichkeit aber bedeutet die
echte staatsbürgerliche Gesinnung einen radikalen Abschied von
33 ) Walter Claaßen, „Zucht und Freiheit“. München 1914.
W) F. W. Förster, „Staatsbürgerliche Erziehung.“ Leipzig und Ber¬
lin 1914.
48
aller Gewalttätigkeit und ausschließender Selbstsicherheit der
eigenen Ueberzeugung. Staatsbürgerliches Denken heißt, wahre
Gemeinschaft mit Andersdenkenden und Anderswollenden pflegen,
heißt ohne selbstsüchtige Angst in ritterlicher Weise auch der
stärksten Opposition Spielraum und Existenzberechtigung gewäh¬
ren,“ so dürfen die jüdischen Jugendvereine mit Recht behaupten,
daß sie diesen Grundsatz bereits in die Tat umgesetzt haben.
Das ist der wahre Sinn des Neutralitätsprinzips. Vom Stand¬
punkt der allgemeinen Jugendpflege aus gesehen, liegt, hier wohl
die bedeutsamste Leistung der jüdischen Jugendvereine. Es
finden sich in den Vereinen die Angehörigen aller Richtungen zu¬
sammen. Der Einwand würde nicht zutreffen, daß im großen
betrachtet die Unterschiede nicht erheblich seien; sie haben zu
genau so tiefen Zwiespältigkeiten bis hinein in die persönlichsten
Beziehungen der Menschen geführt wie der Kampf der politischen
Parteien. Die Jugendvereine rechnen es sich als ein ganz beson¬
deres Verdienst an, daß sie alle zu einer Tatgemeinschaft ver¬
einigen, und daß sie durch einen freien Meinungsaustausch ihren
Mitgliedern Achtung vor jeder ehrlichen Ueberzeugung bei-
Bringen.®)
Speziell.
(Deutschtum und Judentum.)
Das Ziel der Jugendvereine ist nicht auf die allgemeine Er¬
ziehung zu sozialer Gesinnung beschränkt.
Von der Forderung der unbedingten Treue gegenüber dem
Judentum, selbst wenn sie mit Opfern verbunden sein sollte,
haben wir schon gesprochen.
Eine ganz besondere Seite der Sozialerziehung im Jugend¬
verein bildet die Stellung des jungen Juden zu seinem Vaterland.
31) Zum Belege mögen die Verhandlungen des letzten Detegierten-
tages dienen. Hier stießen die Meinungen hart aufeinander, aber ganz
deutlich trat das Bestreben der Majorität hervor, die Unterlegenen durch
ritterliches Entgegenkommen bei der gemeinsamen Sache zu halten. Die>
außerordentliche Leichtigkeit, mit der sich außerdem die „Parteien“ über
alle äußeren Anordnungen, wie Einteilung der Debatte, Wahl der Redner,
Redezeit, Schlußwort der Minorität usw., verständigten, zeigt, daß liier
ParlaUientarismus im besten Sinne des Wortes seit Jahren geübt
werden ist.
49
In weiten Kreisen der jüdischen Bevölkerung existiert die oft
behandelte Frage „Deutschtum und Judentum“ überhaupt nicht,
sie ist ihnen aus innerster Ueberzeugung heraus unverständlich;
besonders unter der älteren Generation, die noch die große Zeit
von Deutschlands nationaler Einigung und die Jahre vor dem
tNeuauftreten des Antisemitismus miterlebt hat. Die jüdische
Jugendbewegung aber kann an dieser Frage nicht Vorbeigehen,
so lange sie von einer nicht unerheblichen Zahl von christlichen
Volksgenossen und auch von jüdischen Nationalisten als Problem
empfunden wird. Und noch aus einem andern Grunde nicht. In
den Jüngeren zeigt sicht oft eine Zerrissenheit und Unausge¬
glichenheit, sie fühlen deutlich zwei verschiedene Welten, die sich
nicht vereinigen wollen. Wie oft wird der Entschluß, zum
Christentum, dem Glaubensbekenntnis der Majorität oder auch
zur zionistischen Partei überzutreten, aus der Sehnsucht geboren,
aus diesem Zwiespalt herauszukommen, um auf einer Seite seine
Kraft voll entfalten zu können.
An einer solchen gewissermaßen gewaltsamen Lösung kann
der Jugendbewegung nichts gelegen sein. Ihre Aufgabe muß
es sein, ihren Mitgliedern ein Führer zu einer inneren Aussöhnung
der Gegensätze zu werden.
Dafür ist es erforderlich, daß sie den jungen Mitgliedern
zum Bewußtsein bringt, daß alles, was der Jude für die Allge¬
meinheit einzusetzen hat, tatsächlich aus zwei Quellen fließt. Und
es gilt, diese Quellen in das richtige Licht zu rücken.
Bei der Eindringlichkeit der antisemitischen Agitation, wie
sie in letzter Zeit, vor allem auch in anderen Jugendorganisa¬
tionen 58 ) hervortrat, bleibt es den Jugendvereinen nicht erspart,
zunächst festzustellen, daß bei der Frage nach den Unterschieden
zwischen Ariern und Juden das Gebiet der Moral genau so aus¬
zuschalten ist wie die Stellung des Juden zu seinem Vaterlande.
Selbstverständlich aber erzeugt eine solch geschlossene Ge¬
meinschaft wie das Judentum eigene soziale Bindungen. Die
jüdische Religion der Tat, die noch bis in die neueste Zeit einen
eisernen Ring um die ganze Judenheit geschlossen hat; der
schwere, mit ungeheurer Zähigkeit durchgeführte Kampf um seine
88 ) Vergl. die Schmähschriften der Wandervogelführerzeitung, her-
ausgegeben von Friedrich Wilhelm Fulda, Jena.
50
Existenz; die von außen aufgezwungene Berufsverteilung, die die
Juden im 19. Jahrhundert gerade in den Schichten findet, die an
dem allgemeinen Aufschwung besonders beteiligt sind; das durch
gemeinsame Traditionen Mitleid und verwandtschaftliche Be¬
ziehungen rege internationale Interesse der Juden; der ausge¬
prägte Familiensinn mit seinem sozialisierenden und individuali¬
sierenden Einfluß — das alles sind Momente, die sich in irgend
einer Form im Juden auswirken. Der junge Jude soll sich be¬
wußt sein, daß er eine ganz besondere Nuance in die allgemeine
Kulturarbeit hineinbringt. Die Art seines Intellekts, seiner Ar¬
beitsmöglichkeit, seiner schöpferischen Kraft, seines religiösen
Empfindens wird sich mannigfach von dem seiner christlichen
Volksgenossen unterscheiden. Er soll das als einen Reichtum
empfinden und die Pflicht in sich fühlen, das Erbteil seiner Väter
zu erwerben, um es zu besitzen. Er soll sich aber gleichzeitig
bewußt sein, daß er dieses Erbteil einzusetzen hat für den Staat,
dem seine Arbeit gehört, für die Heimat, in der er geboren und
mit deren Natur er innig verwachsen ist, für das Volk, dessen
Geist ja er und seine Vorfahren, die seit Jahrhunderten auf deut¬
schem Boden leben, mitgeschaffen haben.
b) Die Arbeitsmethode,
aa) Für die Individual-Erziehung.
Intellektuelle Beeinflussung.
Betrachten wir die Arbeitsmethode der jüdischen Jugendver¬
eine näher, so sehen wir, daß die Belehrung eine außerordent¬
lich große Rolle spielt. In allen Vereinen finden meist Vorbags¬
abende statt, es werden Vortragszyklen und Kurse veranstaltet.
Es hängt das mit dem bereits mehrfach erwähnten, stark ausge¬
prägten Bildungsbedürfnis der jüdischen Bevölkerung zusammen.
Und es ist charakteristisch, daß selbst in den Vereinen in ganz
kleinen Orten mit 14—17jährigen, nur in der Volksschule vorge¬
bildeten Mitgliedern im Mittelpunkt der Vereinsarbeit nicht der
Spielnachmittag steht, wie er uns sonst in der ländlichen Jugend¬
pflege begegnet, sondern der Leseabend.
Jüdische Themen stehen durchaus im Vordergründe. Sie
behandeln die jüdische Religion, Geschichte und Literatur, die
sozialen Verhältnisse der Juden in Deuschland und im Ausland,.
51
die mannigfachen Bestrebungen, die politische und materielle Lage
der Juden zu heben, die geistigen Strömungen im Judentum. Da¬
neben finden Themen staatsbürgerlichen und volkswirtschaftlichen
Inhalts besonderes Interesse.
Aber durch Vermittlung all dieses Wissensstoffs soll weit
mehr gegeben werden als eine rein intellektuelle Belehrung. Im¬
mer soll der Wille irgend einen Impuls erhalten.
Die Wirkungen sind umso intensiver, je kleiner und je ein¬
heitlicher der Kreis ist. Die Vereine sind daher auch mehr und
mehr dazu übergegangen, die regelmäßigen Veranstaltungen auf
die ordentlichen Mitglieder zu beschränken.
Ethische Beeinflussung.
Der starke persönliche Zusammenhang hat die Mitglieder
dazu geführt, auch an ethische Fragen in belehrender Form heran¬
zutreten. Bei den Mädchen bietet das keine Schwierigkeit, sie
hören unbefangen zu und sind sehr schnell erwärmt. Auch bei
eben schulentlassenen Jungen geht es. Etwas ältere junge Män¬
ner fühlen sich gleich peinlich berührt. Diese Scheu ist aber
durchaus nicht identisch mit Mangel an Idealismus.
Eine indirekte Beeinflussung ergibt sich von selbst bei an¬
spruchsloser Geselligkeit, wie sie von den Jugendvereinen an den
Heimabenden, vor allem an den Freitagsabenden gepflegt wird.
Noch intensiver stellt sie sich beim Turnen, Spielen und Wandern
ein. Gerade für die jüdische Jugend, die nicht nur selbst ganz
überwiegend geistig tätig ist, sondern auch stadtgeboren und
aus Familien stammend, in denen die Männer seit Generationen
Kopfarbeiter sind, ist körperliche Betätigung und Leben in der
freien Natur für die Erziehung zu schlichter Lebensauffassung und
als Gegengewicht gegen einen übersteigerten Erwerbssinn von
allergrößter Bedeutung.
Die stärksten Wirkungsmöglichkeiten aber haben die jüdi¬
schen Jugendvereine auf sozialem Gebiet in der Erziehung zu
sozialer Gesinnung.
bb) Für die Sozialerziehung.
Die jüdischen Jugend vereine haben eine ausgesprochene
Selbstverwaltung; die Vereine sind zum Teil recht groß, so daß
52
•allein die technische Seite der Organisation eine große Zahl von
Mitgliedern zur Tatgemeinschaft ausbildet.
Aber die Mitglieder haben auch die Verantwortung für den
geistigen Gjehalt der Arbeit selbst zu tragen. Das fällt umso
mehr ins Gewicht, als die Vereine sich niemals von der älteren
Generation abgeschlossen, „Jugendkultur“ getrieben haben. Die
Vereine haben zahlreiche ältere Mitglieder, sie sind für ihre man¬
nigfachen Aufgaben auf die materielle Unterstützung durch diese
Mitglieder, durch die andern jüdischen Vereinigungen, durch die
Gemeinde angewiesen. Sie sind diesen Rechenschaft über ihre
Tätigkeit schuldig und müssen sich trotzdem ihre Unabhängig¬
keit bewahren. Sie bemühen sich aber auch, die ältere Generation
zur wirklichen Teilnahme an ihrer Arbeit zu gewinnen, in man¬
chen Gemeinden ist der Jugendverein zum Mittelpunkt des gei¬
stigen Lebens der Gemeinde geworden. Es kommt sogar vor, daß
Vereine, die gar keine besonderen Jugendinte ressen verfolgen
(z. B. jüdische Literaturvereine), die Aufnahme in den Verband
der jüdischen Jugendvereine beantragen, weil in diesem solch
frisches Leben herrsche. Dies alles bürdet den Leitern der Vereine
eine große Verantwortung auf.
Noch stärkere Anforderungen an die Führer und an alle
Mitglieder stellt die innere Struktur der Organisation. Von der
geistigen Sozialerziehung: Achtung vor jeder ehrlichen Ueber-
zeugung zu haben und Gemeinschaft mit Andersdenkenden zu
pflegen, war bereits die Rede. Noch schwieriger sind vielleicht
die Forderungen gesellschaftlicher Sozialerziehung zu verwirk¬
lichen. Die Jugendvereine umfassen eine sehr breite Altersstufe,
männliche und weibliche Mitglieder und, wie unsere Beispiele
deutlich zeigen, Angehörige verschiedenster Berufe, verschie¬
denster sozialer Stellung. Ermöglicht wird dieser Zusammen¬
schluß durch bereits erwähnte verhältnismäßig gleichmäßige ge¬
sellschaftliche Struktur der jüdischen Bevölkerung. Diese Ein¬
heitlichkeit geht aber selbstverständlich nicht so weit, daß sich
nicht zwischen den Mitgliedern jeder Gemeinde Unterschiede be¬
merkbar machen, die von den einzelnen stark empfunden werden.
Unter der Jugend insbesondere entstehen oft Reibungen zwischen
den Söhnen und Töchtern der eingesessenen Familien und den
Ortsfremden, und bei den Mädchen zwischen Erwerbstätigen
53
und nicht Erwerbstätigen/’ 0 ) Diese Gegensätze sind nur zu
überwinden durch die tätige Fürsorge der Mitglieder füreinander.
Von dieser sozialpädagogischen Betrachtung aus erhält die pflege¬
rische Tätigkeit an den Jugendlichen im engeren Sinne und die
soziale Hilfsarbeit der Vereine eine ganz andere Bedeutung als
vorher.
Für sich allein wären die Abteilungen für Jugendliche
zahlenschwach und auf wenige Plätze beschränkt. Sie bildeten
nur einen ganz kleinen Zweig der allgemeinen sozialen Jugend¬
pflege ohne besondere Ausprägung und gegenüber den Vereini¬
gungen der anderen Konfessionen von geringer Bedeutung.
Durch den Zusammenhang mit der jüdischen Jugendbewegung
ist ein starker Antrieb zu lebendigem Schaffen gegeben. Die
Pfleger, die aus dem Kreise des Jugendvereins genommen werden,
stehen im Alter den Mitgliedern der Abteilung für Jugendliche
nahe. Der Lehrling sieht seine Geschwister, seine älteren Berufs¬
kollegen als Mitglieder des Hauptvereins, dem er selbst in kurzer
Zeit angehören wird. Und selbst wenn die Tätigkeit der Ab¬
teilung noch wenig von dem eigentlichen Ziel des Hauptvereins
erkennen läßt, ist doch die unbewußte Beeinflussung stark. Sie
wird noch stärker in den Gemeinden, in denen die Zahl der
Jugendlichen unter 18 Jahren zu gering ist, um eine besondere
Abteilung zu begründen. Hier versucht der Jugendverein durch
bestimmte Veranstaltungen und durch eine besonders starke per¬
sönliche Fühlungnahme seinen jugendlichen Mitgliedern gerecht
zu werden.
Die ganze soziale Arbeit der Vereine erscheint nicht mehr
— wie in den ältesten Jugendvereinen — von einer Klasse für
andere geleistet, sondern sie bildet den Ausdruck einer starken
Kameradschaftlichkeit, die sich in der Fürsorge der Aelteren für
die Jüngeren, der Stärkeren für die Schwächeren kundtut.
Das vielfache Zusammenarbeiten selbständiger und ange-
stellter Elemente hat zwar keine Bedeutung für die wirtschaft¬
lichen Auseinandersetzungen der Klassen. Wir nehmen nicht an,
3°) Die Schätzung des Berufes ist allerdings sehr verschieden. Bei
der Beantwortung der Fragebogen kam es vor, daß an manchen Orten
auch die Erwerbslosen sich unter die Berufstätigen als Stütze der Mutter
usw. eintrugen, an anderen Orten dagegen wurde ganz gleichmäßig das
„Ohne Beruf“ mit einem nachdrücklichen Ausrufungszeichen versehen.
5
54
daß die Jugendvereine irgend etwas zu einem Ausgleich der
Gegensätze beitragen könnten, aber es hat Bedeutung für die so¬
ziale Gesinnung der einzelnen. Der junge Abteilungsleiter im
väterlichen Geschäft, der plötzlich für die völlige Sonntagsruhe
eintritt, weil er in „seinem“ Jugendverein eine Wanderabteilung
gegründet hat, ist ein Beispiel solcher Sozialerziehung durch den
Jugendverein.
Allerdings werden auch hier die führenden Mitglieder sehr
viel stärker beeinflußt als die geführten. Wir sehen darin keinen
Nachteil. Denn während es für die proletarische und die akade¬
mische Jugend solche Führerschulen in großer Zahl gibt, fehlen
sie für die gebildete Kaufmannsschicht, die männliche, wie die
weibliche, im allgemeinen vollkommen.
Als Ergebnis unserer sozial-pädagogischen Betrachtung
können wir feststellen: das Schwergewicht der jüdischen Jugend¬
vereine liegt in ihrer Erziehungsarbeit. Individual- und Sozial¬
erziehung in allgemeiner und spezieller Bedeutung verketten sich
auf das engste. Die Vereine werden von starkem Idealismus ge¬
tragen, aber sie bemühen sich, fest auf dem Boden der gegebenen
— wirtschaftlichen und geistigen — Verhältnisse zu bleiben.
Ergebnis.
Versuchen wir zum Schluß aufzuzeigen, wie sich die jü¬
dischen Jugendvereine in das Gesamtbild der Jugendorganisa¬
tionen einfügen:
Die jüdischen Jugendvereine gehören in gleicher Weise zur
Jugendpflege, wie zur Jugendbewegung, denn wenn sie auch
Selbsterziehungsvereine darstellen, so sind sie doch durchaus
'nicht losgelöst von dem Einfluß der älteren Generation. Ihr
Tätigkeitsgebiet ist umfassend. Es ist bedingt durch die Mitglied¬
schaft, nicht etwa umgekehrt (wie bei den evangelischen Jüng¬
lingsvereinen) die Mitgliedschaft durch das Programm der
Vereine.
Die sozialwirtschaftlichen Aufgaben treten zurück, weil sie
der allgemeinen sozialen Lage der jüdischen Jugend nicht ent¬
sprechen; für einzelne Schichten werden sie erfüllt, nur die in
'Deutschland lebenden jüdischen Ausländer sind noch nicht ein*
bezogen. Die sozial-pädagogischen Aufgaben bestehen darin,
durch die Vereinsorganisation die harmonische Ausbildung aller
Kräfte des einzelnen zu fördern und ihn zu befähigen, den An¬
forderungen des sozialen Lebens gerecht zu werden. Sie erhalten
ihr besonderes Gepräge durch den jüdischen Charakter der
Vereine.
Die Existenz einer jüdischen Gemeinschaft ist für die Vereine
etwas Gegebenes. Aufgabe der Erziehung ist es, dies Gegebene im
Bewußtsein zu verarbeiten, so daß es als geistiger Besitz Element
der Persönlichkeit wird und für das Gemeinschaftsleben einge¬
setzt werden kann.
5 *=
66
Anhang.
Jüdische Jugendorganisation außerhalb des
Verbandes der jüdischen Jugendvereine Deutschlands.
1. Jugendpflege im engeren Sinne.
Eine Reihe von Jugendvereinen, die ihrer ganzen Struktur
nach eigentlich zum Verband der jüdischen Jugendvereine
Deutschlands gehören, zum Teil auch mit Hilfe der Verbands¬
zentrale oder eines Verbandsvereins gegründet worden sind,
scheiden in dieser Betrachtung aus.
Außerhalb der Verbandsarbeit wird für junge Männer nur
wenig geleistet. Es bestehen einige Lehrlingsheime (Pankow,
Köln, Marburg, Straßburg, Ahlem-Hannover), einige Vereine ehe¬
maliger Schüler von Religionsschulen oder jüdischen Volks¬
schulen. Eine besondere Stellung nimmt der Verein ehemaliger
Ahlemer, d. h. ehemaliger Zöglinge der israelitischen Erziehungs¬
anstalt Ahlem, unter diesen Schülervereinigungen ein. Er besteht
bereits zwölf Jahre, seine Mitglieder sind über die ganze Welt
verstreut. Er verfolgt das besondere Ziel, seinen Mitgliedern zur
Bodenständigkeit und zur Seßhaftmachung zu verhelfen. Die all¬
gemeinen jüdischen Turnvereine haben zum Teil Zöglingsabtei¬
lungen, auch sonst erfassen sie eine größere Zahl jugendlicher
Elemente. Auch sie stehen fast sämtlich im zweiten Jahrzehnt
ihres Bestehens.
Die Organisationen für die weibliche Jugend sind zahl¬
reicher. Die ältesten sind die israelitischen Jungfrauenvereine,
sie sollen hier aber nur ihres Namens wegen erwähnt werden.
Sie haben im übrigen mit den evangelischen oder katholischen
Jungfrauenvereinen keinerlei Vergleichspunkte. Es sind reine
Wohltätigkeitsvereine. Alle jungen Mädchen in der Gemeinde
zahlen einen jährlichen Beitrag. Diese Summe, meistens durch
den Ertrag eines Wohltätigkeitsfestes vergrößert, dann für ver¬
schiedene Zwecke verwandt, häufig zur beruflichen Ausbildung
57
unbemittelter Mädchen oder zur Unterstützung armer Bräute.
Einige dieser Vereine haben sich allmählich bestimmte Aufgaben
gestellt und ziehen einen Teil ihrer Mitglieder zur sozialen Hilfs¬
arbeit heran. Einige andere haben sich zu Jugendbildungs-
vereinen entwickelt und haben dann meistens den Anschluß an
den Verband der Jugendvereine gefunden. Ferner existieren eine
Reihe von Vereinen ehemaliger Schülerinnen von Religions- und
Mädchenschulen und ehemaliger Konfirmandinnen eines bestimm¬
ten Rabbiners. Dies sind durchweg jüdische Bildungsvereine; sie
unterscheiden sich von den Verbandsvereinen dadurch, daß ihnen
die umfassende soziale Grundlage der Arbeit fehlt, und daß ein
persönliches Moment, sei es der Lehrerinnen zu ihren ehemaligen
Schülerinnen oder des Seelsorgers zu seinen Konfirmandinnen,
stark in den Vordergrund tritt. Sehr oft lösen sich allerdings nach
einer Reihe von Jahren diese persönlichen Beziehungen; die
Vereine nehmen auch Mitglieder aus anderen Kreisen auf.
Meistens beschränkt sich ihre Teilnehmerschaft auf Mädchen aus
den bemittelten Schichten. Und als Arbeitsgebiet tritt neben die
jüdische Fortbildung die soziale Hilfsarbeit. Sie berühren sich dann
mit den Jugendgruppen der Schwesternlogen oder der Frauen¬
vereine. Diese gehen durchweg von der sozialen Hilfsarbeit aus,
haben aber daneben Bildungsbestrebungen in ihr Programm auf¬
genommen. Soziale Jugendpflege treiben die Mädchenheime und
die Mädchenklubs. In den Mädchenheimen finden erwerbstätige
junge Mädchen, die von außerhalb kommen, billige Pension und
mancherlei geistige Anregung. Die Mädchenklubs öffnen all¬
abendlich ihre gastlichen Räume allen jüdischen jungen Mädchen.
Im Mittelpunkt steht der Unterricht (Sprachen, Stenographie,
Kochen, Schneidern, Putz). Freitag abend und Sonntag nach¬
mittag dienen der Geselligkeit. Die Mädchen zahlen einen
wöchentlichen Beitrag von 10 Pfg. Das eigentlich jüdische Ele¬
ment fehlt, doch findet sich in einigen Klubs Religionsunterricht
Der älteste und bedeutendste jüdische Mädchenklub ist der Frank¬
furter. In allen Klubs zeigt sich das Bestreben, eine weitgehende
Selbstverwaltung im Klub einzuführen und die leitende Tätigkeit
der älteren Damen möglichst zu beschränken. Es ist sehr wahr¬
scheinlich, daß sich mit der Zeit zwischen diesen Mädchenklubs
und dem Verband der jüdischen Jugendvereine eine engere Ge¬
meinschaft entwickeln wird.
2. Jugendvereine im Anschluß an Partei-Organisationen.
Die ältesten Jugendvereine mit ausgesprochener Tendenz
sind die Montefiore-Vereine, die auf orthodoxer Basis stehen. Sie
sind entstanden, um einen Wall gegen den religiösen Indifferentis¬
mus und Liberalismus zu bilden. Es sind Lernvereine, lernen im
altjüdischen Sinne, d. h. Thorastudium gemeint. Manche haben
Geselligkeit und körperliche Ausbildung in ihr Programm auf¬
genommen, jedoch nur wenige. Sie sind zusammengeschlossen
im Verband gesetzestreuer Jugend vereine, Sitz Berlin.
Eine neuere Organisation sind die Jugendgruppen der Agu-
dath Jisroel, der im Jahre 1912 geschaffenen internationalen Or¬
ganisation der gesamten jüdischen Orthodoxie. Sie haben eine
viel agressivere Tendenz als die Montefiore-Vereine. Sie bilden in
hohem Maße Kampforganisationen für die Erhaltung und Vertei¬
digung des gesetzestreuen Judentums. Sie sind infolgedessen auf
eine sehr straffe Organisation bedacht. Thorastudium und
hebräische Sprache stehen im Mittelpunkt der Vereinsarbeit. Da
sie aber ihre Mitglieder völlig an sich fesseln wollen, jede Ge¬
meinschaft mit nichtorthodoxen Elementen weitestgehend aus¬
schließen wollen, müssen sie auch auf die sonstigen geistigen
Bedürfnisse ihrer Mitglieder Rücksicht nehmen. Sie agi¬
tieren neuerdings stark in den Landgemeinden, wo sie ein ver¬
hältnismäßig leichtes Arbeitsfeld haben, weil hier im allgemeinen
die Bevölkerung noch fest an den überlieferten Traditionen hält.
Die Leiter der Vereine sind durchweg junge Leute, darunter auch
eine beträchtliche Anzahl junger Mädchen, die mit Begeisterung
und Hingabe am Werke sind.
Der erste liberale (d. h. religiös-liberale) jüdische Jugend¬
verein ist in Berlin entstanden durch den Austritt einer Reihe
liberaler Mitglieder aus dem neutralen jüdischen Jugendbund,
dem sie zionistische Parteiherrschaft vorwarfen. Gründungen in
Frankfurt, Posen, Breslau, Hamburg sind gefolgt. Die Vereine
sind sehr stark Kampfvereine gegen den Zionismus, aber sie bil¬
den sich mehr und mehr zu Pflegestätten echter Religiosität aus.
Da sie von den führenden Kreisen der Hauptorganisation, der
Vereinigung für das liberale Judentum in Deutschland, sehr
unterstützt werden, können sie ihren Mitgliedern mancherlei An¬
regung bieten. Sie haben männliche und weibliche Mitglieder, die
59
fast alle den besitzenden Ständen angehören und eine gute Vor¬
bildung in die Vereinsarbeit mitbringen. Die Leitung liegt
meistens in den Händen junger Akademiker. ,
Am weitesten ausgebildet ist die Jugendarbeit der zionisti¬
schen Partei. Die erste national-jüdische Jugendorganisation war
neben den Studenten verbänden, die in dieser Betrachtung aus-
scheiden, die jüdische Turnerschaft. Auf dem Turnboden und
dem Sportplatz sollte ein begeisterungsfreudiger stolzer Nach¬
wuchs erzogen werden. Es gelang aber nicht, die Turnvereine so
zu verbreiten, daß sie als einzige Pflegestätten national-jüdischer
Jugenderziehung genügen konnten. Neben sie traten die Herzl-
Klubs. Diese haben nur kaufmännische Mitglieder, die Teil¬
nehmerzahl ist auf ca. 25 beschränkt, die Arbeitsweise ist außer¬
ordentlich intensiv. Die zionistische Parteileitung mußte jedoch
die Erfahrung machen, daß weite Kreise der Jugend für so ganz
nach dem Muster der studentischen Korporationen organisierte
Vereine nicht zu gewinnen waren. Um eine weitere Agitations¬
basis zu schaffen, wurden zionistische Jugendvereine gegründet.
Diese haben männliche und weibliche Mitglieder aller Schichten.
Die Arbeitsweise ist der der neutralen Jugendvereine sehr ähn¬
lich. Die zionistische Partei ist die einzige, die sich auch bereits
an die schulpflichtige Jugend wendet. In den Blau-Weiß-Vereinen
sind jüdische Wanderorganisationen nach dem Vorbild des
Wandervogels geschaffen. Diese Bünde sind allerdings statuten¬
mäßig neutral, es darf in ihnen keinerlei zionistische Propaganda
getrieben werden. Die Leitung liegt aber vollständig in zionisti¬
schen Händen, zu Führern werden nur Zionisten ernannt. Wie
weit diese vielgestaltige Organisation sich bewährt und welche
ziffernmäßigen Erfolge sie aufweist, kann nicht gesagt werden, da
eine Statistik über Verbreitung und Größe der verschiedenen Ver¬
eine nicht herausgegeben ist.
Die große Masse der jüdischen Jugend wird durch keine der
hier genannten Organisationen erfaßt, denn bereits die Mitglieder¬
zahl der Hauptvereine bleibt weit hinter der des Verbandes der
jüdischen Jugendvereine Deutschlands zurück. Dadurch rechtfer¬
tigt sich unsere Behauptung, daß der Verband als der eigentliche
Repräsentant jüdischer Jugendpflege anzusehen ist. Und noch
durch eine andere Tatsache. Die Arbeit des Verbandes und der
ihm angeschlossenen Vereine ist, wie wir sahen, lediglich orien-
60
tierf nach den Bedürfnissen der Jugend, die der Parteivereine
nach den Bedürfnissen der Hauptorganisation, für die sie den
Nachwuchs erziehen wollen. Sie unterscheiden sich wenig von
den in der Einleitung genannten reinen Propagandaorganisa-
tionen.
61
Übersicht über Verteilung und Größe der
jüdischen Jugendvereine.
Ort
Mitglieder-
zahl
Einwohner
Jüdische
Einwohner
Aachen
254
156 143
1 565
Aachen (Mädchen)
215
156 143
1 565
Allenstein
70
33 077
484
Aurich
80
6 297
387
Bebra** (s. Rotenburg)
—
4 050
132
Berlin
308
2 071 257
89 954
Bielefeld
140
78 380
847
Beuthen O.-S.
150
67 718
2 579
Bochum
120
136 931
992
Bonn
130
87 978
1 228
Borbeck** (s. Essen)
—
71 106
170
Borken (Cassel)
44
1 226
160
Braunschweig
115
143 552
720
Bremen
84
299 526
1 843
Bromberg
158
57 696
1 349
Chemnitz
—
287 807
1 911
Czarnikau
46
5 007
429
Danzig-
42
170 337
2 390
Dresden l****
—
548 308
4 255
Dresden 2****
—
548 308
4 255
Duisburg
112
229 483
1 554
Düren
106
32 511
304
Düsseldorf
210
358 720
3 985
Eisleben
28
24 629
127
Elberfeld
205
170195
1 919
Emmerich
40
13418
122
Erfurt
140
111 463
797
Eschwege
141
12 542
504
Esens****
— .
2189
88
Essen
351
294 653
2 773
Filehne
35
4 564
313
Frankfurt a. M.
1 500
414 576
26 228
Frankfurt a. d. O ***
105
68 277
626
Freiburg i. B.
210
83 324
1 320
Gailingen
—
1 599
492
Geilenkirchen
45
4 731
167
Gelsenkirchen
263
169 513
1 251
Gleiwitz i • •
81
66981
1 796
62
zahl
Einwohner
Glogau
200
24 524
569
Gotha
56
39 553
372 •
Görlitz***
102
85 806
645
Göttingen
140
37 594
661
Graudenz
75
40 325
703
Guben
18
38 593
188
Gudensberg****
—
2163
144
Hagen
55
88 605
513
Hagenau
112
18 868
611
Halle a. S.
230
180 843
1 397
Hamburg
350
931 035
19 472
Hamm
—
43 663
384
Hannover
250
302 375
5 522
Hannover (Mädchen)
300
302 375
5 522
Hann. Münden
46
10 991
102
Harburg
125
67 025
329
Heidelberg
140
56 016
1 242
Heilbronn
196
42 688
866
Heinsberg
—
2 604
91
Herne****
—
57 147
319
Hildesheim
100
50 239
597
Hohensalza
115
25 604
951
Jever
60
6 000
250
Insterburg 1
16
31 624
312
Insterburg 2***
15
31 624
312
Kassel
300
153196
2 675
Kattowitz
125
43 173
2 975
Kempen
58
6 400
739
Kirchberg
—
1 215
84
Kippenheim
100
1 786
187
Koblenz****
—
56 487
667
Köln
850
516 527
12156
Königsberg
285
245 994
4 700
Königshütte
105
72 641
901
Konstanz***
135
27 591
574
Köthen
27
23 416
300
Kottbus
50
48 643
400
Krefeld
200
129 506
1 815
Kreuznach
95
23167
603
Krotoschin
42
13 064
411
.Landsberg
73
39 339
449
63
Ort
Mitglieder*
zahl
Einwohner
Jüdische
Einwohner
Leipzig
275
589 850
9 728
Liegnitz
145
66 620
742
Lingolsheim
38
2 298
127
Lissa (Mädchen)
40
17 156
804
Lissa
—
17 156
804
Lörrach
60
14 756
•183
Lüdenscheid****
—.
32 301
137
Magdeburg
270
279 629
1 843
Mainz
200
110 634
2 926
Mannheim
650
193 902
6 402
Mewe****
. —
3 821
93
Mülheim (Ruhr)
86
112 580
664
München***
150
596 467
11 083
München-Gladbach
210
66 414
840
Münstereifel***
13
2 965
77
Myslowitz****
—
17 838
489
Myslowitz (Mädchen)**** —
17 838
489
Neukölln
65
237 289
2 080
Neuwied
66
19 104
417
Nordhausen
49
32 564
452
Nordhausen (Mädchen)
30
32 564
452
Nürnberg
190
333 142
7815
Oberhausen
70
89 900
403
Offen bach
179
75 583
2 361
Oppeln
50
33 907
532
Ostrowo
53
14 770
714
Paderborn***
54
29 441
389
Plauen
75
121 272
953
Posen
224
156 691
5 605
Pyritz
36
8 676
142
Remscheid
70
72159
167
Rotenburg (Fulda)
79
3 259
170
Saarbrücken
127
105 089
1 081
Saarlouis
—
15 364
307
Siegburg
68
17 280
311
Solingen
84
50 536
266
Schneidemühl
76
26126
582
Spangenberg***
73
1 690
105
Stargard
91
27 551
346
Stettin
175
236113
2 757
Stolp ?.
80
33 762
586
64
Ort Mitglieder¬
zahl
Einwohner
Jüdische
Einwohner
Sondershausen
45
7 000
71
Straßburg
160
178 891
5 780
Striegau
24
14 587
95
Stuttgart
230
268 218
3 818
Thom***
60
46 227
1 005
Tilsit
60
39 013
624
Trier
65
49112
734
Uslar (einschl. Nachbar¬
gemeinden)
50
2 529
42 (nurU.)
Ulrichstein* ***
10
893
81
Vacha
48
2 290
121
Wanne** (s. Gelsenkirchen)
—
38 884
170
Warburg
40
5 682
232
Wattenscheid
45
27 636
185
Wesel
85
24 441
235
Wiesbaden
200
109 002
2 744
Witten
140
37 450
354
Witzenhausen
20
4 065
125
Worms
170
46 819
1 281
Zabrze
65
63 373
491
A 11 tn e r k u n g :
*) Da eine Statistik infolge des Kriegsausbruchs nicht fertig¬
gestellt werden konnte, sind die Mitgliederzahlen einer Aufstellung ent¬
nommen, die Herr Paul Brünell-Köln dem Verfasser freundlichst
zur Verfügung gestellt hat. Die Statistik war für den Delegiertentag des
Westdeutschen BezirkSverbandes jüdischer Jugendvereine im Februar-
März . 1914 aufgenommen.
**) Der Verein ist nicht selbständig, sondern ein Zweigverein.
Die Mitgliederzahi ist in der des Hauptvereins einbegriffen.
***) Die Mitgliederzahl ist nicht in der von Brünell aufgestellten
Statistik enthalten, da der Verein im-Februar 1914 noch nicht bestand
oder dem Verbände noch nicht angeschlossen war. Die Zahl entstammt
den Akten des Verbandes der jüdischen Jugendvercine Deutschlands.
****) Der Verein ist dem Verbände der jüdischen Jugendvereine
Deutschlands nicht angeschlossen, verfolgt aber dieselben Ziele und steht
mit dem Verbände in enger Verbindung.
65
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