Skip to main content

Full text of "Die Philosophie des Als Ob"

See other formats


1 ' / * r 




DIE 

PHILOSOPHIE DES ALS OB. 

System 

der theoretischen, praktischen und religiösen 
Fiktionen der Menschheit 
auf Grund eines idealistischen Positivismus. 

Mit einem Anhang über Kant und Nietzsche. 



Von 

HANS VAIHINGEN 

Ich bin überzeugt, das* der hier 
hervorgehobene Punkt einmal ein Eck- 
stein der philosophischen Erkenntnistheorie 
werden wird. F. A. Lange. 



Siebente und achte Auflage. 



Leipzig / Verlag von Felix Meiner/ 1922. 



Bniversitäts- 
Bibliothek 
München 



Dem 



IV. Internationalen Philosophischen Congress 



AI congresso filosofico di Bologna offro questa opera 
come un saluto dalla patria del Kant e del Nietzsche^ 
ed insieme come grato ricordo del professore bolognese 
Cavalitri (morto nelV anno 1647), uno degli seien- 
ziati piu sagaci del suo tempo, il quäle prima degli 
altri riconosceva, con chtara intuizione, che l'infinitesi- 
male, da lui nominato Vindivisibile, non k niente che 
una finzione utile ed un arfifizio deU'ingegno umano, 
E una costellazione fortunata, che il preside di codesto 
congresso, Ü professore Enriques delV Universita di 
Bologna, degno successore del Cavalieri t nel suo libro 
sui problemi della scienza lia ugualmente provato con 
ehiarezza e sagaeila, che nella matematica e nelle 
scienze naturali si usano concetti ausiliart, i quali, 
sebbene pieni di contradizioni, sono utili, e dei quali 
Xingegno umano t benetä conscio della hro falsita, si 
giova come di strumenti opportuni della ricerca. AI 
congresso diretto da lui sia dunque raecomandata questa 
opera, che tratta per la prima volta in modo generale 
ed ampio il problema delle finzioni. 



in Bologna 



(£— IL April 1911) 



überreicht 



Alle Rechtet auch das der Übersetzung, 
vorbehalten. 




Der 

Gefährtin seines Lebens und seiner Arbeit 

gewidmet 



In denim saepenumero mt adhortatui 
est et convitiis inUrdum additis eßfiagü 
tatü> ut librum hunc ederetn et in lucmi 
t andern prodirt, wierem, qui apud mt 
pre*ftu& non in nonum annum solum, 
tedjam in quartum novmnium latitasset 
Nie, Copernicusy 
Praefatio 
in 

Libium Rtuolutivnum. 



Vorrede 

zur zweiten Auflage. 



Ich habe in der ersten Auflage mich zunächst nur als „Her- 
ausgeber* dieses Werkes bezeichnet Ich tat das aus gutem 
Grunde und mit gutem Rechte. Denn ich habe dieses Werk 
seinen wesentlichen Hauptstücken nach vor mehr als einem 
Menschenalter verfasst: was der Fünfundzwanzigjährige geschrie- 
ben hat, dem steht der Sechzigjährige ganz anders und als ein 
ganz Anderer, ja als ein Fremder, gegenüber. Mit gereifter Kritik 
sieht der Ergraute die vielen Unvollkommenheiten des Jugend- 
werkes, und er musste es daher für eine Art Anmassung halten, wenn 
er ohne weiteres der wissenschaftlichen Welt zumutete, das als 
sein Werk aufzunehmen, was nicht mehr sein Werk ist, und das 
doch seinen unterdessen benannt gewordenen Namen getragen hätte. 

Nun hat aber die wissenschaftliche Welt selbst gesprochen und 
hat das Werk als ein nicht unbedeutsames Glied in der Entwicklung 
der heutigen Philosophie in Anspruch genommen. Auch die schärfsten 
Gegner haben anerkannt, dass in dem Buche Gedanken ausgesprochen 
seien, mit denen sich die Philosophie der Gegenwart auseinander- 
setzen müsse. Viele haben es ausgesprochen, dass durch dieses 
Buch die Philosophie nach den verschiedensten Seiten hin geför- 
dert werden könne, ja Einige sehen sogar in demselben das Buch, 
welches die Gegenwart braucht So hat mich das öffentliche 
Urteil nunmehr dazu berechtigt und auch dazu verpflichtet, mich 
Öffentlich als Verfasser zu nennen. Wenn ich freilich heute das 
Buch zu schreiben hätte, würde ich es natürlich ganz anders 
geschrieben haben: ich würde viele Mängel vermieden haben, 
aber es würde ihm die Frische und der Wagemut des jungen 
Stürmers und Drängers fehlen, welche dem Buche neben vieler 
Gegnerschaft doch auch viele Freunde erworben haben. 

Man hat mich oft gefragt, warum ich das Werk denn nicht 
zur Zeit seiner Abfassung herausgegeben habe? Man hat es mir 
sogar als Mangel an Mut ausgelegt, dass ich das nicht getan 
habe. Aber der Grund war ein ganz anderer. Ich hatte den 
ersten grundlegenden Teil des nun hier vorliegenden Buches 
im Winter 1876/7 in Strassburg rasch niedergeschrieben auf Grund 



Vorrede zm zweiten Auflage. 



II 



mehrjähriger Beschäftigung mit diesen Gedanken; ich reichte 
dann das Manuskript als Habilitationsschrift daselbst ein und 
erhielt infolge des günstigen Urteils von Laas die venia legendi 
noch im Februar 1877. Die Gedanken des Buches beschäftigten 
mich schon seit 1873 in Tübingen, Leipzig und Berlin. Als ich 
im Herbst 1876 Laas kennen lernte, der eben sein erstes philo- 
sophisches Werk veröffentlicht hatte, standen meine Gedanken 
schon fest; sie waren im wesentlichen beeinflusst durch mathe- 
matische und naturwissenschaftliche Studien, besonders durch den 
damals in seiner Vollblüte stehenden Darwinismus und dessen 
erste Anwendungen auf das geistige Leben. Diejenigen Philo- 
sophen, die mich am stärksten gepackt hatten, waren Kant und 
Schopenhauer, sowie der von beiden abhängige F. A. Lange. Aber 
auch Fichte und Hegel waren von Einfluss auf mich. Gleichzeitig 
aber lernte ich den Positivismus und Empirismus von J. St Mill 
kennen. Um dieselbe Zeit trat die Psychologie eines Wundt und 
Steinthal in mein Leben ein. Vorher aber hatten schon die 
„Psychologischen Analysen auf physiologischer Grundlage" von 
Horwicz einen unauslöschlichen Eindruck auf mich gemacht. 
Diesem trefflichen Werke verdanke ich den energischen Hinweis 
auf die grundlegende Rolle des Reflexschemas für die Psyche, 
das auch meinem Werke zu Grunde liegt. Alles Seelenleben ist 
hiernach eine weitere Ausbildung des Reflexvorganges: Einwirkung 
von aussen, innere Verarbeitimg, Wirkung nach aussen. Die inneren 
Verarbeitungen dienen ^jwrius Überleitungen für die von aussen 
kommende Einwirkung zu der nach aussen sich entladenden Tat 
Als solche inneren Verarbeitungen und Überleitungen erkannte ich 
die Fiktionen, die eben schliesslich nur dem praktischen Zwecke 
dienen, dem Handeln. Schon von Kant, Fichte und Schopen- 
hauer her hatte ich die Überzeugung, dass das Denken dem 
Wollen, dem Handeln diene. So entstammen meine Anschau- 
ungen idealistischen und positivistischen Anregungen zugleich. 

In den Jahren 1877 und 1878 war ich damit beschäftigt, 
das Manuskript für den Druck gänzlich umzuarbeiten. Aus dieser 
Zeit stammt eine grosse Anzahl von Konvoluten, welche als 
druckfertig gelten konnten. Mitten in dieser Arbeit traf mich im 
Januar 1879 eine völlige Veränderung meiner äusseren Lage. 
Ich konnte mich nicht mehr ruhigem Nachdenken über die mir 
am Herzen liegenden Probleme hingeben, sondern musste mich 
nach lohnenderer Arbeit umsehen. Um jene Zeit hatte ich im Inter- 
esse der Drucklegung meines Werkes mich mit Kant näher zu be- 
schäftigen begonnen, was bis dahin nicht der Fall gewesen war; 
ich hatte aus allerlei Erinnerungen der ersten Lektüre einige! 
seiner Werke und aus allerlei sekundären Darstellungen gemerkt. 



III 



Vorrede zur zweiten Auflage. 



dass bei Kant schon die Fiktion eine Rolle spielen müsse, wusste 
jedoch noch nicht, ob und inwieweit diese Ahnung richtig sei. 
So hatte ich zu diesem Zweck seminaristische Übungen abge- 
halten, speziell über Kants Prolegomena. Bei dieser Gelegenheit 
entdeckte ich um dieselbe Zeit die unterdessen bekannt gewor- 
dene „Blattversetzung in Kants Prolegonfena", die besagt, dass 
ein wesentlicher Teil, der in den § 2 der Einleitung hineingehört, 
in den § 4 hineingeraten war, jedenfalls durch eine rein äusser- 
liche versehentliche Versetzung eines geschriebenen oder gesetzten 
Blattes beim Druck, den ja Kant selbst nicht überwachen konnte. 
Fast hundert Jahre lang hatten Hunderte, Tausende, ja Hundert- 
tausende von Augen auf den Prolegomena geruht, ohne das zu 
bemerken. Diese Entdeckung schien mir eine Bürgschaft dafür zu 
sein, dass mir die scharfe logisch-philologische Analyse eines 
philosophischen Schriftwerkes gelingen müsste, und so entwarf 
ich den Plan eines Kommentars zu Kants Kr. <L r. V., deren 
hundertjähriges Jubiläum bevorstand. Diese Arbeit, die mir die 
äussere Existenz ermöglichte, dank dem weiten Blick des grossen 
Verlegers W. Spemann, beschäftigte und absorbierte mich nun 
von 1879—1883. 

Als ich im Jahre 1884 nach Halle a. S. kam, war meine Gesund* 
heit so erschüttert, daß ich neben der Amtstätigkeit keine Zeit 
und Kraft zu produktiver Arbeit mehr übrig hatte. Sowie sich 
meine Gesundheit besserte, najim ich von 1890 an den zweiten 
Band meines Kantkommentare in Angriff, der 1892 erschien. 
Dann kamen neue Störungen der Gesundheit und der Arbeits- 
ruhe; als diese Störungen vorüber waren, gründete ich Ende 
1895 die „Kantstudien % deren Leitung mir neue Arbeiten in einem 
ganz ungeahnten Umfange auferlegte, ich hatte mir die Redaktions- 
arbeit viel geringer vorgestellt, als sie tatsächlich war, sowohl extensiv 
als intensiv. Doch wollte ich die Zeitschrift nicht eingehen lassen, 
deren wissenschaftliche Bedeutung immer mehr anerkannt wurde, 
und so brachte ich ihrer Fortführung viele Opfer an Zeit und Kraft. 

Um jene Zeit, ca. 1898, trat ein Neues in meinen geistigen 
Horizont ein, die Bekanntschaft mit den Schriften Nietzsches. 
Der Entwicklung der deutschen Philosophie in den zwanzig Jahren 
von 1878—1898 hatte ich nicht mit allzu grosser Freude zugesehen: 
auf der einen Seite eine experimentelle Psychologie, die an sich 
sehr wertvoll war, die aber über der Beschäftigung mit teilweise 
recht unbedeutenden Einzelheiten den Blick für die grossen 
Gesichtspunkte der Psychologie selbst zu verlieren schien, die ich 
oben im Anschluss an Horwicz kurz skizziert habe; auf der anderen 
Seite eine einseitig formal-logische Behandlung der erkenntnis- 
theoretischen Fragen, die mir dadurch nicht viel zu gewinnen schien* 



Vorrede zur zweiten Auflage. 



IV 



dass der Unfruchtbarkeit dieser Erkenntnistheorie durch einen 
ethischen Einschlag, der mit einem grundlosen absoluten Wert- 
begriff operierte, nachgeholfen werden sollte. Der Mann, in dessen 
Richtung sich meine eigenen Gedanken bewegten, F. A. Lange, 
wurde von den Zünftigen immer mehr vergessen und missachtet. 
Ansätze zu neuen fruchtbaren Bildungen waren wohl vorhanden, 
aber sie kamen noch nicht recht zur Geltung. So konnte auch ich 
nicht hoffen, dass mein eigenes Werk, das ich natürlich niemals 
ganz aus den Augen verlor, Beachtung finden würde. Auch wenn 
ich die Zeit und die Kraft gehabt hätte, es zum Drucke fertig zu 
machen, konnte ich unter den damaligen Verhältnissen auf keinen 
tieferen Erfolg rechnen. 

Um jene Zeit also, 1898, lernte ich Nietzsche's Schriften 
erst kennen, wie ich dies in den folgenden „Vorbemerkungen 
zur Einführung 1 * schon in der 1. Aufl. geschildert habe. Hier 
war ein ganz frisches Quellwasser, hier waren Ideen, unabhängig 
von den traditionellen Fragestellungen und Formulierungen — und 
diese revolutionären Ideen deckten sich in vielen Punkten mit 
den meinigen: in meiner Schrift „Nietzsche als Philosoph" habe 
ich das leise angedeutet. Und noch andere neue Strömungen 
begannen um jene Zeit, die ich in den folgenden „Vorbemerk- 
ungen" geschildert habe. 

Nun sah ich, dass für mein Buch die Zeit gekommen war. 
Nach längerer Überlegung darüber, was ich mit dem vorhandenen 
Manuskript machen sollte, Hess ich mir zunächst von einem 
jüngeren Gelehrten eine Abschrift des aus dem Winter 1876/77 
Stammenden herstellen. Um dieselbe Zeit, in den ersten Jahren 
des neuen Jahrhunderts, machten sich aber schon die schlimmen 
Anzeichen eines schweren Augenleidens bemerkbar. Und so kam 
ich zu der Erkenntnis, dass ich das Werk nicht mehr werde um- 
arbeiten können, dass ich es vielmehr in der Gestalt und Fassung, 
in der es vorlag, werde herausgeben müssen. 

Aber nun kam eine neue Ablenkung: der hundertjährige 
Todestag Kants nahte heran, und die Idee einer „Kantgesell- 
schaft" tauchte in mir auf. Diese Idee war mir schon im Jahre 
1897 durch den damaligen Verleger der „Kantstudien", Ernst 
Maass, entgegengebracht und nahegelegt worden, und ich hatte 
den eifrigen Kantforscher E. Fromm zur Begründung einer solchen 
Gesellschaft ins Auge gefasst. Dieser aber verstarb früh. Nun 
liess mir die Idee, die im Kopf eines Anderen entstanden war, keine 
Ruhe: mit einiger Besorgnis ging ich an die Verwirklichung, ge- 
warnt durch die Erfahrungen bei der Begründung der „Kantstu- 
dien", aber das Pflichtgefühl liess mich nicht los: ich sah, dass 
ich der Einzige war, der — im Anschluss an die „Kantstudien ■ — 



V 



Vorrede zur zweiten Auflage. 



eine solche Gesellschaft ins Leben rufen konnte. Auch dies ab- 
sorbierte viel mehr Zeit und Kraft, als mir lieb war: denn ein 
anderes Pflichtgefühl, das gegenüber meinem eigenen und eigen- 
sten Werke, regte sich immer stärker und stärker. 

Unterdessen hatte mein Augenleiden immer weitere Fort- 
schritte gemacht und zwang mich, 1906 meine Amtstätigkeit auf- 
zugeben. Die nun gewonnene Zeit und Kraft wurden sofort in 
den Dienst der Veröffentlichung der „Philosophie des Als Ob M 
gestellt, wie ich das Werk nun betitelte: der ursprüngliche Titel 
nebst der ursprünglichen Vorrede finden sich abgedruckt in meiner 
Selbstanzeige in den „Kantstudien* XVI (1911), S. 108—115. 

In dem ersten grundlegenden Teil, der, wie gesagt, 
im Winter 1876/77 entstanden ist, habe ich einige unumgänglich 
notwendige Kürzungen sowie einige Umstellungen vorgenommen, 
worüber die in Kursiv gedruckten Noten unter dem Text kurz 
Rechenschaft geben. An einzelnen Stellen sind stilistische Härten 
und Unebenheiten beseitigt worden; ausser ein paar gelegentlichen, 
einen Obergang herstellenden Worten sowie einigen Überschriften, 
wurde aber nicht das Geringste hinzugesetzt Es musste so 
verfahren werden schon aus dem Grunde, um das Interesse der 
Priorität resp. der Originalität meiner Ausführungen gegenüber 
event. irrigen Datierungsversuchen zu wahren. Man ersieht auch 
aus der benutzten Literatur, dass und inwieweit die Gedanken 
meines Buches aus dem damaligen Stand der Wissenschaft 
hervorwuchsen. 

So wurde auch mit den aus den Jahren 1877/78 stammen- 
den Abschnitten verfahren, welche jetzt den zweiten, speziellen 
Teil bilden, nur dass hier zwischen den einzelnen Paragraphen 
noch verbindende Übergänge geschaffen werden mussten. Auch 
wurden auf Grund der aus jenen Jahren stammenden Aufzeich- 
nungen Lücken ausgefüllt, die sich in den §§ 18, 21, 23, 27, 
28 fanden. 

Für den dritten, historischen Teil lagen zunächst nur 
die aus jenen Jahren stammenden Kollektaneen vor. Auf Grund 
dieser wurde nun der ganze dritte Teil neu niedergeschrieben. 
Die Belege S. 711—733 aus dem erst nach 1878 bekannt ge- 
wordenen nachgelassenen Aufzeichnungen Kants sind schon durch 
den kleineren Druck als späterer Zusatz gekennzeichnet. Dasselbe 
ist natürlich der Fall mit dem Abschnitt über Nietzsche S. 771—790. 

In der ersten Auflage, deren Korrektur ich selbst besorgte, 
sind infolge meines Augenleidens leider viele Druckfehler stehen 
geblieben. Die Korrektur dieser 2. Auflage hat Dr. Arthur Liebert 
in Berlin freundlichst besorgt, dem ich durch die Herstellung eines 
korrekten Textes zu grossem Dank verpflichtet bin. 



Vorrede zur zweiten Auflage. 



VI 



So möge denn diese 2. Auflage hinausziehen und sich neue 
Freunde und neue Gegner erwerben zu den Bisherigen. Jene 
Freunde und Gegner (man kann Beides in einer Person sein) 
haben zu meinen Ausführungen viele wertvolle Ergänzungen und 
beachtenswerte Einwände gemacht; leider konnte ich diese in der 
neuen Auflage, schon aus Mangel an Raum, nicht berücksichtigen, 
aber um dem Leser es zu erleichtern, diese Ergänzungen und 
Einwände kennen zu lernen, stelle ich hier die ausführlicheren 
Äusserungen übersichtlich zusammen. 

R. Hönigswald in den Gött. Gel. Anz., 1912, S. 352— 368; R. Reininger 
im Jahrb. d. Wiener Philos. Ges. 1912, S. 1—18; W. Jerusalem in der Zukunft 
1912, S. 239— 250 („Die Logik des Unlogischen*); Ferd. Jak. Schmidt in den 
Preuss. Jahrb. April 1912, S. 1—18 {„Die Demaskierung des Positivismus*); 
K. Sternberg in den Kantstudien XVI, S. 328—338 und in den Monatsheften der 
Comeniusges. 1912, S. 191—195; Julius Schultz in den Kantstudien XVII, S. 
85-110; K.Wize in der Viert, f. wissensch. PhUos. u. Soziol. XXXV, S. 467— 469 
u. XXXVI, S. 413—424; H. Prager in der Zeitschn f. Philos. u. philos. Kritik, Bd. 
144, S. 191— 199; K.Oesterreich in der Deutschen Lit. Zeit. XXXIV, S. 197— 
206; R. Eisler, Monist. Jahrh. 1912, S. 475— 480; P. Schwartzkopff, Zeitschr.f. 
Philos. u. philos. Kritik, Bd. 147, S. 1-44 (.Sind die Empfindungen wirklich?*); 

G. Spengler, ib. S. 129 — 171 (.Das Verhältnis der Philos. des Als Ob zuMeinongs 
Annahmen*), G. Jacoby, ib. S. 172—184 („Der amerikanische Pragmatismus und 
die Philos. des Als Ob*); H. Hegenwald, ib. Bd. 147, S. 45-81 (.Die Gottes- 
tatsache und die Phil, des AlsOb a ); derselbe in Steinmann's Zeitschr. f. Religion 
und Geisteskultur VI, 131—140 („Die PhUos. d. Als Ob und die gegenwartige 
religiöse Lage"); derselbe in der Altpr. Monatsschr. XLIX, S. 238-257 („Die Auf- 
fassung und Fortbildung der Kantischen Philosophie in der Phil. d. Als Ob"); 
F. Lipsius in der Wissensch. Rundschau 1911/12, S. 245 ff. und 268ff.; A. Levy 
im Archiv f. System. Philos. XVIII, S. 445—454; i. Breuer im Gerichtssaal, Bd. 
LXXX, S. 395—404 (.Die Lehre, vom unrichtigen Recht"); K, Heim in der Theol. 
Lit. Zeit. 1912, S. 274—279; W. Ernst im .Geisteskampf der Gegenwart" 1913, 
S.59— 64; W.Meyer in den Theolog. Studien und Kritiken, 1912, S. 464— 477; 
P. Schwartzkopff in der Zeitschrift für evangel. Religionsunterricht, Bd. XXIV, 

H. 4, S. 176— 181; B. W. Switalsky im Jahrbuch der Görresgesellschaft, 1913, 
S. 1—23; M. Ettlinger im Hochland, 1911, S. 243 ff.; A.Lapp im März 1912 
S. 170ff. (.Taschenspielerkünste des Denkens*); F. C. Schiller im Mind, 1912, 
S. 93-104; G. Marcheslnt in der Rivista di Filos, III, S.l-7 (.La filosofia det 

; ComeSi-); A. Ledere in der Revue de Philos., XII, 283—294 (.La Philosophie 
du Comme Si"); G. R. S.Mead in The Quest, IV, 459—483 (.The Philosophy 
of the As If); Ph. Bride!, Revue de Theologie et de Philos. 1913, S. 12—33 
(,Les fictions dans la science et dans Ia vie humaine 41 ); J. Löwenberg, Journal 
of Philos., Psychol. and scient. methods Dt, 717 ff.; P. Carus im Open Court, 
1912, S. 561 ff.; H. M. Kallen, Philosoph. Review, XXII, 200 ff.; G. von Bartök 
im Siebenbürg. Museum („Erd&yi Muzeunr) Kolozsvär 1913, Bd. XXX, H. 1, 
S. 11—30, H.2 t S. 92—110 (in ungarischer Sprache). 

Ausser diesen Zeitschriftenartikeln finden sich u. A. in folgenden Schriften 
grössere Abschnitte Über die Philosophie des Als Ob: F. Lipsius, Einheit des Er- 
kennens und Einheit des Seins, Leipzig, 1913, $.115— 123- A. Sturm, die Einteilung 
des Rechts, Berlin 1912, S. 48— 63 und: Kant und die Juristen, Halle 1913; H, Bahr, 
Inventur, Berlin 1912, S. 51—60. 



VII 



Vorre<ie zur zweiten Auflage. 



Als eigene Schrift kommt in Betracht A, Wesselsky, Forberg und Kant, 
Studien zur Geschichte der Philosophie des Ais Ob im Hinblick auf eine Philo- 
sophie der Tat, Leipzig und Wien, 1913 (80 S.). Ausserdem erscheinen dem- 
nächst so viel mir bekannt geworden ist, folgende Schriften: P. Schrecker, 
Vaihinger und Bergson, Versuch einer Wesensbestimmung der neuen Philosophie, 
A, Lapp» Die Wahrheit Eine erkenntnistheoretische Studie über den Wahrheits- 
begriff, orientiert an Rickert, Husserl und bes. an Vaihingen? Philosophie des 
Als Ob (Stuttgart, W. Spemann) ; H. Hegenwald, GegenwartsphÜosophic und 
christliche Religion. Kurze Erörterung der philos. und religionsphilos. Haupt- 
probleme im Anschluss an Eucken, Rehmke und Vaihinger (Leipzig, F, Meiner). 

Einen sehr persönlich gehaltenen Angriff möchte ich hier niedriger hangen: 
H. Bund, Kant als Philosoph des Katholizismus (Berlin 1913) S. 8—13, 266—298. 

Ich schliesse mit denselben Worten, mit denen das „Vorwort 
des Herausgebers * in der ersten Auflage schloss: 

„Der Horazische Kanon ist bei diesem Werke beinahe vier- 
fach erfüllt; denn es ist, seinen Hauptbestandteilen nach, vor 
nunmehr 35 Jahren niedergeschrieben worden. Natürlich würde 
ich die Herausgabe eines Werkes, das vor einem Men$chenaller 
abgefasst worden ist, nicht übernommen haben, wenn ich nicht 
die Überzeugung hätte, dass das Werk auch heute noch, ja viel- 
leicht heute noch eher wie damals, etwas zu sagen hat. Philo- 
sophische Werke prinzipieller Natur hängen, wie ,die Könige, 
nicht von Tagesmeinungen ab'. Ein philosophisches Werk, das 
nach dreissig Jahren veraltet ist, ist überhaupt nicht philosophisch 
im prägnanten Sinn des Wortes. Weil ich glaube, dass das vor- 
liegende Werk, trotzdem es über dreissig Jahre alt ist, nicht ver- 
altet ist, kann ich seine Herausgabe vor mir und vor der litera- 
rischen Welt verantworten trotz seiner offenbaren Unvollkommen- 
heiten, die es besonders im ersten Teile zeigt." 

„So wie es nun ist, mag es Manchem das lösende Wort in 
quälenden Problemen bringen, manch Anderen aus dogmatischer 
Ruhe in neue Zweifel stürzen, bei Vielen Anstoss erregen, aber 
hoffentlich auch Einigen neue Anstösse geben." 

Halle a. S., im Frühjahr 1913. 

H. Vaihinger. 



Vorwort zur 3, Auflage. 



Es ist eine für de,i Verfasser und für die Freunde der 
n Philosophie des Als Ob" hochbedeutsame Tatsache, daß während 
und trotz des Weltkrieges eine dritte Auflage dieses umfangreichen 
Werkes notwendig und möglich geworden ist Zahlreiche Zu- 
schriften der letzten Jahre lassen erkennen, wie weit sich die 
Wirkung des Buches erstreckt hat Die Daheimgebliebenen haben 
sich mit erhöhtem Interesse mit seinen Problemen beschäftigt, 
aber auch in den Lazaretten, Gefangenenlagern, ja selbst bis in 
die Schützengräben hinein hat es aufmerksame Leser gefunden. 
Andererseits hat der Krieg freilich auch störend in die Verbreitung 
des Buches eingegriffen. So ist z. B. eine französische Über- 
setzung, die vom Verlage Felix Alcan in Paris geplant war, noch 
nicht zur Ausgabe gelangt; andere Übertragungen ins Italienische, 
Englische und Russische, die zum Teil schon ziemlich weit fort- 
geschritten waren, mußten unterbrochen werden. Von den Ab- 
handlungen und Besprechungen der letzten Jahre, welche von 
der weiten Verbreitung des Werkes im In- und Auslande Zeug- 
nis ablegen, seien hier besonders erwähnt die gründliche und 
sehr ausführliche Besprechung des leider durch den Krieg all- 
zufrüh hinweggerissenen Dr. Waldemar Konrad in der «Zeit- 
schrift für Philosophie und philosophische Kritik", sowie die in 
verschiedenen Zeitschriften veröffentlichten spezielleren Aus- 
führungen Prof. Dr. Paul Krückmanns in Münster über die ju- 
ristischen Fiktionen. 

Von selbständigen Publikationen erwähne ich hier die Dis- 
sertation des jungen Amerikaners Campbell „Fiktives in der 
Lehre von den Empfindungen w , die unter Prof. Felix Krueger 
in Halle gearbeitet wurde und im Verlage von Reuther & 
Reichardt in Berlin 1915 erschienen ist, ferner eine Dissertation 
von Dr. Eberhard Boerma: „Über die Philosophie des Als Ob. 
Eine Untersuchung ihrer logischen Struktur und ihrer Lösung 
des Erkenntnis und Lebensproblems«, die der Anregung von Prof. 
Eucken in Jena ihre Entstehung verdankt, sowie die sich an die 
Richtung von Prof. Rehmke in Greifswald anlehnende Doktor- 
arbeit von Franz Lindstaedt: „Grundwissenschaftliche Kritik der 
Hauptbegriffe in Vaihingers Philosophie des Als Ob." 



IX 



Vorwort zur 3. Auflage. 



Eine Reihe bereits angekündigter Aufsätze und selbständiger 
Schriften sind dagegen durch den Krieg unterbrochen worden 
oder mußten kurz vor ihrer Vollendung liegenbleiben. Dies 
gilt besonders von einer gekrönten Preisschrift der Bonner 
Evangelisch-Theologischen Fakultät, als beste Beantwortung der 
Aufgabe: »Vaihingers Philosophie des Als Ob soll in ihrer An- 
wendung auf die Objekte der Theologie geprüft und religions- 
theoretisch gewürdigt werden". 

Eine ausführliche bibliographische Mitteilung der seit 1913 
erschienenen Als Ob-Literatur (zw Vervollständigung der An- 
gaben der 2, Auflage für die Jahre 1911— 1013) unterlasse ich 
hier, weil eine solche an anderer Stelle in einem Unternehmen 
gegeben werden soll, das sich an die u Philosophie des Als Ob" 
anschließen wird. Es hat sich das Bedürfnis geltend gemacht, 
in einem eigenen fortlaufenden Sammelorgan alle diejenigen Ar- 
beiten zu konzentrieren, welche durch die von der Philosophie 
des Als Ob ausgehenden Anregungen und Anstöße hervorgebracht 
werden, und so wird fast gleichzeitig mit dem Erscheinen dieser 
3. Auflage ein neues Jahrbuch unter dem Titel „Annalen der 
Philosophie mit besonderer Rücksicht auf die Probleme der 
Als Ob-Betrachtung" ins Leben treten. Naturgemäß beschäftigt 
sich dieses Organ zunächst in erster Linie mit den Problemen 
der Als Ob-Einstellung, dabei ist jedoch Wert darauf gelegt, 
nicht nur zustimmende und fortbildende, sondern auch kritische, 
einschränkende und ablehnende Verfasser zu Worte kommen zu 
lassen. Es soll auf diese Weise sich aus der vielseitig ausge- 
bauten Debatte Klärung und gründliche Förderung aller ein- 
schlägigen Fragen ergeben. Weiter hat sich aber das genannte 
Organ, ebenfalls im Anschluß an die Philosophie des Als Ob, 
die allgemeine, sehr aktuelle Aufgabe gestellt, die Beziehungen 
der beiden großen Hauptströmungen in der Gegenwartsphilo- 
sophie, des Idealismus und des Positivismus, zueinander neu 
zu untersuchen, mit dem Bestreben, das Berechtigte in beiden 
sich bekämpfenden und teilweise ganz verständnislos sich gegen- 
überstehenden Richtungen herauszuarbeiten und auf diese 
Weise eine fruchtbare Berührung und Ineinander-Wirkung zu er- 
möglichen. 

Die so leidvolle und doch wiederum so erhebende Gegen- 
wart hat einerseits gezeigt, wie Vielen der einseitige Positivismus 
nicht genügt. Eine bedeutsame Hinwendung zu den alten, 
kraftspendenden und taterzeugenden Idealen hat stattgefunden. 
Andererseits erkannten jedoch auch viele Anhänger der alten 
Formen und Formulierungen des Idealismus mit plötzlicher und 
peinlicher Klarheit dessen ungenügende Berücksichtigung der 



Vorwort zur 3. Auflage. 



X 



groben und rücksichtslosen unverhüllten Wirklichkeit So hat sich 
denn auf beiden Seiten eine eigentümliche philosophische Stimmung 
und Strömung erzeugt, die in ihrer Unbefriedigtheit nach Aus- 
gleich strebt, und die unseren Tagen den Stempel aufdrückt 
Gegenseitige Ergänzung, wie sie auch wohl schon vor den er- 
schütternden Ereignissen der letzten Jahre angestrebt wurde, ist 
nunmehr zu einer gebieterischen Forderung geworden. Der Ver- 
ständigungsfrieden zwischen Idealismus und Positivismus, zwischen 
Transzendentalphilosophie und Psychologie ist somit eine der 
brennendsten Gegenwartsfragen. Ihn in die Wege zu leiten, soll 
eine der vornehmsten Aufgaben des neuen Jahrbuches sein. 

Den Verlag des neuen Organs, dessen Herausgabe ich ge- 
meinsam mit Dr. Raymund Schmidt besorge, hat- die Firma 
Felix Meiner in Leipzig übernommen. Es war natürlich nahe- 
liegend, daß diese Firma auch die 3. Auflage der Philosophie des 
Als Ob übernahm. Das war umso leichter, als die beiden ersten 
Auflagen bei der Firma Reuther & Reichardt in Berlin nur im 
Kommissionsverlag waren. Letzterer Firma bin ich aber zu 
dauerndem Danke verpflichtet für die umsichtige und opfer- 
freudige Arbeit, die sie für die Verbreitung der beiden ersten 
Auflagen mit großem Erfolg geleistet hat 

Zum Schlüsse darf ich hier vielleicht noch auf eine kleine 
Schrift von mir selbst hinweisen, die ursprünglich als Teil des 
zum 70. Geburtstag Rudolph Euckens von den „Kant-Studien* 
herausgegebenen Festheftes, Januar 1916, dann aber auch als 
Separatausgabe im Verlag von Reuther & Reichardt in Berlin 
erschienen ist: »Der Atheismusstreit gegen die Philosophie des 
Als Ob und das Kantische System". Ich beantwortete darin einen 
Angriff, dessen ich schon am Schluß der Vorrede zur 2. Auflage 
kurz Erwähnung getan hatte. Auch der neuen Auflage wird es 
natürlich nicht an Gegnern fehlen, aber voraussichtlich auch nicht 
an Freunden. Das Beste, was ich mir und dem Buche wünschen 
kann, ist, daß es ihm gelingen möge, zur Weiterentwicklung der 
Philosophie beizutragen. 

Hinzufügen möchte ich, daß diese 3* Auflage ein unver- 
änderter Neudruck der 2. Auflage ist, jedoch sind eine größere 
Anzahl mehr oder minder störender Druckfehler verbessert wor- 
den. Für die Durchsicht, die ich leider eines Augenleidens halber 
nicht selbst vornehmen konnte, darf ich hier meiner Gattin, so- 
wie dem Herrn Dr. Raymund Schmidt danken, der auch die 
ganze Drucklegung überwachte. Jenes Leiden verhinderte mich 
auch, einige Stellen, auf deren Korrekturbedürftigkeit ich auf- 
merksam gemacht worden war, zu ändern; ich hoffe jedoch, 
durch eine Operation in den Stand gesetzt zu werden, bei der 



xr 



Vorwort zur 4* Auflage. 



nächsten Auflage dieses Versäumnis nachzuholen und bin des- 
halb allen dankbar, die mich erneut auf solche Stellen hinweisen. 

Halle, im Frühjahr 1918. H. Vaihingen 



Vorwort zur 4. Auflage. 

Die fortschreitende Verschlimmerung seines Augenleidens hin- 
derte den Verfasser, die Durchsicht der 4. Auflage seines epoche- 
machenden Werkes selbst zu besorgen. Auf seinen Wunsch über- 
nahm der Unterzeichnete diese Mühewaltung, die darin bestand, 
den Text erneut sorgfältig zu lesen und einige geringe Korrekturen 
auszuführen. An sachlichen Abweichungen von der vorhergehen- 
den enthält die vorliegende Ausgabe nichts als eine textliche Klärung 
der Ableitung für die infinitesimale Bestimmung des durchlaufenen 
Raumes beim freien Fall (S.531). Außerdem gelang es dem Unter- 
zeichneten das Namenregister am Schlüsse des Bandes auf Orund 
einer genauen Durchsicht des Textes um etwa ein Fünftel seines 
Umfanges zu bereichern. 

Daß in so kurzer Zeit, aller Ungunst der Zeitverhältnisse zum 
Trotz, eine Neuauflage des Werkes notwendig wurde, ist ein äußer- 
licher Beweis für die Zeitgemäßheit seines Inhaltes. Möge auch 
diese Auflage den Widerhall finden, den das Werk seiner ganzen 
Anlage und seiner Grundtendenz nach verdient und in den früheren 
Auflagen bereits gefunden hat Auch an dieser Stelle sei noch 
einmal nachdrücklichst auf die schon im Vorwort zur 3. Auflage 
angekündigten, nunmehr bereits mit begonnenem zweiten Jahrgang 
vorliegenden AnnaJen der Philosophie hingewiesen, die es sich 
zur Aufgabe gemacht haben, in Form einer Arbeitsgemeinschaft 
von sechs namhaften Philosophen und acht hervorragenden Ver- 
tretern von Einzelwissenschaften, die Anregungen des vorliegenden 
Werkes im Sinne einer großzügigen Vermittlung zwischen Idealis- 
mus und Positivismus, weiterzuverfolgen und auszubilden. 

Vielen Wünschen aus den Kreisen der Anhänger und Freunde 
der Als Ob-Philosophie entsprechend gab der Verlag dem Werk 
ein Bildnis des Verfassers bei. 

Leipzig, Dez. 1919. Dr. Raymund Schmidt 



XI a 

Vorwort zur 5. und 6- Auflage. 

Die 4, Auflage der »Philosophie des Als Ob», mit der die beiden vor- 
liegenden Auflagen bis auf einige verbesserte Druckfehler völlig übereinstimmen, 
war bereits vier Wochen nach ihrem Erscheinen wieder vergriffen. Einer von 
den Gründen für diesen nicht alltäglichen Erfolg ist zweifellos in der Prämiierung 
des Werkes durch die literarische Kommission des Nietzschearchives mit dem 
ersten der drei von Konsul Lassen in Hamburg gestifteten Preise zu suchen. 
Das Urteil der Kommission hat Vaihingers Werk in Verbindung gestellt mit 
zwei der philosophisch wich! igst en und meistgelesenen Werke der Gegenwart 
<Oswald Spenglers: „Untergang des Abendlandes" und Graf Kayserlings: „Reise- 
tagebuch eines Philosophen"), und hat auf diese Weise wesentlich dazu beigetragen, 
daß die Aufmerksamkeit auch derjenigen Kreise auf dasselbe gelenkt wurde, die 
nicht lediglich aus Fachinteresse sich mit der neueren philosophischen Literatur 
beschäftigen. Die Philosophie des Als Ob ist also auf dem Wege, in die 
weitesten Schichten der Gebildeten unseres Volkes und des Auslandes ein- 
zudringen. Der Verfasser des Werkes läßt an dieser Stelle dem hochherzigen 
Stifter jenes Preises, der Preisjury und vor allem der betagten Schwester des 
großen Philosophen Friedrich Nietzsche, Frau Elisabeth Förster-Nietzsche, für 
diese Förderung seines Werkes den wärmsten Dank durch den Unterzeichneten 
zum Ausdruck bringen. Andererseits ist der Erfolg der Philosophie des Als Ob 
wohl auch in der zunehmenden Neigung der Vertreter der verschiedensten 
philosophischen Disziplinen begründet, sich mehr und mehr von den aus- 
gefahrenen Geleisen der „Schulphilosophie" zu entfernen und „Neuland« zu 
suchen. Die Philosophie des Als Ob bereitet eine radikale Wendung in den 
herrschenden Auffassungen von den Methoden und dem Wert des wissenschaft- 
lichen Denkens vor und bietet diesen Suchenden eine Fülle von Anregungen 
und Ergänzungen. Der Inhalt der neuesten Hefte der „Annalen der Philosophie« 
(vom 2. Bande erschienen bisher zwei neue Hefte), die kaum mehr ausreichen, 
um allen Erscheinungen, die im Zusammenhange mit der Philosophie des Als Ob 
stehen, gerecht zu werden, ist ein lebendiges Zeugnis dafür. Daß auch außer- 
halb des Kreises der Mitarbeiter dieser Zeitschrift in den verschiedensten Einzel- 
wissenschaften von der Methodik der Fiktionen Kenntnis genommen und 
Förderung erwartet wird, bezeugen die verschiedensten Bemühungen, modernste 
einzel wissenschaftliche Probleme (wie die Einsteinsche Relativitätstheorie, die 
Freudsche Psychoanalyse, die moderne mathematische Axlomatik) unter Gesichts- 
punkten der Philosophie des Als Ob zu behandeln und so ihnen anhaftende 
Schwierigkeiten zu beheben. (Eine Anzahl solcher Versuche wird in diesem 
Jahre auf einer Als Ob- Konferenz im zeitlichen Anschluß an die General- 
versammlung der Kantgesellschaft in Halle in Vorträgen und Diskussionen zum 
Ausdruck kommen.) Daß auch die Universitäten und Volkshochschulen sich 
der Wirkung der Philosophie des Als Ob immer weniger verschließen, bezeugen 
einzelne akademische Preisaufgaben sowie zahlreiche Vorlesungen und Übungen 
über diesen Gegenstand. Es gebührt den Veranstaltern und Förderern solcher 
Unternehmungen der Dank aller, denen es mit dem Werke Hans Vaihingers 
ernst ist. — Schließlich ist noch zu erwähnen, daß sowohl das neutrale wie das 
feindliche Ausland durch Wiederaufnahme der bereits in einem früheren Vor- 
worte erwähnten, durch das Kriegsgewitter unterbrochenen Übertragungen des 
Werkes in fremde Sprachen zu zeigen beginnt, daß es willens ist nicht nur 
ernstlich die wissenschaftlichen Beziehungen mit Deutschland überhaupt wieder 
anzuknüpfen, sondern auch daß es speziell in der Philosophie des Als Ob eine 
Kulturerscheinung sieht, an der die internationale Wissenschaft nicht länger 
vorübergehen kann. 

Leipzig, den 6. Mai 1920. 

Dr. Raymund Schmidt 



Xlb 

Vorwort zur 7. und 8. Auflage. 

Auch diese Doppelauflage stimmt mit den vorhergehenden bis auf die 
Richtigstellung einiger Druckfehler wieder völlig überein. Zwar hat sich wohl 
im Laufe der lebhaften Diskussion der hier angeregten Probleme in der Lite- 
ratur der letzten Jahre vieles und auch wohl Grundlegendes ergeben, das eine» 
Neubearbeitung, die Ausschaltung mancher innerer Mängel, die Einfügung 
manches neuen moderneren Gesichtspunktes nahegelegt hätte, dennoch sind Ver- 
fasser und Herausgeber zu der Überzeugung gekommen, daß dieses Werk in 
dem jugendlichen Zustande zu belassen sei, in welchem es gerade jenen 
Widerstreit der Meinungen, jene Zustimmung und jenen fruchtbaren Wider- 
spruch erregte, der eine ganz neue Wendung in unserem Philosophieren vor- 
zubereiten scheint. Nur in dieser Widerspruch und Zustimmung fördernden 
Form kann die Philosophie des Als Ob weiterwirken als ein Sauerteig in 
der geistigen Entwicklung der Menschheit. Sie hat selbst nie darauf Anspruch 
gemacht, ein Abschluß zu sein, ein Strich unter der Rechnung einer alten 
Denkgeneration, sie möchte vielmehr gelten als neuer Anstoß, selbst als ein 
Durchgangspunkt für die Weiterentwicklung. Diese, wie Verfasser und Her- 
ausgeber sie sich denken, mag auch fernerhin in den zu diesem Zwecke 
gegründeten „Annalen der Philosophie" (deren dritter Band jetzt im Erscheinen 
ist) ihren Tummelplatz sehen und dazu in einer neuen Reihe von Ergänzungs- 
schriften, den „Bausteinen zu einer Philosophie des Als Ob" (München, 
Rösl & Cie.), die ihr Erscheinen in diesen Tagen beginnt, und auf deren erste 
Serie auch hier besonders aufmerksam gemacht sei (Johannes Sperl: Neue 
Wege der Kantforschung; Rolf Mallachow: Das Als Ob im Recht; Paul 
Spickerbaum: Die Formensprache in Religion und Theologie; Erich Guten- 
berg: Die Thünen'sche Idee als Fiktion}. — Daß auch sonst in der Bewegung, 
welche die Philosophie des Als Ob hervorgerufen hat, kein Stillstand ein- 
getreten ist, zeigen neben der endlich gesicherten englischen Ausgabe u. a, 
folgende Neuerscheinungen, in deren Mittelpunkt die Als Ob-Betrachtung steht: 
Julius Schultz, Die Grundftktionen der Biologie. Berlin 1920. 
Ludwig Fischer, Das Vollwirkliche und das Als-ob. Berlin 1921. 
Richard Müller-Freienfels, Philosophie der Individualität Leipzig 1921. 
Richard Herbertz, Das philosophische Urerlebnis. Leipzig-Bern 1921. 
Richard Koch, Die ärztliche Diagnose. Wiesbaden 1920. 
Hans Wirtig, Die Geltung der Relativitätstheorie. Berlin 1921. 
Adriano Tilgher, Relativisti Contemporanei (Einstein — Vaihinger — Rougier — 
Spengler— L'idealismo attuale relativismo e rivoluzione). Roma 1922. U.a. nu 

Ich schließe diese Vorrede mit folgendem, vom Verfasser der Philosophie 
des Als Ob selbst formulierten Zusatz: 

Bei der Darstellung der „Kantsdien Als Ob-Lehre", speziell im Opus 
Posthumum, ist in der Philosophie des Als Ob mehrfach ausdrücklich und 
nachdrücklich darauf hingewiesen worden, 1. daß bei Kant zwei Strömungen 
gleichzeitig nebeneinander hergehen, einerseits die metaphysisch-vermittelnde, 
andererseits die radikal -fiktionalistische, 2. daß in der Philosophie des Als 
Ob ausschließlich nur die letztere Strömung einseitig berücksichtigt sei. Infolge- 
dessen sind in der Philosophie des Als Ob in den aus Kant zitierten Stellen, 
die bei ihm üblichen Restriktionen, d. h. die gleichzeitigen metaphysischen 
Einschränkungen seines Fiktionalismus weggelassen und durch Punkte ersetzt 
worden, so daß die Leser in den Stand gesetzt sind, in der Reick eichen Ausgabe 
des Opus Pcsthumum diese Einschränkungen zu kontrollieren. Obgleich nun 
in der Ph. d. A. O. genug Warnungstafeln angebracht sind, so daß eigentlich 
kein Leser über diesen Sachverhalt im unklaren gelassen wird, so wird hier noch- 
mals ausdrücklich auf diesen Sachverhalt hingewiesen. Näheres hierüber 
findet sich in einer Abhandlung über „Kants antithetische Geistesart, erläutert 
an seiner Als Ob-Lehre" in der Festschrift, welche unter dem Titel „Den 
Manen Friedrich Nietzsches" zum 10. Juli 1921 im Musarion-Verlag in München 
erschienen ist. Es ist zu wünschen, daß diese Anregungen die baldige, voll- 
ständige, längst erwartete Veröffentlichung des Opus Posthumum beschleunigen. 

Leipzig, 5. Februar 1922. Dr. Raymund Schmidt 



Vorbemerkungen zur Einführung. 



Ein Problem zum ersten Male richtig und scharf zu stellen, 
das ist bekanntlich in der Geschichte der Wissenschaften oft von 
grösserem Nutzen gewesen, als immer neue Lösungsversuche 
alter Probleme vorzunehmen. Kants Frage: Wie sind synthetische 
Urteile a priori möglich? hat mehr geistige Arbeit ausgelöst, als 
die systematischen Lehrbücher vieler seiner heute vergessenen Zeit- 
genossen. So sei denn auch hier gleich zum Eingang die Frage 
klar und scharf formuliert, welche in diesem Buche aufgeworfen 
wird: Wie kommt es, dass wir mit bewusstfalschen Vor- 
stellungen doch Richtiges erreichen? 

Wir operieren mit „Atomen", obgleich wir wissen, dass unser 
Atombegriff willkürlich und falsch ist, und, was eben das Merk- 
würdige ist, wir operieren glücklich und erfolgreich mit diesem 
falschen Begriff: wir kämen ohne ihn nicht so gut, ja überhaupt 
nicht zum Ziele. Wir rechnen mit dem „Unendlich-Kleinen • in 
der Mathematik, obgleich wir wissen, dass dies ein widerspruchs- 
voller, also gänzlich falscher Begriff ist Aber wir wissen auch, 
dass wir ohne diesen falschen Begriff in der höheren Mathematik 
überhaupt nicht vorwärts kommen könnten, ja wir finden, dass er 
selbst in der Elementar-Mathematik unentbehrlich ist, wie gerade 
in diesem Buche nachgewiesen werden soll. Wir machen in den 
verschiedensten Wissenschaften sehr viele derartiger bewusstfalscher 
Annahmen und rechtfertigen sie damit, dass sie nützlich sind. Auch 
im praktischen Leben verfahren wir so: die Annahme der Willens- 
freiheit ist die notwendige Grundlage unserer sozialen und juristi- 
schen Ordnungen, und doch sagt uns unser logisches Gewissen, 
dass die Annahme der Willensfreiheit ein logischer Nonsens ist. 
Aber darum geben wir jene Vorstellung doch nicht auf: denn sie 
ist nützlich, ja unentbehrlich. Und in der Religion verfahren wir 
ebenso: logisch unhaltbare, ja unbedingt falsche Vorstellungs- 
weisen behalten wir bei, obgleich wir ihre Falschheit durchschauen. 
Wir behalten sie bei, nicht etwa, weil sie uns „lieb" sind, nein, 
weil wir ihre Nützlichkeit und Unentbehrlichkeit zum richtigen 
Handeln erkennen. Wir kommen im theoretischen, im praktischen 
und im religiösen Gebiet zum Richtigen auf Grundlage und mit 
Hilfe des Falschen, 

Dass dem so ist, das fiel dem Verfasser vor vielen Jahren zuerst 
Im Gebiet der Mathematik, Physik und Chemie auf; er fand dann 



XIII 



Vorbemerkungen zur Einführung. 



dasselbe Verfahren im Gebiet der Jurisprudenz und bald zeigte 
sich, dass auch vielfach in der Religion so verfahren werde: so kam 
die Synthese zu Stande, welche nun hier vorliegt, eine Synthese, 
welche in dem Verfahren des Mathematikers und des Theologen, 
des Physikers und des Juristen denselben Grundzug wieder erkennt. 

Früh schon war dem Verfasser auch die Partikelverbindung 
„als ob** aufgefallen, deren geheimnisvolle Gedankenverschränkung 
ihn reizte; oft fand er da, wo eben jenes Operieren mit bewusst- 
falschen aber nützlichen Vorstellungen stattfand, gerade diesen 
oder einen ähnlichen Partikelkomplex, dessen grammatisch-logische 
Analyse dann gleichzeitig mit jener Synthese sich verband. 

Da es sich um ein methodologisches Problem handelte, sah 
sich der Verfasser in den Lehrbüchern der Logik um, die ihn 
aber fast Alle im Stich Hessen» Nur bei Einem fand er, nachdem 
er sich selbst schon durchgeholfen hatte, eine aufklärende, auf- 
munternde Bestätigung seiner eigenen Auffassung über die Fiktion, 
denn um eine solche handelt es sich bei den Als-Ob-Annahmen, 
und über ihren Wesensunterschied von der Hypothese. Es war 
Lotze, dessen Namen daher hier auch dankbar erwähnt sei. 

Aber wenn ein Name hier dankbar genannt werden muss, 
so ist es vor Allem derjenige F. A. Lange's, dessen „Geschichte 
des Materialismus* dem Verfasser den letzten Aufschluss und den 
höchsten Abschluss gab. Bei Lange fand der Verfasser auch 
völliges Verständnis. Denn Lange, dem der Verfasser seine Ge- 
dankengänge ausführlich brieflich entwickelt hatte, erwiderte ihm 
am 16. Mai 1875 (ein halbes Jahr vor seinem qualvollen Tode): 
„Wiewohl mich eine schwere Krankheit fast an jeder 
Korrespondenz verhindert, möchte ich Ihnen doch mit 
wenigen Worten meine volle Zustimmung zu dem von 
Ihnen ergriffenen Gedanken aussprechen. Ich bin sogar 
überzeugt, dass der von Ihnen hervorgehobene Punkt 
einmal ein Eckstein der philosophischen Erkenntnis- 
theorie werden wird.* 

* * * 

Gründe verschiedener Art sind dafür entscheidend gewesen, 
dass die so der Hauptsache nach schon vor einem Menschenalter 
entstandene Schrift erst jetzt und jetzt noch zur Veröffentlichung 
gelangt: ja am Ende liegt eine Art Geschichtsteleologie darin, dass das 
Werk gerade jetzt erscheint, wo es vielleicht eher gehört wird und 
eher wirken kann, als wenn es in früheren Jahren ans Licht getreten 
wäre. Denn heute liegen vier wichtige Momente vor, welche sein 
Verständnis erleichtern, ja seine Einführung überhaupt wohl erst 
ermöglichen, Momente, die damals, im Jahre 1877, noch völlig fehlten. 



Vorbemerkungen zur Einführung. 



XIV 



Das eine Moment ist der Voluntarismus, der erst in 
den 80 er und 90 er Jahren um sich gegriffen und insbesondere 
durch Paulsen's und Wundt's Wirksamkeit Verbreitung gefunden 
hat; andere voluntaristische Strömungen mehr Fichtescher Art 
sind von Eucken einerseits, von Windelband und Rickert anderer- 
seits seitdem ins Leben gerufen worden. In den 70 er Jahren, als 
das vorliegende Werk entstand, war von alledem noch nicht die 
Rede. Der Verfasser stand mit seinem Voluntarismus, den er 
ausser Fichte besonders Schopenhauer sowie der Kampf-ums-Da- 
sein-Lehre Darwins verdankt, ganz isoliert. Seitdem ist der Primat 
des Willens (man kann auch sagen: der Wille der Primaten) immer 
mehr in den Vordergrund des Interesses getreten. Was also da- 
mals die Anerkennung dieses Werkes gehindert hätte, seine Fun- 
dierung auf den Willen, das kann ihm heute den Weg ebnen. 

Das zweite ist die biologische Erkenntnistheorie, wie 
sie durch Mach's „Analyse der Empfindungen" (1886) und durch 
Avenarius* „Kritik der reinen Erfahrung" (1888) begründet worden 
ist Was an dieser Richtung von wirklich dauerndem Wert ist, das 
findet sich, wenigstens dem Prinzip nach, auch schon in dieser 
Schrift: einerseits die Erfassung der Erkenntnisprozesse als Lebens- 
funktionen und damit die Unterstellung der Denkprozesse unter die 
Gesetze der Lebensvorgänge, und andererseits die Reduktion alles 
Seins und Geschehens auf Empfindungselemente als letztes uns 
Gegebenes. Die feinen, bedeutsamen Schriften Mach's, welche das 
Erkennen als eine Ökonomische, dem Leben dienende Verarbeitung 
des Empfindungsmaterials analytisch betrachten, waren damals noch 
nicht erschienen; von Avenarius, der in seiner „Kritik der reinen 
Erfahrung" leider -in Deduzieren und Schematisieren verfiel, war 
damals eben nur seine kleine Schrift erschienen : „Philosophie als 
Denken der Welt gemäss dem Prinzip des kleinsten Kraftmasses u 
(1876). Diese Schrift, deren eindringende Gedankengänge noch 
durch persönliche Unterredungen verstärkt wurden, konnte noch 
dankbar benutzt werden. Doch standen die Grundgedanken des 
vorliegenden Buches schon lange vorher fest und entstammen, 
wie schon vermeldet, ganz anderen Anregungen. 

Das dritte Moment ist die Philosophie von Friedrich 
Nietzsche, die in den 90er Jahren ihren Siegeslauf um die Welt 
begann. Als ich Ende der 90 Jahre Niet2sche las, dem ich bis 
dahin, durch falsche sekundäre Darstellungen abgeschreckt, fern 
geblieben war, erkannte ich zu meinem freudigen Erstaunen eine 
tiefe Verwandtschaft der ganzen Lebens- und Weltauffassung, die 
teilweise auf dieselben Quellen zurückgeht: Schopenhauer und 
F. A. Lange. Damals, als ich Nietzsche, diesen grossen Befreier, 
kennen lernte, fasste ich den Entschluss, mein im Pulte liegendes 



XV 



Vorbemerkungen zur Einführung. 



Werk, dem die Rolle eines Opus Postumum zugedacht war, doch 
noch bei Lebzeiten erscheinen zu lassen. Denn ich durfte nun 
hoffen, dass der Punkt, auf den es mir ankam, die Lehre von den 
bewusstfalschen, aber doch notwendigen Vorstellungen, eher Ver- 
ständnis finden werde, da er auch bei Nietzsche sich findet: frei- 
lich bei ihm nur als einer der vielen Töne seiner reichen, polyphonen 
Natur, bei mir als ausschliessliches Hauptprinzip, aber vielleicht 
darum auch klarer, konsequenter, systematischer. Ein besonderer 
Anhang (S. 771—790) legt die Koinzidenzen in diesem Punkte dar. 
Die meisten Ausführungen Nietzsche's über dies Problem stammen 
aus seiner späteren Zeit; aber es ist bemerkenswert, dass Nietzsche's 
grundlegende Äusserungen hierüber aus derselben Zeit stammen, aus 
den 70 er Jahren, in denen auch die vorliegende Schrift entstanden ist 
Das vierte Moment ist der Pragmatismus, der erst seit 
einigen Jahren aufgekommen ist. Beim Pragmatismus muss man 
scharf die unkritischen Übertreibungen von dem Wertvollen schei- 
den. Das Wertvolle des kritischen Pragmatismus, das besonders 
von SchiHer- Oxford weitergebildet worden ist, liegt in dem Kampf 
gegen einen einseitigen Intellektualismus und Rationalismus, der 
das logische Denken von seinem Mutterboden loslöst und diesem 
isolierten Denken allein Wert und Wahrheit zuschreibt. Der un- 
kritische Pragmatismus dagegen ist ein erkenntnistheoretischer 
Utilitarianismus schlimmster Art: was uns nützt, was uns hilft, 
das Leben zu ertragen, ist wahr, also sind die abergläubischsten 
Dogmen wahr, weil sie sich als Lebensstützen „bewährt" haben. 
Damit wird die Philosophie wieder zur ancilla theohgiae> ja das 
Verhältnis ist sogar noch schlimmer: denn damit wird die Philosophie 
geradezu zur meretrix theologorum. Aber es ist nun einmal so in 
der Welt, dass das Beste auch am schlimmsten missbraucht werden 
kann. So hat der unkritische Pragmatismus einen richtigen Ge- 
danken missbraucht, der dem System von Kant angehört, was in 
dieser Schrift ebenfalls nachgewiesen worden ist (S. 613—733). 
Es ist das der Gedanke, dass es Vorstellungen gibt, welche vom 
theoretischen Standpunkt aus direkt. als falsch erkannt werden, die 
aber dadurch gerechtfertigt sind und darum als „praktisch wahr" 
bezeichnet werden können, weil sie uns gewisse Dienste leisten. 
Dies war wohl auch der Grundgedanke, der dem eigentlichen 
Vater des Pragmatismus, C. S. Peirce, im Jahre 1878 vorschwebte, 
als er die ersten Grundlinien dieser Richtung kurz skizzierte, also 
wieder genau um dieselbe Zeit, als das vorliegende Werk ent- 
stand, in welchem derselbe Grundgedanke zur Grundlage eines 
ganzen Systems der Erkenntnistheorie gemacht worden ist. 



Vorbemerkungen zur Einführung. 



XVI 



Dieses System, die Philosophie des Als-Ob, trifft somit 
jetzt mit günstigen Strömungen zusammen, und so ist es nicht 
verwunderlich, dass seit der Ausarbeitung dieses Werkes, aber 
eben natürlich ganz unbeeinflusst von demselben, verwandte Ge- 
danken sich vielfach gezeigt haben, die nun in demselben ihre 
systematische Vereinigung und prinzipielle Begründung finden. 

Schon in dem grossen Werk von Laas, „ Idealismus und 
Positivismus" finden sich mannigfach zerstreut ähnliche Gedanken- 
gänge; überhaupt sei hier dieses trefflichen Mannes dankbarst 
gedacht, welcher diesem Werk, das ihm im Jahre 1877 im Manu- 
skript vorgelegt wurde, lebhaftes Interesse und förderndes Ver- 
ständnis entgegenbrachte. Auch in Wundts Logik findet sich 
Verwandtes, sowie auch in der „Einleitung in die Geisteswissen- 
schaften" von Dilthey, der auch in seinen Vorlesungen die Be- 
deutung der „Hilfsbegriffe" erörtert hat; Verwandtes findet sich 
ferner in Meinong's Theorie der „Annahmen*, in Marty's 
Theorie des „Nichtrealen 11 , bei Heinrich Maier („irreale An- 
nahmen", „Illusionsurteile" u. Ä.), in der von Mach beeinflussten 
„Einleitung in die Philosophie" von Cornelius, in den verschie- 
denen Schriften des hochverdienten Wiener Philosophen Jeru- 
salem, in der „Philosophie des Metaphorischen* von A. Biese, 
in der „Theorie der Grenzbegriffe* 1 von B. Kerry, in der Ab- 
handlung über kritischen „Anthropomoiphismus der Wissenschaft* 
von A. Liebert, in J. M, Baldwin's Werk: „Das Denken und 
die Dinge*' (Lehre von den „Schein- und Spielobjekten"); ferner 
in Benedetto Croce's Lehre von den „Finzioni concettuali", in 
March esi ni's bedeutungsvollem, fundamentalem Buch „Le Finzioni 
dell' anima", sowie bei P. Carus, welcher mehrfach klar auf die 
Bedeutung des „as if" hingewiesen hat, ausserdem bei Bergson, 
Conta, Spir, Simmel, Cassirer, L. Stein, Mauthner, 
Konst. Brunner, Schlesinger, G. Jacoby, R.Hamann u. A. 

Auch in Schriften und Abhandlungen über naturwissenschaft- 
liche Methodik finden sich vielfach analoge Gedankengänge, so 
besonders in Th. Lipps' Abhandlungen über „Naturphilosophie" 
und „Poesie und Prosa in der Naturwissenschaft", in verschiedenen 
Schriften von Julius Schultz, besonders in dessen Buch: „Die 
Bilder von der Materie*, in Fr. Dreyens „Studien zur Methoden- 
lehre und Erkenntniskritik", (vgl. meine Rezension dieser Schrift 
in den „Kantstudien", Bd. X, S. 190 ff,), ferner auch besonders 
in verschiedenen Publikationen-^wi P. Volk mann, speziell in der 
Rede über „Die Subjektivität der physikalischen Erkenntnis und 
die psychologische Berechtigung ihrer Darstellung - , in H, Ding- 
ler's „Grenzen und Ziele der Wissenschaft". Für ihre speziellen 
Gebiete haben der Physiker Hertz und der Chemiker O. Lehmann 

b 



XVII 



Vorbemerkungen zur Einführung. 



die Methode des „Als Ob" in Anspruch genommen, sowie der diese 
beiden Gebiete vereinigende Ostwald. An erster Stelle ist aber 
natürlich hier Mach zu nennen, sowie die von ihm beeinflussten 
Cornelius, Kleinpeter, Petzold u. a. Zwei hochbedeutende 
Namen schliessen diese Reihe, an deren Anfang sie ihrer Quali- 
fikation nach zu setzen gewesen wären: Poincare, dessen Werk 
„La Science et THypothese" grundlegend geworden ist, und 
Enriques, dessen ebenfalls ins Deutsche übersetzte „Probleme 
der Wissenschaft" das Recht und den Nutzen der Phantasiegebilde 
in den exakten Wissenschaften überzeugend dartun. 

Die beiden Letztgenannten, besonders Poincar^, haben auch 
den Nutzen und das Recht fiktiver (und dabei widerspruchsvoller) Be- 
griffe in der Mathematik erörtert; hierbei sind auch noch zu erwähnen 
die Franzosen Couturat und Tarry, der Italiener Bellavitis, der 
Engländer Russell, der frühverstorbene Deutsche Harnack. Ich 
schliesse diese Reihe mit einem der Bedeutendsten, mit F. Klein. 

In einem ganz heterogenen Gebiet, in der Ästhetik, hat die 
„Philosophie des Als Ob" ebenfalls schon ihre Vertretung. Denn 
die Ästhetik hat das Glück, ein grundlegendes Werk zu besitzen, 
in welchem die Fiktion, die Als-Ob-Betrachtung unter dem Namen der 
„bewussten Selbsttäuschung" als Prinzip des künstlerischen Schaffens 
und Geniessens dargestellt worden ist: es ist dies Konrad Lange's 
„Wesen der Kunst", eine mustergültige Darstellung des Als Ob in 
der Ästhetik, oder der Ästhetik des Als Ob. In demselben Sinne 
arbeiten Groos, Sauriau, Paulhan und Lalo. 

In der Ethik, in welcher schon Kant, spez. in Bezug auf den Kate- 
gorischen Imperativ, die bedeutsame Rolle des „ AlsOb" erkannt hat, ist 
jetzt vor Allen ein Name zu nennen: G.Marchesini, dessen wichtiges 
Werk: n Le Finzioni deU'anima" schon oben erwähnt worden ist 

Von Ästhetik und Ethik führen Verbindungslinien zur Reli- 
gionsphilosophie, in der die Als-Ob-Betrachtung nun vollends ihre 
Triumphe feiert. Verschiedene Strömungen sind hier zu unter- 
scheiden, so zunächst die Erneuerung des „symbolischen Anthro- 
pomorphismus* Kants bei Paulsen und seinen Schülern, bes. 
bei K- Oesterreich, der den treffenden Ausdruck „bewusster 
Subjektivismus" dafür geprägt hat, die ebenfalls an Kant an- 
knüpfende „Religion innerhalb der Grenzen der Humanität* bei 
Natorp und Kinkel, denen wohl auch Sämmel anzureihen ist, 
ferner wohl Höffding, sowie Bonus und Eliot, die von 
Nelson begründete, mit Kant verwandte Neu-Fries'sche Richtung, 
z. B. bei Otto, dem auch Bousset nahesteht, die an Kalthoff 
sich anschliessende liberale Theologie eines Steudel, Traub u. A. 
Diesen steht Fr. Lipsius nahe mit seiner bedeutsamen „Kritik 
der theologischen Erkenntnis", sowie Christ lieb, auch die von 



Vorbemerkungen zur Einführung. 



XVIII 



Steinmann begründete Zeitschrift „Religion und Geisteskultur 4 *. 
Wie sich in diesen eben genannten Bestrebungen überall Kan- 
tächer Einfluss zeigt, so ist dies in ganz besonders ausgesproche- 
nem Masse der Fall in dem von Sabatier begründeten „Symbolo- 
Fideismus" oder „Fideo-Symbolismus", der herrschenden Richtung 
des Protestantismus in Frankreich und in der Westschweiz: sie 
?:legt Je gout et Vintelligence de symboles" (Sabatier). Anhänger 
±ieser sogen. „Pariser Schule" sind u. A.: Edm. Stapfer, Ch. 
Wagner, Roberty, Monnier, Fulliquet, Chaponnifere, vor allen aber 
M. Menegoz. Ähnliche Ideen finden sich auch im sogen. „Mo- 
dernismus", der ja ebenfalls aus Kantischen Quellen gespeist ist 
md mit Kantischen Begriffen arbeitet; ausdrücklich wendet sich 
iaher auch gegen diese Lehre von den „Fictionen" der sogen. 
,Antimodernisteneid\ Hauptvertreter dieses modernistischen Sym- 
bolismus sind Le Roy und Tyrell, sowie Abb£ Hubert 

Freilich haben sich die meisten dieser religionsphilosophischen 
Richtungen an die gemässigte, nicht an die radikale Richtung in 
Kant angeschlossen. Sie fassen die Objekte der Kantischen Postu- 
late Gott und Unsterblichkeit als Realitäten und betrachten die 
Dogmen als phantasievolle Anthropomorphismen jener unumstöss- 
ichen Wahrheiten. Aber bei Kant ist — und dies ist in dem 
vorliegenden Buche ausführlich bewiesen worden — daneben resp. 
darunter noch eine radikalere Unterströmung vorhanden: Dieser 
cithüHen sich jene Objekte selbst ebenfalls als Scheindinge, welche 
aber in der Als-Ob-Betrachtung ihre Wiederherstellung als not- 
wendige Fiktionen finden. Dass dies der eigentliche und letzte 
Sinn der Kantischen Philosophie sei, haben in neuerer Zeit auch 
Andere zu erkennen begonnen, so Fittbogen, E. Lehmann,; 
B, Bauch, 0. Ewald, Simmel, Elsenhans, Chamberlain, 
X. Oesterreich; sogar die sich unter einander bekämpfenden 
1 Reinke und H. Schmidt-Jena sind hier zu nennen. Der 
traditionelle Kant, der Kant der historischen Lehrbücher, mit einem 
Wort: der Schul-Kant ist eben nicht der volle und ganze Kant. 
Um Kant ganz und voll zu verstehen, resp. verstehen zu wollen, 
dazu gehört eben nicht bloss Verstand, sondern auch Mut Und 
Kant selbst hat es vorhergesagt: „Ich bin mit meinen Schriften 
im ein Jahrhundert zu früh gekommen; nach hundert Jahren 
wird man sie erst recht verstehen*. Damit hat er eben seine 
.Als-Ob-Betrachtung" der Ideen gemeint 

Indem die „Philosophie des Als Ob* diesen radikalen Kant 
xnr Geltung bringt, stellt sie sich auf Grund dieses Radikalismus 
mi die äusserste Linke, dahin, wo die so verpönten Aufklärer 
«tzen; aber von der „Aufklärung 44 im historischen Sinn scheidet 
säcb die „Philosophie des Als Ob" eben als idealistischer 



XIX 



Vorbemerkungen zur Einführung. 



Positivismus andererseits doch sehr scharf: denn sie erkennt ja 
eben (neben aller Mahnung zur kritischen Auslese) den hohen 
ästhetischen und ethischen Wert der religiösen Fiktionen an und 
tritt für deren Aufrechterhaltung mit Entschiedenheit ein; sie hält 
die religiösen Vorstellungen als schöne Mythen fest, nach deren 
„Wahrheit im gewöhnlichen Sinne zu fragen ebenso plebejisch 
ist, als deren „Wahrheit 41 in jenem gemeinen Sinn zu behaupten. 
So kann sie, die „Philosophie des Als Ob", allen jenen Unzähligen 
eine Lösung und Erlösung bringen, welche, einerseits durch die 
auflösende Kritik der Aufklärung irregemacht, andererseits scheu 
gemacht durch die starren Formeln der Orthodoxie, sich äusserlich 
und innerlich bedrängt fühlen. Die „Als-Ob- Betrachtung" kann 
ihnen inneren und äusseren Frieden bringen. 

In dieser Hinsicht berührt sich die „Philosophie des Als Ob" 
direkt mit dem sog. Neuidealismus. Diese neuidealistische, neu- 
romantische Strömung der Gegenwart, die Erneuerung Fichte's, 
Schelli ng's, Hegels entspricht vor allem darum den Bedürfnissen 
der jetzigen Menschen, weil eben auch durch sie die religiösen 
Dogmen als vorstellungsmässige, bildliche, anthropomorphistische 
Umhüllungen ethischer Gedanken wieder zur Geltung kommen, also 
nach unserer Sprache eben als nützliche, darum berechtigte, not- 
wendige Fiktionen der Menschheit, 

Den Nutzen und das Recht, ja die Notwendigkeit derartiger Fik- 
tionen erkennt selbst der naturwissenschaftlich fundierte Monismus 
an, indem er z. B. bei Bruno Wille in dessen „Christusmythe" im 
Sinne. eines germanischen Heliand zu den religiösen Mythen zurück- 
kehrt: muss er sich doch selbst auch teilweise noch des Atom- 
mythus und anderer naturwissenschaftlicher Fiktionen bedienen. 

Allen diesen verschiedenartigen Bestrebungen kann die Philo- 
sophie des AlsOb als Konzentrationspunkt dienen; denn hier 
wird, was dort zerstreut erkannt worden ist, auf ein gemeinsames 
Prinzip zurückgeführt So findet die „Philosophie des Als Ob* 
eine günstige Lage vor; sie braucht ihr Prinzip nicht erst in die 
einzelnen Konsequenzen hinein zu erfolgen, sondern diese letzteren 
sind zum guten Teile schon vorhanden: so die Ästhetik des Als 
Ob, die Ethik des Als Ob, die Religion des Als Ob. Und so erkennt 
man denn auch, dass ein gemeinsames Band die Differentiale 
der Mathematik, die Atome der Naturwissenschaft, die Ideen der 
Philosophie und sogar die Dogmen der Religion umschlingt — 
die Einsicht in die Notwendigkeit bewusster Fiktionen als un- 
entbehrlicher Grundlagen unseres wissenschaftlichen Forschens, 
unseres ästhetischen Geniessens, unseres praktischen Handelns. 



Vorbemerkungen zur Einführung. 



XX 



Dieses gemeinsame Prinzip, diese zusammenfassende Er- 
kenntnis nimmt den Namen eines idealistischen Posätivismus 
für sich in Anspruch, in welchem die beiden Dinge, auf welche es 
überhaupt ankommt, gleichermassen zur Geltung kommen: Tat- 
sachen und Ideale, Insofern dieser Standpunkt bereits auch bei 
Kant sich findet, und insofern die Darstellung der „Philosophie des 
Als Ob" durch eine ausführliche Darstellung des Kantischen Systems 
sich rechtfertigt, könnte sie sich nach Kant nennen; sie ist aber nicht 
von Kant selbst ausgegangen, und zieht den ihrer Entstehung mehr 
entsprechenden Namen eines „idealistischen Positivismus* vor: 
sie ist Positivismus, indem sie mit aller Entschiedenheit und 
Offenheit einzig und allein im Gegebenen fusst, in den empiri- 
schen Empfindungsinhalten, und bewusst und bestimmt alles 
nicht etwa bezweifelt (sie ist darum auch nicht Skeptizismus), 
sondern direkt leugnet, was darüber hinaus noch etwa auf Grund 
angeblicher intellektueller oder ethischer Bedürfnisse als „real" ange- 
nommen werden mag; aber die „Philosophie des Als Ob" ist anderer- 
seits doch Idealismus, indem sie die aus jenen intellektuellen und 
ethischen Bedürfnissen entstandenen „Ideen" anerkennt und her- 
übernimmt als nützliche, wertvolle Fiktionen der Menschheit, 
ohne deren „Annahme* das menschliche Denken, Fühlen und 
Handeln verdorren müsste; in diesem Sinne ist sie eine „Phäno- 
menologie" des ideenbildenden, fingierenden Bewusstseins. In 
solchem „idealistischen Positivismus* sind ja auch die beiden 
Richtungen vertreten, welche Kant in seinem Kritizismus vereinigen 
wollte. Hier treten diese aber in einer etwas anderen Kombination 
auf, welche den Anspruch erhebt, mindestens ebenso berechtigt 
zu sein, wie die anderen philosophischen Richtungen der Gegen- 
wart. Ja, man wird ohne Überhebung sagen dürfen, dass ein 
solcher idealistischer Positivismus (oder wenn man lieber will: ein 
solcher positivistischer Idealismus) darum auch die Zukunft für 
sich hat, weil er eben Tatsachen und Ideale in sich vereinigt, 
und zwar nicht nur derart, dass hier ein System der Erkenntnis- 
theorie geboten wird, sondern derart, dass hierin auch die Keime 
zu einer vollbefriedigenden Welt- und Lebensanschauung ent- 
halten sind. Diese Ansätze zur Entfaltung und zum Ausdruck 
zu bringen, muss der Verfasser denjenigen seiner Leser überlassen, 
in denen seine Ausführungen mit gleichgearteten und verwandten 
Gedankengängen, Gefühlslagen und Wiüenstendenzen zusammen- 
stossen. 



Inhalt. 



8elte 

Allgemeine Einleitung 1—20 

Kap» L Das Denken betrachtet unter dem Gesichtspunkt einer zweck- 
tätig wirkenden organischen Funktion 1—12 

Empirische Zweckmäßigkeit der organischen und der logischen Funk- 
tionen — Organische Gestaltungskraft der Psyche — Steinthal — Die 
teleologische Betrachtung der logischen Funktionen ist heuristisch zu- 
lässig — Psychischer Mechanismus und Zwecktätigkeit schließen sich nicht 
aus — Die Probe, ob die logische Funktion ihren Zweck erfüllt habe, 
kann nur praktisch, nicht theoretisch sein — Das Denken ist in erster 
Linie ein Instrument zur Selbsterhaltung — Herbart und Schopenhauer — 
Die logische Zwecktätigkeit äußert sich in Erfindung von logischen Hilfs- 
mitteln — Die Wege des Denkens sind nicht die Wege des Seins; sie 
sind nur subjektiv, aber doch zweckmäßig — Die Umwege des Denkens — 
Grundirrtuni der dogmatischen Philosophie ist Verwechslung von Denken 
und Sein. 

Kap. IL Das Denken als eine Kunst, die Logik als eine Knnstlehre 

betrachtet 12—14 

Die zwecktätige organische Funktion steigert sich zur Kunst — So ent- 
stehen dann Kunstregeln, welche die Logik als „Technologie des Denkens* 
sammelt. 

Kap. III. Unterschied der Kunstregeln von den Kunstgriffen des 

Denkens 15—18 

Unterschied der Kunstregeln als ordinärer, regulärer Methoden von 
4ea Kunstgriffen als irregulären Methoden des Denkens — Ursprung 
dieser Kunstgriffe: Leibolz und Newton — Unterschied von Mills „Hilfs- 
operationen der Induktion** — In diesen Kunstgriffen manifestiert sich 
die Zweckmäßigkeit der logischen Funktion. 

Kap. IV. Übergang zu den Fiktionen 18—20 

Die Fiktionen als solche Kunstgriffe und Hilfsoperationen des Denkens — 
Vorläufige Schilderung der fiktiven Denkgebilde — Erkenntnistheoretische 
Bedeutung fiktiver Hilfabegriffe. 

Erster Teil. 

Prinzipielle Grundlegung . . . 21—327 

Allgemeine Vorbemerkung über die fiktiven Vorstellungs- 
gebilde .' 21—24 

Die regulären, natürlichen Denkmethoden — Ihr Ziel ist die Aufstellung 
objektivgiltiger Vorstellungsgebilde — Die ganze Vorstellungswelt ist ein 
zweckmäßiges Instrument zur Orientierung im Wirklichen, aber nicht ein 
Abbild des letzteren — Die logischen Funktionen sind ein integrieren- 
der Bestandteil des kosmischen Geschehens, aber doch keine Abbilder 



Inhalt 



XXII 



Solt« 

desselben — Innerhalb der Vorstellungswelt unterscheidet die Logik 
wiederum zwischen relativ-objektiven Vorstellungsgebilden und subjektiven 
oder fiktiven — Eigentliche Fiktionen und Halbfiktionen. 

A, Aufzählung und Einteilung der wissenschaft- 
lichen Fiktionen 25-123 

Kap, I. Die künstliche Klassifikation 25—27 

Natürliche und künstliche Systeme — Zusammenhang mit der Spezies- 
frage — Schwierigkeiten natürlicher Systeme — Kunstgriff einer provi- 
sorischen, künstlichen Einteilung — Praktische und heuristische Vorteile 
solcher künstlichen Systeme — Theoretische Widersprüche künstlicher Ein- 
teilungen — Die künstliche Definition. 

Kap. IL Abstraktive (neglektive) Fiktionen 28—36 

Absichtliche Vernachlässigung gewisser Wirklichkeitselemente bei ver- 
wickelten Erscheinungskomplexen — Standard bei spiel : Ad. Smiths national- 
ökonomische Fiktion — Diese ist keine Hypothese, sondern eine subjektiv- 
fiktive Methode, durch die ein abstraktes System geschaffen wird — An- 
wendung derselben bei den komplizierten Phänomenen der Soziologie, 
femer in der Mechanik und in der Psychologie (Herbart und Steinthal) — 
Falscher Schluß von der Unwirklichkeit solcher Vorstellungsgebilde auf ihre 
Unbrauchbarkeit — Strittige Beispiele z. B. einer Periode, in der nur in 
„Wurzeln" geredet wurde — Isolierungsfiktionen — Verwandtschaft mit 
der Approximationsmethode und mit den tentativen Fiktionen — Durch- 
schnittsfiktionen z, B. r komme moyen in der Statistik und andere 
Beispiele. 

Kap. III. Schematische, p ar a di gm a tische, utopische und typische 

Fiktionen 36—39 

Schemata, Modelle und schematische Zeichnungen — Fiktion der ein- 
fachen Fälle — Beispiel : Die Thtimensche Idee in der Nationalökonomie — 
Paradigmen: Methode der fingierten Fälle zur Erleichterung der wissen- 
schaftlichen Beweisführung — Rhetorische Fiktionen — Utopien — Urstaat 
und Ähnliches — Wert solcher Ideen und Mißbrauch derselben — 
Fingierte Urformen — Goethes Fiktion der „Urpflanze" und Schillers 
Urteil darüber. 

Kap. IV. Symbolische (analogische) Fiktionen 39-46 

Psychischer Mechanismus bei der analogischen Fiktion — Schleier- 
machers theologische Methode beruht auf der Verwandlung der Dogmen 
in analogische Fiktionen — Dieser erkenntnistheoretische Kunstgriff 
stammt von Kant — Das Kantische „als ob" — Die Kategorien als 
analogische Fiktionen — Daher durch die Kategorien kein Begreifen der 
Welt «— Notwendigkeit einer „Theorie des Begreifens" (Komprehensional- 
theorie) — Die analogischen Fiktionen und der durch sie erzeugte Er- 
kenntnisschein — Zweckmäßigkeit solcher Fiktionen — Symbolische Er- 
kenntnis nach Maimon — Durch die Umwandlung solcher Fiktionen in 
Hypothesen entstehen Widersprüche — Irrtümer und Scheinprobleme, 
welche aus dem Mißbrauch analogischer Fiktionen entstehen — Der 
kritische Positivismus scheidet diese Zutaten der Psyche von der reinen 



XXIII 



Inhalt. 



Seite 

Erfahrung — Gesunde und ungesunde Resignation: negative» Begreifen 
der Welt — Andere analogische Fiktionen. 

Kap. V. Juristische Fiktionen 46-49 

Diese sind ein spezieller Fall der analogischen Fiktionen; sie sind häufig 
angewandte juristische Kunstgriffe — Wichtigkeit der rechtswissenschaft- 
liehen Methoden für die logische Theorie — Die logische Funktion 
wendet in den verschiedensten Gebieten dieselben Kunstgriffe an — Die 
fidio juris und ihr wesentlicher Unterschied von der praesumtio — Bei- 
spiele aus dem deutschen Handelsgesetzbuch — Ähnlichkeit dieser juris- 
tischen Methode mit der erkenutnistbeoretischen Fiktion — Beide sind 
praktisch wertvoll, aber theoretisch wertlos, indem sie auf einer Ab- 
weichung von der Wirklichkeit beruhen. 

Kap. VI. Personiflkative Fiktionen . . 50—52 

Apperzeptionsform der Personalität — Hypostase von Phänomenen — 
Abbreviaturen, Nominalfiktionen, Hilfsworte, tautologische Fiktionen. 

Kap. VII. Summatorische Fiktionen (die Allgemeinbegriffe) . . 53—54 
Der Allgemeinbegriff als bloße Fiktion. 

Kap. VIII. Heuristische Fiktionen 54—56 

Annahmen unwirklicher Ursachen sind oft heuristisch wertvoll — Sie 
schaffen Ordnung und bereiten die Entdeckung wahrer Ursachen vor — 
Diese Art entsteht manchmal aus abgedankten Hypothesen — Beispiel: 
Neumanns Bekämpfung der Newtonschen Gesetze — Streit über die 
causa vera und causa fieta — Newtons Satz; Hypothese* nan fingo — 
Anhang: Verwendung der Fiktion im apagogischen Beweis. 

Kap. IX. Praktische (ethische) Fiktionen 59—69 

Das Problem der Freiheit — Freiheit ist keine Hypothese, sondern eine 
Fiktion — Sie ist, wie alle Fiktionen, theoretisch widerspruchsvoll, 
praktisch aber höchst fruchtbar und wertvoll — Äußerungen von Hoppe 
und Steudei — Rümelin Uber die Freiheit als notwendige psychologische 
Voraussetzung des Straf rechts — * Zwiespalt zwischen Theorie und Praxis: 
es gibt nicht bloß schädliche Wahrheiten, sondern auch fruchtbare 
Irrtümer — Dem widerspricht der logische Optimismus vergeblich — 
„Fruchtbare Irrtümer" und Fiktionen in alien Wissenschaftsgebieten — 
Symbolische Fiktionen — Schleier mach ers Theorie des Gebetes — Sonstige 
moralische Postulate — Das Ideal ist eine praktische Fiktion — Langes 
„Standpunkt des Ideals" und sein Begriff der „Dichtung" — Nur auf 
fiktiver Grundlage, nicht auf hypothetischer, ist wahre Sittlichkeit mög- 
lich 1 — Dies ist auch Kants eigentlicher und tiefster Sinn — Diese 
Fiktionen entspringen als zweckmäßige Hilfsgebilde mit Notwendigkeit 
aus den psychomechanischen Prozessen. 

Kap. X. Mathematische Fiktionen 69 — 76 

Verwandtschaft der mathematischen und der juristischen Methode — 
Kunstgriffe der logischen Funktion — Die mathematischen Grundbegriffe 
und andere Beispiele mathematischer Fiktionen ~ Aus dem Mißverständnis 
von Fiktionen entstehen Scheiuprobleme — Weitere Beispiele — Auch die 
Wahrscheinlichkeitslehre beruht auf einer Fiktion — Die Fiktion des 



Inhalt. 



XXIV 



gelt» 

leeren Raumes und des Raumes überhaupt — Die Vorstellung der drei- 
dimensionalen Ausdehnung ist ein von der Psyche eingeschobenes fiktives 
Hilfsgebilde, um das Chaos der Empfindungen zu ordnen. 

£*p. XI. Die Methode der abstrakten Verallgemeinern ng . . . 76— 7£ 
Fiktion eines Raumes mit n- Dimensionen — Gewaltsamkeit, aber 
Rechnungsergiebigkeit solcher Fiktionen — Wert solcher Verallge- 
meinerungen — Anwendung dieser Methode auch außerhalb der Mathe- 
matik — Die Kantische Methode beruht z. T. auf dieser Methode, indem 
sie diese Welt als einen Spezialfall unter vielen anderen Möglichkeiten 
betrachtet — Kontrastfiktionen — Mißbrauch dieser Methode. 

£ap. XU. Die Methode der anberechtigten Übertragung . . . 80—86 
Diese Methode dient zur Verallgemeinerung von Formeln, speziell von 
mathematischen — Methode der Nullfälle — Genesis verschiedener Zahlen- 
gebilde aus dieser Methode — Imaginative Basis der mathematischen Ge- 
bilde — Weitere mathematische Fiktionen — Die Subsumtion des 
Krummen unter das Gerade durch die Cartesianische Fiktion — Ver- 
gleich im g derselben mit der Kantischen Methode — Vergleichung der 
Koordinatenaxen mit dem Verhältnis von Subjekt und Objekt — Beides 
sind nur Hilfs Vorstellungen von praktischem Wert — Leibniz' und 
Newtons fiktive Methoden in der Mathematik — Kontroverse, oh die 
Differentiale Hypothesen oder Fiktionen seien? — Die Widersprüche im 
Differentialbegriff beweisen seine fiktive Natur, sind aber kein Einwand 
gegen seine Brauchbarkeit — Berkeleys Urteil über die Differential- 
methode. 

Eap. XIII. Der Begriff des Unendlichen (nebst allgemeinen Erörterungen 

über den kritischen Positivismus) 87— 90 

Das Symbol oo ist eine mathematische Fiktion von hohem Wert — 
Auch das philosophische Unendliche ist nur ein fiktives Vorstellungs- 
gebüde, praktisch wertvoll, theoretisch wertlos und widerspruchsvoll — Die 
als unendlich gedachte Vorstellungswelt ist überhaupt nur ein Gewebe von 
Fiktionen — Diese sind nur Symbole, das Handeln leitend, aber keine Er- 
kenntnis gewährend — Dieses Vorstellungsgebilde der Welt ist nur ein 
Instrument, kein Abbild — Doch läßt sich dieses Gebilde praktisch der 
Wirklichkeit substituieren — Die Vorstellungswelt ist kein Spiegelbild der 
wirklichen Welt, sondern selbst ein Teil des Weltgeschehens — Bedeutung 
der logischen Theorie der Fiktion für die Erkenn tnistheorie. 

Kap. XIV. Die Materie nnd die sinnliche Vorstell nngs weit . . 91—101 

Streitfrage, ob die Vorstellung der Materie hypothetisch oder fiktiv 
sei? — Sie ist ein widerspruchsvolles Gebilde, aber nicht wertlos, sondern 
wertvoll — Die sinnliche Vorstellungswelt ist ein Hilfsmittel, welches von 
der Wissenschaft immer mehr verfeinert wird, ohne Erkenntniswert, aber 
von hoher praktischer Bedeutung zur Ermöglichung des Handelns — Die 
Vorstellungswelt ein geordnetes System subjektiv- fiktiver Denkmittel, 
ein Gewebe von Fiktionen — Die ganze Vorstellungswelt als ein ver- 
mittelndes, psychisches Gebilde zwischen Empfindungen und Bewegungen — 
Die Begriffe der Wissenschaft treffen nicht direkt das Absolut-Wirkliche 
— Das diskursive Denken als ein notwendiges Mittel — Die sinnliche 



XXV Inhalt. 

Voratellungswelt als ein Netz von Fiktionen — Eigentlicher Gegenstand 
der Wissenschaft: Die Sukzession und Koexistenz der Phänomene — Die 
„Metaphysik der Empfindungen" — Abbruch des subjektiven Denkgerüstes 
— Fehlschluß von der subjektiven Wichtigkeit der Denkmittel auf 
ihre objektive Richtigkeit — Theoretische Nichtigkeit der subjek- 
tiven Handhaben des Denkens — Notwendigkeit, den logischen Mechanis- 
mus des Bewußtseins aufzudecken — Die Vorstellungswelt ein bloßes 
Hilfsmittel, um das Handeln zu ermöglichen — Die letzte Wirklichkeit. 

Kap. XV. Da» Atom als Fiktion 101—105 

Der Kampf um das Atom — Falsche Gesichtspunkte der Streitenden — 
Falscher Widerstand gegen die Einführung solcher Begriffe. 

Kap. XVI. Fiktionen der Mechanik nnd der mathematischen 

Physik 105—109 

Fiktion des Körpers Alpha — Ausgedehnte Anwendung fiktiver Begriff e 
in der Mechanik — Provisorische Mittelgebilde — Absoluter Raum und 
absolute Bewegung sind fiktive Begriffe. 

Kap. XVH. Das Ding an sich 109—114 

Der Kampf um das Ding an sich, ob es eine Hypothese oder eine 
Fiktion sei? — Für uns ist es nur eine Fiktion — Kants Schwanken 
hierüber — Der „ Grenzbegriff " — Maimons richtiger Blick — Maimons 
Vergleich des Dinges an sich mit dem Imaginären -y/ — 1 — Der Wider- 
spruch in dem Begriff des Dinges an sich — Die Frage nach dem Wirk- 
lichen — Kants genialer Rechnungsansatz — Der eigentliche Sinn des 
Begriffes vom Ding an sich. 

Kap. XVHI. Das Absolute 114—116 

Der Kritische Positivismus sieht auch im Begriff des Absoluten 
nur eine Fiktion — Denn für ihn gibt es nur Relatives. 

Äahang. Übersicht der fiktiven Elementarmethoden .... 116—123 
Versuch, zu einem natürlichen System der Fiktionen zu gelangen 
durch Aufzählung der fiktiven Grundprozesse — 1. Die Zerlegung. 
Mathematisches Beispiel: Die Cardanische Formel *— Paarige Fiktionen — 
Zerlegung des Wirklichen in Konstantes und Wechselndes — 2. Die Zu- 
sammenfassung. Mathematisches Beispiel — 3. Die symbolische 
Bezeichnung (Substitution). Mathematisches Beispiel — 4. Die Iso- 
lierung — 5. Die abstrakte Verallgemeinerung — 6. Die un- 
berechtigte Übertragung — Einige weitere fiktive Elementar- 
methoden. 



B. Logische Theorie der wissenschaftlichen 

Fiktionen 123—239 

Kap. XIX. Einleitende Vorbemerkungen über die Stellung der Fik- 
tionen nnd Sennfiktionen im Ganzen des logischen Systems 123 — 129 
Unterschied der Semifiktionen und der echten Fiktionen — Hilfsvor- 
richtungen des Denkens als Produkte der fiktiven Tätigkeit — Fiktionen 
und Hypothesen — Verhältnis der Fiktionen zur Induktion und zur 



Inhalt. XXVI 

Seit« 

Deduktion, und zu anderen logischen Operationen — Stellung der Fiktionen 
im System der Logik — Semifiktionen und eigentliche Fiktionen. 

Kap. XX. Abgrenzung der wissenschaftlichen Fiktion von anderen 

Fiktionen, besonders der ästhetischen 129—143 

Allgemeinste Bedeutung von Fiktion — Mythologische Fiktionen und 
ihre Bedeutung für die Theorie des Existentialsatzes — Unterschied der 
wissenschaftlichen Fiktion von der mythologischen in Bezug auf die logische 
Form des Urteils — Die ästhetische Fiktion — Kampf gegen die ästhe- 
tischen Fiktionen — Berechtigung der Einbildungskraft — Wissenschaft- 
liche und poetische Fiktionen — Gegner beider, z. B. Dühring — Revolu- 
tionäre Tendenz in allen Wissenschaften: Erschütterung des „daß" und 
„weil", und ihre Ersetzung durch das „als ob" — Nutzen und Schaden 
dieser Fiktionen — Notwendigkeit einer Norm für die Fiktionen ; Maßstab : 
die praktische Leistung. 

Erfindung von Fiktionen im Unterschied von Entdeckung des Realen — 
Die wissenschaftliche Vorstellungswelt in stetem Fluß — „Wahr nnd 
Schön" — Das diskursive Denken ein Mittel — Der Schein des Begreifend, 
welcher durch das diskursive Denken erzeugt wird — Jedes elementare 
Urteil enthält schon fiktive Elemente — Beine Anschauung ohne diskursive 
Denkmittel — Das Ideal der mathematischen Anschaulichkeit ohne ein- 
geschobene Fiktionen — Aber ohne solche fiktiveu Elemente ist auch das 
einfachste Denken unmöglich. 

Verschiedene Bedeutungen des Wortes „Fiktion". Fiktion im Sinne 
von „Lüge" — Höfliche oder konventioneile Fiktionen — Offizielle Fik- 
tionen — Wert und Gefahr solcher praktischer Fiktionen — Beispiel: Die 
Eidfrage — Das ganze höhere ethische Leben beruht auf Fiktionen — 
Der Nachweis der Fiktivität ändert nichts an der praktischen Nützlichkeit 
und Notwendigkeit solcher Vorstellungen — Unterschied der wissenschaft- 
lichen Fiktion von allen diesen Formen. 

Kap. XXI. Der Unterschied der Fiktion von der Hypothese . 143—154 
Verschiedener logischer Wert heider — Die Hypothese geht auf die 
Wirklichkeit und erfordert Verifikation — Beispiel: Die Darwinsche 
Hypothese — Beispiel einer Fiktion: Goethes schematiscbe Idee eines 
Urtiers — Qualitative, nicht hloss graduelle Verschiedenheit von Hypothese 
und Fiktion — Die Hypothese soll bestätigt werden, die Fiktion soll wieder 
wegfallen — Schwierigkeit der Unterscheidung beider Gebilde — Die 
Hypothese wirkt faktisch erklärend, die Fiktion bringt nur den Schein des 
Begreif ens hervor — Die Hypothese muß verifiziert, „bewahrheitet" werden, 
die Fiktion maß als zweckmäßig gerechtfertigt, „Justifiziert" werden — 
Ohne Fiktionen kein Denken — Gegner der Fiktion — Fiktionen sind nur 
Denkfignren, Hypothesen wollen dagegen Tatsachen aussprechen — Metho- 
dologie der Fiktion. 

Kap. XXII. Die sprachliche Form der Fiktion: Analyse des „als 

ob" (nebst allgemeinen Erörterungen über die Theorie des Ver- 
gleichens) 154_169 

Die Sprache als Material der logischen Forschung — Logischer Wert der 
Partikeln — Mangelhaftigkeit der traditionellen Einteilung der Modalitäts« 



XXVII labalt. 

formen — Wie das „als ob" in anderen Sprachen ausgedrückt wird — 
Feinheit der griechischen Sprache — Die poetischen Fiktionen und das 
Gleichnis — Alle Fiktionen und Vergleiche oder Hilfsgebüde, welche Ver- 
gleiche ermöglichen — Die vergleichende Apperzeption als Quelle aller 
Fiktionen — Der psychologische Mechanismus der Fiktion beruht auf dem 
verachten illegitimen Vergleich — Herstellung von Gleichheit ist das 
Prinzip aller Erkenntnisbewegung — Die Fiktionen sind Mittel, um die 
Vergleichung gewaltsam herzustellen — Befriedigung des Vergleichungs- 
triebes auf illegitime Weise und auf Umwegen — Logischer und ethischer 
Fortschritt. 

Spezielle Analyse des Partikelkoraplexes „als ob" — Im Konditionalsatz 
ist ein unmöglicher oder unwirklicher Fall ausgesprochen, der aber trotz- 
dem aufrecht erhalten und mit dem die Vergleichung vollzogen wird — 
„Ais ob* bezeichnet auch gelegentlich einen Irrtum — Sprachliche Form 
der Hypothese — Fiktion und Hypothese sind in der sprachlichen Form 
ganz verschieden — Das fiktive Urteil als besondere Urteilsform. 

Kap. XXHL Sammlung anderer Ausdrucke für „Fiktion" . . 169—171 

Kap. XXIV. Die Hauptmerkmale der Fiktionen 171—175 

Erstes Hauptmerkmal: Widerspruch mit der Wirklichkeit oder auch 
Selbstwiderspruch: (Gewaltsamkeit der Fiktionen) — Zweites Hauptmerk- 
mal: Späteres historisches Wegfallen oder logisches Ausfallen der Fiktionen; 
notwendige Korrektur des gemachten Fehlers — Drittes Hauptmerkmal: 
Ausdrücklich ausgesprochenes Bewußtsein der Fiktivität, im Kampf mit 
der Neigung der Menschen, das Subjektive zu objektivieren — Viertes 
Hauptmerkmal: Die Zweckmäßigkeit. 
Kap. XXV, Versuch einer allgemeinen Theorie der fiktiven Vor- 

steüangsgebilde , . 175—193 

Durchgangspunkte des Denkens — Vergleich derselben mit Vorrichtungen 
der Mechanik — Das Denkinstrument und seine steigende Adaptation — 
Kondensation der Vorstellungen — Mittel und Zweck des Denkinstrumentes 

— Das Gefühl des Begreif ens ein Nebenprodukt psychomecbanischer Vor- 
gänge — Die Methodologie als Technologie der Denkmaschine — „Durch - 
gaugspunkte* zur Vermittlung verschiedener Reihen — Auflösung der 
Vorstellungswelt in solche Denkmittel — Streben der „Seele* 1 nach Selbst- 
erhaltung als Prinzip dieser mechanischen Vorgänge — Die „ Gleich heits- 
mittelpunkte u als Durchgangspunkte der logischen Vorstellungsbewegung 

— Die Kategorien und die Allgemeinbegriffe als solche Gleichheitsmittel- 
punkte — Diese haben nur Wert als Durchgangspunkte vom Einzelnen 
zum Einzelnen — Schließlichea Herausfallen dieser Durchgangspunkte — * 
Die Fiktionen beruhen auf der Bildung künstlicher Gleichheitsmittelpunkte 

— Sie haben nur subjektive Bedeutung — Lotzes Theorie der Fiktionen 
zu wenig allgemein — Die Fiktionen als subjektive Vorstellungsgebilde, 
welche die Gleichsetzung von Ungleichem ermöglichen — Aus dem logischen 
Nutzen darf nicht auf objektive Realität der Fiktionen geschlossen werdeu 

— Gedachtwerdenmüssen ist nicht identisch mit Sein — Verhält- 
nis der Kan tischen Philosophie zu dieser Betrachtung — Kant hat nicht ge- 
nügend auf die Zweckmäßigkeit der Fiktionen aufmerksam gemacht- 



Inhalt. 



XXVIII 



Seit« 

Erkenntnistheoretische Bedeutung der Fiktionen — Scheinprobleme, die 
aus den fiktiven Scheinbegriffen entstehen — Schwankende Grenze zwischen 
Wahrheit und Irrtum — „Wahrheit" nur als der zweckmäßigste Irrtum? 
Kap. XXVI. Die Methode der Korrektur willkürlich gemachter Diffe- 
renzen, Methode der entgegengesetzten Fehler .... 194—219 
Der Mechanismus der Fiktionen vom logischen Gesichtspunkte aus — 
Notwendigkeit, bewußte Abweichungen von der Wirklichkeit (Fehler) 
wieder gut zu machen, wenn ein richtiges Resultat erreicht werden soll 

— Die Methode der Korrektur — Nachweis bei der künstlichen Einteilung 
(Lotze) — Nachweis bei anderen Fiktionen — Notwendigkeit, ein einge- 
führtes fiktives Vorstellungsgebüde nach vollbrachter Funktion wieder zu 
eliminieren — Nachweis hiervon bei den praktischen Fiktionen (Freiheit, 
Staatsvertrag) — Ausfall des Mittelbegriffes — Nachweis dieser Methode 
entgegengesetzter Operationen in einem mathematischen Beispiel — Ein 
Kunstgriff Fermats als typisches Beispiel — Dieselbe Methode in anderen 
Fällen des fiktiven Denkens — Berkeley hat diese Methode in der New- 
tonschen Fluxionsrechnung entdeckt, ohne sie aber richtig zu schätzen — 
Ausfall der eingeführten Hilfsbegriffe (Fluxionen, Infinitesimale) — Die 
Anwendung der Quaternio terminorum in diesen Fällen — Der mathe- 
matische Calcul und seine diskuraive Interpretation — Der Begriff des 
Unendlich-Kleinen. 

Anwendung dieser Betrachtung auf andere Fiktionen, speziell auf die 
AllgemeinbegriSe und auf die Kategorien — Auch hier bringen entgegen- 
gesetzte Operationen den Fortschritt hervor — Ausfall der fiktiven Mittel- 
glieder nach vollbrachter Leistung — Jeder Schluß, der durch einen Allge- 
meinbegriff vollzogen wird, eine Quaternio terminorum — Zeising und 
Drobisch — Alle allgemeinen Sätze beruhen auf Fiktionen, wirklich ist nur 
das Einzelne — Lotze und Steinthai über die entgegengesetzten Operationen, 
die einander fordern — Es entsteht Irrtum, wenn man nur Eine derselben 
einseitig vornimmt — Allgemeine Betrachtungen über die Allgemeinbe- 
griffe — Kritischer Positivismus — Denkfortschritt durch Aufhebung des 
Gleichgewichts — Bolle des erlaubten Irrtums (der Fiktionen) beim Denken 

— Die antagonistischen Operationen beim Denken und Lewes' „Regel der 
Restitution", 

Kap. XXVIL Da» Gesetz der IdeenverBchiebung 219—230 

Stadien der Entwicklung einer Vorstellung: Erster Entwicklungs- 
gang: Von der Fiktion über die Hypothese zum Dogma; Zweiter Ent- 
wicklungsgang: Vom Dogma über die Hypothese zur Fiktion. — Psycho- 
logische Deduktion des Gesetzes aus dem stabilen und labilen Gleichge- 
wicht der Vorstellungen — Verschiedener psychischer Wert jener 3 Stadien 

— Das labile Gleichgewicht ist ein unangenehmer Zustand, daher Ten- 
denz, jede Hypothese in ein Dogma zu verwandein — Erlaubte und un- 
erlaubte derartige Umwandlungen — Fiktion und Hypothese: Größerer 
Spannungskoeffizient bei der Ersteren, darum Tendenz, jede Fiktion in 
eine Hypothese zu verwandeln — Somit Tendenz zur Stabilisierung der 
Vorstellungsgebüde von der Fiktion zur Hypothese, von der Hypothese 
zum Dogma — Unwissenschaftlichkeit dieser Umwandlungstendenz — Um- 
gekehrter Prozeß. 



XXIX 



Inhalt, 



Seit» 

Beispiele aus der Gescliiehtswissenschaft — Bestätigung durch Ed. Zeller 

— Mythologie und mythische Geschichte — Religionsphilosophische Bei- 
spiele — Beispiele aus der Geschichte der Wissenschaft: Die Platonischen 
Mythen, Kants Ding an sich, die Platonische Idee, heuristische Fiktionen 
Linnes und Adam Smiths Fiktionen — Intelligible Freiheit und intellek- 
tuelle Anschauung — Die Festhaltung einer Fiktion als solcher erfordert 
hohe Energie — Ausbildung des logischen Gewissens — Entwicklung der 
nachkantischen Philosophie von diesem Gesichtspunkt aus — Schädliche 
und nützliche Wirkung des Gesetzes der Ideenverschiebung — Die Um- 
bildung objektiv-falscher Hypothesen in subjektiv-zweckmäßige Fiktionen 

— Bedeutung solcher Fiktionen für das Denken überhaupt. 



C. Beiträge zur Geschichte der Fiktion und ihrer 



Theorie 230—286 

Vorbemerkung: Theorie und Praxis der Fiktion 230— 231 

Kap. XXVIIL Die Fiktion in der wissenschaftlichen Praxis der 
Griechen 231—238 



Relativ spätes Auftreten der Fiktion — Vorbedingung dazu: die Emanci- 
pation von der unmittelbaren Wahrnehmung und vom Vorurteil der Iden- 
tität von Denken und Sein — Skepsis — Schwerfällige Methoden der Alten, 
speziell in der Mathematik, aber doch auch schon Ansätze zu wissenschaft- 
lichen Fiktionen — Andererseits fast absichtliches Ausweichen vor fiktiven 
Gebilden — Hypothesen und Fiktionen — Die Platonischen Mythen und 
ähnliche Fiktionen — Die Fiktion des Pannenides tiher die Elemente der 
Erßcheinungswelt — Die Ersch ein ungs weit als fiktives Vorstellungsgehilde 



— Die Fiktion der Kugelgestalt des Absoluten hei Parmenides — Sym- 
bolisches Denken. 

Kap. XXIX. Ansätze zn einer Theorie der Fiktion bei den 

Griechen 238—249 



Ohne genügende Praxis der Fiktion natürlich auch keine genügende 
Theorie derselben — Noch keine kritische Unterscheidung zwischen Ge- 
dachtwerdenmüssen und Sein — Mangelhafte Methodenlehre bei Aristoteles 
in dieser Hinsicht — vno&eots und vnon&eytu bei Piaton und bei Aristo- 
teles — Die fiktive vno&eots im apagogischen Beweis — Aristoteles er- 
kennt die Fiktivität der mathematischen Abstraktionen — vnQ&Bttis bei 
späteren Philosophen — Allmählich schärfere Sonderung hypothetischer 
und fiktiver Voraussetzungen — Bhetorische Fiktionen — Die Skeptiker: 
das in<vctf<s&ai der Kategorien als Ahnung ihrer Fiktivität — Negativis- 
mus der griechischen Skepsis — Positiver und kritisch -positivistischer 
Skeptizismus der Neuzeit. 
Kap. XXX. Die Praxis der Fiktion bei den Römern .... 249—251 

Gewaltsamkeit der juristischen Fiktion — Erklärung ihres Wesens — 
Beispiele: Die actionea utiles — Rhetorische Fiktionen. 
Kap, XXXI. Ansätze zu einer Theorie der Fiktion bei den 

Römern 251- 254 

Die Römer bemerken den Doppelsinn des Ausdruckes vno&wc: 1. suppo- 



Tnhalt XXX 

Salt« 

ritio und 2, fictio — Logische Distinktion in der Sprache der Römer — 
Suppositio — Fingere, figmentum, sub$titutio — Quintilians Theorie der 
rhetorischen Fiktion — Das Postulat. 

Up. XXXH. Mittelalterliche Terminologie . ft 254—257 

Große Bedeutung des Nominalismns, der die Allgemeinhegriffe als fic- 
tiones erkennt — Einseitig negativistischer Sinn dieses Ausdruckes hei den 
Nominalisten — Wichtigkeit der mittelalterl. Terminologie für die neuere 
Zeit — Tafel der verschiedenen Übersetzungen von ino&ws. 

Sap. XXXTTT. Die Anwendung der Fiktion in der neueren Zeit 257—280 
Ausgedehntere Anwendung der juristischen Fiktion in der Neuzeit — 
Verwertung der juristischen Fiktion für die Logik bei Leibniz — Uto- 
pische Fiktionen — Hauptanwendungsgebiet für die Fiktion wird die 
Mathematik — Die Ausbildung der modernen Mathematik durch Vermitt- 
lung fiktiver HüfsbegriÖe — Mertschinskys Fiktion der „Minima von kon- 
stanter Große" — Verhältnis zu Bruno — „Unendlich ferne Punkte* — 
Mangel einer Methodologie der fiktiven Hilfsbegriffe, besonders in der 
Mathematik, 

Analyse des Spinozistischen „quatenus", mit Rücksicht auf Herbarts Auf- 
fassung — Maimons Ansicht, die Leibnizsche Monadologie sei eine bewußte 
Fiktion — Kant und Herbart. 

Die Fiktion bei Kant, speziell der Begriff des Dinges an sich — Für 
Kant ist das Ding an sich bald Fiktion, bald Hypothese — Jacobis Ein- 
wand gegen Kants Ding -an -sich — Kant läßt faktisch den vorläufigen 
Rechnungsansatz stehen und vergißt, das Gerüste abzubrechen — Dadurch 
wird ihm das Ding an sich zum Realen — Kants künstliche Methode — 
Kant wendet eine große Anzahl fiktiver Begrüfe an: intuitiver Verstand, 
intelligible Anschauung, Bewußtsein überhaupt — Weiterbildung der Kan- 
tischen Fiktion des „Bewußtseins überhaupt** durch Laas — Resume über 
Kant: er verwandelt notwendige Fiktionen des diskursiven Denkens in 
Hypothesen — Dasselbe Verfahren Kants in seiner praktischen Philosophie: 
die Ideen und das „als ob u derselben — Maimon hat Kants Fiktions- 
lehre in der theoretischen Philosophie weitergebildet, Schleiermacher in der 
praktischen (in der Religionsphilosophie) — Weiterbildung durch F. A, 
Langes „Standpunkt des Ideals". 

Herbarts Methode der „zufälligen Ansichten* — Herbart beeinflußt durch 
Maimon? — Maimon und seine Gegner, 

Ausartung der fiktiven Methode hei Herbart — Vergleich der Methode 
der „zufälligen Ansichten" bei Herbart mit dem Verfahren von Spinoza 
und Leibniz, Kant und Hegel — Verkehrte Übertragung der Methode mathe- 
matischer Fiktionen auf die Metaphysik bei Herbart — Die „Methode der 
Beziehungen" — Trendelburgs Kritik — Wer hat die „zufälligen An- 
sichten" bei Herhart? Der Philosoph oder die Monade? — Herbart will 
das Realste, die Empfindung, aus einer Fiktion, der imaginären „Störung** 
der Monaden, ableiten — Fiktionen können aber nie erklären, sie können 
nur die Berechnung resp. das Denken erleichtern — Anwendung der 
Fiktion in der Psychologie Herbarts. 



XXXI 



Inhalt, 



Seit« 

Spätere Anwendung des Fiktionsbegriffs in der Philosophie: Streit 
zwischen Lotze nnd Fichte jr., oh der Atombegriff eine Hypothese oder 
eine Fiktion sei? 

Kap. XXXIV. Die Theorie der Fiktion in der Neuzeit . . . 281—286 
Logische Theorie der Fiktion : Baco — Leibniz — Logique du Port Royal 

— Hobhes — Condillac — Christian Wolff gibt znm erstenmal eine Theorie 
der Fiktion — Maimon als Theoretiker der Fiktion — Herbarts Verdienst 
um Klärung des Fiktionsbegriffs — Lotzes fundamentale Ausführungen 

— Bain. 

Anwendung des Fiktionsbegriffs auf die Erkenntnistheorie — Spinozas 
Lehre von der imaginatio — Locke, Hume, Kant — Kant betrachtet mit 
Recht nicht, wie Hume, die Kategorien nur einseitig negativ als bloße 
wertlose Erdichtungen (fictions of thought), sondern er sucht schon den 
positiven Nutzen dieser imaginären Begriffe nachzuweisen — Kant sehwankt 
aber noch zwischen fiktiver und hypothetischer Auffassung der Kategorien 

— Haimo ns richtigere Einsicht — F. A. Lange. 



D. Erkenntnistheoretische Konsequenzen „ . 286—327 

Kap. XXXV. Das erkenntnistfaeoretiache Grnndproblem . , , 286-290 
Pas Denken verfälscht die Wirklichkeit durch Abzüge und Zusätze — 
Wie kommt es, daß, obgleich wir im Denken mit einer verfälschten Wirklich- 
keit rechnen, das Denken doch praktisch mit der Wirklichkeit übereinstimmt? 
Kap. XXXVI. Die Verfälschung der Wirklichkeit durch die logischen 
Funktionen. Logischer Optimismus, Pessimismus und Kriti- 

cismus 290—296 

Der Dogmatismus, der die fiktive, fälschende Natur des Denkens ver- 
kennt, und Denken und Sein gleichstellt, ist logischer Optimismus — 
Skeptizismus ist logischer Pessimismus — Logischer Kritizismus. 
Kap. XXX VH. Die Kategorien als Fiktionen (nebst allgemeinen Aus* 
führungen Über den praktischen Zweck des Denkens) 297—312 
Das Ding und seine Eigenschaften — Die Kategorie der Substanz — 
Die Verschiebbarkeit der Kategorien — Alterierung und Verfälschung der 
Wirklichkeit durch die Kategorien — Theoretische Fehlerhaftigkeit, aber 
praktischer Wert der kategorialen Betrachtung — Kategorien als Kunst- 
griffe zu praktischen Zwecken — Ergänzung von Hume und Avenarius — 
Kategorien haben hohen praktischen, keinen Erkenntniswert — Der Wunsch, 
die Welt zu begreifen, ist daher nicht bloß unerfüllbar, sondern töricht. 
Kap. XXXVIII. Die Kategorien als analogteche Fiktionen . . 312-319 
Die Kategorien als anthropomorphistische Analogien zu praktischem 
Zweck, ebenso die darauf aufgebauten philosophischen Systeme — Die 
Illusion des Begreifens und das Begreifen der Illusion. 
Kap. XXXIX. Praktische Zweckmässigkeit der kategorialen Fik- 
tionen . . , 320—324 

Kategorien sind provisorisch eingeschobene Hilfsvorstellungen rein fik- 
tiven Ursprungs, theoretisch widerspruchsvoll, aber praktisch wertvoll 
Kap. XL. Die Kategorien als imaginative Schöpfungen . . . 325— 3S 7 



Inhalt. xxxrr 

8«1U 

Die Kategorien als imaginative Vehikel des Denkens, aber unreal — 
Eeal sind allein die unabänderlichen Coeristenzen und Sukzessionen des 
von uns erfahrenen Geschehens. 



Zweiter Teil 
Spezielle Ausführungen . . . 328-612 

§ 1. Die künstliche Einteilung 328—337 

Natürliche Klassenbegriffe nicht immer genügend — Notwendigkeit künst- 
licher Klassifikation — Das botanische System von Linne und andere 
Beispiele — Kants Unterscheidung von Naturgattungen und Schul- 
gattungen — D'Alembert, Ampere und Taine — Lotze, Wh e well und 
Jevons — Die Klasse Non-A. 

§ 2. Weitere künstliche Teilungen 337-341 

Willkürliche Einschnitte und fingierte Grenzen — Berzelius — Kon- 
ventionelles Scheiden und fiktive Determination. 

§ 3» Adam Smiths national ökonomische Methode 341—354 

Unzulänglichkeit der Induktion hei Komplikation von Ursachen — Absicht- 
liche vorläufige Vernachlässigung eines kausalen Faktors und dadurch künst- 
liche Vereinfachung des Problems — Neglektive oder abstraktive Methode — 
Adam Smiths methodologischer Kunstgriff: Reduzierung aller wirtschaft- 
lichen Prozesse auf den Egoismus — Fingierung eines einfachen Falles-- 
F. A, Lange und Aug, Oncken — Buckle und X St. Mill — Lexis, 

§ 4. Benthams staatswissenschaftliche Methode 354—367 

Die fiktive Abstraktionsmethode in ßenthams Ableitung der Staatsein- 
richtungen aus dem Interesse — Mill. 

§ 5. Abstraktiv-fiktive Methoden in Physik und Psychik . . 357—362 
Der leere Raum und die kugelförmigen Moleküle des Physikers — 
Herbarts psychologische Formeln — Drobisch und F, A. Lange über die- 
selben — Stein thals Formeln — Wundt hält ßolche Abstraktionen für zu- 
lässig. 

§ 6. Die fingierte Statue Condillacs und Ähnliches .... 362—366 
Condillacs Fiktion einer Menscbenstatue — Amobius* Fiktion eines ein- 
sam aufwachsenden Menschen und ihre Erneuerung durch Lamettrie — 
Avempace und Abubacer — Die Robinsonaden — Fichtes geschlossener 
Handelsstaat. 

§ 7. Lotzes „hypothetisches Tier* and Ähnliche« 366-368 

Laas über Lotzes „hypothetisches Tier* — Heimholte* Fiktion eines 
Zyklopenauges u. Ä. — Thiele. 

§ 8. Der Homo alalus 368—372 

Methodologische Unklarheit Steinthals über seine Annahme eines sprach- 
losen Urmenschen — Die Fiktion wird zur Hypothese. 

§ 9. Andere Fälle der fiktiven Isolierung 372—376 

Der Kunstgriff der Isolierung — Die Idee des Chaos — Schematische 
Isolierung des bewegten Einzelkörpers bei Galilei — Konstruktion ein- 

c 



XXXIII Inhalt 

Seit* 

facher Fälle — Taine — Leibniz und die H. Therese — Curtius und Pott 
über Sprachwurzeln ~ Isolierung zwischen Recht und Moral (Binding) — 
Mißbräuche — Kant. 

§ 10. Die Fiktion der Kraft . . , 376—379 

Taines einseitige Kritik des Kraftbegriffs — Nutzen dieser Fiktion — 
Kraft, ein „rhetorischer Kunstgriff unseres Gehirns" nach Du Bois-Reyinond 
und F. A. Lange. 

§ 11. Materie und Materialismus als Hilfsvorstellnngsweisen 379^382 
Der Materialismus eine provisorisch erlaubte, methodologisch notwendige 
Hilfsvorstellung ohne reale Gültigkeit — Die Materie eine einseitige Ab- 
straktion nach Heimholte. 

§ 12. Die abstrakten Begriffe als Fiktionen 383-398 

Abstracto, als Kunstgriffe des Denkens — CondiUac über Vartifice des 
idöes und über das Gesetz der entgegengesetzten Operationen — Gefahr 
der Hypostasierung — Beispiele: Kaum, Zeit, Möglichkeit, die Seelen- 
vermögen — Fixierung der Abstracto, durch die Sprache — Gruppe gegen 
die Hypostasierung der Abstracta — Diese sind nur praktisch bequeme 
Hilfsausdrüeke ohne theoretischen Wert — Gegen den Platonisch-Aristo- 
telischen und Hegeischen Begriffsrealismua für den Nominalismus — Die 
Regula Falsi in der Wissenschaft: Die Notwendigkeit des Falschen, sowie 
seine Korrektur — ^ — 1 und andere imaginäre Werte — Aus der Hypo- 
stasierung der Hilfsbegriffe entstehen die Scheinprobleme der Philosophie. 

§ 13. Die Allgemeinbesriffe als Fiktionen 399—412 

Unterschied abstrakter und allgemeiner Begriffe — Die Allgemein- 
begriffe als fiktive Hilfsgebilde und als Kunstgriffe des Denkens — Theo- 
retische Nichtigkeit, aber praktische Wichtigkeit dieser Fiktionen — Künst- 
liche Hierarchie der Begriffe — Dire falsche Hypostasierung — Daraus 
entstehende questions frivoles nach Condillac — Locke — Die fiktive Grund- 
lage der formalen Logik — Sigwart und Lotze. 
§ 14. Snmmatorische Fiktionen, NominaJfiittionen, Substitu- 
tionen 412-417 

Summatorische VerbaLfiktioncn: das Ding, die Anziehungskraft, die 
Lebenskraft — Die tautologische Fiktion der Kraft überhaupt — Seele 
und Seelenvermögen als bloße Hüfsworte — Substitutive Symbole, beson- 
ders in der Mathematik. 
§15. Naturkräfte nnd Naturgesetze als Fiktionen . • . . 417 — 423 
Chemische Affinität — F. A< Lange und E. Laas — „Kraft" als Küfa« 
ausdruck nach Fechner — „Gesetze" als summatorische Fiktionen und als 
Abbreviaturen — Lotze. 

g 16. Scuernatische Fiktionen 423—425 

Schematische Vereinfachungen in den Wissenschaften — Scbematische 
Zeichnungen — De Bary — Das „schematische Auge" hei Helinholtz — 
Die Fiktion der „einfachen Fälle". 

§ 17. Illustrative Fiktionen 426—429 

Verdeutlichungsfiktionen mit Hilfe der Phantasie, i. B. Staat als 
Organismus — J.Venn. 



Inhalt XXXIV 

Seit« 

| 18. Die Atomistik als Fiktion 429-451 

Dalton, Liebig, Schönlein, Kekule — F. A. Lange — Atome nicht 
causae verat — Kant — Fechner für Realität der Atome — Widerlegung 
Rechners — Streit zwischen Lotze und Fichte jr. — F. A. Lange, Lieb- 
mann, Lasswitz — Kirchhoff. 

§19. Fiktionen der mathematischen Physik 451—471 

Faradays Kraftlinien und ihre Mißdeutung durch Maxwell — Kant — 
W. Webers „ideale Hypothesen" — Kunstgriffe der analytischen Mechanik 

— Durchschnittsfiktionen — Archimedes — Jevons — Fiktive Zentra — 
Fechner — Der absolut-feste Punkt („Körper Alpha") Neumanns — Inter- 
mediäre Hilfsvorstellungen — Liebmann — Arbiträre konventionelle An- 
haltspunkte. 

§ 20. Die Fiktion des reinen, absolnten Raumes ..... 471—506 
Logischer Rang der Vorstellung des absoluten Baumes — Leibniz* chose 
ideale — Der absolute Raum eine methodologische Fiktion — Leibniz' 
Streit mit Clarke, dem Sectateur Newtons, hierüber — Leibniz contra 
Malebranche — Leibniz* Satz: Spatium concipitur per modum substan- 
tiae — Richtige Lehre des Scholastikers Suarez — Descartes — Spinoza — 
Hobbes — Locke — Berkeley — Hume. 

Der mathematisch-absolute Raum — Der astronomisch-absolute Raum — 
Der kinetisch-absolute Raum — Der physikalisch-absolute Raum — Der 
metaphysisch-absolute Raum. 

Spezielle Erörterung des mathematischen Raumes als einer methodischen 
Fiktion — Der Begriff der Grenze — Abstraktion und Imagination ~ 
Der mathematische Raum als künstliches Präparat. 

§ 21. Fläche, Linie, Punkt usw. als Fiktionen 506—511 

Die mathematischen Körper, ferner Fläche, Linie und Punkt als wider- 
spruchsvolle, aber notwendige Hilfsvorstellungen — Die Begriffe des 
„Fließ ens", des „Verschwinden s", des „Abnehmens bis zu Null", der 
„Grenze" — Übergang zum Unendlich- Kleinen — Der „vollkommene Kreis'* 
u. Ä. als Fiktion. 

§ 22. Die Fiktion des Unendlich-Kleinen 511—532 

Die Kegelschnitte als streng getrennte Arten — Überführung derselben 
ineinander durch die Hilfsvorstellung des Unendlich-Kleinen — Die ge- 
zwungene Analogie des Kreises mit der Ellipse u. Ä. — Gezwungene 
Analogie des Krummlinigen mit dem Geradlinigen: der Kreis als Vieleck 
betrachtet — Die „Methode der doppelten Fehler" — Die fiktive Analogie 
oder Subsumtion — Das Tangentenproblem — Das unendlich -kleine 
Kurvenstück als gerade betrachtet — Der Begriff des Unendlich-Kleinen 
widerspruchsvoll, aber praktisch — Der Zweck heiligt das Mittel — Der 
Begriff des Unendlich-Großen — Das Parallelen-Axiom — Konvergente 
Reihen und der Begriff der vollendeten Unendlichkeit — Stetiges als Un- 
stetiges betrachtet. 

§ 23. Zur Geschichte der Infinitesimal-Fiktion 532—567 

Einleitendes: der Vermittlungsbegriff de« Unendlich-Kleinen — Keppler 

— Der Jesuit Cavaleri — Roberval — Pascal — Barrow - Newton 



XXXV 



Inhalt 



Sei*« 

— Leibniz — Jungius — Die Anwendung der Fiktion in den übrigen 
Gebieten der Mathematik bei Leibniz — Michael StifeL 
§ 24. Bemerkungen über mathematische Hilfslinien und Ver- 
wandtes 567—571 

Das Coordinatensystem und die Cartesianiscbe Fiktion — Einschiebung 
imaginärer Gebilde — Das Zählen und das Messen. 
§ 25. Drei Fiktionen ans der praktischen Philosophie .... 571—578 

Der Freiheitsbegriff, besonders nach Jellinek — Trendelen burgs „Gemeinde 
der Gerechten" — Der Begriff der „unsichtbaren Kirche" bei Kich. Rothe 
und Josias Bunsen — Kants „Reich der Zwecke". 
§ 26. Der Sinn der Als-ob- Betrachtung 578—591 

Beispiele aus Kant, Diderot, Meister Eckart, aus der Heil. Teresa und 
Leibniz — Der logische Wert der Partikeln nach Locke, Leibniz, Lambert, 
Sigwart — Grammatisch-logische Analyse des „als ob" ; Gleichsetzung einer 
Sache mit den notwendigen Folgen eines unmöglichen Falles — Das „als 
ob" beim Dichten, beim Sich-verstellen und Lügen, beim Irrtum. 
§ 27. Das Aktive Urteil 592—603 

Einteilung der Urteile bei Kant — Angriffe von Lotze und Sigwart auf 
die traditionelle Einteilung — Das fiktive Urteil als besondere Modalitäts- 
art und als sekundäre Urteilsform — Kant — Jungius' enuntiationes tole- 
ranter veme — Leibniz 7 expressiones admittendae und aequationes inadae- 
quatac — Diophants naqia6ir\q und Fermats adaequalita» — Abbreviatur 
des fiktiven Urteils, bes. in der Religion — Luther und Zwingli. 
§ 28. Die Fiktion im Gegensatz zur Hypothese 603—612 

Bisherige häufige Verwechslung dieser beiden Denkfonnen — Beispiele: 
Goethes Urpflanze und Urtier — Reduktion der Materie auf Elemente und 
auf Atome — Fiktive und hypothetische „Annahmen" — Hauptmerkmale 
der Fiktion; 1. Willkürlichkeit und Gewaltsamkeit bis zum Selbstwider- 
spruch; 2. Brauchbarkeit, Zweckmäßigkeit bis zur Unentbehrlichkeit und 
ihre Rechtfertigung allein durch ihren praktischen Wert; 8. Begleitendes 
Bewußtsein der Falschheit der Annahme und doch Feathaltung der- 
selben. 

Dritter Teil, 
Historische Bestätigungen . . 613-790 
A) Kants Gebrauch der Als-ob-Betrachtung . . 613—733 

Historische Vorbemerkung 613 

1 Vorbereitendes aus den vorkritischen Schritte* 614—618 

Mathematische und naturwissenschaftliche „Kunstgriffe" — Das argu- 
mentum ab utili — Notiones confictae, 
II. Grandlegendes in den kritischen Hauptschriften .... 618—641 

Kritik der reinen Vernunft 618—699 

Der locus classicus über die Ideen als „heuristische Fiktionen" — Die 
Ideen als „regulative Prinzipien* — Die Fiktion der Freiheit — Die Idee 
Seele alt regulative Fiktion — Der Gottesbegriff als „heuristische, 



Inhalt. XXXVI 

Seit« 

regulative Idee" — Idee = /bcws imaginarius — „Deduction" der Ideen 
aus ihrer „Zweckmäßigkeit" — Nur „praktische Realität" der Ideen — 
Nicht Gottesidee, sondern Gottesidee — Die „ Gedanken wesen" und die 
Tafel der Nichtse — Die teleologische Fiktion — Der „subtilere Anthro- 
pomorphismus" als zweckmäßige Fiktion — Die regulative Idee einer 
„hitelligiblen Welt" — „Glaube" bei Kant = Annehmen oder Setzen, als ob. 

Prolegomena 639—641 

Populäre Ahschwächung der kritischen Als-ob-Lehre — Der „symbolische 
Anthropomorphismus" . 
DI. Weitere Ansätze in den kleineren Schriften der 80er Jahre 642—647 
Die Fiktion des Unendlich-Kleinen — Die Fiktion des leeren Baumes 

— Ethische Fiktionen. 

IY. Prinzipielle Ausführungen in den ethisch-religionsphilosophischen 

Grundwerken 647—667 

Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 647—652 

Freiheit, Autonomie, Sittengesetz als Ideen — Die Fiktion im kate- 
gorischen Imperativ — Die Fiktion dea „Reiches der Zwecke". 

Kritik der praktischen Vernunft 652—656 

Ahschwächung der Als-ob-Lehre — Doppelsinn der „objektiven Realität" 
der Ideen — Die intelligible Welt „nicht mystisch", sondern „rationalis- 
tisch" aufzufassen als regulative Idee. 

Eeligion innerhalb der Grenzen usw 656—667 

Die „doppelte Wahrheit" bei Kant — Apologie des Teufels und der Hölle 
als zweckmäßiger Fiktionen — Der Gottessohn — „Objektive Gültigkeit" der- 
artiger Fiktionen — Erlaubte und notwendige „Analogie" und „Anthropo- 
morphismus" im Gottesbegriff — „Deduktion" der Paulinischen Recht- 
fertigungsidee — Das „Symbol" der Jungfrauengeburt Christi u. Ä. — 
Die heuristische Idee des „Reiches Gottes" — Kants Begriff der Religion 

— Ansehen als ob — Verwandlung der Dogmen in zweckmäßige Fiktionen 

— Das Gebet des Philosophen. 

V. Bestätigungen nnd Anwendungen in den übrigen Schriften der 

kritischen Zeit (spes. der 90er Jahre) 667—710 

Kritik der Urteilskraft 667—67^ 

Die fiktive Annahme der Zweckmäßigkeit überhaupt — Der ästhetische 
homme moyen und andere Fiktionen der Ästhetik — Die Fiktion der 
„allgemeinen Stimme" — Kants Theorie des Symbolischen und der Analogie 

— Die Teleologie als fiktive Analogie und als „zufällige" Ansicht — 
Heuristische Fiktion eines zwecksetzenden Weltgeistes — Ratio facti 
Deum, 

Fortschritte der Metaphysik 678—681 

Die praktische Gültigkeit der selbstgemachten Ideen — Kants Recht- 
fertigung der religiösen Ideen als Fiktionen im Unterschied vom Kantianis~ 
mus vulgaris. 

Das Ende aller Dinge und andere kleine Schriften . . 681—693 
Praktische Rechtfertigung widerspruchsvoller ethisch-religiöser Fiktionen 

— Postulat der Gottesidee, nicht Gottes — Glauben im Sinne Kants =* 



XXXVII Iahalt. 

Seit« 

Handeln, als ob ein Gott wäre — Rede agis, ergo credis — Die „Stimme 
des Gewisaens" als „ästhetische Vorstellungsart " d. h. als personifikative 
Fiktion — Die Fiktion der „Vorsehung" — Methodologie der religiösen 
Fiktion — Die Fiktion der „Gnade" und der „Offenbarung" — Auslegung 
der Bibel durch interpretatorische Fiktionen — Die „Kirchensprache". 

Theorie und Praxis 693— 697 

Die politische Idee des ursprünglichen Vertrags, nicht Faktum, sondern 
Fiktion — Diese Fiktion als ideale Richtschnur bei der Gesetzgebung — 
Ihre „praktische Realität" — Fiktionen des englischen Konstitutionalismus 

— The King can do no wrong. 

Rechtslehre 697—708 

Die Fiktion der „ursprünglichen Gemeinschaft des Bodens überhaupt" 
~- Einzelne juristische Fiktionen des Privat- und Staatsrechts — Die 
Fiktion des pactum originarium, des „allgemeinen Willens" und des 
„Gottesgnadentums" — Fiktive Grundlage des Eids — Die Fiktion des 
„Ewigen Friedens". 

Tugendlehre 703—708 

Das „Ideal des Weisen" als Fiktion — Die „ästhetische Maschinerie" 
der ethisch-religiösen Ideen — * Idee ^ Fa$on de parier ~ Religion als 
Pflicht gegen uns selbst — Die ethische Fiktion des „inneren Richters" 

— Der „Weltrichter" — Der notwendige Vernunftglaube an die Gottes- 
idee im Unterschied von der Lüge des Heuchlers. 

Anthropologie und Logik 708—710 

Das Symbolische als berechtigte Analogie und sein Verhältnis zum In- 
tellektuellen — Die „doppelte Wahrheit" bei Kant — Anthropomorphis- 
mus in der Idee der „Dreieinigkeit" — Das fiktive Urteil — Fiktive 
Grundlage aller Logik. 

VI. Nachlese aus Kant* Briefen, Vorlesungen und nachgelassenen 

Papieren 711—733 

Briefe und Vorlesungen 711—713 

Die symbolische Erkenntnis — Lambert über ^ — 1 — »Der Mensch 
handelt, als ob er frei wäre, und to ipso ist er frei" ~ „Man muß Gott 
annehmen aus einer necessitas pragmatica heraus" — Der Gottesbegriff 
als Arbeitshypothese. 
Reflexionen und Lose Blätter 713—721 
Ideen „Erdichtungen mit Bewußtsein" — „Praktische Wahrheit" der 
Ideen und auch der Kategorien — Das Ding an sich als fiktiver Rechnungs- 
ansatz — Das ens realissimum eine Fiktion wie der mathematische Punkt 

— Die rechts philosophische Fiktion des „allgemeinen Willens" — „Prak- 
tische Realität" der ethisch-religiösen Fiktionen — Der religiöse Begriffs- 
apparat als Dogma verworfen, als Fiktion gerechtfertigt. 

Opus Postumum 721—733 

Sein Titel: „Zoroaster" — Das Ding -an -sich als Fiktion, und die 
Trennung von Ding an sich und Erscheinung als fiktiver Rechnungsanaatz 
erkannt — Das Ding-an-^ich nicht „Ding", sondern „Gesichtspunkt" — 
Die fiktive Natur des Gottesbegriffs — Der Sinn des „tanquam" — Der 



Inhalt. XXXVIII 

Seit» 

bottesbegriff analytisch im kategorischen Iniperati y enthalten — Postulat 
nicht der Existenz Gottes, sondern des Gottesbegriffs — Est Deus in 
nobis — Die religiöse Urfiktion — Die selbstgeschaffen eu Ideen nnd das 
fingert — Nicht „die Idee von Gott 1 *, sondern „die Idee Gott" — Kants 
miraliacher GottesbeweiB — „Gott denken nnd an Gott glanben identisch" 

— Kants Religionsbegriff — Fiktive Grundlage des Eids. 

ß. Forberg, der Urheber des Fichteschen Atheismus- 
Streites, und seine Religion des Als-Ob . , , 733—753 

Der echte Kant radikaler nnd zugleich konservativer als der traditionelle 
Schul Kant — Der echte Kant hei Forberg — Warum Forberg vergessen 
worden ist — Haupts teilen aus Forbergs Aufsatz, betr. die Religion des 
Als-Ob — Die „Apologie seines angeblichen Atheismus" — Ungefährlichkeit 
des theoretischen Atheismus, Notwendigkeit des praktischen Gottesglaubens 

— Der „praktische Glauben" an Gott als „Maxime" des Handelns — 
Fo berg gegen den Vulgär -Kantianismus — Kants offenbare Geheim- 
lohre — Das Unmögliche, das „Reich Gottes", als Zweck — Das Symbol 
der moralischen Weltordnung und ihres Ordners — „Das symbolische 
Geschäft der Theologie" — Schärfere und mildere Form der Religion des 
Als-Ob — „Man scheue den Anthropomorphismus nicht" — Verhältnis zu 
Fichte — Der Fichtesche Mensch und der Forbergsche Mensch. 

C. F, A. Lange und sein „Standpunkt des Ideals" 753—771 
Von Forherg über Schleiermacher und De Wette zu F, A. Lange — 

Sein „Standpunkt des Ideals" identisch mit Kant-Forbergs kritischem 
„Standpunkt des Als-Ob" — Leugnung des Transzendenten, aber An- 
erkennung des Mythus — Die „dichtende und schaffende Synthesis" — 
Die „intelligible Welt" als „Dichtung" — Schillers Lehre vom „Ideal" — 
Recht der „absichtlichen Abweichung von der Wirklichkeit" — „Bewußte 
Erdichtungen" — Der Wahrheitsbegriff und die „doppelte Wahrheit" — 
Verhältnis zum Pragmatismus — Die religiöse Dogmatik als „Vorstellungs- 
Architektur" — Kampf gegen zwei Fronten: einerseits gegen die theo- 
logische Orthodoxie, andererseits gegen den ideenlosen Materialismus — 
Das Recht der Symbole als Produkte des „architektonischen" Triebes der 
Vernunft — Religion als „Dichtung" und „bewußte Erhebung über die 
Wirklichkeit" — Die Welt der „Werte" oder die Ergänzung des Seienden 
durch das Nichtseieude, Erdichtete — Die Schöpfungen der dichtenden 
Svutheais — Methodik der wissenschaftlichen Fiktion. 

D. Nietzsche und seine Lehre vom bewußtgewollten 
Schein (der „Wille zum Schein") 771—790 

F. A. Langes Einwirkung auf Nietzsche — Die Jugendschriften: 
die „Lüge im außermoralischen Sinn", d. h, die bewußte Abweichung von 
der Wirklichkeit in der Kunst, im Mythus u. s. w. — Die „ Weisheit des 
Scheins" und das „Gesetz des Wahnraechanismus" — Das „Illusion snetz" 
und seine Notwendigkeit — Übergangszeit: Biologisch-erkenntnistheore- 
tische Notwendigkeit bewußt -unwahrer Vorstellungen — Religion als 



XXXIX Inhalt 

Seite 

„Spiel der Erwachsenen* — „Bewußte Irrtümer* als „regulative Fiktionen" 
(Substanz, Gesetz, Freiheit, Subjekt u. s, w.) — Anknüpfung dabei an 
Kant — Dritte Periode: „Das Problem Tom Wert der Wahrheit* — 
Der notwendige „ Perspektivismus u , d* h. die bewußten optischen Täusch- 
ungen unseres Intellekts — Rolle der Phantasie als Schöpferin der „kon- 
ventionellen Fiktionen 1 * — Die „Falschheit eines Begriffs kein Einwand 
gegen ihn** — „Bewußte Unwahrheit als Lebensbedingung" — „Setzen 
des Unwahren als wahr." — Die „logische Grundiiktion" — Durch Mißbrauch 
der regulativen Hilfsvoratelluogen als Dogmen entstehen Fiktionen in 
malo sensu — Andererseits Lügen in bono sensu, so die Kategorien als 
„kluge Fälschungen" — Denken =*= T7 Bild erschaffen" — Grundlinien einer 
Metaphysik des Als-Ob — Der nützliche Schein als Teil und Produkt des 
Esse. — 

Ansätze zu einer vierten Periode bei N. — Anerkennung des hohen 
Weites der ethisch-religiösen Fiktionen — Die homines rtligwsi als 
„Künstler vom höchsten Rang" — Der „große Symboliker Christus" — 
Nietzsches Rückkehr zu Kant: „Rechtfertigung" der religiösen Vorstel- 
lungen als nützlicher Fiktionen — Die alten Mythen und die Schaffung- 
neuer Mythen — Der „Mythos der Zukunft". 

Sachregister 791-799 

Namenregister 800— S04 



Allgemeine Einleitung. 



Kapitel L 

Das Denken, betrachtet unter dem Gesichtspunkt einer 
zwecktätig wirkenden, organischen Funktion.*) 

Das wissenschaftliche Denken ist eine Funktion der Psyche. 
Unter „Psyche 1 * verstehen wir zunächst nicht eine Substanz, son- 
dern die organische Gesamtheit aller sogen, „seelischen" Aktionen 
und Reaktionen; diese fallen niemals unter die äussere Be- 
obachtung, sondern müssen teils aus physischen Merkmalen er- 
schlossen, leils mit dem sogen, inneren Sinne beobachtet werden. 
Die psychischen Aktionen und Reaktionen sind, wie alles uns 
bekannte Geschehen, notwendige Vorgänge, d. h. sie folgen mit 
zwingender Regelmässigkeit aus ihren Bedingungen und Ursachen; 
will man die psychischen Vorgänge mit einem Gebiet des äusseren 
Geschehens vergleichen, so eignen sich dazu weniger die 
physikalischen und im engeren Sinne mechanischen Vorgänge, 
als die Funktionen des Organismus. 1 ) Diese Behauptung findet 
ihre Begründung in dem Umstand, dass, wie bei den organischen 
Funktionen der leiblichen Sphäre, so auch bei den psychischen 
Funktionen sogen, empirische Zweckmässigkeit beobachtet 
wird. Diese Zweckmässigkeit äussert sich hier wie dort in einer 

*) Im MS. = § 2, Der hier nicht abgedruckte § l des MS. lautet: „Die 
Aufgabe der Logik als einer Kunstlehre des Denkens". 

I) Den Vergleich der psychischen Prozesse mit physikalischen Vorgängen 
bat insbesondere Herbart durchgeführt. Der Vergleich der psychischen Tätig- 
keiten mit den organischen Funktionen ist ein Verdienst Stein th als, der 
diese Betrachtungsweise in seinem höchst bedeutenden Werke: „Einleitung 
io die Psychologie und Sprachwissenschaft" (erster Band des „Abrisses der 
Sprachwissenschaft*), Berlin 1871, seiner psychologischen Analyse der sprach- 
lichen Phänomene teilweise neben dem Vergleich mit mechanischen Vorgängen 
zugrunde gelegt hat 

1 



2 



Allgemeine Einleitung. 



geschmeidigen Anpassung an die Umstände und an die Umgebung; 
in einer, die Erhaltung des physischen oder psychischen Organismus 
anstrebenden und erreichenden Reaktion auf äussere Anstösse 
und Einwirkungen; in der Aneignung und Aufnahme oder Ab- 
stossung neuer Elemente. In der Psyche findet nicht bloss ein 
mechanisches Spiel von Vorstellungen statt, sondern die Vor- 
stellungsbewegung erfüllt in ihrer stetigen Abänderung 
in hohem Grade die Anforderungen der Zweckmässig- 
keit 1 ) Sämtliche psychischen Prozesse sind in dem angegebenen- 
Sinne zweckmässig; vor allem aber partizipieren an dieser Zweck- 
mässigkeit die sogen, theoretischen Apperzeptionsprozesse. Das 
wissenschaftliche Denken besteht in solchen apperzeptiven Pro- 
zessen, es ist daher unter dem Gesichtspunkt einer organischen 
Funktion zu betrachten. 

Wir vergleichen also die logischen oder Denk-Prozesse mit den 
organischen Bildungsvorgängen.*) Die Zweckmässigkeit, welche 
wir bei dem Wachstum, bei der Fortpflanzung und Neubildung, 
bei der Anpassung an die Umgebung, bei der Heilung u> s. w. 
im Gebiete des Organischen beobachten, kehrt wieder in dem der 
psychischen Prozesse. Auch der psychische Organismus reagiert 
auf die Reize zweckmässig. Wie der physische Organismus nicht 
ein blosses Gefäss ist, in das fremde Stoffe einfach eingefüllt 
werden, sondern eine mit einer chemischen Retorte vergleichbare 
Maschine, welche die fremden Stoffe zu ihrer eigenen Erhal- 
tung und zur Unterhaltung ihrer Bewegung höchst zweck- 
mässig verarbeitet und durch Intussuszeption, nicht durch 
blosse Juxtaposition sich aneignet — so ist auch das Bewusst- 
sein nicht mit einem bloss passiven Spiegel zu vergleichen, der 
nach rein physikalischen Gesetzen die Strahlen reflektiert, sondern 
„das Bewusstsein nimmt keinen äusseren Reiz auf, ohne ihn 
nach eigenem Masse zu gestalten ".*) Die Psyche ist also eine 
organische Gestaltungskraft, welche das Aufgenommene 
selbständig zweckmässig verändert und ebensosehr das Fremde 
sich anpasst wie sich selbst dem Neuen anzupassen vermag. 



1) Vgl. Avenarius, Philosophie als Denken der Welt etc. Leipzig, 
1876, pag. 1 ff. 

2) Vgl. die Beschreibung Steint hals a, a. 0. pag. 116. 

3) Vgl. Steinthal a. a, O. pag. 12. Vgl. hier noch insbes. den § 68 bei 
Steinthal a.a.O. pag. 131, wo das Spiegelgleichnis eine gute Abfertigung 
linder. Schon Locke weist indessen dieses Gleichnis als unpassend zurück. 



Das Denken als zwecktätig wirkende, organische Funktion. 



3 



Die Seele ist nicht bloss aufnehmend, sie ist auch aneignend 
und verarbeitend. Im Verlaufe ihres Wachstums schafft sie ver- 
möge ihrer adaptiven Konstitution aus ihrer eigenen Natur, aber 
nur auf äussere Reize hin, sich selbst ihre Organe, sie den 
äusseren Bedingungen anpassend. Solche Organe, 
welche die Psyche auf äussere Reize hin sich anbildet, 
sind z.B. die Formen des Anschauens und Denkens, sind 
gewisse Begriffe und sonstige logische Gebilde. Das 
logische Denken, mit dem wir es speziell hier zu tun haben, ist 
ein selbsttätiges Aneignen der Aussenwelt, es ist eine organisch 
zweckmässige Verarbeitung des Empfindungsmaterials. Das 
logische Denken ist also eine organische Funktion der Psyche. 

Wie der physische Organismus das Aufgenommene zersetzt, 
mit eigenen Säften vermischt und so zur Intusstiszeption geeignet 
macht, so umspinnt auch die Psyche das Wahrgenommene mit 
ihren aus ihr selbst heraus entwickelten Kategorien. Sobald ein 
äusserer Reiz die Seele berührt, welche, wie mit zarten Fühlfäden 
ausgestattet, mit Schnelligkeit auf denselben antwortet, beginnen 
innere Prozesse, beginnt eine psychische Arbeitsleistung, 
deren Resultat die zweckmässige Aneignung des Wahr- 
genommenen ist 

Steinthal, dem das Verdienst der Begründung und Durch- 
führung dieser Ansicht gebührt, drückt sich daher sehr treffend 
hierüber folgendermassen aus: „Die psychischen Faktoren ver- 
halten sich niemals wie Massen und Masseteilchen (Moleküle), 
sondern eher etwa wie Atome, die in eine chemische Ver- 
bindung treten, oder die sich zur Bildung einer organischen 
Zelle vereinigen. Die Momente einer Erkenntnis sind wesent- 
lich wie Organe, von denen jedes eine Funktion zur 
Hervorbringung eines organischen Gesamtwesens übt" 1 ) 
Und noch prägnanter bezeichnet derselbe diese neue Betrachtungs- 
weise so: „Zu der abstrakten Mechanik der körperlichen und 
seelischen Bewegungen muss noch die Betrachtung eigentümlicher 
Bildungsprozesse hinzutreten, welche zwar durchgängig nur von 
den elementaren Vorgängen getragen werden, diese aber in 
besonderen Kombinationen in sich schliessen." 2 ) In diesen Bildungs* 



1) S. Steinthal a. a. O. pag. 116. 

2) S. Steinthal a. a. O. pag, 167. 



1* 



4 



Allgemeine Einleitung. 



Prozessen erweist sich die Psyche als eine selbsttätig gestaltende, 
als eine (relativ) schöpferische Kraft. 

Schöpferisch ist die Seele in der Bildung der meisten Kategorien. Vgl 
die sogen, „schöpferischen Apperzeptionen u bei Steinthal, pag. 77/8, pag. 
131 und pag. 2i6ff. als einen speziellen Fall. Ebenso E. v. Hartmann, 
Ph. d. Unb. 5. Aufl. pag. 271. — Die Begriffe Gleichheit, Ungleichheit, Ein- 
heit, Vielheit, Allheit, Kausalität (also eben die Kategorien) sind wahrhafte 
Schöpfungen, allerdings aus gegebenem Material, aber „doch Schöpfung 
von etwas, als solchem, in den gegebenen Vorstellungen gar' nicht 
Liegendem. 0 Cfr. Laas, Kants Analogien d. Erfahrung, pag. 247. Vgl. das 
schöne Wort von Steinthal a. a. 0, pag. 316: „Es ist eine wahre Schöpfungs- 
geschichte, durch welche wir die Seele zu begleiten haben u. s. w. R 
Wenn Steinthal den Gesichtspunkt der organischen 
Funktion für die logischen Erkenntnisbewegungen geltend gemacht 
hat, so gehen wir noch einen Schritt weiter, indem wir, wie be- 
merkt, die organischen Denkfunktionen unter dem Gesichtspunkt 
der Zwecktätigkeit zu betrachten versuchen. So beginnen 
sowohl Sigwart als Lotze ihre Logik mit dieser teleologischen 
Betrachtungsweise (Sigwart S. lff., Lotze S. 10). Die Betrachtung 
der logischen Tätigkeit unter dem Gesichtspunkt einer organisch - 
zwecktätigen Funktion kann in vielen Beziehungen aufhellend 
wirken: Wie das Auge den Zweck hat, die verschieden abgestuften 
Ätherbewegungen in ein geordnetes System fester Empfindungen 
zu verwandeln, und durch Brechung, ^Reflexion u, s. w. von 
Strahlen verkleinerte „Abbilder" der objektiven Welt hervor- 
zubringen, und wie jenes Organ zur Erfüllung dieses Zweckes 
passend eingerichtet ist und selbständige Akkommodationsbewe- 
gungen und Modifikationen je nach den Verhältnissen auszuführen 
imstande ist — so ist die logische Funktion eine Tätigkeit, 
welche ihren Zweck passend erfüllt und zur Erfüllung 
dieses Zweckes sich den Verhältnissen und den Gegen- 
ständen zu akkommodieren, zu adaptieren versteht. Die 
organische Funktion des Denkens hat den Zweck, das Empfindungs- 
material zu solchen Vorstellungen, Vorstellungsverbindungen und 
Begriffsgebilden umzuwandeln und zu verarbeiten, welche unter 
sich verträglich und übereinstimmend, zugleich — wie man ge- 
wöhnlich zu sagen pflegt und wie auch wir zunächst sagen 
können und müssen — „mit dem objektiven Sein sich decken". 
Da wir aber das objektive Sein — auch dies ist ein aus der ge- 
wöhnlichen wissenschaftlichen Ansicht hergenommener Lehnsatz— 1 ) 



1) Vgl. z. B. Sigwart a. a. O. pag. 7. 



Das Denken als zwecktätig wirkende, organische Funktion. 5 

absolut nicht selbst erkennen, sondern nur erschliessen, so müssen 
vir das Gesagte dahin umformen, dass die Funktion des Denkens 
dann ihren Zweck erfüllt habe, wenn sie die gegebenen Empfin- 
dungsverbände zu giltigen Begriffen, zu allgemeinen Urteilen, zu 
zwingenden Schlüssen verarbeitend, ein solches Weltbild produ- 
ziert habe, dass nach diesem das objektive Geschehen berechnet 
nnd unser handelndes Eingreifen in den Gang der Geschehnisse 
erfolgreich ausgeführt werden könne. Wir legen dabei den Haupt- 
ton auf die praktische Bestätigung, auf die experimentelle 
Erprobung der Brauchbarkeit der logischen Gebilde, dieser Pro- 
dukte der organischen Denkfunktion, Nicht die Übereinstimmung 
mit einem angenommenen „objektiven Sein", das uns doch 
niemals unmittelbar zugänglich sein soll, also nicht die theo- 
retische Abbildung einer Aussenwelt im Spiegel des Bewusst- 
seins und also auch nicht eine theoretische Vergleichung der 
logischen Produkte mit objektiven Dingen scheint uns die Bürg- 
schaft dafür zu bieten, dass das Denken seinen Zweck erfüllt 
habe, sondern die praktische Erprobung, ob es möglich sei, 
mit Hilfe jener logischen Produkte die ohne unser Zu- 
tun geschehenden Ereignisse zu berechnen und unsere 
Willensimpulse nach den Direktiven der logischen Ge- 
bilde zweckentsprechend auszuführen. 

Es ist interessant, zu beobachten, wie Lotze in seiner Logik die zu- 
erst (pag. 4 und 5) von ihm eingeführte Definition der AVahrheit des 
Denkens, also seines letzten Zweckes — „nämlich Wahrheit bestehe in 
der Übereinstimmung der Vorstellungen und ihrer Verbindungen mit dem 
vorgestellten Gegenstande und seinen eigenen Beziehungen" — sofort 
zurückzieht und dahin modifiziert, „Verknüpfungen der Vorstellungen seien 
dann wahr, wenn sie sich nach den Beziehungen der vorgestellten Inhalte 
richten, die für jedes vorstellende Bewusstsein dieselben sind, nicht nach 
dem bloss tatsächlichen Zusammentreffen der Eindrücke, das in diesem 
Bewusstsein sich so, in einem anderen anders gestaltet - Wenn Lotze 
aber als letzte Funktion des Denkens ein solch allgemeines Weltbild ver- 
langt, das für Alle gleich sein soll (cfr. Laas, Anal, d. Erf. pag, 95, 127: die 
objektive Welt im „Bewusstsein überhaupt*), so ist hierbei übersehen, 
dass eine solche allgemeine Übereinstimmung noch gar keine Bürgschaft 
für die „Wahrheit - der Vorstellungsverknüpfungen darbietet. Nur die 
praktische Erprobung ist die letzte Bürgschaft; aber auch hier kann 
nur erschlossen werden, dass die gebildeten Vorstellungsverknüpfungen 
ihren 2 weck erfüllen, dass sie richtig gebildet seien. Von einer „Wahr- 
heit* im gewöhnlichen Sinn des Wortes kann daher auf dem heutigen er- 
kenntnistheoretischen Standpunkt gar nicht mehr die Rede sein. — 
Auch Helmholtz legt an mehreren Stellen seiner Schriften, so in 
der Optik, und besonders in seiner Vorlesung „Logische Prinzipien der 



6 



Altgemeine Einleitung. 



Erfahrungswissenschaften* auf den oben verlangten praktischen Nach* 
weis den Hauptwert 

Wir wollen damit an diesem Orte noch nicht die tief in 
die Metaphysik und in die ganze praktische Weltanschauung 
hineingreifende Frage erledigt wissen, ob die logische Funktion 
oder anders ausgedrückt, ob die theoretische Tätigkeit für den 
Menschen Selbstzweck sei oder sein solle, oder ob alle theore- 
tischen Funktionen einzig und allein aus Willensimpulsen ent- 
standen seien und schliesslich darum auch nur dem praktischen 
Handeln zu dienen haben. 

In neuerer Zeit hat besonders Schopenhauer diesen Standpunkt 
vertreten. Da für ihn das einzige metaphysische Prinzip der Wille ist, 
und zwar der blinde und grundlose Wille, so ist in seinen Augen das Gehirn 
mit allen seinen Vorstellungen zunächt nichts als ein Werkzeug des Willens, 
das ihm zu dienen und das Leben des Individuums zu erhalten hat Der 
Intellekt nimmt dem Willen gegenüber eine dienstbare Stellung ein. Dass 
auch Herbart dieser Auffassung nahe war, ist eine weniger bekannte Tat- 
sache, folgt aber naturgemäss aus der Stellung, weiche die Seelenmonade 
zum Organismus einnimmt, der ohne sie wohl bestehen kann. Darum 
nennt er genau wie Schopenhauer die Seele einen „Parasiten des Körpers"; 
sie diene zunächst dazu, die Erhaltung des Organismus zu erleichtern. Bei 
beiden erscheint also die theoretische Tätigkeit, das Bewusstsein, als Werk- 
zeug des Organismus und seiner Selbsterhaltung. Es Ist für unsere folgende 
Untersuchung an und für sich gleichgültig, wie man das Verhältnis des 
Denkens, der theoretischen und bewussten Denkprozesse, zu dem Leben 
der Triebe und des Willens fasse; indessen kann doch die Betrachtung 
des Denkens als eines Instrumentes dazu beitragen, den richtigen 
Beieuchtungseffekt hervorzubringen. Wenn das Denken nur um des Wollens, 
oder sagen wir Heber mit Fichte, um des Handelns willen da ist, so ist 
das Erkennen nicht der Endzweck des Denkens, das also auch nicht 
Selbstzweck sein kann, sondern nur ein Nebenprodukt, gleichsam ein Abfall 
aus der Werkstatt des Denkens, der sich nebenbei ergiebt. Der praktische 
Wert des Denkens stünde also dann in erster Linie, und die „Erkenntnis* 
wäre nur ein sekundäres und nebensächliches Moment, wie auch Schopen- 
hauer annimmt. Dieser Punkt könnte für den Verlauf unserer Untersuchung 
Interesse gewännen, da es sich in derselben um solche Begriffsgebilde 
handeln wird, deren Erkenntniswert ebenso fraglich ist, als ihr prak- 
tischer Wert auf der Hand liegt — Dieselbe Ansicht entwickelt treffend 
Steinthal a.a.O. pag. 92: „Wir bedürfen des Wissens von der Welt der 
Dinge und von unserem Selbst und von dem Zusammenhange der Dinge 
unter einander und mit uns, um leben zu können/ Steinthal führt — ganz 
im Sinne der modernen Betrachtungsweise — drei Hauptarbeiten an, zu 
denen das Wissen berufen ist: Aufsuchung der Nahrung, Einleitung der 
Befruchtung, Schutz vor Unwetter. „Das Wissen ist also ein dem Haushalt 
der Natur unentbehrlicher Faktor. Es tritt zu den physikalischen und 
chemischen Wirkungen hinzu, um den Bestand des Menschengeschlechts 



Das Denken als zwecktätg wirkende, organische Funktion, 7 



und des Tierreichs zu ermöglichen; es führt die materiellen Bedingungen 
herbei, deren das Leben bedarf/ Das Denken ist also als ein Mechanis- 
mus, eine Maschine, ein Instrument im Dienste des Lebens zu betrachten. 
Diese Aulfassung ist wichtiger für die Logik, als auf den ersten Anblick 
erscheint, und zwar für die Logik als eine Technik des Denkens, nicht als 
Erkenntnistheorie. Wenn man als Zweck des Denkens die Erkenntnis 
ansieht, so wird man die logischen Funktionen ganz anders betrachten, als 
wenn der Zweck des Denkens und Erkennens schliesslich ins Praktische 
gesetzt wird. Nun bleibt allerdings für die Logik als solche zunächst 
der Zweck des Denkens das sogen. „Erkennen der Wirklichkeit* ; die Pro- 
dukte des Denkens sind ja eben „Erkenntnisse"; allein welchen Zweck 
sollen diese erfüllen? Wenn zunächst einen praktischen, so tritt der 
Erkenntniswert der logischen Produkte in den Hintergrund. 

Für unsere engere Betrachtungsweise genügt die obige Be- 
stimmung, welche die Erprobung der Richtigkeit der logischen 
Produkte in die Hand der Praxis legt, und dann auch den 
Zweck des Denkens nicht in einer Abspiegelung einer sogen, 
äusseren, objektiven Welt, sondern in der Ermöglichung der 
Berechnung des Geschehens und des Einwirkens auf das letztere 
erblicken muss. Für uns hat die logische Funktion des Denkens 
den Zweck, uns jederzeit in den Stand zu setzen, vorauszuberechnen, 
dass wir unter diesen oder jenen Verhältnissen, Bedingungen 
und Umständen einen ganz genau bestimmbaren Empfindungs- 
eindruck erhalten werden (denn darauf läuft schliesslich alle Fest- 
stellung einer objektiven Begebenheit hinaus, und wissenschaftlich 
ist eine solche durchaus nicht anders zu bestimmen), und vor- 
auszuberechnen, dass wir durch diese oder jene Willensimpulse 
unter bestimmten Bedingungen einen ganz genau bestimmbaren 
Effekt hervorbringen werden, der sich aber auch nur vermöge 
bestimmter Empfindungseindrücke von uns bemerken lässt Durch 
diese Reduktion der Begriffe: Denken, Handeln, Beobachten 
u, s. w. auf schliesslich physiologische Elemente, auf Empfindungen, 
gewinnen wir allein den richtigen Massstab für die Abschätzung der 
logischen Arbeit, welche die Empfindungselemente in logische 
Gebilde umsetzt, welch letztere schliesslich wieder dazu da sind, 
um in Empfindungen umgesetzt zu werden, resp. zur Kontrolle 
von Empfindungseindrücken und zur Vermittlung von Willens- 
impulsen, „ Innervationen d. h, Nervenimpulsen zu dienen* 

Jede Zwecktätigkeit äussert sich darin, dass sie die zur 
Erreichung des vorgesteckten Zieles notwendigen und dienlichen 
Mittel ausfindig macht, herbeischafft oder hervorbringt Auch die 
organische Tätigkeit des Denkens manifestiert ihre zwecktätige 



8 



Allgemeine Einleitung. 



Einrichtung dadurch, dass sie ihre oben dargestellten Zwecke mit 
allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln zu erreichen bestrebt ist. 
Der Ausdruck von Sigwart a. a. O. pag. 19,*) dass es sich in 
der Methodologie „um die Mittel handle, die uns von Natur 
zu Gebote stehen", ist missverständlich, da die organische, zweck- 
tätige Eigenschaft des Denkens sich gerade darin zeigt, künst- 
liche Mittel zu schaffen, um seinen Zweck zu erreichen. 

Sind Empfindungen der Ausgangspunkt aller logischen 
Tätigkeit und zugleich die Endstation, in die dieselbe, wenn auch 
nur zur Ermöglichung der Kontrolle, einmünden muss — wobei, 
wie bemerkt, dahingestellt bleiben muss, ob den logischen 
Funktionen zwischen diesen beiden Punkten noch ein Selbstzweck 
zuzuschreiben ist, oder nicht. — so lässt sich der Zweck des 
Denkens kurz dahin präzisieren, dass es in der Verarbeitung und 
Verraittelung des Empfindungsmaterials zur Erreichung eines 
reicheren und volleren Empfindungslebens seine Bestimmung finde. 

Um den Zweck seiner Tätigkeit — die Berechnung des 
unabhängigen Geschehens und die Ermöglichung oder Abhängig- 
machung der Vorgänge von unserem Willen — ■ vollständig und 
möglichst schnell zu erreichen, dazu verwendet das Denken oder 
die logische Funktion die verschiedensten Mittel. 

Das Denken ist bemüht, sich immer mehr zu vervollkommnen und 
so ein immer brauchbareres Werkzeug abzugeben. Zu diesem Zwecke 
erweitert es, ähnlich wie andere natürliche Tätigkeiten, seinen Wirkungs- 
kreis durch Erfindung von Instrumenten» So macht es z. B. der Arm, die 
Hand, als deren Verlängerungen und Erweiterungen die meisten gewöhn- 
lichen Instrumente zu betrachten sind. Auch die natürliche Funktion des 
Denkens, das wir oben selbst ein Werkzeug nannten, erweitert seine 
Instrumentation durch Erfindung von Werkzeugen, von Denkmittein, Denk- 
instrumenten, deren Eines den Gegenstand dieser Untersuchung bilden soll 
Das Denken nimmt sinnreiche Operationen vor, es erfindet 
kunstreiche Hilfsmittel, es weiss höchst verwickelte Prozesse ein- 
zuleiten. Das Empfindungsmaterial wird umgewandelt, umgemünzt, 
verdichtet, es wird von Schlacken gereinigt und mit Zusätzen aus 
dem eigenen Fond der Psyche legiert, um eine immer sicherere, 
raschere und elegantere Lösung der Aufgabe der logischen 
Funktion zu ermöglichen. In allen diesen höchst verschiedenen 
und höchst verwickelten Prozessen und Operationen herrschen 
jedoch höchst wenige und höchst einfache Gesetze, genau wie 
die verwickelte Arbeit des physischen Organismus und seiner 



*) In der zweiten Auflage der „Logik" S. 2t 



Das Denken als zwecktätig wirkende, organische Funktion. 9 

scheinbar so verschiedenen Organe auf bewunderungswürdig ein- 
fache, gesetzmässige Grundprozesse und Grundformen reduzierbar 
ist. Es ist die Aufgabe der logischen Theorie, die verwickelten 
logischen Prozesse auf solche einfachen Grundprozesse, auf einige 
wenige, zweckmässig verlaufende Vorgänge zurückzuführen. Das 
reiche Leben des Geistes, wie es sich in der Wissenschaft unge- 
heuerem und unendlichem Gebiet in unzähligen Variationen ent- 
faltet — es beruht in seinen verwickeltsten Formen und Prozessen 
auf primitiven, einfachen Gesetzen und entsteht nur durch die 
ungemein sinnreiche Modifikation und Spezifikation 
dieser wenigen Grundtypen und Grundgesetze, die sich, 
teils gedrängt durch die äusseren Veranlassungen und Umstände, 
teils getrieben durch immanente Entwicklungskeime, zu jenem 
reichen, unendlichen Wissenssysteme entfalten, auf das der Mensch 
50 stolz ist. 1 ) Wie die Meleagrina margaritifera, wenn unter ihren 
glänzenden Mantel ein Sandkörnchen gerät, dieses mit der aus 
ihr selbst produzierten Perlmuttermasse überzieht, um das 
unscheinbare Korn in eine blendende Perle zu verwandeln, so 
— nur noch viel feiner — arbeitet die Psyche vermittelst ihrer 
logischen Funktion, wenn sie gereizt wird, das eingedrungene 
Empfindungsmaterial zu blitzenden Gedankenperlen um, zu Ge- 
bilden, in denen der Logiker die aneignende, organisch zweck- 
tätige logische Funktion bis in ihre geheimsten Wege, bis in ihre 
feinsten Spezifikationen verfolgt. In beiden Fällen ist es die 
sinnreiche Zwecktätigkeit, welche unsere Bewunderung und 
unsere Aufmerksamkeit erweckt. Wir betonen gerade vorzugs- 
weise die Zweckmässigkeit der organischen Funktion des 
Denkens, weil wir uns in der Folge mit logischen Gebilden zu 
beschäftigen haben werden, in denen sich jene Zwecktätigkeit 
recht auffallend manifestiert. 

Wir haben in der bisherigen Darlegung eine Seite noch 
nicht berührt, welche jedoch für die richtige Auffassung der 
logischen Funktion von hoher Wichtigkeit ist: es ist dies die 
Tatsache, dass die organische Funktion des Denkens meistenteils 
unbewusst verläuft 2 ) Mag auch schliesslich das Produkt ins 

1) Ähnlich wie die ungeheuere Entfaltung der äusseren mechanischen 
Hilfsmittel, d. h. der Maschinen, auf einige wenige Grundtypen der mechanischen 
Arbeit zurückzuführen ist, wie z. B. den Hebe!, die schiefe Ebene u.s.w. 

2) Vgl. u. a. die von Steinthal a. a. O. pag. 102 ff. durchgeführte Parallele 
von Seele und Natur; bes. pag. 104/105. 



10 



Allgemeine Einleitung. 



Bewusstsein treten, ja mag auch das Bewusstsein die Prozesse 
des logischen Denkens flüchtig begleiten, so dringt dieses Licht 
doch nur in eine geringe Tiefe; die eigentlichen Grundprozesse 
verlaufen in dem Dunkel des Unbewussten, und gerade die 
spezifisch zwecktätigen Operationen sind grösstenteils, und jeden- 
falls am Anfang durchgängig instinktiv und unbewusst, wenn sie 
auch später in den Lichtkreis des Bewusstseins vorrücken, das 
im Laufe der Zeit sowohl individuell als allgemein kulturgeschicht- 
lich freilich immer grössere Strecken des psychischen Verlaufs 
seiner Herrschaft zu unterwerfen weiss. Es handelt sich für die 
Logik nun gerade darum, die dunkel und unbewusst 
arbeitende Tätigkeit des Denkens zu beleuchten und die 
kunstvollen Methoden, die sinnreichen Wege kennen zu lernen, 
welche jene unbewusst wirkende Tätigkeit einschlägt, um ihr Ziel 
zu eireichen. 1 ) 

Man mag das Verhältnis von Sein und Denken fassen, wie 
man will — jedenfalls lässt sich vom empirischen Standpunkt 
aus behaupten, dass die Wege des Denkens andere sind, 
als die des Seins; die Subjektiven Prozesse des Denkens, die 
sich auf irgend einen äusseren Vorgang oder Prozess beziehen, 
haben mit diesem selbst nur selten eine nachweisbare Ähnlich- 
keit. a ) Wir bemerken dies, um dadurch hervorzuheben, dass die 
logischen Funktionen subjektive, aber zweckmässige An- 
strengungen sind, welche das Denken macht, um seine weiter 
oben geschilderten Zwecke zu erreichen. Das objektive Geschehen 
und Sein mag sich verhalten, wie es will — Eins lässt sich wohl 
sicher behaupten, es besteht nicht aus logischen Funktionen, wie 
einst Hegel gemeint hat. 

Das Hegel sehe System bietet das historisch grellste, das typische Bei- 
spiel dieses Generalirrtums der Philosophie dar: der Verwechselung 
der Wege des Denkens mit denen des Geschehens, der Verwan- 
dlung subjektiver Denkvorgänge in objektive Welt Vorgänge. (Dass 
aber der Hegeischen Dialektik andererseits eine richtige Einsicht in das 
Wesen der logischen Entwicklung zugrunde liegt, wird noch zur Sprache 
kommen.) Über diesen Generalirrtum Hegels vgl. noch die treffenden Be- 



1) E. v. Hartmann hat in der „Philosophie des Unbewussten* einen 
Abschnitt „Das Unbewusste im Denken", worin er eine ähnliche Betrachtungs- 
weise vertritt, pag. 268 ff. (5. Aufl.). Dazu vergleiche man den Abschnitt bei 
Steinthal, pag. 164; „Unbewusstes in der Seele*, u. ö. 

2) Vgl. Laas, a.a.O. Anm.415 und 254 mit pag. 38 desselben Werkes; 
für einen Nicht-Kantianer ist dagegen das Sein „intensiv logisch tingiert*. 



Das Denken als zwecktätig wirkende, organische Funktion. 11 

merkungen Steinthals a, a. O. pag, 69 ff., sowie besonders pag. 108, sowie 
die wichtigen Ausführungen pag. 117/118. Ähnliches sagt Wundt, 
Axiome etc. pag. 16 über Aristoteles urtd ib. 75 über Leibniz. 

Die logischen Funktionen sind organisch zweckmässige 
Prozesse, welche sich wesentlich unterscheiden von dem äusseren 
Geschehen. Das subjektive Denken macht ganz andere Wege 
als das objektive Geschehen; und es ist recht logisch, organisch 
und teleologisch, dass dem so ist, dass das Sein nicht logisch 
ist (womit natürlich nicht behauptet ist, dass es darum schon 
unlogisch sei). Denn sonst fielen ja Sein und Denken zusammen, 
und eines derselben wäre unnötig; die Natur ist aber nicht so 
eingerichtet, dass sie so Unnötiges schüfe. Wir dürfen also 
die Wege und Umwege des Denkens nicht mit dem 
wirklichen Geschehen verwechseln. Die eigentliche Kunst 
und Aufgabe des Denkens ist, das Sein auf ganz anderen Wegen 
zu erreichen, als diejenigen sind, welche das Sein selbst ein- 
schlägt. Mit Hilfe seiner kunstvollen Operationen und auf Um- 
wegen gelingt es dem Denken, das Sein einzuholen und sogar 
den Fluss des Geschehens zu überholen. 1 ) Vom Standpunkt 
des objektiven Geschehens aus betrachtet, sind die Operationen 
des Denkens oft recht verschlungen und erscheinen sogar oft 
als unzweckmässig, ja sie sind es nicht selten auch; wie jede 
organische Funktion, so hat diejenige des Denkens anfangs 
immer die Neigung, mit grösserem Kraftaufwand, als nötig ist, 
und in unzweckmässiger Weise zu arbeiten; und gerade darin 
bewährt sich die organische Natur der logischen Funktion, dass 
sie allmählich immer zweckmässiger, eleganter, sparsamer reagiert. ■) 
Andere Operationen des Denkens erscheinen äusserlich betrachtet 
oft recht unzweckmässig oder lassen ihre Mitwirkung zur Er- 
reichung des Zweckes nicht so leicht erraten; aber e*ne tiefere 
Beobachtung entdeckt immer mehr den solidarischen Zusammen- 
hang aller logischen Operationen und ihr zweckmässig wirkendes 
Zusammenstimmen, 

Der eigentlich grösste und wichtigste Teil der menschlichen^ 
Irrtümer entsteht dadurch, dass man die Wege des Denkens für; 



1) VgL die treffende Schilderung von Lotze, Logik» pag. 552. 

2) Vgl. Steinthal a. a. 0. 279, wo Ähnliches von der Ausbildung der 
Assoziationsbewegungen gesagt ist. Ähnlich Avenarius über das „Prinzip 
des kleinsten Kraftmasses". 



12 



Allgemeine Einleitung, 



die Abbilder der realen Verhältnisse selbst nimmt; 1 ) allein das 
schliessliche praktische Zusammenstimmen unserer Vorstellungen 
und Urteile mit den sogen. „Dingen* berechtigt noch nicht zu dem 
Schlüsse, dass die Wege, auf denen das logische Resultat 
gewonnen wird, dieselben seien mit denen der objektiven Vor- 
gänge. Im Gegenteil: Die Zweckmässigkeit manifestiert 
sich gerade darin, dass die logischen Funktionen, wenn 
sie nach ihren eigenen Gesetzen arbeiten, schliesslich 
doch immer wieder mit dem Sein zusammentreffen. 2 ) 



Kapitel II. 

Das Denken als eine Kunst, die Logik als eine Kunstlehre 
(eine Sammlung technischer Kunst regeln) betrachtet.*) 

Wir nannten das Denken eine organische Funktion. 
Jede natürliche Fähigkeit, wie dies eine jede organische Funktion 
ist, kann durch Übung, Entwicklung und Vererbung zur Kunst 
gesteigert werden. Nur in diesem Sinne kann das Denken eine 
Kunst sein. Man nennt die Logik hie und da eine Kunstlehre. 
Vgl. Beneke, Lehrbuch der Logik als Kunstlehre des Denkens. 
Berlin 1832, Vgl. Sigwart, Logik, pag. 1. 19, [2. Aufl. 1. 21 J Ähnlich 
Mill» System der Logik I. Einleitung (vgl. mit 111, 365».). Der Ausdruck 
„Kunstlehre" scheint von Sendling zu stammen, der, gegenüber der 
gewöhnlichen, empirischen Logik eine Dialektik verlangt, welche, eine 
wahre Wissenschalt der Form, eine Kunstlehre der Philosophie sein 
solle. Vgl. Schelling, System des transsz. Idealismus. Tüb. 1800, pag. 
35—37 und Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, 
Tüb. 1803, pag. 122-129. 



1) Vgl. Kant, Prol. § 40; „Aller Schein besteht darin, dass der subjektive 
Grund des Urteils für objektiv gehalten wird." „Die Vernunft gerät in Ver- 
irrungen, wenn sie ihre Bestimmung missdeutet, und dasjenige transzendenter 
Weise aufs Objekt selbst bezieht, was nur ihr eigenes Subjekt und die Lei- 
tung desselben in allem immanentem Gebrauche angeht". Vgl. Prol. § 55. 

2) Ein Punkt, der im Verlauf der Untersuchung noch grosse Wichtigkeit 
gewinnt — Vgl. zu dem hier Gesagten besonders noch Lotze, Logik, pag. 
9; 11, bes. 11. 

*) Im M8 t = § 5. Die dazwischenliegenden § S und § 4 sind hier weg- 
gelassen. Sie haben die Überschriften; »Die Logik ist die Tlieorie der wissen- 
schaftlichen Praxis, zu der sich die logische Funktion entwickelt" und „Die 
Logik geht aus von der Psychologie und mündet ein in die Erkenntnistheorie". 



Das Denken als eine Kunst, die Logik als eine Kunstlehre betrachtet 13 

Wer die Logik Kunstlehre nennt, muss also das Denken als 
eine Kunst betrachten. 

So Mi II, System der Logik I (Einleitung). Die Logik von Port Royal 
führt den Titel: „L'art de penser*, ebenso die von Condillac. Vgl. 
Bergk, „Kunst zu denken*. Lpzg, 1802. Wie bemerkt, kann man die Logik 
selbst nicht als eine Kunst, sondern nur als eine Kunstlehre bezeichnen, 
Unklarheit hierüber bei Bach mann, System der Logik. Leipz.1828. pag.24. 
Es ist ungenau, die Logik selbst als eine Kunst zu be- 
trachten. Das Denken ist eine Kunst, die Logik aber ist eine 
Wissenschaft und als solche speziell eine Kunstlehre. 

So unterscheidet auch Überweg mit Recht genau z. B. bei Plato 
die Vervollkommnung, welche die logische Kunst, und die Förderung, 
welche die Theorie des Denkens durch Plato erfahren hat. S. System 
der Logik, 3. Aufl. Bonn, 1868, pag, 21 ; es wäre verdienstvoll gewesen, 
dieselbe Scheidung auch bei Aristoteles und so weiterhin 
bei allen Philosophen festzuhalten. 
Es ist wohl kaum daran zu erinnern, dass bei der obigen 
Verwendung des Wortes und Begriffes Kunst diejenige Bedeutung 
festzuhalten ist, in welcher die ästhetische Seite nicht betont wird. 1 ) 
Es handelt sich nicht um eine künstlerische Tätigkeit, sondern 
um eine kunstreiche Fertigkeit. So lange die organische Tätigkeit 
des Denkens noch mehr im Gebiet des Unbewussten (des Hypo- 
psychischen" nach Laas a. a. O. 263) sich befindet, nennen wir 
sie lieber zwecktätig, wie wir ja eine solche Zwecktätigkeit 
ohne Bedenken allen organischen Funktionen zuschreiben, wobei 
wir das metaphysische Problem der Teleologie ganz bei Seite 
lassen; wenn aber die organische Tätigkeit das Gebiet der un- 
bewussten, mehr dämmernden Tätigkeiten verlässt, wenn das 
Bewusstsein das Ruder ergreift, so nennen wir dieselbe organische 
Tätigkeit lieber kunstmässig. Je mehr die natürliche Fähigkeit 
des Denkens, die instinktive Tätigkeit der logischen Funktionen 
verfeinert und raffiniert wird, je mehr sich die logischen Operationen 
spezialisieren, und je mehr infolge der Arbeitsteilung in der 
Ökonomie der Natur, die feineren logischen Funktionen besonderen 
Individuen als Aufgabe zufallen, desto mehr findet jene Bezeich- 
nung ihre sachliche Berechtigung, Ist auch das Denken eine 
allgemein verbreitete Tätigkeit, welche dem Individuum im Ver- 
laufe seiner Entwicklung angelernt wird, wie so manche andere 
Kunst, welche zur Notdurft des menschlichen Daseins gehört, 

1) Vgl. die ähnlich lautende Bemerkung Mills betreffs der Ethik: 
System d Log. III, 361. 



14 



Allgemeine Einleitung. 



so wird doch der schwierigere Teil der logischen Aufgabe von 
einzelnen, besonders dazu befähigten und dazu ausgebildeten 
Individuen ausgeführt; sobald aber eine allgemeine natürliche 
Fähigkeit sich in dieser Weise spezialisiert, dass besondere 
Individuen sie mit besonderer Fertigkeit ausüben, so nennen wir 
sie eine Kunst Es bilden sich bestimmte Kunstregeln aus; 
das Ganze dieser Kunstregeln nennt man die Kunstlehre, 
und eine solche ist die Logik, als deren Hauptaufgabe sich eben 
die Darstellung und Begründung der technischen Regeln des 
Denkens ergibt. 1 ) Wir stellen mit gutem Grunde die „Begrün- 
dung" als einen Teil der Aufgabe dieser Kunstlehre auf; denn 
ohne eine solche Begründung bleibt eine Kunstlehre blosse 
Sammlung von empirisch gemachten Beobachtungen, von 
Regeln der Routine; in allen Kunstlehren, speziell in denen, 
welche sich mit den Künsten im engeren Sinn befassen, wie auch 
in anderen, z. B. in der Pädagogik — denn auch die Pädagogik 
ist eine Kunstlehre — besteht die wissenschaftliche Behandlung 
zuletzt in der Begründung der Regeln. Im Laufe der Ent- 
wicklung (sowohl allgemein kulturgeschichtlich, als individuell 
genetisch) vermehrt sich nicht nur der Reichtum der Produkte, 
welche immer eine Generation auf die andere vererbt, ein Tag 
auf den andern überträgt, sondern es sammelt sich auch die 
Erfahrung der formellen Tätigkeit an*) und schlägt sich nieder 
in der Form von Kunstregeln, welche bald mehr unbewusst aus 
der stetigen Übung der Tätigkeit von selbst entstehen und fort- 
wirken, bald mehr bewusst fortgepflanzt werden. Dies sind jene 
Regeln des Verfahrens, von denen wir oben sprachen, sie 
sind der Gegenstand des technischen Teils der logischen 
Theorie, als einer Theorie der wissenschaftlichen Praxis, zu welcher 
sich die einfache, ursprüngliche, organische Funktion des Denkens 
im Laufe der Zeit entwickelt. 



1) In diesem, von Sigwart mit einem glücklichen Ausdruck technisch 
genannten TeiJe handelt es sich um die Methoden, welche dem Denken zu 
Gebote stehen, oder weiche es erfindet und ersinnt, um von dem gegebenen 
primitiven Zustand der gewöhnlichen Wahrnehmung und des populären Denkens 
aus zu allgemeingiltigen Urteilen, zu notwendigen und zwingenden Schlüssen, 
sowie zu scharfbestimmten Begriffen zu gelangen. 

2) Auch hier gilt der Satz: Usus dat methodum. 



Kunstgriffe und Kunstregeln des Denkens. 



15 



Kapitel HL 

Unterschied der Kunstgriffe von den Kunst regeln 
des Denkens.*) 

Die bisherige Methodologie hat sich bemüht, die Kunst- 
regeln des Denkens in ihrer Vollständigkeit zu sammeln und 
systematisch zu verarbeiten, Sie hat es versucht, und es ist ihr 
gelungen, diejenigen technischen Operationen und Manipulationen 
zu registrieren und zu analysieren und systematisch zu begründen, 
welche die häufigsten, regelmässigsten und wichtigsten sind. 
Gerade diejenigen Operationen, auf deren geschickter Anwendung, 
kluger Verwertung und rationeller Verfeinerung die Fortschritte 
der modernen Naturwissenschaft beruhen, sind aus der Praxis 
in die Theorie erhoben worden und wurden auf die einfachen 
und primitiven Formen der logischen Funktion zurückgeführt. 
Die bewunderungswürdigen Methoden der empirischen Wissen- 
schaften, Methoden, welche sich ihrem Gegenstand mit einer 
staunenswerten Geschmeidigkeit anzuschmiegen und mit jener 
klugen Benutzung aller Umstände anzupassen wissen, welche 
wir bei den organischen Wesen beobachten — diese Methoden 
fanden einen würdigen und vollständig entsprechenden Ausdruck 
in der modernen Methodologie, welche ihre glänzendsten Ver- 
treter in England, Frankreicfi und Deutschland fand. 

Es werden indessen, scheint mir, in der wissenschaftlichen 
Praxis ausserdem Methoden angewandt, welche bisher in der 
Theorie noch nicht die gehörige Beachtung und Verwertung 
gefunden haben. 

Es sind dies Methoden, welche weniger in der Naturwissenschaft, als 
in der Mathematik und in den moralisch-politischen Wissenschaften zur An- 
wendung kommen, also in der exaktesten Wissenschaft und in solchen Ge- 
bieten, denen die Exaktheit geradezu abgesprochen wird. Es ist ganz 
natürlich, dass, nachdem die naturwissenschaftlichen Methoden in einer sehr 
ausgiebigen Weise behandelt worden sind, nun die Methoden anderer 
Wissenschaftsgebiete zur Untersuchung sich herandrängen, welche über der 
Naturwissenschaft vernachlässigt worden sind. In den modernen logischen 
Systemen prävaliert die Naturwissenschaft unverhältnismässig über die ge- 
nannten Wissenschaften, nicht zum Vorteil der Logik. Mill widmet den 
Spezialmethoden der Mathematik fast gar keine Aufmerksamkeit, und die 
Methoden der moralischen Wissenschaften sind zu kurz behandelt. Nun 



*) Im MS. — §7* Nicht mit abgedruckt ist der dazwischenliegende § 6: 9 Die 
logische Theorie ist eine von der wUisenscJiaftUchcn Praxis abhängige Funktion*, 



16 



Allgemeine Einleitung. 



aber entfaltet sich in diesen beiden Gebieten die bewunderungswürdige 
Zweckmässigkeit der logischen Funktion viel glänzender als in den ein« 
fächeren Methoden der empirischen Naturwissensch aften, aus dem ein- 
fachen Grunde, weil in jenen Gebieten der logischen Funktion ungleich 
grössere Schwierigkeiten gegen übertreten und Phänomene, deren Ver- 
wickelung viel bedeutender ist als diejenige der naturwissenschaftlichen 
Phänomene. Gerade in denjenigen Punkten, wo die empirische Methode 
der Naturwissenschaft sich zuspitzt einerseits zu den Methoden der exakten 
Mechanik und mathematischen Physik, und wo sie andererseits übergeht 
zu den verwickelten Phänomenen des sozialen Lebens, zeigt sich deutlich 
das Ungenügen der rein induktiven Methoden; hier beginnen Methoden, 
welche eine höhere Synthese von Deduktion und Induktion darstellen, 
wo also diese beiden Methoden vereint sich anstrengen zur Lösung der 
Schwierigkeiten, die nur indirekt zu überwinden sind. 

Wir meinen damit Methoden, welchen wir im Gegensatz zu 
den regulären Methoden der gewöhnlichen Induktion den Charakter 
des Irregulären vindizieren dürfen. Auch in anderen Gebieten 
aber pflegt man das Reguläre vor dem Irregulären systematisch 
zu bearbeiten und das Letztere bei Seite zu lassen. Wo man 
aber bisher diejenigen Methoden, welche wir meinen, berührte, 
behandelte man sie entweder viel zu kurz und viel zu oberfläch* 
lieh, oder am unrechten Orte und nicht im rechten systematischen 
Zusammenhange, oder man warf sie mit anderen ähnlichen 
Formen zusammen, wie dies ja in jeder Wissenschaft so zu 
gehen pflegt; oder man behandelte sie auch mit jener Scheu, wie 
man anfangs alles Irreguläre behandelt. Auch in der Logik wob 
man um solche Formen einen geheimnisvollen Schleier, und 
anstatt schonungslos mit der logischen Sonde in dieselben ein- 
zudringen, verschwendete man ahnungsvolle Gefühle an diese 
Formen, die man ähnlich behandelte, wie man dies in vielen 
Museen sieht, wo seltsame Gegenstände auf die Seite gelegt 
werden, bis eine künftige Generation sie analysiert. 

Nachdem die regulären und häufigsten logischen Operationen 
«ine Bearbeitung gefunden haben, welche relativ nichts mehr zu 
wünschen übrig lässt, scheint es an der Zeit und gerechtfertigt, 
auch diejenigen Operationen in die logische Diskussion hinein- 
zuziehen, welche bis jetzt ignoriert oder vernachlässigt wurden. 
Man tat recht daran, diese irregulären Formen so lange zu über- 
sehen und auf die Seite zu stellen, bis die logische Theorie durch 
die Analyse der wichtigsten und häufigsten Operationen diejenige 
Festigkeit und Sicherheit erlangt hatte, welche absolut notwendig 
ist, wenn exzeptionellen, irregulären und dem gewöhnlichen Ver- 



Kunstgriffe und Kunst rege In des Denkens. 



17 



lauf widersprechenden Phänomenen zu Leibe gegangen werden 
soll, deren logische Analyse bedeutenderen Schwierigkeiten be- 
gegnet als die häufigeren Operationen. 

Wir unterscheiden Kunstregeln und Kunst griffe des 
Denkens, eine Einteilung der Denkmittel, welche wir vorläufig 
festhalten wollen. Auch bei anderen Funktionen ist diese Unter- 
scheidung von Wert; Kunstregeln sind das Zusammen aller jener 
technischen Operationen, vermöge welcher eine Tätigkeit ihren 
Zweck, wenn auch mehr oder weniger verwickelt, so doch direkt 
zu erreichen weiss, und welche aus der Natur jener Tätigkeit und 
der sie reizenden Umstände unmittelbar folgen, welche insbesondere 
in keinem Widerspruch stehen mit der allgemeinen Form der 
bezüglichen Tätigkeit. Auch in der Logik nennen wir solche 
Operationen, wie vor Allem die Operationen der Induktion, 
Kunstregeln des Denkens. Kunstgriffe aber sind solche 
Operationen, welche, einen fast geheimnisvollen Charakter an 
sich tragend, auf eine mehr oder weniger paradoxe Weise dem 
gewöhnlichen Verfahren widersprechen, Methoden, welche, dem 
nicht in den Mechanismus eingeweihten, nicht so fertig geübten 
Zuschauer den Eindruck des Magischen machend, Schwierigkeiten, 
die das bezügliche Material der betreffenden Tätigkeit in den 
Weg wirft, indirekt zu umgehen wissen. Solche Kunstgriffe hat 
auch das Denken; sie sind wunderbar zwecktätige Äusserungen 
der organischen Funktion des Denkens. Und wie in gewissen 
Künsten und Handwerken solche Kunstgriffe geheim gehalten 
werden, so bemerken wir auch dasselbe bei dem logischen 
Geschäfte. Wir ziehen hier nur Einen eklatanten Fall zur Illu- 
stration des Gesagten herbei: als es Leibniz durch einen solchen 
genialen Kunstgriff — er wird im Folgenden für uns das typische 
Beispiel sein und einen Hauptgegenstand unserer Analyse bilden 
— gelungen war, Aufgaben, die bis dahin als unlösbar gegolten 
hatten, auf eine wunderbar einfache und ingeniöse Weise zu 
lösen, da suchte er eine geraume Zeit lang diesen logischen 
Kunstgriff ängstlich geheim zu halten, und diejenigen, denen er 
ihn mitteilte, überraschten die damit nicht bekannt gemachten 
Mathematiker mit der Lösung schwieriger Aufgaben. Ähnlich 
verfuhr Newton, wie man aus der Geschichte der Mathematik 
wohl weiss; es ist interessant, wie die Mathematiker wetteiferten, 
durch ihre geheim gehaltenen Kunstgriffe die von anderen für 

2 



18 



Allgemeine Einleitung. 



unlösbar gehaltenen Probleme rasch und elegant zu lösen. Auch 
von der Pythago ras- Schule wird Ähnliches erzählt. 

Diese historischen Fakta mögen dazu dienen, die oben 
durchgeführte Vergleichung des Denkens mit einer Kunst und 
gewisser logischer Operationen mit Kunstregeln und Kunstgriffen 
als mehr, denn eine bloss spielende Vergleichung erscheinen zu 
lassen. Ist doch der Terminus „Kunstgriff" denjenigen sehr ge- 
läufig, welche mit den Methoden der Mathematik vertraut sind; 
denn in dieser werden schon lange solche Operationen, wie wir 
sie meinen, Kunstgriffe genannt, und sie kommen dort sehr häufig 
zur Anwendung. 

Auch Lotze wendet diesen Ausdruck an, Logik Pag, 13: .Als eine 
Betrachtung von Hindernissen und den Kunstgriffen zu ihrer Bewältigung 
muss diese Lehre (die Methodologie) etc. etc." Wir scheiden noch zwischen 
Kunst regein und Kunstgriffen, indem wir unter den letzteren eine 
ganz spezielle Art logischer Operationen verstehen. 



Kapitel IV, 
Übergang zu den Fiktionen.*) 

Wir behandeln also eine eigentümliche Art von logischen 
Produkten, eine besondere Tätigkeitsmanifestation der logischen 
Funktion. Schon im Vorhergehenden haben wir darauf hinge- 
wiesen, dass diese eigentümliche Tätigkeit sich in den von uns 
so genannten Kunstgriffen des Denkens äussert, dass ihre Pro- 
dukte Kunstbegriffe sind. Wir substituieren schon hier, das 
Resultat antezipierend, für diese Ausdrücke andere Termini: unser 
Gegenstand ist die fiktive Tätigkeit der logischen Funktion, die 
Produkte dieser Tätigkeit sind die Fiktionen. Wir behandeln 
die Kunstgriffe des Denkens, die Art, wie dieses sich behilft, um 
sein Ziel indirekt zu erreichen — wir behandeln die Hilfs- 
begriffe und Hilfsoperationen des Denkens. 

Die fiktive Tätigkeit der Seele ist eine Äusserung der 
psychischen Grundkräfte; die Fiktionen sind psychische 

V Dieses Kapitel besteht aus Bruchteilen der § 8 t 9, 10 des MS : § 8: 
„Die Erkenntnistheorie ist eine von der Logik abhängige Funktion" ; §9: „Die 
Notwendigkeit psychologischer Voruntersuchungen 4 *; § 10: „Methode der folgenden 
Untersuchung". 



Übergang zu den Fiktionen. 



19 



Gebilde. Aus sich selbst spinnt die Psyche diese Hilfsmittel 
heraus; denn die Seele ist erfinderisch; den Schatz an Hilfs- 
mitteln, der in ihr selbst liegt, entdeckt sie, gezwungen von der 
Not, gereizt von der Aussen weit. Der Organismus ist hinein- 
gestellt in eine Welt voll widersprechender Empfindungen, er ist 
den Angriffen einer ihm feindlichen Aussenwelt biossgestellt, und 
um sich zu erhalten, wird er gezwungen, sowohl von Aussen als 
Innen alle möglichen Hilfsmittel zu suchen. An der Not und am 
Schmerz entzündet sich die geistige Entwicklung, am Wider- 
spruch und Gegensatz erwacht das Bewusstsein, und der Mensch 
schuldet seine geistige Entfaltung mehr seinen Feinden als seinen 
Freunden. 

Um grösserer Deutlichkeit und Übersichtlichkeit willen muss 
indessen folgende Bemerkung vorausgeschickt werden: 

Unter der fiktiven Tätigkeit innerhalb des logischen 
Denkens ist die Produktion und Benutzung solcher logischen 
Methoden zu verstehen, welche mit Hilfe von Hilfsbegriffen — 
denen die Unmöglichkeit eines ihnen irgendwie entsprechenden 
objektiven Gegenstandes mehr oder weniger an die Stirn ge- 
schrieben ist — die Denkzwecke zu erreichen sucht; anstatt sich 
mit dem gegebeuen Material zu begnügen, schiebt die logische 
Funktion diese zwitterhaften und zweideutigen Denkgebilde ein, 
um mit ihrer Hilfe ihre Ziele indirekt zu erreichen, wenn die 
Sprödigkeit des entgegenstehenden Materials ein direktes Vor- 
gehen nicht gestattet. Mit einer instinktiven, fast möchte ich 
sagen, verschmitzten Klugheit weiss die logische Funktion diese 
Schwierigkeiten durch diese Hilfsgebilde zu umgehen. Die 
speziellen Methoden, Umwege, Fusswege, welche das Denken 
einschlägt, wenn es auf der Linie des direkten Denkens nicht 
mehr fortkommen kann — Fusswege, die recht oft durch 
dorniges Gestrüpp führen, wodurch sich aber das logische Denken 
nicht aufhalten lässt, selbst wenn es von seiner logischen 
Reinheit und Unbeflecktheit etwas einbüsst — sind sehr 
mannigfacher Natur, und die Auseinanderlegung derselben ist 
eben unsere Aufgabe. Es ist hierbei noch die Bemerkung am 
Platze, dass die logische Funktion in ihrer zwecktätig-instinktiven 
Klugheit diese fiktive Tätigkeit von den unschuldigsten, unschein- 
barsten Anfängen an durch immer feinere und klügere Windungen 
und Wendungen hindurch bis zu den schwierigsten und kompli- 
ziertesten Methoden durchzuführen weiss. 

2* 



20 



Allgemeine Einleitung. 



Sollte es uns gelingen, eine bisher unbeachtete Funktion 
der logischen Tätigkeit in ihrem Wirken zu schildern, und 
nachzuweisen, dass und wie die wissenschaftliche Praxis dieselbe 
anwende zur Gewinnung von Wissen, so wäre (da die Logik 
immer auf die Erkenntnistheorie einen mitbestimmenden Einfluss 
ausübt), unsere erste Frage, ob sich diese Funktion nicht 
auch als eine erkenntnistheoretisch wirksame nachweisen 
lasse. Wir glauben, diesen Nachweis liefern zu können; die, wenn 
auch nicht gerade ganz neu entdeckte, so doch zum erstenmal in 
ihrem ganzen Umfang dargestellte Funktion hat unseres Erachtens 
für die Erkenntnistheorie eine ganz enorme Bedeutung; sie scheint 
geeignet zu sein, sowohl auf die bisherigen Gestaltungen der 
Erkenntnistheorie ein interessantes und aufhellendes Licht zu 
werfen, als auch die zukünftige Ausbildung derselben wesentlich 
zu beeinflussen.*) 

V Im MS, folgen hier § 11—21 mit der Gesamtüberschrift: „Psychologisch- 
erkenntnistheoretische Grundlegung". Dieser Teil ist hier weggelassen; einzelne 
Partien daraus finden späterhin Verwertung (S. 286—327). 



Erster Teil. 
Prinzipielle Grundlegung. 



Allgemeine Vorbemerkung über die fiktiven Vorstellungs- 
gebilde und Vorstellungsformen.*) 

Die regulären und natürlichsten Denkmethoden bestehen 
darin, immer zuerst und sogleich nur solche Apperzeptionen zu 
vollziehen, welche endgiltig und definitiv sind; und immer nur 
solche Vorstellungsgebilde zu formieren, welchen eine entsprechende 
Wirklichkeit nachgewiesen werden kann. Dies ist ja das eigent- 
liche Ziel der Wissenschaft, nur solche Vorstellungsgebilde zu 
entwickeln, denen Objektives entspricht, und alle subjektiven Ein- 
mischungen zu eliminieren. 

Allein diese Aufgabe zu erreichen, ist nicht so leicht. Der 
Erreichung stellen sich sehr viele Schwierigkeiten entgegen. Jenes 
ideale Ziel, nach welchem die Vorstellungswelt aus lauter zu- 
sammenstimmenden, geordneten und widerspruchslosen Vor- 
stellungsgebilden bestehen soll, dieses Ideal ist langsam und schwer 
zu erreichen. Den Weg zu diesem Ideal gibt die Methodologie* 

Die natürliche und erste Aufgabe der Methodologie ist, die- 
jenigen Wege anzugeben, auf denen jene realgiltigen Vorstellungs- 
gebilde gefunden werden. 

Das natürliche Verfahren bei der wissenschaftlichen Denk- 
tätigkeit besteht darin, dass wir den unmittelbaren und ohne Re- 
flexion gewonnenen Inhalt der Wahrnehmung zu bestimmten Be- 
griffen und zu ihres Grundes sich bewussten und folgerichtig 
verbundenen Gedanken entwickeln* Der nächste Weg ist die 
Induktion. Man sucht aus den einzelnen Wahrnehmungen 
iiigemeine Begriffe und Urteile vermittelst giltiger Schlüsse und 



*) Im MS. - § 22. 



22 



Erster Teil : Prinzipielle Grundlegung, 



haltbarer Beweise zu gewinnen. Man geht dabei vom Gegebenen 
aus, verbindet es mit anderem anderwärts Gegebenen, sucht hier 
die Gleichförmigkeiten, welche in allgemeinen Gesetzen und Be- 
griffen zum Ausdruck gelangen. Es beruht dieser Weg eben auf 
den gewöhnlichen Apperzeptionen der Identifikation und Sub- 
sumtion. Die Induktion, sagt Steinthal a, a. 0. 216, apperzipiert das 
Allgemeine, indem sie es aus dem Einzelnen schafft, also 
mittelst des Einzelnen, und apperzipiert in demselben Akte durch 
dieses Allgemeine das Einzelne. Wenn das Einzelne durch 
das Allgemeine begriffen wird, so ist dies die Deduktion; in 
der Bewegung des Denkens spielen die verschiedenen Apper- 
zeptionsformen in sehr verschlungener Weise durcheinander. Auf 
diesem natürlichen Wege entstehen auch „alle jene grossen Kon- 
zeptionen, auf denen ganz eigentlich die Förderung der Wissen- 
schaft und die fortschreitende Einrichtung des menschlichen 
Lebens beruht: wie die Drehung der Erde um die Sonne — ■ 
(Steinthal, ib. 217). Auf diesem gewöhnlichen Denkwege ist das 
natürliche Bestreben die Ausgleichung aller Vorstellungs- 
gebilde, ihre Prüfung an der Wirklichkeit, ihre Wider- 
spruchslosigkett Es ist der natürlichste, zunächstliegende und 
anscheinend einzige Weg, um die wissenschaftliche Erkenntnis zu 
fördern. Er wäre es auch, wenn die Vorstellungsgebilde unmittel- 
bare Abbilder des Seins wären; aber schon die hier geschilderten 
Wege des Denkens und ihre Produkte enthalten so viel sub- 
jektive und liktive Elemente, dass es uns nicht überraschen kann, 
wenn das Denken auch noch andere Wege einschlägt. Man 
muss hierbei sich daran erinnern, dass die ganze Vorstellungs- 
welt in ihrer Gesamtheit nicht die Bestimmung hat, ein Abbild 
der Wirklichkeit zu sein — es ist dies eine ganz unmögliche 
Aufgabe — sondern ein Instrument, um sich leichter in 
derselben zu orientieren, im gesamten Gefüge des kos- 
mischen Geschehens sind auch die subjektiven Denkbewegungen 
mit einbegriffen. Sie sind die höchsten und letzten Resultate der 
ganzen organischen Entwicklung; die Vorstellungswelt ist gleich- 
sam die letzte Blüte des ganzen kosmischen Geschehens; aber 
darum eben ist sie kein Abbild desselben im gewöhnlichen 
Sinn. Die logischen Prozesse sind ein Teil des kosmischen 
Geschehens und haben zunächst nur den Zweck, das Leben deT 
Organismen zu erhalten und zu bereichern; sie sollen als In- 
strumente dienen, um den organischen Wesen ihr Dasein zu ver- 



Vorbemerkung über die fiktiven Vorstellungsgebilde und Vorsteilungsformen. 23 

vollkommnen; sie dienen als Vermittlungsglieder zwischen 
den Wesen. Die Vorstellungswelt ist ein geeignetes Gebilde, 
nm diese Zwecke zu erfüllen, aber sie darum ein Abbild zu 
nennen, ist ein voreiliger und unpassender Vergleich. Sind doch 
die elementaren Empfindungen schon keine Abbilder der Wirklich- 
heit, sondern blosse Massstäbe, um die Veränderungen der Wirk 
lichkeit zu messen;; und um den Effekt der schliesslich en Über- 
einstimmung der Welt der Wirklichkeit und der Vorstellungswelt 
zu erklären, dazu bedarf es eben nicht jenes Vergleiches, 
der bei näherer Analyse einen ganz verworrenen Sinn gibt. 

Sonach müssen wir die ganze Vorstellungswelt erkenntnis- 
iheoretisch für ein blosses Instrument halten, das uns dazu 
dient, uns in der Wirklichkeitswelt besser zu orientieren; die 
logische Betrachtung dagegen kann ohne Fehler diese Vor- 
steüungswelt, welche so passend ausgebildet und der Wirklichkeit 
so adaptiert ist, dass sie am bequemsten, leichtesten und elegan- 
testen die Orientierung in der Wirklichkeit vermittelt — die 
logische Betrachtung kann diese Vorstellungswelt ruhig ein Ab- 
bild der Wirklichkeit heissen und sie auch ganz vollständig 
an Stelle dieser setzen, indem den dabei beteiligten Vorstellungs- 
gebifden einfach Wirklichkeit zugeschrieben wird. 

Der Logiker kann — im Unterschied von dem Verfahren des Erkenntnis- 
tbeoretikers — die Vorstellungswelt, weiche §o ausgebildet ist, dass sie ein 
möglichst sicheres Berechnen der Wirklichkeit und ein Handeln in derselben 
ermöglicht, welche also dieser Wirklichkey^ als Instrument zweckmässig an- 
gepasst ist, der wahren Wirklichkeit substituieren. Während der 
Erkenntnistheoretiker die ganze subjektiv^ Vprstellungswelt für ein fiktives 
Vorstellungsgewebe erklärt, insofern ja schon 4ie elementaren Empfindungs- 
qualitäten mit den als objektiv anzunehmenden quantitativen Vorgängen 
keine Ähnlichkeit haben, kann der Logiker dies* raumzeitliche Welt nebst 
den von uns in sie hinernprojizierten Eigenschaften und Qualitäten als wirk- 
lich setzen und nun auf Grund dieser Substitution untersuchen, welchen 
subjektiven Gebilden in dieser Wirklichkeit objektive Wahrnehmungs- 
komplexe entsprechen, und welche dagegen nur fiktiver Natur sind. 

Somit nehmen Erkenntnistheoretiker und Logiker hier 
einen voneinander verschiedenen Standpunkt ein, indem dieser 
rascher mit der Prädtzierung der Wirklichkeit zm' Hand ist als 
jener. Jener dagegen dehnt den Begriff der Fiktion viel weiter 
aus, als dieser. Auch wir folgen nunmehr dem LOg^er und 
lassen die Erkenntnistheorie einstweilen bei Seite, bl$ sie sich 
selbst geltend macht. Denn alle logische Theorie mündet in die 
Erkenntnistheorie ein. 



24 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. 

Also jene oben besprochenen natürlichen und gewöhnlichen 
Methoden sind als diejenigen zu betrachten, welche direkt auf 
die „Wirklichkeit* abzielen; sie sind somit die regulären und, so 
zu sagen, orthodoxen Wege des Denkens. 

Wir haben aber schon gezeigt, dass diese nicht ausreichen, 
dass Fälle vorkommen, wo die Sprödigkeit des Materials die An- 
wendung dieser direkten Methoden gar nicht gestattet, wo es der 
Bearbeitung durch jene gewöhnlich angewandten logischen Instru- 
mente hartnäckigen Widerstand entgegensetzt. Es handelt sich 
also hier darum, die logischen Instrumente auf eine andere Weise 
zu handhaben oder ganz neue Denkmittel zu erfinden, welche 
noch künstlicher und kunstreicher sind als die ersteren. Solche 
Methoden müssen also die direkten Schwierigkeiten umgehen 
und dem spröden Material von einer anderen Seite beizukommen 
suchen, als auf der, wo die direkten Hilfsmittel einsetzen. 

Als allgemeinen Typus der Fiktion haben wir oben die 
Formierung solcher Vorstellungsgebilde erkannt, welche in der 
Wirklichkeit keinen Vertreter finden« 

Dieser Typus, die eigentliche psychologische Quelle der 
Fiktionen, die allgemeine Formeller, modifiziert sich nun sehr 
mannigfaltig nach den Umst&pdeiij 

Insbesondere müssen wir hier schon einen Unterschied 
machen, der in der Folge von einiger Bedeutung sein wird. Als 
eigentliche Fiktionen im strengsten Sinne des Wortes stellen sich 
solche Vorstell ungsgebilcle. daj, welche nicht nur der Wirklichkeit 
widersprechen, sondern aucj» in sich selbst widerspruchsvoll sind 
(z. B. der Begriff de* At*»s, des Dinges an sich). Von ihnen 
zu unterscheiden sind solffc« Vorstellungsgebilde, welche nur der 
gegebenen Wirklichkeit Atfqierfiprechen, resp. von ihr abweichen, 
ohne schon in sieb selbst widerspruchsvoll zu sein (z, B, die 
künstliche EintjtUtfog), Man\k«Jjn dje letzteren als Halbfiktionen, 
Semifiktionen /bessfchnen. Beide Arten sind nicht streng getrennt, 
sondern durch Oberjgänge verbunden, Das Denken beginnt zu- 
erst mit leichteren,- Abweichungen von der Wirklichkeit (Halb- 
fiktionen), / öin . zuletzt, immer kühner geworden, mit solchen 
Vorstelluiai^sgeblklen zu operieren, welche nicht mehr bloss dem 
Gegebei^n widersprechen, sonde$fi auch in sich selbst Wider- 
spruch^] sfod, \ ^ 




L Die künstliche Klassifikation. 



25 



A, Aufzählung und Einteilung der wissenschaftlichen 

Fiktionen. 

Kapitel l 
Die künstliche Klassifikation.*) 

Die am weitesten verbreitete Art derjenigen Fiktionen, die wii 
soeben Halb-Fiktionen nannten, dieser »vorläufigen Methoden 1 *, 
ist die künstliche Klassifikation. Das ihr entsprechende real- 
giltige Gebilde, das seiner Zeit an ihre Stelle treten soll, ist das 
natürliche System. Alle kosmischen Objekte stellen eine 
Spezifikation dar, welche theoretisch ausgedrückt wird in der 
Klassifikation; entspricht diese in allen Gliedern der Wirklichkeit, 
so ist sie ein sogen, natürliches System, Das natürliche System 
selbst bildet indessen eines der verwickeltsten Probleme der 
Philosophie und Naturwissenschaft, und ein Ausftuss der auf 
diesen Punkt gerichteten Untersuchungen ist die brennende Frage 
über die Spezies. Ob aber überhaupt ein natürliches System, 
eine natürliche Klassifikation aller Dinge möglich sei, diese 
Frage ist an dieser Stelle nicht zu untersuchen. Hier setzen wir 
voraus, dass wenigstens in vielen Spezialgebieten die Aufstellung 
eines natürlichen Systems möglich ^ei. 

Das natürliche System ist ein solches, in welchem die Wesen 
vgl. Bachmann S. 440) *) nach denselben Prinzipien geordnet sind, 
welche die Natur bei der Produktion derselben befolgt zu haben 
scheint. Nach Lotze (S. 166) ist die natürliche Einteilung eine 
solche, „dass in der gesamten Artenreihe jede an den bestimmten 
Platz gerückt würde, der ihr durch den Grad, in dem sie das 
Wesentliche verwirklicht, zwischen allen ihren Verwandten zu- 
käme 44 . Wir können kurz sagen: die natürliche Einteilung muss 
ein entsprechendes Abbild der realen Entstehung und des ver- 
wandtschaftlichen Zusammenhanges aller Wesen sein. Die Vor- 
srellungsgebilde, die in dem natürlichen Systeme verwertet werden, 
süssen nach den realen Beziehungen formiert sein. Dies ist das 
Ziel der Wissenschaft, und eine direkte Methode sollte diesem 
Ziele unmittelbar zusteuern. 

Hier machen sich nun aber schon alle jene Gesichtspunkte 
geltend, von denen wir bisher sprachen; das gegebene Material 

*) Im MS. § 23 (Erste Hälfte). 

1) Bach mann, System der Logik, Leipzig 1828, 



26 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung der Fiktionen. 

stellt diesem direkten Wege so ungeheure und für den Moment 
unübersteigliche Hindernisse entgegen, dass die logische Funktion 
den indirekten Weg einschlägt. Sie wendet einen Kunstgriff 
an; sie bildet eine künstliche Einteilung. Was heisst das? 
In unserer psychologischen Terminologie heisst das: sie sub- 
stituiert den noch unbekannten einzig richtigen Ge- 
bilden provisorisch solche, denen keine Wirklichkeit 
unmittelbar entspricht Mit diesen fiktiven Klassen rechnet 
sie zunächst, als ob es die wirklichen wären. Es ist hier nur 
noch auf die bekannte Tatsache hinzuweisen, dass die künstliche 
oder fiktive Klassifikation aus der ganzen Merkmalgruppe immer 
ein besonders hervorstechendes herauswählt, nach welchem sie 
die Einteilung vollzieht, ohne sich um die Determination zu 
kümmern, welche die Merkmale gegenseitig von einander er- 
fahren. Diese provisorischen Hilfseinteilungen haben nicht bloss 
den praktischen Zweck, eine Registrierung und Rubrizierung 
der Dinge zu ermöglichen, und zugleich eine Art mnemotech- 
' nischer Mitte! zu sein, sondern sie haben auch insofern einen 
theoretischen Wert, als säe heuristische Dienste leisten, und 
die Auffindung des natürlichen Systems vorbereiten und erleich- 
tern. Die künstlichen Systeme sind meist Konsequenzen jener 
Artbegriffe, welche^ selbst nur provisorisch die verwirrende 
Menge der Erscheinungen in eine oberflächliche Ordnung bringen. 
Spezielle Unterarten dieser künstlichen Einteilung sind jene heu- 
ristischen Methoden, welche auf Dichotomie u. s< w. beruhen. 
Diese künstlichen Klassifikationen haben auch eine in wesentlichen 
Stücken andere Theorie, als die natürlichen: d, h. die sich an 
sie anschliessenden und ihre Anwendung beherrschenden metho- 
dologischen Regeln sind selbstverständlich anderer Natur, als die- 
jenigen für die natürlichen Einteilungen. Diese Regeln beziehen sich 
besonders auf die Vermeidung der Fehler, welche not- 
wendig aus der künstlichen Einteilung entspringen; 
diese Fehler bestehen nicht nur darin, dass die wirkliche Gliederung 
der Dinge in jenes künstliche Fachwerk nicht eingeht und sich 
nicht mit ihm deckt, sondern auch darin, dass durch die künst- 
liche Einteilung unmögliche Glieder entstehen, welche in der 
Wirklichkeit gar nicht existieren können. 

Als Beispiele sind zu nennen u.a. das LinnS'sche System, 
sowie mehrere der späteren Pflanzen-, T|er- und Menschensysteme, 
welche mehr oder minder mit dem Bewusstsein ihrer Künst- 



I. Die künstliche Klassifikation. 



27 



lichkeit aufgestellt sind; besonders ist Lamarck rühmend hervor- 
zuheben, dessen in seiner „Philosophie zoologique" gegebene 
technische Regeln über die „künstlichen Hilfsmittel der Natur- 
mnssenschaften" eingehend dieses Thema behandeln, ferner Cuvier, 
Blumenbach, Kant und eine grosse Reihe von Forschern, 
welche diese künstliche Klassifikation entweder selbst anwandten 
oder ihre Theorie bearbeiteten. 

Diese künstliche Klassifikation ist fast die einzige der künst- 
lichen Hilfsmethoden des Denkens, welche sich einer eingehenden 
Bearbeitung von Seiten der Logiker zu erfreuen t hatte. Es war 
eben zu deutlich, dass man es hier nicht direkt und unmittelbar 
mit der Wirklichkeit zu tun hatte, sondern nur mit provi- 
sorischen und indirekten Vorstellungsgebilden und 
Denkformen. Die verschiedenen Momente, welche bei allen 
Fiktionen als Merkmale hervortreten, sind bei dieser Art schon 
sehr deutlich zu Tage gekommen; insbesondere, dass alle solche 
Fiktionen zuletzt auf Widersprüche führen, ist ein sehr be- 
herzigenswertes Merkmal, das später besonders hervorzuheben 
sein wird. 

Natürlich werden die unter die künstliche Einteilung fallenden 
Gegenstände dann auch demgemäss künstlich definiert, d. h. 
diese Definitionen sind der Ausdruck solcher künstlichen Vor- 
stellungsgebilde. 

Solange solche Fiktionen ohne das Bewusstsein, dass 
sie solche sind, aufgestellt werden, als Hypothesen, sind sie 
eben falsche Hypothesen; einen eigentlichen Wert erhalten 
sie erst durch das Bewusstsein, dass sie absichtlich vor- 
läufig gebildete Vorstellungsformen sind, welche einst 
einem besseren, natürlicheren Systeme Platz machen sollen. Die 
bewusste Abweichung von der Wirklichkeit soll die Er- 
reichung der letzteren vorbereiten. 



28 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung der Fiktionen. 



Kapitel IL 
Abstraktive (neglektive) Fiktionen.*) 

Mit dieser Bezeichnung fasse ich eine Reihe von Methoden 
zusammen, in denen die Abweichung von der Wirklichkeit 
sich spezifiziert als eine Vernachlässigung gewisser Elemente 
des Wirklichen (allgemein ausgedrückt). Bei der vorigen 
Gattung war es weniger eine Vernachlässigung gewisser Wirk- 
lichkeitselemente, als eine falsche Verwertung derselben, worin 
sich die Abweichung manifestierte. 

Das Gemeinsame aller der in dieser Klasse zusammen- 
gefassten Fiktionen ist, wie bemerkt, eine Vernachlässigung 
wichtiger Wirklichkeitselemente« Die abstrahierende 
Tätigkeit ist hier in anderer Weise wirksam, als bei der Bildung 
der Allgemeinbegriffe oder abstrakten Begriffe. Bei den Allgemein- 
begriffen werden in einer Menge gleichartiger (ähnlicher) Er- 
scheinungen die hemmenden Elemente vernachlässigt, so dass 
ein allgemeines Bild ihres gemeinsamen Typus entstehen kann. 
Hier dagegen, bei dieser Gattung handelt es sich um etwas 
Anderes. Meistenteils ist der Grund zu der Bildung dieser Fiktionen 
die allzu grosse Verflochtenheit der Tatsachen, welche der theo- 
retischen Bearbeitung in dieser ungemeinen Kompliziertheit zu 
grosse Schwierigkeiten entgegenstellt Hier können die logischen 
Funktionen ihr Geschäft nicht ungestört vollziehen, weil es noch 
nicht gelingt, alle Fäden auseinander zu halten, aus denen das 
Gewebe der Wirklichkeit besteht. Insofern auch bei der Einteilung 
der Wesen ganz ähnliche Schwierigkeiten vorhanden sind, wäre 
auch die künstliche Klassifikation hierher zu rechnen. Indessen 
ist diese doch berechtigt, eine eigene Art zu bilden, wie wir sie 
denn auch der jetzt beschriebenen als eine gleichberechtigte Klasse 
vorangeschickt haben. Man sieht aber gleich hier, dass die Aus- 
einanderhaltung der verschiedenen Gattungen mit Schwierigkeit 
verbunden ist, und dass es nicht bloss praktisch oft unmöglich 
ist, die Methoden unter diese oder jene Klasse zu subsumieren, 
sondern dass auch die theoretische Bestimmung nicht mit voll- 
ständig scharfer Abgrenzung geschehen kann. Es ist eben auch 
unsere Aufzählung eine künstliche Einteilung. 



*) Im MS. = § 23, (Zweite Hälfte,) 



II. Abstraktive Fiktionen. 



29 



Wenn also das Material zu kompliziert und verworren ist, 
um dem Denken zu gestatten, es allmählich bis auf seine ein- 
zelnen Fäden zu entwirren, wenn die gesuchten kausalen Faktoren 
vahrscheinlich komplizierterer Natur sind, als dass sie unmittel- 
bar zu bestimmen sind, so wendet das Denken den Kunstgriff 
m, vorläufig und einstweilen eine ganze Reihe von 
Merkmalen zu vernachlässigen und nur die wichtigsten 
Erscheinungen herauszugreifen. 1 ) 

EinStandardbeispielfür diesen Kunstgriff bildet die bekannte 
Annahme von Adam Smith, dass alle Handlungen der Menschen 
nar vom Egoismus diktiert werden. Wir werden für jede Gattung 
ein besonders typisches Beispiel aufstellen, um an diesem durch 
möglichst eingehende Analyse den Bau dieser Vorstellungsgebilde 
-nd die Methodologie dieser Kunstgriffe zu studieren. Für die 
künstliche Klassifikation ist das am meisten typische Beispiel für alle 
Jahrhunderte das Li nn^' sehe botanische System. Für die abstrak- 
te oder neglektive Fiktion ist es die Smith'sche Annahme. Man 
hat diese Annahme jahrelang für eine Hypothese gehalten.*) 

Adam Smith selbst wollte so wenig als Linne damit mehr 
als eine Fiktion geben. Den Nachweis, dass Smith mit jener An- 
aahme nur eine vorläufige Fiktion machte, hat in England zuerst 
Buckle geführt in der Einleitung zu seiner „Geschichte Englands*, 
in Deutschland hat besonders F. A. Lange diesen Gesichts- 
punkt betont, vgl. bes. „Geschichte des Materialismus* II, 453 ff. 

Die empirischen Erscheinungsweisen des menschlichen 
Handelns sind so ungemein verwickelt, dass sie der theoretischen 
Erfassung und Reduktion auf ihre kausalen Faktoren geradezu 
unübersteigliche Hindernisse entgegenstellen. Smith hatte nun 
mm Aufbau seines nationalökonomischen Systemes nötig, die 
Handlungen der Menschen kausal zu begreifen. Mit sicherem 
Takte griff er die Hauptursache heraus, nämlich den Egoismus, 
?nd formulierte seine Annahme so, dass alle menschlichen Hand- 

1) Solche Fiktionen s. bei Noire\ Grundlegung pag. 34; „Wagen wir die 
ühnste Abstraktion, abstrahieren wir von der Empfindung, nehmen wir die Welt 
Iis ein blosses System bewegter und bewegender Atome*. Über die erkenntnis- 
:beoretische Bedeutung der Abstraktion überhaupt s. Noird, tb. 53ä 
riemlich richtig), 60, 61, 64, 69. 

2) Wahrscheinlich ist auch Hobbes* bellum omnium contra omnes 
am als nützliche Fiktion zu betrachten. Auch Dühring fasst sie so auf. 
& Cursus pag. 203» er nennt sie gut „eine schematische Zuspitzung - vgl. 
»g. 208. 



30 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzahlung der Fiktionen, 

Jungen, vornehmlich diejenigen geschäftlicher und nationalökono- 
mischer Natur, so betrachtet werden können, als ob ihr treibendes 
Motiv einzig und allein der Egoismus wäre. Hier werden also 
alle anderen Nebenursachen und mitbedingenden Faktoren, wie 
z. B. Wohlwollen, Gewohnheit u, s. w. vernachlässigt. Mit 
Hilfe dieser abstrakten Ursache nun gelang es Smith, die ganze 
Nationalökonomie in ein geordnetes System zu bringen. Aus 
diesem axiomartig aufgestellten Satze entwickelte er deduktiv 
alle Verhältnisse des Handels und Verkehrs, welche sich mit 
systematischer Notwendigkeit daraus ergeben. Damit hängt die 
Annahme der „ Harmonie aller Sonderinteressen" enge zusammen, 
eine Annahme, die als Fiktion höchst wertvoll, als Hypothese 
oder Dogma geradezu verderblich ist. 1 ) 

Es sind dies aber nur provisorische Annahmen, welche, 
obwohl konsequent durchgeführt, sich dennoch sehr scharf von 
Hypothesen unterscheiden: denn sie sind oder sollen wenig- 
stens von dem Bewusstsein begleitet sein, dass ihnen 
die Wirklichkeit nicht entspricht, und dass sie absichtlich 
nur einen Bruchteil der Wirklichkeit an die Stelle der 
ganzen Fülle der Ursachen und Tatsachen setzen. 

Diese künstliche Methode wird überall da angewandt, wo 
solche verwickelten Verhältnisse stattfinden, also insbesondere in 
der Behandlung der nationalökonomischen Fragen, der sozialen 
Beziehungen, der moralischen Verhältnisse. 

Es gibt noch ein Gebiet, wo vermittels dieser Methode 
höchst fruchtbare Ergebnisse gewonnen werden, die theoretische 
Mechanik. 

Die mathematische Physik braucht zur Aufstellung der Gesetze der 
Statik und Mechanik statt wirklicher Wesen nur centra activitatU anzu- 
nehmen, die umgeben sind von einer sphaera activitatis. Vgl. Flügel, 
Probleme der Philos. 53» ib. 59. Über eine solche mechanische Fiktion 
vgl. Wundt, Die physikal. Axiome, pag. 123: .Über den Grund der 
Abstraktion von dem Zuschauer." 

In diesem Gebiet sind die Erscheinungen so verwickelt, dass 
häufig solche abstrakten Ursachen allein als kausale Faktoren 
angenommen werden, während man andere einstweilen vernach- 
lässigt Gerade in der Berechnung der mechanischen Verhältnisse 
der Körper werden zur leichteren Ausführung dieser Berechnungen 
Nebenursachen vernachlässigt, und die ganze mechanische Be- 



1) Auch dies hat Lange, a. a. O. II, 470 ff. sehr richtig betont. 



II. Abstraktive Fiktionen. 



31 



wegung u. s. w. betrachtet, als ob sie nur von jenen abstrakten 

Faktoren abhinge. 

Eine solche Fiktion ist, dass die Physik die Masse unzweifelhaft aus- 
gedehnter Körper, z. B. der Sonne und Erde, bei der Ableitung gewisser 
Grundbegriffe der Mechanik und der Berechnung der wechselseitigen An- 
ziehung jener Massen auf Punkte reduziert oder in Punkten (Schwer- 
punkten) konzentriert setzt, um durch diese Fiktion die Darstellung der 
zusammengesetzteren Erscheinungen zu erleichtern. Vgl. Czolbe, Exten- 
sionale Erkenntnistheorie, pag. 96. (Ebendasselbe gilt nach Czolbe in Bezug 
auf die Atome,) Solche Neglektionen werden besonders dann angewendet, 
wenn man einen sehr kleinen Faktor als Null annimmt (schon Baco, 
Nov. Org. II, 146; besonders merkwürdig ist die Stelle II, 36, wo gefragt 
wird, ob »gewisse Bewegungen des Himmels bloss ausgedacht seien, um 
die Rechnungen zu verbürgen und zu erleichtern*). 

Es gibt noch eine ganze Reihe anderer Gebiete, auf denen 
diese Methode mit mehr oder weniger Erfolg angewandt worden 
ist: z. B. gehören in diese Klasse alle jene an die Condillac'sche 
Fiktion 1 ) einer Statue sich anlehnenden Vorstellungsgebilde, wie 
sie auch neuerdings z. B. von Stein thal wieder zur Erleichterung 
der psychologischen Betrachtung angenommen werden. 2 ) 

Es ist gegen solche Fiktionen prinzipiell gar nichts einzu- 
wenden, umso weniger als sie methodologische Parallelen in anderen 
Wissenschaften haben; ihre Brauchbarkeit ist immer speziell erst 
festzustellen, und da isj schon hier die Bemerkung am Platze, 
dass diese Methoden natürlich wie alle anderen oft falsch und 
unpassend angewandi werden. 

Dies hat besonders Laas an mehreren Stellen der , Analogien der Er- 
fahrung* hervorgehoben: pag. 75, pag. 287, pag. 297 vgl. mit pag. 83, pag. 56. 
Eine solche träumerische Fiktion von höchst zweifelhaftem Werte macht u. a. 
auch W. Göring, in der Schrift: .Raum und Stoff" pag. 59. Es ist fest- 
zustellen, wie weit man mit solchen Fiktionen gehen darf, ohne ins Absurde 
zu geraten: so sehr man einerseits mit solchen abstrakten Fiktionen wirklich 
wissenschaftliche Resultate erreichen kann, so können sie doch andererseits 
auf die greulichsten Irrtümer und Absurditäten führen: man sieht, wie not- 
wendig hier eine normative Methodologie ist Die Berechtigung solcher 
Fiktionen ist prinzipiell nicht zu leugnen; aber je feiner solche Instrumente 
sind, desto gefährlicher ist es, unvorsichtig mit denselben zu operieren. Die 
bisherige Logik hat diese Methoden gänzlich vernachlässigt. 



1) Eine gute Analyse der Bonnet- Condillac'schen Fiktion s. in Engels 
Philosoph für die Welt, 21. Stück: sie diene zur SimpHfikation der Untersuchung. 

2) Cfr. das hypothetische Tier Lotzes bei Laas, a.a.O. pag. 83, 
ebenso bei Lotze die Fiktion des Menschen mit mikroskopischen Augen. 
Ähnliches schon bei Locke und Berkeley» 



32 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung der Fiktionen, 

Die psychologischen Verhältnisse speziell sind so verwickelt, 
dass gerade hier apriori solche Fiktionen, welche zunächst nur 
ein Moment zur Geltung bringen und andere vernachlässigen, um 
so die Berechnung praktischer anstellen zu können, wohl möglich 
und denkbar sind. Seit man in der Psychologie die Analogie 
der psychischen Phänomene mit mechanischen Vorgängen durch- 
geführt hat, hat diese Methode auch in der abstrakten Psycho- 
logie Platz gegriffen. Man könnte auch die Herbart sehen Ge- 
setze und sonstige Annahmen desselben als Fiktionen von 
praktischem Werte nachweisen, anstatt sie als Hypothesen wie 
bisher anzusehen. 

Den ersten Versuch» die Herbart'schen Formeln als vorläufige, abstrakte 
Fiktionen zu behandeln, hat Lange gemacht, besonders in der Monographie 
über die »Grundlegung der mathematischen Psychologie*. Vgl. hierzu noch 
Wundt's treffliche Bemerkungen in der Physiolog. Psychologie (1. Aufl.), 
pag. 7. Falsch ist hier nur der Gebrauch des Wortes hypothetisch statt 
fiktiv. In der erwähnten Broschüre Lange's vgl. bes. pag. 6 „Fiktion einer 
völligen Unterdrückung aller Tätigkeiten bis auf Eine" ib. 8-9 .Fiktion 
der ausschliesslichen Belastung der schwächeren Vorstellung - , 10, 11, 18, 2L 
Auch Lange vermischt jedoch Hypothese mit Fiktion; so bes. pag. 30. 

Neuerdings hat sich auch Steinthal mit dieser Methode 
versucht und theoretische Formeln aufgestellt, welche nur durch 
Vernachlässigung vieler empirischer Faktoren gewonnen sind. 

Dies hat speziell Glogau in der Schrift: „Steinthals psychologische 
Formeln* zugegeben, dass diese Formeln meist nur durch Vernachlässigung 
empirischer Faktoren auf den möglichst einfachen Ausdruck gebracht sind. 
Vgl. Lange's Beiträge pag. 50: „Ich erkläre Herbarts System der Psycho- 
logie für Metaphysik, mit allen Konsequenzen meiner Ansichten über Meta- 
physik. Trotzdem bin ich der Ansicht, dass eine streng empirische Psycho- 
logie nicht darunter leidet, wenn in derselben gewisse Kombinationen der 
Herbaif sehen Einbildungskraft, z.B. die Lehre von den Vorstellungen 
als Kräften und meinetwegen auch selbst die ausdehnungslose Seele als 
Anhaltspunkte der Forschung benutzt werden, solange eben nur die 
Methode der Forschung eine streng empirische bleibt, was freilich aus der 
ganzen Herbaif sehen Schule noch niemand geleistet hat." 

Dagegen ist apriori nichts einzuwenden; im Gegenteil, es 
ist höchst wahrscheinlich, dass auf diesem Wege etwas Erhebliches 
gewonnen werden kann. Es bewegt sich ja auch die abstrakte 
Mechanik in lauter solchen Formeln, welche nur durch Ver- 
nachlässigung vieler empirischer Data gewonnen sind und die 
Vorgänge immer so betrachten, als ob sie nur von jenen einfach 
formulierten Gesetzen abhingen. Es ist klar, wie nahe indessen 
diese Fiktionen mit blossen Proben und Versuchen zusammen- 



II. Abstraktive Fiktionen. 



33 



kommen, d. h. mit solchen Versuchen, wobei wie in der Be- 
rechnung mathematischer Aufgaben zunächst ganz beliebige Werte 
angenommen und allmählich „durchprobiert" werden. 

Überall wo verwickelte Umstände vorhanden sind, welche 
die Darstellung und Berechnung erschweren, tut diese kunstreiche 
Methode die besten Dienste. Leider macht sich aber schon hier 
die in der Geschichte der Wissenschaft oft unheilvolle Verwechslung 
solcher Fiktionen mit Hypothesen, welche mehr oder weniger 
auf Wirklichkeit Anspruch machen, in störender Weise geltend 
sowohl bei denen, welche solche Vorstellungsgebilde zuerst for- 
mieren, als bei denen, welche sie dann weiter verbreiten. 

Oft ist es aber auch wirklich noch streitig, ob eine solche 
Annahme Hypothese oder Fiktion sei; allein hier macht sich oft 
der wissenschaftliche Unverstand sehr unangenehm bemerkbar, 
indem meist aus der Unrichtigkeit solcher Vorstellungsgebilde 
auf ihre Unbrauchbarkeit geschlossen wird. Dieser Schluss 
ist aber gerade so falsch, wie der umgekehrte aus der 
Brauchbarkeit auf die Richtigkeit Eine Einsicht in den 
psychologischen Zusammenhang und Ursprung alles Erkennens 
zeigt, dass vieles theoretisch unrichtig sein kann und doch 
praktisch fruchtbar, wobei praktisch im weiteren Sinn ge- 
nommen ist. 

Zu bemerken ist noch, dass zu weit getriebene Abstraktion auf Begriffe 
führen kann, welche nicht mehr wert sind, als ,das Messer ohne Klinge, . 
dessen Heft abgebrochen ist*. Eine solche wertlose Fiktion ist 2. B. 
der Begriff einer Substanz ohne Beharrlichkeit in der Zeit Vgl Laas, a.a.O. 
pag. 28: „Aber Substanz ohne Beharrlichkeit in der Zeit, ein <Subjekt 
an sich», ist allerdings ein völlig leerer Begriff *, sowie die auf der- 
selben Seite aus Kants Kr.d.r.V. (Ed. Ros.u. Schub, pag. 201) angeführte Stelle. 

Dasselbe gilt jedoch nicht vom Ich. Das abstrakte, denkend vom 
Wechsel und Fluss aller Dinge losgemachte Ich ist eine unentbehrliche 
Fiktion für den Aufbau des menschlichen Innenlebens, aber welche Ge- 
fahren in dieser Abstraktion Hegen, darüber s. Laas, a.a.O. 76. (Ferner 
ib. pag. 79 über die unermessliche Erweiterungsfähigkeit des 
abstrakten Bewusstseins.) 
Ein solch streitiger Punkt war die Frage, ob es ursprünglich 
wirklich Sprach wurzeln gegeben habe, ob die Menschen seiner 
Zeit eine Periode des Sprechens gehabt haben, wo nur Wurzeln 
existierten, oder ob diese flexionslosen Wurzeln nur Anhaltspunkte 
für die grammatische Rechnung seien. Dieser zwischen Curtius 
und Pott zum Ausbruch gekommene Streit ist ein lehrreiches 
Thema zur Anknüpfung methodologischer Regeln für diese Art 

3 



34 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung der Fiktionen. 



von Methoden. Ähnlich ist es mit der Annahme eines vor- 
sprachlichen Zustandes des Menschen; nach den Einen ist 
dies eine berechtigte Hypothese, nach Anderen, z. B. Steinthal 
und J. B. Meyer, 1 ) ist dies eine blosse Fiktion, um die psycho- 
logische Untersuchung der Menschen zu erleichtern, da die Ver- 
hältnisse hierbei ungemein verwickelter Natur sind. 

Die Produktion solcher Fiktionen ist in letzter Zeit sehr 
stark übertrieben worden. Indessen sind doch auch brauchbare 
Vorstellungsgebilde darunter. Hierher gehört z. B. die Fiktion 
eines einzelnen Menschenindividuums, um so besser lernen 
zu können, wie der Mensch sich sprachlich oder psychologisch 
entwickelt. Auch hier wird ein notwendiges Element neglägiert, die 
Gemeinschaft mit anderen Menschen. Hier sind gleichzeitig wirk- 
same Ursachen als zeitlich nacheinander wirkend gedacht, 
um so durch Isolierung des Einzelnen ihre Wirkungsweise besser 
beobachten zu können. Diese Art von Behandlung des wissen- 
schaftlichen Materials dient, wie bemerkt, bald rein theoretischen, 
bald mehr oder minder praktischen Zwecken. 

Die ideale Isolierung und Spaltung des Gegebenen, die diskursive 
Trennung desselben in verschiedene Seiten, ist einer der am meisten 
angewandten Kunstgriffe des Denkens. 

Eine au! einer abstraktiven Isolierung beruhende Fiktion ist der 
n ideale Fall, den das Galileische Trägheitsaxiom voraussetzt, und der 
doch an keiner einzigen materiellen Einheit, an keinem System von solchen 
in reiner Isolierung stattfindet oder gar in dieser seiner Charaktereigentum- 
lichkeit sich bemerklich macht*. Cfr Laas, a. a. O. pag. 72. An diesem Bei- 
spiel bemerkt man recht klar, wie durch eine solche Fiktion allgemeine 
Gesetze begründet werden können. Übrigens ist das auf die Fiktion 
gegründete Gesetz neuerdings mehrfach bestritten worden. Der GaHlei'sche 
Satz, dass ein in Bewegung gesetzter Körper die ihm erteilte Bewegung 
ungeschwächt bis ins Unendliche fortsetzen würde, trägt schon durch den 
darin verwerteten Begriff des Unendlichen das Symptom einer Fiktion an sich. 
In prinzipieller Verwandtschaft stehen damit auch die 
Durch schnittsfiktionen, d. h. solche Fiktionen, wo aus einer 
Menge graduell verschiedener Erscheinungen das Mittel dieser 
abweichenden Grade genommen wird und als Rechnungs- 
ansatz dient Diese Mittel zahl ist eine fingierte Zahl, mit 
welcher nur gerechnet wird. Besonders in der angewandten 



1) s. Philosophische Zeitfragen, 2. Aufl., S. 165; dieser Punkt zeigt deut- 
lich, nicht nur, wie solche Vorstellungsgeb ilde zwischen Fiktion und Hypo- 
these schwanken, sondern auch, wie leicht eine Fiktion in eine Hypothese 
verwandelt und als solche aufgefasst wird. 



II. Abstraktive Fiktionen. 



35 



Mathematik (u, a, auch in der Statistik, sowie in der Meteorologie 
n. s. w.) sind diese Methoden sehr üblich. Auch hier werden 
kleine Unterschiede der Wirklichkeit negligiert. Diese Abarten 
und Spielarten haben jedoch für uns geringeres Interesse. Streng 
durchgeführt, führen sie auf Widersprüche mit der 
Wirklichkeit. Verwechslung solcher Annahmen und Produkte, 
welche aus diesen Methoden hervorgehen, mit Hypothesen ist 
auch bei dieser Abart nicht selten, jedoch nicht so häufig, wie 
bei den oben genannten abstraktiven Fiktionen. 

Eine berühmte Fiktion der Statistik ist der hotnme moyen von Que"telet, 
d.h. die Fiktion eines normalen Durchschnittsmenschen. Diese 
Fiktion ist aber nicht bloss in der Statistik von Wert: auch die Medizin 
fingiert z, B. den Begriff eines absolut gesunden Menschen, eines 
Durchschnittsmenschen, bei dem alle abnormen Abweichungen aufgehoben 
sind. Vgl. St. Jevons, Princ. of Science I, 415 über Fictitious means. Vgl. 
Knapp, Neuere Ansichten über Moraistatistik, Jena 1671. Schmoller, 
Resultate der Bevölkerungs- und Moralstatistik, Berlin 1871. An dieser 
Stelle sind wohl auch alle diejenigen willkürlichen Bestimmungen in den 
Wissenschaften einzureihen, wo, wie z. B. im Meridian von Ferro, 
oder z. B. in der Bestimmung des Nullgrades oder in der Auswahl des 
Wassers als Massstab des spezifischen Gewichts oder der Himmels- 
bewegungen als Index der Zeit, gewisse Anhaltspunkte willkürlich 
fixiert werden, von denen aus nach verschiedenen Seiten hin gleichsam 
Koordinaten gezogen werden zur Bestimmung und Einreihung der Er- 
scheinungen. Cfr. Laas, a. a. O. pag. 79. 

Laas hat a. a. O. pag. 78 den interessanten Gedanken angeregt, dass 
die Zeit Vorstellung durch einen Durchschnitt der Vorstellungsfolgen 
entstehe, wodurch sich der als Massstab brauchbare Begriff absoluter 
Gleichmässigkeit gebildet habe. — Über Chemische Mittelwerte von 
Clausius, s. Lothar Meyer, Moderne Theorien der Chemie (3.A. 1876) S. 34/37 
Durchschnittsfiktionen spielen auch im Handel und Verkehr eine ähn- 
lich bedeutende Rolle, wie die juristischen Fiktionen in der Rechtspraxis. 

Noch ist zu bemerken, dass das ganze begriffliche klassiiikatorische 
System, die> Unterscheidung der Begriffe überhaupt auf Abstraktionen ein- 
seitigster Art beruht, wie Lotze in seiner Logik sehr klar ausführt. Vgl 
Pfleiderer, Der moderne Pessimismus, pag. 81: „Licht und Finsternis, 
Schwarz und Weiss, Leben und Tod sind lauter Kunstprodukte 
denkender Abstraktion: notwendig in dieser ihrer Inkorrektheit als blosser 
Anhalt, aber in der Anwendung aufs Wirkliche stets mit bedachter Vor- 
sicht zu brauchen. 11 

Als Abarten der bisher geschilderten Klasse sind nun noch 
einige Methoden aufzuzählen: so die Approximationsmethode, 
wo zuerst eine abstrakte Lösung für ein Problem aufgestellt wird 
mid dann diese Lösung (ein Begriff, eine Zahl etc.) durch 
Durchprobieren und Experimentieren allmählich der Wirklichkeit 

3* 



36 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung der Fiktionen. 

immer mehr akkomodiert wird. Diese Methode ist bes. in den 
mathematischen Wissenschaften üblich, wo die Kompliziertheit 
der Aufgabe eine andere Behandlung nicht zulässt. Prinzipiell 
sind die Versuchsmethoden oder tentativen Fiktionen von 
den neglektiven nicht verschieden. Die Sok ratisch-Platonische 
Methode, Definitionen zu suchen, indem zuerst eine beliebige 
vorläufig fingiert wird, und dann diese der Wirklichkeit allmählich 
angenähert wird, ist damit prinzipiell identisch» 



Kapitel III 

Schematische, paradigmatische, utopische und typische 

Fiktionen.*) 

Schematische Fiktionen. Diese Gattung spielte schon 
in die beiden vorhergehenden herein: sowohl in der Klassifikation 
als bei den abstraktiven Fiktionen werden Schemata, 1 ) allgemeine 
Typen aufgestellt, welche nackt und von den vielen, die Berechnung 
hemmenden Merkmalen der Wirklichkeit entkleidet sind. Indessen 
bilden sie doch mit Recht hier eine eigene Gattung. Während 
bei den abstraktiven Fiktionen ein gewisser Teil der Wirklich- 
keit gleichsam weggeschnitten und auf die Seite gelegt wird, und 
nur der Übrig bleibende berücksichtigt wird, wird bei den sche- 
matischen Fiktionen ein Gerüste, so zu sagen das Knochengerüste 
eines bestimmten Komplexes herausgestellt, und an diesem nackten, 
der vollen Wirklichkeit entkleideten Bilde wird dann die Denk- 
rechnung vollzogen. Die Verschiebung der Wirklichkeit ist aber 
hier schon weiter vorgeschritten als in den vorhergehenden 
Gattungen. Auch hier wird ein abstrakt-subjektives Vorstellungs- 
gebilde formiert, um an ihm, statt an der viel verwickelteren 
Wirklichkeit, die theoretische Berechnung anzustellen. Man studiert 
hier die Gesetze der Wirklichkeit gewissermassen an einfacheren 

*) Im MS. = §2l (Erste Hälfte.) 

1) Einen anderen Sinn hat Schema in der Schlei er macherschen Dia- 
lektik: Gott und Welt seien nur unausgef üllte Gedanken, blosse Schemata 
(vgl. Strauss, Alter und neuer Glaube 122). Sodann ist nicht damit zu ver- 
wechseln der Kantische Begriff eines Schema. Kant versteht darunter teils 
das, was wir illustrative Fiktion nennen (pag. 39 Anm. 3), teils die 
schematische AUgemeinvorstellung, teils analogische Fiktionen. 



III. Schematische, paradigmatische, utopische und typische Fiktionen. 37 

Modellen, welche zwar das Wesentliche des Wirklichen enthalten, 
aber in einer viel einfacheren und reineren Form. Schon die 
schematischen Zeichnungen in vielen Wissenschaften geben 
eine Idee von dieser Methode, welche in manchen Wissenschaften 
eine ausgebreitete Anwendung findet. 

Die schematischen Zeichnungen werden besonders häufig an- 
gewandt in der Geologie sowie in der Mechanik, auch in der Physio- 
logie („ideale" Darstellungen werden sie meist unpassend genannt, be- 
sonders in der Geologie). Über den Begriff, die Berechtigung und An- 
wendung der schematischen Zeichnungen ist ein grosser Streit entbrannt 
zwischen Haeckel, His, Semper u. A. Vgl Semper, Offener Brief an 
E. Haeckel, Hamburg 1877. S. Haeckel, Ziele und Wege der heutigen 
Entwicklungsgeschichte, Jena 1875. Vgl. v. Baers schematische Zeich- 
nungen; „sie sind erfunden, weichen ab von der Wirklichkeit und ent- 
stellen die Tatsachen," sagt Haeckel selbst. 
Man kann diese Formen auch die Fiktion der einfachen 
Fälle 1 ) nennen. Das typische Beispiel für diese Gattung ist die 
sogenannte Thünensche Idee, eine nationalökonomische Fiktion, 
deren Aufstellung im Anfang des XIX. Jahrhunderts durch Thünen 
eine Reform der Nationalökonomie herbeigeführt hat. Diese Idee 
ist auch das historisch berühmteste Beispiel dieses methodologischen 
Hilfsmittels. Die Idee besteht darin, dass, um die landwirtschaft- 
lichen Verkehrsverhältnisse u. s. w. besser berechnen zu können, 
eine Stadt fingiert wird, um welche sich in konzentrischen Zonen 
die verschiedenen Sphären lagern, aus denen die zur Erhaltung 
der Stadt notwendigen Befriedigungsmittel gezogen werden. Mit Hilfe 
dieses genialen Kunstgriffes werden nun alle landwirtschaftlich- 
nationalökonomischen Gesetze systematisch abgeleitet. Diese Art 
von Fiktionen sind gerade in der Nationalökonomie sehr verbreitet. 
Die schematische Fiktion eines isolierten Menschen, einer 
isolierten Stadt (oder Insel), eines isolierten Staates u. s, w. 
gehören hierher. Ferner werden ähnliche Schemata auch sonst 
zur Berechnung und Ableitung theoretischer Gesetze in den 
sozialen Wissenschaften überhaupt angewandt. Besonders D ü h ri n g 
hat sich mit grossem Glücke dieser Methode in seinen national- 
ökonomischen Schriften 2 ) bedient, indem durch Fiktion solcher 

1) Vgl. auch Noire\ Grundlegung, pag. 22: Fiktion des einfachen 
Falles eines bewussten Atoms. 

2) Auch zur Feststellung moralischer Grundverhältnisse hat Dühring ein 
Schema der zwei Personen aufgestellt Vgl. Cursus 202 ff. ; Dühring 
tiält auch die Vertragsfiktion teilweise aufrecht; ib. 254 Reduktion des 
politischen Rechts auf dasselbe Schema. 



38 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzahlung der Fiktionen. 

Schemata der denkbar einfachsten Fälle die sozialen Grundgesetze 
auf ganz einfache Weise deduktiv abgeleitet werden. 

Nahe verwandt mit diesen Formen sind die paradig- 
matischen Fiktionen oder fingierten Fälle. Besonders in 
der Beweisführung werden Fälle fingiert, an denen das zu Be- 
weisende als vorhanden nachgewiesen wird. 

Diese Methode der fingierten Fälle ist eine in allen Wissen- 
schaften beliebte ; so z. B. hat sich Locke III, 6, 44 dieser Methode 
bedient, um die Entstehung von Substanznamen begreiflich zu 
machen. Eine besonders häufige, hierher gehörige Gattung sind 
die rhetorischen Fiktionen, wo eben auch zur Beweisführung 
Fälle fingiert werden. In der historischen Übersicht werden wir 
finden, dass dies die einzige den Griechen bewusste Gattung 
von Fiktionen war; freilich gehören sie nicht der strengen 
Wissenschaft an. 

Als eine weitere Gattung, welche aber auch als eine be- 
sondere Abart der schematischen Fiktionen behandelt werden 
könnte, lassen sich die utopischen Fiktionen betrachten. Der 
Name, den ich dieser Gattung gebe, rührt her von den besonders 
in früheren Jahrhunderten so beliebten Utopien oder Fiktionen, 
wie sie z. B, Morus und Campanella aufstellten. Insofern 
diese Fiktionen mehr als ideale Bilder aufgestellt wurden, denn 
zur rein wissenschaftlichen Belehrung, haben sie weniger theo- 
retischen Wert. Auch das Platonische Staatsideal ist hier 
als das historisch erste Beispiel dieser Methode zu nennen. 
Ebenso gehört hierher die besonders im 18. Jahrhundert beliebte, 
noch bei Fichte wichtige Fiktion eines Urstaates. Mehrere 
solcher mit Ur- gebildeten Begriffe gehören in dieses Gebiet 
oder wenigstens in die Fiktionen: im Folgenden begegnet uns die 
Idee der Urformen, z, B. der Pflanze als eine solche Fiktion. 

Ferner gehört hierher die Idee eines Urgeistes oder Welt- 
geistes, wie sie z. B. Dubois-Reymond in seinem bekannten 
Vortrag 1 ) zur Verdeutlichung und theoretischen Ableitung einer 
streng wissenschaftlichen Gedankenreihe mit grossem Glück an- 
wandte. Ferner ist die Platonische Idee eines (hermaphroditischen) 
Urmenschen hier zu erwähnen, endlich die Fiktion von Ur- 
rechten, Urreligionen, eines Urvertrages, der Urtradition, 
und eine ganze Reihe ähnlicher Gedanken, welche mehr oder minder 



1) Über die Grenzen des Naturerkennens. Leipzig 1872. 



IV. Symbolische Fiktionen. 



39 



von Wert sind oder waren. Freilich war gerade hier die wissen- 
schaftliche Phantasie oft in zügelloser Weise tätig. Solange aber 
solche Fiktionen eben nur als das gelten, was sie sind, und nicht 
für Hypothesen ausgegeben werden, können sie der Wissenschaft 
oft wirklich erhebliche Dienste leisten. 

Als eine weitere, mit der bisherigen eng zusammenhängende 
Art zähle ich die typische Fiktion oder die fingierte Urform 
auf. Hier wird aus einer Reihe von Wesen ein Artbild, ein 
Typus gebildet, aus dem nun nicht nur die Gesetze der einzelnen 
Wesen allgemein abgeleitet werden, sondern auch die Fülle dieser 
selbst als Modifikationen begriffen wird. Bei dieser Gattung beson- 
ders spielen Fiktion und Hypothese oft wunderlich in einander. 
Das klassische Beispiel hierfür ist für uns die Idee Goethes von 
der Urpflanze und dem Urtier. 1 ) Diese Frage hat neuerdings 
besonderes Interesse gewonnen durch den Darwinismus. Es fragt 
sich erstens, wie Goethe die Idee der „Urpflanze" gemeint hat, 
ob als Fiktion oder als Hypothese, zweitens, ob denn nun 
nach dem heutigen Stand der Wissenschaft die historische 
Existenz einer solchen Urpflanze anzunehmen sei, und ob sogar 
die bloss fiktive Aufstellung einer solchen Urform noch 
wissenschaftlich zweckdienlich sei. Charakteristisch und für die 
Theorie dieser Fiktion nicht ohne Bedeutung ist die bekannte 
Schiller sehe Äusserung hierüber: „diese Urpflanze ist nur eine 
Idee", womit er eben in Kantischer Terminologie sagte, sie sei 
eine ideale oder typische Fiktion. 



Kapitel IV. 
Symbolische (analogische) Fiktionen,*) 

Eine weitere, für die Wissenschaft höchst wichtige Gattung 
nenne ich tropische Fiktionen; man kann sie auch symbolische 
oder analogische nennen, Sie sind nahe verwandt mit den 
poetischen Gleichnissen, sowie mit dem Mythus, 8 ) Bei diesen 

1) Eine eigentümliche Wendung des Begriffs des Urtiers findet sieb 
bei Schopenhauer (im Anschluss an Goethe und Lamarck). 

*) Im MS. § U (Ziveite Hälfte). 

2) Als eine spezielle Abart können die illustrativen Fiktionen betrachtet 
werden, sinnliche Bilder, um abstrakte Begriffe zu verallgemeinern, so z. B, 



40 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung der Fiktionen. 



ist der Mechanismus des Denkens folgender: Eine neue An- 
schauung wird apperzipiert von einem Vorstellungsgebilde, in 
dem ein ähnliches Verhältnis, eine analoge Proportion ob- 
waltet, wie in der beobachteten Wahrnehmungsreihe. In solchen 
Fällen bilden (sagt Steinthal pag. 261) Verhältnisse die apper- 
zipierende Macht Dies ist auch zugleich der formale Ursprung 
der Poesie. 

Besonders beliebt sind diese Arten Fiktionen in der wissen- 
schaftlichen Theologie. An der Spitze dieser Methode steht 
die S chl ei erm ach ersehe Anwendung derselben. 1 ) Bei der 
ungeheueren Wichtigkeit dieser Methode für die theologische 
Wissenschaft werden wir auf diesen Fall ganz besonders ein- 
gehen müssen. 

Ähnliche Tendenzen finden sich auch schon bei Fichte und Hegel. Inter- 
essant ist Fichtes Äusserung (Wesen des Gelehrten, 1, Vorl.): Wenn wir 
sagen: das Leben des Absoluten, so ist dies nur eine Weise zu 
reden fefr. Leibniz' „modus dicendi"], indem in der Wahrheit das Abso- 
lute das Leben ist. Ibidem 2. Vorl.: „Man denkt sich, nach der Analogie 
mit unserem Verstände» Gott als denkend, das sittliche Leben des Menschen 
als einzigen Zweck, um dessentwillen er sich dargestellt habe; keineswegs 
als ob es an sich also sei, und Gott, so wie das Endliche denke, und das 
Dasein vom Bilde des Daseins in ihm unterschieden werde, sondern 
lediglich, weil wir das Verhältnis auf keine andere Weise fassen können." 
(Das »als ob« gehört hier nicht der Fiktion an, sondern schliesst in 
Verbindung mit „nicht" einen Irrtum aus.) Ib. 5. Vorlesung: „Welches 
ist das Wesen des Gelehrten, als eine philosophische Frage, bedeutet 
Folgendes: wie müsste Gott das Wesen des Gelehrten denken, falls er 
dächte; denn die philosophische Ansicht erfasst die Dinge, so wie sie an 
sich sind, d. h. in der Welt des reinen Gedankens, welcher Welt Urprinzip 
Gott ist; demnächst also, wie Gott sie denken müsste, falls ihm 
ein Denken beizulegen wäre." 

Ähnliche (ziemlich wertlose) Fiktionen schon im Altertum; so sagt 
Proklus, Gott sei ävaivtmi aiTior, was nicht etwa heisst, er sei Ursache 
ohne selbst wieder verursacht zu sein, sondern er sei «in nicht ursäch- 
licher Weise Ursache", wie Göring, Über den Begriff der Ursache 
in der griech. Philosophie, pag. 48 richtig interpretiert. Diese und ähn- 
liche Fiktionen sind natürlich wertvoll höchstens für die Religionsphilo- 
sophie. Die allgemeine Wissenschaft hat keinen Nutzen von solchen 
Spielereien des Begriffs (wie auch die unten aufzuführenden praktischen 
Fiktionen teilweise sehr wertloser Natur sind). 

Lockes Hilfsvorstellung des leeren, weissen Blattes (vgl. Riehl, Der Kritizis- 
mus I, pag. 23); so Pia tos Mythen als ein ganzes Gewebe solcher Bilder, 
worüber unten noch Näheres zu sagen ist. 

1) Kritik dieser symbolischen Fiktionen bei Strauss, Alter 
und neuer Glaube I. 



IV. Symbolische Fiktionen. 



41 



Übrigens nahm schon Sokrateszu den Volksmythen der Religion eine 
ähnliche Stellung ein wie Schleiermacher zu den Dogmen des Christen* 
rums. Vgl. besonders hierüber Mendelssohns Phadon, Vorrede z. B. 
über die Frage, ob nicht Sokrates* Daimonion nur eine bewusste 
Fiktion gewesen sei? 
Das Eigentümliche hierbei ist, dass Schleiermacher und mit 
ihm seine Schule die meisten Dogmen als solche analogischen 
Fiktionen ansehen, welche eben nur provisorische Hilfsgebilde 
sein sollen, weil das eigentliche metaphysische Verhältnis uns 
unfassbar bleibt So wird also z. B. das Verhältnis Gottes zur 
Welt, das für den Philosophen Schleiermacher vollständig un- 
erkennbar ist, von dem Theologen Schleiermacher nach der 
Analogie des Vaters zu seinem Kinde aufgefasst u. s. w. Es ist 
dies keine rationalistische Umdeutung der Dogmen, sondern eine 
feine erkenntnistheoretische Wendung, ein Kunstgriff, 
durch den Schleiermacher Tausende dem Christentum erhalten 
hat. „Gott* ist nicht „ Vater* der Menschen, aber er ist so zu 
betrachten und zu behandeln, als ob er es wäre; diese Wendung 
öat dann wieder ungeheuere Wichtigkeit für die religiöse Praxis 
und den Kult. Durch diese Wendung werden dann durch 
Schieiermacher ähnlich alle Dogmen aus Hypothesen in 
Fiktionen verwandelt Wie nahe indessen diese analogischen 
Fiktionen den Mythen stehen, wurde schon oben ausgedrückt 
Durch diese Betrachtungsweise wird die Schleiermachersche 
Religionsphilosophie methodologisch richtig gefasst Schleier- 
macher selbst war sich dieser seiner künstlichen und kunstreichen 
Methode wohl bewusst, ohne dass er sie jedoch gerade so be- 
zeichnete, wie wir es hier tun. Wie nahe diese Wendung mit der 
von Schleiermacher fleissig studierten K an tischen Philosophie 1 ) 
zusammenhängt, liegt, obwohl es noch nie deutlich hervor- 
gehoben worden ist, auf der Hand, wie überhaupt die Kantische 
Philosophie auch in der Folge für unser Thema ein hochbedeut- 
sames Interesse gewinnen wird. Auf eine ähnliche (aber nicht 
auf dieselbe) Weise wollte Lange auf seinem „Standpunkt des 
Ideals" die religiösen Dogmen gerettet wissen. 

Diese analogische Methode ist wie in der Theologie so in 
der Metaphysik heimisch. Die Kategorien sind solche er- 

1) Ober das Kantische Als ob (bes. Proleg. § 57/58) vgl. Laas, Kants 
Analogien, pag. 18 ff. Diese Kantische Analogie fallt nicht unter den Begriff 
realer Analogie, sondern fiktiver (vgl Steinthal, Einleitung in d. Psycho- 
logie, pag. 262). 



42 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung der Fiktionen. 

kenntnistheoretischen Analogien. Die Kategorien sind nur 
analogische Fiktionen; so werden sie eingereiht in die methodo- 
logische Einteilung und finden hier ihren systematischen Ort. 
Nach Analogie menschlicher, subjektiver Verhältnisse wird das 
Wirkliche gedacht, und muss es gedacht werden. Alle Erkenntnis 
kann, wenn sie nicht bloss tatsächliche Succession und Koexistenz 
feststellt, nur analogisch sein. 

Ganz gut sagt darum Grün, a. a. O. 368, Metaphysik ist Metabolik, 
Hyperbolik, Metaphorik. Die dortigen Bemerkungen Grüns sind im 
Allgemeinen richtig; was er aber Metaphern heisst, sind meistenteils 
unentbehrliche Fiktionen 

Besonders die Substanz ist eine solche Fiktion, deren Wesen Fichte 
recht naiv enthüllt, wenn er sagt (Wesen d. Gelehrten 6. Vorl.): »Man müsse 
dem in unaufhaltbarem Zeitfluss hinfliessenden Veränderlichen ein 
Dauerndes und Unveränderliches zum Träger geben* — was ist das für em 
„Müssen"? Ein hypothetisch-reales oder nur ein fiktiv-logisches? 

Hier zeigen sich die Grundlinien dessen, was man eine 
Theorie des Begreifens, eine Komprehensionaltheorie nennen 
kann. Alles Erkennen ist Apperzipieren durch ein Anderes. Es 
handelt sich also stets um eine Analogie beim Begreifen. Es ist 
auch gar nicht abzusehen, wie denn überhaupt das Sein anders 
als so begriffen werden sollte. Wer den Mechanismus des Denkens 
kennt, weiss, dass alles Begreifen und Erkennen auf analogischen 
Apperzeptionen beruht. Die einzigen Vorstellungsgebilde, mit 
denen die gegebenen Dinge apperzipiert werden können, sind 
entweder die entsprechenden Allgemeinbegriffe oder auch andre 
konkrete Dinge. Da diese aber lediglich selbst wieder unbegreiflich 
sind, so wird mit all diesen Analogien nur ein Scheinbegreifen er- 
zeugt. Aus dem Mechanismus des Denkens, wie ihn besonders 
Steinthal aufgedeckt hat, folgt eben mit absoluter Sicherheit das- 
selbe, was Kant erkenntnistheoretisch mühselig nachwies, dass ein 
Begreifen der Welt absolut unmöglch sei, nicht weil unser Denken 
zu eng bemessen ist — dies ist eine dogmatisch- schiefe Wendung 
— sondern weil eben alles Begreifen immer nur in Kategorien 
erfolgt, welche eben in letzter Linie nur analogische Apperzeptionen 
sind. Durch diesen wichtigen Beweis der Unerkennbarkeit und 
Unbegreiflichkeit der Welt — aus welchem als Corollarien noch 
eine Reihe anderer wichtiger Sätze folgen — wird dem Be- 
greifen seine Richtung klar vorgezeichnet und allem dogmatischen 
Grübeln ein Ende gemacht. Wir gewinnen auf einem ganz 
anderen Wege das Resultat der Kantischen Philosophie, dass 



IV. Symbolische Fiktionen. 



43 



die Kategorien nicht zum Erfassen der Wirklichkeit tauglich sind, 
dass sie als analogische Fiktionen keine wahre Erkenntnis gewähren 
können. 

Die Erkenntnis, dass die Kategorien nur analogische Fiktionen 
seien, ist durch Locke, Leibniz, Kant u.a. vorbereitet 

Zu bemerken ist insbesondere, dass auch die besonderen, 
im XVIII. Jahrhundert der Logik angehängten Erörterungen über 
symbolische Erkenntnis (ein von Leibniz eingeführter Aus- 
druck) eng mit dem Gesagten zusammenhängen. 

Vgl. hierzu Stadler, „Symbolische Verwertung des Substanzbegriffs" 
in den „Grundsätzen etc.* § 152, Vgl Laas a. a. O. pag. 25 (Nota 36). 
»Symbolisch gedachte inhärenz". Symbolisch ist ein Spezialfall des 
Fiktiven. 

Besonders sind hier Maimons Erörterungen lobend zu er- 
wähnen; alle diese oft sehr scharfsinnigen Erörterungen des 
XVIII. Jahrhunderts sind vergessen worden im Taumel der ab- 
soluten dogmatischen Philosophie. Maimon insbesondere fasst 
das ganze Ergebnis der Kantischen Philosophie ganz richtig 
dahin zusammen, dass nur symbolische Erkenntnis möglich sei. 

Unter denjenigen, welche die symbolische Erkenntnis zum 
Gegenstand der Untersuchung machten, ist Lambert zu nennen; unter den 
unmittelbaren Vorgängern Kants ist dieser der scharfsinnigste, wie unter 
den Nachfolgern Maimon. Lamberts Organon enthält im IL Teil einen aus- 
führlichen Abschnitt über die symbolische Erkenntnis, in welchem schon 
viele Resultate Kants antezipiert sind. Das ganze diskursive Denken ist 
symbolisch in zweifacher Hinsicht: 1. insofern es mit Symbolen im mathe- 
matischen Sinne rechnet, 2. insofern alle dadurch gewonnene Erkenntnis 
nur eine Art Gleichnis, Bild, Gegenstück des Wirklichen schafft, nicht aber 
dieses selbst erkennen lässt, wenigstens nicht in adäquater Form. Ein 
Erkennen des Wirklichen in adäquater Form führt auf den Begriff der in- 
tuitiven Erkenntnis oder intellektuellen Anschauung, also wiederum eines 
fiktiven Begriffes von methodischem, aber nicht von objektivem Wert. 

Man hätte auf diesem Wege weitergehen sollen: so hätte 
man sich das Kantische Resultat rein bewahrt; freilich hatte dieser 
grosse Philosoph selbst seine ruhmreichen Entdeckungen mit 
den Rettungsversuchen abgelebter rationalistischer Dogmatik be- 
fleckt und so selbst dazu beigetragen, dass seine richtigen Resul- 
tate begraben und vergessen wurden. 

Hier sehen wir nun sogleich, wie alle logischen Resultate 
xugleich erkenntnistheoretische Bedeutung gewinnen: indem die 
Kategorien unter den Gesichtspunkt analogischer Fiktionen 
gerückt werden, erhält die ganze Erkenntnistheorie ein anderes 



44 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung der Fiktionen. 

Ansehen. Sie sind damit als blosse Vorstellungsgebilde er- 
kannt, welche zur Apperzeption des Gegebenen dienen. Dinge, 
welche Eigenschaften haben, Ursachen, welche wirken, sind 
Mythen. 

Man kann nur sagen, dass sich die objektiven Erscheinungen 
so betrachten lassen, als ob sie sich so verhielten; aber nimmer- 
mehr besteht ein Recht, hier dogmatisch aufzutreten un4 das 
„als ob" in ein „dass* zu verwandeln. 

Über den historischen Hervorgang der nixia in der griechischen 
Philosophie aus Analogieverhältnissen s. Göring, Begriff der Ursache in 
der griech. Philos., besonders pag. 22 ff. 26 ff. 

Über den psychologischen Hervorgang, vgl. Wundt, Physiol. Psycho- 
logie [1. Aufl.] pag. 676 ff. 

Sowie nun solche Analogien als Hypothesen aufgefasst 
werden, so entstehen alle jene Systeme in Theologie und Philo- 
sophie, welche die dadurch entstehenden Widersprüche aufklären 
wollen. Welche Mühe und Zeit hat man daran verschwendet, 
z, B. das Vaterverhältnis Gottes zu Christus klarzustellen; und 
wie einfach löst Schleiermacher dies! Noch viel näher liegen 
uns aber jene mannigfachen Versuche, die Substanz und ihr Ver- 
hältnis zu ihren Attributen zu bestimmen, die Ursache und ihr 
Verhältnis zur Wirkung u. s. w. 

Hierher gehören ferner alle jene Begriffe, wie möglich, notwen- 
dig u. s. w. So sagt Lewes, Gesch. d. alten Philos., Berlin 1871, pag. 438 
über den Aristotelischen Begriff der Möglichkeit: Sie ist eine Fiktion, 
nützlich, das mag sein, im Fach der Logik, aber gefährlich und täuschend 
in der Metaphysik; ib. über Mögliches und Wirkliches, sowie über 
ari^ats. Es sind die formalen oder Verhältnisbegriffe, welche schon 
von Aristoteles als Kategorien herausgestellt, von den Skeptikern als n$6s u t 
als Relationen nur „hinzugedacht" werden und welche immer mehr in der 
neueren Philosophie als Fiktionen erkannt werden. (Vgl. Lambert, bei 
Riehl, Kritiz. I, 182, ib. 187, 194). 

Diese und ähnliche Begriffe sind die Grundlagen des diskursiven 
Denkens: „Eben das ist der Fehler, der uns so ungerecht gegen den 
Himmel macht, dass wir immer mit unseren Begriffen Grenzen ziehen, 
die nicht in der Natur sind," Engel, Philos. für die Welt 26. 

Solche analogischen Fiktionen sind sehr verbreitet und auch 
in anderen Wissenschaften sehr beliebt. Sehr häufig aber erhebt 
sich die wichtige Frage, wie weit eine solche Analogie „real" 
sei, wie weit sie hypothetisch, wie weit sie fiktiv sei. Diese 
Frage ist z. B. wichtig bei der neuerdings so beliebten Analogie 
des Staates oder einer sozialen Gesellschaft mit einem Organis- 



IV. Symbolische Fiktionen. 



45 



mus; 1 ) gerade hier bei solchen Fragen macht sich unter den 
Streitenden der Mangel einer logischen Theorie dieser Methode 
sehr unangenehm fühlbar. Selbst da, wo solche Analogien rein 
fiktiv sind, wie z. B. bei der Vergleichung der Gesellschaft mit 
einem menschlichen Organismus, dienen sie doch oft zur Ableitung 
richtiger theoretischer Gesetze. 

Dieselbe Quelle ist aber auch der Ursprung vieler Irrtümer, 
wo dann solche Fiktionen unvorsichtig für reale Analogien 
genommen und die so abgeleiteten Gesetze der Wirklichkeit 
ungeprüft substituiert werden. Der Irrtum entspringt eben ganz 
genau aus denselben Ursachen wie die Wahrheit; und wie in der 
Natur dieselben blinden Gesetze, je nach den Umständen, Schaden 
oder Nutzen bringen — sie sind zweischneidig — so auch in 
dem Gebiete des Geistes, wo aus denselben Gesetzen Gutes und 
Schlimmes entspringt. Die Logik hat um so mehr auch die 
Aufgabe, den Irrtum zu erklären, als die Grenzen zwischen Irrtum 
und Wahrheit keine scharfen sind, wie ja aus dem Vorhergegangenen 
erhellt, indem die Anwendung einer Fiktion halb auf Wahrheit, halb 
auf (absichtlichem) Irrtum beruhen kann. Die Logiker des XVHL Jahr- 
hunderts hielten es stets für ihre Pflicht, auch den Irrtum weit- 
läufig in das logische System hereinzuziehen. Es ist also — wir 
haben schon mehrfach darauf hingewiesen — streng zu unter- 
scheiden zwischen realen Analogien, welche aufzufinden Sache 
der Induktion und Hypothese ist, und zwischen bloss fiktiven 
Analogien, 3 ) welche bloss Sache der subjektiven Methode sind. 
Dass ich also zu einer Erscheinung eine andere unmittelbar 
und notwendig succedierende, und antecedierende aufsuche — 
nach dem Gesetz der Kausalität — ist Sache einer realen Ana- 
logie; ich habe so oft bemerkt, dass jeder Erscheinung andre folgen 
und vorhergehen, dass ich berechtigt bin, den Analogieschluss 
zu bilden, dass auch bei dieser speziell vorliegenden Erschei- 
nung dieser Fall zu statuieren sei. Dass ich aber dieses ganze 
Verhältnis der unabänderlichen Succession „Ursache und Wir- 
Kung a heisse und mit der Kategorie der Kausalität apperziptere, 
ist Sache einer analogischen Fiktion, indem zwar wohl das 

1) Ähnlich die Analogie der Welt mit einem Organismus oder Kunstwerk, 
(s. Riehl, Kritiz. I, 159). Über die Berechtigung der vorläufigen Fiktion eines 
Staatsorg anismus & Dilthey in den Philos. Monatsheften XI, 257 Nota« 

2) Qualitäten der Monaden sind z. B. nach Herbart nur fiktive Analo- 
gen. Vgl. Drobisch, Herbartrede 20, 



46 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung der Fiktionen. 

Verhältnis des Willens zu seiner Handlung eine reale Analogie 
mit der unabänderlichen Succession ist, nicht aber kann ich um- 
gekehrt die Glieder der unabänderlichen Succession mit Namen 
aus der subjektiven Sphäre bezeichnen; real-an alogisch ist also 
hier die Form der Verhältnisse; dagegen eine analogische Fik- 
tion ist die materielle Gleichstellung der unabänderlichen Suc- 
cession mit der Succession der Handlung auf den Willen. 1 ) 



Kapitel V. 

Juristische Fiktionen.*) 

Eine speziellere Abart der vorigen sind die juristischen 
Fiktionen. Der Name der Fiktionen ist bis jetzt nirgends besser 
bekannt als in der Rechtswissenschaft, wo sie ein beliebtes 
Kapitel bilden. Sie sind prinzipiell ganz identisch mit den vorigen. 
Der psychologische Mechanismus ihrer Anwendung besteht auch 
darin, dass ein einzelner Fall unter ein für ihn nicht eigentlich 
bestimmtes Vorstellungsgebilde subsumiert wird, dass also die 
Apperzeption eine bloss analoge ist. Der Grund dieser Methode 
ist folgender: Weil die Gesetze nicht alle einzelnen Fälle in ihren 
Formeln umfassen können, so werden einzelne besondere Fälle 
abnormer Natur so betrachtet, als ob sie unter jene gehörten. 
Oder aus irgend einem praktischen Interesse wird ein einzelner 
Fall einem allgemeinen Begriff subsumiert, dem er eigentlich nicht 
angehört. Wer mit der Methode der Rechtswissenschaft bekannt 
ist, kann ermessen, wie ungeheuer wichtig dieser Kunstgriff 
für die juristische Praxis ist; er ist für sie ebenso unentbehrlich, 
als er es in der Mathematik ist. Freilich haben die Logiker mit 
einer verschwindenden Ausnahme sich dieses Beispiel entgehen 
lassen, weil sie überhaupt nicht einsahen, dass die Logik ihr 
Material aus der lebendigen Wissenschaft zu entnehmen 
habe. Neben der Mathematik gibt es fast kein Gebiet, das zur 
Deduktion logischer Gesetze und Illustrierung oder Ent- 

1) Von der Verwechslung der realen Analogie mit analogischen 
Fiktionen ist auch nicht Trendelenburg loszusprechen. S, dessen Logische 
Untersuchungen II, XIX (2. Aufl.), pag. 379 

*) Im MS. =§25 {Erste Hälfte). 



V. Juristische Fiktionen. 



47 



deckung logischer Methoden passender wäre, als das Jus, Dies 
beruht auf einer prinzipiellen Verwandtschaft beider Gebiete, 
welche bisher ebenfalls den Logikern entgangen ist. Es ist eben 
der Reiz und Nutzen solcher methodologischen Betrachtungen, 
zu beobachten, wie die Psyche in ganz verschiedenen Gebieten 
nach einem gleichen Prinzip verfährt. Es ist daher nicht 
merkwürdig, sondern natürlich, dass auch nur in der Mathematik 
und im Jus bisher diese Fiktionen eine ausgedehntere theoretische 
Behandlung, aber meist nur von Denkern dieser Wissenschaften 
selbst, erfahren haben. Merkwürdig ist nur die Achtlosigkeit der 
Logiker, welche diese Gebiete sich entgehen Hessen. Der 
apriorische Weg zur Feststellung der Kunstregeln muss notwendig 
ergänzt werden durch rein induktive Beobachtung des 
logischen Verfahrens in den Wissenschaften selbst.' Nur 
die ganz genaue Beschäftigung mit dem Verfahren der einzelnen 
Wissenschaften befähigt, fruchtbare logische Regeln aufzu- 
stellen, und die Aufstellungen solcher sind denn auch nur von 
solchen ausgegangen, welche mit den Spezialwissenschaften in 
ungewöhnlichem Umfange bekannt waren, von Aristoteles und 
Baco. Auch die Logiker Englands, sowie die Deutschlands im 
XVIII. Jahrhundert haben hierin Bedeutendes geleistet. Nur eine 
universalistische Kenntnis des wissenschaftlichen Verfahrens in 
allen Gebieten ermöglicht, logische Entdeckungen zu machen. 

Wie bemerkt, besteht ein prinzipieller Zusammenhang zwischen 
der Methode der Mathematik und der des Jus, aus dem sich erklärt, 
dass nur in diesen beiden Wissenschaften bis jetzt die Fiktionen 
richtig zur Geltung kamen. 

Auch ist es interessant, zu sehen, wie diese scheinbar so 
entlegenen Phänomene, die juristischen Fiktionen, prinzipiell ganz 
identisch sind mit den in den vorigen Paragraphen behandelten 
erkenntnistheoretischen. 

Das straffe Band, welches hier die Ordnung bestimmt, ist 
einzig und allein die Methode und ihr Prinzip. Darin besteht 
aber der Reiz dieser methodologischen Betrachtungsweise, dass 
scheinbar verschiedene Phänomene auf ganz gleiche Ursachen 
zurückgeführt werden. Die kausale Betrachtungsweise kümmert 
sich bekanntlich nicht um subjektive, ästhetische und teleologische 
Gründe und Einteilungen. Und unsere Einteilung, so sehr es 
scheinen könnte, als werden hier verschiedene Dinge zusammen- 
geworfen, wird sofort als eine prinzipielle, sehr notwendig gebotene 



48 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung der Fiktionen. 

und richtige erscheinen, wenn eben der Massstab des metho- 
dologischen Prinzipes, auf das es hier einzig und allein an- 
kommt, angelegt wird. Wir wollen hier nun beobachten, wie 
die logische Funktion in ganz verschiedenen Gebieten immer 
wieder dieselben Kunstgriffe anwendet 

Die fictiones juris sind ein weites Gebiet. Dafür bieten sie 
aber auch methodologisch ein äusserst fruchtbares Material und 
enthüllen den wunderbaren Mechanismus des Denkens und seiner 
Kunstgriffe» Ein Eingehen auf juristisches Detail wird hier eben- 
sowenig zu vermeiden sein, wie bei der Mathematik, National- 
ökonomie, Theologie, Erkenntnistheorie u. s. w<; die Logik hat 
bisher viel zu wenig sich auf die detailliertere Analyse ganzer 
wissenschaftlicher Gedankenreihen und Methoden eingelassen. 
Nur ein liebevolles Eingehen auf die Wege des Denkens gibt 
Aufschluss über die Methode der logischen Funktion und der 
oft wunderbaren Umwege, welche sie einschlägt 

Auch in der fictio juris wird etwas Nicht- Geschehenes als 
geschehen oder umgekehrt betrachtet, oder es wird ein Fall unter 
ein analoges Verhältnis gebracht in einer Weise, die der Wirklich- 
keit schroff widerspricht Das römische Recht ist ganz davon 
durchzogen; unter den neueren Völkern hat die juristische 
Fiktion besonders in England Fortbildung erfahren, freilich in 
einer oft lächerlichen Weise, bis zu einem Grade, der nur noch 
als Unfug bezeichnet werden kann. 

Ein weiterer, besonders interessanter Punkt hierbei ist das 
Verhältnis der fictio juris zur praesumtio juris. Die letztere ist 
die juristische Hypothese, die erstere ist die juristische Fiktion; 
auch in der juristischen Theorie und Praxis sind beide oft ver- 
wechselt worden, und ihre Distinktion ist ein beliebtes juristisches 
Problem. Die praesumtio ist eine Vermutung, die fictio ist eine 
absichtliche, eine bewusste Erfindung. 

Die enormen praktischen Vorteile dieser Methode sind eben 
so gross, dass sie stets wieder angewandt wird, z. B, im neuen 
deutschen Handelsgesetzbuch § 377 Absatz 2, wo die Be- 
stimmung getroffen ist, dass eine nicht rechtzeitig dem Absender 
wieder zur Verfügung gestellte Ware zu betrachten sei, als ob 
sie vom Empfänger definitiv genehmigt und akzeptiert sei. An 
einem solchen Beispiel ist so recht die prinzipielle Identität der 
analogischen Fiktionen, z. B. der Kategorien, mit dieser juristischen 
Fiktion zu studieren. 



V. Juristische Fiktionen. 



49 



Bei dem Falle, wo die Annahme der Ware durch den Empfan- 
gergenehmigtist,istnämlichdasZeitverhältnis wichtigen welchem 
keine Rücksendung und Remonstration erfolgt. Dieses Verhältnis wird 
nun als das apperzipierende aufgestellt in dem ähnlichen Fall, wo ein 
Empfänger eine Ware zwarnicht akzeptieren will, aber die rechtzeitige 
Remonstration versäumt; hier wird also ein reines analoges Zeit- 
verhältnis zwischen zwei Fällen zum Grund einer sachlichen 
Identifizierung des Inhalts. Diese Methode in der Rechtswissen- 
schaft ist ebenso notwendig zu einer fruchtbaren Praxis, als in 
der Erkenntnistheorie: hier wäre die Begreiflichkeit unmöglich 
ohne die analoge Apperzeption, dort die praktische Behandlung 
des Falles. Die formale Handlungsweise der Seele in diesen 
beiden Fällen ist total identisch; und die Einsicht in diese formale 
Identität ist darum wichtig, weil man sich so schwer daran 
gewöhnt, den Wert der beiden Handlungsweisen auch gleich- 
zustellen: der praktische Wert ist gross und oft unberechenbar; 
theoretisch ist damit nicht bloss nichts erreicht, sondern es ist 
auch eine Abweichung von der Wirklichkeit vorgenommen 
worden. Ohne solche Abweichungen kann das Denken seine 
Zwecke nicht erreichen; und das ist doch auch ganz natürlich: 
denn wie sollte denn das Denken das gegebene Material behan- 
deln können und bearbeiten, ohne solche Abweichung? Gerade 
die Abweichung erscheint schliesslich als das Naturgemässe; es ist 
dringend notwendig, immer wieder auf diesen Umstand acht zu 
geben und aufmerksam zu machen. Gewöhnlich hat man, wie 
schon oben bemerkt, die entgegengesetzte Ansicht und schreibt 
allen logischen Handlungen so lange Realität zu, bis ihre Un- 
realität bewiesen ist. Unser methodisches Prinzip ist umgekehrt. 
Das Auge des Philosophen ist geschärft für die ganz gewaltigen 
Differenzen, welche zwischen den formalen Verstandeshandlungen 
des Denkens und zwischen dem Sein und Geschehen der Wirk- 
lichkeit bestehen. 1 ) 

i) Über die den juristischen Fiktionen verwandte Fiktion des Staats- 
vertrags findet sich weiteres noch unten 198, 227, 258 ff. (Vgl. auch Dühring, 
Kr. Gesch, d. Phiios. 502). Über die sehr wichtige Fiktion der Juristischen 
Person 4 * s. unten 257 ff., 611. 



50 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung der Fiktionen. 

Kapitel VI. 
Personifikative Fiktionen.*) 

Eine weitere Abart der analogischen Fiktionen, welche aber 
auch eine besondere Behandlung verdient, sind die personi- 
fikativen Fiktionen, Die Analogie, unter der hier die Er- 
scheinungen erfasst werden, ist die Vorstellungsgruppe der 
Person. Die vorige Abart war eine Anwendung der analogischen 
Fiktion in einem speziellen Gebiet; hier ist es eine spezielle 
Apperzeptionsforrn, welche wir behandeln. 

Das gemeinsame Prinzip ist die Hypostase von Phä- 
nomenen in irgend einer Hinsicht, mag sich diese Hypo- 
stasierung nun mehr oder weniger an das Bild der Persönlichkeit 
anschliessend Dieses letztere ist auch der eigentliche bestimmende 
Faktor in der Kategorie des „ Dinges*. Hierher gehört ferner 
eine ganze Reihe wohlbekannter Begriffe: z. B. Seele, Kraft, 
Seelenvermögen. Während diese Begriffsgebüde früher für 
den Ausdruck realer Dinge gegolten haben, sieht man nun die- 
selben für blosse Abbreviaturen an, für den zusammenfassenden 
Ausdruck einer Reihe von zusammenhängenden Phänomenen 
und Prozessen. Ferner gehören hierher alle spezielleren Kräfte, 
z. B. Schwerkraft, welche als Kraft Newton selbst nur als 
Fiktion ansah; die Phänomene sind natürlich real, aber die 
Zuschjreibung derselben an eine Gravitationskraft ist eben 
nur ein zusammenfassender Ausdruck für die gesetzlichen Phä- 
nomene, 

Über die Kraft als Fiktion vgl besonders Heinr. Boehraer in 
dem unbeachtet gebliebenen trefflichen Buch: Entwicklung der natur- 
wissenschaftl. Weltanschauung, Gotha, Besser 1872, pag. 163 ff. 166. 
Boehmer zitiert folgende Sätze von Dubois-Reymond: „Kraft ist nichts 
als eine versteckte Ausgeburt des unwiderstehlichen Hangs zur Personi- 
fikation, gleichsam ein rhetorischer Kunstgriff unseres Gehirns, das 
zur tropischen Wendung greift, weil ihm zum reinen Ausdruck die Klar- 
heit der Vorstellung fehlt," u. s, w., wo die Wirkung der Fiktion ausge- 
zeichnet geschildert ist, besonders der dadurch hervorgebrachte Schein 
der Begreif tichkeit. Dann ib. Möhrs Äusserungen: es gibt keine 
Kräfte, ib Hegels merkwürdige Äusserung z. B. über den 
Widerspruch und den Mystizismus in diesem Begriff; ib. 
201 ff. die Tätigkeit der Einbildungskraft bei der „Fiktion der 
Kraft u ; Boehmer gibt eine besonders gute psychogenetische Ab- 
leitung der Kraft, speziell der „Anziehungskraft: „die Erfahrung lehrt 



*) Im M8. ein Teil von § 25. 



VI. Personifikative Fiktionen. 



51 



bloss, dass die Körper sich annähern (d. h. unter der Herrschaft dieses 
Gesetzes stehen), und die Vorstellung, dass sie sich anziehen, ist nur 
eine Hypothese [richtiger Fiktion], eine Einbildung, die aus der Sprache 
das damit am nächsten übereinstimmende Wort genommen hat," pag. 202. 
Vgl. Ulrici, Gott und Natur, pag. 54. 

Ebenso ist es mit der Lebenskraft und einer grossen 
Reihe anderer Kräfte. Gerade jene galt früher allgemein als eine 
relativ sichere Hypothese, jetzt gilt sie fast ebenso allgemein 
(bis auf einige Theologen und theologische Naturforscher) als 
Fiktion. So äussert sich auch Liebig in seinen „Reden und 
Abhandlungen 8 , die unbekannten Ursachen seien nur Kinder der 
Einbildungskraft, so z. B. der Spiritus redor, Brennstoff, Schall- 
stoff, katalytische Kraft der Isomeren; die Lebenskraft sei eine 
Erfindung des Geistes, Gespenst u. s. w. Indessen wird das 
Wort als Hilfswort, als summarische Zusammenfassung noch all- 
gemein gebraucht, und es lässt sich als Nominalfiktion (= Hilfs- 
wort) auch wohl nicht entbehren. Weiter aber ist die Lebenskraft 
nicht mehr zu gebrauchen, darüber hinaus wird sie eine schlechte 
Fiktion. 

Hier sinkt die Fiktion freilich zu der blossen Nominal - 
fiktion herab, d. h. der Begriff hat weiter keinen praktischen 
Wert als den, der Zusammenfassung des Vielen und der Erleichte- 
rung der Ausdrucksweise zu dienen. In solchen Worten ist eben 
nichts Anderes gesagt, als was die einzelnen Phänomene selbst 
sagen können. 

Solche bezeichnet man auch als „Hilfsworte* im Unterschied von 
den „Hilfsbegritfen*, welche doch noch wichtigere Dienste leisten. — In 
dieser Gattung gibt es eine Reihe schlechter Fiktionen; die greulichste 
ist „das Unbewusste" (Hypostasierung zu einer Person). 

Richtig sagt Noire, Grundlegung, 58: „Wir leihen ursprünglich jedem 
Begriff, jeder Abstraktion ein Ich, wenn wir es nachher auch wieder 
aufheben.* Über den Gottesbegriff vgl. Feuerbach, Wesen der 
Religion pag. 17. 

Wenn man durch solche Worte resp, Begriffe etwas begriffen 
zu haben glaubt — eine Naivität, die nicht gar allzuferne hinter uns 
liegt — so vergisst man, dass dieses alles nur Tautologien sind. 
Dasselbe ist auch der Fall, wenn man glaubt, die unabänderliche 
Succession begriffen zu haben, wenn man sie als Kausalität apperzipiert: das ist 
nur eine Tautologie; Kausalität ist eine analogische Fiktion und schliesslich 
rein nur ein Wort; wenigstens heutzutage ist dieser Begriff für den Philo- 
sophen zu einem blossen Worte herabgesunken, während man früher alles als 
begriffen ansah, wenn man es unter die Kausalität brachte. So ist aber 
schliesslich alles sogenannte Beweisen und Begreifen nur Tautologie. Auch 

4* 



52 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung der Fiktionen. 

nach Her bar t sind „Kräfte" nur Fiktionen (vgl. Drobisch, Herbartrede 
23); vgl besonders Laas, a. a. O. 154—156 und die dort angeführten 
Stellen aus Fechner und Ciarke; Uber Kraft als Hilf sausdruck be- 
sonders ib. 236/7, 248, 305/306. 
Als solche tautologischen Nominalfiktionen sind nun eine 
Reihe von Begriffen zu betrachten; z. B. fasst die Chemie eine 
Reihe von Prozessen unter dem Namen einer »katalytischen 
Kraft" (s. hierüber Hüfner, Lebenskraft, pag. 24) zusammen, 
der sie eben einstweilen zugeschrieben werden. 

Vgl. hierüber noch Langes treffliche Bemerkung, Beiträge pag. 46: 
„Bekanntlich hat sich die Chemie fast durchweg in metaphysischen Vor- 
stellungen entwickelt Die Elemente, die Affinität, die Essenz, 
die Ursäure waren lauter Begriffe, die nicht der Erfahrung sondern der 
Metaphysik entstammten, und alle diese Begriffe haben die Forschung zwar 
bisweilen gehemmt, aber im Ganzen weit mehr gefördert. Sie 
bildeten die Leitsterne der Forschung und hätten notwendig 
irre geleitet, wenn die Forscher vom abstrakten Inhalt dieser Begriffe 
ausgehend metaphysisch weiter konstruiert hätten; da sie sich aber an 
den konkreten Umfang hielten, übernahm die Natur selbst die be- 
ständige Verbesserung und Vervollkommnung der Methode bis zur 
Zerstörung des metaphysischen Begriffs, welcher anfangs als Leit- 
faden gedient hatte" u. s. w. (Wichtig ist hier der Hinweis auf die 
Methode der Korrektur; vgl. unten.) 
Solcher Begriffe hat besonders das XVIII. Jahrhundert 
in allen Wissenschaften viele geschaffen; damals glaubte man, 
damit wirklich etwas begriffen zu haben; aber ein solches Wort 
ist nur eine Schale, welche den sachlichen Kern zusammen- 
halten und aufbewahren soll. Und wie die Schale in allen ihren 
Formen sich dem Kerne anschmiegt und ihn einfach verdoppelt 
äusserlich wiedergibt, so sind auch diese Worte oder Begriffe nur 
Tautologien, welche die eigentliche Sache in einem anderen 
Gewände wiederholen. Das bekannteste Beispiel ist ja hier die 
„vis dormitiva*; überhaupt ist daran zu erinnern, dass das 
meiste, was man nicht bloss im gewöhnlichen Leben, sondern 
auch in der Wissenschaft Erkenntnis heisst, in solchen Schalen 
besteht, in Begriffen, unter welchen das faktisch Gegebene einfach 
zusammengefasst wird, ohne dass sie irgend eine neue Erkenntnis 
schüfen. Eine Lösung des sogenannten Welträtsels wird es nie 
geben, weil das meiste, was uns rätselhaft erscheint, von uns 
selbst geschaffene Widersprüche sind, die aus der spielenden 
Beschäftigung mit den blossen Formen und Schalen der 
Erkenntnis entstehen. 



VII. Summatorische Fiktionen. 



53 



Kapitel VII. 
Summatorische Fiktionen.*) 

(Die Allgemeinbegriffe.) 
Die eben behandelten Fiktionen führen uns nun zu den 
All gern ein begriffen, welche im Allgemeinen denselben Dienst 
leisten, welchen wir die vorigen Fiktionen im Speziellen leisten 
sahen. 

Der Dienst, den diese Fiktionen der Seele und ihren logischen Ope- 
rationen leisten, nähert sich immer mehr dem Dienste an, den die Sprache 
und Ihre Worte dem Denken leisten. — Dass die Allgemeinbegriffe unter 
allen Fiktionen zuerst dem gemeinsamen Schicksal beinahe aller Fiktionen 
anheimfallen, hypostasiert zu werden, ist bekannt Vgl. die richtige und 
gute Schilderung des Verhältnisses von Plato und Aristoteles in diesem 
Punkt bei Lewes, Gesch. d. Ph. I, 412. Vgl. Lewes' richtige Ableitung 
dieser Hypostasierung von Sokrates 1, 273, Plato sucht nach einer objek- 
tiven Realität für die subjektive Fiktion; dies leite irre und sei im 
schlechten Sinne des Wortes „ metaphysisch*. Ibidem über den Nutzen 
der somatischen Methode. Vgl. hierzu Lange, Beiträge, pag. 28 ff. Taine 
hat diese Betrachtung der Allgemeinbegriffe weiter entwickelt. 
Wir nannten — streng nominalistisch — schon oben die 
Allgemeinbilder und Aligemeinbegriffe Fiktionen, da diese künst- 
lichen Begriffsgebilde dem Denken grosse Dienste leisten. Da 
sie indessen immerhin indirekt der Wirklichkeit entsprechen 
und eine Reihe gleichartiger Phänomene zusammenfassen, so 
sind sie hier unter den vorläufigen Vorstellungsgebilden auf- 
gezählt, welche als zusammenfassende Ausdrücke einer Reihe ein- 
zelner Phänomene substituiert werden. Die Begriffe und schema- 
tischen Vorstellungen sind auch solche künstlichen Bildungen, 
Vorstellungsknoten, welche das Denken zu mnemotechnischen 
Zwecken bildet Es sind das rein summatorische Fiktionen, 
<L h. Ausdrücke, in denen eine Summe von Phänomenen nach 
ihren Hauptzügen zusammengefasst wird. Insofern diese Aus- 
drücke zugleich zu Abbildern real sein sollender Dinge gemacht 
werden, sind sie auch unter die personifikatorischen zu rechnen; 
oder indem nur das Wesentliche festgehalten, Unwesentliches 
vernachlässigt wird, sind sie auch als abstraktive zu bezeichnen. 
Die verschiedenen Klassen gehen ineinander über. 

Auch kann die ganze künstliche Hierarchie der Begriffe als eine 
künstliche Einteilung bezeichnet werden, welche vorläufig praktische 
Dienste leistet, bis durch die fortschreitende wissenschaftliche Arbeit das 
natürliche System immer mehr an ihre Stelle tritt. % 



*) Im MS. ein Teü von § 25. 



54 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Auszählung der Fiktionen. 



Nach Spencer repräsentieren die «abstrakt ideas" keine aktualen 
Erfahrungen, sondern sind Symbole, welche Gruppen solcher Erfah- 
rungen bedeuten, Aggregate von Repräsentationen und Re-Repräsentationen. 

Sehr richtig sagt Meynert (Mechanik des Gehirnbaus): „Der Be- 
griff ist immer die Bezeichnung eines in der Vorstellung 
[Empfindung?] unmöglichen Dinges: er wurzelt nicht in ihr, 
sondern in der Sprache als Wort." Vgl. Wundt, Physiolog. 
PsychoK 672. 

Über die metaphysische Seite des Problems (Speziesfrage) 
vgl. Spitzer, Nominal ismus und Realismus 1876, besonders pag, 102/103. 
Der Nominalismus ist allein richtig. „Die Behauptungen der theologischen 
Metaphysik sind als Fiktionen erkannt" Fiktion ist hier tadelnd 
gebraucht, statt im einzig richtigen Sinne: als zweckmässige Erdichtung; 
denn die Spezies sind jedenfalls teilweise zweckmässige Fiktionen, 
wenn sie auch, streng festgehalten, wie alle Fiktionen, auf logischen 
Nonsens und auf Widersprüche mit der Wirklichkeit führen. 

Bekanntlich hat Berkeley am schärfsten die psychologische 
Realität der abstrakten Begriffe geleugnet Vgl. besonders seine 
Abhandlung über die „Prinzipien der Erkenntnis" X ff. — 

Vgl. Uebmann, Zur Anatysis der Wirklichkeit, pag. 417; ders., Kant 
und die Epigonen, pag. 129. 

Die Allgemeinbegriffe sind praktische Fiktionen, d. h. Annahmen, 
durch welche die Praxis des Denkens erleichtert wird, denen aber 
keine reale, metaphysische Wirklichkeit entspricht. Für die Logik sind 
sie ideale, Postulate, d. h. also auch Fiktionen, f iktive Ideale. — Hier 
gibt es besonders viele schlechte Fiktionen: so die Quidditas und Anderes 
aus dem Mittelalter. 



Kapitel VIII. 

Heuristische Fiktionen,-) 

Als eine weitere Gattung sind noch hervorzuheben die 
heuristischen Fiktionen. Zwar sind mehrere der bisherigen 
Fiktionen auch zugleich von heuristischem Wert; aHein gerade die- 
jenigen Fiktionen, welche wir speziell unter diesem Namen hier zu- 
sammenfassen, sind ganz besonders heuristischen Zwecken gewidmet. 
In den bisherigen Fiktionen bestand die Abweichung von der 
Wirklichkeit nur in einer mehr oder weniger willkürlichen 
Veränderung derselben: in den jetzt zu behandelnden Fällen wird 
direkt ein ganz Unwirkliches an Stelle des Wirklichen gesetzt. 
Die ^wichtigste Bedingung hierbei ist jedoch, dass dieses 

*) Im M$. = Schluss von § 25. 



VIII. Heuristische Fiktionen, 



55 



Vorstellungsgebilde noch nicht in sich selbst widerspruchs- 
voll sein darf, wie dies bei den später aufzuzählenden Fiktionen 
der Fall ist: es darf aber ein sich nicht in der Wirklichkeit finden- 
des Gebilde sein, das, wenn konsequent durchgeführt, zu Wider- 
Sprüchen mit der Wirklichkeit führt. Zur Erklärung eines 
Wirkiichkeitskomplexes werden zunächst unwirkliche Ursachen 
angenommen, deren systematische Durchführung aber in den 
Phänomenen nicht nur bloss Ordnung schafft, sondern auch die 
richtige Lösung der Frage vorbereitet und aus diesem Grunde 
heuristischen Zwecken dient Indessen werden solche Annahmen, 
soweit sie nicht unter die bisherigen Methoden oder unter die 
reine Versuchsmethode fallen und insofern tentativer Natur sind, 
meistens nicht direkt neu gemacht, sondern sie entstehen dann, 
wenn bisherige Hypothesen sich als unzulänglich und falsch er- 
weisen; solche abgedankten Hypothesen tun aber doch noch sehr 
oft gute praktisch -heuristische Dienste. 1 ) Die Geschichte der 
Wissenschaften enthält mehrere solcher Fälle, welche sehr beleh- 
render Natur sind. So ist nachzuweisen, dass das Ptolemäische 
Weltsystem schon den Arabern des Mittelalters nur noch 
als Fiktion galt, nicht als Hypothese. 8 ) Dasselbe ist mit der 
Cartesianischen Wirbelhypothese der Fall, welche noch im 
XVIIL Jahrhundert besonders in Frankreich, als Fiktion festge- 
halten wurde, bei welcher Gelegenheit auch interessante theore- 
tische Erörterungen über die Methode der Hypothesen und Fiktionen 
angestellt wurden. Dasselbe ist heutzutage der Fall mit der 
Ätherhypothese, welche zur Erklärung der Lichterscheinungen 
dienen soll, und vielen Naturforschern nur noch als Fiktion gilt 
Alle diese abgedankten Hypothesen tun jetzt als Fiktionen noch 
ganz gute praktische und heuristische Dienste. Hierher gehört auch 
ferner die teleologische Hypothese, welche als heuristische 
Fiktion die besten Dienste leistet, während sie theoretisch wertlos 
ist, wenigstens in ihrer früheren Gestalt 



1) Über die Ansicht, die Kausalität sei eine heuristische Maxime, 
ein „Vehikel für den Aufbau einer objektiven Welt", vgl. Laas, a. a. O. 
pag. 20. 

2) Vgl. Überweg, Grundriss II, 4A., pag. 160 (über Averroes' 
astronomische Schritt). — Über solche heuristischen Fiktionen in der 
Chemie s, Lothar Meyer, Moderne Theorien der Chemie (3. A. 1876) 
pag. 150: „Gerüste, das wieder abzubrechen ist'; Typen, organische Radi- 
kale 147; Typen 137; Avogadroische Hypothese 29. 



56 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung der Fiktionen. 

Die Teleologie, wenn metaphysisch und hypothetisch genommen, ist 
allerdings ein „trauriger Behelf, wie Goethe sich ausdrückt über die 
Tendenz, die Dinge nach Endursachen zu erklären; dagegen ist die 
Teleologie ein sehr guter Behelf, wenn man sie nur heuristisch an- 
wendet zum Auffinden! Vgl. Kants Kritik der Urteilskraft; über das 
„Als ob" hierbei s. Grün, Philosophie 184H. Nach Kant ist die Teleo- 
logie nur ein modus rcflexionis (modus dicendfy eine Nothilfe, eine Krücke, 
bloss regulatives Prinzip, subjektives Hilfsprinzip. 

Zu dem teleologischen Problem ist nachzutragen, dass, während die 
Gegner des Zweckes sagen, man dürfe höchstens heuristisch sagen, 
dass gewisse Erscheinungen zu betrachten sind, als ob sie zweckgewollt 
seien, die Freunde des Zweckes sagen, dass man höchstens heuristisch 
sagen dürfe, die Vorgänge seien so zu betrachten, „als ob keine End- 
ursache sie an ihren Platz gestellt hätte*, so Herbart I, 6. Vgl. Flügel, 
Probleme, pag. 156. [Die letztere Stellung nimmt auch gelegentlich Kant 
ein, bei dem sich sonst meist die erstere findet.] 

Eine heuristische Fiktion ist auch das Ideal einer „aufsteigenden 
Reihe von Lebewesen"; vgl. J. B. Meyer, Philos. Streitfragen, pag. 115 ff.; 
„die Rangordnung der organischen Wesen". 

Die früheren geologischen Perioden werden vielfach nur noch als 
künstliche Einteilungen oder „schematische" Fiktionen verwertet. Vgh 
Cotta, „Geologie der Gegenwart". Man sucht auch hier nach einem 
natürlichen System der Erdschichten. 

Aufsehen hat es gemacht, dass Neu mann auch die 
Newtonschen Gravitationsgesetze für solche Fiktionen 
erklärt hat. 

Es besteht überhaupt in der modernen Naturwissenschaft die Tendenz, 
bisher als fest geltende Hypothesen zu erschüttern und zu nützlichen 
Fiktionen zu degradieren ; die Ansicht Neumanns hat Nachfolger gefunden, 
indem man sagt, die Newtonschen Gesetze seien ohne Berücksichtigung 
des Ätherwiderstandes aufgestellt und seien nur empirische Gesetze; sobald 
nun solche empirischen Gesetze als eigentliche Gesetze ausgesprochen 
und vorgetragen werden, und man mit ihnen rechnet, als ob sie wirklich 
objektive Gesetze wären, werden sie zu Fiktionen. Dass zwischen Hypo- 
thesen und Fiktionen keine feste Grenze sei, wird noch unten zur Sprache 
kommen. Vgl. Wundt, Aufgabe der Philosophie, pag. 6: „So konnte es 
denn nicht fehlen, dass man alle Hypothesen über den letzten Grund der 
physikalischen Erscheinungen als blosse Hilfsmittel der Veranschau- 
lichung oder Rechnung betrachtete und daher kein Arg daran fand, 
wenn in den verschiedenen Teilen der Naturlehre die Hypothesen über 
die Konstitution der Materie wechselten." Vgl. die trefflichen Be- 
merkungen von Schmitz-Dumont, Zeit und Raum, pag. 60/62. 

Neumann nannte auch das Gesetz der Erhaltung der 
KrafJ, sowie eine Reihe mathematischer Axiome und Postulate 
blosse fiktive Annahmen. Auch bei der Bestreitung auf- 
gestellter Hypothesen endigt eine Kritik solcher oft dahin, diese 



VIII. Heuristische Fiktionen. 



57 



Annahmen zwar nicht als Hypothesen, wohl aber als heuristische 
Fiktionen gelten zu lassen. Besonders ist dies der Fall bei der 
Bestreitung des Darwinismus. 

Es hängt diese theoretische, methodologische Frage enge 
zusammen mit einem Problem, das besonders in England 
eine sehr lebhafte Bearbeitung gefunden hat Newton hat 
nämlich bekanntlich in seinen methodologischen Regeln zwischen 
causa vera und causa ßcta unterschieden; die Erörterungen 
über diesen nicht ganz klaren Unterschied haben gerade den 
von uns aufgestellten Unterschied berührt; hierher ist auch der 
andere Newton sehe Ausspruch: hypotheses n<m fingo zu ziehen, 
der bis auf unsere Zeit oft Gegenstand von Erörterungen gewesen 
ist; man hat bekanntlich stets gegen diesen Newtonschen Satz 
eingewandt, Newton habe ja selbst Hypothesen aufgestellt. 
Man hat hierbei merkwürdigerweise immer tibersehen, dass 
Newton den Ton auf „fingo" legt, nicht auf „hypotheses". Selbst 
Mill und Whewell, welche jenen Ausdruck kommentierten, 
haben nicht bemerkt, dass Newton nicht davon spricht, dass er 
keine Hypothesen machen wolle, sondern dass er keine Hypo- 
thesen fingieren wolle. 

Newton wendet sich in diesem Satz gegen die zu seiner Zeit sehi 
verbreitete Liebhaberei, ganz willkürliche und phantastische Hypothesen 
ohne Verifikationsmöglichkeit aufzustellen. Dadurch entstand jener all- 
bekannte Degoüt vieler Naturforscher und Logiker gegen die Hypothesen 
überhaupt. Allein bekanntlich sind die Hypothesen unentbehrlich; und 
dass es auch Fiktionen gibt, welche ebenso berechtigt als nützlich sind, 
dies wollen wir eben zeigen. Freilich werden wir auch hier auf Schritt 
und Tritt gegen schlechte Fiktionen ankämpfen müssen, wie man 
dort gegen schlechte Hypothesen angekämpft hat. 

Die Newtonschen theoretischen, methodologischen Regeln 
sind also nicht unangreifbar; und in unserem Sinne sind fiktive 
Annahmen allerdings erlaubt, wenn sie nur mit dem Bewusst- 
sein aufgestellt werden, dass sie eben dies sind und nicht mehr; 
sie können nichtsdestoweniger grosse Dienste leisten. In diese 
Klasse gehören nun noch eine Reihe historisch berühmter Bei- 
spiele: z. B. Locke verwertet die Cartesianische Lebensgeister- 
Theorie noch als eine propädeutisch-heuristische Fiktion. Die 
Spinozistische Annahme eines durchgängigen Parallelismus 
der psychischen und physischen Vorgänge, welche jetzt 
so viele Anhänger zählt, ist unserer Ansicht nach als Hypothese 



58 Erster Teil: Pf inzipielle Grundlegung, A. Aufzählung der Fiktionen. 

nicht bloss unhaltbar, sondern auch wertlos — wogegen sie als 
Fiktion geradezu unschätzbare Dienste leistet 

Richtig erklärt auch Grün, Philosophie der Gegenwart, diesen 
ParaHelismus für eine Konvention in Bezug auf die empirischen Er- 
scheinungen, und zwar eine notwendige, unumgängliche Konvention. Dann 
nennt er ihn freilich wieder hypothetisch (statt fiktiv, konventionell). 

Neuere Beispiele dieser Art von heuristischen Fiktionen 
lassen sich nicht selten finden: z. B. hat Zöllner eine solche 
Fiktion aufgestellt in seiner bekannten Annahme, dass die Atome 
oder Massenpunkte eines Systems sich so bewegen, „als ob sie 
die geringste Unlustsumme produzieren wollten w . Meistens 
indessen sind diese Fiktionen ehemalige Hypothesen, welche so 
noch in ihrem invaliden Zustande doch der Wissenschaft Dienste 
leisten. Es ist noch eine Frage, ob nicht auch manche als 
Axiome oder Postulate aufgestellten Annahmen zu Hypothesen 
und von da sogar zu Fiktionen herabsinken könnten; solche 
allmählichen Degradationen sind ja schon oft dagewesen. Selbst 
in der Mathematik und mathematischen Physik wird jetzt an 
diesen Pfeilern gerüttelt, und es ist nicht unmöglich, dass auch 
hier Elemente als fiktiv entdeckt werden, die bisher als axiomatisch 
gegolten haben. 

Nach Flügel, ProWeme der Philos. 114» ist auch die Reduktion der 
Entstehung der Raum Vorstellung etc. auf unbewusste Schlüsse (anstatt 
von blosser Assoziation und Reproduktion der Empfindungen zu reden) 
nur ein Notbehelf, also eine Art heuristischer Fiktion. 

In diesen Zusammenhang gehört anhangsweise auch die 
Verwertung der Fiktionen im apagogischen Beweis. Der Satz, 
um den es sich handelt, der bewiesen werden soll, wird bekannt- 
lich so bewiesen, dass sein kontradiktorisches Gegenteil als 
ungültig erwiesen wird. Zu diesem Zweck wird eben das kontra- 
diktorische Gegenteil (der Satz des Gegners) vorläufig als giltig 
angenommen, d.h. vorläufig so behandelt, als ob er wahr wäre. 
Eine solche vorläufige Annahme des Gegenteils als wahr heisst 
griechisch imo^exstc, (worüber weiteres im historischen Teil). 
Indessen ist diese Verwendung der Fiktion ja offenkundig sehr 
elementarer Art. 



IX. Praktische (ethische) Fiktionen. 



59 



Kapitel IX. 
Praktische (ethische) Fiktionen.*) 

An diese eben behandelte Fiktionenklasse schliessen wir 
nun eine Reihe anderer an, welche wir praktische Fiktionen 
nennen. Mit dieser Klasse fallen wir freilich aus unserer Ein- 
teilung heraus, die wir im folgenden auch nicht mehr festhalten 
können. Es beginnen nun solche Annahmen, welche nicht nur 
der Wirklichkeit widersprechen, sondern auch in sich wider- 
sprechend sind. Diese sind nicht auf Eine der bisherigen Klassen 
zurückzuführen, nicht allein auf Abstraktion oder auf Analogie zu 
reduzieren — die zwei Hauptmomente bei der Bildung von 
Fiktionen — sondern bei ihrer Bildung haben verschiedene 
Formen zusammengewirkt. Die hier zu behandelnden Begriffe 
sind so verwickelter Natur, dass sie nicht unter gleichlautende 
formale Rubriken zu bringen sind: ihr psychologischer Bau ist sehr 
kompliziert. Zur Bildung dieser verwickelten Begriffe, welche zu- 
gleich die höchsten Probleme der Wissenschaften darstellen, haben 
die mannigfachsten Seelenprozesse beigetragen. 

Auf der Schwelle dieser Fiktionen begegnet uns sogleich 
einer der wichtigsten Begriffe, den die Menschheit gebildet hat: 
es ist der Begriff der Freiheit; die menschlichen Handlungen 
werden als freie und darum als verantwortliche betrachtet und 
dem notwendigen Naturlauf gegenübergestellt. Wir brauchen die 
oft aufgeführten Antinomien, welche in diesem widerspruchsvollen 
Begriffe liegen, an dieser Stelle nicht nochmals zu wiederholen; 
der Begriff widerspricht nicht nur der beobachteten Wirklichkeit, 
in der Alles nach unabänderlichen Gesetzen folgt, sondern auch 
sich selbst: denn eine absolut freie, zufällige Handlung, die also 
aus Nichts erfolgt, ist sittlich gerade so wertlos wie eine absolut 
notwendige. Aller dieser Widersprüche ungeachtet, wenden wir 
diesen Begriff nicht nur im taglichen Leben bei der Beurteilung 
der moralischen Handlungen an, sondern er bildet auch die 
Grundlage des ganzen Kriminalrechtes: ohne jene Annahme wäre 
eine Strafe für etwas Getanes undenkbar vom sittlichen Standpunkt 
aus; dann ist eben Strafe nur eine Vorsichtsmassregel, um die 
Anderen vor dem Verbrechen zu schützen. Aber auch die Beur- 
teilung unserer Nebenmenschen hängt so vollkommen von diesem 
Begriffsgebilde ab, dass wir es nicht mehr entbehren können: 



*) Im MS,^§ 26. 



60 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung der Fiktionen. 

die Menschheit hat dieses wichtige Begriffsgebilde im Laufe der 
Entwicklung mit immanenter psychischer Notwendigkeit gebildet, 
weil nur auf seiner Grundlage höhere Kultur und Sittlichkeit 
möglich ist: allein das hindert nicht, einzusehen, dass dieses 
Begriffsgebilde selbst eine logische Monstrosität ist, dass es ein 
Widerspruch ist, kurz, dass es nur eine Fiktion, keine Hypothese 
ist. Jahrhunderte lang hat die Freiheit nicht bloss als Hypothese 
gegolten, sondern sogar als unumstössliches Dogma. Dann 
sank sie zur bestrittenen Hypothese herab: jetzt wird sie schon 
häufig als eine unumgängliche Fiktion angesehen. Es hat viel 
Kampf gekostet, bis man auf den heutigen, freilich lange noch 
nicht allgemein verbreiteten Standpunkt sich stellte, dass dem 
Freiheitsbegriff in der Wirklichkeit nichts entspreche, dass er aber 
eine für die Praxis höchst notwendige Fiktion sei. 

Ähnliche Anschauungen vertritt Hoppe, „die Zurechnungs- 
fähigkeit" (Würzburg 1877). Ihm fehlt nur das Wort „Fiktion- zu 
unserer Auffassung, S. 32 sagt er über die ideale Zurechnungs- 
fähigkeit: Absolute Willensfreiheit und Zurechnungsfähigkeit seien 
eine Unmöglichkeit; nichtsdestoweniger müsse man den idealen 
Wunsch derselben jedem gerne gönnen, denn jeder „falsche Begriff" 
habe doch den Wert eines Ideals, „in dem Masse mithin, als 
Jemand diese ideal gedachte Zurechnungsfähigkeit haben sollte, 
wird man auch bei Vergehungen ihn beurteilen"; „die idealgefasste 
Zurechnungsfähigkeit bewährt sich nicht, abertrotz alledem: der 
Mensch will die ideale Fassung der Zurechnungsfähigkeit und er 
soll und muss sie wollen". (Damit kann man, wie hier von uns 
hinzugefügt werden mag, die vollkommenen, idealen Figuren der 
Mathematik vergleichen: z. B. ideale Rundheit gibt es nicht in der 
Natur, aber der Mathematiker verlangt, dass es solche geben soll 
und rechnet, als ob es solche geben würde; so ist auch nach 
Hoppe doch die ideale Zurechnungsfähigkeit trotz ihrer Un- 
möglichkeit eine berechtigte Annahme.) Dann heisst es bei Hoppe 
weiter: „Man muss Achtung vor den Menschen haben, dass sie 
diese Forderung (das Gute absolut zu tun um seiner selbst willen 
vom idealen Standpunkt aus) machen, und dass sie ihr beistimmen, 
als versehe sie sich, wie es auch der Fall ist, ganz aus ihrer 
Natur. Und so lange es Menschen gibt, werden sie sich auch 
zu dieser Forderung erheben, um so mehr, je mehr sie in Idealen 
leben, nach Idealen streben". 



IX. Praktische (ethische) Fiktionen. 



61 



Daraus ergibt sich also der Schluss: Wie die Wissenschaft 
(speziell die Mathematik) auf Imaginäres führt, so führt auch das 
Leben auf Unmögliches, das aber darum doch berechtigt ist — 
absolute Zurechnungsfähigkeit, absolute Freiheit, Gutes tun um 
seiner selbst willen (absolut). Du bist Mensch und musst diese 
edeln Gefühle haben — so befiehlt der Idealist und mit ihm die 
Gesellschaft. 

Also das Imaginäre (das Abstrakte, Ideelle) hat seine Be- 
rechtigung trotz seiner Unwirklichkeit Ohne solches Imaginäre 
sind weder Wissenschaft noch Leben möglich in höchster Form. 
Das ist eben die Tragik des Lebens, dass die wertvollsten Begriffe, 
realiter genommen, wertlos sind. So kehrt sich der Wert der 
Realität um. Auch F. A. Lange weist darauf hin, dass Ideal und 
Wirklichkeit ihre Rolle wechseln; das Ideale, das Unwirkliche 
ist das wertvollste: man muss »das Unmögliche fordern"; auch 
wenn es auf Widersprüche führt, 

Dass speziell die Idee der absoluten Zurechnung auf einen 
Widerspruch führt, darauf weist auch Hoppe a. a. (X hin, S. 52 ff.: 
„Die absolute Zurechnungsfähigkeit, wie die absolute Vollkommen- 
heitsforderung (nebst dem kategorischen Imperativ) ist nur ein 
Wunsch, nur ein ideelles Begehren nach einem Nichtexistierenden", 
es ist „eine ideale Schaffung der Menschheit"; ib. S. 86 ff. : 
„Freiheit ist nur ein Gedankending", aber die Menschheit muss 
an diesem imaginären Ideale festhalten wie die Mathematiker z. B. 
an imaginären idealen Punkten trotz ihres inneren Widerspruches. 
Eine ähnliche Stellung nimmt auch Börner ein: auch für ihn 
gibt es nur innere Notwendigkeit, keine Freiheit, und doch hält 
er an der Idee der Zurechnung fest. 

Eine ähnliche Stellung nimmt auch Adolf Steudel 
ein in seiner „Philosophie im Umriss. II. Praktische Fragen 
A: Kritik der Sittenlehre". (Stuttgart;, Bonz 1877.) Steudel 
widerlegt ausführlich die Freiheitslehre, meint aber, dass diese 
theoretische Widerlegung der Freiheitslehre die Sittenlehre nicht 
alteriere, und sagt ausdrücklich S. 589: „Man lebe, denke und 
handle, als ob man vollkommen freie Gewalt über seine Willens- 
entschliessungen und sein Handeln hätte, das Naturgesetz wird 
sich darum nichtsdestoweniger mit Sicherheit vollziehen.* Doch 
ist sich Steudel nicht klar bewusst, was er damit sagt, resp. was 
sich daraus ergibt. Er erkennt nicht, dass die Freiheitsfiktion 



62 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung, A. Aufzählung der Fiktionen. 

einerseits durch die Forderung des absolut Guten, andrerseits 
durch die Notwendigkeit der Strafe gerechtfertigt ist. 

Es ist wichtig und belehrend, zu zeigen, welche verschiedene 
Form dieser Streit häufig angenommen hat. Der bekannte Statisti- 
ker Rümelin in Tübingen hat im Herbst 1876, am 6. November, 
eine Rede gehalten: Über einige psychologische Voraus- 
setzungen des Strafrechts.*) Er geht davon aus, dass die 
Freiheit und Verantwortlichkeit eine notwendige Voraus- 
setzung des Strafrechts seien und führt das dann weiter so aus: 
die Freiheit sei freilich ein angefochtener Begriff; aber man 
muss, meint er, bedenken, dass dann, wenn man die Freiheit 
theoretisch leugne und doch praktisch zur Grundlage des 
Straf rechts mache, ein unerträglicher Zwiespalt zwischen Theorie 
und Praxis entstehe. Ihm kommt ein solcher Zwiespalt zweifel- 
haft vor nach beiden Seiten hin: wenn eine Theorie richtig und 
die auf sie gestützte Praxis falsch sei — so müsste es unfrucht- 
bare Wahrheiten, wenn aber die Theorie falsch und die 
darauf gestützte Praxis richtig sei — so müsste es fruchtbare 
Irrtümer geben. Ist dies, fragt unser Redner, wirklich anzu- 
nehmen? In den Naturwissenschaften, meint er, wäre diese Frage 
leicht zu beantworten; da gebe es Experimente und empirisch 
geführte Beweise. Schwieriger sei die Beantwortung dieser Frage 
in anderen Gebieten, und so auch im Rechtsleben. Im Strafrecht 
handelt es sich um den Begriff der Zurechnung, der Willens- 
freiheit, als einer notwendigen sittlichen, psychologischen Voraus- 
setzung. Denn wenn Strafe stattfinden soll, so muss auch eine 
Schuld stattfinden. Diese ist aber nicht vorhanden, wo die Zu- 
rechnung und Freiheit geleugnet wird. Der Determinismus in seinen 
verschiedenen Formen hebe diesen Begriff auf und suche die Strafe 
auf andere Weise zu rechtfertigen; allein die Abschreckungs- 
theorie sei gegen das sittliche Gefühl, das im Unrecht eine 
Schuld erblickt und die Strafe als Sühne und Vergeltung 
auffasst. Kant habe den Begriff einer intellektuellen Willens- 
entscheidung eingeführt, Herbart habe bemerkt, die Strafe treffe 
nicht den Wollenden, sondern den Willen; „Charakter" sei 
eine habituelle Willensrichtung. Alles dieses aber genüge nicht 
zur Begründung der Strafe. Der Strafrichter handle notwendig 



*) Diese Bede ist später im Druck crschienm in G. Bümdins „Redtn 
und Aufsätze", Neue Folge, 1881, & 37—75, 



IX. Praktische (ethische) Fiktionen, 63 

nach folgenden Voraussetzungen: 1. er nimmt die Existenz einer 
Seele an als eines realen, inneren Herrschaftspunktes, welcher die 
Triebe und Handlungen des Menschen bestimme und also seine 
Wahlfreiheit ausmache; % dem Strafrichter ist der Charakter nicht 
eine objektive Macht, welche den Willen bestimmt, sondern der 
Charakter ist ein Produkt des Willens; 3. er nehme in Jedem 
die Existenz eines Gewissens, eines Rechtsgefühls an, das Bewusst- 
sein eines sittlichen Sollens, dessen Nichtbefolgung Sühne und 
Vergeltung erheischt Dies, sagt Rümelin, sind ganz not- 
wendige Voraussetzungen des Richters, der sicherlich keinem Ver- 
brecher die Berufung auf die Notwendigheit seines Handelns zu- 
geben wird. Aber, fragt unser Redner, ist nun aus diesem Ver- 
fahren des Richters in der strafrichterlichen Praxis auch auf die 
Wahrheit jener theoretischen Sätze ein Schluss zu ziehen? Rümelin 
bejaht das. Es gelte die Einheit von Praxis und Theorie zu er- 
weisen und herzustellen; es gibt, schliesst er, keine fruchtbaren 
Irrtümer. 

Unsere Antwort auf diese Frage hätte natürlich umgekehrt 
gelautet. Wohl mag es bei der Betrachtung des einzelnen Begriffes 
dem Denker schwer fallen, einen so wichtigen Begriff für eine 
Fiktion zu erklären: aHein in dem grossen Zusammenhang unserer 
Untersuchung bildet dieser Begriff nur einen kleinen Bruchteil, 
und wo andere noch wichtigere Begriffe fallen, da kann es nicht 
schwer sein, auch diesen aus einer Hypothese sich in eine Fiktion 
verwandeln zu sehen. 1 ) 

Der oben mitgeteilte Gedankengang ist so recht ein Typus 
der bisher gewöhnlichen Betrachtungsweise und ein Beispiel des 
logischen Optimismus, Freilich, das geben wir zu, der 
Strairichter darf nicht erst lange Meditationen über die Freiheit 
anstellen: für ihn ist sie ein realgiltiger Begriff. Allein wenn 
wir auch nicht bloss zugeben, sodern sogar selbst fest darauf 
bestehen, dass die Freiheit die notwendige Voraussetzung der 
Strafe sei, so müssen wir doch daran festhalten, dass „Voraus- 
setzung" zweierlei Bedeutungen hat. Es kann dies eine 
Hypothese, es kann aber auch ein Postulat oder eine 
Fiktion sein. Es gibt allerdings einen Widerspruch zwischen 



I) Es ist indessen daran zu erinnern, dass selbst die Notwendigkeit der 
Voraussetzung der Freiheit auch nur noch in der Form einer Fiktion als 
Grundlage des Strafrechts vielfach bestritten wird, so besonders von Benedikt, 
Zur Fsychophysik der Moral und des Rechts, Wien 1875, besonders pag. 37 



64 tirster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung der Fiktionen. 

Theorie und Praxis, es gibt allerdings fruchtbare Irrtümer. 
Dies will freilich der logische Optimist nicht zugeben: allein 
gegen eine Tatsache kann man sich schliesslich nicht sperren. 
Die Geschichte der Menschheit ist voll von Beispielen, dass es 
nicht bloss viele fruchtbare Irrtümer gegeben hat (man nehme 
nur die Religionen), sondern auch schädliche Wahrheiten: 
der Redner selbst drückte sich freilich so aus: „unfruchtbare 
Wahrheiten"; dieser parallele Ausdruck mit „fruchtbaren Irr- 
tümern" verdunkelt aber seinen eigenen Gedankengang: den 
fruchtbaren Irrtümern entsprechen vielmehr schädliche Wahr- 
heiten. Damit ist freilich der logische Optimist nicht einver- 
standen, dem es schon in der Jugend eingepflanzt war, dass 
das Gute auch das Wahre sei, und dass die Wahrheit immer 
gut sei. Die Einheit von Gut und Wahr — dies hat schon 
Lange 1 ) treffend nachgewiesen — ist ein Ideal. Wir sagen statt 
Ideal — Fiktion. Denn auch alle Ideale sind für uns — logisch 
gesprochen — Fiktionen. 

Der logische Optimismus kann sich freilich nicht daran 
gewöhnen, dass im Gebiete der Wissenschaften manches nur ein 
Rechenpfennig ist, was der gewöhnliche Mensch für bare Münze 
nimmt. Gerade die Grundlagen mancher Wissenschaften stehen 
auf schwachen Füssen, so dass man übertrieben von einer 
vanüas omnium scientiarum gesprochen hat. 

Es sei noch die Bemerkung hier eingeschoben, dass die 
Behauptung des Redners, in den Naturwissenschaften wäre eine 
solche Frage leichter beantwortbar, uns nicht richtig erscheint: 
es werden- uns — ausser den schon angeführten naturwissen- 
schaftlichen Beispielen — noch mehrere naturwissenschaftliche 
Begriffsgebilde begegnen, bei denen wohl auch am Ende die 
Theorie ebenso faul ist als die Praxis fruchtbar. Gerade 
viele der wichtigsten und fruchtbarsten Begriffsgebilde sind voller 
Widersprüche. 

Unter den Neueren hat R. Seydel in seiner Ethik einen Ansatz 
dazu gemacht, die Freiheit als eine Fiktion zu fassen, und 
zwar eben als eine Fiktion in unserem Sinne — nämlich als eine 
zwar widerspruchsvolle, aber höchst fruchtbare und notwendige 
Grundlage der Ethik, nicht in dem Sinne eines blossen Irrtums, 
in welchem Sinne das Wort Fiktion oft gebraucht wird. 



1) Geschichte des Materialismus, 2. A. II. 498 



IX. Praktische (ethische) Fiktionen. 



65 



Ein besonderes Interesse wird die Behandlung abgeben, 
welche Kant diesem Problem angedeihen Hess, 

Grün, Philosophie der Gegenwart pag. 209 sagt über Kants Freiheits- 
lehre: ,Das Absoiutum des freien Willens ist nur eine Hypothese 
zu praktischen Zwecken — aber im weiteren Verlauf gerät dieser Aus* 
gang in Vergessenheit, und der Leser bewegt sich auf hypothetischem 
Gebiete, welches er allmählich mit erfahrungsmässigem Boden verwechselt." 
Diese Ausdrucksweise ist mangelhaft; «Hypothese zu praktischen Zwecken" 
heisst wissenschaftlich; eineFiktion. Man muss nur immer mit „Fiktion" 
den fest bestimmten Begriff einer wissenschaftlichen Erdichtung zu 
praktischen Zwecken verhindern Sonst ist die Behandlung dieser Frage 
bei Grün gut, sogar sehr gut. So sagt Grün a. a. O. 367 sehr richtig: 
„Nach Kant gibt es ausser der Erkenntniskritik keine Metaphysik. , . . 
Was unsere Vernunft aus der Erfahrung echliesst, kann niemals hinter 
die Erfahrung . . . führen. Die einzige reine Vernunftidee, welche Kant 
postulierte, nicht erwies, die Idee der Freiheit, war für ihn selbst ein 
imaginäres Gerüst, mittels dessen er das Gebäude der Moral auf- 
zurichten versuchte, dem er selbst aber jede theoretische Haltbar- 
keit, jeden realen Erkenntniswert absprach*. 
Kant war vollständig auf dem Weg, die Freiheit als „Idee*, 
d. h, als Fiktion anzusehen: auch war die Konzeption der in- 
telligiblen Freiheit zuerst wohl nur als Fiktion gedacht: allein 
der reaktionäre Zug, den man auch sonst bei Kant findet, bewog 
ihn, aus der Fiktion doch wieder eine Hypothese zu machen, 
welche dann natürlich von den Epigonen vollends in ein Dogma 
verwandelt wird, und die sie dann als solches mit Begeisterung 
verbreiten. Faktisch hat diese Konzeption aber nur Wert, wenn 
sie als eine zweckmässige Fiktion behandelt wird, wie denn alle 
diese Fiktionen 'Betätigungen der organischen Zwecktätig- 
keit der logischen Funktion sind. Dagegen verbietet die logische 
Paradoxie, der Widerspruch, der in diesem Begriffe enthalten ist, 
ihn als eine Hypothese gelten zu lassen, der etwas Objektives 
entspräche. Hierher gehören auch teilweise jene schon unter dem 
Namen * symbolische Fiktionen - zusammengefassten Begriffs- 
gebilde, so weit sie das praktische Handeln beeinflussen: so soll 
nach Kant der Mensch nicht nur in seinem Handeln beurteilt 
werden, als ob er frei wäre, sondern er soll auch so handeln, 
als ob er einst dafür zur Rechenschaft gezogen würde, ja Kant 
zwar nicht selbst, aber Schleiermacher erlaubt sogar das Gebet 
als eine praktische Handlung,') solange nur das Bewusstsein nicht 

1) Sogar noch Strauss, Alter und neuer Glaube, pag, III. Siehe ib> 
113 über Schleiermachers bewusste Illusion beim Gebet. Ibidem Uber Kant; 
ib. 118/119 über die Funktion des Gottesbegriffes im Kantischen Systeme. 

5 



G6 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung der Fiktionen. 



j erlischt, dass es so zu betrachten sei, ats ob wirklich ein Gott 

dasselbe erhören wurde. Bekanntlich enthält aber gerade auch 
der Gebetsbegriff Antinomieen, welche seine Objektivität nicht zu- 
lassen: im Gebet, wenigstens innerhalb des Islams und des 
Christentums, ist ein unlösbarer Widerspruch zwischen der Allmacht 
Gottes, welcher das Gebet erhören kann, und zwischen seiner 
al lesvorauswissenden Weltregierung, abgesehen noch von den 
Widersprüchen, in welche sich der gewöhnliche Gebetsbegriff mit 
den Naturgesetzen verwickelt. 

Unter diese Kategorie der praktischen Fiktionen sind noch 
eine Reihe moralischer Begriffe und Postulate zu zählen, 
z> B. der Begriff der Pflicht (den Maimon eine „schlechte 
Fiktion" nennt), der Unsterblichkeit u. s. w. 

Vgl. hierüber Riehls gleichlautendes Urteil, Kritiz. i, 437 ferner 
Dühring a. a. O. 339 von den beiden Schwerpunkten Kants, „deren einer 
eine Fiktion gewesen sein müsse"; ib. pag. 403ff. „Imaginäres (cfr, 
Grün, Philos. 32). 

Über die Idee der Unsterblichkeit vergleiche man besonders Bieder- 
mann, Christliche Dogmatik §949—973; Biedermann lässt diese Idee 
als Fiktion zu, bekämpft sie aber als Hypothese resp. als Dogma: eine 
wahrhaft edle Seele brauche sie nicht. 

Die grossartigste Fiktion dieser Art ist die „moralische Welt- 
ordnung 4 (vgl. Dühring a. a~ 0. 439). So auch die unendliche Ver- 
vollkommnung, le progrfes indftini ($. Grün, Philosophie, pag. 16) sowohl 
beim Individuum (Leibniz) als in der Weltgeschichte. VergL auch 
Kants Ansichten vom ideal eines höchsten Wesens. 

Richtig urteilt MiH in der Schrift über den Theismus: „Die Ideen 
von Gott und Unsterblichkeit sind für Kant „Incitive": Anteuerungs- 
Reiz- oder Erziehungsmittel; das „imaginäre gute Wesen* 
ist ihm eine Norm» zu der wir aulblicken. 

Über Kants Lehre vom ,inteiHgibeln Charakter tt vgl Dühring a. a. CX 
473, und Grün a. a, O. 66. Der Begriff „intelligibler Gegenstände" über- 
haupt ist fiktiv (vgl. Lange, Beiträge 34). 

Es hängt dies alles enge zusammen mit der von dem Darwinismus 
so genannten Ausbildung nützlicher Illusionen durch die natürliche Zucht- 
wahl, was besonders Hellwalds Kulturgeschichte sehr lebhaft betont. 

Über solchen Rückhalt, den man hinter die Forderungen des Ge- 
wissens stellt (wie die sittlichen Fiktionen) s. Strauss, A. u. n. Glaube, 
pag. 100. Dort freilich als Hypothesen. Ibidem 109 über die sym- 
bolische Fiktion, sich einen Gott räumlich vorzustellen. 

Über Herbart vgl. Drobisch, Herbartrede 21. Nach Herbart ist die 
Fiktion eines deisttsch gedachten Gottes eine notwendige moralische 
Fiktion; es fordere die Religion, dass derjenige, der als Vater für die 
Menschheit gesorgt bat, jetzt im tiefsten Schweigen die Menschheit sich 
selbst überiässt, ais ob er keinen Teil an ihr habe. 



IX. Praktische (ethische) Fiktionen. 



67 



Fichte war sehr nahe daran, sein Sittengesetz in Form einer Fiktion 
auszusprechen: z. B. „Das empirische Ich soll so gestimmt werden, wie es 
gestimmt sein könntet* oder: „Handle so, dass du die Maxime deines 
Willens als ewiges Gesetz für dick denken könntest*. Wie man sieht, sind 
diese Formulierungen nicht weit entfernt von der Fiktion; sachlich sind 
sie es (s. Best. d. Gel., I. Vorl.). Hierher gehört auch die Fiktion „eines 
idealischen Menschen*, ib. IL Vorl.: alles Idealische ist unerreichbar, sowie 
die Idee des Naturstandes nach Rousseau (5. Vorl.). Nach Huxley, 
Reden und Aufsätze S. 20 ist die Annahme der gleichen, natürlichen Rechte 
eine unlogische Täuschung, aber eine notwendige Voraussetzung. 

Überhaupt ist hier die idealisierende Phantasie tätig, welche 
ideale Fiktionen schafft; diese .entwirft Muster und Normen, nach denen 
wir z. B. den Wert einer Sache, z. B. den ästhetischen, bemessen; auch 
wenn wir wohl wissen, dass sie anders nicht sein konnte 
(nämlich die Sache), so sagen wir doch, dass sie sollte*. Mit diesen 
Worten ist das Wesen einer praktischen Fiktion von Laas (Kant, Ana- 
logien der Erfahrung, 310) sehr deutlich ausgesprochen. Das „als ob* 
liegt hier in der Bildung eines absoluten, aber fiktiven Massstabes. 
Hierher gehört auch das daselbst besprochene Urteil Kants über PJatons 
Idee der Tugend. Wenn Kant sagt, dass diese Idee nichts Chimärisches 
enthalte, so hat er nur insofern recht, als die Idee eine brauchbare 
Fiktion ist, aber eine Fiktion bleibt sie doch. So ist auch die Idee der 
Freiheit trotz Kants Verwahrungsurteil, sie widerspreche nicht 
der Erfahrung, doch eine Fiktion (cfr. Laas, a. a. O. 310/11). Ob und in- 
wiefern diese und ähnliche Fiktionen für alle Zeiten und für alle Menschen 
zum Aufbau einer sittlichen Gesinnung notwendig sind, ist eine andere 
Frage. Über die Möglichkeit, »diese Fiktionen zu eliminieren*, finden 
sich Andeutungen bei Grün a. a. O. S. 366. 

Also gehören hierher alle jene im gewöhnlichen Leben so- 
genannten „Ideale", welche logisch genommen eben nur 
Fiktionen sind, dagegen praktisch einen ungeheuren welt- 
historischen Wert besitzen. Das Ideal ist eine in sich widerspruchs- 
volle und mit der Wirklichkeit in Widerspruch stehende Begriffs- 
bildung, welche aber ungeheuren weltüberwindenden Wert hat 
Das Ideal ist eine praktische Fiktion. 

In diesem Satz liegt das Prinzip dessen klar ausgesprochen, 
was Lange seinen Standpunkt des Ideals nannte. Ihm 
mangelte noch die logische Terminologie, mit Hilfe deren 
wir einfach so formulieren: Die Ideale sind keine Hypothesen; 
dies wären sie, wenn sie erreichbar wären, oder wenn sie in 
irgend einem Teil der Welt erreicht worden wären, sondern sie 
sind Fiktionen. 

Wie enge dies mit der historischen Frage zusammenhängt, 
wie Piaton seine Ideen verstanden haben wollte, erhellt deutlich. 



68 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung der Fiktionen. 

Hiermit haben wir einen der wichtigsten Punkte erreicht, 
welchen wir spezieller zu behandeln haben werden. Wir ziehen 
in den Kreis der Fiktion nicht nur gleichgültige theoretische 
Operationen herein, sondern Begriffsgebilde, welche die edelsten 
Menschen ersonnen haben, an denen das Herz des edleren Teiles 
der Menschheit hängt, und welche diese sich nicht entreissen lässt. 
Wir wollen das auch garnicht tun — als praktische Fiktion 
lassen wir das alles bestehen, als theoretische Wahrheit aber 
stirbt es dahin. 

Der so oft missverstandene Begriff Langes, der Begriff der 
Dichtung, erweist sich von hier aus als ein unklarer Ausdruck 
dessen, was wir Fiktion nennen. Wir gehen damit auf die eigent- 
liche psychologische Quelle aller dieser Gebilde der menschlichen 
Einbildungskraft zurück: wir haben die gemeinsame logische Ver- 
standeshandlung gefunden, welche sowohl diesen riesenhaften 
Konzeptionen der Menschheit zugrunde liegt, als ganz indifferen- 
ten logischen und wissenschaftlichen Methoden: aus jenem kleinen 
logischen Kunstgriff — Begriffsgebilde zu formieren, welche 
praktischen Zwecken dienen, ohne doch theoretisch weiter wert- 
voll zu sein — entspringen jene logischen Methoden ebenso gut 
als die wichtigsten praktischen Begriffe der Menschheit Das 
Gemeinsame ist aber der ungeheure praktische Wert, den 
alle diese Begriffsgebilde haben, während ihnen doch keine 
objektive Wirklichkeit entspricht. 

Der logische Optimist wird dieses hier in wenige Sätze ge- 
drängte Programm für niederschlagend erklären: wir können an 
dem Resultate deshalb doch nichts ändern. Die Wissenschaft 
geht unbarmherzig vorwärts. Wem solche Erkenntnis fürchterlich 
erscheint, wem sie eine schädliche Wahrheit ist, wer glaubt, 
dadurch seine Ideale als wertlos wegwerfen zu müssen, wer sie 
gar darum einfach wegwirft — der hat eben auch nie an jenen 
Idealen mit aller Macht seiner Seele gehangen. Wir sprechen 
hiermit zugleich in unserer Terminologie das eigentliche Prinzip 
der Kantischen Ethik aus: die eigentliche Sittlichkeit ist 
nur dann vorhanden, wenn sie auf einer fiktiven Grundlage 
ruht; aber alle hypothetischen Grundlagen derselben: 
Gott, Unsterblichkeit, Lohn, Strafe etc. — zerstören ihren 
sittlichen Charakter: d. h. wir sollen wohl so handeln, als ob 
es unsere von Gott auferlegte Pflicht wäre, als ob wir dafür 
zur Rechenschaft gezogen würden, als ob wir für Unsittlichkei* 



IX. Praktische (ethische) Fiktionen. 69 

bestraft würden: mit derselben Pünktlichkeit und mit demselben 
Ernste. Aber sowie dieses Als ob sich in ein Weil verwandelt, 
hört der Charakter der reinen Sittlichkeit auf, und es ist blosses 
niederes und gemeines Interesse, blosser Egoismus, 

So erweitert sich vor unseren Blicken jener kleine Kunstgriff 
der Psyche zum mächtigen Quell nicht bloss der ganzen theoretischen 
Weltanschauung — denn aus ihm entspringen ja alle Kategorien — 
sondern auch zum Ursprung alles idealen Glaubens und Handelns 
der Menschheit. Man schreibt das sonst der Einbildungs- 
kraft der Menschen zu: allein dies ist ebenso wertlos, als die 
organischen Prozesse einer „Lebenskraft" zuzuschreiben: es handelt 
sich um den Nachweis der zugrunde liegenden mechanischen 
Prozesse. Gemäss rein mechanischen Gesetzen des Seelenlebens 
haben diese Gebilde eine ungeheuere praktische Wichtigkeit 
und spielen eine unersetzliche Vermittlerrolle; ohne sie ist 
die Lust des Begreifens unmöglich, ohne sie die Ordnung des 
chaotischen Materials, ohne sie ist alle höhere Wissenschaft un- 
möglich, denn sie dienen zurVermittlung, Berechnung, Vorbereitung; 
ohne sie ist endlich alle höhere Sittlichkeit unmöglich. Trotz 
dieser enormen Wichtigkeit jener Funktion sind doch ihre Produkte, 
eben jene Begriffsgebilde, immer nur als Fiktionen zu betrachten 
ohne eine entsprechende Wirklichkeit, als freie Vorstellungs- 
gebilde, welche aus dem mechanischen Vorstellungsspiel mit 
immanenter Notwendigkeit entstehen, als Hilfsmittel und 
Organe, Welche sich die zwecktätig funktionierende logische 
Tätigkeit zur Erleichterung und Vervollkommnung ihrer Arbeit 
selbst schafft, mag sich diese Arbeit auf die Wissenschaft oder 
auf das Leben beziehen. Somit ist die Phantasie allerdings „das 
Prinzip des Weltprozesses", aber freilich in einem anderen Sinn, 
als Frohschammer, der Verfasser des gleichnamigen Buches, 
meint. 



Kapitel X. 
Fiktive Grundbegriffe der Mathematik.*) 

Als ein weiteres besonderes Gebiet behandeln wir ferner 
die mathematischen Fiktionen. Wir haben schon bemerkt, 
dass neben der Jurisprudenz gerade in der Mathematik bishei 



*) Im MS. =*§27 (Anfang). 



70 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung der Fiktionen. 

die Fiktionen allein zur Geltung gekommen sind. 1 ) Der tiefere 
Grund dieser Erscheinung ist, dass in diesen beiden sonst so 
diametral entgegengesetzten Gebieten die freie imaginative 
Tätigkeit des Menschen am wirksamsten arbeiten kann. Die 
mathematischen Gebilde sind imaginative Produkte der psychischen 
Funktionen, und alle (juristischen) Gesetze sind ebenso reine 
Produkte einer freischaffenden Tätigkeit des menschlichen Geistes. 
Freilich ist beidemale auch ein objektiver Massstab da, an dem 
die mathematischen Konzeptionen und die juristischen Be- 
stimmungen zu messen sind; nichtsdestoweniger waltet hier die 
Psyche frei mit dem gegebenen Material Die Ähnlichkeit der 
Methoden beider Wissenschaften beschränkt sich nicht nur auf die 
Grundbegriffe, welche in beiden Gebieten rein fiktiver Natur 
sind, sondern zeigt sich auch in dem ganzen methodischen Ver- 
fahren. Was zuerst das Letztere betrifft, so handelt es sich in 
beiden Gebieten oft darum, einen einzelnen Fall unter ein All- 
gemeineres zu subsumieren, dessen Bestimmungen nun auf jenes 
Einzelne angewendet werden sollen. Nun aber widerstrebt das 
Einzelne dieser Subsumtion; denn das Allgemeine ist nicht so 
umfassend, um dieses Einzelne unter sich zu begreifen. In der 
Mathematik handelt es sich z.B. darum, die krummen Linien 
unter die geraden zu subsumieren; das hat ja den enormen 
Vorteil, dann mit denselben rechnen zu können. In der Juris- 
prudenz handelt es sich darum, einen einzelnen Fall unter ein 
' Gesetz zu bringen, um dessen Wohltaten oder Strafbestimmungen 
auf jenen Fall anzuwenden. In beiden Fällen wird nun dies in 
Wirklichkeit nicht herzustellende Verhältnis als hergestellt be- 
trachtet: so wird z. B. die krumme Linie als gerade betrachtet, so 
wird der Adoptivsohn als wirklicher Sohn betrachtet Faktisch 
ist aber beides geradezu unmöglich. Eine krumme Linie äst 
niemals gerade, ein Adoptivsohn ist niemals ein wirklicher Sohn; 
oder um andere Beispiele zu wählen: der Kreis soll als eine 
Ellipse gedacht werden; in der Rechtswissenschaft wird der nicht 
erschienene Beklagte betrachtet, als ob er die Klage zugestanden 
habe, wird der eingesetzte Erbe im Falle der Un Würdigkeit 
betrachtet, als ob er vor dem Erblasser gestorben sei. 



1) Die Ähnlichkeit der Jurisprudenz und Mathematik hat schon 
Leibniz betont Vgl. auch Conti» Storia della HIosofia, Firenze 1876, 
2. Ed. 410/11. 



X. Fiktive Grundbegriffe der Mathematik. 



71 



Die Rechtswissenschaft hat es bei ihren Fiktionen indessen 
viel leichter als die Mathematik: dort sind Fälle, denen Willkür- 
liehe Gesetzesbestimmungen gegenüber stehen; da ist also eine 
Übertragung leicht möglich. Man denkt sich die Sache eben ein- 
fach so, als ob sie so wäre. In der Mathematik setzt aber das 
sprödere Material der Raumverhältnisse dieser Misshandlung durch 
den Kunstgriff Widerstand entgegen: hier weiss sich nun die 
togische Funktion auf eine Weise zu behelfen, die dem logischen 
Betrachter entzückend erscheint in ihrer Genialität; dieser Kunst- 
griff ist einer der merkwürdigsten, den die Psyche erfand. JedeT 
Kenner der Mathematik und ihrer bewunderungswürdigen Methodik 
weiss, dass nun die Psyche in jenen Fällen so verfährt: der Kreis 
wird als eine Ellipse betrachtet, deren beide Brennpunkte die 
Distanz 0 haben (diese ingeniöse Methode ist eine in der Mathe- 
matik sehr beliebte); bei der Subsumtion der krummen Linien 
unter die geraden wird die krumme Linie als aus einer unend- 
lichen Anzahl gerader Linien bestehend betrachtet. 

Die Grundbegriffe der Mathematik sind der Raum und 
zwar der leere Raum, die leere Zeit, der Punkt, die Linie, 
die Fläche, und zwar Punkte ohne Ausdehnung, Linien 
ohne Breite, Flächen ohne Tiefe, Räume ohne Erfüllung. 
Alle diese Begriffe sind widerspruchsvolle Fiktionen: die 
Mathematik ruht auf einer vollständig imaginativen Grundlage, 
sogar auf Widersprüchen. 

Über den leeren Raum als Fiktion hat schon Hobbes sich sehr klar 
geäussert: De corpore 12 (vgl. Erdmann, Grundriss I, 593): „Denkt man 
steh, um das Universum aus Prinzipien zu entwickeln, für den 
Augenblick Alles uns Gegenüberstehende weg, so bleibt doch die Er- 
innerung des Uns-Gegenüber-gestanden-habens oder Ausser-uns-gewesen- 
seins. Dieses Ausser-uns-sein nennen wir Raum, unter dem also 
«in imaginarium zu verstehen ist oder das blosse phantama rei acistentis 
quatenus existentis (vgl. das Spinozistische quatenua); ähnlich äussert sich 
Hobbes über die Bewegung; ebenderselbe spricht sehr treffend über die 
aus Fiktionen entstehenden Scheinprobleme. Wenn Dühring 
im Cursus pag. 66 sagt, kein reales Naturdenken werde den leeren Raum, 
von dem das kosmische Universum umgeben gedacht wird (was eine 
richtige Vorstellung wäre), in besonderen Fragen anders als negativ zu 
be nützen vermögen — so kann damit doch nur gemeint sein, dass 
«diese Vorstellung eine nützliche Fiktion sei. 

Verwandt mit der Fiktion des leeren Raumes ist die des Nichts 
überhaupt Das Nichts zu einer Hypothese zu machen, ist eine der 
folgenschwersten Irrtümer, wie das warnende Beispiel mancher philo- 
sophischen Systeme (z. B. das E. v. Hartmanns) lehrt 



72 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung der Fiktionen. 

Über das Punktuelle vgl. Czolbe, Erkenntnistheorie 29. 

Wie das System der Benamung, so ist auch das System der Zäh- 
lung ein auf Fiktionen beruhendes Hilfsmittel. Dass die Zahlen dem 
gemeinsamen Schicksal der Fiktionen, hypostasiert zu werden, nicht ent- 
gingen, ist bekannt. Vgh Lewes* treffende Bemerkungen über Pytha- 
goras l, 14Z Zahlen sind für uns nur Symbole. 

Aus der Fiktivität der Mathematik schliesst Hume falsch auf ihre 
Nichtanwendbarkeit auf die Wirklichkeit. Vgl. über Humes antigeome- 
trische Erörterungen: Riehl, Der Kritizismus l, 97; sehr treffend auch 
Lambert, a. a. O. 178. 

Aus diesen mathematischen Grundbegriffen hat die Psyche 
eine ganze Wissenschaft aufgebaut, die vielbewunderte Mathematik. 
Manchmal kam den Mathematikern das Bewusstsein, dass sie mit 
Widersprüchen sich befassen, aber nie oder selten hat dies tiefere, 
theoretische Erörterung gefunden, Die offene Anerkennung dieser 
Widersprüche in der Mathematik in Bezug auf die Grundlagen 
ist für den Fortschritt der Wissenschaft absolut notwendig ge- 
worden: die oft versuchten Vertuschungsversuche erwiesen sich 
als fadenscheinig. Es erhebt sich dann die Frage, warum denn 
die Mathematik doch die normative Wissenschaft für alles Ge- 
schehen sei? Die Beantwortung dieser Frage erfordert eine tiefere 
Untersuchung der mathematischen Abstraktion. 

Auch die Vorstellung der leeren Zelt, wie sie der Mechanik zugrunde 
Hegt, als eines stehenden, bleibenden Gebildes, einer Form, wie sie auch 
Kant auffasst, ist eine auf abstraktiver und einseitiger Isolierung 
beruhende Fiktion; vgl, Laas a. a. O. 73, 76. Es ist aber einleuchtend, 
dass der leere Raum, die leere Zeit unentbehrliche Fiktionen der 
Mechanik sowie der Erkenntnistheorie sind. 

Dass ausserdem .die mathematischen Idealkonzeptionen*, weiche 
,die Wirklichkeit anregt* , „der sie aber nie völlig exakt entsprechen* — 
auch nach dieser Seite hin also fiktiv sind (cfr. Laas, a. a. O. pag. 78), 
ist ein allgemein angenommener Satz: ein reiner Kreis, eine absolut 
gerade Linie u. s. w. sind Ideale: d.h. Fiktionen. Vgl ib. 172, wo 
die absolute Linie, die konstante Geschwindigkeit, die Un- 
bedingtheit, die Totalität, die Unendlichkeit, das Bewusst- 
sein überhaupt, das Ding an sich als Ideale, d.h. als Fiktionen 
zusammengestellt werden. Vgl. die geometrischen Imaginationen 
a. a- O. pag. 208. 

Über Zenonische Punkte — termini s. Leibniz, Ep. ad. Patrem des 
Bosses, 1716; mathematische Punkte seien points de vue t Gesichtspunkte; 
vgl. Leibniz 1695 Systeme nouveau de la naturt etc. 

Über den Punkt als Fiktion vergleiche man auch die Lehren der Natur- 
philosophen, welche überhaupt gerade hierin oft wichtige Gedanken haben. 
Speziell sei hingewiesen auf Michelets Naturphilosophie § 174; schon 
Piaton nenne den Punkt ein <?6ypa yeto^ez^xuy im Sinne einer Fiktion, 



X. Fiktive Grundbegriffe der Mathematik. 



73 



Punkt wie „Atom" sei nur ein , Grenzbegriff*. Die „Grenze* selbst ist 
eine fiktive Annahme, wenn man sie hypostasiert. 

Dass die Linie aus Punkten besteht, ist auch eine mathematische 
Fiktion, Vgl. hierüber wiederum Michelet a. a. O., der auch über die 
Asymptoten als imaginäre Gebilde sich äussert Auch wies Michelet in 
seiner Logik § 75 nach, dass und wie manches als möglich Angenommene 
doch in sich logisch unmöglich ist. 

Die Philosophie der Mathematik, spezieil bei Michelet, bietet hierzu 
noch viele Beispieie. Lehrreich ist, was Michelet über die Differential- 
rechnung ausführt Wenn der Kreis als Polygon betrachtet wird, so ist 
dies eine formale Identifizierung auf Kosten der qualitativen Differenz; 
der Kreis wird so angesehen, als ob er ein Polygon aus unendlich vielen, 
unendlich kleinen Seiten wäre. 

Dass solche Fiktionen auf Widersprüche führen, sieht man an den 
Zenonischen Schlüssen, welche darauf beruhen, dass die Fiktion der 
Raum- und Zeitatome (der unendlich kleinen Raum- und Zeitteile) ernst 
genommen und in Wirklichkeit verwandelt wird. Die Fiktion wird zur 
Hypothese und daraus folgen die krassesten Widersprüche (vgt Michelet, 
Naturphilosophie § 174). 

Man vergleiche hierüber auch Schettlers Philosophie der Mathematik 
in seinem Buche: „Die Naturgesetze" Braunschweig 1876/77. 

Die Mathematiker machen solche Fiktionen gerne, um die Wirklich- 
keit besser berechnen zu können; z. B. die Fiktion „einer unendlich dünnen 
Schale, ellipsoidisch, von zwei ähnlichen Flächen begrenzt"; oder die 
, Fiktion einer unendlich dünnen Schicht"; vgl. auch die Fiktion einer 
Hilfskugel. Siehe Lejeune Dirichlet, Vorlesungen über die im umgekehr- 
ten Quadrat der Entfernung wirkenden Kräfte, herausgegeben von Grube, 
Leipzig 1876, pag. 135 ff. Vieles findet man bei Hanke 1, dem Philo- 
sophen unter den Mathematikern, ferner in Kirchhofs Mathematischer 
Physik; in Gunthers Vermischten Untersuchungen zur Geschichte der 
mathematischen Wissenschaften, Leipzig, Teubner 1876; bei Schüler, Arith- 
metik und Algebra in philosophischer Begründung, Leipzig, Teubner 1876. 

Um den Begriff des Krümmungsmasses zu gewinnen, resp. um verschie- 
dene Krümmungen vergleichen zu können, führt Gauss in 6enDisquisiti<mes 
gcnerales circa supsrficiei curvas, Kap. VI, eine Hilfskugel ein. Gauss nennt 
„Krümmungsmass" in einem Punkt der krummen Fläche den Wert des- 
jenigen Bruches, dessen Nenner der Inhalt eines unendlich kleinen Stückes 
der krummen Fläche in diesem Punkte — und dessen Zähler der Inhalt 
eines entsprechenden Stückes der Fläche einer Hilfskugel von angegebener 
Konstruktion ist Jacoby, Die Idee der Entwicklung S.85IL meint, dass 
die Anwendung dieses Begriffes von Riemann auf den Raum selbst unlogisch 
sei, denn er passe nur auf gekrümmte Oberflächen (es handelt sich dabei 
Offenbarum eine unberechtigte Ausdehnung, s. unten Kap. XII). Ibid. weiteres 
über unmögliche (aber doch berechtigte) mathematische Begriffe. Vgl. ferner 
Wi essner, Die wesenhafte und absolute Realität des Raumes, Leipzig 
1877, S.56ft, wo der Wert der mathematischen Fiktionen ganz verkannt ist 

Dass die Wahrscheinlichkeitslehre auch auf einer Fiktion 
beruht, hat E. v. Hart mann sehr gut im Anhang zur 7. Aufl. seiner 



74 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung der Fiktionen. 

„Philosophie des Unbewussten* entwickelt, an einer Stelle, welche in der 
französischen Ausgabe in folgender Weise angeSührt ist: 

Da es streng genommen keinen Zufall gibt, so beruht die Wahrschein- 
lichkeit mehr auf einer Fiktion. Eine solche Fiktion eines Zufalles sei nur 
möglich, well unsere Wissenschaft nicht alle Ursachen umfasst, welche in 
einem Falle wirken: denn sonst gebe es keine Wahrscheinlichkeit, sondern 
nur Gewissheit Nichtsdestoweniger sei die Annahme eines Zufalls für 
unsre Erkenntnis unentbehrlich (indispensable); da die Gewissheit ewig 
unvollkommen bleibt, so muss man ihr die Wahrscheinlichkeit substituieren. 

Si, malgre' le fondement fictif sur lequei il repose, le calcul des 
probabilitäs conduit ä des resuitats relativement slexactes, cela tient ä ce 
que, quand les mömes faits se reproduisent tres frequemment, une partie 
seulement des causes concourantes agit constamment tandis que Tautre 
partie varie tellement, que les effets se compensent, d'autant plus com- 
pletement que les faits se rGpetent plus souvent Les causes constantes, 
qui sont reconnues comme teües, ne peuvent plus Stre le fondement sur iequel 
repose le calcul des probabilites puisque leurs effets sont reconnus comme 
necessatres. Quant aux causes variables qui se compensent, ce n'est 
point parcequ'elles ägissent avec une regularite* causale dans chaque cas 
particulier, qu'elles permettent Tapplication du calcul de probabilite\ 
Mais c'est plutöt parceque leurs effets se compensent dans une longue 
serie des cas, c'est ä dire parce qu'on y voit le meme resultat se produire 
comme si aucune causalite n'avait fait sentir son action, et comme si 
les difförences des cas particulier« Itaient purement reffet du hasard. 
C 1 est une fiction dans le processus de notre monde, fiction sans 
doute innocente dans la pratique et meme utile pour tenir lieu de la vraie 
connaissance des choses: — also trotz der unerschütterlichen Überzeugung 
der universellen Kausalität muss man doch die Fiktion des Zufalls machen, 
um die Wahrscheinlichkeitslehre überhaupt begründen zu können. 
Der leere Raum ist also eine rein mathematische Fiktion, 
und doch geht alle wissenschaftliche Erkenntnis darauf aus, die 
Weltprozesse auf Atombewegungen im leeren Raum zu reduzieren. 
Dass auch das Atom eine Fiktion sei, in jeglicher Gestalt, anti- 
zipieren wir, um einen wichtigen Gedanken hier schon aussprechen 
zu können: die Reduktion alles Geschehenden auf Atombewegungen 
im Räume, das Ziel aller Wissenschaft, ist faktisch das Bestreben, 
alles Geschehen und Sein auf Vorstellungsgebüde zu reduzieren, 
welche rein fiktiver Natur sind. 

Das Begreifen besteht in der Reduktion auf bekannte 
Vorstellungsgebilde: der leere Raum und das körperlich gedachte 
Atom sind scheinbar bekannte Vorstellungsgebilde — faktisch 
sind sie nur Fiktionen. Ist es aber gelungen, alles hierauf zu 
reduzieren, so scheint die Welt begriffen. Sie scheint esl 

Denn jene apperzipierenden Vorstellungsgebilde sind Fiktionen, 
sind Produkte der Einbildungskraft. Alles Geschehen wird auf 



X. Fiktive Grundbegriffe der Mathematik. 



75 



diesen uns bekannten Massstab gebracht, und wie Reduktionen 
aus einem Masssystem in das andere, z. B. in das Metersystem 
nicht ohne Brüche abgehen, so auch hier nicht diese ungeheure 
Reduktion auf das uns bekannt scheinende Vorstellungsgebilde. 

Die ungeheure Arbeit der modernen Wissenschaft reduziert 
also alles Geschehen, das in letzter Linie absolut unbegreiflich ist, 
auf einen ganz subjektiven Massstab, der eine reine Fiktion ist. 

Ähnlich häufig Laas in den „Analogien der Erfahrung" z. B. pag. 105: 
„Idealbegriffe des Objekttvgiltigen und des Gleichmassig- 
Hiessenden*. Ob die pag. 105/6 besprochene absolute Weitzeit*«= 
„Weit eines Bewußtseins überhaupt* nicht auch nur fiktiv zu ver- 
stehen ist? Hier stossen wir auf die enorme Schwierigkeit, Fiktion und 
Hypothese zu scheiden. 

Jetzt erscheint uns erst das Verständnis für die volle Be- 
deutung Kants aufzugehen. Nach ihm ist ja der Raum subjektiv 
und alles wirkliche Sein unbekannt Die Kantischen Beweise 
hierfür sind unzulänglich: der einzig richtige Beweis, der stich- 
haltig ist, ist folgender: Der Raum ist ein subjektives Vor- 
stellungsgebilde, weil er voller Widersprüche ist: es ist ein 
Merkmal aller echten Fiktionen, Widersprüche zu enthalten: der 
Begriff des Raumes ist ein Nest von Widersprüchen- Das Vor- 
stellungsgebilde des Raumes hat die PsyGhe erfunden, formiert, 
um in ihn das ihr gegebene Geschehen — die chaotische und 
widerspruchsvolle Masse der Empfindungen — zu ordnen. 
Der Raum ist ein uns allmählich ganz bekannt und vertraut 
gewordenes Vorstellungsgebilde, das uns durch Gewohnheit 
wirklich und ganz harmlos erscheint: faktisch ist dieser Be- 
griff voller Widersprüche, Das kosmische Geschehen hat in 
der Psyche diesen Begriff des tridimenslonären Raums 
hervorgetrieben, um den Schein des Begreifens zu er- 
zeugen. Das wirkliche Geschehen ist uns unfas9ber: aber das- 
selbe wird in diesen Raum hineinprojiziert, in dessen Verhältnissen 
es sich gleichsam spiegelt 1 ) 

Die ungeheure Gedankenarbeit der Menschheit ist nur darauf 
bedacht, alles Geschehen auf diesen -Massstab zu reduzieren und 
so alles zu begreifen. Aber dieser tridimensionäre Raum ist ein 
fiktives Begriffsgebilde voller Widersprüche. 

Man hat nun neuerdings versucht, diese Widersprüche 
durch Erfindung künstlicher Räume zu lösen: aHein das führt 



1) Vgl. Laas, a, a. O. pag. 208. 



76 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung, A. Aufzählung der Fiktionen. 

immer zu denselben Widersprüchen: übrigens beruht die Vor- 
stellung solcher Räume mit n-Dimensionen auf einem neuen 
Kunstgriff des Denkens, indem einfach viel allgemeinere Gebilde 
erdacht werden, als wirklich gegeben sind 



Kapitel XL 

Die Methode der abstrakten Verallgemeinerung.*) 

Die Methode der abstrakten Verallgemeinerung ist ein 
weiterer genialer Kunstgriff des Denkens, der aber auch nicht 
ohne Widersprüche abgeht Sein Wert besteht darin, dass die 
Erdichtung viel allgemeinerer Verhältnisse die Durcharbeitung der 
speziellen wirklich gegebenen erleichtert. 

Diese abstrakte Verallgemeinerung ist also das Gegenstück zur 
abstrakten Vereinfachung, welche wir oben behandelten. Dort 
wurde das Empirische einfacher, weniger kompliziert gedacht, hier wird 
das Empirische vielfacher und viel komplizierter gedacht 
Diese ursprünglich nur in der Mathematik heimische Methode 
hat sich neuerdings auch in anderen Gebieten eingebürgert und 
eine Reihe fiktiver Begiiffsgebilde erzeugt. In der Mathematik 
wird der Raum mit 3 Dimensionen als ein Spezialfall gedacht, 
da ja auch mehr als drei Dimensionen abstrakt denkbar sind: 
durch die Bildung solcher Räume, solcher Begriffsgebilde, die 
aber widerspruchsvoll sind, ist es nun ermöglicht, das Einzelne 
schärfer in seinen Verhältnissen zu erfassen. 

Diese Fiktion hat viele Gegner, u, a. Dühring (Cursus 68), der diese 
Vorstellung mystisch nennt. (De r Vorwurf des Mystizismus kehrt wieder 
bekanntlich beim Atom, Differential, Ding an sich, Kraft — kurz bei allen 
Fiktionen.) Mystisch sind solche Vorstellungen nur, wenn man in ihnen 
Hypothesen sieht; aber als bewusste Fiktionen sind sie wertvoll. Wir 
haben also die Fiktion nicht bloss von der Hypothese zu unterscheiden, 
sondern auch gegen ihre Verächter zu schützen. Wie die Hypothese, so 
hat auch die Fiktion viele Gegner — freilich gab es viele schlechte 
Fiktionen. Allein die Verachtung rührt doch teilweise oder meistens nur 
daher, dass man solche Fiktionen für Hypothesen hält, wie die Verachtung 
der Hypothesen daher rührt, dass sie sogleich dogmatisch auftreten. — 
Laas, a. a. 0. pag. 212/13 sagt: „Wir halten sogar die an sich erlaubte 
Erweiterung des Umfangs eines alten Terminus in unserem Falle, da sie 
anschauliche Wirklichkeit mit unanschaulichen, wenn auch rechnungsergie- 
bigen abstrakten Denkmöglichkeiten mischt, für gewaltsam, ja gefährlich * 



*■ Im M&=*g 27 (Forts.). 



XI. Die Methode der abstrakten Verallgemeinerung. 



77 



Gewaltsamkeit und Gefährlichkeit ist das gemeinsame Merkmai aller 
Fiktionen; auch die Unanschaulichkeit, welche hier sich zum Widerspruch 
steigert, ist Merkmal solcher Fiktionen; mit Recht fügt aber Laas die 
Rechnungsergiebigkeit zu. Mit diesem treffenden Ausdruck ist das 
Wesen der Fiktion gut bezeichnet Eine andere Frage ist, ob die Fiktion 
eines Raumes mit mehr als 3 Dimensionen wirklich wertvoll sei? Das 
Kriterium einer guten Fiktion ist bloss die praktische ff Rechnungsergiebig- 
keit 0 . Dagegen ib. pag. 346 die wirkliche Existenz der Räume mit mehr 
als 3 Dimensionen als eine Hypothese aufzustellen und diese für „mög- 
lich* zu halten, dies ist unseres Erachtens eine höchst bedenkliche 
Wendung. Denn Hypothesen und Fiktionen unterscheiden sich gerade 
dadurch, dass jene sich nur auf reale Möglichkeiten beziehen, diese 
dagegen auf gedankliche Möglichkeiten. Also die fiktive Mög- 
lichkeit von Räumen mit mehr als 3 Dimensionen ist nimmermehr zu 
verwechseln mit der hypothetischen Möglichkeit 

Wie wichtig solche Fiktionen sein können, erhellt daraus, dass Helm- 
hol tz aus der logischen Möglichkeit eines Raumes von n-Dimensionen 
ein Argument gegen Kants Theorie des Angeborenseins der Raum- 
vorstellung (in 3 Dimensionen) zieht Ob dieses Argument nicht gegen 
eine missverstandene Lehre Kants gerichtet sei, ist eine andere Frage. 

Die abstrakte Verallgemeinerung ist ein Produkt der viel 
freieren Stellung, welche die jetzige Menschheit den Dingen 
gegenüber einnimmt; sie beruht aber einzig und allein darauf, 
dass die gegebenen Spezialfälle selbst nur Produkte der Ein- 
bildungskraft sind, und sie ist auch nur da anwendbar, wo dies 
der Fall ist Alle diese Spezialfälle sind von der vorwissenschaft- 
lichen Periode instinktiv hervorgebracht worden: nun denkt sich 
das wissenschaftliche Denken vermöge derselben Einbildungskraft, 
durch welche jene primären Produkte geschaffen worden sind, 
andere allgemeinere Fälle, welche abstrakt denkbar sind, also 
z. B. einen Raum mit n-Dimensionen. Indem man nun erforscht, 
warum der Spezialfall, den man vor sich hat, also z. B. der Raum 
mit 3 Dimensionen übrig geblieben und gewählt worden ist, 
findet man die Ursachen und Motive, welche das Denken bei 
seiner Bildung geleitet haben: er ist den Gegenständen am besten 
angepasst, kurz, er ist der einzig übrig gebliebene Fall aus einer 
Reihe anderer möglicher und ist durch Selektion als der passendste 
erwiesen worden. So ist es mit dem Raum mit 3 Dimensionen; 
so sehen wir auch, dass noch viel mehr Kategorien möglich sind, 
von denen nur einige Spezialfälle geblieben sind. 

Nun erst sehen wir den Nutzen der Verallgemeinerung voll- 
ständig ein. Diese Verallgemeinerung nimmt die Bestandteile des 
Seienden selbst auseinander und legt sie in viel allge- 



TS Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung der Fiktionen. 

meinerer Weise wieder zusammen und findet die vielen 
Möglichkeiten, welche noch — möglich gewesen wären: nun 
werden die Gesetze der compaasibilitas (im Sinne von Leibniz) 
studiert, und dadurch wird das Einzelne viel tiefer erkannt 

Diese Möglichkeit der abstrakten Verallgemeinerung — nebst der oben 
besprochenen Möglichkeit, krumme Linien als unendlich oft gebrochene 
gerade Linien zu betrachten u. Ä. — könnte als ein Hinweis auf die Sub- 
jektivität des Raumes erscheinen; eine solche freie Behandlung der An- 
schauungselemente wäre vielleicht gar nicht möglich, wenn nicht diese 
Formen von Anfang an subjektiv waren; aJJerdings Hesse sich damit die 
Apriorität dieser Formen nicht so leicht vereinigen. Aber der Raum 
kann sehr wohl subjektiv sein, im Sinne Berkeleys, ohne doch im Sinne 
Kants auch apriorische Vorstellung neben und über den Einzelempfhv 
düngen zu sein. 

Diese Methode der abstrakten Verallgemeinerung ist einer 
der genialsten Kunstgriffe des Denkens: man wendet ihn in allen 
Gebieten an und denkt das Bestehende, Einzelne, allgemein ge- 
nommen als Spezialfall vieler anderer Möglichkeiten, Dieser Kunst- 
griff ist nicht nur das Prinzip des wissenschaftlichen Fortschrittes, 
sondern auch des ganzen praktischen Fortschrittes der Menschheit 
Die grossen Reformatoren des sozialen Lebens denken sich stets 
das Bestehende als einen Spezialfall unter vielen Möglichkeiten. 

Ein Beispiel dieser abstrakten Verallgemeinerung hatten wir 
schon oben: die Idee eines Weltgeistes, dem alle kosmischen 
Bewegungen bekannt wären. 

Vgl die Fiktion des „Bewusstseins überhaupt* von Laas, welche 
auf einer abstrakten Generalisation beruht; diese Fiktion muss noch 
im Anschiuss an Kants Methode ausführlicher besprochen werden. 

Dieselbe Methode, welche zuerst die Mathematik von der 
Gebundenheit an das Gegebene, resp. Traditionelle befreit hat, 
hat Kant eingeschlagen: man denkt sich diese Welt als den 
Spezialfall vieler anderer Möglichkeiten. („ Seinsmöglichkeiten*, 
Laas, a> a. O. S. 39.) Die Formen der Anschauung: Raum, Zeit, 
und die Kategorien erschienen ihm als Spezialfälle allgemeinerer 
Möglichkeiten. 

Das ist ja freilich zu bemerken, dass auch hier die Methode 
missbraucht werden kann, und dass faktisch viel Unfug damit ge- 
trieben wird. Es ist eben keine scharfe Grenze zu ziehen zwischen 
den Gebieten der Poesie und Wissenschaft, und leicht entstehen 
chimärische Vorstellungsgebilde. Aber andererseits ist die Ein- 
sicht, dass auch in der Wissenschaft die Imagination eine grosse 
Rolle spiele, einer der Hauptfortschritte der modernen Erkenntnis- 



XI. Die Methode der abstrakten Verallgemeinerung. 79 

theorie: in diesem Sinne hat Kant mit Recht und mit Bedacht 
von der „transscendentalen Einbildungskraft 11 gesprochen. Diese 
Einsicht hat man neuerdings von der Philosophie auch auf andere 
Wissenschaften übertragen, freilich niemals in dem Massstabe, in 
welchem es hier geschehen ist, wo so viele Grundbegriffe für fiktiv 
erklärt werden, d. h. für Produkte der Einbildungskraft, des freien 
Schaffens der Psyche, welche dabei indessen immerhin an die 
gegebenen Sukzessionen und Koexistenzen des Empfindungs- 
materials gebunden ist Wenn die Bildung von Fiktionen wertvoll 
sein soll, so muss man eben stets wieder von ihnen aus zum 
Gegebenen den Weg hinabfinden können. 

Zum Schluss sei noch ein Beispiel der Methode der ab- 
strakten Verallgemeinerung angeführt, das uns zu einer besonderen 
Abart führt. Laas, Kants Analogien der Erfahrung S. 35 ff., ent- 
wickelt die Möglichkeit, dass es wirkliche Welten geben könnte, 
welche sich von unserer Erscheinungswelt so sehr unterscheiden, 
dass in denselben nicht einmal der Satz der Identität und des 
Widerspruchs gelten würde* „So gewaltsam der Gedanke ist, 
unausführbar ist er nicht: es ist ansetzbar und ausdenkbar, dass 
.... all unser Denken ein solches wäre, welches gar keinen 
Anspruch darauf zu machen hätte, irgendwo an irgend einem 
Seienden sich bewährt zu finden .... So gewaltsam, wie gesagt, 
eine solche Fiktion ist, sie ist angesichts der Kantischen Grund- 
vorstellungen, nach welchen es absolut unbekannte Seinsformen 
geben soll, eigentlich sogar nahe gelegt, und für die erschöpfende 
Charakteristik unseres wirklichen Denkens und wirklichen Seins 
jedenfalls eine gute Vorbereitung." In diesem Sinne heisst es 
dann S. 37 weiter: diese Ausführungen „stellen sich so, als gäbe 
es eine undefinierbare Menge der verschiedenen Seinsformen; sie 
eröffnen allen Ernstes jene gewaltsame Möglichkeit, die ein Nicht- 
kantianer nur als eine für die Charakterisierung des wirklichen 
Denkens und Seins um des Kontrastes willen nützliche Fiktion 
zulassen könnte". Man kann also hierbei „viele, vielleicht unend- 
lich viele Seinsmöglichkeiten ansetzen und danach unser bekanntes 
Sein als einen glücklichen Spezialfall behandeln - . Eine derartige 
abstrakte Verallgemeinerung kann man also im Anschluss an diese 
Stelle aus Laas als eine „Kontrastfiktion* bezeichnen, d. h. als 
eine solche, welche durch Aufstellung kontrastierender Gebilde 
die wirklichen besser zu begreifen sucht 



80 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung der Fiktionen. 

Kapitel XIL 

Die Methode der unberechtigten Übertragung.*) 

Mit den bisher aufgeführten sind die mathematischen Fik- 
tionen resp. die darauf bezüglichen Methoden nicht erschöpft. 
Insbesondere die Methode der unberechtigten Übertragung, 
wie ich sie nennen möchte, von der wir oben Beispiele hatten 
(Subsumtion des Krummen unter das Gerade, des Kreises unter 
die EHipsenformel), ist in der Mathematik sehr beliebt, und sie 
wird mit grossem Erfolg zu einer Verallgemeinerung der 
Formeln angewandt 

Forma! gehören als Spezialfall dieser Gattung auch alle jene Be- 
griifsgebilde an, wo eine auf zwei Glieder sich erstreckende Beziehung 
einem einzigen derselben (gewöhnlich dem ersten) als eine Beziehung 
auf sich selbst zugeschrieben wird, d. h, wo also das eine Glied fiktiv 
verdoppelt wird (auch zu vergleichen mit Kap. XVI); so z. B. „Pflichten 
gegen sich selbst" oder „causa sui € \ ebenso Sunde gegen sich selbst (sein 
eigener Feind etc.). Pflicht ist ein Verhältnis von A zu B, ebenso causa. 
Wird nun A verdoppelt, also (A — A), so lässt sich dasselbe Verhältnis 
auf A selbst allein anwenden. 

Diese Fiktionen sind nicht bloss praktisch in der Pf lichten lehre, 
sondern auch theoretisch in der Metaphysik notwendig, und enthalten 
in sich das irrationale. Irrational ist z. B>, seine eigene Ursache zu 
sein, irrational ist, Pflichten <oder Rechte) gegen (oder auf) sich selbst 
zu haben 

Der Ausdruck „Pflicht gegen sich selbst* ist formal genau dasselbe 
wie etwa ^TT~, da ja doch 1 gar keine Produktenzahl ist, ebenso ist die 
Behauptung, 1 = 1.1, eine Fiktion, d. h. eine unberechtigte Ausdehnung. 
Produkt kann nur eine mehrfache Zahl sein; der Satz 1 = 1*1 ist somit 
eine unberechtigte Rückausdehnung „Rechte auf sich selbst" sind 
juristische Fiktionen, ebenso „Pflichten gegen sich selbst" sind moralische 
Fiktionen. Vgl. auch „Wechsel auf sich selbst*, ferner Ausdrücke wie 
z. B. „meine Seele" 
Insbesondere [sind die sog. Nullfälle hier von Wert, wie 
wir dies oben beim Kreise sahen (um ihn unter die Ellipsenformel 
bringen zu können, wird bekanntlich der Kreis als eine Ellipse 
betrachtet, deren beide Brennpunkte die Distanz = 0 haben). 
Ähnlich wird diese Methode der Nullfälle z. B. angewandt, um 
die gerade Linie unter den Begriff der krummen zu bringen, 
indem sie als eine krumme Linie mit einem Krümmungshalb- 
messer =0 betrachtet wird Diese Methode ist verwandt mit 
der Methode der abstrakten Verallgemeinerung. Sie beruht darauf, 



V Im Jlf& = § 27 (FortsX 



XI L Die Methode der unberechtigten Übertragung. 



81 



der Null, einem ganz fiktiven Vorstellungsgebilde, eine Existenz 
zuzugestehen. 

Dieselbe Methode ist beteiligt bei der Bildung der negativen 
Zahlen, der Bruchzahlen, der irrationalen und imaginären 
Zahlen; 1 ) schon die Bezeichnung dieser Gebilde deutet ihre 
logische Bedeutung an: es sind fiktive Vorstellungsgebilde, welche 
für die Erweiterung der Wissenschaft und Verallgemeinerung 
ihrer Resultate einen hohen Wert haben trotz der klaffenden Wider- 
sprüche, welche in diesen Begriffen enthalten sind. Dies wird 
eine genauere Betrachtung derselben, welche besonders auch auf 
die Geschichte dieser Begriffe einzugehen hat, zeigen. Diese 
Begriffe sind auch zugleich Belege für unsere obige Behauptung, 
dass solche irregulären Bildungen und Begriffe meist mit einem 
gewissen mystischen Schimmer umgeben werden: die Geschichte 
der Mathematik weiss davon zu erzählen, mit welcher aber- 
gläubischen Ehrfurcht diese Zahlbildungen noch im XVIII. Jahr- 
hundert betrachtet wurden. 2 ) Jetzt gelten sie allgemein als fiktive, 
aber sehr wertvolle und fruchtbare Zahlgebilde, Das Grundprinzip 
ist eben auch hier eine unberechtigte Anwendung und Übertragung 
einer logischen Methode auf Fälle, die strenggenommen nicht 
darunter zu subsumieren sind, oder die Betrachtung solcher Ge- 
bilde als Zahlen, welche gar keine rechten Zahlen sind. Nega- 
tive Zahlen sind ein Selbstwiderspruch, wie alle Mathematiker 
zugeben; es ist eine Ausdehnung der Subtraktion über das Mass 
der logischen Anwendungsmöglichkeit derselben hinaus: die 
Bruchzahlen sind das Produkt derselben Methode bei der Division 
und die irrationalen Zahlen bei der Radizierung; das monströseste 
Zahlgebilde dagegen sind die imaginären Zahlen, denen die 
Konstruktion durch Gauss, Drobisch u. A. nichts von ihrer fiktiven 
und widerspruchsvollen Natur genommen hat 

Überhaupt beruht die ganze Mathematik, auch die Arithmetik, 
auf rein imaginativer Basis,*) ebenso das Messen und ähnliche 

1) Dies ist näher ausgeführt, wenn auch teilweise höchst mangelhaft in 
<lem Buche von Fresenius, Die psychologischen Grundlagen der Raumwissen- 
schaft, Wiesbaden 1868; hier ist, freilich auf teilweise sehr schwacher Grund- 
lage, indessen mit beachtenswerten Resultaten, versucht, das methodische 
Verfahren der Mathematik auf psychische Operationen zurückzuführen. 

2) Beispiele hiervon gibt Klügeis Mathematisches Wörterbuch in den 
bezüglichen Artikeln, 

3) Vgl. Laas, a.a.O. 35. Ferner hat besonders Göring in seinem 
System der kritischen Philosophie hierauf aufmerksam gemacht. 

ö 



82 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A» Aufzählung der Fiktionen 

raathematische Methoden. Die ganze Mathematik ist das klassische 
Beispiel eines ingeniösen Instrumentes, eines Denkmittels zur 
Erleichterung der Denkrechnung. 

Dies hebt auch Fresenius hervor: die mathematischen Gebilde, 
sowohl die Gestalten als die Zahlen sind nur Abstraktionen, Gebilde der 
mathematischen Abstraktion, welche eine einzige Seite der Wirklichkeit, 
die Ausdehnung oder die Mehrheit und Vielheit zum Gegenstand der 
Untersuchung macht mit Vernachlässigung aller anderen. Dass die Frage 
nach dem Wesen der mathematischen Gebilde schon den Alten, ins- 
besondere Aristoteles, eine wichtige war, wird noch zur Sprache kommen; 
sie sind keine hypothetischen Gebilde, sondern fiktive; bei „fiktiv" ist 
aber stets das Merkmal im Auge zu behalten, das wir als das Wesen der 
wissenschaftlichen Fiktion statuierten, dass es zweckmässige Gebilde der 
Einbildungskraft seien; insofern ist „fiktiv" ein anderer Terminus als 
„imaginativ"; letzteres bezeichnet nur die Seite des Eingebildeten; jenes 
aber, (in unserem Sinne, hat noch das wesentliche Merkmal der Zweck- 
mässigkeit, des Kunstgriffes zu einem praktischen Ziel; so wurde das 
Wort auch bisher in der Mathematik und Jurisprudenz gebraucht; dagegen 
in der Erkenntnistheorie war die erstexe Bedeutung überwiegend, wie wir 
in der historischen Übersicht bei Hume sehen werden. Fiktion bezeichnet 
also in unserem Sinne immer ein zweckmässiges Gebilde der Einbildungs- 
kraft zum Zweck der Erleichterung des wissenschaftlichen Denkens« 

Dass die ganze Zahlenbildung imaginativ sei, lehrt nicht 
bloss die Möglichkeit der unendlich vielen denkbaren Zahlen- 
systeme, sondern auch die Tatsache der Unendlichkeit der Zahl 
selbst; von dem Begriff der Unendlichkeit aber wird noch die 
Rede sein. 

Eine ingeniöse mathematische Methode ist ferner, die Linien 
und Flächen als zusammengesetzt aus Linien- und Flächen- 
elementen von unendlich kleiner Ausdehnung zu betrachten. 
Man wendet diese Methode in zweierlei Hinsicht an: erstens, wie 
wir sehen werden, um den Gebrauch der Masszahlen überhaupt 
theoretisch zu begründen — eine Notwendigkeit, welche erst 
neuere Mathematiker erkannt haben — sodann um sämtlichen 
Linien den Vorteil einer identischen Massweise zukommen zu 
lassen, besonders um die krummen Linien ebenfalls bemessen und 
berechnen zu können. Schon die versuchte Subsumtion dieser 
unter die geraden Linien, d. h. der Begriff der Länge einer 
Kurve ist, wie Lotze richtig bemerkt, 1 ) eine Fiktion. Um aber 
diese Fiktion brauchbar zu machen, wird eine neue Fiktion gemacht. 



i) Lotze, Logik, pag. 400. Lotze ist beinahe der einzige, welcher, wie 
sich zeigen wird, die Fiktion theoretisch behandelt hat; freilich ungenügend. 



XII. Die Methode der unberechtigten Übertragung. 



83 



Kaum bietet einer der in unser Gebiet hereinfallenden 
Gegenstände ein so umfassendes Interesse, einen so hohen wissen- 
schaftlichen Reiz, als derjenige, bei dem wir nun angelangt sind. 
Besonders die historische Betrachtung der Versuche, welche die 
logische Funktion machte, um die jenem Ziel entgegenstehenden 
Schwierigkeiten wegzuräumen, gehören unter das Belehrendste, 
was die Geschichte aller Wissenschaften, was speziell die Ge- 
schichte der Mathematik aufzuweisen hat Es sind dies die Ver- 
suche, das Krumme unter den Begriff und die Gesetze des Ge- 
raden zu bringen» In zwei auf einander folgenden Etappen wurde 
dies Ziel genial erreicht, einmal durch die Cartesianische 
Reform der Analysis, sodann durch die Infinitesimalmethode 
Leibnizens und die Fluxionsrechnung Newtons. Was den 
ersteren Punkt betrifft, so galt es einmal, überhaupt das Bildungs- 
gesetz krummer Linien auf das der geraden zu reduzieren: dies 
gelang dem Descartes durch eine äusserst sinnreiche Methode, 
welche auf den mathematischen Schüler zum erstenmal in ihrer 
einfachen Genialität denselben grossartigen Eindruck zu machen 
pflegt, wie die erste Einführung in den Kantischen Grundgedanken 
auf den jungen Philosophen. Beidemal geht uns plötzlich ein 
wunderbar erhellendes strahlendes Licht auf. 

Die Parallele, welche hier gezogen wird, dürfte passender und frucht- 
barer sein, als die von Kant selbst gezogene Vergleichung seines Grund- 
gedankens mit dem Kopernikanischen Gedanken. Die Cartesianische 
Idee beruht au! der Fiktion der Koordination; durch diese Fiktion ge- 
lingt es, die krummen Linien unter die Gesetze der geraden zu bringen ; 
die Gewaltsamkeit der Fiktion zeigt sich darin, dass es nicht ohne den Begriff 
der Unendlichkeit abgeht, der immer das sicherste Symptom davon ist, dass 
die logische Funktion auf gefährlichen und verbotenen Wegen wandelt. Die 
Berechtigung, diese Cartesianische Idee zusammenzustellen mit der Kant- 
ischen Idee, besteht in Folgendem (was aber hier nur kurz anzudeuten 
ist): Wie Cartesius die krummen Linien berechnet durch Reduktion auf 
Koordinaten, auf Abszisse und Ordinate, so bringt Kant die „Welt" auf das 
Verhältnis der beiden erkenntnistheoretischen Koordinaten, Subjekt und 
Objekt. Allein so wenig sich vollständig die krummen Linien so reduzieren 
lassen — es spielt immer der verbotene Begriff des Unendlichen herein — 
so wenig ist die Welt einzig und allein auf das Verhältnis von Subjekt und 
Objekt zu reduzieren; es bleibt hier das „Ding an sich", ein mystischer 
Unbegriff. Also auch bei Kant ist eine unberechtigte Übertragung des 
Verhältnisses von Subjekt und Objekt aus einer Sphäre, in der es giltig 
ist, auf eine Sphäre, in der es nicht mehr gilt Also die Sinnesempfin- 
dungen z. B. sind allerdings zu reduzieren auf ein Verhältnis von Subjekt 
zu Objekt, dagegen schliesslich die ganze Welt darauf reduzieren wollen, 
führt zu einem Widersinn. Und doch hat dieser Gedanke so aufklärend 
gewirkt l 6» 



84 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung der Fiktionen. 

Also unser Gedanke hierbei ist folgender; die Reduktion einer Reihe 
von Phänomenen z. B. Farben» Tönen, Geschmäcken u. s w. au! das Ver- 
hältnis eines Subjekts zum Objekt ist berechtigt und aufklärend, und 
nimmt alle Widersprüche weg, welche hier für den sinnlichen Menschen 
sich ergeben. Dagegen Materie und alles andere auch hierauf reduzieren 
zu wollen, führt schliesslich zur Annahme, dass alles von uns Vor- 
gestellte nur in uns sei, d.h. also auch die Kausalität; das Vorgestellte 
sei aber doch kausiert durch ein Ding an sich; und das ist dann der 
Widerspruch im Ding an sich (d. h. es wird als absolute Causa angesetzt, 
während doch der Kausalitätsbegriff rein subjektiv sein soll). 

Es dient also zur leichteren Berechnung der Wirklichkeit, wenn man 
sie ganz auf subjektive Verhältnisse reduziert, denen man ein unbekanntes 
X gegenüberstellt. Diesem X entspricht als anderes Glied das unbe- 
kannte Y. Wie nun aber schliesslich in der Rechnung der Mathematiker 
die Koordinaten herausfallen — sie sind ja nur Hilfslinien — , so auch 
schliesslich in der Erkenntnistheorie X und Y, d. h. Objekt und Subjekt. 
Das heisst mit anderen Worten: 

Das wahre, letzte Sein ist ein einheitlich zu denkender FIuss von 
Successionen und Koexistenzen. Durch die Ziehung der Hilfslinien X 
und Y f d. h. Objekt und Subjekt, suchen wir diesen Fluss zu erfassen 
und zu berechnen. Die Fiktion eines X (Objekts) und Y (Subjekts), 
welche bei Kant einander gegenübergestellt werden, fällt also schliesslich 
heraus, wenn sie ihren Dienst getan hat Dies führt einfach auf den 
Humeschen Standpunkt, den neuerdings Avenarius vertritt, dass nichts 
existiert als die Empfindung, welche polar von uns zerlegt wird in Sub- 
jekt und Objekt; durch diese polare Zerlegung wird hier im Gebiete der 
Erkenntnistheorie dasselbe erreicht, was im Gebiete der Theorie der 
krummen Linien durch die Ziehung der Koordinaten, speziell der Polar- 
koordinaten. Also Ich und Ding an sich sind Fiktionen, taktisch existiert 
nur das, was zwischen ihnen Hegt, die Empfindungsmasse, an deren 
eines Ende wh* das Subjekt, an das andere wir das Objekt setzen. Durch 
diese Einschiebung wird das Sein berechnungsfähig Die Scheidung in 
Inneres und Äusseres ist ein Hilfsmittel der Psyche. 

Dadurch wird das Sein berechnungsfähig, allein es entstehen Wider- 
sprüche. Die Kantische Reduktion der Welt auf das Verhältnis von Sub- 
jekt und Objekt 1 ) ist also zu vergleichen mit deT Cartesianischen Idee. 
Bei der Cartesianischen Vorstellung spielt das „Als ob* der Fiktion eine 
grosse Rolle (genau wie bei Kant). Cartesius betrachtet die krumme 
Linie, als ob sie aus der Gegeneinanderbewegung zweier Geraden ent- 
standen wäre; Kant betrachtet die Welt, als ob sie durch die Gegen- 
einanderbewegung zweier Dinge (Subjekt und Objekt) entstanden wäre. 
(Vgl. Laas a. a O. pag. 246 und besonders 238.) 

Hier kann zugleich die Bemerkung stattfinden, dass überhaupt die 
Unterscheidung von Subjekt und Objekt nur eine sekundäre sein wird. 
d.h. eben auch eine Fiktion; auch die Unterscheidung des Inneren und 



1) Auch später noch betrachten wir das „Ding an sich* als eine Fiktion; 
vgl. Kap. XVII. 



r 



XII. Die Methode der unberechtigten Übertragung, S5 

Äusseren überhaupt dient dazu, den Schein des Begreif ens zu erzeugen; 
diese Unterscheidung hat noch verschiedene praktische Vorteile: wir ver- 
muten, dass auch sie nur eine nützliche Fiktion sei. So betrachtet sie 
der moderne Denker überhaupt: schon Platner sagt (Aphorismen I, 387 ff.) 
an der Stelle, wo er die rohen Scheinbegriffe der Welt behandelt, 
auch der Unterschied materieller und geistiger Dinge sei ein solcher roher 
Scheinbegriff. In demselben tadelnden Sinne scheint Riehl diese Unter- 
scheidung eine Fiktion zu nennen. (Der philosophische Kritizismus I, 
177). Sowohl RieKtals Platner betonen nur die negative Seite der Sache; 
allein die positive Seite ist, dass diese Unterscheidung eben eine 
Fiktion ist, welche sehr nützliche Dienste leistet. 
# 

Die zweite Etappe in der Methode, das Krumme unter den 
Begriff des Geraden zu bringen, geschah durch Leibniz und 
Newton. Einen besonderen Reiz bieten hier die Unter- 
suchungen der merkwürdigen Tastversuche des logischen Triebes 
dar, welche dieser in den Vorgängern jener beiden, besonders 
in der Person des Engländers Wallis und des Italieners Cavalleri 
zur Erreichung dieses Zieles machte. Die eigentliche Vollendung 
dieser merkwürdigen Methode geschah durch Ausbildung eines 
Vorsteüungsgebildes, das helfend und vermittelnd einspringt und 
das eigentliche Standardbeispiel einer Fiktion ist: es ist die Fiktion 
der Differentiale resp. Fluxionen. Dies sind rein fiktive, 
widerspruchsvolle Vorstellungsgebilde, vermittelst welcher aber 
jene Subsumtion des Krummen unter das allgemeine Vorstellungs- 
gebilde des Geraden und seiner Gesetze gelingt Diese über alle 
Massen bewunderungswürdige Methode ist das beste Beispiel jener 
z. T. unbewussten Zwecktätigkeit der logischen Funktion, die 
wir oben ausführlich geschildert haben. Weder Newton noch 
Leibniz waren sich vollständig und konsequent klar darüber, 
was sie eigentlich logisch taten, als sie jene Vorstellungsgebilde 
erfanden. Es bildet ein bekanntes und ungemein viel behandeltes 
Thema, wie denn eigentlich Newton und Leibniz ihre Konzeptionen 
ursprünglich verstanden haben wollten. Nirgends erscheint die 
zwecktätige Funktion des logischen Triebes glänzender und er- 
finderischer als in diesem Teile der Mathematik: die ganze nach- 
folgende, nun zwei Jahrhunderte dauernde Kontroverse drehte 
sich darum, ob die Differentiale resp. Fluxionen Hypo- 
thesen oder Fiktionen seien. Alle die scharfsinnigen Ein- 
wendungen, welche später gegen diese Methode gemacht worden 
sind, beriefen sich sowohl auf die Unmöglichkeit, dass solche 
Gebilde objektiv existieren könnten, als auch auf die Widersprüche, 



86 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A, Aufzählung der Fiktionen 

in welche sich diese Methode verwickele. Dass jenes kein Ein- 
wand sei, davon sind wir nun endlich überzeugt, nachdem wir 
im Vorhergehenden eine Reihe von Vorstellungsgebilden entdeckt 
haben, welche trotz ihrer Unrealität doch dem Denken die grössten 
Dienste leisten. Dass aber Widersprüche dadurch entstehen, 
ist ebenfalls kein Einwand, sobald man sich an unsere neue Be- 
trachtungsweise gewöhnt, welche das alte Vorurteil ablegt, als ob 
das Denken nur durch widerspruchslose Operationen fortschreite 
und Ergebnisse erreiche. Im Gegenteil haben wir im Vorher- 
gehenden unsere neue Ansicht zu begründen versucht, welche 
ebensowohl von Hegel als Lotze geahnt worden ist. 

Man ist heute weit entfernt, die Widersprüche gelöst zu 
haben, welche die Infinitesimalmethode enthält. Zwei Jahrhunderte 
lang haben sich die Mathematiker bemüht, samt den Philosophen, 
zu zeigen, dass in derselben keine solchen Widersprüche 
seien; wir kehren den Gesichtspunkt um und stellen die 
Sache geradezu auf den Kopf; jene Widersprüche sind nicht 
bloss nicht wegzuleugnen, sondern sie selbst sind ge- 
rade das Mittel, durch welches der Fortschritt erreicht 
worden ist. 

Unter den Gegnern der Infinitesimaltheorie ragt, was selbst 
Mathematikern und Philosophen nicht mehr bekannt ist, Berkeley 
sehr hervor. Er hat die in dieser Methode enthaltenen Widersprüche 
mit einer bewunderungswürdigen Klarheit und Eleganz aufgedeckt, 
und merkwürdigerweise hat er auch zugleich gezeigt, wie das 
Denken trotz dieser Widersprüche sein Ziel erreicht; allein er hat 
diese Entdeckung gar nicht verwertet, sondern im Gegenteil trotz 
derselben die Infinitesimalmethode als widerspruchsvoll verworfen. 
Erst im XIX. Jahrhundert ist diese Entdeckung neu gemacht 
worden, in Frankreich durch Ca r not; in Deutschland durch 
D robisch, ohne dass diese Entdeckung das Aufsehen gemacht 
hätte, welches sie verdient. Freilich mangelte bei Beiden die 
Ausdehnung auf die allgemeine Methode des Denkens, welche 
im Folgenden und Vorhergehenden versucht ist. Diese Ent- 
deckung besteht darin, dass das Denken, die Fehler, welche 
es begeht, wieder korrigiert: in diesem einfachen Satze ist 
das ganze Prinzip der Fiktionen ausgesprochen, was noch unten 
weiter ausgeführt werden wird. 



XIII. Der Begriff des Unendlichen. 



87 



Kapitel XIIL 
Der Begriff des Unendlichen 

(nebst allgemeinen Erörterungen über den kritischen 
Positivismus).*) 
Im engsten Zusammenhang mit den im vorigen Abschnitt 
besprochenen Erscheinungen steht ein Vorstellungsgebilde, welches 
nicht bloss die crux aller Mathematiker bis auf den heutigen Tag 
ist, sondern auch den Philosophen viel Kopfzerbrechen gemacht 
hat: durch Einreihung in unser allgemeines Prinzip wird dieser 
Begriff, der Begriff des Unendlichen, vielleicht geklärt und 
erklärt. 

Vgl. Düh ring, Kursus 528. — Dass gerade das Unendliche, sowohl 
als Infinitesimales, wie als Unendlichgrosses eine Fiktion sei, erhellt vor 
allem aus den eklatanten Widersprüchen, die sich aus dem Begriff er- 
geben, sowie aus den Scheinproblemen (cfr. EJeatische Sophismen; 
diese letzteren entspringen daraus, dass das Unendlichkleine als Hypo- 
these behandelt wird, statt als Fiktion). 

Unendliche Dauer ist nach Michelet blosse Möglichkeit, die nie 
zur Wirklichkeit gelangt, sondern nur in unserer Vorstellung existiert. 

Der Begriff des Unendlichen zeigt sich als ein Hilfsbegriff, 
den das Denken zur Erleichterung seiner Operationen eingeführt 
hat, und der gerade durch seinen immanenten Widerspruch ein 
erfolgreiches Denken ermöglicht Dies ist zunächst in der Mathe- 
matik der Fall, wo das Symbol oo , welches hier für „Unendlich" 
gebraucht wird, einfach eine Fiktion ist, durch welche das 
mathematische Denken seine Zwecke viel leichter erreicht. Die 
allmähliche Ausbildung dieses Begriffs (die Griechen haben mit 
einer merkwürdigen, aber leicht erklärlichen Scheu alle Fiktionen 
und so auch diese vermieden und sich ohne die Beihilfe dieser 
fiktiven Vorstellungsgebilde fortzuhelfen gesucht) bietet eines der 
reizendsten und belehrendsten Themata der Wissenschaftsgeschichte 
dar. Überhaupt ist die allmähliche historische Ausbildung aller 
dieser fiktiven Begriffe eines der merkwürdigsten Schauspiele, 
welches die Geschichte des menschlichen Geistes darbietet. Man 
sieht hier so recht, wie die logische Funktion anfänglich im 
Dunkeln tappend allmählich tatonnierend vorgeht und mit Vor- 
sicht diese Gebilde formiert, welche dann so nützliche und un* 
schätzbare Dienste leisten. 



*) Im MS. =§27 (Schlug). 



88 Erster Teil; Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung der Fiktionen. 

Von hier aus fällt denn dann auch ein belehrendes Licht 
auf den philosophischen Begriff des Unendlichen, Auch dieser 
ist ein Hilfsbegriff, der freilich oft eine schädliche Missanwendung 
fand, der aber doch dem Denken gewisse Hilfe leistet 

Dieses wichtige Vorstellungsgebilde entsteht rein durch die 
Einbildungskraft und hat absolut keinen objektiven Wert Gerade 
die Widersprüche, welche in diesem Vorstellungsgebilde liegen, 
zeigen, dass es rein fiktiv ist, und dass seine Anwendung auf die 
wahre Welt ein NUssbiauch ist. Der stärkste Beweis für die Sub- 
jektivität von Raum und Zeit liegt in ihrer Unendlichkeit: die 
gewöhnlichen Begriffe von Raum und Zeit sind dadurch als fiktiv 
demaskiert, als blosse Hilfsbegriffe, Hilfsbilder, welche die logische 
Funktion entwickelt, um das Gegebene zu ordnen und zu be- 
greifen. Gerade die subjektiven Operationen gestatten solche 
Missanwendungen, wie diese Begriffe sie erfahren haben. Nur 
eine subjektive Operation lässt sich fortgesetzt denken, als ob sie 
ohne Ende wäre und doch vollendet. Demnach sind alle diese 
Produkte reine Formen des Denkens, rein subjektive Operationen. 
Es wäre ja doch auch wunderbar, wenn diese Begriffe oder Vor* 
Stellungen Bilder des Objektiven sein sollten: Man mache sich 
nur einmal War, was denn dieser Begriff : Bild, Abbild heissen 
soll; wie überhaupt die logischen Funktionen Abbilder des Ge- 
schehenden sein sollten. Nein! Alle diese Vorstellungen sind nicht 
Bilder des Geschehens, sondern selbst ein Geschehen, ein 
Teil des kosmischen Geschehens; dieses Geschehen tritt auf einer 
gewissen Stufe der organischen Entwicklung mit Notwendigkeit 
ein: das kosmische Geschehen setzt sich in diesen Vor- 
stellungen selbst fort; sie sind ja psychische Produkte, 
psychische Prozesse, und das psychische Geschehen ist doch 
sicherlich ein Teil des Geschehens; die Welt, so wie wir sie vor- 
stellen, ist erst ein sekundäres oder tertiäres Gebilde, das im 
Spiel des kosmischen Geschehens in unseren Köpfen entsteht, 
und das nur zur Vermittlung des Geschehens selbst entsteht. Nicht 
ein Bild der wahren Welt ist diese Vorstellungswelt, sondern ein 
Instrument, um jene zu erfassen und subjektiv zu begreifen. 

Sie ist nur ein Hüfsgebüde, welches die logische Funktion 
allmählich formiert, um sich zu orientieren. Man kann dieses 
Vorsteilungsgebilde der wirklichen Welt substituieren, und das tun 
wir alle praktisch; aHein es ist kein Bild des wahren Seins, nicht 
einmal ein Symbol im gewöhnlichen Sinne, sondern nur ein 



X1U. Der Begriff des Unendlichen, 



89 



Zeichen, um das Wirkliche zu berechnen, ein logisches Hilfsgebilde, 
um uns in dieser wahren Welt zu bewegen und in ihr zu handeln. 
Praktisch können wir die Vorstellungswelt an die Stelle der 
wahren Weit setzen, allein theoretisch sind beide streng zu 
unterscheiden: die Vorstellungswelt ist erst ein sekundäres Produkt 
der wahren Welt selbst, ein Gebilde, welches organische Wesen 
dieser Welt aus sich heraus treiben. 

ich nenne diese Anschauung „ kritischen Positivismus* ; sie unterscheidet 
sich in einigen Punkten vom extremen reinen Positivismus. Die beste 
Schilderung des reinen Positivismus hat Laas a. a. O. pag. 250ff. ge- 
geben, ohne den oben entwickelten Standpunkt jedoch selbst einzunehmen 
(vgl. besonders noch pag. 329—330 bei Laas). Indessen geht unser Positt- 
vismus doch nicht so weit, nur das unmittelbar Wahrgenommene für 
wirklich zu halten, sondern wirklich heissen wir auch solche Wahr- 
nehmungskomplexe, welche nicht bloss etwa einmal in die Wahrnehmung 
treten, sondern stets wahrnehmungsfähig sind. Diese letztere Be- 
stimmung ist im Anschluss an Helmhol tz ausgedrückt Es scheint uns, 
dass der von Laas nachher vertretene Standpunkt doch nicht allzu fern 
von unserem kritischen Positivismus Hege; das „substantielle Ich* ist ja 
auch für ihn ein herausgedichtetes (235 und 246), gewisse Kraftkonzeptionen 
sind auch für ihn vorlaufig unentbehrliche Entitäten (236/37), Die mecha- 
nischeBewegungistein„Symbol,das exakte Behandlung zulässt, reich- 
haltige Ergebnisse liefert und alle Vorgänge unter demselben Gesichtspunkt 
zu betrachten gestattet (250); und vielleicht sind auch die Stoffe nur 
Figmente der erklärungsdurstigen Intelligenz (358); er hält die An- 
nahme, „dass die Verteilung der relativ selbständigen diskreten Elementar- 
agentien und Systeme durch unseren dreidimensionalen Anschauungsraum 
nichts weiter als nur eine subjektive Auffassungsweise, in ihrer 
exakten Ausbildung nur eine wertvolle Hilfsvorstellung ist," alseine 
Möglichkeit offen (S. 207). S. 268 nennt er den Raum ein Vorst eJlungs- 
vehikel; 268/69 kommt er wieder auf diese Idee zurück, dass der drei- 
dimensionale Raum eine zwar für uns unentbehrliche, aber doch nur sub- 
jektive Anschauungsform, alle räumlichen Relationen blosse Hilfsvor- 
Stellungen sein könnten; ib. (269) ist wieder von psychologischen 
Hilfsvorstellungen die Rede (ctr. ib. 272 und bes, 349: die „absolute 
Zeit" müsse eine „Hilfsvorstellung* sein, nur bei einer solchen sei unend- 
liche Teilbarkeit möglich) — eine solche Anschauung scheint uns doch 
gerade kritischer Positivismus zu sein in seiner klassischsten Gestalt. 

Die Vorstellungswelt ist ein Gebilde» welches organischen 
Wesen der wirklichen Welt dazu dient, sich in dieser wirklichen 
Welt zu orientieren, ein Symbol, mit dessen Hilfe wir die Vor- 
gänge der Welt in die Sprache unserer Seele tibersetzen können: 
diese Wahrheit haben Kant und Schopenhauer und Herbart 
und andere Philosophen sicher begründet. Praktisch können 
wir diese Vorstellungswelt an die Stelle der wirklichen setzen. 



90 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung der Fiktionen. 

Unser Vorstellungsgebilde der Welt ist ein ungeheures 
Gewebe von Fiktionen, voll logischer Widersprüche. Wir 
haben dieses Gewebe in seine einzelnen fiktiven Elemente zu 
zerlegen. Dies ist die Aufgabe der Erkenntnistheorie: wir aber 
haben hier die Aufgabe der Logik zu erfüllen, nämlich diese 
Fiktionen, nachdem wir ihren psychologischen Ursprung aus der 
imaginativen Tätigkeit der Seele aufgedeckt haben, logisch zu 
analysieren, und eine logische Theorie dieser Denkpraxis in rein 
logischem Interesse zu geben. 

Hier sieht man nun, wie sich die logische Theorie sofort in der Er- 
kenntnistheorie fortsetzt und sich hier wirksam erweist: wir haben im 
logischen Gebrauch des wissenschaftlichen Denkens solche Gebilde ge- 
funden, welche nur praktischen Zwecken dienen, aber sonst nur fiktiver 
Natur sind: so macht sich sogleich die Ahnung geltend, ob nicht dieselbe 
Methode vom vorwissenschaftlichen Denken befolgt worden sei — ob 
also dann nicht die wesentlichsten Formen der Vorstellungswelt nur al> 
Fiktionen, und nicht als Hypothesen zu betrachten seien. Nun ist aller- 
dings die Betrachtung der Vorstellungsformen und der ganzen Vorsteliungs- 
weit als blosser Produkte der Einbildungskraft von Hume und Kant zuerst 
durchgeführt und dann von Schopenhauer und Herbart fortgesetzt worden. 
Allein die Betrachtung derselben als Fiktionen in unserem Sinn 
schliesst den Gedanken ein, dass diese Vorstellungsgebilde, logisch be- 
trachtet, identisch seien mit wissenschaftlichen Fiktionen, d, h, mit Vor- 
Stellungsgebilden, welche praktisch notwendig und zweckmässig sind, 
während sie theoretisch falsch sind. Dieser letztere Gesichtspunkt ist 
nicht betont bei Kant und Hume; für diese ist die Vorstellungswelt nur 
ein Gebilde der Einbildung: dass sie aber ein höchst zweckmässiges 
Gebilde sei, dass sie logisch unter den Gesichtspunkt der Fiktion zu 
bringen sei, dies ist eben das Charakteristische unserer Behauptung. 
Nun erhellt, wie notwendig eineTheone der Fiktionen sei: denn um 
die Vorstellungsweit als eine Fiktion zu betrachten, muss doch erst metho- 
dologisch festgestellt sein, was eine Fiktion sei, was sie leisten könne, und 
wie sie beschaffen sei. 

Darum dreht sich eben der Streit der Erkenntnistheorie, ob die Vor- 
stellungsformen hypothetisch oder fiktiv seien. Dies Ist die logische 
Terminologie statt objektiv und subjektiv. Offenbar müssen aber 
auch die Gebilde des verwissenschaftlichen Denkens mit logischem 
Massstab gemessen werden. 



XiV. Die Materie und die sinnliche Vorstellungswelt 91 

Kapitel XIV. 
Die Materie und die sinnliche Vorstellungswelt.*) 

Die Materie ist ebenfalls eine solche Fiktion. In diesem 
Vorstellungsgebilde sind widerspruchsvolle Elemente ver- 
bunden; allein dieses Vorstellungsgebilde tut uns ebenso gute 
Dienste, als die Fiktion der Kraft Dass die Materie eine solche 
Fiktion sei, ist heutzutage eine allgemeine Oberzeugung der 
denkenden Köpfe. Die Widersprüche in derselben hat besonders 
Berkeley überzeugend nachgewiesen, der überhaupt merkwürdig 
tief in das Wesen der logischen Funktion hineinblickte. Die 
mannigfachen Kämpfe, welche um diesen Begriff stattgefunden 
haben, drehen sich um denselben Punkt, wie er uns schon mehr- 
fach begegnet ist: ob die Materie eine Hypothese oder 
eine Fiktion sei. Der Begriff der Materie mag umgearbeitet 
werden, wie er will: es bleiben an ihm in jedem Fall alle Wider- 
sprüche kleben, welche schon so oft aufgedeckt worden sind. 
Nicht das Unbekannte, was der Materie zugrunde liegt, wird 
damit weggeleugnet: wohl aber, dass dieses Unbekannte identisch 
sei mit dem Begriffsgebilde, das wir Materie nennen. 

Ähnlich sagt Bergmann in der Schrift: Zur Beurteilung des Kriti- 
zismus vom idealistischen Standpunkte, Berlin 1875, Folgendes (pag. 6): 
„Wir nehmen nicht einmal wahr, dass es überhaupt ein Ding gibt, dass 
alle Eigenschaften wirklich Eigenschaften sind und als solche einen 
Träger haben, einer Substanz inhärieren. Wir nennen ihre Substanz 
Materie, aber kein Sinn hat jemals die Materie selbst erfasst, sondern 
immer nur Eigenschaften, die auf sie bezogen werden. Wir denken sie - 
zu den Tatsachen der Sinne hinzu, fingieren sie, allerdings nicht will- 
kürlich, sondern gezwungen durch die Natur unseres Vorstell ungsvermögens." 
So pag. 8: „Hiermit ist nun dargetan, dass die Materie . . . eine blosse 
Fiktion ist ... Bekanntlich lehrt die Naturwissenschaft selbst, dass die 
im engeren Sinne des Wortes sinnlichen Qualitäten, die Farben, Töne etc. 
nur für das wahrnehmende Subjekt da sind. Die Ausdehnung und die 
Bewegung sieht sie hingegen für Eigenschaften der Dinge an sich an; und 
sie tut recht daran; nur sollte sie sich bewusst sein, damit eine an sich 
unwahre, aber zu dem Zwecke, Ordnung und Zusammenhang in unsere 
Vorstellungen von der Erscheinungsweit zu bringen, nützliche Fiktion 
zu machen." (Vgl. Grün, Ph. d. Gegenw, 306, 316, 378; Fichte.) 

Hierzu ist zu bemerken, dass die Naturwissenschaft hier Eine der 
beobachteten „Eigenschaften* zum Dinge erhebt, an dem die anderen 
. Eigenschaften * als „Eigenschaften* kleben sollen: dies ist hier die Aus- 
dehnung. Der als Ding gesetzte Teil ist stets der relativ am meisten 
konstante: es ist also hier der Prozess der willkürlichen, gewaltsamen 



*) Im MS, =§28 (Anfang). 



92 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Autzählung der Fiktionen. 

Heraushebung Eines Teils der Beobachtung. Sobald aber die Ausdehnung 
selbst als Produkt, d. h. Eigenschalt gedacht wird, so wird ein neues, be- 
sonderes Ding hinzugedacht, das soll hier das „ Kraftzentrum 0 sein, und 
dieses soll an sich unräumHch sein. Dies leitet über zur Fiktion des 
Atomes, welche unten zu besprechen ist 

Wie eng die Materie mit dem Substanzbegriff zusammenhängt, 
erhellt von selbst; sie soll eben das Substantielle, der Trager der Kräfte 
sein; dass ein solcher nur fiktiv sei, ist seit dem XV11I. Jahrhundert all- 
mählich fast allgemein angenommen; diese Einsicht geht speziell auf 
Hume zurück. In Deutschland hat Platner, in der 2. Aufl. der 
Aphorismen (welche von Kant und Hume influiert ist), dies (Bd. 1, pag. 415) 
so ausgesprochen: „Die Substanz ist die Kraft selbst und ein substanzielles 
Subjekt, worin die Eigenschaften und die Kraft enthalten seien, ist eine 
Scheinidee der Phantasie; denn das würde ins Unendliche führen," 
— Die moderne Physik nähert sich dieser Anschauung, indem sie alles 
in Kraftfunktionen auflöst Die abstraktive, d. h. fiktive Natur der Be- 
griffe Materie, Körper u. s. w. ist auch nachgewiesen von L. Weis in der 
Schrift: Idealismus und Materialismus 1977. 
Dieses Begriffsgebilde Materie ist aus ganz widersprechenden 
Elementen zusammengesetzt, tut aber als Fiktion die besten 
Dienste für das wissenschaftliche Denken, Es ist daher ganz 
falsch, wenn man mit Berkeley, sobald man die objektive Un- 
möglichkeit dieser Begriffe eingesehen hat, sie sofort als unnütz 
wegwirft: diese Tat beruht auf demselben Vorurteil, das die 
Philosophie bis heute beherrscht: als ob logisch Widerspruchs- 
volles wertlos sei: gerade umgekehrt, logisch widerspruchsvolle 
Begriffe sind die wertvollsten. Viele Grundbegriffe, mit denen die 
sämtlichen Wissenschaften operieren, sind Fiktionen: es handelt 
sich nicht darum, diese Widersprüche aus ihnen wegzuschaffen — 
das ist ein vergebliches Unternehmen — sondern zu zeigen, dass 
sie trotzdem dem Denken nützlich und förderlich sind. Man darf 
nicht das Vorurteil hegen, dass nur das logisch Widerspruchslose 
auch logisch fruchtbar sei: die Durchführung dieser Ansicht würde 
— da ja so viele Grundbegriffe aller Wissenschaften widerspruchs- 
voll sind — zu der Konsequenz des Agrippa von Nettesheim 
führen, alle Wissenschaften für nichtig zu halten. Dieses Resultat 
ist sehr zu unterscheiden von demjenigen, das wir erhalten 
haben. Allerdings sind viele wissenschaftlichen Grundbegriffe 
fiktiv und widerspruchsvoll, und kein Abdruck des Wirklichen, 
das uns überhaupt unzugänglich ist, aber darum sind sie doch 
nicht wertlos, Sie sind psychische Gebilde, welche nicht nur 
die Illusion des Begreif ens hervorbringen, sondern es uns auch 
ermöglichen, uns in der wahren Welt praktisch zu orientieren. 



XIV. Die Materie und die sinnliche Vorsteilungsweii. 



93 



Die Vorstellungswelt ist ein System von Fiktionen. Vgl. Herbarts 
Beiträge zu einer Feststellung dieses Systems. Einzelne solcher Fiktionen 
z. B. bei Riehl, Der philos. Kritizismus 1, 192. 

Inwiefern also der Materialismus auf einer Fiktion beruhe, hat 
Lange schlagend und treffend nachgewiesen (vgl. Grün a. a. O. 363), 

Vgl. E. v. Hartmann, Das Unbewusste vom Standpunkte des Physio- 
logen pag. 167: „Die Konstruktion einer objektiven Aussenwelt ist ein 
Hilfsmittel der Übersichtlichkeit 41 u. s. w. 

Dass Raum und Zeit eine Anreihung „ fiktiver Iche" sei, dass also 
die Vorstellungswelt nur durch Personifikation zustande komme, ist eine 
barocke Meinung von Horwicz, Psychol. Analys. H, 145. 

Vgl. Oehlmanns treffende Bemerkung S. 64 in der Schriit: Die 
wissenschaftliche Überzeugung u. s. w.; speziell die Annahme von Ursachen 
entspringt aus der Notwendigkeit, zur Erleichterung des Handelns solche 
Vehikel einzuschieben; denn die Dinge „da draussen" werden durch 
unsere Denkbegriffe doch nicht abgespiegelt. 

Eben weil unsere Vorstellungswelt selbst ein Produkt der Welt 
der Wirklichkeit ist, kann sie nicht ein Abbild des Seins sein: da- 
gegen kann sie wohl ein Instrument innerhalb derselben sein, 
mit Hilfe dessen sich höher organisierte Wesen in der wirklichen 
Welt orientieren, Sie ist ein Symbol, mit Hilfe dessen wir uns 
bewegen. Die Wissenschaft hat das Interesse dieses Symbol 
immer adäquater und brauchbarer zu machen; aber es bleibt 
doch ein Symbol. Gegen den Beweis aber, dass, weil die Vor- 
stellungswelt ein Produkt der wirklichen Welt sei, sie nicht 
identisch mit derselben sein könne: gegen diesen Beweis gibt es 
keine Instanz mehr. — Es gibt keine Identität von Denken und 
Sein: die „Welt" ist nur ein Denkmitte Ii darum ist die Vor- 
stellungswelt eben auch nicht das letzte Ziel des Denkens; der 
eigentliche Zweck des Denkens ist nicht das Denken und seine 
Produkte selbst, sondern das Handeln und in letzter Linie das 
ethische Handeln. Das Mittel dazu ist die objektive 
Welt als Vorstellungswelt Mit Fichte kann man also sagen: 
die Welt sei das Material des sittlichen Handelns. Fichte fehlte 
nur darin, nun auch dies Material selbst vom Ich produzieren 
zu lassen; nur die Form ist Produkt der Psyche, Die Vor- 
stellungswelt ist lediglich ein Denkmittel, ein Instrument, um 
das Handeln in der wirklichen Welt zu ermöglichen. 

Dieser Punkt gibt Anlass zu der prinzipiellen Bemerkung, dass die 
Polemik eines v. Hartmann u. a. gegen den Neukantianismus, d. h. kritischen 
Positivismus von dem Missverständnis ausgeht, als leugneten wir die 
Existenz desjenigen, was der Vorstellungswelt zu Grunde liegt Wir 
behaupten nur; das wirkliche Sein ist unerkennbar, und zwar ist es meiner 



94 Erster TeiJ: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung der Fiktionen. 

Ansicht nach unerkennbar, nicht weil es über dem Begreifen liegt, sondern 
weil es unter dem Begreifen liegt Das Sein ist nur wissbar in der 
Form von unabänderlichen Successionen und Koexistenzen: begreifbar ist 
es nicht, weil begreifen heisst: etwas auf ein Anderes zurückführen, 
was doch beim Sein selbst nicht mehr der Fall sein kann. 

Diesen Grundgedanken reiht sich der fernere an, dass die von uns 
gebildete objektive Vorstellungswelt, welche in sich einen begreif- 
lichen Zusammenhang darstellt, ein kosmisches Produkt ist, welches 
durch die Konkurrenz verschiedener psychischer Prozesse entsteht und 
hervorgetrieben wird, und 2war als ein rein subjektives Gebilde seiner 
Form nach; das wirkliche Reale an diesem Gebilde ist nur die in dem- 
selben bewahrte Unabänderlichkeit der Successionen und Koexistenzen; 
dieses Gebilde ist also ein Gewebe von Fiktionen, welches der absoluten 
Wirklichkeit als Symbol substituiert werden kann, praktisch kommen 
wir also mit dem Realismus, nenne er sich nun naiv oder transscendental, 
auf dasselbe hinaus, aber nicht theoretisch: wir behaupten, dass dieses 
Weltgebilde ein subjektives Instrument sei, dazu passend, dass wir 
uns in der Wirklichkeit symbolisch orientieren. 

Um nun die natürliche Frage zu beantworten, wie denn das möglich 
sei, dass ein fiktives Gebilde solche Dienste leisten könne, suchen wir 
überhaupt eine Theorie aller Fiktionen zu geben, welche in der Wissen- 
schaft gebildet werden. 

Offenbar muss man an die Gebilde des vorwissenschaftlichen Denkens 
auch denselben logischen Massstab anlegen, wie an diejenigen des wissen- 
schaftlichen Denkens: und da 2eigt sich denn, dass Raum, Materie, 
Kraft u. s. w. nicht als Hypothesen betrachtet werden können, weil sie 
den methodologischen Regeln der Hypothesen gar nicht entsprechen; 
dagegen entsprechen sie den methodologischen Regeln der Fik- 
tionen: Fiktionen sind eben solche logischen Gebilde, welche kein Er- 
kennen zur Folge haben, sondern nur die Möglichkeit des Be rech nens 
eröffnen. 

Wir sehen also, wie wir bei diesen nun behandelten Punkten immer 
mehr von den wissenschaftlichen Fiktionen auf die vorwissenschaftlichen 
Fiktionen hinübergetrieben werden, und es zeigt sich hier, dass jede neue 
logische Betrachtung zugleich erkenntnistheoretische Konsequenzen 
nach sich ziehe. 

Wir leugnen also, dass die von uns vorgestellte Welt Erkenntnis- 
wert besitze: wie wir leugnen, dass die Differentiale u. s.w. Erkenntnis- 
wert besitzen: dagegen behaupten wir, dass sie praktischen Wert 
besitze, und wir betrachten sie daher als ein zweckmässiges Produkt der 
logischen Funktion, als einen Kunstgriff derselben; sowie man solche 
Kunstgebilde konsequent durchdenkt, kommt man auf Widersprüche, 
— das sicherste Symptom von Fiktionen. 

Über die Idee der Aussenwelt (externalite) als emploi figure s. 
Littr*, Fragments, 201, 

Es war nur eine Anbequemung an die gewöhnliche An- 
schauung, wenn wir zunächst den Standpunkt einnahmen, der 



XIV, Die Materie und die sinnliche Vorstellungswelt. 95 

letzte Zweck des Denkens sei die Erkenntnis des Wirklichen, und 
also die Ausbildung der allgemeinen Urteile. Vielmehr ist diese 
ganze Erkenntnis selbst nur ein Mittel zu einem höheren Zweck. 
Vom rein logischen Standpunkt aus betrachtet, ist allerdings die 
Erkenntnis der Zweck des Denkens; aber dies ist nur der nächst- 
liegende Zweck des Denkens. 

Der let2te und eigentliche Zweck des Denkens ist das 
Handeln und die Ermöglichung des Handelns. Von diesem 
Standpunkt aus betrachtet, erscheint die Vorstellungswelt im Grossen 
und Ganzen eben als ein blosses Mittel; ihre einzelnen Bestandteile 
sind ebenfalls nur Mittel. Es ist dies ein System von Denk* 
mittein, welche sich gegenseitig fordern und unterstützen, und 
deren Schlussprodukt die wissenschaftlich gereinigte Vorstellungs- 
welt ist; diese ist nur eine unendlich feine Maschine, welche 
sich der logische Trieb baut, und sie verhält sich zur sinnlichen, 
vorwissenschaftlich geschaffenen Vorstellungswelt wie ein modernes 
Eisenhammerwerk zum primitiven Steinhammer des Tertiärmenschen, 
wie eine Dampfmaschine und eine Eisenbahn zum plumpen Wagen 
des Haidebewohners. Beide aber sind nur Instrumente, die 
sich zwar dem Grade der Feinheit und Eleganz nach sehr weit 
unterscheiden, die aber der Art nach identisch sind: es sind auch 
Instrumente, Produkte des logischen Triebes, der logischen 
Tätigkeit. Die ganze Vorstellungswelt liegt zwischen den beiden 
Polen; Empfindung — Bewegung mitten darinnen. Die Psyche 
schiebt immer weitere Mittelgliederzwischen diese beiden 
Punkte ein, und die Feinheit und Ausbildung dieser einge- 
schobenen Mittelglieder, Bilder und Hilfsbegriffe wächst mit der 
Zunahme der Nervenmasse und der zunehmenden Isolierung des 
Gehirns vom Rückenmark. Zwischen den Empfindungs- und 
Bewegungsnerven liegt unsere Vorstellungswelt, diese unendliche 
Welt, mitten darin, und sie dient nur dazu, die Vermittlung zwischen 
diesen beiden Elementen immer reicher, feiner, zweckmässiger und 
leichter zu machen. Mit der Ausbildung dieser Vorstellungswelt, 
mit der Anpassung dieses Instrumentes an die sich bemerkbar 
machenden objektiven Successions- und Koexistenzverhältnisse ist 
die Wissenschaft beschäftigt. Die Wissenschaft macht diese Kon* 
struktionen weiterhin zum Selbstzweck und ist, wo sie dies tut, 
wo sie nicht mehr bloss der Ausbildung des Instrumentes dient, 
streng genommen, ein Luxus, eine Leidenschaft Alles Edle im. 
Menschen hat aber einen ähnlichen Ursprung. 



I 



96 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A Aufzahlung der Fiktionen. 

i 

Wenn wir sagen, dass unsere Vorstellungswelt zwischen den Nerven 
der Empfindung und Bewegung liege, so müssen wir uns selbst hier einer 
fiktiven Sprache bedienen: Faktisch haben wir ja nur Empfindungen: | 
sowohl die Bewegungsvorstellungen, als die Vorstellungen von Nerven, 
also von Materie, sind schon Gebilde der produktiven Phantasie, der 
Fiktion: es heisst das also mit anderen Worten, dass die ganze Vorstellungs- 
welt zwischen die Empfindungen eingeschoben sei; diese sind ja einzig j 
und allein das schliesslich Gegebene: nur gewisse Empfindungssuccessi- 
onen sind uns gegeben. Also ist die Vorstellungswelt ein aus elementaren 
Empfindungen, resp. ihren Resten aufgebautes Gebilde, welches dazu dient, ! 
zwischen verschiedenen Empfindungszentren eine leichtere Vermittlung 
zu schaffen; die Vorstellungsweit entsteht durch alle Vorgänge, durch ] 
welche die elementaren Empfindungen verändert werden, selbst wieder 
nach elementaren Gesetzen. Durch diese Verdichtung und Verbindung 
u.s.w. der Empfindungen, welche in dem Gehirne vor sich gehen, d.h. in 
demjenigen Teil der Wirklichkeit, den wir als Gehirn anschauen, wird nun i 
ein höheres, entwickelteres Gebilde erzeugt, welches den Dienst leistet, 
dass durch dasselbe das menschliche Handeln bereichert und vervoll- 
kommnet wird. Es ist hierbei prinzipiell irrelevant, ob man die fiktive 
Tätigkeit schon bei der Bildung der Raumvorstellung beginnen lässt, oder 
erst spater; prinzipiell wichtig ist die Einsicht, dass alle höheren Vor- 
stellungsgebilde nur Mitte! zum Zweck der Erleichterung des Verkehrs 
empfindender „Wesen" sind. Die Theorie der Fiktionen aber lehrt eben, 
dass die Brauchbarkeit solcher Fiktionen kein Beweis ist für ihre 
objektive Wahrheit: die logische Theorie der Fiktionen hat den 
Mechanismus aufzudecken, durch den jene Gebilde ihre Dienste leisten. 

In Deutschland hat die von uns ausgesprochene Ansicht besonders 
klar vertreten Heinroth in der Schrift: Über die Hypothese der Materie 
und ihren Einfluss auf Wissenschaft und Leben, Leipzig 1828, besonders 
pag. 53: „Materie ist eine blosse Hypothese, die man in der philo- 
sophischen Sprache eine Hypostase nennt und hiermit nichts mehr und 
nichts weniger als einen Irrtum bezeichnet, 0 Freilich die positive 
Annahme derselben als Fiktion mangelt hier noch; vgl. ib. 97. 

Wenn Kant (vgl. Laas a. a. 0. 110) die Materie eine „erschlichene 
Vorstellung" nennt, so ist das nur ein umschreibender Ausdruck für 
Fiktion. 

Vgl. dagegen Laas, pag. 158 und 306. Laas scheint den Begriff 
der Materie noch aufrecht erhalten zu wollen. Allein damit befände 
er sich in Widerspruch mit der modernen Physik, welche nur die 
Funktionen betrachtet und ein Substrat derselben höchstens als 
bequeme Rechnungsfiktion gelten Iasst (cfr. pag. 233 bei Laas). Der 
kritische Positivismus leugnet nicht die Existenz von Funktionen, welche 
in uns den Begriff der Materie verursachen, wohl aber diesen Begriff 
selbst; vgl, die ganz vortreffliche Schilderung des Positivismus bei 
Lsas pag. 229 ff., besonders 234, wo trefflich unterschieden ist zwischen 
fiktiven und hypothetischen Annahmen. 



XIV. Die Materie und die sinnliche Vorstellungswelt 97 

Man kann es daher nur als verzeihliche Schwäche bezeichnen, 
wenn die Wissenschaft meint, es in ihren Begriffen mit dem 
Wirklichen selbst zu tun haben: sie hat es mit dem Wirk- 
lichen nur insofern zu tun, als sie die unabänderlichen Successionen 
und Koexistenzen feststellt; dagegen die dasselbe umspielenden, 
umfassenden Begriffe sind fiktiver Natur, Zutaten der Menschen, 
bilden bloss die Einfassung, mit der der Mensch den Edelstein 
der Wirklichkeit umgibt, um diese besser handhaben zu 
können. Die Wissenschaft hat also zwei Aufgaben: 1. die wirk- 
lichen Successionen und Koexistenzen festzustellen, 2. dieBegriffe, 
mit denen wir das Wirkliche umspinnen, immer knapper, adäquater, 
unschädlicher und nützlicher zu gestaltem So ist die Um- 
spinnung der Wirklichkeit mit Begriffen, wie sie Aristoteles und 
das Mittelalter liebten, ungemein schädlich, weil sie das 
Wirkliche verdeckt und den Blick von der Wirklichkeit auf die 
schimmernde, aber hohle Umfassung der Begriffe lenkt: freilich 
ohne sie können wir mit der Welt nichts anfangen, nicht in ihr 
handeln; sie sind ein notwendiges Übel; als solches haben denn 
auch grosse Denker die Begriffe und das diskursive Denken 
selbst betrachtet — als ein notwendiges Übel, ohne welches 
Hilfsmittel aber die Wirklichkeit nicht zu erfassen ist Die Ent- 
blössung des Wirklichen von allen Begriffen, von allen dis- 
kursiven Handhaben, führt zu jenem Zustand, den die griechischen 
Sophisten und Skeptiker darstellen: man enthält sich jedes Urteils* 
Indessen gingen diese darin zu weit, dass sie die materielle 
Richtigkeit der allgemeinen Urteile bezweifelten: denn die Fest- 
stellung einer unabänderlichen (oder wenigstens innerhalb unseres 
Betrachtungsfeldes noch nie abgeänderten) Succession und Koexistenz 
ist ein sicheres Wissen: nur die formelle Fassung im Urteil ist 
falsch und fiktiv: denn das Urteil trennt immer in Subjekt und 
Prädikat, in Substantiv und Verbum; also in Ding und 
Eigenschaft, Ursache und Wirkung. Die Aussprechung jener 
beobachteten Succession ist uns also unmöglich ohne die Hand- 
haben des diskursiven Denkens; diese selbst aber für Ausdruck 
des Wirklichen zu halten, ist ein veralteter Standpunkt. 

Es ist das Bestreben der modernen Wissenschalt, auch die sinnlichen 
Qualitäten ganz nach demselben Gesichtspunkt zu betrachten: es ist auch 
gar nicht einzusehen, warum man mit dieser Betrachtungsweise beim 
Sinnlichen Halt machen sollte. Selbst wenn aber dies notwendig wäre, so 
bleiben unsere Resultate doch im Wesentlichen bestehen: es wäre eben nur 
die Ausdehnung der Fiktion beschränkter. Dass aber die möglichste Aus- 

7 



98 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung der Fiktionen. 

dehnung dieser Anschauungsweise im Zuge der modernen Wissenschaft 
liegt, ist allbekannt; auch führt feste Konsequenz darauf, besonders wenn 
man in den sinnlichen Qualitäten, also besonders in der Raumanschauung, 
Widerspruche entdeckt Hier liegt es nahe, den Standpunkt Humes, 
welchen Avenarius neuerdings ausgebildet hat, zu vertreten, dass die 
Empfindungsquaiitäten das einzig Wirkliche seien 1 

Als eigentlich Wirkliches wurden wir also nur gewisse Empfindungs- 
successionen setzen, aus denen sich nach bestimmten Gesetzen Gebilde 
erzeugen, welche wir als Fiktionen betrachten, und welche sich aus jenen 
Empfindungen in gewissen Empfindungszentren entwickein, und Hilfsmittel 
einer reicheren Empfind ungsverknüpfung sind. 
Ohne die Anwendung der Kategorien (speziell Substanzialität, 
Kausalität) ist kein Urteil möglich, denn jedes Urteil ist nur der 
Ausdruck der Apperzeption durch jene kategorialen (d, h. fiktiven, 
subjektiven) Formen. Der materiale Gehalt eines Urteils kann 
also richtig sein, und Ausdruck des Objektiven, aber jedes Urteil 
hat seiner Form nach Elemente des Falschen, insofern eben die 
kategorialen Formen (Substanzialität, Kausalität) fiktiver Natur sind. 

Es ist nun aber nicht möglich, ohne dieses Hilfsmittel des 
diskursiven Denkens sich Anderen verständlich zu machen oder 
auch nur zu denken, zu rechnen. Ohne die diskursiven Hilfs- 
mittel sind wir wehrlos, uns bleibt dann nur übrig, zu schweigen 
und hinzustarren, wie es gewisse Skeptiker wollen: wir ergreifen 
das uns dargebotene Mittel, um die Wirklichkeit zu berechnen, 
aber wir bringen die subjektiven Zu- und Ansätze nachher wieder 
in Abrechnung, wie man in der Rechnung eine fiktive Grösse, 
welche man eingeführt hat, wieder fallen lässt. 

Aber eine reinliche Scheidung ist nur möglich, wenn wir 
ein für allemal die diskursiven Hilfsmittel als subjektive Hand- 
haben betrachten. Als solche fanden wir nicht nur die Kategorien, 
sondern die ganze Vorstellungswelt r es ist bemerkenswert, wie 
wir immer Eine Operation als Mittel zur Erreichung eines Zieles 
betrachten mussten, und wie dieses Ziel dann selbst wieder 
sich als ein Mittel zu einem höheren Ziel entpuppte. 

So ergaben sich uns verschiedene künstliche Hilfsmittel als 
Mittel, um die von uns zuerst als objektiv angenommene 
Vorstellungswelt zu berechnen; immer mehr floss aber aus 
dieser als objektiv angenommenen Vorstellungswelt in das Sammel- 
becken der Fiktion, bis in diesem fast Alles, was wir sonst als 
objektiv ansahen, zusammenkommt. Als wirklich bleibt nur be- 
stehen der unabänderliche Zusammenhang, das unabänderliche 
Verhältnis, also das Gesetz, 



XIV. Die Materie und die sinnliche Vorstellungswelt 



99 



Dieser gesetzmässige Zusammenhang ist der von den Skeptikern 
nicht erkannte feste Punkt im Wechsel der chaotischen Empfindungs- 
menge; gegeben ist uns aber auch die elementare Qualität der primitiven 
Empfindungen, Wahrend gewöhnlich die Atombewegungen als das Wirk- 
liche betrachtet werden und die Empfindungsqualität als subjektiv gilt, 
könnte leicht die Tatsache dieser Empfindungsqualität als das allein 
Wirkliche stehen bleiben; denn Atombewegungen werden ja nie wahr- 
genommen, sondern sind nur „erschlossen". Dies ist aber der Kardinal- 
punkt der modernen Frage in der Philosophie nach dem Wirklichen. 
Als letzte unmittelbare Wirklichkeit ist uns streng genommen aber doch 
immer nur die Empfindung gegeben. Hier verwickelt man sich freilich 
in ein Labyrinth von Fragen, aus dem bis heute noch kein Ariadnefaden 
heraus führt So viel scheint aber doch wahrscheinlich, dass die Re- 
duktion der „Atombewegungen" auf Empfindungen leichter ist als das 
umgekehrte. Die Empfindungen sind uns zuerst gegeben, und die Aus- 
deutung derselben zu materiellen Körpern scheint doch später zu sein: 
die schliesslich^ Lösung dieser Fragen scheint uns in der Linie zu liegen, 
dass, sowohl die Ausdeutung der Empfindungen als körperlicher Dinge im 
Welträume als die Hinzuführung eines „Ich" (also gewissermassen eines 
Bewusstseinsraumes), erst sekundärer Natur sind; primär gäbe es dann nur 
Empfindungen. Aber eine solche Metaphysik der Empfindungen 
speziell durchzuführen, möchte schwer sein. 

Somit werden wir allmählich immer tiefer geführt und ver- 
anlasst, ganz allmählich von oben herab das Gerüste, das 
der Mensch um die Wirklichkeit herumstellt, abzubrechen; 
um dies zu tun, mussten wir uns immer auf die vorher- 
gehenden Sprossen und Etagen dieses Gerüstes setzen: 
brachen aber immer wieder diese selbst ab, bis wir nun auf die 
Grundpfeiler jenes Gerüstes gekommen sind: Raum und Stoff. 
Dieser successive Abbruch 1 ) des Denkgerüstes ist charakteristisch 
für den Aufbau selbst und seine allmähliche Aufführung im Laufe 
der Zeit in der historischen Entwicklung der Menschheit 



1) Die moderne Philosophie seit Locke, Hume und Kant ist ganz auf 
diesem Wege; ja schon mit Cartesius begann successiv der Abbruch. Besonders 
geht die ganze neuere Entwicklung der Philosophie darauf aus, die „Undinge" 
Raum und Zeit als Fiktionen zu erweisen. Vgl, Riehl, Der Kritizismus I, 9. — 
Es ist wahrhaft tragisch, wie die moderne Philosophie immer mehr abbricht, 
was der logische Trieb geschaffen hat, und wie dessen Produkte immer mehr 
für Truggebilde erklärt werden. Nur darf die Kehrseite nicht vergessen 
werden, dass diese Gebilde zugleich doch höchst zweckmässig sind. Der 
logische Trieb macht es wie manche Tiere, welche ihre Schale selbst zer- 
brechen, wenn sie ausgewachsen sind. Ohne ein Zerbrechen dieser Schalen 
könnte das Tier sich ebensowenig entwickeln, wie ohne eine unterstützende 
Mitwirkung dieser Schalen. 

7* 



100 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung der Fiktionen. 

Die logische Funktion dankt sich am Ende und Ziele ihrer 
Tätigkeit selbst ab: das Gerüste wird abgeschlagen, wenn 
es seinen Zweck erfüllt hat 

Die Wichtigkeit der logischen Funktion 1 ) schützt sie nicht 
vor der Selbsterkenntnis ihrer Nichtigkeit: denn das ist der 
historisch grossartige Trugschluss der Menschheit gewesen, aus 
der Wichtigkeit auf die Richtigkeit zu schliessen. 

Es ist dies derselbe Trugschluss, den wir schon mehrfach dargestellt 
haben: es darf eben aus der Zweckmässigkeit eines psychischen, logischen 
Gebildes nicht auf seine Richtigkeit geschlossen werden: auch die 
Differentiale sind zweckmässige Gebilde, und doch wird niemand be- 
haupten wollen, es gebe Differentiale. So wie der Mechanismus auf- 
gedeckt wird, durch den diese Begriffe so Zweckmässiges leisten, ver- 
schwindet der Schein ihrer Wahrheit, den sie so lange haben, als dieser 
Mechanismus nicht aufgedeckt wird; genau wie der Organismus teleo- 
logisch, d. h. als das Produkt bewusster Absicht aufgefasst wird, bis der 
mechanische Zusammenhang nachgewiesen ist 
Die logische Funktion beginnt ihre Arbeit schon bei der 
Produktion der elementaren Grundbegriffe: die Psychologie zeigt, 
wie die Gebilde von Raum, Stoff u. s. w. aus elementaren 
Empfindungen entstehen: schon hier beginnt die Arbeit des dis- 
kursiven Denkens, und darum eben sind schon diese Produkte 
der Psyche Fiktionen, welche der logische Trieb macht, um sein 
Ziel zu erreichen. So baut der logische Trieb auf, um 
schliesslich seine Produkte selbst zu zerstören. Das 
braucht aber nicht zum Pessimismus zu führen: auch der Giesser 
zerbricht die Form, wenn der Glockenguss fertig ist. So bricht 
die logische Funktion ihr zerbrechliches Gerüste selbst ab, wenn 
sie ihr Ziel erreicht hat: Feststellung der unabänderlichen Ver- 
hältnisse und Zusammenhänge. 

Diese Betrachtungsweise allein kann uns von dem Druck 
der logischen Widersprüche befreien, welche in den wissenschaft- 
lichen Grundbegriffen und Grundprozessen sich immer mehr ent- 

1) Ohne die logisch-diskursiven Denkmittel ist die Wirklichkeit für uns 
praktisch gleich Null. Alles „begreifende Erkennen" beruht auf den diskursiven 
Hilfsmitteln und besteht nur in der Anwendung derselben, aber dies „begreifende 
Erkennen* bleibt zuletzt haften an den unabänderlichen und nicht mehr zu be 
greifenden Successionen und Koexistenzen. — Zuletzt ergreift sich die logische 
Funktion doch selbst in ihrer Nichtigkeit d. h. in ihrer Unfähigkeit, das letzte 
Wirkliche eigentlich zu begreifen, aber doch auch zugleich in ihrer Wichtigkeit, 
nämlich dasselbe zu berechnen. Das ist eben das Resultat, dass die zum gewöhn- 
lichen „Begreifen* wichtigsten Begriffe, ohne welche auch kein Handeln möglich 
ist, nichtsdestoweniger, am wahrhaft Realen gemessen, fiktiv d. h. nichtig sind. 



XIV. Die Materie und die sinnliche Vorstellungswelt 101 



hüllen: nicht diese selbst sind die Hauptsache, sondern sie sind 
Mittel Das diskursive Denken schafft sich selbst immer feinere 
Mittel, um mit diesen die Wirklichkeit zu bearbeiten, zu um- 
spannen, zu umfassen: es ist ein logischer Fehler, das Mittel, 
das Instrument mit dem Gegenstande selbst zu verwechseln, zu 
dessen Bearbeitung allein es berufen ist. 

Das, was wir wahr nennen, ist nur das Produkt einer logischen 
Selektion, indem allmählich alle unzweckmässigen Gebilde eliminiert 
werden und nur die zweckmässigen bleiben; auch im Psychischen gab 
es, wie wir oben sagten, ursprünglich wohl viel mehr Verbindungsformen, 
bis sich schliesslich durch Selektion diejenigen erhielten, welche den 
Dienst am besten erfüllten. 

Und in diesen herrscht ein logischer Mechanismus, den es auf- 
zudecken gilt: wenn dieser logische Mechanismus aufgedeckt ist, so ver- 
schwindet der Anspruch auf sog. objektive Wahrheit; denn dann ist ja eben 
die Frage beantwortet, wie es komme, dass wir mit fiktiven Gebilden 
doch das Wirkliche berechnen können; das muss schliesslich auf 
einigen wenigen mechanischen Grundprozessen des psychischen Lebens 
beruhen. Wenn man nach der Aufdeckung dieses Mechanismus noch be- 
hauptet, diese Gebilde seien doch real, so gleicht man jenem bekannten 
Bauern, welcher, nachdem man ihm den Mechanismus der Dampfmaschine 
gezeigt hatte, nach dem Pferde fragte, welches in der Lokomotive stecke. 

Nun ist aber allerdings der Mechanismus der Lokomotive ohne den 
Zweck, den er erfüllt, nicht zu begreifen: so ist auch der Mechanismus 
des Denkens nicht zu begreifen ohne den Zweck, den er erfüllen soll: 
als solchen können wir aber nur eine Erleichterung und Beschleunigung 
der Vorstellungsbewegung, eine rasche und sichere Verbindung und Ver- 
mittlung der Empfindungeu bezeichnen. Es gilt also zu zeigen, wie die 
fiktiven Methoden und Gebilde dies ermöglichen; darin besteht 
aber eben der Mechanismus des Denkens, der schliesslich einzig und 
allein zum Ziele haben kann, Empfindungsvermittlungen zu ermöglichen, 
d. h. das Handeln zu erleichtern. Es ist also zu zeigen, wie das Handeln 
dadurch erleichtert werde; dabei Ist festzuhalten, dass der ganze Mecha- 
nismus des Denkens ein gegliedertes System von sich gegen- 
seitig unterstützenden Hilfsmitteln ist, so dass die Einen Fiktionen 
zunächst nur das Instrument selbst vervollkommnen, und selbst wieder 
Hilfsmittel des Instrumentes sind» 



Kapitel XV. 
Das Atom als Fiktion.*) 

Unsere Aufgabe, die letzten Fundamente des logischen Denk- 
^ernstes aufzudecken, ist noch nicht ganz erfüllt: wir müssen 

*) Im MS. = §28 (Forts). 



102 Erster TeiJ: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung der Fiktionen. 

unserer Übersicht noch einige solcher fiktiver Denkbegriffe, Denk- 
mittel hinzufügen, zunächst das Atom. Dies ist eine Modifikation 
des allgemeinen Begriffes der Materie und verhält sich zu ihr 
selbst wie die Differentialfiktion zu der Fiktion einer Länge 
der Kurven überhaupt; die Materie wird als aus unendlich 
kleinen Teilen bestehend betrachtet. Es ist ein wahrer Kampf 
ura's Atom entstanden, der sich eben auch wieder darum dreht, 
ob es Hypothese oder Fiktion sei: freilich legen erst wir 
diesem Kampf diesen Namen bei: die Streitenden selbst waren 
sich ihrer Sache meist nicht klar. Meistens wiesen die Gegner 
des Atoms seine Widersprüche nach und verwarfen es darum als 
unbrauchbar für die Wissenschaft Die unvorsichtigen Vorsichtigen! 
Ohne das Atom fällt die Wissenschaft; aber allerdings — wahres 
Wissen und Erkennen ist mit demselben nicht möglich. Es ist 
ein widerspruchsvoller Vorstellungsknoten, der aber notwendig 
ist zur Berechnung der Wirklichkeit Man hat erst neuerdings 
eingesehen, dass das Atom eine Fiktion, eine fiktive Rechenmarke 
sei, und u.A. hat Liebmann dies klar ausgesprochen. 

O. Liebmann, ZurAnalysis der Wirklichkeit, pag. 290 ff. , bes. pag. 
295: „Atom ist ein Interimsbegriff, welcher seinen provisorischen Charakter 
offen zur Schau trägt Seine imaginäre Gedankenexistenz geht aus einem 
nicht stabilen, sondern äusserst labilen Begriffsgleichgewicht hervor," — 
Besonders pag. 296: „Es ist wahr, das Atom ist blosse Rechenmarke 
der Theorie, zeitweilige Fiktion, Interimsbegriff; aber vorläufig ein 
recht brauchbarer interimsbegriff." Ob der Begriff ganz entbehr- 
lich sei, ist gegenwärtig eine brennende Frage. Nach dem jetzigen Stande 
der Frage scheint er doch nicht entbehrt werden zu können; wenigstens 
dient das Atom sowohl dem Physiker als dem Chemiker zur Anheftung 
seiner Gesetze, die er denn doch nicht ganz abstrakt hinstellen kann. 
Wir teilen ganz die Ansicht Liebmanns, dass der Begriff schliesslich 
durch einen anderen ersetzt werden sollte; ob aber das überhaupt mög- 
lich sein wird? Vgl Knauer, Zum Atomenmythus, Philos. Monatsh. XL 
403 (Mythus, sagten wir schon, ist eng verwandt mit Fiktion). Knauer 
unterscheidet richtig zwischen dem chemischen Massbegriff Atom 
und dem philosophischen Substanzbegriff Atom, verkennt aber 
ganz die Notwendigkeit des Atoms für die Physik. Was Kant eine „Idee" 
nannte, ist eben nur ein unbestimmterer Ausdruck für „Fiktion"; das Dasein 
von Atomen ist nach Kant eine „kosmologische Idee* Kr. d. r.V. 2. Aufl., 
S. 47L Sonst schildert Knauer sehr gut den „Mythus" der Atome, allein 
er verkennt die Notwendigkeit des Atoms als Interimsbegrift. Vgl. 
die Entgegnung von L. Weis in den Phil. Monatsh. XII, 62: Die Atome 
kein Mythusl Weis hält an dem „Unendlich-Kleinen" als real Existie- 
rendem fest: allein das widerspricht aller Logik; die Berufung auf die 
Differentialrechnung ist verfehlt. Vgl. ib. pag. 135/36 (Knauer gegen Spir.) 



XV. Das Atom als Fiktion. 



103 



Vgl. Hobbes, De corpore 8: Wird ein Körper gedacht und dabei von 
aller Grösse abstrahiert, so gibt dies den Gedanken der materia prima, 
dem zwar, sagt Hobbes, nichts Reales entspricht, der aber für 
das Denken unentbehrlich ist (Erdmann, Grundriss 1, 594). 

Das Schlechthin Einfache ist eine ähnliche Modifikation dieser 
Atomtheorie (vgl, Riehl, Kritizismus I, 304). 

Man hält die Fiktion des Einfachen, des Atoms fest, trotzdem das 
Körperliche schon lange „in Kräfte verduftet" ist (wie E. v. Hartmann 
sich ausdrückt). Vgl. Cooke, Die Chemie der Gegenwart, 1875. Das 
Buch ist ganz auf die Atomistik basiert» und doch will der Verfasser kein 
Atomist sein. Über den Begriff des chemischen Atoms s. Lothar Meyer, 
Die moderne Chemie, pag. 15, cfr. Schölten, Gesch. d.Philos. pag. 204 ff,; 
Spicker, Philos. u. Naturwiss. 84; Czolbe, Grundzüge der extensionalen 
Erkenntnistheorie, pag. 94/95, „Atome als Anknüpfungspunkte der Rechnung". 

Das eigentliche Standardwerk über das Atom ist Fe chners Schrift: 
Über die physikalische und philosophische Atom lehre, besonders pag. 113/14, 
138/39, 155/57, 162. Cfr. Becker, Grenzen der Philosophie und exakten 
Naturwissenschaft, pag. 57 (Träger der Qualitäten eine Fiktion). 

Ebenso fasst die „Naturphilosophie* das Atom (s. Michelet, System I, 
§ 70). Nie verwirft Michelet es, ohne seinen Nutzen einzusehen. „Das 
unteilbare Hier [der Raumpunkt] ist eine Abstraktion in unserem Kopfe. 
Atome annehmen heisst also: eine subjektive unreale Vorstellung zu einer 
gemeinten Wirklichkeit auf spreizen": Michelet, § 171 im II. Band seines 
Systems S. 29. Für den Physiker „ist Atom nur eine Sprechweise, ein 
Gleichnis, eine Formel". Dies alles führt auf den Begriff der Möglichkeit: 
„das atomistische Hier, die Diskretion für sich ist eine blosse Möglichkeit: 
die Kontinuität ist das allein Wirkliche 0 * 

Wie die Naturforscher selbst über das Atom denken, darüber 
s. Lange, Gesch. d. Material. Vgl. Lange, Beiträge 51: Atome sind 
Mitte! empirischer Naturbetrachtung und Orientierung. 

„Die atomistische Betrachtung der Körper ist von durchaus gedank' 
lieh er Art* sagt Grün a. a. O. 263 richtig. 
Diese Erkenntnis gewinnt aber erst Wert in dem Zusammen- 
hang unserer systematischen Betrachtung, welche noch vieles 
Andere seiner Würde als Hypothese beraubt und dessen Fiktivität 
und Subjektivität nachweist Die Streitigkeiten um das Atom 
werden ebenfalls ein belehrendes und höchst interessantes Thema 
unserer weiteren Behandlung abgeben : in diesem Kampf konzentriert 
sich ja die ganze moderne Naturphilosophie. 1 ) Die Streitenden 
griffen die Sache meist falsch an. Die Verteidiger solcher Begriffe 



1) Überhaupt ist hier zu bemerken, dass viele grosse Kontroversen der 
Wissenschaft, welche im Lauf ihrer Geschichte entstanden, sich darum drehten, 
ob ein Begriff eine Hypothese oder eine Fiktion sei, wobei die Sache meistens 
dahin ausging, dass beide Teile ermatteten, und dass man eben einstweilen 
das strittige Gebilde annahm. 



104 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung der Fiktionen. 

wollten immer nachweisen, dass die entdeckten Widersprüche 
nur scheinbare seien, und dass darum der Begriff objektive 
Gütigkeit habe und also auch angewendet werden dürfe. 
Die Gegner wiesen immer richtig die Widersprüche nach und 
wollten darum dem Begriff das Bürgerrecht in der Wissenschaft 
versagen, schütteten aber das Kind mit dem Bade aus, während 
jene es — ungewaschen annahmen. Das Resultat war dabei 
immer, dass der Begriff trotz aller Anfeindung stehen blieb, aber 
auch seine Widersprüche stets neuen Widerspruch herausforderten. 

Nachträglich erst pflegt die Einsicht zu kommen, dass beide 
Teile Unrecht und Recht hatten: der Begriff ist zwar wider- 
spruchsvoll, aber doch nötig: denn die meisten Grundbegriffe 
sind dieser Natur. Dabei ist bemerkenswert, dass im Laufe der 
Zeit das Gefühl dieser Widersprüche durch den Gebrauch dieser 
Begriffe sich abstumpft: Wie haben sich unsere heutigen Mathe- 
matiker und Physiker an Differentiale und Atome gewöhnt (auch 
Ein Atom ist unsinnig und falsch — man kann so wenig von 
Einem Atom reden als von Einem Differential — es sind immer 
Paare — das Letztere hat in der Mechanik ähnlich richtig Poinsot 
erkannt) — und keiner merkt mehr die Widersprüche, mit denen 
diese Begriffe behaftet sind. Während man die Widersprüche in 
den bisher gewöhnten Begriffen nicht sieht, sieht man sie bei 
den neuen Gebilden: so erregte einst die Einführung des Un- 
endlichen, der Differentiale denselben Widerspruch, den jetzt 
die Einführung des Raumes mit n-Dimensionen selbst von hoch- 
gebildeten Denkern erfährt: so ging es auch dem Irrationalen , 
Imaginären: so ging es vielleicht auch einmal in unvordenk- 
licher Zeit den Negationen und den Brüchen: dass aber sa 
auch die Einführung der Grundbegriffe, wie Raum, Materie 
u. s, w. solche Einsprüche fand, ist unwahrscheinlich, da die 
Bildung dieser in die vorwissenschaftliche Zeit fällt 

So ging es wohl noch mit vielen Begriffen in der Wissen- 
schaft und im Leben. Die Widersprüche, die das Altgewohnte 
an sich trägt, bemerkt man nicht mehr, nur am Neuen findet 
man sie, und so ist es ja auch im Leben: neue Moden scheinen 
lächerlich, und oft sind es die älteren nicht minder oder mehr; 
und bei Fremden und Neuem bemerkt man die Fehler mehr, als 
beim Gewohnten und Bekannten. 

Das Atom ist also eine der wichtigsten Fiktionen oder eigentlich 
die Haupt- und Grundfiktion der mathematischen Physik, ohne 



XVK Fiktionen der Mechanik und mathematischen Physik. 



105 



welche eine feinere und höhere Ausbildung dieser Wissenschaft 
ganz unmöglich ist. Wir bemerkten, dass die Atomfiktion der 
der Differentiale in der höheren Mathematik entspreche: dieser 
Parallelismus zwischen Mathematik und Physik macht sich auch 
sonst sehr lebhaft bemerkbar; natürlich: die mathematische Physik 
ist ja eine Anwendung der Mathematik, 



Kapitel XVL 

Fiktionen der Mechanik und mathematischen Physik.*) 

Genau wie die Mathematik ihren grossartigen Aufschwung 
in der Neuzeit nur und einzig und allein der Einführung 
passender Fiktionen und darauf basierter ingeniöser 
Methoden verdankt, so haben auch die Mechanik und mathe- 
matische Physik ihre Fortschritte in den letzten Jahrhunderten 
neben der Beobachtung grossenteils der Einführung von 
Fiktionen zu verdanken. Solche fiktiven Begriffe: die starre 
Linie, der Körper Alpha (als der unbewegliche Mittelpunkt des 
absoluten Raumes), der Schwerpunkt, die actio in distans, die 
Kräfte überhaupt u, s, w. sind geradezu die Grundlagen der mo- 
dernen Mechanik. 

Vgl. den berühmten Vortrag von C. Neumann: ,Über die Prinzipien 
der Galilei-Newtonschen Theorie*' (Leipzig 1870), pag. 20 über den Körper 
Alpha; dieser ist ein unbekannter starrer Körper, auf den alle 
Ortsveränderungen bezogen werden. Vgl. Avenarius a. a. O. 
pag. 88, der diesen Körper Alpha richtig mit der Substanzvorstellung zu- 
sammenstellt und beide als Hilfsfunktionen des Denkens charak- 
terisiert. Daselbst ist auch ganz richtig der Dienst angegeben, den solche 
Vorstellungen dem Denken erweisen. Der Körper Alpha erzeugt die 
Vorstellung der nicht relativen, absoluten Bewegung und fällt dann heraus. 

Avenarius wendet hier unser Prinzip auf einen speziellen Fall an: 
wir besprechen überhaupt solche Hilfsbegriffe, HiUsvorstellungen und 
Hilfsfunktionen, welche eine bestimmte andere Vorstellung erzeugen oder 
erleichtern sollen; dass sie nach vollbrachter Arbeit wegfallen, resp. aus 
der Rechnung herausfallen, dies ist das eigentlich Charakteristische aller 
Fiktionen. 

Es ist bei jeder Fiktion speziell nachzuweisen, was sie leisten soll. 
Im Allgemeinen genügt indessen vorläufig die Bestimmung, dass solche 
Fiktionen eingeschoben werden, um dem Denken irgend einen Dienst zu 



*) Im MS. £ 2S (Schluss). 



106 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung der Fiktionen, 

leisten. Wir haben schon solche Begriffe mit Eierschalen verglichen, welche 
nachher wegfallen, wenn dasjenige, was das Denken durch die Fiktion 
erreichen wollte, erreicht ist 

Dieser Vergleich mit Schalen ist nicht ohne sachliche Bedeutung. 
Auch die organische Funktion bildet solche Mitteigebilde, welche nachher 
wegfallen und absterben. Vgl. Hera. Wagner, Der Tod vom Standpunkt der 
Naturwissenschaften (Bielefeld 1876); daselbst heisst es: Zahllos sind die 
Beispiele, dass bei der Entwicklung der Tiere Organe vorläufig gebildet 
werden, deren Absterben notwendig wird, sobald das Wesen eine höhere 
Stufe erreichen soll. So müssen eben auch durch die organische Funktion 
des Denkens eine Reihe von Begriffen gebildet werden, welche nachher 
ausfallen, nachdem sie eine andere Vorstellung ermöglicht haben. Die 
schützende Schale wird abgestreift, sobald die Raupe ausgeschlüpft ist; der 
zu eng gewordenen Haut ergeht es bei zahllosen Tieren ähnlich (z. B. bei 
Krebsen, Fröschen, Schlangen, Raupen, Käierlarven) ; so bleibt auch die 
Puppenhülle zurück, sobald der Schmetterling zum Vorschein kommt, so 
sind Organe vorhanden, welche in früheren Stadien der Entwicklung eines 
Organismus bestimmte Funktionen zu übernehmen haben, später aber, so- 
bald sie unnütz werden, absterben; diese Organe sind aber bei der nor- 
malen Entwicklung des Wesens von vornherein in Rechnung gebracht — 

Auffallend ist hier die Ähnlichkeit der organischen Funktion der 
Körperbildungsvorgänge mit dem Wirken der organischen Funktion des 
Denkens. Auch bei letzterer werden Gebilde erzeugt, welche wieder ab- 
sterben. Solche vorläufigen Denkgebilde sind die Fiktionen, welche eben 
nachher entweder ganz absterben oder bloss logisch ausfallen, um andere 
Vorstellungen zu erzeugen oder dem Denken sonst einen Dienst zu leisten. 

Die Analogie des Denkens mit den organischen Funktionen erwies 
sich somit als fruchtbar; auch die organische Funktion schafft in der Ent- 
wicklung solche Vermittlungsgebilde, welche nach vollbrachtem Dienste 
invalide werden, wie die Hilfsbegriffe. 

Übrigens gebraucht auch schon Strauss, Alter und neuer Glaube 
S. 86 „den Vergleich einer solchen Vorstellung mit einer Fruchthülle*. 
Und auch Laas, Kants Anal. d. Erf. S. 122 nennt solche Vorsteliungsgebjlde 
Ä so zu sagen organisch emporwachsend". 

Die Entdeckung, dass die Substanzkategorie eine solche Fiktion sei 
— welche Entdeckung eben Avenarius macht — und dass diese Fiktion 
den Zweck hat, den Begriff der Veränderung zu erzeugen und 
einen idealen unveränderlichen Vergleichspunkt für alle Veränderung ab- 
zugeben, diese Entdeckung ist nur ein spezieller Fall des viel allge- 
meineren Prinzipes, dass das Denken überhaupt im Ganzen und Grossen 
eine ganze Reihe solcher Begriffe bildet und Methoden anwendet, welche 
eine bestimmte Funktion erfüllen und dann herausfallen. So alle Kate- 
gorien und Allgemeinbegriffe. Wesentlich ist hierbei aber noch, dass 
solche durch Fiktionen erzeugten Vorstellungen dann selbst wieder Hilfs- 
mittel zu anderen Zwecken sind, dass also das Denken ein geordnetes 
System von Hilfsbegriffen ist, welche in letzter Linie darauf abzielen, 
die unabänderlichen Successionen und Koexistenzen der Rechnung und 
Berechnung zu unterwerfen. 



XVI. Fiktionen der Mechanik und mathematischen Physik. 107 



Wir dehnen also diesen Gesichtspunkt viel weiter aus und weisen 
ihn auch im Speziellen in vielen Wissenschaften nach. Der einzelne von 
Avenarius angeführte Fall ist nur ein Bruchstück einer viel allgemeineren 
Denkmethode, der Anwengung von Fiktionen als Hilfsbegriffen. 

Gehört nicht hierher auch der „reine Fall*, die absolute Be- 
wegung, die Trägheit? Auch das Chaos der Astronomie ist eine solche 
Fiktion, freilich auch die absolute Harmonie. (S. hierüber Michelets 
Naturphilosophie.) 

Um die theoretische Darstellung dieser physikalischen Grund- 
begriffe hat sich am meisten Duhamel verdient gemacht, der in 
seinen methodologischen Werken diese Seite der theoretischen 
Mechanik, freilich noch ziemlich mangelhaft, behandelt. Überhaupt 
wenn sich die Logiker nur die Mühe geben würden, bei den 
logischen Denkbewegungen der Physiker in die Schule zu gehen 
und hier zuzusehen, wie die logische Arbeit gemacht wird, könnten 
sie sehen, wie willkürlich in diesen Gebieten fiktive Begriffsgebilde 
formiert werden. Die theoretische Mechanik besteht zunvgrössten 
Teil aus solchen rein willkürlichen Begriffen, welche aber auch 
von den Physikern dafür nur als Rechnungsmittel, Hilfs- 
begriffe, Angriffspunkte, theoretische Ansätze — kurz 
als Fiktionen behandelt werden. Überhaupt hat die moderne 
Logik viel zu wenig von der Mathematik und ihren bewunderungs- 
würdigen Methoden gelernt Die Logik muss mehr von den 
Methoden der Mathematik und Mechanik lernen, um hier zu be- 
obachten, wie denn eigentlich die logische Funktion verfährt, um 
das Wirkliche zu berechnen: in diesen Gebieten wimmelt es von 
Kunstgriffen. Übrigens ist die ganze Mathematik selbst nur ein 
Kunstgriff: über das Seiende selbst gibt sie kaum einen Auf- 
schluss: sie ist nicht Selbstzweck: sondern hat ihren Haupt- 
zweck darin, eine Methode und ein Hilfsmittel zu sein. 
Die Mathematik ist die eigentlich genialste Methode selbst, um 
das Wirkliche zu berechnen, und sie dient zur Ausbildung des 
Massstabes, auf den wir die ganze Welt zurückführen: des Raumes 
und der Bewegung im Raum. Dass auch der Begriff der 
Bewegung eine Fiktion sei, das konnten schon die eleatischen 
Widersprüche lehren: diese sind so wenig gelöst, dass sie viel- 
mehr so schroff wie damals dastehen. Die Bewegung ist nur 
ein Begriffsgebilde, eine Vorstellung, mit welcher wir die ob- 
jektiven Veränderungen (die aber für uns zuletzt nur als Empfindungs- 
veränderungen gegeben sind) in ein geordnetes System zu bringen 
versuchen. Dass aber dieses System der räumlichen Bewegung 



108 Erster Teil : Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung der Fiktionen. 

samt allen seinen Unterbegriffen nur ein fiktives Begriffsgebilde 
sei, folgt sowohl aus den Widersprüchen des Bewegungsbegriffes 
selbst, als aus den Widersprüchen des Raumbegriffes, auf dem jener 
basiert. Das ist eben ein zusammenhängendes Gewebe, ein zusammen- 
geflochtenes Netz von subjektiven, fiktiven Vorstellungen, mit denen 
wir das Wirkliche umspannen. Das Vorhaben gelingt denn auch 
leidlich; aber damit ist noch nicht gesagt, dass der Inhalt auch 
die Form des Netzes haben muss, das wir über ihn ausspannen. 

Die Physiologen nähern sich dieser Auffassung auf Grund 
der psychogenetischen Erwägungen. Kant meinte, der Raum mit 
all seinen Unterbegriffen, also z, B. der Bewegung, sei ein fertiger 
Besitz der Seele, welcher dann dem Gegebenen zugemischt wird; 
wir betrachten heutzutage die Sache so, wie auch Herbart sie 
betrachtete: dass wir den Raum erst auf Grund der Empfindungen 
ausbilden, um in die chaotische Masse derselben Zusammenhang 
und Ordnung zu bringen: woraus aber noch nicht folgt, dass die 
von uns aufgestellte Ordnung ein Abbild der objektiven sei; sie 
wird wahrscheinlich nur die allgemeinsten Züge der letzteren in 
ganz anderer Form darstellen. 

Auch die Begriffe eines absoluten, unendlichen Raumes 
beruhen auf Fiktionen, ebenso wie die einer absoluten Be- 
wegung — wie überhaupt die Absoluterklärung eines Elementes 
eine Form der Fiktion ist, welche mit der Verunendlichung 
zusammenhängt. Diese Begriffe finden sich auch in anderen 
Wissenschaften, so die Begriffe einer unendlichen Vervoll* 
kommnung, einer absoluten Freiheit; diese und andere 
moralische und juristische Fiktionen mahnen wieder daran, dass 
Mathematik und Rechtswissenschaft (im weitesten Sinne, nebst 
Ethik etc.) ähnliche Methoden befolgen. Auch diese Wissenschaften 
lieben es, empirische Begriffe absolqt und unendlich zu machen, 
wovon noch unten die Rede sein soll. 

Hierher gehören alle mit „absolut" zusammengesetzten Fiktionen: so 
„die Vorstellung eines zeitlosen, absoluten Anfangs einer Kausal- 
reihe, der doch den sinnlichen Kausalnexus nicht alterieren soll" Mit 
Recht sagt Laas, pag. 9, dieser Kardinal begriff der Lehre vom intelligiblen 
Charakter sei trotz aller Anstrengung des Denkens nicht auszudenken; 
dieser Begriff sei ursprunglich bei Kant auch bloss Fiktion gewesen 
(ib. 309). Ein anderer absoluter Anfang psychologischer Natur ib. 105, 294 
scheint nicht hierher zu gehören. Das absolut exakte Zeitmass 
(s, ib. 129) wird von der Mechanik fingiert, weil dieselbe kein solches 
in der Natur iinden kann. Dem absoluten Anfang entspricht ebenfalls, 
als Fiktion das absolute Ende (s. Laas 342), 



XVII. Das Ding an sich. 



109 



Ober das „aus unserem Körper extrahierte ideal ische Axen- 
system*, die Voraussetzung des absoluten Raumes s. Laas, 
a. a. O. 129 (cfr. pag. 157). 

Über Zeit überhaupt*, „Raum überhaupt", „Anserzung der Ideal- 
form einer absoluten Zeit a s. später. 

Schon Bacon übrigens erwähnt die Fiktion des Schwerpunktes im 
Novum organon II, 48. 



Kapitel XVII. 
Das Ding an sich.*) 

Ehe wir uns zum Begriff des Absoluten wenden, haben wir 
noch einen anderen Begriff zu besprechen: das Ding an sich. 1 ) 
Nach allem Vorhergegangenen kann unsere Stellung zu diesem Be- 
griffe nicht unklar sein: das Ding an sich ist keine Hypothese, 
sondern eine Fiktion. Mit dieser Formel haben wir viele bis- 
herigen Schwierigkeiten auf einmal gelöst. Kant ist der Urheber 
dieses Begriffes, der ein Produkt der logischen Funktion in ihrer 
imaginativen Tätigkeit ist. Der erste Punkt, der dadurch erledigt 
wird, ist das historische Verständnis Kants selbst. Die ganze 
Zweideutigkeit, welche Kant bei diesem Begriffsgebilde entwickelt, 
stammt lediglich von der Unentschlossenheit, von dem Schwanken 
zwischen Ding an sich als Hypothese oder Fiktion: so nennt 
Kant in der ersten Aufl. der Kr. d. r. V. einmal das Ding an 
sich eine „blosse Idee" = Fiktion. Kant war von Anfang an 
bei der Bildung dieses Begriffes nicht viel klarer gewesen, als 
einst Leibniz bei der der Differentiale. Zweitens erhält die 
Bezeichnung Grenzbegriff eine wichtige Beleuchtung: als Fik- 
tion ist der Begriff des Dinges an sich Grenzbegriff in demselben 
Sinne, in welchem von der Methode der Grenzen in der 
Mathematik gesprochen wird: die Grenze wird durch eine 
Fiktion zu etwas Realem gemacht, als Reales behandelt. Auch 
wird der ganze Kampf um das Ding an sich, wie er von 
Reinhold, Schulze, Maimon, Jacobi, Fichte u. A. in der 
erstmaligen Blüte der Kantischen Philosophie geführt worden ist, 

*) Im MS. = §29 (Anfang). 

1) Der Behandlung dieses Begriffs bei Caspari, Grundprobleme, können 
wir nicht zustimmen. Er verkennt die Natur des Dinges an sich ganz, 
wenn er es für eine total entbehrliche Fiktion hält. 



1 10 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzahlung der Fiktionen. 

und wie er neuerdings in der zweiten Periode dieser Philosophie 
von Neuem zum Ausbruch gekommen ist, dadurch mit einem Male 
viel klarer: es handelt sich einfach darum, ob das Ding an 
sich eine Fiktion sei oder eine Hypothese. Derjenige, 
der dies klar eingesehen hat, ist Maimon. Schulze sah die 
Widersprüche des Begriffs und verwarf ihn: Maimon sah die 
Widersprüche und behielt den Begriff als Fiktion bei Ohne 
Zweifel müssen wir seinem Beispiel folgen. Durch Maimon ist 
auch der Vergleich des Dinges an sich mit dem Imaginären, 
also mit v^— « aufgekommen, und zwar ist dieser Vergleich sehr 
genial: \/ — a ist das Symbol einer mathematischen Fiktion: es 
ist die unberechtigte Ausdehnung und Übertragung einer 
mathematischen Operation auf einen Fall, wo das Material 
diese Anwendung verbietet und zu einer Sinnlosigkeit macht: 
nichtsdestoweniger führt die mathematische Rechnung häufig 
genug auf diesen Begriff, mit dem dann einstweilen gerechnet wird, 
als ob er eine Realität, eine darstellbare Zahl bezeichnete, und 
der aber, wohlgemerkt, am Ende der Rechnung stets als 
wertlos wieder herausfällt 

Genau derselbe Fall liegt vor beim Ding an sich. 

Über das „Ding an sich" vgl Wundts vortreffliche Ausführungen 
in der Rede: „Aufgabe der Philosophie in der Gegenwart, pag. 11 ff: 
„Kants Entdeckung war eine rein erkenntnistheoretische; leider sollte er 
nicht der Gefahr entgehen, Begriffen, die nur einen erkenntnistheoretischen 
Wert besitzen, eine reale Bedeutung beizulegen" u. s. w. Die Unter- 
scheidung von Ding an sich und Erscheinung habe nur Wert für die 
Erkenntnistheorie u. $. w. 

Man vergleiche ferner: Drobisch, Rede über Herbart, 8, 15 ff., 
E. v, Hartmann, v. Kirchmanns Realismus, pag. 7. Dagegen Spicker, 
Philosophie und Naturwissenschaft pag. 31, 38—53; Spicker polemisiert 
von ganz falschem Standpunkt aus gegen das Ding an sich, indem er es 
für eine Hypothese hält, während es nur eine Fiktion ist 

Vgl. Dührings Urteil, Gesch. d. Phil. 408 (Grün, Philos. d. 
Gegenw. 318). 

Dem Ding an sich entspricht dann die grossartig-groteske Fiktion 
des Fichteschen Ich (cfr. Dühring a.a.O. 436); weder dieses noch die 
moralische Weltordnung meinte Fichte anfangs anders als fiktiv; durch 
die Jenaer Katastrophe wurden sie Hypothesenl Vgl. Vorl. über die 
Bestimmung des Gelehrten, 1. Vorl.: „Ausser der Verbindung mit dem 
Körper wäre der Mensch nicht einmal Mensch, sondern etwas für uns 
schlechthin Ungedenkbares, wenn man ein solches, das nicht einmal ein 
Gedankending ist, noch ein Etwas nennen kann." 



XVII. Das Ding an sich. 



111 



Über das Ding an sich und seine merkwürdigen Schicksale vgl. 
besonders Lieb mann, Kant und die Epigonen, Stuttg. 1865. Übrigens 
ist nicht die Autstellung des Dings an sich dem Geiste der Kantischen 
Lehre widersprechend (ib. 51), sondern nur seine Verwandlung aus seiner 
Fiktion in eine Hypothese (cfr. ib. pag, 37). Durch unsere Unter- 
scheidung allein scheint die im „Ding an sich 0 liegende Schwierigkeit 
gelöst zu werden. Liebmann hat das Verdienst, das Widersprechende 



haben (ib. 63 ff.). Mai min hat die wahre Natur des „Dinges an sich" 
klarer erkannt als Schulze-Aenesidem, aber Liebmann hat nur den 
Letzteren berücksichtigt 

Vgl. Stadler, „Grundsätze" § 65. 82—122. 156. 173. Über die all- 
mähliche Abstraktion des Ich an sich und seine bloss abstrakte Fiktivität 
vgl. Laas, a. a. O. 76. 

Das Ding an sich entsteht durch eine unberechtigte An- 
wendung einer logischen Operation; jene widerrechtlich ausge- 
dehnte mathematische Operation in der Formel yj — a ist die 
Radizierung, diese logische Operation ist die Anwendung der 
Kategorien von Ding und Eigenschaft (und von Kausalität) 
auf ein Etwas, wo seine Anwendung sinnlos wird, nämlich auf das 
eigentliche und letzte Wirkliche* Wenn einmal feststeht, dass alle 
Kategorien nur subjektiv sind, so kann auch diese Kategorie nicht 
auf das eigentliche Wirkliche angewandt werden. Indessen spielt 
bekanntlich hauptsächlich noch eine andere Kategorie herein: 
die Kategorie der Ursächlichkeit; diese wird ebenfalls un- 
berechtigt angewandt auf ein Etwas, wo seine Anwendung un- 
befugt ist, auf das eigentlich Wirkliche. Ist nämlich, wie Kant 
das tut, festgestellt, dass diese Kategorie subjektiv ist, so ist 
es ein Widerspruch, dem eigentlich Wirklichen diese Kategorie 
zuzuschreiben. Diese Anwendung fällt also unter die oben 
sogenannten unberechtigten Übertragungen oder Ausdehnungen, 
wo ein ganz anderer Fall unter ein gewisses Begriffsgebilde 
gebracht wird, der nicht für dasselbe geeignet ist. Speziell ist 
die Analogie jener unberechtigten Ausdehnung der mathe- 
matischen Operationen hier aufklärend — es ist ja auch 
hier eine unberechtigte Anwendung auf ein ungeeignetes Gebiet, 
auf das eigentlich Wirkliche. Nur innerhalb des Rahmens unseres 
diskursiven Denkens haben diese Kategorien Sinn und Berechtigung, 
hier dienen sie zur Einleitung der logischen Operationen. Nur 
in unserer Vorstellungsweit gibt es Dinge, gibt es verursachende 
Dinge; in der wahren Welt sind diese Begriffe^ ein leerer Schall 




Schicksale drastisch dargestellt zu 



112 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzahlung der Fiktionen. j 

Das Ding an sich scheint nur dazu zu dienen, um Alles auf sub- 
jektive Vorstellungen reduzieren zu können: wir haben aber schon oben 
pag. 84 darauf hingewiesen, dass die Reduktion alles Wirklichen auf eine j 
blosse Einwirkung eines X auf uns als Y, und aJso schliesslich auf sub- 
jektive Vorstellungen uns nur als Kunstgriff erscheinen will. Dadurch i 
wird nämlich die ganze Vorstellungswelt scheinbar erklärt und ausserdem \ 
auch viel leichter durchdringbar. I 

Das eigentlich Wirkliche sind die Empfindungen. Indem nun 
Kant diese auch, wie etwa die Farbenqualitäten, auf die Einwirkung von 
Objekten reduziert, fallen sie ganz ins Subjekt herein, und als unbe- 
griffen bleibt nur der dunkle Rest des X übrig. 

Die Vorstellung der Kausalität ist eine eben nicht auf das 
Eigentlich- Wirkliche selbst anwendbare. Das Eigentlich -Wirkliche 
selbst duldet diese Kategorie nicht: sind nun tatsächlich die Empfindungen 
das eigentlich Reale, so ist die Reduktion derselben samt Raum, Materie 
u. s. w. auf einen Anstoss eines unbekannten Objekts eine unberech- 
tigte Ausdehnung des Begriffes der Ursache und Wirkung. 

Da aber alles begriffen erscheint, was auf diese Kategorie reduziert 
ist, so ermöglicht das Ding an sich die Anwendung der Kategorie der 
Kausalität auf das Eigentlich-Wirkliche. Dieses ist ja unserer Anschau- 
ung nach die Empfindungsweit. Indem nun Kant diese samt Raum, 
Zeit u. s. w. auf das Koordinatensystem von Ursache und Wirkung, Objekt 
und Subjekt reduziert, erscheint die ganze Welt als Wirkung begriffen 
zu sein. 

Das „Ding an sich" würde also den Dienst leisten, das Eigentlich- 
Wirkliche selbst als Wirkung erscheinen zu lassen. Dies ist die 
eigentliche Tendenz des Maimonismus. 

Das Koordinatensystem: Ursache, Wirkung wird auf das letzte Wirk- 
liche selbst angewendet, um es begreiflich zu machen, denn es erscheint 
begriffen, wenn es kausal produziert ist. 

Die Fiktion des „Dinges an sich* wäre demnach der genialste 
Rechnungsansatz der Welt. Wie man in der Mathematik und 
Mechanik Begriffe einführt, vermittels welcher die Aufgabe erleichtert 
wird, so führt Kant als Rechnungsansatz die Begriffe des „Dinges an sich* 4 
ein, als X, dem das Y, das Ich als unsere Organisation entspricht; da- 
durch wird nun die ganze Welt der Wirklichkeit berechenbar; nachher 
lässt man das „Ich* und das »Ding an sich" wieder wegfallen, und so 
bleibt nur die Empfindung als real übrig. 

Begriffen wird etwas, wenn es als Wirkung einer Ursache 
betrachtet wird. Nun fingiert man zwei Dinge jenseits der Welt: 
„Ich" und „Ding an sich", durch deren Zusammenwirken die Welt 
entsteht und so als begriffen erscheint 

Aber für unsere Anschauung ist die Succession und Koexistenz der 
Empfindungen das letzte Wirkliche, und zu diesem werden zwei Pole 
hinzugedacht, Objekt und Subjekt. 

Unsere Auffassung der Kantischen Lehre scheint auch zu erklären, 
warum Kants Lektüre so aufhellend wirkt; ich meinesteils kann aus eigener 
Erfahrung diese Aufhellung nur noch mit der Aufklärung vergleichen. 



XVU. Das Ding an sich. 



113 



welche die Cartcsianische Betrachtung der Kurven — also seine analytische 
Geometrie — hervorbringt. 

Bei Kant spielen freilich noch andere Elemente herein, so die Be- 
schränkung der Wissenschaft auf die Erfahrung, der apriorische Rationalis- 
mus u. s. w>, welche aber hier ausser Acht gelassen werden können. Auch 
wollte Kant selbst die Sache keineswegs so betrachtet wissen, was aber 
gegen unsre Auffassung kein Einwurf sein kann; hat doch auch Leibnte 
die Differentiale, die ihm ursprünglich nur Fiktionen waren, in späteren 
Jahren im monadologischen Interesse für real erklärt. Bei Kant sind eben 
verschiedene Elemente vereinigt, deren Zersetzung notwendig ist, und 
deren Zersetzung sich ja auch historisch vollzogen hat 

Indessen ist dieser Begriff des Dinges an sich trotz seiner 
Widerspruchsfülle nicht zu entbehren für die Philosophie, ebenso 
wenig als das Imaginäre für die Mathematik. Wenn man 
überhaupt vom Wirklichen sprechen will, so muss man es mit 
einer Kategorie bezeichnen: sonst ist es nicht bloss undenkbar, 
sondern auch gar nicht einmal ausdrückbar 

Unsere ganze Erörterung läuft aber schliesslich darauf hinaus, 
dass mit dem Ding an sich die subjektive, fiktive Methode 
ihren Abschluss findet. Um nämlich die Vorstellungswelt in uns 
selbst erklären zu können, nahm Kant an, die wahre Welt bestehe 
aus Dingen an sich, welche in gegenseitiger Einwirkung 
begriffen seien, um aus dieser Einwirkung die Genesis der 
Empfindungen zu erklären; nun aber ist zu bemerken, dass 
eigentlich Kant nur sagen durfte und zuerst auch nur sagen 
wollte: man muss (wir sind vermöge unseres diskursiven Denkens 
dazu gezwungen) das wirkliche Sein so betrachten, als ob es 
Dinge an sich gebe, welche auf uns wirken, und dann die Vor- 
stellung der Welt in uns hervorbringen. Faktisch hatte er nach 
seinem eigenen System auch nur hierzu das Recht: und dann 
war eben das Ding an sich eine notwendige Fiktion, indem wir 
nur so die wahre Wirklichkeit uns vorstellen, überhaupt denken 
und davon sprechen konnten. Kant hat aber diesen reinen 
Standpunkt nicht festgehalten, sondern ihm hat sich das Ding 
an sich in eine Realität, kurz in eine Hypothese verwandelt: 
daher sein Schwanken in der Erörterung des Begriffes. Im Ding 
an sich hat die logische Funktion des diskursiven Denkens ihren 
Gipfel erreicht: das Ding an sich ist die letzte, aber auch not- 
wendigste Fiktion: denn ohne diese Annahme ist uns die Vor- 
stellungswelt „unbegreiflich". 

8 



1 14 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung, A. Aufzählung der Fiktionen. 

Dass uns aber ohne diesen Begriff die Vorstellungswelt „un- 
begreiflich 1 ' ist, berechtigt nur zur Annahme des Begriffes in der 
Gestalt einer Fiktion, nicht in der Gestalt einer Hypothese. 
Für uns kann es nicht zweifelhaft sein, dass er eine notwendige 
Fiktion ist: ein Gesichtspunkt, der bisher noch nicht mit dieser 
Entschiedenheit geltend gemacht ist, wenn er auch von Kant. 
Maimon, Stadler, Lange u. a. vorbereitet worden ist. 



Kapitel XVIII. 
Das Absolute.*) 

Als letzte und höchste Fiktion haben wir noch eine Modi- 
fikation zu betrachten, welche mit dem Ding an sich vor- 
genommen worden ist, indem es zum Absoluten oder zur ab- 
soluten Substanz erweitert wird, oder zur absoluten Welt- 
kraft u. s. w. Insofern Ding, Substanz, Ursache, Kraft — selbst 
nur Vorstellungsgebilde voller Widersprüche sind, sind sie schon 
behandelt und aufgezählt: allein der Zusatz des Absoluten 
verschärft die Fiktion, Die Widersprüche im Begriff des Absoluten 
sind so eklatant, dass sie schon häufig dargestellt worden sind; 
besonders der englische Meta physiker Man sei hat sich durch den 
Nachweis dieser Widersprüche Verdienste erworben- 

Das Absolute ist eine metaphysische Wendung des mathe- 
matischen Unendlichen. Diese beiden Begriffsgebilde sind 
gleichwertige Fiktionen. Insofern das Absolute ein Ding neben 
oder über der Welt sein soll, verfällt es den Widersprüchen des 
Dinges überhaupt; es als Kraft zu denken, führt auf andere 
Widersprüche; ob diese Fiktion dagegen eine wertvolle Begriffs- 
bildung sei, ist noch die Frage; indessen steht ihr enormer 
praktischer Wert ausser Frage. Wir kennen nur Relatives, wir 
kennen nur unabänderliche Beziehungen und Gesetze der Phäno- 
mene: alles andere ist subjektive Zutat. Die Scheidung der Welt in 
Dinge an sich = Objekte und Dinge an sich = Subjekte 
ist die Urfiktion, von der alle anderen schliesslich abhängen. 
Auf dem Standpunkt des kritischen Positivismus gibt es also 
kein Absolutes, kein Ding an sich, kein Subjekt, kein 



*} Im m. = § 29 (SMuss). 



XVI11. Das Absolute. 



115 



Objekt; es bleiben also einzig und allein die Empfindungen 
übrig, welche da sind, welche gegeben sind, aus denen die ganze 
subjektive Welt aufgebaut ist in ihrer Scheidung in eine Welt 
physischer undin eine Welt psychischer Komplexe: der kritische Posi- 
tivismus erklärt jede andere und weitere Behauptung für fiktiv, 
subjektiv und unbegründet: für ihn existieren nur die beobachteten 
Successionen und Koexistenzen der Phänomene; an diese allein 
hält er sich. Jede Erklärung, welche weitergeht, kann nur mit 
den Hilfsmitteln des diskursiven Denkens sich weiter behelfen, 
also mit Fiktionen. Die einzige fiktionsfreie Behauptung in der 
Welt ist die des kritischen Positivismus. Jede nähere, eingehendere 
Behauptung über das Seiende als solches, welche sich aus diesen 
Beobachtungen ergibt, ist fiktiv. Insbesondere ist jedes weitere, 
darauf gebaute System wertlos, insofern es sich nur im Kreise 
der Hilfsmittel, Hilfsbegriffe und Instrumente des diskursiven 
Denkens bewegen kann. 

Unter dem „Absoluten* ist hier nicht bloss das metaphysische Ab- 
solute gemeint, d. h. die allgemeine Substanz, sondern überhaupt auch 
jede andere Anwendung des Begriffs. Ebenso sind absolutes Recht, 
absolute Moral, absolutes Staatsideal u.s.w. lauter Fiktionen von 
hohem praktischem Wert, aber ohne allen theoretischen Sinn; 
ebenso absolute Werte (s. Laas, pag. 342) und absolute Zwecke (ib.). 

Dem Übelstand, an dem unsere räumlichen Determinationen leiden, 
dass wir keinen absolut ruhenden Zentralkörper anzutreffen vermögen, 
(cfr. Laas a. a. O. pag. 79 und 129, 157, 288, 309) helfen wir ab durch die 
Fiktion eines solchen. Cfr. Neumann über den „Körper Alpha" in dem 
Vortrag: Über die Prinzipien der Galilei-Newton'schen Theorie, Leipzig 
1870. Das Absolute ist eine Denktäuschung; s. hierüber Laas, a. a, 0. 
226 und die dort auf pag. 320 angeführte merkwürdige Äusserung Spen- 
cers: die Denkgesetze verbieten es uns schlechterdings, einen Begriff 
von absoluter Existenz zu bilden, zu gleicher Zeit aber verhindern uns 
dieselben Denkgesetze, uns von dem Bewusstsein von absoluter Existenz 
loszumachen. Damit spricht Spencer ganz deutlich das Wesen der 
Fiktion aus; dasselbe ist der Fall mit absoluter Position, die (nach 
Laas a. a. O. 328) zuerst gesetzt wird, um dann wieder aufgehoben zu 
werden. Über das Absolute vgl. noch Laas, pag. 222, 264, 327, 341. 

Sehr bemerkenswert ist die Stelle pag. 309 bei Laas, wo davon die 
Rede ist, dass die Einbildungskraft sich absolute Punkte schaffe 
zu praktischen Rechnungszwecken. 

Das Absolute — Sein überhaupt ist also eine Fiktion, da wir 
nur relatives Sein kennen. Sehr gut nennt Littrö, Fragments VII, das 
Absolute die „imaginäre Konstante". Vgl. bei Laas die Stellen über „Sein 
überhaupt* (aufgeführt im Register pag. 358). Schopenhauer hat auch 
den Begriff der absoluten Notwendigkeit eine „undenkbare Fiktion" 



116 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung der Fiktionen. 



genannt (dr. Laas, pag. 221). In der Tat kennt der reme Positivismus 
nur beobachtete Unabänderlichkeiten. (Cfr. ib. 133, 211, 214, 327, 
32Sf M vgl die Stellen über die absolute Gewissheit besonders 231, 
234, 328.) Alles, was mit „absolut* zusammenhängt, unterliegt mit Recht 
einer Anzweifelung, insofern die Idee des Absoluten selbst ein Produkt 
der Einbildungskraft ist. 

Auch sonstiges Absolute ist Fiktion — so absolute Wärme, 
absolute Kälte. Absolute Kälte wäre nicht nur absolute Ruhe, sondern 
auch Zuriäckführung der Kontraktion auf Einen Punkt. Absolute Wärme 
wäre absolute, unendliche Dilatation, Zerstreuung der Materie in den 
unendlichen Raum. Absolute Attraktion würde die Materie in Einen 
Punkt, d. h. in das Nichts zusammenziehen. (Absolute Attraktion ist 
nach Mich el et Durchgangspunkt für Repulsion.) Ebenso absolute 
Diskretion und absolute Kontinuität; & oben pag. 171. 
Damit schliessen wir diese vorläufige Übersicht der Fiktionen 

des menschlichen Denkens und wenden uns einer allgemeinen 

Betrachtung über alle Fiktionen überhaupt zu. 



Anhang und Übergang. 



Übersicht der fiktiven Elementarmethoden *) 

1. Einer der wichtigsten Elementarprozesse ist die Zer- 
legung. 

Geben wir zuerst ein mathematisches Beispiel. Unendlich 
oft in der Mathematik findet diese Zerlegung statt, besonders 
in der Infinitesimalrechnung, Aber auch schon in der elementaren 
Analysis gibt es hierfür tausende von Beispielen, Eines der 
bekanntesten ist die Cardanische Formel, Jede kubische 
Gleichung hat entweder folgende Form oder lässt sich auf dieselbe 
reduzieren; 

x 3 + px + q = 0 

Nun betrachtet Cardanus die Wurzel dieser Gleichung, 
also als aus zwei Teilen y und z bestehend, und setzt also 

y + z = x 

Jedes mathematische Lehrbuch enthält nun den weiteren 
Gang. Man setzt y + z für x ein, und findet nun für y und z 



*) Im MS. = § 47: »Nachtrag zur Ttieorie der Fiktion". 



Anhang und Übergang: Übersicht der fiktiven Elementarmethoden. 117 



solche Werte, welche den abgeleiteten Gleichungen Genüge leisten, 
und deren Summe, statt x gesetzt, der obigen Gleichung entspricht. 
Man findet bekanntlich 



Aus diesen beidep Gleichungen findet man nun auf elemen- 
tarem Wege leicht die Werte für y und z, welche man dann 
summiert und für x einsetzt Man findet nämlich 



So hat man also durch den Kunstgriff der Zerlegung die 
Rechnung gelöst. 

Denselben Kunstgriff wendet das Denken auch sonst in 
erster Linie an. 

Erster fiktiver Denkprozess: Die logische Funktion 
zerlegt das gegebene Wirkliche, aber Unbegreifliche in 
zwei zusammengehörige Werte und erreicht dadurch 
erstens: die Möglichkeit praktischer Berechnung, zwei- 
tens: den Schein der Begreiflichkeit. 

Beispiele: Als solche haben wir schon eine grosse Reihe 
gehabt Solche zusammengehörenden Paare sind vor allem 
alle Kategorien: 






Da nun x = y + z, so lautet die Formel 




118 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung der Fiktionen. 



Einheit 
Ding 



und 



Vielheit 

Eigenschaft (Kraft) 

Wirkung 

Wirklich 

Objekt 

Aussen 

Kraft 

Erscheinung 

Inhärenz (vgl. hierüber Laas 



Ursache 

Möglich 

Subjekt 

Innen 

Materie 



Ding an sich 
Subsistenz 



n 



a. a, 0. pag. 24 nach Kant). 

In der Mathematik und Physik ist diese Methode so vulgär, 
dass wir nur darauf hinzuweisen brauchen; sowohl Differential- 
paare, Atompaare, Kräftepaare gehören hierher als auch die 
Zerlegung einer einfachen Kraft in fiktive Komponenten zum 
Zweck leichterer Berechnung. Jedes gute Lehrbuch der höheren 
Mathematik und Mechanik gibt hier hunderte von Beispielen, 
auch bei Herbart finden sich viele. 

Das Wirkliche ist das x; alle jene Relationspaare sind 
künstliche Zerlegungen des Wirklichen in y und z, a und b, 
u. s. w. 

Und das mathematische Beispiel der Cardanischen Formel 
kann uns lehren, was man durch solche künstlichen Zer- 
legungen erreichen kann für die Denkrechnung. 1 ) 

Daraus leitet sich die erste methodologische Regel ab: 

Fiktive Wertpaare, in welche das Wirkliche künstlich 
zerlegt ist, haben nur zusammen Sinn und Wert; einzeln 
führen sie durch Isolation auf Sinnlosigkeit, Wider- 
sprüche und Scheinprobleme. 

Jeder Kenner der höheren Mathematik wird hier sofort an 
ähnliche mathematische Vorsichtsmassregeln erinnert; dx ohne dy 
ist sinnlos; so oben in der Cardanischen Formel würde y oder z 
allein, isoliert gebraucht auf kein Resultat führen. So ist es 
nun mit der obigen Tafel der fiktiven Paare: Ding an sich 
ohne Erscheinung ist sinnlos, so Subjekt ohne Objekt 
u. s. w. Die isolierten logischen Begriffe führen auf Wider- 



I) Vgl. die treffenden Ausführungen bei Laas, Kants Anal. d. Erf. S. 25, 
26, 27: „Wir bringen uns das Wahrgenommene und Vorgestellte dadurch zum 
Bewusstsein, dass wir [im kategorischen Urteil] zwischen dem Wechselnden 
und Konstanten eine Scheidung machen,* das seien aber Trennungen, die nur 
dem diskursiven Denken angehören und nichts Reales begründen 



Anhang u, Obergang: Übersicht der fiktiven Elementarmethoden. 119 



sprüche und haben nur im Zusammen Wert, da sie ja nur im 
Zusammen das x ganz darstellen. 

Damit ist der erste fiktive Grundprozess nachgewiesen. 

x wird zerlegt in y + z. 

Die methodische Regel ist, y und z nur zusammen zu 
gebrauchen. Die korrekte Rückgängigmachung der begangenen 
Abweichung vom Wirklichen — Zerlegung des Wirklichen 
x in y und z — ist, dass also y + z stets wieder = x ge- 
setzt wird. 

Aus der obigen Tafel erhellt, dass wir die Kantische Unter- 
scheidung von Ding an sich und Erscheinung für eine 
solche fiktive Zerlegung halten. 

Die logische Funktion wendet diesen Kunstgriff überall an, 
wo er möglich ist, und er ist in sehr ausgedehntem Masse 
möglich. 

2. Dem Prozess der Zerlegung steht der entgegengesetzte 
der Zusammenfassung zur Seite. 

Auch hier gehen wir von mathematischen Beispielen aus. 
Bekannt ist die Zusammenfassung verwickelterer Ausdrücke in 
einfache Symbole (gewöhnlich U). Schon die gewöhnliche 
Summierung der Zahlen ist eine solche Methode. Es 
werden also y, x, z, a, b, c . . . zu U zusammengefasst; mit 
diesem U wird gerechnet, als ob es jene x, y, z etc. wären, 
und nachher werden diese wieder eingesetzt. Natürlich war da- 
durch nicht bloss eine Beschleunigung und Vereinfachung mög- 
lich, sondern diese Methode ermöglichte sogar, manche Rech- 
nungen auszuführen, die sonst unmöglich wären. Schon die 
gewöhnliche Summenzahl, also z. B. 100, ist eine solche fiktive 
Zusammenfassung, ohne welche eine höhere Rechnung natür- 
lich gar nicht möglich wäre. 

Diese Methode der Zusammenfassung wendet das Denken 
ungemein oft und mit grossem Glück und Geschick an. Das 
beste Beispiel hierfür sind die Allgemein begriffe, bei denen 
indessen noch andere fiktive Elementarprozesse tätig sind. 

Es ergibt sich daraus die natürliche Regel, nicht das U für das 
Wirkliche zu halten, sondern die x, y, z u, s. w., welche stets 
wieder am Schluss der Rechnung für U in die Rechnung ein- 
gesetzt werden müssen. Solche zusammenfassenden Ausdrücke, 
auch in der Mechanik wohlbekannt, ermöglichen nicht bloss Be- 
schleunigung der Rechnung, sondern auch leichtere Behaltbarkeit 



120 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung der Fiktionen. 

und ausserdem Verallgemeinerung der Resultate, Übersichtlichkeit 
der Ausdrücke, wie das natürlich ist. 

Auch hier hat U ohne x, y, z keinen Sinn. Allgemein- 
begriffe sind nur wertvoll, wenn ihre Einzelnen, für welche 
sie gesetzt sind, für sie eingesetzt werden. Also die Methode 
der Wiedereinsetzung ist hier ein Spezialfall der Methode 
der entgegengesetzten Operationen, wie oben die Wiedereinsetzung 
von x an die Stelle von y und z. Bei der Zerlegungsmethode 
sind die möglichen Fehler grösser als bei der Zusammen- 
fassungsmethode; denn x ist nur = y + z; dagegen y und z 
allein gesetzt, isoliert, führt auf Widersprüche. In dem Fall 
U = x, y, z dagegen ist der Fehler nicht so gross, wenn keine 
Wiedereinsetzung stattfindet. Der Fehler ist nur da gross, wo U 
für wirklich gehalten wird. Dasselbe ist natürlich auch bei 
x = y + z der Fall, wenn yundz für wirklich gehalten werden, 
da doch nur x allein wirklich ist 

3. Die dritte fiktive Grundmethode ist die symbolische 
Bezeichnung. Auch hier ist die Mathematik Vorbild; die Buch- 
stabenrechnung ist eine symbolische Bezeichnung für die 
wirklichen Zahlen. Die Buchstaben sind Stellvertreter für diese, 
Vikariieren für diese. Vermittelst dieser symbolischen Zeichen 
ist nun eine viel schnellere, leichtere Rechnung möglich. Statt 
der schleppenden Zahlen nimmt man ganz willkürlich ge- 
wählte Zeichen, also Buchstaben, Eine Erörterung der dadurch 
erreichten Vorteile ist unnötig, sie liegen auf der Hand. 

Die logische Funktion verwertet diese Methode bei der Be- 
zeichnung der Begriffe mit Worten. 

Im gewöhnlichen Begriff sind also schon diese beiden Fik- 
tionen vereinigt: a) die Zusammenfassung, b) die symboli- 
sche Bezeichnung. 

Die Hauptregel ist hier die Rückübersetzung der Symbole 
in das Wirkliche, das damit bezeichnet wird. Der Haupt- 
fehler ist, das Symbol für ein Wirkliches zu halten. 

Hierher gehören alle jene Metaphern, wie Kraft u. s. w. 
In einem solchen Begriff sind also zwei Fiktionen oder gar drei 
und noch mehrere vereinigt So ist Kraft 1. Glied einer Zer- 
legungsfiktion, 2. Zusammenfassungsfiktion für eine Reihe einzelner 
Prozesse, 3. Symbolische Bezeichnung dieser mit Hilfe der Analogie 
mit menschlicher Kraft Wir sehen also hieraus, wie notwendig 
eine solche Zerlegung in die elementaren fiktiven Methoden ist. 



Anhang und Übergang: Übersicht der fiktiven Elementarmethoden. 121 

Insofern das Symbol dem Wirklichen substituiert wird, 
heisst diese dritte Grundmethode auch Substitutionsmethode. 
Als die drei ersten Grundprozesse haben wir also 

1. Zerlegung (y + z statt x) 

2. Zusammenfassung (U statt x, y, z) 

3. Substitution (a statt 100). 

Die mathematische Bezeichnung soll nur zur leichteren 
Ober sieht dienen. Die Anwendung solcher Formeln, welche 
besonders Lotze sehr genial handhabt, ist von hohem Werte 
für die Logik, 

So einfach nun die Aufzählung der bisherigen drei Grund- 
operationen war, so schwierig wird die Aufzählung der übrigen. 
Es handelt sich dabei darum, die verschiedenen logischen Tätig- 
keiten, welche man bisher unter der allgemeinen und vagen 
Bezeichnung der Abstraktion zusammengefasst hat, oder welche 
man auch teilweise als Funktionen der Einbildungskraft be- 
zeichnete, zu sondern und die verschiedenen elementaren Methoden 
aufzuzeigen, welche hier das Denken einschlagen kann, und mit 
deren Hilfe es die Fiktionen bildet. 

4. Als ein vierter Grundprozess ist etwa zu bezeichnen die 
Isolierung: ein real untrennbarer Komplex wird in verschiedene 
Elemente zerlegt, und jedes dieser Elemente wird in seiner 
Isolierung betrachtet Die ganze Mathematik beruht auf einer 
solchen Isolierung, insofern die realiter von den materiellen 
Phänomenen untrennbaren räumlichen Formen von denselben 
in Gedanken losgelöst und isoliert betrachtet werden. Diesen 
Prozess, den man gewöhnlich mathematische Abstraktion 
nennt, treffen wir aber auch sonst bei vielen Gegenständen, mit 
denen sich das Denken beschäftigt. 

Offenbar ist hier die Hauptregel das Isolierte, das ge- 
danklich Losgelöste nicht für ein selbständiges Reale zu halten, 
also z. B. nicht die mathematischen Formen zu hypo- 
stasieren, 1 ) Bei der Anwendung der aus dem Isolierten ge- 

1) Cfr. Laas a.a.O. 342: die «gxtiQeats darf nicht zum x^9 t<f ^^ 
werden. 

Diese Isolierung ist die Stärke und zugleich die Schwäche der Wissen- 
schaft, s Littre\ Fragments 135. Das wichtigste Beispiel ist die Isolierung der 
Aussenwelt durch die Naturwissenschaft ohne Rücksicht auf das Subjekt; darum 
muss die Naturwissenschaft stets fragmentarisch bleiben. Umgekehrt vollzieht 
eine gewisse Art der Philosophie die Isolierung des Geistes, ohne Rücksicht 



122 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A, Aufzählung der Fiktionen. 

zogenen Konsequenzen auf die komplexe Wirklichkeit muss stets 
darauf gesehen werden, ob nicht das isolierte Element in seiner 
realen untrennbaren Verbindung etwas modifizierte Eigen- 
schaften zeigt; d. h. die Gesetze des als isoliert Betrachteten gelten 
nicht immer unmittelbar auch für dasselbe Element in seiner 
realen Verbindung mit anderen ebenfalls nur gedanklich loslös- 
baren Elementen. 

5- Als eine fünfte Operation wäre etwa die Generalisation 
zu bezeichnen; wir meinen damit jene abstrakte Verallge- 
meinerung, welche z, B. den Begriff des Raumes mit mehr als 
3 Dimensionen, welche ein „Bewusstsein überhaupt u bildet, 
offenbar eine ganz andere Tätigkeit, als wenn Artbegriffe ge- 
bildet werden. Die notwendige Vorsichtsmassregel hierbei ist. 
das Generalisierte zu zweckmässiger Spezialisierung zu ver- 
werten, d. h. aus dem Generalisierten allgemeine Gesetze u. s, w. 
abzuleiten und davon auf das spezielle Gegebene, auf das 
Konkrete zweckmässige Anwendung zu machen» Diese abstrakte 
Generalisation ist ein höchst zweckmässiger Kunstgriff der Psyche; 
mittelst desselben werden abstrakte Möglichkeiten ge- 
schaffen, deren Betrachtung die konkrete Wirklichkeit schärfer zu 
erfassen lehrt, 

6. Als einen ferneren Fall müssen wir die unberechtigte 
Übertragung aufstellen, sei es, dass sie sich äussert in der 
Subsumtion eines Begriffes unter sein konträres Gegenteil (z. B. 
krumm unter gerade), oder in der Subsumtion unter einen nur 
analogen Fall (wie in der juristischen Fiktion), oder endlich, 
dass sie sich äussert in der unberechtigten Ausdehnung einer 
Operation auf Fälle, wo ihre Anwendung streng genommen 
widersinnig ist (wie z. B. bei den irrationalen Zahlen). 

Ais weitere derartige Methoden kann man wohl noch folgende auf- 
führen: 

Die Abstraktion überhaupt in ihren verschiedenen Bedeutungen; 
Die Bildung künstlicher Gegensätze: z. B positiv und 
negativ, möglich und notwendig, möglich und wirklich; 

auf die Natur, und findet dann nicht mehr den Rückweg zur Aussenwelt — 
Vergl. Laas, Kants AnaL d, Erf. S. 121: „Die Abstraktion isoliert auch, was im 
Bereich des wirklich Erlebten immer nur in Komplikationen und in Konkurrenz 
mit anderen Elementen erscheint, z.B. die Gestalt von dem gefärbten und 
materiellen Gegenstand, den Begriff des Wertes im aligemeinen von den 
einzelnen wertvollen Dingen". 



Anhang und Übergang: Übersicht der fiktiven Eiementarmethoden» 123 

Die unberechtigte, zuweit ausgedehnte Analogie (Über- 
tragung, Hineintragung, Unterschiebung); 

Die Vernachlässigung (absichtliche Weglassung gewisser Elemente 
der Wirklichkeit); 

Die Einschiebung (Intercalation) ; 

Die künstliche Einteilung; 

Die Schematisierung (Bildung abstrakter einfacher Vorstellungen 
zur leichteren Übersicht über komplexe Gebilde); 

Die Kombination widersprechender Elemente, z. B. in den 
Begriffen des Unendlichen, des Differentials, des Atoms; 

Die Idealisierung (vgl. Laas, a.a.O. 122), die Phantasie (nach 
Kant die „Vernunft") schafft logische, ethische, ästhetische Ideale. 

Die Verunendlichung. Vgl. Laas, a.a.O. 122: „Es kann im Ge- 
biete der Vorstellung die Schranke niedergerissen werden, welche allem 
unmittelbar Wahrnehmbaren anhaftet; das unmittelbar als begrenzt Ge- 
gebene dehnt sich ins Unbegrenzte, Unendliche, z. B. die nach rückwärts 
und vorwärts ins Unendliche sich dehnende Zeit." 

Diese Aufzählung ist vielleicht noch keine vollständige; ausserdem 
Hessen sich wohl alle diese Formen auf einige wenige reduzieren. Ge- 
meinsam ist allen die willkürliche, aber zweckmässige Ver- 
änderung der Wirklichkeit. 



B. Logische Theorie der wissenschaftlichen Fiktionen. 

Kapitel XIX. 
Einleitende Vorbemerkungen 
über die Stellung der Fiktionen und Semifiktionen 
im Ganzen des logischen Systems.*) 

Wir haben nunmehr die Aufstellung der Semifiktionen und 
eigentlichen Fiktionen vollendet und unsere (S. 24) ausge- 
sprochene Bemerkung bestätigt gefunden, dass ein stetiger und 
allmählicher Übergang zwischen jenen beiden logisch immerhin 
noch streng zu trennenden Fiktionen besteht. Als eine Semifiktion 
begegnete uns zuerst die künstliche Einteilung und die 
abstrakt ive Methode, und zuletzt schlössen wir mit den 
eigentlichen Fiktionen des Atoms, des Unendlichen, des 
Dinges an sich. Den eigentlichen Übergang zwischen beiden 
machten etwa die praktischen Fiktionen (IX), von wo an die 
reinen Fiktionen begannen. Bei jenen Semifiktionen fanden wir 



') Im MS. g SO. 



124 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung, ß. Logische Theorie der Fiktionen. 

das oben angegebene gemeinsame Prinzip bestätigt, dass sie 
Methoden und Begriffe sind, welche auf einer einfachen Ab- 
weichung von der Wirklichkeit beruhen; diese Abweichung 
ist indessen hier eine mehr materiale; dagegen die Abweichung 
der Fiktionen im engeren Sinn ist dazu noch eine formale, in- 
dem in ihnen nicht nur dem Wirklichkeitsinhalt widersprechende 
Begriffe gebildet werden, sondern indem bei diesen sogar die neu- 
gebildeten Begriffe dem formalen Grundgesetz der Wirklichkeit, 
dem Gesetz der Identität und des Widerspruchs, widersprechen 
und also selbstwidersprechend sind. 

Wenn wir den grossen Umfang dieser Methoden betrachten, 
so mag es uns wohl wundern, warum diese Methoden bisher nicht 
in der Logik behandelt worden seien. — Die Behandlung der- 
selben in der bisherigen Logik bestand meistens entweder in 
einer falschen Subsumtion dieser Erscheinungen unter ähnliche, 
aber nicht identische Fälle, oder einfach in — Ignorierung. 
Die wenigen Ausnahmen werden wir unten in der kurzen 
historischen Übersicht anführen. Man behandelte die fiktiven 
Annahmen meistens unter der Kategorie der Hypothesen, und 
doch geht aus unserer obigen Unterscheidung deutlich hervor, 
dass beide himmelweit verschieden sind trotz der Ähnlichkeit 
ihrer Erscheinung: Soweit die oben aufgezählten Fiktionen mehr 
in Begriffen sich darstellen, welche eingeschoben werden, in 
Annahmen, welche den Hypothesen äusserlich ähnlich sind, 
behandelte man die Fiktionen als Hypothesen; soweit sie aber 
mehr Methoden sind, stellte man sie, wenn sie überhaupt 
berücksichtigt wurden, mit diesen oder jenen induktiven oder 
deduktiven Methoden zusammen. Tatsächlich aber hat man sie 
meistens übergangen; dieses Stillschweigen rührte ebensosehr 
von der Scheu vor den Schwierigkeiten her, welche hier zu liegen 
scheinen, als von der Unkenntnis im methodologischen Detail der 
Wissenschaften. 

Nach dem bisher Gesagten kann es nicht wundernehmen, 
wenn wir die Fiktion im weitesten Sinn, als fiktive Tätigkeit 
gefasst, der Deduktion und Induktion als ein gleichberechtigtes 
drittes Glied im System der logischen Wissenschaft hinzufügen. 
Es scheint uns unstatthaft, diese oben aufgezählten Methoden 
einfach der Induktion zuzuzählen, eben weil sie nicht bloss den 
induktiven Wissenschaften angehören, und ausserdem ihre ganze 
Einrichtung, ihr Verfahren durchaus den Kunstregeln der Induktion 



XIX. Einleitende Vorbemerkungen über Fiktionen und Halbfiktionen. 125 

widerspricht: 1 ) Die Induktion gipfelt schliesslich in der deduktiv 
gewonnenen Hypothese, nicht aber in der Fiktion. Auch kann 
man sie nicht etwa nur als Hilfsverrichtungen der Induktion 
betrachten, dazu ist ihre Methode zu eigenartig und selbständig. 

Mill bespricht im IV. Buch seiner Logik die Hilfsverrichtungen der 
Induktion; von den dort aufgezählten Verrichtungen gehören hierher die 
Abstraktion (oder Bildung von Begriffen) und die Benennung; die 
künstliche Einteilung wird (vgl. Logik, übers, von Gomperz, HI, 84 ff,) 
ganz ungünstig behandelt, und Mill verkennt total den Wert dieser künst- 
lichen Methode. Ausserdem ist es ganz falsch, Abstraktion und Benennung 
„Hilfsverrichtungen der Induktion" zu nennen; sie sind Hilfsmittel und 
Werkzeuge des Denkens überhaupt» sie sind elementare künstliche 
Methoden, die alles Denken erst möglich machen. Hilfs Verrichtungen 
sind sie allerdings, aber nicht solche der Induktion speziell. 

Demnach betrachten wir es als eine Notwendigkeit, die 
Fiktion mindestens als selbständigen Anhang zu der bis- 
herigen Logik der Induktion hinzuzufügen, glauben aber doch, 
dass sie den Rang eines gleichberechtigten Teiles beanspruchen darf. 

Alle von uns aufgezahlten Methoden sind überhaupt Hilfsmethoden 
des Denkens, künstliche Vorrichtungen, durch welche das Denken sich 
sein Geschäft erleichtert; selbst die dem diskursiven Denken voran- 
gehenden erkenntnistheoretischen Fiktionen (speziell die Raumvorstellung) 
sind Hilfsvorstellungsgebilde, ohne welche das Denken überhaupt nicht 
stattfinden könnte» 

Haben wir nun das Recht, alle Hilfsmethoden des Denkens als 
Fiktionen zu bezeichnen? Wenn wir als Fiktion die Bildung von Hilfs- 
Vorstellungen durch die Einbildungskraft bezeichnen, so lassen sich ohne 
Zweifel alle Hilfsmethoden, alle Kunstgriffe des Denkens im weiteren 
Sinn als Fiktionen bezeichnen, da das Denken sich ja schliesslich doch 
auf keine andere Weise helfen kann, als indem es freie Vorstellungen 
bildet, und gleichsam Hilfslinien zwischen den vorhandenen Vor- 
stellungen zieht, Hilfsverbindungen herstellt, wo keine reguläre Verbindung 
entstehen kann. Die Stiftung künstlicher Zusammenhänge unter den Vor- 
stellungen beruht schliesslich immer auf der Fiktion im weiteren Sinn, 
d. h. auf der freien Schaffung oder Schöpfung von Vorstellungsgebilden. 

Insofern können wir wohl ohne Anstand alle Hilfsmethoden des 
Denkens als fiktiv bezeichnen. Speziell heissen Fiktionen dann künstliche 
Begriffe, wie Atom, Ding an sich, als Schöpfungen der fiktiven Tätig- 
keit. Alle Elementarprozesse, durch welche diese Hilfsmethoden ermöglicht 
sind, sind Prozesse des Fingierens, d. h. der freien, emanzipierten Vor- 
ite lungsbewegung. Wenn diese freie Vorstellungsbewegung in den Dienst 
dei Denkens gebracht wird, so ist sie eben ein Hillsmittel und schafft 



1) Denn die Induktion geht durchaus auf die caueae verat und zeigt die 
Wege, um zu denselben und damit zum wahren Zusammenhang zu gelangen. 



126 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. B. Logische Theorie der Fiktionen. 

Hilfsmittel des Denkens; das Denken selbst besteht aber nur in einem 
System von Hilfsmitteln, Instrumenten. Diese zerfallen in 

a) niedere, wie Abstraktion, Benennung, 

b) höhere 

«) Halbfiktionen (künstliche Einteilung, abstraktive Fiktion) 
ß) echte Fiktionen (Atom, Ding an sich), 

c) erkenntnistheoretische wie Raum, Zeit, Kategorien. 
Zeitlich gehen indessen die unter c) aufgezählten Fiktionen den 

beiden anderen Arten voran; indessen werden sie besser erst nach den- 
selben behandelt. 

Die logische Theorie hat nun besonders nachzuweisen, worin denn 
die Hilfe bestehe, und durch welchen Mechanismus sich diese Behelfung 
vollziehe, also hat sie eine Mechanik dieser Hilfsmittel zu geben, soweit 
sie noch nicht gegeben ist; das ist besonders bei den mathematischen 
Methoden noch nicht der Fall. 

über den Zusammenhang der Fiktion mit der Deduktion s. Wundt 
Physiol. Psycholog., 1. AufL pag. 7. 

Ausserdem hängt die logische Theorie der Fiktion noch enge mit 
dem Gegensatz der analytischen und synthetischen Methode^zu- 
sammen. Vgl. Trendelenburg, Logische Untersuchungen, % Aull. II, 375; 
insofern eine grosse Anzahl von Fiktionen (oder vielleicht alle?) schliess- 
lich auf Analogien zu reduzieren sind, so hängt die Fiktion auch enge 
mit dem Hilfsmittel der Analogie zusammen; die Analogie ist eine 
induktive Methode. Cir, MiU» System der Logik, übers, v. Gomperz II, 
278tf. f sowie Trendelenburg, Logische Unters., 2. AufL II, 379 ff. Wie wir 
später sehen werden, sind wohl alle Fiktionen als künstliche Ana- 
logien zu betrachten und also auf diese Elementar! orm zu reduzieren. 

Die Induktion zeigt die direkten Wege, auf denen man 
sich dem Ziele nähert und die Schwierigkeiten überwindet, die 
Fiktion die indirekten, die Umwege. Die Induktion ist eine 
Methodologie der beschreibenden Naturwissenschaften; die Fiktion 
ist eine Methode der exakten, mathematischen Wissenschaften, 
sowie der moral-politischen Disziplinen: wogegen sie im Gebiet 
der beschreibenden sowie der historischen Wissenschafien beinahe 
nicht zur Verwendung kommen kann. Es handelt sich hier 
nämlich bei den zuletzt aufgezählten Wissenschaften gar nicht 
um ein theoretisches Begreifen wie bei den obigen, sondern um 
Feststellung kausaler Zusammenhänge, welche hier nur 
durch treue Beobachtung und sachliche Schilderung zu erreichen 
sind. Es ist eben auch eine Hauptaufgabe der Logik, resp. der 
Methodologie, die Verschiedenheit der Methoden der ver- 
schiedenen Wissenschaften aufzuweisen und zu erklären. 1 ) 

1) Diese Aufgabe hat oesonders Bai n's Logik erfüllt, freilich teilweise 
sehr oberflächlich. — Mit der Fiktion wird man z. B. in der Naturgeschichte, 



XIX. Einleitende Vorbemerkungen über Fiktionen und Halbfiktionen. 127 

Die Deduktion hängt allerdings enge mit der Fiktion zu- 
sammen, aber nicht enger als die Induktion: und die Fiktion ist, 
besonders in einigen Beispielen, mit dem Axiom ebenso nahe 
verwandt als mit der Hypothese, unterscheidet sich aber doch 
himmelweit von beiden. Beide, Axiom und Hypothese, wollen 
Ausdruck einer Wirklichkeit sein. Das ist die Fiktion nicht und 
will es nicht sein. 

Dies hängt jedoch mit einem Punkte zusammen, den wir 
schon mehrfach berührten, und den wir hier besonders betonen: 
die wahre, echte, streng wissenschaftlich aufgestellte Fiktion ist 
stets von dem Bewusstsein begleitet, dass der fingierte Begriff, 
die fingierte Annahme keine reale Gültigkeit habe: die be- 
deutendsten historischen Fiktionen, z. B. Linne's System, Smith's 
Theorie, teilweise auch die Atomistik und Differentialrechnung 
zeigen das. Freilich ist der Fall ebenso häufig gewesen, dass 
diejenigen, welche eine Fiktion aufgebracht haben, sie im Glauben 
aufstellten, eine Hypothese zu machen. Dann ist dies ein 
Irrtum: aber irrtümlich ist daran nicht die Aufstellung 
der Annahme, sondern der Glaube, mit der Annahme 
eine Hypothese aufzustellen. Umgekehrt gelten diese Fik- 
tionen dann ebenso oft als Irrtümer, 

Zu bemerken ist, dass das Bewusstsein, mit dem die 
wissenschaftlichen Fiktionen aufgestellt werden, sich auch darauf 
erstreckt, dass sie entweder nur provisorische, zu späterem 
Ersatz oder Korrektur bestimmte Begriffe sind, oder dass sie nur 
den logischen Verkehr vermitteln sollen. Das erste trifft 
mehr bei den Semifiktionen, das letztere mehr bei den eigent- 
lichen Fiktionen zu: die ersteren sind historisch-, diese logisch- 
provisorisch. Jene fallen einmal im Laufe der Zeit weg, diese 
fallen im Laufe' der Rechnung aus. 

Wir müssen also den schon bisher gemachten Unterschied zwischen 
provisorischen Apperzeptionsformen und zwischen eigentlich fiktiven 
Apperzeptionsgebiiden geltend machen. Während die Semif iktion nur eine 
fiktive Anwendung der gewöhnlichen Apperzeption ist, beruht die eigent- 
liche Fiktion auf einer eigenen Apperzeptionsform, die man die fingierende 
nennen kann. Hier findet weder Identifikation, noch Subsumtion, noch 

sowie in der Weltgeschichte nicht vorwärts kommen, hier kann man nur 
Hypothesen brauchen, und nur die künstliche Klassifikation ist in der Natur- 
geschichte statthaft Um so notwendiger ist die Fiktion für die anderen 
angegebenen Wissenschaften, wo man mit Deduktion und Induktion nicht 
allein weiterkommt 



128 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. B. Logische Theorie der Fiktionen 

Harmonisierung d. h. Ausgleichung statt (auch keine Vergleichung, wie 
bei den Semifiktionen) sondern hier findet eine eigenartige Apperzeption 
statt — die fingierende. Schon Steinthal (Einleitung in die Philosophie, 
§ 215 ff.) spricht von einer schöpferischen Apperzeption: diese zerfällt 
eben in die hypothetisch-schöpferische und in die fiktiv-schöpferische, 
gemäss der Möglichkeit, in der Einbildungskraft sich immer mehr von der 
Wirklichkeit zu entfernen — dies eben geschieht in der fingierten Apper- 
zeption in steigendem Masse, während die hypothetische sich der Wirk- 
lichkeit immer mehr annähern will. Über die schöpferische Apperzeption 
Steinthals vgl. auch Avenarius, Denken der Welt u.s. w. S. 70: Av. meint, 
die schöpferische Apperzeption bestehe nur in Probe-Apperzeptionen, 
weiche einer definitiven Apperzeption vorangehen: aber damit ist nur das 
Wesen des hypothetischen Denkens getroffen, nicht das des fingierenden; 
die eigentlichen „Fiktionen" aber sind eben Produkte des fingtre, d.h. de/ 
Einbildungskraft, welche aus Elementen des Wirklichen Unwirkliches baut. 
Wenn wir mitFehler eine Abweichung von der Wirklich- 
keit, mit Irrtum einen widersprechenden Begriff bezeichnen, 
so können wir die Semifiktionen „bewusste Fehler*, die echten 
Fiktionen „bewusste Irrtümer" oder »bewusste Wider- 
sprüche" nennen. Jene dienen mehr nur zu praktischen Zwecken, 
diese mehr zu theoretischen, jene mehr zum „Berechnen", diese 
mehr zum „Begreifen", jene führen sich auf methodologische, diese 
auf erkenntnistbeoretische Motive zurück; jene sind mehr in- 
direkte Methoden, diese mehr inkorrekte Begriffe; jene sind 
mehr kunstreich, diese mehr künstlich» Jene setzen ein Gedachtes 
an Stelle des Gegebenen, diese durchsetzten das letztere mit 
Undenkbarem, Jene nehmen Unwirkliches, diese Unmögliches 
an. Jene, indem sie von der Wirklichkeit abweichen, weichen 
den Schwierigkeiten aus. Diese schaffen dagegen neue Schwierig- 
keiten; diese schalten also auch viel freier mit dem Gegebenen 
als jene; jene verfälschen nur die gegebene Wirklichkeit, um die 
wahre Wirklichkeit zu finden, diese machen sie unbegreiflich, um 
sie — begreiflich zu machen. Jene sind nur Umwege, bewegen 
sich aber auf demselben Terrain, diese verlassen ganz den Boden 
der Wirklichkeit und bewegen sich in der Luft. Jene verhalten 
sich konträr, diese kontradiktorisch zum Gegebenen. Jene 
substituieren dem Wirklichen ein Verändertes, diese schieben un- 
mögliche Glieder ein; jene sind also Substitutionen, diese Inter- 
kalationen. 1 ) Die Semifiktionen sind meist einfacher als 
4ie Wirklichkeit sich darstellt, die echten Fiktionen komp li- 
nierter. Die Fehler, welche durch jene gemacht werden, müssen 



1) Über diese Ausdrücke s. u> bes. S. 412 ff. 



XX. Abgrenzung der wissenschaftlichen Fiktion von der ästhetischen. y29 

korrigiert werden, damit der Gewinn sich rein herausstelle; 
liier werden Irrtümer nur vermieden, wenn die Begriffe wieder 
aus der Rechnung wegfallen. Wenn durch jene Methoden Fehler 
gegen den objektiven Tatbestand der Wirklichkeit begangen 
werden, so werden hier eigentlich formale Denkfehler begangen, 
logische Fehler. Jene wandeln auf Umwegen und Fuss- 
wegen, diese aber auf verbotenen Wegen. Jene modifizieren 
das Gegebene, diese infizieren es gewissermassen mit Ele- 
menten, die nicht zu ihm gehören und doch dazu dienen, es zu 
erfassen. 



Kapitel XX. 
Abgrenzung der wissenschaftlichen Fiktion 
von anderen Fiktionen, besonders von den ästhetischen.*) 

Nachdem wir so innerhalb der Fiktionen selbst die Unter- 
schiede normiert haben, müssen wir auch die Grenzen der wissen- 
schaftlichen Fiktion demgegenüber abstecken, was man sonst 
noch mit dem Ausdrucke „Fiktion* zu bezeichnen pflegt, 

Fidio heisst zunächst die Tätigkeit des fingere, also des 
Bildens, Formens, Gestaltens, Bearbeitens, Darstellens, 
künstlerischen Formierens; das sich vorstellen, denken, 
einbilden, annehmen, entwerfen, ersinnen, erfinden. 
Zweitens bezeichnet es das Produkt dieser Tätigkeiten, die 
fingierte Annahme, die Erdichtung, Dichtung, den erdichteten 
Fall. Das frei gestalten de Moment ist dabei das hervor- 
tretendste Merkmal (Näheres über Bedeutung und Bedeutungs- 
wechsel des Wortes siehe unten Kap. XXXfi). Die Tätigkeit und 
die Produkte des Fingierens sind zunächst und vor allem die 
ästhetisch-praktischen Erdichtungen. 

Ich schlage vor, künftighin alle wissenschaftlichen Fiktionen —Fiktionen 
zu nennen, dagegen alle anderen, so die mythologischen, ästhetischen u.s.w. 
Figmente. Also z. B. Pegasus ist ein Figment, Atom ist eine Fiktion* 
Das wird jedenfalls zur leichteren Unterscheidung beitragen. Die Gegner der 
Fiktion verkennen sie also insofern, als sie sie für ein blosses Figment halten; 
„täctio" hat schon juristisch den Nebenbegriff praktischer Zweckmässigkeit; 
vgl. unten Kap. XXX; dagegen die Hypothesen ff Figmente" zu nennen 
(vgl. Beneke, System der Logik II, 123), ist ein wahrer Missbrauch. Aller- 
dings sind schlechte Hypothesen Produkte wilder, zuchtloser Ein- 



•) Im MS. = § 31. 



9 



130 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung, B. Logische TheoVie der Fiktionen. 



bildungskraft; aber das berechtigt nicht, alle Hypothesen „Pigmente" zu 
nennen. Es gibt auch schlechte Fiktionen, welche dann natürlich noch 
viel phantastischer sind. Eine Reinigung des Sprachgebrauches wird hier 
notwendig sein. Fiktion nenne man jede bewusste, zweckmässige, aber 
falsche Annahme; vergl unten die Schilderung des Missbrauches 
und verschiedenen Gebrauches des Wortes „Fiktion*. 

Insofern die Mythologie als gemeinsame Mutter von Religion, 
Poesie, Kunst und Wissenschaft zu betrachten ist, tritt in ihr zuerst die 
freigestaltende Tätigkeit der Einbildungskraft hervor, der Imagina- 
tion, der Phantasie. In ihr zuerst entstehen Produkte der Phantasie, 
denen kein Wirkliches entspricht. Indessen ist die psychologische 
Genesis aller Fiktionen aus allen Gebieten dieselbe; Steinthal 
hat das hinreichend hervorgehoben. 1 ) Es ist hierbei immer die 
Apperzeption einer Wahrnehmung durch ein Analoges das 
Grundmotiv, das dann unzählig oft variirt wird. Dieses Motiv ist 
auch mächtig in der Entstehung der mythologischen Fiktionen. 
Als solche mythologischen Fiktionen bezeichnet man nicht nur 
allgemein alle Göttergestalten, sondern speziell auch solche 
Gebilde, welche aus empirischen Elementen frei zusammengesetzt 
sind. Die beliebtesten Beispiele sind hier der Pegasus, die 
Sphinx, der Zentaur, der Greif — auch hier bemerken wir 
die freigestaltende Tätigkeit der Seele wirksam in willkürlicher 
Verbindung und Veränderung gegebener Wirklichkeitselemente. 
So sehr diese und andere Fiktionen, also Engel, Teufel, Nixen f 
Geister u. s. w. für die logische Theorie der Existenzial- 
sätze interessant sein mögen — sie bilden neuerdings ein beliebtes 
Problem der Logik — so sind sie doch für unser Thema hier 
unwichtiger. Höchstens insofern als das Urteil: „Die Materie 
besteht aus Atomen" oder „die krumme Linie besteht aus Infini- 
tesimalen" eben nicht anders verstanden werden darf, denn als 
ein fiktives Urteil, in welchem keine Existenz ausgesagt 
werden soll. Wird dies aber doch hineingelegt (d. h. wird 
das Urteil nicht so ausgelegt: die Materie ist so zu betrachten, 
als ob sie aus Atomen bestünde); so verwandelt sich eben die 
richtige Fiktion in ein unrichtiges Urteil, also in einen 
Irrtum. Die erste Bedeutung von Fiktion = mythologisches 
Wesen ist also hiermit von der wissenschaftlichen Fiktion ab- 
gegrenzt; ebenso alle spezielleren religiösen Fiktionen, Indessen 



1) s. a. a. O. 219, 321 ff. Vgl. die Theorie des Mythus bei Littre*. 
Fragments 295, 



XX. Abgrenzung der wissenschaftlichen Fiktion von der ästhetischen. 131 

sahen wir doch oben S, 40 u. 66, wie bestimmte theologische 
F. klonen für die wissenschaftliche Betrachtung der Fiktion von 
Wert sein können. Es ist eben auch hier ein allmählicher Ober- 
gang von Dichtung und Wissenschaft 

Über das eben erwähnte Problem der Existenzialurteile (in Bezug au! 
lingierte Subjektsbegriffe) vgl. Sigwart, Logik, pag. 94 ff, [1. Aufl. In der 
2. Aufl. S. 119 ff. = § 17, Nr. 3], Zeus, Sphinx, Chimäre etc. sind 
tingierte Wirklichkeiten (95). Die Vorstellung des Centauren ist eine 
Fiktion (97), vgl. pag. 98, 99. Die vortreffliche und berühmte Auseinander- 
setzung Sigwarts klärt die sich daran anknüpfende Frage vollständig. 
Vgl. Überweg, Logik, 3. Aufl., § 68. 

Indessen ist folgendes zu bemerken: In den Sätzen, welche Sigwart 
anführt (und welche auch sonst angeführt werden) ist immer nur vom 
fingierten Subjekt die Rede. Wie steht es aber, wenn das Prädikat 
fingiert ist? Wie steht es, wenn wir den Satz haben: „Die Kurve ist aus 
Infinitesimalen zusammengesetzt ?" Auch hier bedeutet das ist nicht die 
Existenz der Infinitesimalen, ebensowenig als das ist in dem Satze: Der 
Centaur ist ein Pferd u,s.w., die Existenz des Centauren behauptet. „Sein* 
hat hier auch nur die Funktion (s. Sigwart pag. 97), das Prädikat für 
j, die Verwendung im Urteil formell tauglich zu machen. 

Offenbar hat man diese Art von Sätzen bisher ganz übersehen, in 
denen nicht das Subjekt, sondern das Prädikat eine Fiktion ist. (Hier- 
über s. unten Kap. XXII.) Die letzteren haben wirklich wissenschaft- 
lichen Wert, die ersteren nicht Jene Art von Sätzen ist 
höchst wichtig. 

An die mythologischen und religiösen Fiktionen schliessen 
sich enge die ästhetischen Fiktionen an, die zum Teil einfach 
poetische Verwertungen jener sind, zum Teil aber neugebildet 
werden. Die ästhetische Fiktion begreift nicht bloss alle Gleich- 
nisse, Bilder, Vergleichungen in sich, sondern auch diejenigen 
Vorstellungsformationen, welche noch viel freier schalten mit der 
Wirklichkeit. Hierzu sind nicht bloss alle Personifikationen zu 
rechnen, sondern auch Allegorien und kurz alle idealisierenden 
Vorstellungsformen. Die ästhetische Fiktion, resp. eine Theorie 
derselben schliesst sich zum Teil sehr enge an die wissenschaftliche 
Fiktion an; und das ist ganz natürlich, wenn man bedenkt, dass 
in der Bildung beider dieselben elementaren, psychischen 
Grundprozesse mitwirken. Die ästhetische Fiktion dient 
dem Zwecke, gewisse erhebende oder sonst wichtige Empfindungen 
in uns zu wecken. Auch ist die ästhetische Fiktion wie die 
wissenschaftliche nicht Selbstzweck, sondern Mittel zur Erreichung 
höherer Zwecke. Diese Parallele lässt sich noch weiter ausführen, 
und sie ist äusserst belehrend. Ähnlich wie gegen die Einführung 

9* 



1 32 Erster Teil : Prinzipielle Grundlegung. B. Logische Theorie der Fiktionen. 

wissenschaftlicher Fiktionen ein erbitterter Kampf sowohl im All- 
gemeinen als jedesmal bei dem speziellen Begriff sich erhoben 
hat, so wogte auch um die ästhetische Fiktion — wie dies dem 
Kenner der Geschichte der ästhetischen Theorie wohl bekannt 
ist 1 ) — ein hartnäckiger Kampf. Es ist der noch jetzt nach- 
zuckende Kampf um den Grad, in dem die Einbildungskraft 
abweichen darf von der Natur, inwiefern sie sich nachahmend 
verhalten soll, und wieweit sie frei gestaltend verfahren darf. Und 
wie in der Wisssenschaft, so ist auch in der Poesie, von der wir 
hier speziell sprechen, mit den Fiktionen ein grosser Unfug 
getrieben Worden, der häufig eine Reaktion zur Folge hatte, welche 
aus ganz ähnlichen Gründen erfolgte, wie die Reaktion 
gegen den Missbrauch der wissenschaftlichen Fiktionen. Der 
eigentliche Massstab, in wieweit solche Fiktionen in beiden Ge- 
bieten zuzulassen seien, und den dort der gute Geschmack, 
hier der logische Takt stets innegehalten hat, ist einfach der 
praktische Wert solcher Fiktionen. 

Wie man gegen ästhetische Fiktionen ankämpfte, so gegen wissen-* 
schaftliche: so kämpft z. B. Dühring gegen die Erweiterung des Rau In- 
begriff es (Metamathematik). Es ist interessant, dass derselbe auch gegen 
die poetischen Fiktionen (Verwendung von Mythen und Tropen) an- 
kämpft und in seinem Idealstaat, wie Plato, die Poesie nicht dulden will. 

Aber Plato und Dühring (man verzeihe die Zusammenstellung) ver- 
kennen ganz die psychische Wirkung der poetischen Fiktion, und 
Dühring speziell diejenige der wissenschaftlichen Fiktion. Allerdings 
kann eine ausschweifende Anwendung solcher viel Unfug und Schaden 
verursachen; es ist eben alles zweischneidig. So kann auch die ästhe- 
tische Fiktion viel schaden, aber es ist falsch, sie ganz zu verwerfen. 
Der Dichter führt uns fingierte Gestalten, Bilder und Personen vor, be- 
sonders im Drama (gegen das sich besonders Dühring, wie Plato, wendet). 
Aber die poetische Fiktion (die im aufgeführten Drama verdoppelt ist, 
insofern die Schauspieler die fingierten Personen darstellen und die fin- 
gierten Reden sprechen) hat doch ungeheuren ästhetischen Wert. 

Wie leicht sich die Fiktion hier in Hypothese verwandelt, sehen 
wir daran, dass der Zuschauer oder Leser die psychische Spannung des 
Als ob nicht auf die Dauer aufrecht erhalten kann. Dieselbe psychische 
Spannung wird noch unten von uns zu der Erklärung des Überganges 
von Fiktionen in Hypothesen verwertet. 

Poetische Fiktionen haben aber nicht bloss Wert, sondern sie können 
auch schaden. 



1) Vgl. den Kampf zwischen Gottsched und den Schweizern, sowie die 
Reaktion gegen den „Maronismus", d. h. die schwülstige, phantastische 
Methode des XVII. Jahrhunderts. 



XX. Abgrenzung der wissenschaftlichen Fiktion von der ästhetischen. 133 

Es kommt darauf an, das identische Verhalten der Seele bei den 
poetischen und bei den wissenschaftlichen Fiktionen festzuhalten. Es 
sind überall dieselben elementaren Gesetze wirksam. Unsere 
ganze Theorie will dartun, dass wissenschaftliche Fiktionen nicht bloss 
erlaubt seien, sondern dass wir auch ohne sie gar nicht einmal elementar 
denken können, und dass alles höhere Denken auf ihnen beruht. 

Damit glauben wir unmittelbar diejenige wissenschaftlicne Über- 
zeugung auszusprechen, welche gegenwärtig mehr oder weniger deu:üch, 
wenn auch noch unausgesprochen (wenigstens in diesem Umfang una mit 
diesem Nachdruck) herrschend ist. 

Dass diese Überzeugung aber sich nicht bloss auf die wissenschaft- 
liche Fiktion beschränkt, sondern auf praktische Vorstellungsgebilde 
(z. B. Recht, Pflicht u. s. w.) sich ausdehnen muss, haben wir hervor- 
gehoben. 

Eine intimere Bekanntschaft mit den revolutionären Bestrebungen 
auf den Gebieten der Mathematik, Logik, Erkenntnistheorie, der 
Rechtswissenschaft und praktischen Philosophie zeigt, dass das- 
selbe Prinzip überall zum Durchbruch kommt, dass sowohl das Denken 
überall fiktive Methoden und Begriffe anwendet, als auch dass alles 
Handeln auf solchen beruht; diesen revolutionären Bestrebungen (revo- 
lutionär „in bono sensu") geben wir dadurch Ausdruck, dass wir das 
Walten desselben psychischen Prozesses auf allen Gebieten nicht bloss 
der Wissenschaft, sondern auch der praktischen Philosophie nachweisen, 
des Prozesses der Fiktion. Auf allen Gebieten ist das „Dass" und „Weil" 
(also die Hypothese und das Axiom und Dogma) erschüttert, und das 
„Ais ob" tritt an Ihre Stelle. (Vgl, Kap. XXU u. XXVK.) 

Zu Dührings Gegnerschaft gegen ästhetische Fiktionen vgl. seinen 
Kursus d. Phil. 423. Dühring, dieser nüchternste aller Menschen, verkennt 
ganz die Mittel der logischen und ästhetischen Funktion: er ist nüchtern 
und ohne Imagination wie Nicolai. So sagt er S. 423: „So lange die 
Phantasie noch Umwege und noch dazu diejenigen unrationeller 
Fiktionen einschlägt, wird sie das Ideal der unmittelbaren Anschaulich- 
keit und Wahrheit nicht erreichen" u. s. w. „Auch schon die blosse 
Meinung, irgend welcher, wenn auch selbstgeschaffener Fiktionen 
zu bedürfen, die als aus der Gattung des Realen heraustretend eingeführt 
werden, beeinträchtigt die sonst in einem höheren Sinne und einer un- 
mittelbaren Weise erreichbare Wahrheit des echten Ideals". „Verrückungen 
der Phantasie*, „Krücken und falsche Gliedmassen \ „Superstition, Ein- 
kleidung, Mystizismus, Zurüstun^ — so nennt Dühring die bisherige Poesie. 

Im XVIII. Jahrhundert nannte man die Einbildungskraft auch Fiktions- 
vermögen: so z. B. Engel, Philos. für die Welt 24. Stück: „Phantasie, 
Fiktionsvermögen, Witz, empfindliches Herz machen den Dichter". 

Hier wird auch die poetische Fiktion gegen Piatos Angriffe ver- 
teidigt; der Dichter gebe dem Irrtum die Gestalt der Wahrheit; 
so z. B. „Fiktion des goldenen Zeitalters*, Diese Verteidigung ist eben- 
so gegen Plato treffend, wie sie es gegen Dühring wäre. Übrigens gibt 
auch die wissenschaftiche Fiktion dem „Irrtum die Gestalt der 
Wahrheit* 



1 34 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. B. Logische Theorie der Fiktionen. 



Die Bildung der höheren Vorstellungswelt ist eine so freie, 
willkürliche und wurde so sehr in wüste Phantasie ausarten, 
dass alle Zucht und aller Geschmack aufhören würde, wenn nicht 
ein Massstab da wäre. Man wird nun das Wesen der wissen- 
schaftlichen Fiktion viel klarer erfassen, wenn man deren Parallele 
mit der ästhetischen sich klar macht Die Bildung der Vorstellungen 
sowohl in der Poesie als in der Wissenschaft erfolgt anfänglich 
in viel reicherer Produktion und in viel ausschweifenderem Mass- 
stabe, als eigentlich notwendig und gut ist: indessen ist in beiden 
Gebieten eine Grenze vorhanden, welche der logische Takt und 
der gute Geschmack einhalten. Diese Grenze darf aber nicht 
bloss dem Instinkt überlassen werden, sondern sie muss wissen- 
schaftlich festgestellt werden. Das Mittel zu dieser Fest- 
stellung hat neuerdings Avenarius gegeben, der freilich sein 
Gesetz des kleinsten Kraftmasses nicht genügend hierauf 
angewandt hat Eine ästhetische und wissenschaftliche Fiktion 
ist dann noch erlaubt, wenn sie ihren Zweck auf die möglichst 
schönste, eleganteste und kürzeste Weise erreicht; .sobald 
in der Poesie daher die Phantasie so ausartet, dass die Fiktion 
Selbstzweck wird, entsteht Schwulst, Unklarheit, »Maronismus*, 
und eine Poesie ä la Lohenstein. Die Geschichte der Poesie 
zeigt dies klar: das rechte Mass einer ästhetischen Fiktion wird 
dann erreicht, wenn der Dichter nicht zu viel und zu wenig tut, 
um seinen Zweck zu erreichen: dieser Zweck ist die Hervorruf ung 
ästhetischer Gefühle, schöner Empfindungen. Der Denker hat 
zwar andere Ziele, aber er hat dieselben psychologischen 
Gesetze zu befolgen. 

Man muss sich nur nicht vorstellen, dass das wissenschaft- 
liche Denken etwas so Starres sei, dass z. B. eine mathematische 
Aufgabe nur auf Einem Wege zu lösen, dass eine Wahrheit 
nur auf Eine Weise zu erreichen sei. Woher käme denn die 
individuelle Verschiedenheit der Behandlung, wenn hier im Gebiete 
der Wissenschaft eine solche Starrheit herrschte? Vielmehr führen 
auch hier viele möglichen Wege zum Ziel: indessen artet auch 
hier das Denken leicht in Schwulst, Phantasie und Unklarheit 
aus, und das ist eben der Fall, wenn die vermittelnden Vor- 
stellungsgebilde, v also die Fiktionen, nicht das rechte 
Mass einhalten. Wir bemerkten schon mehrfach, wie vieler Unfug 
in der Wissenschaft mit den Fiktionen getrieben werde: wir wollen 
im Folgenden nicht bloss eine Verteidigung der Fiktionen 



XX. Abgrenzung der wissenschaftlichen Fiktion von der ästhetischen. 135 

geben und ihnen ihr oft verkanntes und bestrittenes Recht zu- 
erkennen, sondern wir würden unsere Aufgabe ganz verkennen, 
wollten wir nicht auch bei der Aufstellung der logischen Theorie 
überflüssige und unzweckmässige Fiktionen entschieden zurück- 
weisen. Genau so wie der Ästhetiker streng scheidet zwischen 
schönen und unschönen Bildern, so auch der Logiker zwischen 
guten und schlechten Fiktionen. 

Dies wird ästhetisch in der Theorie der Tropew festgestellt. Ein 
Anderes ist die psychologische Theorie der Tropen. Der letzteren 
entspricht die psychologische Theorie der Fiktion, der ersteren dit 
logische. 

Freilich ist hier die Grenze oft sehr schwer zu bestimmen, 
und der Anspruch der Zeiten ist sehr verschieden. Auch in der 
Wissenschaft macht sich dies fühlbar: alte Fiktionen sterben all- 
mählich aus, neue treten an ihre Stelle: es ist ein beständiges 
Wogen, ein Kampf. Sobald man eingesehen hat, dass die Vor- 
stellungswelt subjektiv, dass Begriffe und Vorstellungswelt fiktiv 
sind, so bemerkt man auch konsequent, wie diese Denkmittel im 
Laufe der Zeit immer zweckmässiger werden können und 
müssen. Die Vorstellungswelt ist kein so starres Einerlei, dass 
hier selbst im vollendeten wissenschaftlichen Denken nicht indi- 
viduelle Verschiedenheiten herrschen könnten. Sobald man sich 
klar macht, dass der ganze Zweck des wissenschaftlichen Denkens 
ausser der Feststellung unabänderlicher Gesetze darin aufgeht, 
die Vorstell ungs weit, also die Hilfsmittel des diskursiven 
Denkens, immer vollkommener zu machen, um das Wirkliche zu 
packen, zu bearbeiten und auszudrücken, so ergibt sich sofort, 
dass hier die Vorstellungsbildung sehr willkürlich sein kann. Nun 
geht allerdings die Wissenschaft, im Unterschied von der Poesie, 
darauf aus, letztlich einheitlich zu werden: dies entsteht aber 
nur dadurch, dass unzweckmässige Vorstellungsgebilde ausgerottet 
werden und die zweckmässigsten an ihre Stelle treten. 

Aus dem Gesagten ergibt sich nun, dass die Ausbildung 
dieser Denkinstrumente allmählich erfolgt, und dass oft unter 
mehreren ein Selektionskampf stattfindet. Es entstehen wissen- 
schaftliche Kontroversen nicht bloss um Hypothesen, sondern 
auch zwischen mehreren Fiktionen. Das beste Beispiel ist 
wieder die Differentialrechnung, wo unter den drei Fiktionen 
der Fluxionsrechnung, der Infinitesimalmethode und der 
Grenzm et h od e die letztere den Sieg davon getragen hat. So- 



136 Erster Teil; Prinzipielle Grundlegung. B. Logische Theorie der Fiktioner. 

mit zeigt sich hier, wie wenig das gewöhnliche Vorurteil berechtig! 
ist, dass die Begriffe der Wissenschaft ein starres Material seien, 
dass schliesslich die Wahrheit nur Eine sein könne. Die Bildung 
der wissenschaftlichen Vorstellungsgebilde ist vielmehr ein be- 
ständiges Wogen, und es ist keineswegs eine feste Grenze zwischen 
Wahrheit und Irrtum zu ziehen: die scbliessliche Auswahl der 
Vorstellungsgebilde erfolgt nach dem Prinzip, dass ^fejeni^e 
Vorstellungsweise übrig bleibt, welche den speziell vorliegende.! 
Zweck am besten erfüllt. 

Unsere obige Verglcichung der ästhetischen und der 
wissenschaftlichen Fiktionen hat uns mit Konsequenz zu diesen 
Folgerungen und Erörterungen geführt. Diejenige Vorstellung 
ist „wahr", welche den Zweck alles Denkens am besten erfüllt, 
nämlich das Objektive zu berechnen, zu begreifen. Diejenige 
ästhetische Fiktion ist „schön", welche den Zweck des Dichtens, 
nämlich ästhetische Empfindungen zu erwecken, am besten erfüllt 
Nun ist allerdings in der Poesie ein viel weiterer Spielraum als 
in der Wissenschaft, und unsere Vergleichung soll ja diese Differenz 
gar nicht vertuschen. Allein die Vergleichung soll uns aus dem 
gewöhnlichen Vorurteil herausreissen, als ob es in der Wissenschaft 
sich nicht auch um die Ausbildung einer blossen Vor* 
stellungswelt handelte. Die logische Wahrheit eines Begriffes 
folgt demselben psychologischen Grundgesetze, wie die ästhetische 
Schönheit — nämlich dem Grundgesetz, das in der Seele das 
Zw eck massigste beharrt. Die Auswahl und Ausbildung des 
Zweckmässigsten ist Sache der wissenschaftlichen Entwicklung. 
Die Empirie stellt die unabänderlichen Gesetze heraus, bringt 
Material herbei; die Theorie bildet die Begriffe aus, mit denen 
dies Material begriffen und berechnet wird. 

Die Vorstellungswelt ist eben nur ein subjektives Produkt 
und Gebilde, welches den Zweck hat, Mittel zu sein zur Ergreifung 
der Wirklichkeit, zur Ermöglich ung, in ihr zu handeln und zu 
wirken. Wenn wir aber sagen, sie habe diesen Zweck, so heisst 
das nichts anderes als: der Mensch in seinem Lebensdrange und 
Selbsterhaltungstrieb bildet sich diese Vorstellungswelt nach not- 
wendigen, mechanischen Gesetzen aus; er bildet sich dieses Mittel 
aus als ein Instrument. 

Wir vergleichen somit die Vorstellungsgebilde, so weit sie 
fiktiv sind, mit den ästhetischen Fiktionen. Eine poetische 
Fabel ist dann schön, wenn sie den Gedanken, die Idee am 



XX. Abgrenzung der wissenschaftlichen Fiktion von der ästhetischen. 137 



treffendsten ausdrückt So auch die wissenschaftliche Fiktion: sie ist 
und gilt als zweckmässig, wenn sie ihren speziellen Zweck am 
leichtesten erfüllt. Der Kampf gegen die Ausschweifungen der 
ästhetischen Einbildungskraft, wie er im XVIII. Jahrhundert geführt 
worden ist, erinnert ganz an den Kampf gegen Ausschweifungen 
der wissenschaftlichen Einbildungskraft, wie ihn z. B> der alte, 
ehrliche, nüchterne Nicolai führte. 

Gerade Nicolai ist eine Art Gottsched in der Philosophie: 
seine Bekämpfung Kants bietet vieles interessante Material zur 
Theorie der Fiktionen dar. 

Freilich ging dann diese Reaktion der Aufklärung gegen die 
Fiktionen zu weit Schasler hat in seiner Geschichte der Ästhetik 
dieses Thema besonders berücksichtigt, dessen speziellere Ver- 
gleichung mit logischen Verhältnissen wir einer anderen Gelegen- 
heit aufsparen. Nur bemerken wir hier noch, dass diese Vergleichung 
nicht nur das Spiel weitgehender Vergleichungssucht ist, sondern 
dass sie vielmehr ganz in der Linie der modernen Betrachtungs- 
weise der psychologischen Natur des Denkens liegt und auch 
schon anderwärts, wenn auch nicht mit der erwünschten Klarheit, 
hervorgetreten ist. 

Ich mache besonders auf die schöne Abhandlung von Cohen; .Die 
dichterische Phantasie" aufmerksam. Derselbe hat die poetische Fiktion 
einer feinen psychologischen Analyse unterworfen, welche auch für unsere 
folgende logische Theorie von Wert ist. 

Auch könnte hier auf noch unveröffentliche Ausführungen von Lazarus, 
in dessen Vorlesungen über das Wesen des Tropus hingewiesen werden, 
besonders nach der Seite hin, welche von Cohen vernachlässigt ist, nämlich: 
welches die eigentliche Leistung der Fiktion sei? Diese Frage ist bis jetzt 
ebenso sehr in der psychologischen Theorie der poetischen Fiktion ver- 
nachlässigt worden, wie in der Erkenntnistheorie: man hat hier zu wenig 
nach der Leistung dieser psychischen Gebilde gefragt. 

In Bezug auf die poetische Fiktion ist noch Volkelts Arbeit über 
den Symbolbegriff zu erwähnen; indessen können wir mit dessen in rein 
pantheistischem, also dogmatischem Interesse geschriebenen Ausführungen 
uns keineswegs einstimmig erklären. Es ist demselben viel zu wenig um 
eine rein psychologische Analyse des ästhetischen Symbols zu tun. 
Dagegen ist für eine allgemeine Theorie des Symbols doch Manches 
daraus zu verwerten, und die wissenschaftliche Fiktion ist nur eine Spezial- 
gattung der allgemeinen Symbolisierungstötigkeit der Psyche. 
Den naheliegenden Zusammenhang mit der „symbolischen Erkenntnis', 
die man in den logischen Werken des XVIIL Jahrhunderts fast überall 
eingehend behandelt hat, hat Volkelt ganz unJ gar nicht berücksichtigt 



138 Erster Teil : Prinzipielle Grundlegung. B. Logische Theorie der Fiktionen : 

Das Gesagte gilt nun auch für die Fiktion im Gebiet der 
bildenden Kunst: nicht bloss für die Allegorie, sondern über- 
haupt für die Aufstellung idealer Fälle. Auch in der Wissenschaft, 
wie in der Kunst kann man eben mit blossem, nacktem Realismus 
nicht auskommen. In der Kunst verschönern wir das Gegebene, 
und selbst das nüchternste Genrebild enthält schon fiktive 
Elemente, wenn diese Fiktion hier nur in der Abstraktion von 
störenden Einzelheiten, sowie von Zufälligkeiten besteht, welche z.B. 
eine Photographie wiedergibt; ebenso ist die nüchternste, positivste 
Darstellung einer wissenschaftlichen Wahrheit eben mit subjektiven 
Zutaten, mit Kategorien versetzt; der „Photographie" in der Kunst 
entspricht etwa in der Wissenschaft ein Registrierapparat: wohl 
gibt er mit absoluter Genauigkeit die Veränderungen der Wirk- 
lichkeit wieder; aber schon der blosse Versuch, dieses Resultat 
nun einem Andern mitzuteilen, ist nicht ohne logische 
Fiktionen möglich — denn jedes Urteil beruht auf fik- 
tiver Grundlage. Daher hatten, wie bemerkt, jene alten Skep- 
tiker nicht so unrecht, wenn sie sagten, dass der vollendete Weise 
eigentlich schweigen müsse: denn jedes Urteil ist gar nicht 
möglich ohne Fiktionen. Der Positivismus, wie er gewöhn- 
lich verstanden wird, verkennt ganz diese Tatsache: er bedenkt 
nicht, dass schon die gewöhnliche Vorstellungsweise und Aus- 
drucksweise von Fiktionen durchzogen ist. 

Selbst der nüchternste Beobachter in der Wissenschaft, der 
vollendete Positivist, kommt nicht ohne Fiktionen aus: denn er 
kann selbst seine positiven Resultate weder aussprechen noch 
auch nur denkend erreichen ohne Anwendung der diskursiven 
Denkmittel; solche Denker aber, wie z.B. Hartmann, welche das 
wissenschaftliche Material mit überflüssigen, subjektiven, poetischen 
Zutaten verfälschen, sind schwulstigen Dichtern zu vergleichen. 

Also der reine Positivismus ist ganz unmöglich, ohne 
den kritischen Zusatz, dass selbst das geringste, nüch- 
ternste Urteil nicht ohne Kategorien möglich ist — und 
diese sind schon Fiktionen. 

Darum hat Laromiguiere nur teilweise recht, wenn er sagt — nachdem 
er den Personifiktionstrieb der Menschen betont, welcher eine Quelle 
als Nymphe, einen Strom als Flussgott sich vorstellt — „si les beaux-arts 
ne plaisent que par les f ictions, la Philosophie ne platt que par la 
verit£* — weder Vorder- noch Nachsatz sind richtig. Vgl. Taine, Les 
philosophes francais du XIX siecle (1857), pag. 11. 



XX. Abgrenzung der wissenschaftlichen Fiktion von der ästhetischen. 139 



Nur die stumme Anschauung, die schweigende Beobachtung 
z. B. eines Registrierapparates, oder eines sonstigen Instrumentes 
oder Vorganges ist reiner Positivismus. Helmholtz und 
Steinthal haben diese Seite der wissenschaftlichen Tätigkeit 
besonders betont. 1 ) Die Ausbildung dieser Tätigkeit wäre dann 
das Ideal jener Intuitionsphilosophen, welche schliesslich nicht in 
der Tätigkeit des diskursiven Denkens, sondern in der Anschauung 
das Ziel der Psyche sehen. Nur die „gedankenlose" Beobachtung 
(im guten Sinn), die Anschauung ohne diskursive Denkmittel 
befreit auch die Menschen von den quälenden Fragen, welche 
durch die Denkmitte] und Fiktionen erst entstehen, alle die Fragen 
nach dem Warum? und nach dem Wozu? Schopenhauer 
hat ganz recht, in der blossen Anschauung der Kunstwerke 
die höchste Seligkeit zu finden. Das letzte und höchste 
Ziel der Wissenschaft besteht dann auch darin, ohne die störenden 
Einschiebsel des diskursiven Denkens alles Weltgeschehen in eine 
absolute Anschaulichkeit zu bringen. 

Dies war das Ideal Czolbes. Inwiefern Spinoza ähnliche Tendenzen 
hatte, ist Sache einer besonderen Untersuchung. Für Spinoza sind Begriffe 
noch nicht Mittel, diese Einsicht ist erst durch Locke, Berkeley, Hume 
vorbereitet worden. Begriffe sind nur verdichtete Anschauungen. Man muss 
nur nicht meinen, mit dem Denken Über die Empfindung und Anschauung 
hinauskommen zu können: Begriffe sind immer aus Trennstücken der 
Empfindung und Anschauung zusammengesetzt. Auch die von Laas (a. a. O. 
pag, 233) erwähnte Tendenz, alles au! mathematische Relationen zu reduzieren, 
führt auf dasselbe Ideal reiner Anschaulichkeit Begriffe sind immer nur 
eingeschobene Mittelglieder, um die Verbindung der Empfindungen und An- 
schauungen zu ermöglichen. Die Begriffe sind Funktionen, welche einen 
bestimmten Zweck erfüllen: eine reichere Empfindungsverbindung zu er- 
möglichen. Dann fallen sie aus. 
Mit der Erreichung jenes Ideals reiner Anschaulichkeit hört 
aber das Begreifen im gewöhnlichen Sinne auf. Das anschauende 
Wissen der Weltvorgänge und ihres unabänderlichen Zusammen- 
hanges ist das Ziel der Wissenschaft und alle logische Denk- 
bewegung hat nur den Zweck, die Erreichung dieses Zieles zu 
ermöglichen. Darum denkt man sich auch Gott und die Götter 
ohne diskursives Denken in einem blossen Schauen: 4 ) hier sind 
eben die logischen Hilfsmittel, die Fiktionen, ausgestossen 

1) S. Steinthai, a. a. O. pag, 50. Was Steinthal da von den Worten im 
Verhältnis zu den Begriffen sagt, gilt auch von den Begriffen im Verhältnis 
zu den Anschauungen. 

2) Vgl. Laas a. a. O. pag. 28, 



140 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. B. Logische Theorie der Fiktioner 

und das reine Sein resp. Werden in reiner Anschauung erfassi 
Darum ist diese Annahme eine Vorahnung dessen, was wir ober 
ausführten, dass alle logischen Hilfsmittel des Denkens unc 
schliesslich das ganze diskursive Denken — denn dieses besteh: 
eben in der Vorstellungsbewegung nach der Form der Kategorien 
u. s, w. — nur dem Zwecke dienen, schliesslich die objektiver 
Zusammenhänge festzustellen und das Handeln zu ermöglichen. 
Es muss immer und immer wieder darauf hingewiesen werden, 
und diese Überzeugung muss mit allen möglichen Mitteln erweck: 
werden, dass alles logische, diskursive Denken ein blosses Hilfs- 
mittel ist. — 

Wir wenden uns nun von dieser Digression*) zu unseren: 
eigentlichen Thema zurück, die übrigen Bedeutungen des Aus- 
druckes „Fiktion* festzustellen und die wissenschaftliche Fiktion 
dadurch von den anderen Arten abzugrenzen. 

In Bezug auf das Wort „Fiktion * herrscht ein wirrer und 
zuchtloser Sprachgebrauch; selbst Logiker gebrauchen es in 
verschiedenen Bedeutungen, ohne sich der Mühe zu unterziehen, 
das Wort zu definieren und seine verschiedenen Bedeutungen zu 
scheiden- 

Ausser den bisher behandelten Bezeichnungen hat noch 
eine Bedeutung Wert für uns: das Wort wird oft = willkürliche, 
unberechtigte Annahme gebraucht und endlich = Irrtum 
Diese beiden Bedeutungen finden sich häufig in wissenschaftlichen 
Darstellungen. Die erstere deckt sich im Wesentlichen mit jener 
oben S. 130 angeführten, wo Fiktion = erdichteter Begriff (z. B. 
Pegasus etc.) ist In dieser leteteren Bedeutung ist „Fiktion 1 
ein Terminus der Logik und bedeutet eben solche Wesen, welche 
rein willkürliche Produkte der Einbildungskraft sind. In dieser 
Bedeutung hat der Ausdruck immerhin schon einen tadelnden Sinn. 

Hier können wir sogleich die Bemerkung anfügen, wie notwendig eine 
Theorie der Fiktion ist, wenn selbst scharfsinnige Logiker wie Sigwart das 
Wort .Fiktion" In verschiedenen Bedeutungen gebrauchen, ohne darüber 
Rechenschaft zu geben. Man vgl. Sigwart pag. 243 [2. Aufl. S. 286 = § 36. 
Nr. 3). (Ebenso pag. 242: Vordersätze mit dem ausgesprochenen Bewusst- 

*) Im Original ist diene Digression ausführlicher (& 512—517), indi* 
gezeigt wird, wie insbesondere durch die Hegelsehe Begriffsdichtung das Den<- 
instrument bereichert und gescJiärft und dadurch besser befähigt woidcn ist) dat 
Chaos der empirisch gegebenen Wirklichkeit zu erfassen und zu ordnen und diese* 
Zasammenhang zu begrifflichem Ausdruck zu bringen; Hegels Begriff weit bleib- 
aber doch nur fiktiver Natur. 



XX. Abgrenzung der wissenschaftlichen Fiktion von der ästhetischen. Hl 



sein der Falschheit!) Dagegen pag. 210 [« 2. Aufl. S, 252 § 32, 7] 
und pag. 247 2. Aufl. S. 292 §36, 8] (vorläufige Voraussetzung eines 
Dinges), dagegen pag. 155 [= 2. Aufl. S. 193 ^= § 24], wo Fiktion = Irrtum 
ist. Dagegen pag. 271 [= 2. Aufl. S. 317 § 40, 1], wo Fiktion wissen- 
schaftiiche Fiktion ist Ebenso pag. 280 u. 288 H 2. Aufl. S. 326 u. 343], 
wo von Sigwart die Fiktion von 12 Vorstellungselementen gemacht wird. 

Indessen nähert sich Sigwart häufig unserer Auffassung, insofern auch 
er den Gedanken durchführt, dass das Denken Hilfsmittel anwende; auch 
er redet von den Umwegen des Denkens; besonders die Kategorien betrachtet 
er (pag. 39) wie Steinthal. 

Sigwart betont auch gelegentlich, dass das Gedacht-werden-müssen noch 
kein Beweis des Seins sei; unsere ganze Betrachtungsweise läuft aber eben 
darauf hinaus, dass das Denken vieles so denken müsse, als ob es so oder 
so sei, nur zum Zweck der Erleichterung und Ermöglichung des Denkens 
überhaupt Auch für uns ist also das Gedacht-werden-müssen kein Beweis 
des Seins. — Und wenn Sigwart die Kategorien auch gelegentlich als not- 
wendige Hilfsmittel behandelt, so lag ja doch die Auffassung derselben 
als Fiktionen und damit die Analogie der Satzbildung mit als ob nahe. 
(Vgl. §33.) Verwirrung in Bezug auf den Ausdruck .Fiktion* findet sich 
bei Überweg, Logik 3. Aufl. 1868, pag. 71, 95, 96, 163, 348, 410. Man 
sollte doch denken, dass gerade die Logiker sich klar machen sollten, was 
denn Überhaupt eine Fiktion sei, und wann denn überhaupt eine Fiktion 
zulässig sei? welchen Dienst sie leiste? wie sie sich von der Hypothese 
unterscheide ? u. s. w. 

In den Bedeutungen = willkürliche Annahme oder = Irr- 
tum wird das Wort „Fiktion" natürlich in tadelndem Sinne ge- 
dacht, und man bezeichnet eben damit falsche oder willkürliche 
Annahmen. Beides ist noch zu unterscheiden. Falsche An- 
nahmen sind reine Irrtümer, wie sie die Wissenschaft und 
das Denken häufig aufzuweisen haben. Wenn dagegen Fiktion eine 
willkürliche Annahme bedeutet, so gebraucht man das Wort 
meist in solchen Fällen, wo eine ausschweifende Phantasie 
Hypothesen ersinnt, welche sich zu wenig an die Wirklichkeit 
halten, oder wo solche wissenschaftlichen Fiktionen gebildet 
werden, welche unzweckmässig sind. Da man die wissenschaft- 
lichen Fiktionen selbst meist nicht mit diesem Namen bezeichnet, 
so verwendet man das Wort gewöhnlich speziell für solche wissen- 
schaftlichen Fiktionen, welche, wie bemerkt, überflüssig und un- 
zweckmässig sind. 

Auch wir haben von solchen gesprochen und den Unfug 
getadelt. Nichtsdestoweniger müssen wir das Wort für solche 
Vorstellungsgebilde in Anspruch nehmen, welche, obgleich 
Fiktionen, doch zweckmässig sind. Eine scharfe Distinktion der 
Bedeutungen ist hier also vor allem nötig. 



142 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. B. Logische Theorie der Fiktionen. 

Die eigentliche, streng wissenschaftliche Fiktion haben wir 
damit abgegrenzt von den sie umgebenden Nebenbedeutungen; um 
sie nun auch inhaltlich zu bestimmen, dazu bedarf es weiterer 
Untersuchungen* 

Ausserdem bedeutet Fiktion noch Lüge im ethischen Sinne. Eine 
weitere Art von Fiktionen sind die Fiktionen der konventioneilen 
Umgangsformen. Die meisten Phrasen des Umganges sind Fiktionen, 
v. Hartmann in seinem Aufsatz: „Über die Verlogenheit des modernen Lebens* 
hat zwar wohl gezeigt, dass die meisten Wendungen im Umgang sowie 
auch die Phrasen in der Politik u. s.w. .Lügen 1 seien, er hat aber vergessen, 
darauf aufmerksam zu machen, dass das nicht bloss erlaubte, sondern 
notwendige Fiktionen sind, ohne welche der feinere Verkehr unmöglich 
wird, und die es daher auch immer schon gegeben hat Diese Art kann 
man die höfliche Fiktion nennen. 

Also auch hier ist dasselbe Prinzip, dass gewisse Rede- und Vorstellungs- 
formen, welche an sich rein erfunden und unwirklich sind, den Verkehr 
erleichtern. Die höflichen Fiktionen nennt man wohl auch kon- 
ventionelle Fiktionen. Wenn ich sage: „Ihr Diener*, so heisst das 
flicht: ich bin Ihr Diener, sondern: Betrachten Sie mich so, als ob ich es 
wäre. Das Als ob ist also auch im praktischen Leben unentbehrlich: ohne 
solche Fiktionen ist kein feineres Leben möglich. 

Dies führt weiter zu der etwa »offizielle Fiktionen* zu nennenden 
Form: so kann es z. B. im Interesse eines Staates liegen, eine offizielle 
Fiktion zu machen; auch solche Formen tadelt E. v. Hartmann ganz 
ungerechtfertigt; nur wenn sie ausarten, ist jener Tadel am Platz; hier 
muss der moralische Takt entscheiden, wie sonst der ästhetische 
Geschmack und der logische Takt über die Anwendung von Fiktionen 
entscheidet. 

So greift die Fiktion tief ins praktische Leben hinein. Auch hier 
ist häufig der Fall, dass ursprüngliche Hypothesen zu Fiktionen werden. 
Solche Fälle können enorm praktisch werden: z. B. die Eid frage: bei der 
gegenwärtigen Eidformel macht jeder, der auf sie schwört, ohne an Gott 
zu glauben, eine erlaubte Fiktion. Die Wendung: Ich schwöre bei 
Gott, dem Allmächtigen — heisst dann: Ich schwöre, als ob es ein Gott 
hörte. Solche Fiktionen sind nicht nur erlaubt, sondern geboten in 
gewissen Fällen, und ein Sträuben dagegen ist lacherlich. 

Allerdings birgt diese unsere Theorie der praktischen Fiktionen — 
sie ist nur eine Konsequenz der kritischen Weltanschauung — viele Gefahren 
in sich, welche z. B. E. v. Hartmann richtig aufzeigte. Allein Faktum ist, 
dass solche Fiktionen notwendig sind: sie sind eine Folge der mensch- 
lichen Unvollkommenheit, genau wie auch die diskursiven Hilfsmittel durch- 
aus kein Vorzug sind (wie z. B. Nicolai richtig hervorhob). Ob sie aber 
bloss Folgen der Unvollkommenheit seien, ist noch eine Frage. Man sieht 
hieraus, wie unsere Theorie auch für die praktische Philosophie wichtig 
wird. Unser ganzes höheres Leben beruht auf Fiktionen: wir haben 
schon oben gezeigt, dass unseres Erachtens eine reine Ethik nur auf 
Grund der Anerkennung ihrer fiktiven Grundlage aufgebaut werden kann. 



XX. Abgrenzung der wissenschaftlichen Fiktion von der ästhetischen. 143 



Wie nahe dadurch Täuschung und .Wahrheit" gerückt werden Hegt auf der 
Hand. Wir werden noch unten darauf hinweisen, dass »Wahrheit* nur der 
eckmässigste Irrtum sei. Es ist ein Irrtum, zu meinen, dass eine absolute 
Wahrheit zu finden sei, oder ein absoluter Massstab von Wissen und Handeln: 
das höhere Leben beruht auf edelen Täuschungen. So zeigt sich, dass 
unsere Theorie also auch eine ganz andere praktische Weltanschauung mit 
sich führt, als die gewöhnliche. 

Wir verweisen in Betreff dieser Ansichten auf P.A. Lange, bei dem 
dieses alles präformiert liegt. 

Ob diese Prinzipien .gemeinschädlich* seien, wie E. v. Hartmann 
behauptet, ist noch eine andere Frage: die .Gemeinschädlichkeit' 
scheint mir auf der entgegengesetzten Seite zu liegen I — 

Wie Irrtum, Fiktion und Wahrheit theoretisch nahe verwandt sind 
und oft ineinander übergehen, so auch praktisch: die Lüge hat dieselbe 
Wurzel, wie die ethische Grösse — beide beruhen auf einer Fiktion. Dazu 
ist die Bemerkung hinzuzufügen, dass, so wenig die Zersetzung unserer 
Denk- und Anschauungsformen und die Einsicht in ihre Fiktivität uns an 
der Anwendung dieser Formen hindert, da doch vielmehr gezeigt wird, 
dass ohne sie alle höhere Geistesausbildung unmöglich ist, — dass auch 
ebenso wenig die Zersetzung und Zerfaserung der ethischen Begriffe und 
Formen uns davon abbringen kann, ethisch zu handeln. Wenn E. v. Hart- 
mann das letztere fürchtet, so beweist das nur, dass es Menschen gibt, 
welche ohne eine grob-reale Basis, d. h. ohne Lohn und Strafe, nicht 
ethisch handeln können. 

So wen ig wie wir jem als in der Wiss enschaf t oh ne d i s k u r s i v e F o r m e n , 
d, h. Fiktionen, auskommen können, ebenso wenig können wir in der Ethik 
ohne solche eingeschobenen Begriffe auskommen: hier wie dort treten 
Fiktionen ein, welche zwar rein psychomechanisch entstehen, aber für 
uns subjektiv doch einen ganz anderen Wert haben (vgl. Laas, pag. 252/253). 
Also der Nachweis der Fiktivität hindert doch die praktische Anwen- 
dung nicht; so z. B. bei dem Frei h ei ts begriff, dem Pf Ii cht begriff u. s. w. 
Inwieweit sich dies auf die Religion erstrecken dürfe, darüber s. Strauss, 
Julian, Ges. Werke I, 193 ff. 



Kapitel XXL 

Der Unterschied der Fiktion von der Hypothese.*) 

Dass die Fiktion meist als Hypothese behandelt wurde 
(während sie doch methodologisch ganz davon verschieden ist), 
dieses Faktum haben wir schon erwähnt: es findet seine Erklärung 
darin, dass Fiktion und Hypothese sich äusseriieh sehr ähnlich 
sehen, dass beide faktisch nicht streng immer zu trennen sind, 

•) Im MS. - § 32. 



144 Erster Tel] : Prinzipielle Grundlegung. B. Logische Theorie der Fiktionen. 

und endlich darin, dass die logische Theorie überhaupt immer 
erst einige Zeit nach der Ausbildung einer wissenschaftlichen Praxis 
zu kommen im Stande und im Rechte ist. 

Die Hypothese geht stets auf die Wirklichkeit: 1 ) d. h. das 
in ihr enthaltene Vorstellungsgebilde macht den Anspruch oder 
hat die Hoffnung, sich mit einer einst zu gebenden Wahrnehmung 
zu decken: sie unterwirft sich der Probe auf ihre Wirklichkeit 
und verlangt schliesslich Verifikation, d, h. sie will als wahr, 
als wirklich, als realer Ausdruck eines Realen nachgewiesen 
werden. Ausnahmslos will die Hypothese ein Wirkliches 
statuieren; sind wir auch über das faktische Vorkommen des 
hypothetisch Angenommenen noch nicht sicher und gewiss, so 
hoffen wir doch, dass dies Angenomme sich eines Tages erweisen 
werde. Also wenn wir die Hypothese aufstellen, dass der 
Mensch aus niederen Säugetieren hervorgegangen sei, so wollen 
wir damit strikte das wirkliche Vorhandengewesensein der 
unmittelbaren und mittelbaren Vorfahren des Menschen behaupten, 
wir wollen sagen, dass wir glauben, hätten wir damals gelebt 
— eine praktisch unmögliche, aber logisch notwendige Fiktion — 
so wären diese Formen auch in unsere Wahrnehmung getreten, 
und dass wir hoffen, die Reste dieser nun verschwundenen 
Mittelglieder aufzufinden. Wir werden zur Aufstellung dieser 
Hypothese genötigt durch die Konsequenz des Kausalgesetzes. 
Nach diesem bis jetzt als unabänderlich beobachteten Gesetz ist 
jedes Phänomen aus anderen zu erklären, ausser es sei ein 
Elementarphänomen, Da nun der menschliche Organismus alle 
Spuren davon trägt, dass er kein Elementarphänomen sei, so 
müssen andere Phänomene seine Entstehung verursacht haben. 
Darnach schliessen wir auf das uns nicht bekannte Glied — the 
missing link — dieses notwendigen Kausalverhältnisses nach 
Analogie der uns sonst bekannten Zusammenhänge: was wir er- 
schliessen und hypothetisch annehmen, ist dies Vorhandengewesen- 
sein von Mittelformen, aus denen die jetzigen Menschen un- 
mittelbar entstanden sind nach unabänderlichen Gesetzen der 
Succession. Dies ist eine Hypothese. 



1) Bei mehreren gleich möglichen Hypothesen wählt man darum die 
wahrscheinlichste aus; dagegen bei mehreren gleichmöglichen Fiktionen 
wählt man die zweckmässigste aus — darin zeigt sich der Unterschied 
beider Gebilde sehr deutlich. 



XXI. Unterschied der Fiktion von der Hypothese 145 

Nun können wir gleich hieran die Fiktion verdeutlichen. 
Wenn Goethe das Vorstellungsgebilde eines Urtieres einführt, 
nach dessen Analogie alle Tiere zu behandeln und zu erklären, als 
dessen Modifikationen alle bekannten Tierarten zu betrachten seien, 
so ist die Erdichtung eines solchen Urtieres eine schematische 
Fiktion, Denn Goethe will damit wohl nicht das faktische Vor- 
handensein eines Urtieres behaupten, er will nicht ngen, dass 
ein solches jemals in die Wahrnehmung fallen könnte oder 
irgendwo existieren könnte oder existiert hätte: sondern er will 
sagen, dass alle Tiere so zu betrachten seien, als ob sie Ab- 
kömmlinge Eines Urtieres, als ob sie Modifikationen eines solchen 
seien. Das Fiktive an dieser Fiktion ist die Betrachtung, als 
ob es ein solches Tier geben könnte: das Hypothetische 
daran — es ist eine Semifiktion — ist die Behauptung, dass alle 
tierischen Formen reduzierbar seien auf Einen Typus: dies ist 
dne auf Beobachtung beruhende Behauptung, deren Richtigkeit 
induktiv zu erweisen ist: dass nämlich alle tierischen Formen 
im Ganzen und Einzelnen als Modifikationen eines solchen 
idealen Typus zu betrachten seien. 

Ähnlich, aber damit nicht zu verwechseln, ist der von Lange ge- 
machte Gegensatz von Idee und Tatsache in der Wissenschaft. — Vgl. 
Düh rings Bemerkung über Lamarcks Urtier, Kursus 109. 

Cfr. PapHlon, Histoire de la Philosophie moderne dans ses rapports 
avec le developpement des Sciences de la nature. Paris 1876, II, pag. 412: 
Trotz der Schwierigkeit des Begriffs des idealen Typus aller Tiere hat doch 
diese Idee die vergleichende Anatomie befruchtet : Mais comment d' apres 
ce type ideal de tous les ätres, comment representer r Stemel exemplaire 
morphologique? Lä est la grande ditttcultt. Le poete m£me la sentait 
bien quand il disalt: Cela se peut s'exprimer et non se d£montrer. En 
effet, le type est une de ces notions spekulatives, tellement generales 
qu' eJles echappent ä la determination! (Zoologische Grenz- 
begriffe.) Über die Abhängigkeit Goethes von Diderot s. ebendaselbst 

Welchen Wert diese Goethe sehe Fiktion habe, Hegt auf 
der Hand: sie gibt Anlass zu einer ganz neuen Klassifikation der 
tierischen Formen und bereitet ausserdem heuristisch die Wahr- 
heit vor. Nun hat sich im Laufe der Zeit diese Goethe sehe 
Fiktion als eine heuristische bewährt, ist aber jetzt weggefallen, 
weil die wahre Betrachtung in Gestalt des Darwinismus an ihre 
Stelle getreten ist, nämlich, dass alle tierischen Formen von 
einander wirklich abstammen, und dass ein Urtier höchstens als 
Monere gedacht werden könne. Die Goethesche Fiktion hat also 
heuristisch die Darwinsche Hypothese vorbereitet. Während der 

10 



1 46 Erster Teil : Prinzipielle Grundlegung. B. Logische Theorie der Fiktionen. 

Darwinismus das wirkliche Vorhandensein solcher Urtiere 

behauptet, leugnet sie gerade Goethe. 

Dies ist das Ergebnis der modernen Forschungen über Goethes 
Meinung. Indessen hat Goethe stets etwas geschwankt, er war sich unklar 
über die Bedeutung des von ihm produzierten Vorstellungsgebildes. Es 
ist dies nicht selten bei der Bildung von Fiktionen so, dass die Urheber 
über ihren logischen Wert schwanken. 

Zu dieser Streitfrage zwischen Haeckel, Semper, Schmidt, Robby, 
Rossmann s. die Literatur besonders bei Semper, Offener Brief an 
Haeckel; Oskar Schmidt, War Goethe ein Darwinianer? ferner Ross- 
mann, in den Veröffentlichungen der „Heidelberger Gesellschaft" u.s.v/. 
Vgl. hierzu auch v. Baer, Entwicklungsgeschichte der Tiere 1828, I, 224: 
Entwicklung der Tiere aus der einfachen Blasenform der Idee 
nach und historisch. Ctr Haeckels Anthropogonie 391. Dagegen 
v. Baer, Studien 250. 

Goethe will seine Idee nur als Fiktion betrachtet wissen. 
Nun ist aber das nicht ein Irrtum gewesen, wie man etwa meinen 
könnte, sondern das Ooethesche Urtier war eine brauchbare 
Fiktion, indem es mit Ein schluss jener Moneren für alle Formen 
eine Urform, einen Urtypus aufstellt, als dessen Modifikationen 
alle zu betrachten sind. Ob jedoch diese Fiktion noch brauch- 
bar sei, ist eine andere Frage. Die heutigen Urtiere (Moneren, 
Bathybien) sind keineswegs das Urtier Goethes, der darunter 
weder so formlose Wesen verstand, wie jene Urtiere sind, noch 
ein wirkliches Vorkommen des Urtieres behauptete, das für ihn 
nur als Singular, also als Typus bestand (nicht Urtiere, sondern 
das Urtier, sagte Goethe). Demnach geht die Fiktion keineswegs 
darauf aus, etwas Wirkliches zu behaupten, sondern etwas, nach 
dem sich die Wirklichkeit berechnen und begreifen lässt, 
was in dem eben angegebenen Beispiel wirklich der Fall ist. 
Zugleich ist dieses Beispiel auch Zeuge davon, wie leicht 
Fiktion und Hypothese zu verwechseln sind, und wie not- 
wendig und wohltätig hier eine scharfe, logische Distinktiou ist. 
Es ist noch zu bemerken, dass die chaosartige Verwirrung des 
Ausdrucks, die hier herrscht, sich sowohl darin geltend macht, 
dass Fiktionen als Hypothesen bezeichnet werden, obwohl 
der sie so Bezeichnende den Unterschied selbst kennt (also nicht 
bloss dann, wenn der sie so Bezeichnende oder Aufstellende die 
Annahmen statt für Fiktionen für Hypothesen hält), sondern 
auch darin, dass Hypothesen oft als Fiktionen bezeichnet 
worden sind: und wiederum nicht bloss dann, wenn der sie so 
Bezeichnende die Annahmen statt für Hypothesen für Fiktionen 



XXI. Unterschied der Fiktion von der Hypothese. 147 

Mit (auch ein, wenn auch seltener Fall), sondern auch, wenn 
der so sich Ausdrückende wohl weiss, dass die so bezeichnete 
Annahme prinzipiell von der Hypothese nicht verschieden ist. 
Das ist der Fall, wenn man vage Vermutungen, tatonnierende 
Versuche schon Fiktionen nennt, Vermutungen, die noch nicht 
bis zur Hypothese gelungen sind. AHein Hypothese und Fiktion 
sind nicht etwa graduell verschieden, sie sind qualitativ anderer 
Natur. Dies sind also missbräuchliche Vermischungen von Fiktion 
und Hypothese« 

Die Bestimmung der Hypothese ist freilich auch nur eine 
provisorische — aber das Ziel, dem sie zusteuert, ist ihre 
theoretische Durchführung und die Bestätigung durch 
die Tatsachen der Erfahrung. Auch die Hypothese soll also 
aufgehoben werden, aber dadurch, dass die hypothetische 
Vorstellung als vollberechtigt unter den Kreis des als wirklich 
Angenommenen tritt. Die provisorische Bestimmung der Fiktion 
dagegen ist eine ganz andere: die Fiktion, soweit wir sie als 
provisorisches Hilfsgebilde bezeichnet haben, soll im Laufe der 
Zeit wegfallen und der wirklichen Bestimmung Platz machen; 
soweit sie aber echte Fiktion ist, soll sie wenigstens logisch wieder 
ausfallen, sobald sie ihre Dienste getan hat. 

Nun ist aber in dem Gesagten auch angegeben, inwiefern 
in einzelnen Fällen ein Zweifel darüber bestehen kann, ob eine 
bestimmte Annahme Fiktion oder Hypothese sei: wenn die 
Hypothese so allgemein ist, dass sie sich schliesslich unmöglich 
mit der gegebenen Wirklichkeit decken kann, und wenn man 
dann eine Modifikation dieser Hypothese zugleich mit der Veri- 
fikation ihres allgemeinen Teiles erwartet Also z. B« die Smithsche 
Annahme (S. 29) kann man noch etwa eine Hypothese nennen, 
insofern ja die betreffende Annahme wirklich zum Teil Faktisches 
ausdrückt, und man die Modifikation dieser allgemeinen Annahme 
durch andere hinzutretende Bedingungen erwartet: nichtsdesto- 
weniger ist es in solchen Fällen immer besser, um allen Irrtum 
zu vermeiden, eine solche Annahme Fiktion zu nennen. Anderer- 
seits möchte es sich doch auch manchmal empfehlen, eine be- 
stimmte Annahme nicht sofort unter die Fiktionen zu versetzen, 
wenn man noch zweifelhaft sein kann, ob nicht die Annahme 
doch vielleicht einem Wirklichen entspräche. Man muss sich 
durch die Bezeichnung Fiktion nicht den Weg zur Veri- 
fikation versperren, oder gar noch weniger darf man den nahe- 

10* 



1 48 Erster Teil : Prinzipielle Grundlegung. B. Logische Theorie der Fiktionen. 

liegenden Fehler begehen, aus Faulheit einfach jede Annahme 
zur Fiktion zu stempeln, um sich der mühsamen Arbeit der 
Verifikation zu entziehen. Es kann im einzelnen Falle sehr 
fraglich sein, ob eine bestimmte Annahme Fiktion oder Hypothese 
sei, und man kann über eine bestimmte Annahme die Hypothese 
aufstellen, dass sie nur eine Fiktion sei. Die Möglichkeit 
dieser Verflechtung ist aber der beste Beweis, dass Fiktion und 
Hypothese zu unterscheiden sind. Wenn es also zweifelhaft ist, 
ob man eine bestimmte Annahme als Fiktion oder Hypothese 
betrachten soll, so muss hierüber erst immer eine sorgfältige 
spezielle Untersuchung entscheiden. 

Der eigentliche Unterschied zwischen beiden also ist, dass 
die Fiktion blosses Hilfsgebilde ist, blosser Umweg, blosses 
Gerüst, welches wieder abgeschlagen werden soll, die Hypothese 
dagegen einer definitiven Fixierung entgegensieht. 1 ) Jene 
ist künstlich, diese natürlich. Oft kann etwas, was als Hypothese 
unhaltbar ist, als Fiktion recht gute Dienste /eisten, wovon wir 
oben viele Beispiele hatten. Freilich kann auch andererseits 
eine Fiktion im Laufe der Zeit entbehrlich werden, und 
das Denken wirft seine Krücken immer gerne weg; indessen 
werden die hauptsächlichsten der echten Fiktionen doch niemals 
aus dem Denken herausgestossen werden, da ohne sie eben 
diskursives Denken gar nicht möglich ist 

Die Hypothese hat schliesslich nur theoretischen Zweck, 
um das Gegebene in Zusammenhang zu bringen, um die Lücken 
dieses Zusammenhanges, welche unsere Erfahrung uns reichlich 
darbietet, zu schliessen, sowie um die letzten und eigentlich 
primären Unabänderlichkeiten festzustellen: dagegen hat jede 
Fiktion streng genommen nur einen praktischen Zweck in der 
Wissenschaft, denn ein eigentliches Wissen schafft sie nicht. 
Das Begreifen, das die Hypothese schafft, ist ein ganz 
anderes als das, welches die Fiktion hervorbringt: 
z. B. das Begreifen durch die Kategorie der Kausalität (d. h. 

1) Wervergleiche liebt, wird die Fiktion mit einem Balkengerüste ver- 
gleichen, das nach vollendetem Bau wieder abgebrochen wird, die Hypothese 
dagegen mit dem Balkengerüste, welches in dem Bau selbst mit verwertet wird 
als integrierender Teii des Baues. Dieses Letztere bleibt daher im Bau definitiv 
bestehen, das Erstere dagegen wird wieder abgebrochen. — Auch im orga- 
nischen Gebiet gibt es Ähnliches. Es gibt Mitteigebilde, welche wieder ab- 
sterben, nachdem sie zur Vorbereitung und Entwicklung gedient haben. 



XXI. Unterschied der Fiktion von der Hypothese. 



149 



die Reduktion der unabänderlichen Successionen auf , Ursachen", d. h, 
Wirksamkeiten) ist nur scheinbar, und es entpuppt sich schliesslich 
als blosse Illusion. Im Rahmen dieser Kausalkategorie aber 
werden z. B. Hypothesen über einen speziellen Kausalzusammen- 
hang aufgestellt, welche nur das Begreifen eines einzelnen 
Phänomens hervorbringen. Dieses scheint uns begriffen, wenn es 
in den Kausalzusammenhang eingereiht ist; dass aber der Kausal- 
zusammenhang selbst (diese Ordnung der Phänomene nach 
„Ursache" und n Wirkung* 4 , d. h. die blosse Benennung der 
unabänderlichen Zeitfolgen und Abfolgen in dieser Weise) als 
ein Mittel zum Begreifen erscheint, dies ist Sache der Kategorie 
der Kausalität, welche eben eine Fiktion ist. Während also eine 
Hypothese ein wahres Wissen verschafft — nämlich von 
unabänderlichen Verhältnissen, verschafft die Fiktion immer 
nur ein Scheinbegreifen. Wenn also durch eine Hypothese 
eine Sache in den allgemeinen Kausalzusammenhang gebracht 
wird, so sind hierbei zwei Elemente zu unterscheiden: 1) die 
Feststellung des unabänderlichen Verhältnisses; 2) die 
Identifizierung dieses Verhältnisses mit dem Verhältnis des „Wirken- 
den" und „Leidenden", des Aktiven und Passiven. Jenes ist das 
eigentlich Hypothetische, mit dem Zweiten wird dieser spezielle 
Fall unter die allgemeine Kategorie der Kausalität gebracht, die 
wir, wie alle Kategorien, als analogisch-tropische Fiktion 
erkannten, mit der theoretisch gar nichts gewonnen ist Also 
die Hypothese bleibt, die Fiktion fällt weg, dies ist ein 
Hauptergebnis des Unterschiedes beider. Jene schafft ein sach- 
liches Wissen, diese ist ein bloss methodologisches, formelles 
Mittel. Jene ist Zweck, diese Mittel. Bei der Fiktion liegt der 
Hauptwert nicht auf dem Begriffe selbst, auf dem Vorstellungs- 
gebilde, sondern auf dem, was dadurch ermöglicht ist: bei 
der Hypothese ist sie selbst die Hauptsache als Konstatierung 
eines objektiven Seins oder Geschehens, also einer kosmischen 
Unabänderlichkeit. Die Hypothese ist also ein Resultat des 
Denkens, die Fiktion ein Mittel und eine Methode desselben. 
Die Hypothese will faktisch beobachtete Widersprüche weg- 
schaffen, die Fiktion schafft logische Widersprüche herbei. Dem- 
nach ist die Tendenz und darum auch natürlich die Methode der 
Anwendung bei beiden eine ganz andere. Die Hypothese will 
entdecken, die Fiktion erfinden. Darum heisst jene oft auch 
d£couverte; dagegen nennt man allgemein (z.B. d'Alembert) 



150 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. B. Logische Theorie der Fiktionen. 

die Differentialrechnung eine „invention*. So entdeckt man 
Naturgesetze, aber man erfindet Maschinen: insofern die 
Fiktionen wissenschaftliche Denkinstrumente sind, ohne welche 
eine höhere Ausbildung des Denkens unmöglich ist, werden sie 
erfunden. Bekanntlich sind indessen Entdeckung und Er- 
findung nicht immer in jedem Fall scharf zu unterscheiden, so 
auch nicht Hypothese und Fiktion. Das Atom ist keine natur- 
wissenschaftliche Entdeckung, sondern eine Erfindung. 

Wir haben oben davon gesprochen, dass jede Hypothese 
durch Verifizierung bestätigt werden muss. Aber soll denn 
nicht auch bei der Fiktion etwas Ähnliches stattfinden? 

Der Verifizierung der Hypothese entspricht die Justi- 
fizierung der Fiktion. Muss jene durch Erfahrung bestätigt 
werden, so muss diese gerechtfertigt werden durch die Dienste, 
welche sie der Erfahrungswissenschaft schliesslich leistet. Wenn 
ein fiktives Vorstellungsgebilde aufgestellt wird, so muss die 
Berechtigung und Entschuldigung hierfür davon ab- 
geleitet werden, dass dieses fiktive Gebilde dem diskursiven 
Denken Dienste leistet und sich als ein nützliches Hilfsmittel 
desselben erweist. Diese Rechtfertigung ist immer also Sache 
eines speziellen Nachweises, wie die Verifikation. Fiktionen, 
welche sich nicht justifizieren, d. h. als nützlich und not- 
wendig rechtfertigen lassen, sind ebenso zu eliminieren, 
wie Hypothesen, denen die Verifikation fehlt 

Sowohl Justifizierung als Verifizierung erfolgt durch die Leistung, 
welche die bezüglichen Annahmen vollbringen, aber die Leistungen 
selbst sind verschiedener Natur. 

Die Leistung und Funktion der Hypothese ist eine ganz andere als 
die der Fiktion. Aus der Verschiedenheitjier Leistung muss die Ver- 
schiedenheit der methodologischen Regeln folgen. 

Eine Fiktion ist dann gerechtfertigt, wenn sie dem Denken 
wirkliche Dienste leistet, wenn sie es fördert: eine Hypothese aber muss 
bewahrheitet werden; Fiktionen können niemals verifiziert werden, 
weil in ihrem Begriff die Abweichung von der Wirklichkeit einge- 
schlossen ist 

Je nach der Art der Fiktionen muss speziell bewiesen werden, dass 
diese Fiktion wirklich den abverlangten Dienst leiste, und warum sie ihn 
leiste: also z. B. die Kategorien leisten den Dienst der Ordnung unter 
den Phänomenen, oder die Smithsche Fiktion oder die Fiktion der Diffe- 
rentiale leisten dem Denken Dienste: Die bewusste Unwahrheit 
schadet diesen Diensten nichts. Während die Verifizierung sich durch 
Beobachtung der Wirklichkeit vollzieht, vollzieht sich die Justifizierung 
nur durch Beobachtung des Denkvorganges selbst; so weist man also 



XXI. Unterschied der Fiktion von der Hypothese. 



151 



z. B. nach, dass und warum der Begriff der Substanz dem Denken Dienste 
leiste (indem er den Begriff der Veränderung ermöglicht, s. Avenarius, 
a. a. 0. pag. 79); damit ist dieser Begriff justifiziert. seine Anwendung 
(sowohl historisch, als logisch, d.h. sowohl von den früheren Menschen, 
als jetzt von jedem Einzelnen) gerechtfertigt. 

Schwierig ist dieser Nachweis eigentlich nur bei den erkenntnis- 
theoretischen Fiktionen, sowie bei den mathematischen; dagegen liegt der 
praktische Wert der meisten anderen Fiktionen auf der Hand. 

Wie die Hypothesenbildung ein ebenso berechtigtes als 
unentbehrliches Mittel der wissenschaftlichen Forschung ist, so ist 
es auch die Fiktion. Was A. Lange von den Hypothesen sagt, 
gilt mutatis mutanäis auch von der Fiktion: „Der Verständige ist 
nicht der, welcher die Hypothesen vermeidet, sondern der, welcher 
die wahrscheinlichsten stellt, und den Grad ihrer Wahrscheinlichkeit 
am besten abzuschätzen weiss/ 1 ) Setzen wir hier statt: Hypothesen 
Fiktionen und statt: Wahrscheinlichkeit Zweckmässigkeit, 
so gilt dies ganz von den Fiktionen. Auch dasjenige, was man 
den Verächtern der Hypothesen mit Recht einzuwenden pflegt, 
dass nämlich selbst die gewöhnlichsten Annahmen der Menschen 
auf Hypothesen beruhen, welche nur einen hohen Grad von 
Wahrscheinlichkeit (und oft noch nicht einmal dies) erreicht haben, 
kann und muss man den Gegnern der Fiktionen, z, B. Dühring, 
einwenden: dass sie nämlich sogar nicht den gewöhnlichsten 
Satz aussprechen können, ohne Fiktionen zu machen. Solche 
sind ja schon die Kategorien und Allgemeinbegriffe, ohne welche 
kein Satz entstehen kann. Diese sind nur im Laufe der Zeit so 
gang und gäbe geworden, dass man ihnen die Fiktivität gar nicht 
mehr anmerkt. Faktisch sind es Fiktionen, welche tagtäglich aufs 
Neue durch die zweckmässigen Dienste, welche sie dem Menschen 
leisten, justifiziert werden. Ebenso, wenn Oberweg a. a. O. 
pag. 386 davon spricht, dass bei der Erfindung von Hypothesen 
sich die genialste Kühnheit mit der besonnensten Strenge in ährer 
Prüfung vereinigen müsse, und dass Hypothesen nicht, wie Apelt 
wolle, aus der Luft gegriffene Behauptungen seien, sondern 
Resultate zulässiger Rückschlüsse aus Erfahrungen, so kann Ähn- 
liches auch von der Fiktion gesagt werden. Auch bei ihrer Er- 
findung muss besonnene Strenge mit genialer Kühnheit Hand in 
Hand gehen; auch sie sind keine „aus der Luft gegriffene Be- 
hauptungen*, sondern müssen, wenn sie wertvoll und nützlich 



1) Vgl. Überweg, Logik, § 134 



152 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung, ß. Logische Theorie der Fiktionen. 

sein sollen, sich ebensowohl an das Gegebene anschmiegen, als 
ihre Berechtigung durch die Dienste nachweisen, welche sie dem 
Denken leisten. 

Es ist natürlich, dass die Fiktion eine ganz andere Methodologie 
haben muss als die Hypothese, Die Methodologie dieser besteht 
wesentlich darin, dass die Annahme nicht bloss denkmöglich, 
sondern auch faktisch möglich sei; sowie dass alle Erfahrungs- 
tatsachen damit stimmen: eine einzige damit unvereinbare Tat- 
sache kann die Hypothese stürzen. Von solchen Dingen ist nun 
bei der Fiktion nicht die Rede: der Widerspruch der Erfahrung 
und selbst der Einspruch der Logik kümmern sie nicht oder 
wenigstens nur in ganz anderer Weise als die Hypothese, Das 
Prinzip der methodischen Regeln der Hypothese ist die 
Wahrscheinlichkeit, das der Fiktionsregeln die Zweckmässigkeit 
der Begriffsgebilde. Aus diesem allgemeinen Prinzip lassen sie 
sich ableiten; aber sie werden besser induktiv festgestellt, aus der 
Beobachtung der einzelnen Fiktionen und des Verfahrens, welches 
bei ihrer Anwendung zum Ziele führt. Die Zweckmässigkeit 
bestimmt nicht nur die Annahme oder Verwerfung einer einzelnen 
Fiktion, sondern auch <He Auswahl unter mehreren. Ist einmal 
eine Fiktion dann angenommen, so ist die Hauptforderung, sich 
zu hüten, aus der Fiktion eine Hypothese oder gar ein Dogma 
zu machen, und das aus der Fiktion Abgeleitete an Stelle der 
Wirklichkeit zu setzen, ohne zuvor die nötige Korrektur gemacht 
zu haben. Eine viel wichtigere Forderung aber ist noch, sich 
durch die Widersprüche der Fiktion mit der Erfahrungswirklichkeit 
und durch die Widersprüche der Fiktion in sich selbst nicht be- 
irren und stören zu lassen und nicht aus diesen Widersprüchen 
sogenannte Welträtsel herauszuklauben; also nicht an den Fiktionen, 
als ob sie der Kern wären, hängen zu bleiben, sondern sie als 
Fiktionen zu durchschauen, und darum auch mit dieser Erkenntnis 
sich zu begnügen, ohne sich durch die aus ihr A ergebenden Schein- 
fragen und Scheinprobleme locken und verwirren zu lassen. 

„Scheinbegriffe" nennt Lambert die Fiktionen; aus den Sehe in- 
begriffen ergeben sich Scheinprobleme 

Grübeleien über jene Widersprüche führen mitten in die 
tiefsten Irrgänge des Denkens hinein, und man muss sich hüten, in 
diesen Umwegen des Denkens, in diesem Irrgarten sich zu verlieren. 
Das sind also ganz andere Regeln als bei der Hypothese: Lotze 
sagt darum richtig (Logik, pag. 399), .dass jede Hypothese nicht 



XXI. Unterschied der Fiktion von der Hypothese, 153 

bloss Denkfigur 1 ) oder Veranschaulichungsmittel sein wolle, 
sondern Angabe einer Tatsache; wer eine Hypothese auf- 
stellt, glaubt die Reihe der wirklichen, beobachtbaren Tatsachen 
durch glückliches Erraten nicht minder wirklicher, aber unbe- 
obachtbarer verlängert zu haben". „Die betreffende Tatsache 
muss als eine bestehende Wirklichkeit vorgestellt werden." 
Fiktionen dagegen, sagt er pag. 400, „sind Annahmen, die 
man mit dem vollständigen Bewusstsein ihrer Unmöglich- 
keit macht, sei es, dass sie innerlich widersprechend sind, oder aus 
äusseren Gründen nicht als Bestandteile der Wirklichkeit gelten 
können". Lotze gibt hiermit sehr richtig nicht nur den Unter- 
schied der Fiktion von der Hypothese an, sondern auch der 
innere Unterschied der beiden Arten der Fiktionen wird wenigstens 
angedeutet. Eine Hypothese, sagt derselbe Autor auf pag. 401, 
„will das Postulat, aus dem sie entspringt, nicht durch eine fingierte 
Vorstellung, sondern durch Angabe einer Wirklichkeit erfüllen, 
und darf nur das annehmen, was sich als Tatsache denken 
lässt, nicht aber das an sich selbst Widersprechende". 
Lotze gibt treffliche Disziplinarvorschriften, aber nur für die 
Hypothese; die Fiktion wird auch von diesem scharfsinnigen 
Logiker stiefmütterlich behandelt. 3 ) Treffend ist noch die Be- 
merkung, dass der Unterschied zwischen Hypothese und Fiktion 
dem tieferen Beobachter zweifelhaft werde, was an der ange- 
gebenen Stelle (408) sich nur darauf beziehen kann, dass An- 
nahmen, welche man für Hypothesen hält, auch leicht doch nur 
Fiktionen sein können: „Die logischen Bewunderer, sagt er, natur- 
wissenschaftlicher Methoden täuschen sich zuweilen hierüber, wenn 
sie den ganzen Bau unserer Kenntnisse auf unbedingt sichere 
Fundamente gestützt vorstellen." 

Wir sehen also, wie vorsichtig man in der Subsumtion einer 
Annahme unter Hypothese und Fiktion sein muss, und wie die 
Grenzen beider ineinanderspielen. Was heute Hypothese ist, kann 
morgen Fiktion sein; ja was dem Einen Fiktion ist, kann dem 
Andern Hypothese sein — es kommt eben nur darauf an, wie 



1) Leibniz kennt das Differential: modus dicendi, vgl, Redefigur = 
tropus. Vgl. die früheren Bemerkungen über die Theorie der Tropen. 

2) Was Lotze ib. S. 382 ff. über den Unterschied zwischen „Gesetz" 
und „Regel* sagt, deckt sich teilweise mit unseren Ausführungen, aber Lorze 
fasst unter „Regel" verschiedenes Heterogene zusammen, speziell sogenannte 
„empirische Gesetze" und Fiktionen. 



154 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. B. Logische Theorie der Fiktionen. 

weit man die Subjektivität der menschlichen Erkenntnis reichen 
lässt: schliesslich hat freilich die Erkenntnistheorie hier eine 
definitive und allgemeine Ordnung zu schaffen. 

Vielfach sind auch Fiktionen als Postulate aufgeführt worden 
Auch hier muss noch genauer unterschieden werden. Besonders viele 
mathematische Postulate sind nur Fiktionen. Auch Kants »Postulate 
der praktischen Vernunft 44 sind Fiktionen. Vgl. Lotze, Logik, pag. 398 
wo aber der Unterschied ganz ungenügend abgehandelt wird. Das 
Postulat kann sowohl eine Fiktion als eine Hypothese enthalten; 
es bezeichnet eine Form, keinen Inhalt 



Kapitel XXIL 

Die sprachliche Form der Fiktion. Analyse des „als ob" 
(nebst allgemeinen Erörterungen über die Theorie 
des Vergleichens).*) 

Wir müssen nun auch im Zusammenhang das besprechen, 
was uns bisher schon hin und wieder als bemerkenswert aufstiess — 
die sprachliche Form und Ausdrucksweise der Fiktion. 
Auch aus dieser wird sich der tiefe Unterschied ergeben» der 
zwischen Fiktion und Hypothese prinzipiell besteht: schon die 
verschiedene und ganz auffallende sprachliche Ausdrucksweise hätte 
von der Vermischung mit den Hypothesen abhalten sollen. Über- 
haupt ist ja die Grammatik ein Feld, auf dem die Logik ihre 
Materie zu sammeln hat; denn wenn Denken und Sprechen auch 
nicht Eins sind, so ist doch die Sprache ein Mittel, mit dem das 
Denken sich hilft; und die Untersuchung der feineren Ausbildung 
dieses Denkmittels ist also eine höchst wichtige Aufgabe und zu- 
gleich ein fruchtbares Feld für die logische Theorie. Wenn auch 
keine Identität von Sprechen und Denken, so besteht doch ein 
Zusammenhang zwischen beiden. Darum hat Aristoteles ganz 
richtig seine Logik an die Grammatik angeknüpft Unter den 
Neueren hat nur Lambert 1 ) hier originelle Ideen gehabt: indem 
er die logische Bedeutung, den logischen Wert der einzelnen 
Partikeln eingehend untersucht. Die Verbindungen der Sätze durch 



*) Im MS.~§ 33. 

1) Im Organon. Vgl Sigwarts Analyse der Partikeln, Logik, 1 234 It 
wo aber dieser Partikelkomplex „als ob Ä gänzlich fehlt 



XXII. Analyse des „als ob*. 



155 



Partikeln sind ja doch eigentlich die logischen Scharniere, durch 
welche die einzelnen Glieder zusammenhängen; in den Partikeln 
ist oft eine ganz logische Gedankenreihe zusammengepresst. Die 
logische Analyse eines gegebenen Gedankenzusammenhanges hat 
darum insbesondere die Verbindungspartikeln ins Auge zu 
fassen- Auf dieses empirisch dargebotene Material, aus dem die 
logische Theorie sich zu ergänzen hat, macht auch besonders 
Lazarus aufmerksam. 

Wir haben die Ausdrucksformen der Fiktion schon mehrfach 
kennen gelernt: z. B. jede krumme Linie ist zu betrachten (lässt 
sich betrachten, muss betrachtet werden), als ob sie aus unendlich 
vielen, unendlich kleinen geraden Linien bestünde. Hier haben 
wir also eine seltsame Kombination. Wir legen zunächst nicht 
den Wert darauf, dass der erste Satz sowohl problematisch, 
als assertorisch, als apodiktisch ausgesprochen werden kann: 
wir konzentrieren unsere Aufmerksamkeit auf die seltsame Partikel- 
komplikation; „als ob* oder „wie wenn". Vergleichen wir noch 
die Ausdrucksweise in anderen Sprachen: lateinisch: quasi, auch 
sicui; im Englischen: as if; Französisch: comme si, que sij 
Griechisch: wg et [wwi], w< re. 

Der psychische Vorgang eines solchen Gleichnisses besteht 
nach Steinthal (pag* 262) darin, dass eine Anschauung durch ein 
Verhältnis apperzipiert wird, also nicht durch den Inhalt einer 
Vorstellungsgruppe sondern nur durch die Form derselben. 
Man könnte auch sagen, es sei eine versuchte Apperzeption des 
Inhalts, die aber sofort nach ihrer Ausführung wieder zurück- 
genommen wird: es ist dabei nicht eine Verschmelzung, eine 
chemische Verbindung, nur eine elektrische, blitzartige Berüh- 
rung, der Vorstellungsgruppen im Spiele. Die Psyche freut sich 
über die Entdeckung einer formalen Analogie: dadurch scheint 
ihr ein einzelner Fall gleichsam in den ganzen Zusammenhang 
der Welt aufgenommen, dass eine Analogie gebildet wird: die 
Seele spielt mit solchen Analogien; das betreffende einzelne 
Objekt scheint ihr ästhetisch begriffen; es scheint ihr logisch 
begriffen, wenn die Analogie des Verhältnisses wirklich auf for- 
maler Ähnlichkeit beruht. Schliesslich sind alle Fiktionen solche 
Vergleiche, ob nun die Komparativgruppe schon vorhanden ist 
oder neu geschaffen wird. Wenn ich sage: die Materie muss 
betrachtet werden, als ob sie aus Atomen bestünde, so wird hier 
die Materie verglichen und apperzipiert von einer erst geschaffenen 



1 b6 Erster TeiJ : Prinzipielle Grundlegung. B. Logische Theorie der Fiktionen 

Gruppe, welche, zwar in sich widerspruchsvoll, aber doch gerade 
dadurch, durch diese widerspruchsvollen Elemente befähigt is: 
das gegebene Unbegriffene an Begriffenes anzulehnen« Die Wider- 
spruche in einem fiktiven Vorstellungsgebilde sind darum not- 
wendig, weil in ihm zwei widerspruchsvolle Elemente verknüpf: 
sind, welche sich sonst schroff und unvermitteltgegenüberstehen : alsc 
z, B. die unendliche Teilbarkeit des Raumes ist ein Element, das ir. 
schroffem Widerspruche steht mit dem wirklichen Gescheher. 
und Vorhandensein, mit Bewegung und allen sonstigen Er- 
fahrungen: nun wird eben einfach ein fiktives Vorstellungsgebilde 
formiert, welches beides in sich vereinigt; dies ist das Infini- 
tesimal; denn dieses ist nicht bloss der letzte Teil des Raumes, 
sondern da es unendlich klein ist, so ist auch die Forderung de' 
unendlichen Teilbarkeit erfüllt, weil ja unendlich kleine Teile zu- 
gleich auch unendlich viel sind: in dem fiktiven Vorstellungs- 
gebilde sind also beide widerspruchsvollen Elemente vereinigt, 
und auf diese Weise äst die Verbindung mit dem sonstigen 
begriffenen Inhalt der Seele hergestellt Somit sind solche Hilfs- 
gebilde Vermittler zwischen verschiedenen Sphären der Seele: 
nun wird die empirische Erscheinung des Raumes verglichen 
mit solchen Vorstellungsgebilden, und durch die Vergleichung 
ist die Vermittlung hergestellt: indem dann einfach das Hilfs- 
gebilde, nachdem es formiert ist, als wirklich betrachtet wird, 
wird die Erscheinung demselben Vergleichs- und versuchsweise 
subsumiert; und andererseits wird dadurch die Verbindung her- 
gestellt mit dem sonstigen Inhalt der Seele: indem ja Differentiale 
einfach der Rechnung unterworfen werden. Der Mechanismus ist 
also folgender. Wir haben alles der Rechnung unterworfen und 
wollen die Rechnung auch ausdehnen und übertragen auf Er- 
scheinungen, welche dieser Rechnung Widerstand entgegensetzen, 
also z, B. die krumme Linie; nun wird ein Vorstellungsgebilde 
formiert, durch das diese Vergleichung ermöglicht wird, 
durch das die Apperzeption von krummer Linie unter die 
Rechnung ermöglicht wird: dies geschieht durch das Infinitesimal, 
das einerseits rechnungsfähig ist, und andererseits die 
krumme Linie unter sich befassen kann. Alle Fiktionen 
sind in dieser Weise auf Vergleichungen, Analogien zurück- 
zuführen, nur dass in den Einen Fällen die Vergleichung direkt 
ist, in anderen Fällen indirekt durch ein Mittelglied. Dies ist 
auch zugleich der Unterschied zwischen Semifiktionen und echten 



XXU. Analyse des „als ob*. 



157 



Fiktionen: bei jenen ist die vergleichende Apperzeption eine 
direkte: also z. B. bei der abstraktiven Fiktion wird die Fülle 
der empirischen Erscheinungen direkt ohne Mittelglied mit der 
abstrakten Annahme in vergleichende Verbindung gesetzt; ebenso 
bei der künstlichen Einteilung, bei der schematischen Fiktion, 
beim fingierten Fall, und vollends bei der tropischen, analogischen 
Fiktion selbst; ebenso endlich bei der juristischen Fiktion. Bei 
den echten Fiktionen bedarf es eines Mittelgliedes, um die 
Vergleichung herzustellen; dieses Mittelglied muss nun natürlich 
nicht bloss rein subjektiv sein, sondern auch widerspruchsvoll 
Wenn nämlich die vergleichende Apperzeption nicht direkt 
möglich ist, weil die Kluft zwischen der Apperzeptionsmasse und 
dem zu Apperzipierenden zu gross ist, so wird ein Mittelbegriff 
formiert; indem dieser Mitteibegriff die beiden widersprechenden 
Elemente, von der Apperzeptionsform ein Element» und 
von der zu apperzipierenden Vorstellung das entgegen- 
gesetzte in sich vereinigt, kann er die Vermittlung er- 
möglichen, indem dann das zu Apperzipierende zuerst von dem 
Mittelbegriff und dieser Mittelbegriff selbst dann erst von 
der ersten Apperzeptionsform apperzipiert wird. 

„Differential" und „Atom" sind solche Mittelbegriffe; jene ermöglichen 
es, z. B. krumme Linien unter gerade Linien Verhältnisse zu subsumieren, 
diese, die empirische Materie unter der Form berech nungsfähiger Massen- 
punkte vorzustellen. 
Die Fiktionen sind auf vergleichende Apperzeptionen 
zurückzuführen, eine von Steinthal ganz übersehene Apperzeptions- 
form, welche die psychische Quelle aller Fiktionen ist Alle 
Vergleichung ist nur möglich durch eine freiere Bewegung der 
Vorstellungen unter sich, mag sich diese Vergleichung auf einen 
Witz, auf ein poetisches Gleichnis oder auf eine streng 
wissenschaftliche komparative Methode oder auf eine 
reale Analogie und Hypothese oder endlich auf eine Fiktion 
beziehen. Schliesslich bleibt eben alles Begreifen nur analogisch, 
wie Schopenhauer richtig erkennt. 

Alle begreifende Apperzeption beruht schliesslich auf Analogien, mag 
es sich um reale Vergleichung handeln (wie bei den Hypothesen) oder um 
fiktive. Genaue psychologische und logische Analyse der betreffenden 
Begriffe, speziell der fiktiven Begriffe, kann dies im Einzelnen zeigen und 
den Mechanismus des Denkens in solchen Fällen aufdecken. 

Schliesslich kommen alle Fiktionen auf versuchte Ver- 
gleiche hinaus: die Vergleiche, d. h. Analogien rufen überhaupt 



158 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. B, Logische Theorie der Fiktionen. 

erst den Eindruck, das Gefühl des Begreif ens hervor; wo die 
Seele also nicht reaje Vergleiche finden kann, sucht sie, um 
zu begreifen und zu berechnen (denn auch die Grundlage hier- 
von ist der Vergleich), wenigstens provisorische, versuchs- 
weise Vergleichungen herzustellen. Der Mechanismus des 
Denkens und Begreif ens ist insofern allerdings ein Rechnen, 
als er schliesslich eben auf Vergleichungen hinausläuft; wir sahen 
schon oben, wie eine häufig wiederholte Analogie den Schein des 
Begriffen-habens erzeugt, wie die Reduktion auf subjektiv- 
psychische Analogien allem Begreifenwollen zu Grunde Hegt 
Nurauf Grund dieser psychologischenTheorie desDenkens 
und Begreifens ist auch zugleich eine fruchtbare Theorie 
der Fiktionen möglich. 

Eine psychologische Theorie des Erkennens und Begreifens, eine 
Komprehensionaltheorie, d. h. eine Theorie darüber, worin denn der psycho- 
logische Zustand des Begreifens besteht, schwebte schon Herbart mit Recht 
als eine notwendige Aufgabe vor. Das Erkennen, Begreifen, beruht auf Ver- 
gleichen, und dies beruht auf gewissen psychomechanischen Verhältnissen 
Am Begreifen hat die Psyche Lust. Um diese Lust des Begreifens auf 
Alles auszudehnen, auch auf Solches, was der Natur der Sache nach un- 
begreiflich ist, macht die Psyche die gewagtesten Kunstgriffe, Viele 
Fiktionen dienen einzig und allein diesem Zweck. 
Demnach ist die Vergleichung und schliesslich die Ver- 
schmelzung des Gleichen in der Seele das eigentliche psycho- 
logische Prinzip der Logik und Erkenntnistheorie, und 
unser Thema beschäftigt sich mit den Kunstgriffen, welche 
die Seele bildet, um jene vergleichenden Apperzeptionen 
durchzuführen. Nicht bloss die identifizierende, sondern 
auch die subsumierende und in Harmonie setzende Apper- 
zeption 1 ) beruht auf Vergleichung und Ausgleichung der psychischen 
Elemente. 

Ob das Prinzip der ausgleichenden Bewegung, der Hersteilung eines 
psychischen Gleichgewichts seihst noch unter ein höheres Prinzip zu sub- 
sumieren sei, wie z. B. Waitz meint, unter das Prinzip der Einheit der 
Seele, also unter ein metaphysisches Prinzip, oder unter ein anderes, aber 
höheres psychisches oder gar psychophysisches Prinzip (vielleicht das 
des kleinsten Kraftmasses nach Avenarius), das ist eine Frage, die schon 
jenseits unserer Untersuchung liegt. 
Faktum ist, dass die Seele nach Aus- und Vergleichung 
strebt und sich in den Fiktionen die Mitte! verschafft, diese 
Vergleichungen immer weiter auszudehnen. Dabei 

1) Vgl. Steinthal, der diese Namen geschaffen hat, a. a. O. §200— 2R 



XXJL Analyse des „als ob". 



159 



werden freilich im Laufe der Zeit ursprünglich unzweckmässige 
Bildungen formiert, z.B. die mythischen Gestalten, bis es schliesslich 
der Seele gelingt, die zwekmässigsten Vergleichungen anzustellen, 
und dies bringt sie zuwege durch jene Fiktionen, welche das 
ganze Gebiet der Erkenntnistheorie und Logik beherrschen. 
Gewaltsam sind jene Methoden immerhin, mögen sie direkt 
oder indirekt sein, aber die Psyche nimmt daran keinen Anstand, 
die Forderungen nicht bloss der äusseren Wirklichkeit, sondern 
auch die des logischen Gewissens da einfach zu ignorieren, wo 
ihr die Hoffnung winkt, vergleichende Verbindungen 
herzustellen; dieser Trieb siegt schliesslich über die Forderung, 
nicht von der Wirklichkeit abzuweichen (die Psyche tut das dann 
doch, wenn sie hofft, durch Abweichung und Ausweichung doch 
schliesslich die Wirklichkeit wieder zu treffen), sowie über die 
andere Forderung, nicht von ihrem eigenen Grundsatz der Identität 
und des Widerspruchs abzuweichen : die Psyche ist nicht so kon- 
sequent in der Befolgung dieses ethisch-logischen Prinzipes, wo 
sie hoffen kann, den viel stärkeren Trieb des Begreifens und Er- 
kennens zu befriedigen, sei es wenn auch nur auf illegitime 
Weise und sündigend gegen ihr eigenes logisches Grundprinzip, 
besonders da, wo sie von der Not gezwungen wird, um die Wirk- 
lichkeit berechnen zu können. 

Schliesslich wird es ja wohl auch mit dieser Abweichung der Psyche 
von ihrem eigenen Prinzip keine grosse Gefahr haben : wie sie von dem 
Prinzip, niemals die Wirklichkeit zu verfälschen, abweicht, um durch diese 
Abweichung von der Wirklichkeit selbst doch schliesslich diese wieder 
zu treffen, so weicht sie ja wohl auch von ihrem eigenen Prinzip der 
Identität und des Widerspruchs ab, um durch diese Abweichung, also 
selbst durch Widersprüche, zu in sich identischen Resultaten zu gelangen. 
Denn der Trieb, überall vergleichende Verbindungen zu stiften, ist ja wohl 
identisch mit dem Prinzip der Identität, und es ist also nur natürlich, dass 
die Seele zeitweise von diesem logischen Prinzip abweicht, wenn sie 
dadurch doch schliesslich eine solche Identität herstellt, welche ihr den 
Schein des Begreifens oder gar die Möglichkeit der Berechnung eröffnet 
Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, erscheinen die 
Semi- und echten Fiktionen eben als Umwege, als Listen, als 
hinterlistige Schleichwege, mit denen das Denken die Wirk- 
lichkeitsschwierigkeiten — und sich selbst überlistet, um freilich 
am Ende vielleicht auf die niederschlagende Erkenntnis zu kommen, 
dass es mit all diesem künstlichen Tun doch nicht viel erreicht 
habe, dass jene Begreiflichkeit nur eine partielle und zeitweise 
sei, dass mit der Möglichkeit, die Wirklichkeit zu berechnen, noch 



160 Erster Teil : Prinzipielle Grundlegung. B. Logische Theorie der Fiktionen 

nicht gesagt sei, dass diese Regeln, nach denen sie dies tut, zu- 
gleich auch der Ausdruck des wahren Verhaltens der Dinge 
seien: diese Berechnungsregeln sind eben doch schliesslich 
nur zusammengesetzte Symbole, nach denen das unbekannte 
Wirkliche sich berechnen, aber nimmermehr wirklich be- 
greifen lässt Der Abfall von dem Prinzip des Widerspruchs rächt 
sich freilich bitter dadurch, dass durch diese Fiktionen neue 
Schwierigkeiten geschaffen werden, Fragen, Probleme, an 
denen das Denken sich vergeblich abmuht. Das diskursive Denken 
gibt zwar logischen Fortschritt, aber es schafft auch viele Übel. 
Denn das diskursive Denken weicht einerseits von der Wirklich- 
keit ab bis zur Verfälschung derselben, und es gerät andererseits 
mit sich selbst in logische Konflikte. Aller Fortschritt wird 
nur durch Übel erkauft. Dieses Prinzip ist auch in dem 
Fortschritt des Erkennens vorhanden: denn jeder Fortschritt des 
diskursiven Denkens, d. h. der logischen Bearbeitung der Wirklich- 
keit bringt neue Übel, Probleme und Widersprüche: diese aber 
sind nicht im Wirklichen selbst, sondern nur im Menschengeiste: 
denn das Wirkliche, wie es auch den Gesetzen des ethischen 
Verhaltens nicht folgt, folgt auch nicht logischen Gesetzen. 

Auf das wahre Wirkliche lässt sich vielleicht nicht einmal das Gesetz 
der Identität anwenden: nicht als ob das wahre Wirkliche ihm widerspräche, 
aber die Anwendung ist vielleicht so sinnlos, als die Anwendung ethisch er 
Kategorien auf das Sein. Die grossen Weltfragen entstehen, wie wir schon 
sagten, durch unberechtigte Übertragung von Kategorien: also 
wenn wir die ethischen Kategorien auf das Sein anwenden, entstehen alle 
jene Fragen nach dem Zweck des Lebens u. s f w., welche ebenso 
nichtssagend als quälend sind. Dasselbe ist wohl auch mit den 
logischen Kategorien der Fall, z. B. Einheit und Vielheit, deren An- 
wendung auf das Sein die peinlichsten Fragen hervorruft 

Nur der Mensch ist ethisch, logisch — nur er will eine 
ethische, eine logische Weltordnung schaffen. Im Kampfe mit der 
Wirklichkeit entstehen alle logischen und ethischen Konflikte. Ob 
schliesslich die logische und die ethische Bearbeitung der Wirk- 
lichkeit selbst wieder auf ein höheres Grundprinzip zurückzuführen 
seien (etwa auf das der Identität wie z. B. Spir wollte), das ist 
wieder eine Frage, die wir hier erheben, aber nicht lösen können. 
Der Trieb der Einheit ist nun einmal vorhanden, und ihm ver- 
danken wir alle Fortschritte des Wissens und Erkennens, sowie 
auch alle logischen Konflikte und Widersprüche. Denn nicht bloss, 
dass jener Trieb der Einheit erst solche Widersprüche findet, um 



XXII. Analyse des «als ob«* 



161 



sie zu lösen — sondern im Fortgang der Lösung schafft er immer 
neue Probleme, Antithesen und Widersprüche, wie auch der ethische 
Trieb im sittlichen Fortschritt sich selbst in ethische Konflikte ver- 
wickelt, deren Lösung immer wieder von vorne zum Ziel der 
Bewegung gemacht wird. Der kulturgeschichtliche Gang des 
ethischen Verhaltens und der des logischen Denkens zeigen Parallelen, 
welche schliesslich aus der psychologischen Einheit und 
Gleichheit der menschlichen Natur hervorgehen: hier wie 
dort entstehen durch den Fortschritt selbst Konflikte: der 
Naturmensch kennt weder logische Widersprüche noch ethische 
Konflikte; nur im Lauf der Entwicklung erheben sich aus dem 
Grunde der Seele selbst erst diese logischen und ethischen 
Kämpfe; der ewig fortwirkende Trieb des Menschen verstrickt 
sich selbst in diese Schlingen, aus denen er sich immer wieder 
heraus windet, um neue zu finden und zu schaffen: schliesslich 
Hegt aber doch bloss in diesem Kampf der Fortschritt, und die 
Sünde ist ebenso das Prinzip der ethischen Vervollkommnung 
und ihr Motiv, als der Widerspruch das Motiv und Prinzip der 
logischen Vervollkommnung ist, nicht nur insofern, als Sünde 
und Widerspruch selbst schon zur Sühne und Ausgleichung 
reizen, sondern als der ethische und logische Fortschritt selbst 
oft nur durch Sünde und Widerspruch möglich sind: alle Refor- 
matoren des menschlichen Verhaltens mussten sich in ethische 
Widersprüche mit dem Traditionellen setzen, wie denn auch aller 
logische Fortschritt darauf beruht, dass nicht bloss der Widerspruch 
zum Ausgleich treibt, sondern dass dieser Ausgleich oft selbst 
nicht allein durch Abweichung von der Wirklichkeit, sondern auch 
durch logische Widersprüche selbst erkauft werden muss: die 
Reformation ist nicht ohne ethische Konflikte abgelaufen, und die 
Erfindung der Differentialrechnung war nur durch Aufstellung 
logischer Widersprüche möglich. — 

Unsere Behauptung, dass alle Fiktionen schliesslich auf die 
komparative Apperzeption zurückzuführen seien, wird unter- 
stützt durch ihre sprachliche Form. Denn was liegt in der Partikel- 
komplikation: als ob, wie wenn u. s. w.? Offenbar erstens 
eine Vergleichung; das liegt ja auf der Hand; als, wie sind 
vergleichende Partikeln. Es wird also, um den speziellen 
Fall zu wählen, die krumme Linie betrachtet einmal wie eine 
Reihe von Infinitesimalen; hier ist also die erste vergleichende 
Apperzeption: die krumme Linie wird apperzipiert von dem 

11 



1 62 Erster Teil : Prinzipielle Grundlegung. B. Logische Theorie der Fiktionen 

Vorstellungsgebilde des Infinitesimalen. Allein diese Vergleichung 
wird dann doch noch modifiziert durch das Wenn, das Ob. Es 
ist eben keine einfache Vergleichung, kein blosser Tropus, 
aber auch keine reale Analogie; die Vergleichung liegt also 
zwischen dem Tropus und der realen Analogie mitten inne; also 
zwischen der rhetorischen Vergleichung und der wirklichen Gleich- 
heit und Gleichsetzung, Es ist ja doch eine andere Vergleichung, 
als wenn z. B, die vergleichende Anatomie den Organismus des 
Menschen mit dem des Gorilla vergleicht, oder wenn die ver- 
gleichende Sprachwissenschaft den Organismus der germani- 
schen Sprachen etwa mit dem der romanischen vergleicht: 
das sind ja reale Analogien, Vergleichungen auf Grund gemein- 
samer Abstammung, gemeinsamer Bildungsgesetze. Es ist aber 
doch auch wieder eine andere Vergleichung als ein blosser 
Tropus, wenn man z.B. die krumme Linie mit den krummen 
Wegen eines Verbrechers oder umgekehrt vergleicht, Dies ist 
ein Tropus; eine reale Analogie aber wäre es, wenn man die 
vier Kegelschnitte unter sich vergleicht Wenn ich aber 
die krumme Linie als eine gerade betrachte? Ist das ein 
Tropus? Sicher ist es mehr! Ist es eine reale Analogie? 
Sicherlich ist es weniger! Es ist eine Fiktion* Die Vergleichung 
ist nur indirekt möglich durch den Mittelbegriff des In- 
finitesimals. Wäre es eine Analogie, wäre es ein Tropus, so 
genügte das einfache Wie. Da es aber keines von beiden ist 
so bekommt das Wie den Zusatz des Wenn, das Als den des 
Ob. Was liegt denn nun in diesem Zusatz enthalten? Im 
Wenn liegt die Annahme einer Bedingung und zwar hier eines 
unmöglichen Falles* In dieser Partikelkomplikation liegt eben 
der ganze Gedankengang einer Fiktion, Analysieren wir also 
weiter: Legen wir nun einmal das Wenn zugrunde, dann hiesse 
der Satz: Wenn es Infinitesimale gäbe, so wäre die krumme 
Linie als aus ihnen zusammengesetzt zu betrachten; oder: Wenn 
es Atome gäbe, so wäre die Materie als aus ihnen zusammen- 
gesetzt zu betrachten. Oder noch ein anderes Beispiel: Wenn 
der Egoismus die einzige Triebfeder des menschlichen Handelns 
wäre, so müssten sich die sozialen Verhältnisse einzig und 
altein aus ihm deduzieren lassen. 

Diese Bedeutung des „als ob* hat der sonst nicht gerade selir kennt- 
nisreiche Grün in der Schrift „Philosophie der Gegenwart*' richtig hervor- 
gehoben bei der ganz guten Behandlung der Freiheit nach Kant, pag. 210 1 



XXII. Analyse des „als ob' 



163 



„Es wurde in der Alternative Anker geworfen; ob uns reine Vernunft in 
Betreff dessen, was ich tun soll, etwa zu jenen Ideen führe, oder ob 
sie sich darauf beschränken müsse, zu bestimmen, was zu tun sei, wenn 
jene drei Ideen wirklich wären, als ob . . Man hat das bei Kant bis 
jetzt immer falsch verstanden, am schlimmsten Fries. Freilich hat Kant 
selbst damit angefangen, sich selbst misszuverstehen. 

In dem Konditionalsatz wird hier ein Unwirkliches 
oder Unmögliches gesetzt: nichtsdestoweniger lassen sich aus 
diesem Unwirklichen oder Unmöglichen diese oder jene Folge- 
rungen ableiten. Trotz der Unwirklichkeit oder Unmöglichkeit 
wird die Annahme aber doch formal aufrecht erhalten; sie wird 
als ein Apperzeptionsgebilde betrachtet, dem sich etwas sub- 
sumieren, aus dem sich etwas deduzieren lässt 

Was liegt nun in dem Wie wenn? in dem Als ob? Es 
muss doch wohl ausser der Unwirklichkeit und Unmöglich- 
keit der gemachten Annahme, welche der Konditionalsatz 
enthält, noch etwas darin stecken; die Partikel enthält offenbar 
noch den Entschluss, trotz dieser Schwierigkeiten die An- 
nahme formal aufrecfit zu erhalten. Zwischen dem Wie 
und dem Wenn, dem Als und dem Ob, dem comme und dem 
si, dem as und if, dem qua-si, liegt also ein ganzer sub- 
intelligierter Satz. Was heisst nun also: Die Materie muss 
betrachtet werden, wie wenn sie aus Atomen bestünde, als ob 
sie aus Atomen bestünde? — Das kann nichts anderes heissen 
als: die empirisch uns gegebene Materie muss so betrachtet 
werden, wie sie zu behandeln wäre, wenn sie aus Atomen 
bestehen würde. Oder: die krumme Linie muss so behandelt 
werden, wie sie zu behandeln wäre, wenn sie aus Infini- 
tesimalen bestünde. Oder: die sozialen Verhältnisse müssen 
so betrachtet werden, wie sie zu betrachten wären, wenn der 
Egoismus die einzige Triebfeder der menschlichen Handlungen 
wäre. Damit ist also die Notwendigkeit (oder Möglichkeit 
oder Wirklichkeit) einer Subsumtion unter eine unmögliche 
oder unwirkliche Annahme klar ausgesprochen, 

Sigwart war der Entdeckung der fiktiven Urteilsform sehr nahe; er 
führt pag. 191 [2 A. 231] die Stelle aus der Kritik d. r. V. § 9, 4 an, wo 
Kant sagt: „Solche Urteile können offenbar falsch sein und doch — 
problematisch genommen, Bedingungen der Erkenntnis der 
Wahrheit sein." Darin spricht Kant ganz das Wesen der Fiktion aus, 
verwechselt sie aber wieder sofort mit der Hypothese (dem problema- 
tischen Urteil). Daher hat Sigwart zwar recht, diese Ausdrucksweise Kants 
zu verwerfen, allein er übersieht, dass Kant hier die fiktive Urteilsform 

11* 



164 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. B. Logische Theorie der Fiktionen 

gemeint hatte, die er fälschlich unter die problematische stellt, 
sie doch eine eigene Art ist Kant zeigt, wie solche Urteile doch dienen 
können, um die Wahrheit zu finden; aber Kant versteht hierunter nur dit 
Aufstellung einer falschen Möglichkeit im disjunktiven Urteil (vgl. die 
Stelle bei Kant z. B.: ,Die Welt ist aus Zufall da"). Sigwart hebt richtig 
hervor, dass Kant hier zweierlei verwechselt, ob nämlich der Sprechende 
nichts behaupten könne (weil noch nicht zur Entscheidung gelangt) oder 
nicht wolle. Alllein der Sprechende entscheidet sich allerdings in der 
Fiktion: er behauptet die Unmöglichkeit und Unwirklichkeit des Ange- 
nommenen, nimmt es aber für einen Moment als giltig oder möglich an. 
Er will allerdings über die GUtigkeit im fiktiven. Urteil etwas behauptet 
haben. Also auch Sigwart hat das fiktive Urteil, die fiktive Behaup- 
tung noch nicht ausgeschieden aus den anderen Formen. 

Dasselbe Resultat ergibt natürlich auch die andere Form: 
als ob. Ob heisst im Mittelhochdeutschen wenn. Also: die 
Materie ist so zu betrachten, als sie zu betrachten wäre, „ob 44 
sie etc.; ebenso französisch — comme si, englisch — as if, 
griechisch — 6>g tl etc. 

Demnach wird in dieser Formel ausgesprochen, dass das 
gegebene Wirkliche, dass ein Einzelnes rerglichen werde mit 
einem Anderen, dessen Unmöglichkeit oder Unwirklich- 
keit zugleich ausgesprochen wird. Auf die Art des Kondi- 
tionalsatzes kommt es nun an, was für eine Fiktion hier speziell 
jedesmal stattfinde. Z.B. in der juristischen Fiktion lautet die 
Formel so: Dieser Erbe 1 ) ist so zu behandeln, wie er zu be- 
handeln wäre, wenn er vor seinem Vater, dem Erblasser ge 
storben wäre, d. h. er ist zu enterben. Oder ausgehend von 
wenn: Wenn die betreffende Person vor ihrem Vater gestorben 
wäre, so würde sie behandelt wie alle solche: sie würde nichts 
erben. Die betreffende Person ist gleich einer solchen, ganz 
wie eine solche zu behandeln, als solche zu behandeln. Es wird 
also hier zunächst eine Vergleichung ausgesprochen, d. h. die 
Aufforderung, eine vergleichende oder subsumierende Apperzep- 
tion zu vollziehen; ein solcher Satz sagt zunächst nichts anderes 
aus als z. B. der Satz: der Mensch ist wie ein Gorilla zu be- 
trachten, und warum? weil er eben ihm ähnlich ist. Ebenso 
in allen jenen Fällen: es wird die Aufforderung zu einer ver- 
gleichenden Apperzeption ausgesprochen; allein zugleich mit 
dieser Aufforderung wird nun in diesem Falle ausgesprochen, 



1) Nach römischem Recht wird ein unwürdiger Sohn oder Erbe so be- 
handelt, selbst wenn das Testament gar nichts davon sagt. 



XXII. Analyse des „als ob». 



165 



dass diese Vergleichung auf einer unmöglichen Bedingung 
beruht; anstatt sie aber nun zu unterlassen, wird sie aus 
anderen Gründen doch vollzogen. 

Nun erhellt auch zugleich die sprachliche Ähnlichkeit der 
Fiktion mit dem Irrtum und der Hypothese. 

Bekanntlich ist die grammatische Formel für den Irrtum 
genau dieselbe. Darum eben wird die Fiktion mit dem Irrtum 
so oft verwechselt. Man sagt z. B.: Descartes betrachtete die 
Vorstellungen Gottes und des Absoluten, als ob sie angeboren 
seien: allein dies ist ein Irrtum, u. s> w. Hier ist also in der- 
selben Formel der Irrtum markiert, der ja eben psychologisch 
auch ganz dieselbe Formation hat wie die Fiktion: die Fiktion 
ist ja nur ein bewusster, praktischer, fruchtbarer Irrtum. 
Hier wird dann aber freilich etwas anderes subintel Ii giert. 
Hier wird nicht ausgesprochen, dass die Vergleichung doch auf- 
recht zu erhalten sei, sondern sie wird als unbrauchbar zurück- 
gewiesen. Nun kann man aber auch drittens endlich die Wen- 
dung gebrauchen: betrachten wir die Vorstellungen „Gott* und 
„absolut* so, als ob sie angeboren wären, und versuchen wir 
daraus die Konsequenzen zu entwickeln zu dem Zweck, um jene 
Annahme zu prüfen: hier wird also die Annahme für einen 
Moment als gewagt betrachtet, als gültig sogar, aber nur zu 
Zwecken der Prüfung und des Beweises, bes. zur apagogischen 
Widerlegung. Formell geschieht hier dasselbe wie in der Fiktion: 
aber materiell hat die Annahme hier ja doch ganz anderen Wert 
und Bedeutung wie dort: bei der Fiktion wird die Annahme 
durchgeführt zu praktischen Zwecken, hier beim Widerlegungs- 
versuche, wird sie ad hoc für den Moment gleichsam in einer 
idealen Sphäre verwirklicht gedacht, um daraus Konsequenzen 
ziehen zu können. 

Diese Verwendung der Fiktion, eine rein logische ohne allen weiteren 
Wert, findet sich häufig bei Plato. Es ist keine strengwissenschaft- 
Hche Fiktion im engeren Sinn. Plato verwendet diese probeweise 
Aufstellung eines Satzes sowohl zur deductio ad absurdum, als zu posi- 
tiven Beweiszwecken in einer auch heute noch gebräuchlichen Form, die 
indessen mehr rhetorisch als logisch ist und jedenfalls für uns kein Inter- 
esse hat; sie hat höchstens psychologisches Interesse. 

Man sieht, wie viele feine Wendungen des Gedankens in 
dieser Partikelkomplexion gemacht werden, und wie sie zu ver- 
schiedenen Zwecken dienen kann. 



166 Erster Teil : Prinzipielle Grundlegung, B. Logische Theorie der Fiktionen. 

Aus der oben gegebenen Analyse geht aber auch wiederum 
die Verwandtschaft mit der Hypothese hervor. Die Form der 
Fiktion der Atome heisst also: die Materie muss so betrachtet 
werden, wie sie betrachtet werden würde, wenn es Atome gäbe, 
aus denen sie zusammengesetzt gedacht wird. Die Form der 
Hypothese in Bezug auf dieselbe Annahme aber hiesse: Nur 
unter der Voraussetzung, dass und wenn es Atome gibt, 
ist die empirische Erscheinung der materiellen Phänomene 
erklärbar. In dieser weitläufigeren Ausdrucksweise sieht man 
nun, wie weit beide Vorstellungsformen sich doch auch 
sprachlich unterscheiden. 

Es "ist indessen zu bemerken, dass auch die Hypothese und das 
problematische Urteil gelegentlich mit »als ob* ausgedrückt werden, 
nämlich nach dem Verbum: „scheinen": „Es scheint mir, als ob das 
oder das wäre". Diese Bezeichnung ist Ausdruck einer Vermutung, 
einer Hypothese. Trotz dieses sprachlichen Schwankens ist theoretisch 
doch eine haarscharfe Grenze zwischen Fiktion und Hypothese zu 
statuieren. 

Trotz dieser gelegentlichen Zweideutigkeit der Sprache ist 
der grammatische Unterschied zwischen Fiktion und Hypothese 
sehr bemerkenswert; Linn£ sagte nicht: die Pflanzenwelt ist 
objektiv eingeteilt nach meinen Arten; Leibniz sagte nicht: die 
krumme Linie besteht aus Infinitesimalen, und unsere modernen 
Naturforscher sagen auch nicht, soweit sie wenigstens einiger- 
massen philosophisch geschult sind: Die Materie ist aus Atomen 
zusammengesetzt Auch Kant hat niemals direkt gesagt: Die 
wahre Welt besteht aus einer Mehrheit freier intelligibler Wesen 
— sondern alle haben jenes „Als ob 44 eingeschoben, mochte dies 
nun wörtlich gebraucht sein, oder mit einer Umschreibung > wie 
z. B. Leibniz sagt, das Infinitesimale sei ein modus dicendi, Kant 
dagegen von einer Idee 1 ) spricht; unsere Naturforscher sprechen 
von Hilfsbegriffen, Hilfsvorstellungen u. s.w. In all diesen 
Ausdrücken, die sich durch Sammlung noch vermehren lassen, 
liegt eben das „Als ob" auf irgend eine Weise versteckt, und 
alle sind nur andere Formen der Fiktion und ihrer Ausdrücke. 
Sprachlich ist es also nicht leicht möglich, Fiktion und Hypo- 

I) Hier sieht man auch, wie richtig Aenesidem Kant beurteilt, indem 
er sagt, dieser habe gezeigt, dass man aus dem Gedachtwerdenmüssen 
nicht au! das Sein schliessen dürfe: d.h. Kant hat die Fikti vität der Vor- 
stellungsformen nachgewiesen. 

Sigwart nähert sich vielfach dieser Ausdrucksweise an. 



XXII. Analyse des „als ob*. 



167 



these zu verwechseln; und wenn jemals hier statt „dies muss oder 
kann betrachtet werden, als ob K — ,ist< steht, so ist dies eben 
entweder nur eine kompendiarische Ausdrucksweise 1 ) oder 
schlechthin ein Irrtum. Meistens bedienen sich aber alle Wissen- 
schaften des genaueren Ausdruckes. Kein Mathematiker sagt: 
Jede Fläche ist aus Dreiecken zusammengesetzt, sondern bei 
seinen trigonometrischen Grundlinien sagt er: Durch 
Ziehung von Hilfslinien kann jede Fläche als aus 
mehreren, vielen Dreiecken bestehend vorgestellt und 
behandelt werden. Auch de( vorsichtige Psychologe oder 
Jurist sagt nicht, der Mensch ist frei, sondern er sagt: Der 
Mensch muss, wenigstens im Rechtsleben und in der moralischen 
Beurteilung, so behandelt und betrachtet werden, als ob 
er frei wäre. 

Aus dieser verschiedenen sprachlichen Ausdruckweise können wir 
rückwärts schliessen auf die verschiedenen psychischen Zustände, welche 
diesen verschiedenen Modalitäten zu Grunde liegen. Die übliche Ein- 
teilung in drei Modalitäten erweist sich als sehr mangelhaft. Darauf 
haben Lotze und Sigwart bereits aufmerksam gemacht. Es gibt ver- 
schiedene Urteilsformen, einfache und zusammengesetzte. Einfach ist, 
wie Sigwart zeigt, nur das gewöhnliche assertorische Urteil; zusammen- 
gesetzt sind dagegen, ausser dem negativen, das problematische, und, 
fügen wir hinzu, auch das fiktive. Es ist sehr angezeigt, eine solche 
Urteilsform ganz neu aufzustellen; denn die fiktiven Annahmen sind 
auch in keiner Beziehung unter die hypothetische Urteilsform zu bringen, 
selbst nicht unter diejenige, welche lautet: „Wenn A gälte, so gälte B, 
obwohl auch hier eine Annahme mit dem ausgesprochenen Bewusstsein 
ihrer Ungültigkeit hingestellt wird." (Sigwart, Über das hypothetische 
Urteil, S. 37; vgl. Sigwarts Logik, I, S. 241«.) Das fiktive Urteil stellt also 
eine eigene Form des zusammengesetzten Urteils dar. 

Beim fiktiven Urteil, wie wir dieses zusammengesetzte Urteil 
nennen können, wird also die Möglichkeit oder Notwendig- 
keit einer Vergleichung, eines Urteils ausgesprochen, 
mit der gleichzeitigen Bemerkung, dass dieses Urteil aber nur 
subjektive Giltigkeit, keine objektive Bedeutung besitze; 
es ist leicht zu sehen, dass in den oben mitgeteilten sprachlichen 
Ausdrucksweisen wirklich das ausgedrückt ist: I. die Leugnung 
objektiver Giltigkeit, d. h. die Behauptung der Unwirklichkeit 
oder Unmöglichkeit des im Konditionalsatze Gesagten; 
2. eben die subjektive Giltigkeit, die Behauptung, dass 



1) Vgl. Sigwarts Theorie der sogen. Existentialsätze, Logik, 
1, pag. 93ff. 



168 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. B. Logische Theorie der Fiktionen. 

dieses Urteil doch subjektiv, für den menschlichen Be- 
trachter zulässig oder gar notwendig sei. 

Daraus geht denn auch hervor, dass das wissenschaftliche 
fiktive Urteil (im Unterschied von der ästhetischen Fiktion) erst 
auf einer hohen Stufe der menschlichen Geistesentwicklung 
auftreten konnte* Das fiktive Urteil hat sich im Wesentlichen 
erst in der modernen Zeit entwickelt, zugleich einerseits mit 
dem Fortschritt der Mathematik und Mechanik und Jurisprudenz, 
andererseits zugleich mit der Einsicht in den Tatbestand, dass 
nämlich objektives Geschehen oder Sein und subjektive 
Betrachtungsweise zwar häufig am Ende zusammentreffen im 
Resultate, aber doch nicht identisch sind, während das Alter- 
tum trotz setner Skepsis in erkenntnistheoretischer Naivität be- 
fangen war (hierüber s. u. Kap. XXXIII). Eine solch verwickelte 
Urteilskomplikation ist also erst in einer fortgeschrittenen 
Periode des Menschengeistes möglich. 

Es wäre interessant, nachzuweisen, wie im Laufe der Zeit die ver- 
schiedenen Urteüskomplikationen erst allmählich hervortreten: welche 
geistige Arbeit hat wahrscheinlich allein das hypothetische Urteil er- 
fordert zu seiner Bildung, welchen Aufwand an psychischer Kraft Es 
ist nicht ohne Bedeutung, dass die Theorie dieses Urteils erst spät auf- 
trat. Vgl. Sigwarts Programm; Zur Lehre vom hypothetischen Urteil, 
Tübingen 1873. 

Die vorhergehende logische Analyse erleichtert uns nun den Einblick 
in den eigentümlichen psychischen Stand, der bei jeder dieser Formen 
stattfindet. 

Im einfachen assertorischen, positiven U rt ei Hst der Apperzeptions- 
prozess vollzogen. Die apperzeptionsbedürftige Vorstellung ist ohne An- 
stand aufgenommen in den Kreis der apperzipierenden Gruppe. Beim 
negativen Urteil ist die Bitte einer apperzeptionsbedürftigen Vorstellung 
um Aufnahme in die apperzipierende Gruppe rundweg abgeschlagen; war 
die Apperzeption schon einigermassen vorgenommen, so wird sie wieder 
zurückgenommen. Beim problematischen Urteil ist die Aufnahme als 
möglich hingestellt, aber die definitive Aufnahme ist sistiert, bis neue Zeug- 
nisse eingegangen sind über die Beschaffenheit der aufzunehmenden Vor- 
stellung. Bei dem fiktiven Urteil dagegen ist die Aufnahme vollzogen. 
Der zu apperzierende neue Bestandteil ist gleichsam per adoptionem in 
die apperzipierende Vorstellungsfamilie aufgenommen. 

Hieraus ergibt sich auch wieder die psychologische Differenz zwischen 
Hypothese (= problematisches Urteil) und Fiktion: dort ist die Apperzep- 
tion nur vorläufig als möglich hingestellt, hier aber per nefas vollzogen. 

Inbetreff der sprachlichen Bezeichnung ist noch Folgendes zu bemerken : 
die Partikelkomposition „als ob" wird auch häufig für Hypothesen ange- 
wendet; z. B. „mir scheint es, als ob es so kommen würde*. Dieses 
hypothetische „als ob* folgt aber nur auf „scheinen", „meinen" und ahn- 



XXIII, Andere Ausdrücke für „Fiktion", 169 

liehen Ausdrücken. Das fiktive »als ob* dagegen setzt den Satz voraus, 
„das muss so betrachtet werden, als ob* u. s. w. Es ist ja auch sonst 
bekannt, wie nachlässig die Sprache mit den Partikeln ist (vgl. Sigwart, 
Logik, I, S, 238) 



Kapitel XXIII. 
Sammlung anderer Ausdrücke für „Fiktion".*) 

Nachdem wir die verschiedenen sprachlichen Ausdrucks- 
weisen für die Fiktionen kennen gelernt haben, wird es auch zweck- 
dienlich sein, die verschiedenen Bezeichnungen zusammen- 
zustellen, unter denen bisher die Fiktion behandelt worden ist, 
und mit denen sie mehr oder minder richtig und treffend getauft 
worden ist. Es ist eine recht ansehnliche Anzahl solcher Be- 
zeichnungen, unter denen uns mehrere schon begegnet sind. 
Häufig nennt man sie, mit einfacher Übersetzung des lateinischen 
Terminus, Erdichtungen, Einbildungen, Hirngespinnste, 
Phantasien, phantastische Begriffe, Imagination, ima- 
ginäre Begriffe. Man spricht auch von Quasidingen oder 
auch von Quasibegriffen. So hat man schon Kants Ding an 
sich ein Quasiding genannt = ein fingiertes, fiktives Ding, In- 
dessen versteht man darunter bald einen irrtümlichen Begriff 
oder eine irrtümliche Bezeichnung, bald eine wissenschaftlich 
wertvolle Fiktion. Im letzteren Sinne gebraucht besonders die 
Jurisprudenz gelegentlich die Zusammensetzung mit quasi; so 
spricht man von einem Quasikontrakt (Krug, Philos. Wörter- 
buch III, 405, und Supplement II, 200). Solche Kontrakte be- 
ziehen sich auf Rechtsverhältnisse, die zwar wegen einer gewissen 
Ähnlichkeit nach Analogie von Verträgen beurteilt werden, aber 
doch im Grunde auf keinem wirklichen Vertrag beruhen, z. B 
Vormundschaften oder Geschäftsführungen ohne eigentlichen Auf- 
trag. Man spricht in der Jurisprudenz auch von Quasi- Affi- 
nität, Quasi-Delictum, Quasi-Possession. (Vgl. Kapitel V: 
Juristische Fiktionen, S. 46ff.). Andere Bezeichnungen sind 
von dem Merkmal der Hilfe hergeholt, die sie dem Denken 
'eisten: Hilfsbegriffe, Hilfsworte, Hüfsoperationen, Not- 
behelfe, Hilfsmittel; speciell: Hilfslinien, Hilfseintei- 

*) im US. = § 34. 



170 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. B. Logische Theorie der Fiktionen 



lungen, Hilfsmethoden, Hilfsvorstellungen, Hüfssätze: 
andere Benennungen sind hergenommen von dem Merkmal des 
kunstreichen, ingeniösen Verfahrens: Handhaben, Kunstgriffe 
Kniffe (besonders in der Mathematik), kunstliche Begriffe. 
Kunstbegriffe, künstliche Methoden, erkünstelte Begriffe 
(so z. B, Hoppe), Kriegslisten, listige Umgehung, Um- 
wege, Schleichwege, Laufgräben, Fusswege u. s.w. Andere 
Bezeichnungen stammen von der Funktion derselben: so Ver- 
mittlungen, Mittelbegriffe, Brücken, Stützen, Leitern, 
Krücken, Surrogate, Substitutionen, Suppositionen, Ge- 
rüste u. s. w. Ausserdem noch eine Reihe anderer Bezeich- 
nungen: Chimären, Missbegriffe (Dühring), AushiUsbegrifie. 
Auxiliär-Begriffe und -Methoden, Durchgangspunkte für 
das Denken 1 ), Mittel (zu theoretischen oder praktischen Zwecken), 
willkürliche Begriffe, Spielbegriffe (so v. Kirchmann), 
Lügenbegriffe, zweifelhafte Begriffe, unberechtigte Me- 
thoden, Schemata, provisorische Begriffe, heuristische 
Begriffe, vikariierende, substitutive Begriffe, Vorläufig- 
keiten (Dühring), technische Begriffe und Methoden, regu- 
lative Begriffe, Regeln (so Lotze), Hilfshypothesen u.s.w. 
Ferner: Scheinbegrifie (Lambert) 

DenWiguien (Lotze) 

Modus dicendi (Leibniz) 

„blosse Idee" (Kant) 

Interimsbegriff \ 

Rechenmarke / Lehmann) 

Grenzbegriffe 

theoretische Begriffe 

Umwege h 

Seitenwege 

Hiifsseii (Grün) 

Anhaltspunkte der Forschung 

Provisorische Annahmen 

Mittel zur Orientierung 

Verrückungen der Phantasie 

falsche Gliedmassen 

Einkleidung 

Mystizismus 



(Langel 
(Dühring) 



1) So Drobisch, Logik, 3. AuiL, S. 65 u. \93, nebst sehr bemerkens- 
werten Äusserungen über den Begriff des Unendlichkleinen und ähnliche Be- 
griffe, als Mittel zu bestimmten Zwecken unentbehrlich, gleichwohl aber von 
inneren Widersprüchen nicht zu befreien; auch Newton habe die actio in distans 
nur als Fiktion {mathematüm ameeptus) geJasst, als .blossen Hilfsbegriff*. 



XXIII. Andere Ausdrücke rür „Fiktion", 171 

Superstition \ 
Zurüstungen i (Dühring.) 
Vermittlungen J 

Weitere Ausdrücke: 

Begriffsformeln 

Nützliche Illusionen (Hellwald) 
Gedankenkrücken (Drobisch) 
Vehikel des Verstandes (sehr häufig). 
Sehr häufig spricht man auch, besonders in der Mathematik, von 
.Finten" des Denkens. Finte ist nach Grimm (Wörterbuch III, 1641) 
ein im 17. Jahrhundert ins Deutsche eingedrungener romanischer Aus- 
druck, italienisch und spanisch = finta, französisch = feinte von 
feindre, Stamm fingere, und ist also identisch mit „Fiktion* 1 . Offenbar 
ist Finte das beste deutsche Wort für Fiktion und bezeichnet das Erfin- 
derische, Schlaue, welches in der logischen Funktion sich zeigt, welche 
wir oben als eine organische und darum zwecktätige Funktion beschrieben 
haben. Auf dem Unterbau dieser Betrachtung der logischen Funktion als 
einer organisch zwecktätigen Kraft erhebt sich das Ganze unserer Unter- 
suchung, und immer mehr tritt diese Seite in der logischen Tätigkeit in 
den Vordergrund. „Finte* ist nach Grimm a. a. O. simulatio, dolus, 
m ach i n a; besonders das letztere ist bezeichnend für die logische Funktion : 
liegt doch in diesem Wort das Künstliche, der „listige Kunstgriff"; 
mx a »n ^t das Werkzeug, das Instrument, die Kunstfertigkeit, das Kunst- 
mittel. Die Fiktion ist ein zweckmässiges Denkinstrument, ein r Denk- 
'mitte!*, ein Kunstgriff. 

Diese annähernd vollständige Sammlung von Bezeichnungen 
für die Fiktionen beweist, wie wichtig sie doch stets gegolten 
haben, und wie bisher eine eigentlich zentrale Benennung gefehlt 
hat, welche hiermit mit dem Worte: Fiktion einzuführen ge- 
sucht wird. 



Kapitel XXIV, 
Die Hauptmerkmale der Fiktionen.*) 

Ehe wir einen vorläufigen Versuch einer logischen Theorie 
der Fiktionen selbst geben wollen, sind noch die allgemeinen 
Merkmale jeder Fiktion festzustellen; aus diesen Merkmalen 
wird sich die logische Theorie teilweise ableiten lassen. Die 
meisten Merkmale sind schon gelegentlich zur Sprache ge- 
kommen. 



*) Im MS. — § 35. 



172 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. B. Logische Theorie der Fiktionen 

In den Semifiktionen ist stets eine willkürliche Ab- 
weichung von der Wirklichkeit, also ein Widerspruch rni: 
derselben auffallend, der bei den echten Fiktionen sich zum 
Selbstwiderspruche steigert. Der Widerspruch mit der Wirk- 
lichkeit zeigt sich sowohl in der Fassung der bezüglichen Be- 
griffe oder Urteile selbst, also in den Prämissen, die mi: 
anderwärts bekannten Tatsachen, Gesetzen und Erscheinungen 
disharmonieren, als auch in den aus diesen Begriffen und 
Urteilen abgeleiteten weiteren Konsequenzen; diese stehen 
mit der unmittelbaren Wirklichkeit stets im Widerspruch, der 
zwar häufig latent ist, aber bei tiefergehender Analyse zutage 
kommen muss. Bei den echten Fiktionen zeigt sich der Selbst- 
widerspruch besonders in Antinomieen, welche aus denselben 
entstehen (vgl Kants Antinomieen über das Unendliche; Kant 
wies eben daraus nach, dass der unendliche Raum subjektiv, in 
unserer Sprache also fiktiv sei). Wo also in der .Geschichte 
der Wissenschaften gegen hervorragende Leistungen der Vorwurf, 
dass sie sich selbst widersprechen, erhoben worden ist, darf man 
stets hoffen, in der Hälfte der Fälle auf wertvolle Fiktionen 
zu stossen: so bei Leibniz und Newton, bei der Atomistik 
u- s. w. Wo aber mehr der Widerspruch mit der Erfahrung 
betont ist, hat man es in vielen Fallen eben mit Semifiktionen 
zu tun, z, B. bei Linnö, bei Adam Smith u, A. 

Dieses erste Merkmal ist identisch mit dem Symptom der Gewalt- 
samkeit einer solchen Annahme. Nicht die Willkür allein, sondern auch 
die Gewaltsamkeit der Annahmen ist ein besonderes Merkmal der Fik- 
tionen. Man muss dabei nicht bloss der Wirklichkeit, sondern (bei der, 
echten Fiktionen) auch dem Denken selbst Zwang antun. Der Willkür 
mit welcher das Denken schaltet, entspricht die Gewalt, welche sie der 
Wirklichkeit und dem logischen Gesetze des Widerspruchs antut. 

Dies finde ich bestätigt z. B. in Bezug auf die Fiktion des Ailgemein- 
begriHs bei Flügel, Probleme der Philosophie 136: „Die logischen Be- 
griffe sind in Wirklichkeit niemals fertige, abgeschlossene Vorstellungen, 
sondern mehr Forderungen an das Denken, logische Ideale, welche, je 
höher die Abstraktion getrieben wird, dem Denken um so 
mehr Zwang auferlegen!" 

Nun kann dieser Zwang an und für sich kein Grund sein, solche 
Fiktionen zu verwerfen, wie man häufig meint, indem man darauf hinweist, 
diese oder jene Vorstellung sei gezwungen und gewaltsam. Nicht hier 
liegt das Kriterium einer brauchbaren Vorstellung, sondern in der Zweck- 
mässigkeit 

Ein zweites Hauptmerkmal ist, dass diese Begriffe, sei es 
historisch wegfallen, sei es logisch wieder ausfallen. Jenes 



XXIV. Die Hauptmerkmale der Fiktionen. 



173 



gilt für die Semifiktionen, dies für die echten; natürlich: ist ein 
Widerspruch gegen die Wirklichkeit da, so kann die Fiktion eben 
nur Wert haben, wenn sie provisorisch gebraucht ist, bis die 
Erfahrungen bereichert sind, oder bis die Denkmethoden so ge- 
schärft sind, dass jene provisorischen Methoden durch definitive 
ersetzt werden können. Darum muss auch — dies gehört in- 
dessen schon zur logischen Theorie — stets bei dem Gebrauch 
der Semifiktionen eine Korrektur eintreten: denn ohne eine 
solche wären sie ja nicht anwendbar auf die Wirklichkeit. Dies 
zeigt sich nicht nur ganz klar in der Mathematik, sondern 
auch in allen anderen Fällen, sei es, dass diese Korrektur auch 
nur in der Bemerkung besteht, dass man sich hüten soll, das 
aus der Fiktion theoretisch Abgeleitete unmittelbar mit der Wirk- 
lichkeit zu verwechseln. Ebenso folgt der Ausfall der echten 
Fiktionen im Laufe der Denkrechmmg notwendig aus dem 
Merkmal des Widerspruchs — denn schliesslich wollen wir zu 
widerspruchslosen Resultaten gelangen: widerspruchsvolle Be- 
griffe können also schliesslich nur zur Elimination da sein; 
ausserdem ergibt ja auch die Tatsache, dass trotz dieser wider- 
spruchsvollen Begriffe richtige Resultate im Rechnen und 
Denken erreicht werden, dass jene Fiktionen auf irgend eine 
Weise beseitigt und die in ihnen begangenen Widersprüche 
rückgängig gemacht werden müssen. 

Das dritte Hauptmerkmal einer normalen Fiktion ist das 
ausdrücklich ausgesprochene Bewusstsein, dass die Fik- 
tion eben eine Fiktion sei, also das Bewusstsein der Fiktivität, 
ohne den Anspruch auf Faktizität. Ich sage indessen: einer 
„normalen«; dies Merkmal trifft nur zu bei solchen Fiktionen, 
wie sie sein sollen. Wir sahen aber schon, dass in der histo- 
rischen Entwicklung der Wissenschaften dieser Fall relativ selten 
ist, so dass bei den ersten Urhebern einer Fiktion immer 
ein Schwanken zwischen Fiktion und Hypothese stattfindet; das 
erklärt sich einfach daraus, dass der natürliche Mensch das Ge- 
sagte unmittelbar für natürlich und wirklich nimmt; 1 ) und an- 
fänglich nimmt er nicht nur die Begriffe des Denkens für Re- 
präsentanten der Wirklichkeit, für wirklich an, sondern 
ursprünglich hält er auch die Methoden und Wege des Denkens 
für identisch mit den Wegen und Gesetzen des Seins — ein Irr- 
tum, den grosse Philosophen dann kanonisiert haben« Im Laufe 

1) Cfr. Sigwart, Logik l r pag. 100. 



174 Erster Teil: Prinzipiell« Grundlegung. B. Logische Theorie der Fiktioner. 

der Zeit aber merkt man zuerst, dass die subjektiven Methoder. 
doch ganz verschieden sind vom objektiven Geschehen. Aus 
diesen Gründen schwanken also häufig die ersten Urheber solche: 
Fiktionen. Bei Linrte und bei vielen Mathematikern ist da= 
Bewusstsein der Fiktivität solcher Begriffe und Methoden seh: 
lebhaft. Schwanken dagegen war bei Newton und Leibni: 
Bei einer grossen Anzahl von Fiktionen aber tritt der oben ge- 
schilderte Fall ein, dass sie zuerst als Hypothesen aufgesteK: 
werden, und dass sich erst allmählich das Bewusstsein ihrer fiktiven 
Bedeutung herausbildet Ausserdem sehen wir ja auch, wie 
diesem historischen Übergang beider Formen in einander nich: 
nur eine psychologische Verwandtschaft, sondern auch ein 
logischer Übergang entspricht. 

Ein weiteres wesentliches Merkmal der Fiktionen, d. h. de: 
wissenschaftlichen, ist, dass sie Mittel zu bestimmten Zwecker. 
sind; also ihre Zweckmässigkeit. Wo eine solche nicht zu 
sehen ist, da ist die Fiktion eben unwissenschaftlich. Wenn alsc 
Hume die Kategorien Fiktionen nennt, so hat er damit zwar 
faktisch das Richtige erkannt, allein sein Begriff der Fiktion 
war ein ganz anderer als der unsrige. Sein Begriff der v fictio?< 
of thought" ist, dass diese Gebilde bloss subjektive Einbildungen 
seien; unser Begriff (entlehnt aus dem Gebrauch der Mathematik 
und Rechtswissenschaft) schliesst ein, dass sie zweckmässige 
Einbildungen seien. Hierin liegt eigentlich der Schwerpunk: 
unserer Auffassung, durch den sie sich von den bisherigen Auf- 
fassungen wesentlich unterscheidet Das Wesentliche an de: 
Fiktion nach unserer Auffassung ist nicht etwa, dass sie, wie 
manche meinen, eine „unsichere Hypothese* sei, was ganz falsch 
ist, aber auch nicht bloss, dass sie eine bewusste Abweichung 
von der Wirklichkeit, eine blosse Einbildung sei, — sondern wir 
betonen die Zweckmässigkeit dieser Abweichung, Die Zweck- 
mässigkeit bildet auch den Übergang von dem reinen Subjek- 
tivismus eines Kant zu dem modernen Positivismus. Wenn man 
lediglich sagt: Die ganze Welt ist unsere Vorstellung, alle 
Formen sind subjektiv, — so wird dadurch ein haltloser Subjek- 
tivismus erzeugt. Sagt man aber: Die Vorstellungsformen 
und Fiktionen sind zweckmässige psychische Gebilde, 
so werden diese selbst enge mit den „ kosmischen Agentien und 
Konstituentien" (Laas) verbunden, indem ja diese selbst jene 
zweckmässigen Formen in den organischen Wesen hervortreiben 



XXV. Allgemeine Theorie der Fiktionen. 



175 



Diese vier Hauptmerkmale gentigen vollständig, um die 
Fiktionen von den Hypothesen zu unterscheiden. Mit diesem 
.Steckbrief" wird man sofort jede Fiktion erkennen und reko- 
gnoszieren können, und wenn man das weite Gebiet der Wissen- 
schaft durchstreift, wird man voraussichtlich noch manche Fiktion 
entdecken, welche wir nicht aufgezählt haben. 



Kapitel XXV. 

Versuch einer allgemeinen Theorie der fiktiven 
Vorstellungsgebilde.*) 

Nach diesen Vorausschickungen können wir uns nun daran 
wagen, zunächst eine allgemeine Theorie aller Fiktionen 
zu entwickeln; die Theorie der einzelnen Fiktionen dagegen, 
d. h. die Theorie dieser speziellen Methoden muss der Spezial- 
diskussion vorbehalten bleiben. Hier handelt es sich um eine 
Behandlung en bloc, um die Feststellung der allgemeinsten 
Grundzüge der Methodologie der Fiktion, die freilich schon in 
ihren wesentlichen Teilen in dem bisher Gesagten, mehr oder 
minder offen auf der Hand liegend, enthalten ist. 

Das Denken macht Umwege: dieser Satz enthält das 
eigentliche Geheimnis aller Fiktionen; und es handelt sich 
für die logische Betrachtung vor allem darum, diese Umwege 
streng zu trennen von den eigentlichen Ausgangs- und Ziel- 
punkten des Denkens, während die Fiktionen eben nur Durch- 
gangspunkte des Denkens, keineswegs des Seins, sind. Wir 
haben schon mehrfach darauf hingewiesen, dass zwischen den 
beiden Punkten der Empfindung und Bewegung (die aber auch 
schliesslich auf Empfindung zu reduzieren ist) die ganze Vor- 
stellungswelt, das ganze subjektive Begriffsgebäude des 
Menschen mitten drinnen liegt. Freilich, sahen wir, ist die 
Beurteilung eines Begriffes, einer Methode als Fiktion, als fiktiv, 
relativ: in Bezug auf eine für Wirklichkeit angenommene Vor- 
stellungsweise ist eine andere Vorstellungsweise fiktiv, während 
jene selbst dann in Bezug auf eine andere auch wiederum für fiktiv 
erklärt werden muss. Es ist eben eine stetig und all mäh lieh 



*) Im MS. = § $6. 



176 Erster Teil : Prinzipielle Grundlegung. B. Logische Theorie der Fiktionet 

ansteigende Verfälschung der Wirklichkeit durch das 
Denken zu konstatieren, so, dass auf Einem Punkte das Vorher- 
gehende als Wirklichkeit gilt, während es doch selbst schor 
schliesslich in Fiktionen wurzelt» 

Die eigentlich letzte logische Erkenntnis in Bezug auf d;e 
Fiktionen ist und bleibt die Betrachtung derselben als Durch* 
gangsp unkte des Denkens. Wir haben aber auch das ganzt 
Denken selbst mit all seinen Hilfsapparaten, Instrumenten unc 
Denkmitteln, also das ganze theoretische Tun der Menscher, 
für einen blossen Durchgangspunkt erklärt, dessen endliches 
Ziel die Praxis ist, sei es nun das ordinäre Handeln oder 
ideal geiasst die ethische Handlungsweise. Wir modifizieren 
also hier den Grundgedanken der Fi cht eschen Philosophie zu 
unserem vorliegenden Zwecke. Die Begriffe sind als Durch- 
gangspunkte gleichsam die Scharniere, durch welche die Ver- 
bindung der Empfindungen hergestellt wird; die ganze Be- 
griffswelt ist ein System solcher Scharniere, solcher mecha- 
nischen Vorrichtungen, um die Empfindungen passend in 
Verbindung zu setzen. Diese ganze Vorrichtung in der Seele ir 
zu vergleichen mit jenen mechanischen Vorrichtungen, welche 
wie z. B. der Potenzenflaschenzug, den Vorteil gewähren, 
mit geringer Kraft grosse Lasten zu heben. In der Seele 
werden denn auch die eingetretenen Empfindungen vermittels: 
dieser mechanischen Einrichtungen so verwertet, um immer 
grössere Vorteile und Kraftersparnisse zu erzeugen. Ist doch 
auch das ganze Gehirn mit seinen verschiedenen Ganglien ein 
ähnlicher Apparat, durch den die einfachen Empfindungen in 
ihrer Kraft gesteigert, potenziert werden, um in dieser ver- 
arbeiteten Gestalt, in dieser verdichteten Form viel grössere 
logische und praktische Arbeitsleistungen zu ermöglichen. 
Man muss nur energisch mit dem Vergleich der psychischer 
Vorgänge mit mechanischen Vorgängen Ernst machen, nich: 
nur mit mechanischen Vorgängen in dem Sinn rein physika- 
lischer Phänomene, sondern auch in dem Sinn, in welchem die 
Mechanik die mechanischen Vorrichtungen zur Ausnützung und 
Kraftsteigerung, also z. B. Hebel, Rolle, Schraube, schiefe 
Ebene u. s. w. betrachtet In der Mechanik des Geistes finder 
ähnliche Vorgänge statt. Die psychischen Vorgänge sind nich: 
bloss in dem Sinne mechanisch, dass sie mit gesetzlicher Not- 
wendigkeit erfolgen, dass die Verbindungen, Verschmelzungen 



XXV. Allgemeine Theorie der Fiktionen. 



177 



und Apperzeptionen mechanisch vor sich gehen (auch das orga- 
nische geht mechanisch vor sich; darum ist unser Vergleich der 
logischen Funktion mit einer organischen Funktion dadurch nicht 
zurückgenommen oder desavouiert), sondern sie folgen auch in 
dem Sinne den Gesetzen ihrer eigenen, spezifischen Mechanik, 
als durch solche mechanischen Vorrichtungen, wie sie auch die 
physische Mechanik kennt, die elementaren, von der Natur dar- 
gebotenen Kräfte verarbeitet und verwertet werden. Die Psyche 
ist also nicht aHein in dem Sinne eine Maschine, als in ihr alles 
nach psychomechanischen und psychochemischen Gesetzen 
vor sich geht, sondern auch in dem Sinn, dass durch diese 
mechanischen Vorgänge die natürlichen Kräfte gesteigert 
werden. Eine Maschine ist eine solche Vorrichtung des prak- 
tischen Mechanikers, durch welche eine verlangte Bewegung 
mit dem geringsten Kraftaufwande ausgeführt wird. 
Dies Erfordernis erfüllt die menschliche Psyche, unter dem 
Gesichtspunkt einer psychischen Maschine betrachtet, in hohem 
Grade; darum eben ist sie zweckmässig. Die verlangte Leistung 
der menschlichen Psyche ist die Bewegung im weitesten Sinne 
des Wortes: zunächst die rein äusserliche Bewegung, zunächst 
in erster Linie die Reflexbewegung, sodann die willkürlichen 
Bewegungen zum Zwecke der Erhaltung des Organismus. Die 
ganze psychische Maschine nun ist zu betrachten als eine in 
den Organismus hineingesetzte kraftersparende Maschine, als 
eine Vorrichtung, welche den Organismus befähigt, seine Be- 
wegungen möglichst zweckmässig, d.h. rasch, elegant und 
mit geringstem Kraftaufwand zu vollziehen. 

Wie nun aber eine Gesamtmaschine wiederum aus ein- 
zelnen Teilmechanismen zusammengesetzt ist, welche inner- 
halb dieser Maschine dieselbe Aufgabe haben, wie die ganze 
Maschine im Zusammenhang eines Komplexes von Erscheinungen, 
so ist dies ähnlich auch der Fall in der Psyche. Die einzelnen 
Handlungen der Psyche sind wieder ebenfalls unter demselben 
Gesichtspunkt zu betrachten, als kraftersparende Mechanis- 
men, welche die abverlangte Leistung möglichst rasch und 
zweckmässig vollziehen. Und auch dies ist endlich zu be- 
rücksichtigen, dass wie der Mensch seine Maschinen immer mehr 
vervollkommnet, so dass sie die abverlangte Leistung immer 
rascher, besser, zweckmässiger und immer mit grösserer Kraft - 
ersparnis vollziehen — man denke nur an die Geschichte der 

12 



178 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. B. Logische Theorie der Fiktionen. 

Entwicklung der Dampfmaschine — dass so auch die Psyche 
ihre Mechanismen immer mehr vervollkommnet. Nun könnte 
man sagen, jenes sei willkürlich, dies aber gehe unwillkür- 
lich zu: allein erstens ist dies kein Einwand, und zweitens ist 
es falsch; die Psyche vervollkommnet ihre Mechanismen aller- 
dings zum grossen Teil unbewusst und organisch, wie wir 
am Anfang sahen, aber doch ist die ganze moderne wissenschaft- 
liche Entwicklung nichts als eine bewusste Vervollkomm- 
nung des Denkinstrumentes und seiner Mechanismen: 
es ist aber auch, wenn es wahr wäre, kein Einwand: denn dann 
haben wir sofort den Vergleich mit der allmählichen Adap- 
tion der Organismen an ihre äusseren Bedingungen zur Hand; 
und was ist diese Adaption und allmähliche Vervollkommnung 
des Organismus Anderes, als eine stetige Verbesserung ihrer 
Organe und Mechanismen, um die abverlangte Leistung: leben- 
erhaltende Bewegungen — möglichst rasch, elegant und 
sicher auszuführen. Die Brücke zwischen der psychischen und 
der physischen Vervollkommnung ist freilich für die Theorie nicht 
geschlagen: allein das sieht auch der eingefleischte Skeptiker, 
dass unbeschadet der scheinbaren Ausnahme Verfeinerung des 
Gehirns vollständig identisch ist mit Ausbildung der 
Psyche. 

Also die Psyche ist eine stets sich selbst vervollkomm- 
nende Maschine, welche den Zweck erfüllt, möglichst sicher 
und rasch und mit geringstem Kraftaufwand die lebenerhalten- 
den Bewegungen des Organismus auszuführen: Be- 
wegungen im weitesten Sinn, als schliessliche Zielpunkte aller 
Handlungen. In Empfindungen wurzelt all unser geistiges Leben 
und in Bewegungen gipfelt es; was dazwischen ist, ist reiner 
Durchgangspunkt Die allmähliche Vervollkommnung de: 
Denkmaschine ist z. B. klar ausgedrückt in dem Gesetz der Ver- 
dichtung der Ideen, durch welchen psychomechanischen 
Vorgang die Raschheit und Sicherheit und Leistungsfähigkeit der 
Vorstellungen wesentlich erhöht wird. Dieser Vorgang lässt sich 
vergleichen z. B. mit der Leistungsfähigkeit eines zusammenge- 
pressten Dampfes, dessen Leistung um so grösser ist, je grösser 
die sogenannte „Tension* 4 , Spannung desselben, ist. Die Konden- 
sation ist in der psychischen Maschine von derselben Wichtig- 
keit wie in den Maschinen der körperlichen Mechanik» Au: 
einen Kondensationsvorgang ist die ganze Begriffsbildung 



XXV. Allgemeine Theorie der Fiktionen. 179 

zurückzuführen, durch welche Verdichtung eben die Leistungs- 
fähigkeit wesentlich erhöht wird. Man darf hierbei nur nicht 
vergessen, dass nicht die Maschine selbst die Hauptsache ist, 
sondern ihre Leistung. So auch bei der Psyche und ihren ein- 
zelnen Maschinen: die letzte Tendenz ist die Erreichung zweck- 
mässiger Bewegungen oder idealer ausgedrückt: ethischer Hand- 
lungen. Man gewinnt neuerdings einen schärferen Blick für 
den Unterschied der Maschine und ihrer Leistung; dessen, was 
nur als Mittel zur Erreichung eines Zweckes zu dienen hat, 
von diesem Zweck selbst. Auch bei der Psyche ist es so, und 
unsere so fremdartig erscheinende Betrachtungsweise ist nur die 
exakte Fassung dessen, was Kant, Herbart, Schopenhauer 
auf andere Weise ausdrückten. Auch im Leben kommt es vor, 
dass man die Mittel überschätzt und sie über die Zwecke stellt: 
dadurch entstehen Leidenschaften und Irrtümer und — Ideale: 
genau so ist es in der Wissenschaft: die Begriffe als Selbst- 
zweck hinzustellen, ist ein Irrtum, eine theoretische Leidenschaft, 
und schliesslich dient eben alles Theoretische nur als Mittel 
dem Praktischen. Sobald man mit dieser von Kant und Fichte 
gefundenen Einsicht einmal wirklich Ernst macht, erhellen sich 
auf einmal eine ganze Reihe von Dunkelheiten und Problemen. 

Wie man nun aber, wie schon bemerkt, die Maschine selbst 
wieder in einzelne Teile und Mechanismen zerlegen kann, 
und wie man dann die ganze Tätigkeit der Maschine als den 
Zweck betrachten kann, dessen Erfüllung der Teilmechanismus 
erleichtert (Zweck ist also ein Relatives), — so kann man auch 
das Denken, die Denkmaschine wieder zerlegen in ihre ein- 
zelnen Teile, und die ganze Tätigkeit der Denkmaschine als 
Zweck betrachten, dem die einzelnen Vorrichtungen dienen. 

Diese zwei Betrachtungsweisen, welche wir schon einmal 
auf eine ähnliche Weise gerechtfertigt haben, durchziehen auch 
unsere bisherigen Untersuchungen: die logische Funktion selbst 
betrachten wir als Mittel zu praktischer Tätigkeit, und 
zweitens betrachten wir hinwiederum die einzelnen Ver- 
richtungen des Denkens unter dem Gesichtspunkt einer Er- 
leichterung der Qesamttätigkeit des Denkens, welche für 
jene Verrichtungen und Vorrichtungen ebenso der eigentliche 
Zweck, die eigentliche Funktionsaufgabe ist, wie das Denken 
seinerseits selbst wieder ein Höheres und Anderes zum Zwecke 
hat, dem es als Mittel dienen soll. 

12» 



180 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. B. Logische Theorie der Fiktionen 



Unsere bisher ausgeführte Betrachtungsweise, so fremdartig 
und vielleicht gezwungen sie erscheinen mag, überträgt übrigens 
bloss eine Anschauungsweise in das Psychische, welche den 
Physiologen schon seit geraumer Zeit in Bezug auf die 
organischen Leistungen des Gehirns geläufig ist, insbe- 
sondere seit der durch das Gesetz der Erhaltung der Kraft 
ermöglichten tieferen und richtigeren Einsicht in die Vorgänge 
des Organismus. Und ausserdem Jütart unsere Betrachtungsweise 
nur dasjenige speziell aus und macht Ernst mit einem Ge- 
danken, der sich schon bei Kant, Herbart, Fichte, Schopen- 
hauer findet. 

Die logische Theorie der Fiktionen ist also nichts als eine 
ausgeführte Mechanik des Denkens oder, um die beiden Be- 
deutungen der Mechanik nicht zu konfundieren, eine Maschinen- 
lehre des Denkens, eine Technologie der logischen Funk- 
tion. Nun kommen wir wieder — zur Bestätigung unserer 
Auffassung — zu der Aufgabe der Methodologie von einem ganz 
anderen Gesichtspunkte aus zurück, als wir ihn in der Einleitung 
inne hatten. Also eine Methodologie des Denkens, de- 
logischen Funktion hat eine Technologie, eine Lehre vor 
den Denkmitteln, den Denkmaschinen und Denkorganer 
zu sein, durch welche der Zweck des Denkens immer rascher, 
schneller und sicherer erreicht wird. 

Nun wird uns aber auch der Ausdruck: „Durchgangs- 
punkte des Denkens" klarer, wenn wir diesen Ausdruck mit de: 
mathematischen Bedeutung dieses Ausdruckes vergleichen. Eine 
Reihe geht z. B, durchs Unendliche hindurch. Was heiss: 
das? Oder man sagt: Das Imaginäre ist der Durchgangs- 
punkt für die Rechnung. Das heisst also: Diese Begriffe ver- 
mitteln die verschiedenen Denkreihen. Etwas Anderes 
heisst der „Durchgangspunkt" auch in jenem Ausdruck nicht: 
die Denkmittel seien „Durchgangspunkte*: sie vermitteln die 
verschiedenen Denkreihen; und wenn wir schliesslich das 
Denken und die ganze Vorstellungswelt selbst einen blossen 
Durchgangspunkt heissen, so heisst dies eben auch nur, das? 
diese Vorstellungswelt die verschiedenen Empfind ungsreihec 
passend vermittle. Wie z.B. eine mathematische Reihe durchs 
Unendliche hindurchgeht, so geht jede Empfindungsreihe, sobald 
sie in die uns geläufige Vorstellungswelt hineinläuft, durchs Un- 
endliche hindurch, denn diese Vorstellungswelt ist ja ein unend- 



XXV. Allgemeine Theorie der Fiktionen, 



181 



liches Gebilde, ein oo, durch welches die Empfindungsreihen 
hindurchgehen, um vermittelt zu werden. Der moderne Mathe- 
matiker betrachtet das Symbol OO nicht mehr mit jener Ehr- 
furcht und Scheu, wie man es früher tat: ihm ist es eine blosse 
theoretische Fiktion, um die subjektive Rechnung zu erleich- 
tern. Seit Kant betrachten auch wir die ganze Vorstellungswelt 
nicht mehr mit naiv-blödem Staunen, sondern ganz kühl und 
nüchtern als ein theoretisches Vorstellungsgebilde, welches 
zur Vermittlung der Empfindungsreihen dient Durch 
diesen Durchgang durch die unendliche Vorstellungswelt 
geschieht im Grossen dasselbe, was im Kleinen bei den mathe- 
mathischen Rechnungen geschieht: die Rechnung wird er- 
leichtert, das Resultat rascher, eleganter erreicht und verall- 
gemeinert. Wir mögen somit das Denken betrachten, wie wir es 
wollen, wir mögen es mit dem Rechnen oder mit der Leistung 
einer Maschine vergleichen, wir können die ordinäre Ansicht 
nicht beibehalten, dass das Denken Selbstzweck sei; das 
Denken dient einem Anderen, und alle seine einzelnen Ver- 
richtungen sied unter dem Gesichtspunkt mechanischer Denk- 
mittel zu betrachten. Die Auflösung der ganzen Vorstellungswelt 
in solche Denkmittel ist die eigentliche Aufgabe der Erkennt- 
nistheorie, und die Methodologie dieser Mittel diejenige der 
Logik: alle logischen Methoden und darunter auch die fiktiven 
sind nur Hilfsmittel und Hilfsverrichtungen an dieser Maschine, 
deren Bau und Leistungen wir in unserer bisherigen Ausführung 
als mechanisch nachzuweisen versucht haben. 

Die eigentliche Aufgabe der Methodologie ist, die Hand- 
habung dieser Denkmaschine und Denkmittel zu lehren. 
Wir haben schon früher gesagt dass eine solche Methodologie 
zunächst sich mit äusserlich, empirisch zusammengerafften Regeln 
der Routine begnügen könne, dass aber eine wissenschaftliche 
Methodologie sich schliesslich auf eine theoretische Analyse 
der denkmechanischen Vorgänge stützen müsse. Eine solche 
Analyse der denkmechanischen Verrichtungen wird denn auch 
schliesslich das ganze komplizierte Verfahren des Denkens auf 
einfache Grundprinzipien zurückführen, die ebenso einfach 
und ebenso folgenreich sind, als z. B. das Prinzip des Hebels. 
Das Avenarius'sche Gesetz des kleinsten Kraftmasses hat hierzu 
einen achtungswerten Anlauf gemacht, ohne jedoch mehr als ein 
formales Prinzip, als eine Maxime aufzustellen, welche, wie 



182 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. B. Logische Theorie der Fiktionen 

bemerkt, für die denkmechanischen Vorgänge denselben 
Wert besitzt, wie das Prinzip des kleinsten Kraftaufwandes 
für die physikalische Mechanik. Die einzelnen mechanischen 
Vorgänge des Denkens, welche etwa den mechanischen Grund- 
prinzipien und Hilfsmitteln der mechanischen Bewegung ent- 
sprächen, sind damit noch nicht aufgefunden. Wir haben im 
Vorhergehenden den Versuch gemacht, dieselbe zu bestimmen. 
Als die elementaren Hilfsmittel des Denkens zur Erleichterung 
der Denkbewegung, der Bewegung grösserer Vorstellungsmassen 
zum Zweck einer mechanischen Denkleistung haben wir im All- 
gemeinen die Fiktionen erkannt, welche eine ähnliche Rolle 
spielen im Denkmechanismus, wie jene elementaren Hilfsmittel 
der Mechanik in der physikalischen Maschinentheorie. Die ver- 
schiedenen Arten der Fiktion entsprechen jenen verschiedenen 
Hilfsmitteln der Bewegung. Und die kompliziertesten Hilfsmittel 
dieser Bewegung, also z. B. der Begriff des Unendlichen, 
müssen reduziert werden auf solche einfachen mechanischen 
Prinzipien des Denkens. Im Laufe der Anpassung des psy- 
chischen Organismus an die äusseren Bedingungen und Aufgaben 
sind solche Begriffe nach einfachen, elementaren Gesetzen 
der Psyche entstanden; und es ist eine höchst berechtigte For- 
derung, ebensowenig solche komplizierten Begriffe für angeboren 
zu halten, sondern genetisch abzuleiten, als z, B. die höheren 
Organismen für ursprünglich zu halten. Wie diese nach ein- 
fachen mechanischen Gesetzen durch Anpassung und Entwick- 
lung entstanden sind, so sind auch jene höheren Begriffe rein 
durch denkmechanische Anpassung an die Umgebung, Forde- 
rungen und Aufgaben entstanden, zum Zweck, zunächst die Psyche 
in ihrer Tendenz zur Selbsterhaltung, in ihrer Identität zu unter- 
stützen. Denn dieses Prinzip scheint uns als das innere Ent- 
wicklungsprinzip des seelischen Lebens gelten zu müssen, dass 
nämlich die Seele nach Selbsterhaltung strebt in demselben 
Sinn, wie der Organismus nach Selbsterhaltung strebt; und wie 
diese Tendenz die ganze Entwicklung zum Höheren beherrscht, 
so ist es auch die Selbsterhaltungstendenz der Seele, welche die 
psychische und logische Entwicklung beherrscht. Dadurch 
erhält die Herbartsche Betrachtung eine neue Beleuchtung: die 
Seele sucht sich in ihrer Identität zu erhalten, und diese Tendenz 
beherrscht alle Ausgleichung und Vergleichung des psy- 
chischen Inhalts. 



XXV. Allgemeine Theorie der Fiktionen. 



183 



Die Forderung einer solchen historisch-genetischen psycho- 
historischen und psychogenetischen Ableitung der höheren Vor- 
stellungswelt, der höheren Begriffsorganismen verhält sich zu der 
Kantischen Leistung etwa ähnlich wie der moderne Dar- 
winismus zu Goethes Ideen, 

Kant hat wohl die Idee gehabt, dass alle höheren Begriffs- 
gebilde, dass alle Formen des Begriffes und der Anschauung 
rein subjektiv, d. h. fiktiv seien, allein bis zu der energischen 
Betonung und Forderung der historisch-genetischen Ab- 
leitung dieser höheren Begriffswelt aus der elementaren 
Empfindungswelt durch Anpassung und Konkurrenz ist er 
nicht fortgeschritten. *) 

Wie viel uns Kant also zu tun übrig gelassen hat, kann 
einigermassen aus diesem Vergleiche hervorgehen. Kant hat 
gerade die Hauptfrage: durch welchen Mechanismus des 
Denkens wir denn mittelst dieser subjektiven Vorgänge und 
Verrichtungen doch imstande sind, die objektive Welt theore- 
tisch und praktisch zu berechnen — nicht genügend beantwortet. 

Die Untersuchung jener denkmechanischen Vorgänge ist 
doch schliesslich das Ziel der logischen Wissenschaft, und 
nur die Psychologie kann darüber Aufschluss geben. 

Als die elementaren psychomechanischen Prinzipien fallen 
uns bei der psychologischen Analyse besonders zwei auf: 
einmal die Bildung fester Kernpunkte durch die Kategorien 
und sodann fester Mittelpunkte durch Allgemeinbegriffe. 
Durch die Reduktion aller Phänomene und ihrer Verhältnisse auf 
einige wenige, immer mehr verminderte, primitive Analogien, 
die Kategorien, wird der Denkbewegung eine bestimmte, fixierte 
Richtung gegeben. Dadurch werden gleichsam psychische 
Hebel geschaffen, durch welche die freie Bewegung der Vor- 
stellungsmassen erst möglich wird. Die Begriffsbildung schafft 
gleichsam Rollen, durch welche die einzelnen Empfindungs- 
komplexe verbunden werden und eine Gegeneinanderbewegung 
derselben möglich ist Das Hauptinteresse bei all diesen Vor- 
gängen liegt in der Frage, warum denn durch diese Vorrich- 
tungen des Denkens eine Erleichterung der Denkbewegung ge- 
schaffen werde, urftTVie es komme, dass trotz dieser fiktiven 
Mittelglieder die Denkbewegung doch das Ziel ihrer logischen 

1) Eine Skizze psych ogenetisch er Ableitung der wichtigsten theore- 
tischen Begriffe s. bei Laas, a.a.O. pag. 229 ff. 



184 Erster Teil : Prinzipielle Grundlegung. B. Logische Theorie der Fiktionen. 

Arbeitsleistung erreiche? Wenn ganze Komplexe von Gleichem 
geschaffen werden, Gleichheitszentren, wie dies in den als 
Analogien zu betrachtenden Kategorien und in den Be- 
griffen geschieht, 1 ) so wird dadurch die psychische Bewegung 
der Vorstellungen naturgemäss vermehrt, erleichtert, erhöht. Ein 
Gleichheitszentrum hat eine viel stärkere Attraktionskraft als 
ein einzelnes Moment. Vermittelst dieser Gleichheitszentren 
ist nun die Vergleichung der einzelnen Phänomene erleichtert, 
und sie wird beschleunigt: sobald z. B. eine einzelne Erscheinung 
hereintritt, braucht sie nicht erst von jeder einzelnen ähnlichen 
Empfindung attrahiert zu werden, sondern das mächtige Gleich- 
heitszentrum zieht sie mit starker Gewalt an, dass sie mit 
rascher Bewegung sich ihm nähert: Dadurch nun ist aber 
auch eine enorm rasche Vergleichung mit den von demselben 
Gleichheitszentrum umfassten und dasselbe konstituierenden Em- 
pfindungskomplexen möglich. Nun erhellt sofort, dass das 
Gleichheitszentrum selbst nur dem Zwecke dienen soll, die 
Vergleichung der einzelnen Empfindungen zu erleichtem 
und zu beschleunigen. Somit dient das Gleichheitszentrum nur 
der Vermittlung und Beschleunigung der psychischen 
Bewegung und hat seinen Zweck erfüllt, wenn dieses geschehen 
ist Daraus ergibt sich denn mit Notwendigkeit, dass das Gleich- 
heitszentrum schliesslich nur als Durchgangspunkt der Be- 
wegung dienen kann, und dass also das eigentliche Interesse 
nur in der Gegeneinanderbewegung der einzelnen Empfindungen 
selbst besteht Diese Bewegung wird durch jene besagten 
Gleichheitszentren erleichtert. 

Die Denkbewegung ist wie auch alle physische Bewegung nur relativ. 
Es gibt keine absolute Raum-Bewegung, und es gibt keine absolute Denk- 
Bewegung. Alles Denken ist relativ, nämlich ein Vergleichen eines Ge- 
dankens mit einem Gegebenen. Absolutes Begreifen ist eine Fiktion, sowie 
absolute Bewegung. Absolute Bewegung setzt den von Neumann soge- 
nannten fingierten Körper Alpha voraus, der in Wirklichkeit nicht existiert. 
Jener ideale Körper ist ein als unbekannt gedachtes Zentrum, das aber nur 
fingiert ist Das ideale Zentrum der Denkbewegung ist das als unbekannt 
gedachte Ding an sich, das gleichfalls eine blosse Fiktion ist. Eine „Kom- 



1) W*<ttCh nachträglich finde, hat M. Schiessl in der Fichte-Ulrici- 
schen Zeitschrift Band 62, pag. lfi. eine beinahe ganz damit identische 
Theorie aufgestellt Er will die Abstraktionstheorie durch eine Kom- 
parationstheorie ersetzen. Alle Begriffe sind ihrem Inhalte nach tertia 
comparationis (Beztehungspunkte, Vergleichungspunkte) 



XXV. Allgemeine Theorie der Fiktionen. 



185 



prehensionaltheorie" müsste dies noch weiter ausführen. Das Ding an sich 
stellt sich uns hier dar als ein helfendes Vorstell ungsgebilde, um den Be- 
griff des absoluten Begreifens zu ermöglichen. Die absoluten Systeme 
der Nachkantianer, weiche aus dem Kantischen Systeme entstanden sind, 
zeigen diesen Zusammenhang: das Ding an sich hat den Begriff des ab- 
soluten Begreifens vermittelt 
Die mechanischen Elementarvorgänge in der Psyche 
beim Denken und Begreifen ergeben zugleich auch die Ant- 
wort auf die Frage, warum denn trotz dieser fiktiven, subjektiven 
Begriffe doch das Wirkliche wieder erreicht werde? Nun, jene 
fiktiven Begriffe und die daran sich anschliessenden, oft unge- 
heuer ausgedehnten fiktiven Methoden sind schliesslich doch nur 
die Durchgangspunkte zur Vermittlung der psychischen 
Bewegung, welche sich vollzieht zwar vermittelst jener, aber 
doch so, dass sie schliesslich wieder abgeworfen werden. 
Hat das Gleichheitszentrum seinen Dienst getan, die Bewegung 
der einzelnen Empfindungskomplexe und Vorstellungen ermög- 
licht, so hat es eben auch Alles getan, was es kann, und es fällt 
aus der Rechnung heraus. Hat es vermittelt, so ist seine 
Leistung zu Ende. 

Wie der Hebel weggelegt wird, wenn er seine Arbeit getan 
hat, und die Rolle u. s. w., so wird auch jedes Denkmittel 
weggelegt, wenn es getan hat, was es sollte. Und alle Modi- 
fikationen des Hebels: Rad, Rolle, Übertragung, Trans- 
mission u. s. w. fallen ebenfalls hinweg, wenn die Arbeit getan 
ist Nur in dem Wegfall und Ausfall jener fiktiven Begriffe liegt 
das Geheimnis der Erreichung des Zieles. Ich will ja schliess- 
lich immer wieder Empfindungen haben und berechnen, nicht 
jene Begriffe und Kategorien; nicht „Zucker" will das Kind, 
sondern die Empfindung des Süssen — der Begriff des 
Zuckers fällt weg. Wenn die Gleichheitsmittelpunkte ihren 
Dienst getan haben, fallen sie hinweg, logisch, nicht psychisch; 
oft auch historisch. 

In diesem elementaren Mechanismus: Bildung eines 
Gleichheitszentrums — liegt nun das Geheimnis aller Fik- 
tionen, mögen sie so einfach sein, wie die künstliche Klassi- 
fikation, und so kompliziert, wie der Begriff des Unend- 
lichen. 

Für uns sind alle höherefn^Begiiffe solche feine Denk- 
mittel, Maschinenteile im grossen genialen Mechanismus 
des Denkens, und auch unsere Aufgabe ist es, hier auf die ele- 



1 86 Erster Teil : Prinzipielle Grundlegung. B. Logische Theorie der Fiktionen- 

mentaren mechanischen Gesetze des Seelenlebens zurück- 
zugehen. Wie vieles hier noch blosses Postulat sei, ist jedem 
Kenner des Gegenstandes sattsam bekannt. 

Jene Durchgangspunkte stellen nun Abweichungen 
von der Wirklichkeit dar, welche rein theoretisch ohne 
Rücksicht auf die Wirklichkeit der Erscheinungen weitergeführt, 
notwendig zu jenen Widersprüchen mit der Wirklichkeit und 
zu jenen Selbstwidersprüchen führen müssen, welche wir oben 
als Merkmale der Fiktionen angegeben haben. Das erste 
Merkmal, dass sie nämlich historisch weg- und logisch aus* 
fallen, folgt mit Notwendigkeit aus dem Charakter der Fiktionen 
als Durcbgangspunkte des Denkens. 

Streng festzuhalten hierbei ist das Prinzip des Mecha- 
nismus des Denkens, das Prinzip, dass alle Vorstellungen und 
Vorstellungskomplexe höherer Art, soweit sie nicht mit der Wirk 
lichkeit unmittelbar sich decken, nur den Vorstellungsmecha- 
nismus selbst unterstützen und beschleunigen und er- 
leichtern sollen. Dagegen muss man sich immer davor hüten, 
solchen Vorstellungskomplexen und Denkmitteln Wirklichkeit 
zuzuschreiben: denn wirklich ist nur das Empfundene, das in 
der Wahrnehmung uns Entgegentretende, sei es innerer oder 
äusserer Natur. Sowie man solche Fiktionen für wirklich 
nimmt, folgen daraus alle jene Antinomieen und Widersprüche, 
welche von Anfang an bis heute die Geschichte der Philosophie 
durchziehen. 

Auch alle übrigen gemeinsamen methodologischen Grund- 
sätze für die Fiktion fliessen mit Notwendigkeit aus diesen Ver- 
hältnissen : so der Rat und die Notwendigkeit, das logische, sub- 
jektive Baugertiste des Denkens wieder abzubrechen, wenn der 
eigentliche Zweck erreicht ist, abzubrechen historisch oder 
logisch, damit die falschen eingebildeten Vorstellungen nicht 
den Blick für die Wirklichkeit trüben. 

Die oben ausgeführte Theorie der Gleichheitszentren 
lässt sich nun von den elementaren fiktiven Prozessen der Bil- 
dung der allgemeinen Begriffe und allgemeinen Begriffs- 
formen weiterhin ausdehnen auf die spezielleren Fiktionen: in 
allen Fällen werden eben Vorstellungsgruppen geschaffen, 
welche die Verbindung,^Vergleichung und Ausgleichung 
der Vorstellungen vermitteln. Es ist schliesslich eben immer nur 
die Variation desselben Grundvorgangs, dass Vorstellungs- 



XXV, Allgemeine Theorie der Fiktionen. 



187 



gebilde formiert werden, welche in den Gang des Denkens 
eingeschoben werden, um ihn zu vermitteln und zu er- 
leichtern. Und insofern alles Denken schliesslich auf eine Gleich- 
setzung hinausläuft, so vermitteln eben die Fiktionen diese 
Gleichsetzung und Vergleichung, wo sie direkt unmöglich 
ist. Die Theorie Lotzes, welche er (Logik S. 400) gibt, betont diese 
Seite, aber sie passt nur auf die geringste Anzahl von Fällen 
und ist viel zu wenig allgemein. Lotze sagt: »Man wird zu 
den Fiktionen geführt, wenn es für einen gegebenen Fall M 
einen Satz T nicht gibt, unter den er als Anwendungsfall mit 
logischer Strenge subsumiert werden könnte, wenn es aber wohl 
einen Satz T 1 gibt, von dessen Anwendungsfällen sich M um 
eine bestimmte Differenz d unterscheidet. Man ordnet dann M 
unter T\ zieht daraus die Folgerungen, die man begehrt, und 
korrigiert sie nachher durch Hinzufügung der Modifikationen <7, 
welche um des nicht hinwegzubringenden Unterschiedes d willen 
notwendig werden/ 1 ) Dies ist nun zwar sehr exakt ausgedrückt, 
nichtsdestoweniger passt diese Definition oder Beschreibung auf 
die wenigsten Fälle, höchstens auf die abstraktive Fiktion, die 
juristische und einige mathematische. Lotze selbst hat sie 
denn auch nur auf juristische und mathematische angewandt; 
er hat die Fiktion überhaupt neben die Hypothese gestellt. 

Die blosse Nebeneinanderreihung der Hypothese und Fiktion ist 
schon ein Irrtum: Fiktion ist qualitativ verschieden von der Hypothese: 
diese dient zur Erklärung, jene zur Berechnung. Die fiktive Tätig- 
keit greift viel tiefer hinein in die logische Funktion; das gibt ja Lotze 
selbst zu in seiner Theorie des Allgemeinbegriffes, sowie in seiner Er* 
kenntnistheorie. Die Erkenntnis dieser ausgebreiteten Tätigkeit der Ein- 
bildungskraft durch Schöpfung fiktiver Gebilde zwingt, die Fiktion viel 
allgemeiner zu behandeln, als das Lotze tut 
Lotze hat aber die Allgemeinheit und Ausdehnung der fik- 
tiven Tätigkeit viel zu wenig berücksichtigt: solche fiktiven Vorstel- 
lungen, wie die juristischen und mathematischen Fiktionen, 
sind nur ein Bruchteil des ganzen Gebietes; und man würde 
vergeblich versuchen, alle Fiktionen unter jene oben wieder- 
gegebene Beschreibung Lotzes zu zwingen. Vielmehr ist der 
allgemeinste Ausdruck, der sich dann je nach den Umständen 
modifiziert, der: dass durch die Fiktion Vorstellungsgebilde 
und Formen geschaffen werden, welche verschiedene 

1) Über solche Differenzen, die durch unser logisch diskursives 
Denken entstehen, vgl. v, Hartmann, Kirchmanns Realismus, pag, 55. 



I 88 Erster Teil : Prinzipielle Grundlegung. B. Logische Theorie der Fiktionen 

einzelne Fälle, also verschiedene M, zu vergleichen er- 
möglichen oder erleichtern, die ohne sie nicht oder nicht 
so leicht in Beziehung gesetzt werden könnten, was 
also die Denkrechnung ermöglicht. Es ist zu bemerken, 
dass es sich nicht bei jeder Fiktion um die Schöpfung so hand- 
greiflicher Fiktivvorstellungen handelt, wie z. B. bei der Diffe- 
rentialrechnung, sondern dass eben ganze Formen und Methoden 
des Vorstellens auf fiktiver Basis beruhen. 

In dem Abschnitt: „ Reale und formale Bedeutung des 
Logischen* hat Lotze darauf hingewiesen, dass unsere Tätig- 
keiten, unsere logischen Tathandlungen zunächst nur formaler 
Natur sind. Formal, sagt er pag. 557, „nennen wir die logischen 
Tätigkeiten weil ihre Eigentümlichkeiten zwar nicht die eigenen 
Bestimmungen der Sachen sind, aber doch Formen des Ver- 
fahrens, eben die Natur der Sachen zu erfassen . , . Die Be- 
schränkung auf nur formale Geltung zeigt sich darin, dass es 
der Denkhandlungen mehrere und gleichtriftige geben kann, die 
zu demselben Endgedanken oder demselben sachlichen Ergebnis 
führen ... sie sind alle nur Formen des Verfahrens, ein 
Ergebnis zu erhalten, das einmal gefunden ohne Rücksicht auf 
den Weg gilt, auf dem man zu ihm gekommen ist" . . . und 
weiterhin: „Es kann nicht davon die Rede sein, dass das Reale 
selbst sich in den Formen des Begriffes, Urteils und des 
Schlusses bewegte, welche die subjektiven auf seine Erkenntnis 
gerichteten Anstrengungen unseres Denkens annehmen; aber 
selbst die logischen Gedanken, welche das Produkt dieser 
Denkhandlungen sind, haben in Bezug auf dieses Reale jene 
unmittelbare Geltung sachlich nicht, die ihnen jedem Denkinhalt 
als solchem gegenüber zukam/ So sagt er ferner pag: 559, 
dass wir die formale Beziehung der realen Elemente nur Be- 
dingtheit nennen; auch Subjekt und Prädikat sind nur 
Titel, die wir unseren Begriffen mit Rücksicht auf die Stellung 
geben, die sie in unserem Urteil einnehmen müssen: ein 
Verhältnis der realen Elemente, die durch unseren Begriff gemeint 
werden, ist durch diese Bezeichnungen nicht ausgedruckt" 
u. s. w. Wenn man diese Stellen mit den oben angeführten 
Stellen Lotzes über die Fiktion vergleicht, so fällt sofort die 
innere, logische Ähnlichkeit in die Augen: auch dort isr^non 
formalen Handlungen die Rede: den Zusammenhang, in 
dem Beides steht: 1) die allgemeinen logischen Hand- 



XXV. Allgemeine Theorie der Fiktionen. 



189 



lungen des Denkens, 2) die speziellen Fiktionen — 
haben wir nach zwei Seiten hin darzulegen: einmal zeigen wir, 
wie schon in den Elementarbewegungen des Vorstellens sich 
fiktive Elemente geltend machen, welche sich als Produkte der 
Einbildungskraft, als Kategorien und Allgemeinbegriffe dar- 
stellen, und wir weisen darauf hin, wie die Psyche diese praktisch 
fruchtbare Tätigkeit fortsetzen werde; sodann zeigen wir bei der 
Aufzählung der einzelnen Gattungen der Fiktionen, dass jene 
primitiven Formen, die Kategorien und Allgemeinbegriffe, logisch 
genommen, ganz identisch sind mit gewissen anderen Fiktionen, 
die an sich gar nichts Ähnliches damit zu haben scheinen: nur 
dass jene Kategorien u. s. w. im vorwissenschaftlichen Denken 
erfunden werden, jene Fiktionen im wissenschaftlichen. Es 
ist streng an diesem Gesichtspunkt festzuhalten: die Gedanken- 
handlungen erhalten dadurch einen viel innigeren Zusammenhang, 
eine viel größte Einheit. Sobald man aber diese weite Aus- 
dehnung der fiktiven Tätigkeit der Psyche in ihrem logischen 
Verfahren erkannt hat, findet man auch, wie ungenügend Lotzes 
obige Beschreibung ist, und dass sie eben nur auf zwei oder drei 
Fälle Anwendung hat, in denen sie allerdings eine exakte For- 
mulierung des Vorganges ist. Das ist aber als die Hauptsache 
zu betrachten: die formale Identität der logischen Handlung 
in der Erfindung der Kategorien und Begriffe zu erkennen 
mit jenen Fiktionen, welche spezial-wissenschaftliche sind. 
Die Fortschritte des Erkennens bestehen immer in der Auffindung 
von identischen gesetzlichen Vorgängen. Wir haben ver- 
sucht, in .solchen Gebieten, welche bisher getrennt galten, einen 
identischen Vorgang gesetzlicher Natur aufzuzeigen, den wir im 
Allgemeinen als die fiktive Tätigkeit der Seele bezeichnet 
haben, und der darin besteht, dass Vorstellungsgebilde for- 
miert und Vorstellungsformen gebildet werden, welche 
durch ihre Abweichung von der Wirklichkeit oder vom Prinzip 
der Identität sich unmittelbar als falsch kennzeichnen, und durch 
welche doch allein das Denken sein Ziel, Beförderung der Vor- 
stellungsbewegung zur Ermöglichung der Berechnung der objek- 
tiven Welt, erreichen kann. Dieses allgemeine Prinzip modifiziert 
sich dann je nach den Umständen und Verhältnissen, wie dies in 
der Aufzählung der Fiktionen zu sehen war. 

Welche ungeheure Wichtigkeit die Fiktionen haben, ist aus 
dem Bisherigen ersichtlich. Sie sind, sagt Lotze mit Recht, von 



190 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. B. Logische Theorie der Fiktionen 

ausserordentlicher »Wichtigkeit für den erfindenden Ge- 
dankengang". In der Tat sind sie ein Teil jener ar$ inveniendi, 
welche die Logik früher als Anhang zu haben pflegte. Freilich 
die heuristische Seite derselben ist nur Eine Seite: darum 
nannten wir auch eine speziellere Art heuristische Fiktionen. 

Ausser jener allgemeinen Vorsichtsmassregel, nicht die Fik- 
tionen mit der Wirklichkeit zu verwechseln, lässt sich aber nun 
noch darauf hinweisen, dass jede Fiktion sich justifizieren 
lassen müsse, d. h. sie muss durch das gerechtfertigt werden, 
was sie für den Fortschritt der Wissenschaft leistet Es muss in 
jedem einzelnen Falle nachgewiesen werden, dass die betreffende 
Form, das betreffende Gebilde nicht überflüssig sei, dass es 
Dienste leiste, und wie weit seine Kompetenz reiche» Es muss 
immer auf den Spalt zwischen Wirklichkeit und Fiktion hin- 
gewiesen und davor gewarnt werden, nicht die Fiktion selbst 
oder Konsequenzen aus ihr unmittelbar mit der Wirklichkeit 
zu verwechseln. Nach all diesen Vorsichtsmassregeln kann eine 
Fiktion als ein „legitimierter Irrtum" gelten, d.h. als ein fik- 
tives Vorstellungsgebilde, welches das Recht seines Bestehens 
durch den Erfolg nachzuweisen hat. Dagegen ist es falsch, 
von dem Erfolg einer solchen logischen Tathandlung auf ihre 
logische Reinheit oder auf ihre reale Giltigkeit zu schliessen: 
es sind und bleiben Um- und Schleichwege des Denkens, die 
darum, weil sie zum Ziele führen, noch nicht als real gilt ig, 
als logisch widerspruchslos gelten dürfen. Das ist aber 
allerdings der schon mehrfach gerügte fundamentale Irrtum, 
aus dem logischen Erfolg nun auch auf die logische Rein- 
heit zu schliessen. Man sagte, weil die Differentialrechnung 
auf richtige Resultate führe, so müsse es auch reale Differen- 
tiale geben, und die Vorstellung derselben dürfe nicht wider- 
spruchsvoll sein. Dieser ScMuss ist, wie bemerkt, falsch. 
Auch diejenigen Fiktionen, welche subjektiv ganz absolut nötig 
sind, also die Kategorien, um überhaupt diskursiv zu denken, 
sind darum noch nicht objektiv: subjektive Nötigung, z. B. 
zu allem Beobachteten Dinge hinzuzudenken, ist noch kein 
Kriterium objektiver Giltigkeit. 

Aenesidem hat richtig Kants Philosophie auf diese Formel gebracht: 
Kant habe gezeigt, dass Gedachtwerdenmüssen noch nicht identisch 
sei mit Sein. Das Warum? liegt eben darin, dass das Denken Hilfs- 
mittel zur Erreichung seines Zweckes braucht, welche bis dahin mit dem 



XXV Allgemeine Theorie der Fiktionen 



191 



Sein vermischt wurden. Freilich hatten vor Kant Locke, Berkeley 
und Hume das teilweise schon besser und reiner als Kant selbst erkannt. 
Bei Kant mangelt der entschieden moderne Gesichtspunkt, das Denken 
als ein Mittel zum Zwecke zu betrachten. 

Für ihn ist nicht die folgende Frage Hauptsache, nämlich: wie es 
denn komme, dass durch solche Mittel der Zweck des Denkens erreicht 
werde? sondern die falschgestellte Frage: mit weicher Berechtigung wir 
apriori Gesetze über die Natur aussagen, welche dann für alle Erfahrung 
gelten? Offenbar sind beide Fragen verwandt, aber keineswegs identisch. 
Für uns ist es keine Tatsache, dass wir apriori Gesetze aussprechen; 
— diese Tatsache erwies sich als Schein — dagegen ist es für uns eine 
Tatsache, dass durch die logischen Mittel Zwecke erreicht werden, und 
das wollen wir wissen, w i e dies zugehe, auf welche mechanische Weise 
diese Mittel es angreifen, jene Zwecke zu erreichen. Tatsache ist für 
uns die faktische empirische Richtigkeit des Resultates unserer Denk- 
rechnung; und wir wollen wissen, wodurch diese Denkrechnung im 
Resultat stimmt. Dagegen wissen wir, dass die Wege und Methoden 
und Rechnungsansätze des Denkens subjektiv, d. h, fiktiv sind. 

Für uns Moderne fragt es sich, nach welchen mechanischen 
Gesetzen sich die organisch-zweckmässigen Vorgänge entwickeln 
und abspielen, und ebenso durch welche psychomechanischen Vor- 
gänge aus Empfindungen Kategorien und Fiktionen entstehen, und durch 
welche psychomechanische Vermittlung diese Gebilde faktische Dienste 
leisten. Kant hat vorzugsweise das Verdienst, gezeigt zu haben, dass die 
meisten Vorstellungsgebilde rein subjektiv seien; dass sie aber Fik- 
tionen seien in unserem Sinn, hat er so wenig als Hume ausgeführt; 
nämlich Fiktionen als Mittel zu bestimmten Zwecken (vgl. oben 
pag. 174). Der Mechanismus dieser Zweckmässigkeit ist die Hauptaufgabe 
der logischen Theorie der Fiktionen: der Nachweis dieses Mechanismus 
ist am schwersten bei den erkenntnistheoretischen Fiktionen, am 
durchsichtigsten bei den mathematischen, am einfachsten bei den 
juristischen und abstraktiven. 
Ein Hauptwert ist nun auf die erkenntnistheoretische 
Bedeutung der Fiktionen zu legen, die wir ja genugsam betont 
haben, und hier ist wieder der Hauptwert darauf zu legen, dass 
diese erkenntnistheoretischen Fiktionen, d. h. bes. die Kategorien, 
für das Denken ganz unentbehrlich sind; denn sonst ist das 
Denken eben gar nicht diskursiv. Die erkenntnistheoretischen 
Fiktionen der Kategorien sind aber besonders darum von Wert, 
weil die unberechtigte Übertragung derselben auf das Welt- 
ganze zu allen jenen philosophisch wichtigen Begriffen der Welt- 
substanz, der Weltkraft, Weltursache führt, welche ein not- 
wendiger logischer Schein sind. Das Vorhandensein eines 
unumgänglichen logischen Scheins wurde schon vor Kant 
behauptet: erst Kant hat denselben ganz aufgedeckt. 



1 92 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. B. Logische Theorie der Fiktionen. 



Der logische Schein ist, wie dies ja schon Kant auffiel, zu vergleichen 
mit jenen optischen Täuschungen» welche uns das Auge stets wieder gibt, 
obwohl wir die Unrichtigkeit einsehen. So erscheint uns der Mond am 
Horizont immer grösser als im Zenith, und der Stab im Wasser erscheint 
gebrochen, trotz der gegenteiligen Überzeugung. Dasselbe ist auch beim 
logischen Schein der Fall, wie bei diesem sinnlichen. Dieser Schein be- 
steht darin, dass an sich berechtigte Operationen auf Fälle angewandt 
werden, welche nicht streng darunter lallen, es liegen also unberechtigte 
Anwendungen an sich berechtigter Operationen vor. So ist dies z. T. auch 
bei dem Ding an sich der Fall, Die Operationen des kategorialen Denkens 
sind relativ berechtigt für die zusammenhängende Erscheinungswelt als 
passende Fiktionen, dagegen auf die Welt im Ganzen sie zu Übertragen, 
ist unberechtigt. Im Zusammenhang der Phänomene kann man von Dingen 
und Eigenschaften, von Ursachen und Wirkungen sprechen; allein hinter 
diesen Phänomenen und jenseits derselben hat diese Vorstellungsweise 
keine Berechtigung mehr; ihre Anwendung auf dieses Gebiet erzeugt die 
Illusionen wirklicher Dinge an sich, wirklicher Ursachen an sich. Selbst 
Kant hat diesen Schein nicht ganz vermieden. Faktisch haben wir 
schlechterdings nur Empfindungen und die unabänderliche Koexistenz und 
Succession von Phänomenen: diese „Dinge" und „Ursachen* zu heissen. 
ist erlaubt, so lange man sich bewusst ist, diese Ausdrucks- und Vor- 
stellungsweise nur zur Erleichterung zu wählen. Sobald man abSr wirk« 
liehe, transzendente Dinge an sich annimmt, so verfällt man dem logischen 
Schein, den Kant selbst nicht ganz vermeiden konnte. Diese Dinge an 
sich sind zwar subjektiv notwendige Vorstellungsweisen, um überhaupt 
die Welt dvskursiv vorstellen zu können, aber sie sind auch nichts weiter, 
wie Maimon zuerst richtig erkannte. 

Ein Hauptresultat unserer Untersuchung ist eben, dass der 
Widerspruch das treibende Motiv des Denkens ist, dass ohne 
ihn das Denken sein Ziel gar nicht erreichen kann, dass er dem 
diskursiven Denken immanent ist, und ein konstituierendes Ele- 
ment desselben ist. 

Auch dass die Grenze zwischen Wahrheit und Irrtum 
keine starre ist, ist uns mehrfach nahegelegt worden, und schliess- 
lich hat sich gezeigt, dass das, was wir gewöhnlich Wahrheit 
nennen, nämlich eine, wie man sagt, mit der Aussenwelt zu- 
sammenstimmende Vorstellungswelt, dass diese Wahrheit nur 
der zweckmässigste Irrtum ist. 

Natürlich ist hier unter dem Inhalt der Wahrheit nicht die Fest- 
stellung der unabänderlichen Successionen gemeint, sondern die Formen 
des Denkens. 

Diese Vorstellungswelt ist ja, wie wir annahmen und fanden, 
subjektiv ihren Formen nach; real ist nur das beobachtete 
Unabänderliche; also ist die ganze Fassung, welche wir dem 



XXV. Allgemeine Theorie der Fiktionen. 



193 



Wahrgenommenen geben, nur subjektiv; Subjektives ist fik- 
tiv; Fiktives ist falsch; Falsches ist Irrtum. Das Bestreben 
der Wissenschaft geht darauf aus, wie wir sahen, die Vorstellungs- 
welt zu einem immer brauchbareren Instrument der Berechnung 
und des Handelns zu machen; also ist diese Vorstellungswelt, 
welche aus diesem Bestreben resultiert, und welche man gewöhn- 
lich Wahrheit nennt, nur der zweckmässigste Irrtum, 
d. h. diejenige Vorstellungsweise, welche am raschesten, elegan- 
testen, sichersten und am wenigsten mit irrationalen Elementen 
versetzt, Handeln und Berechnen am meisten ermöglicht 
Die Grenzen zwischen Wahrheit und Irrtum sind also ebenso 
verschiebbar, wie alle solchen Grenzen, z. B. zwischen Kalt und 
Warm. Kalt ist ein solcher Grad der Temperatur, der für uns 
unzweckmässig ist, warm ist der zweckmässigste Temperatur- 
grad; zwischen beiden ist objektiv aber nur ein Gradunterschied; 
und subjektiv sind die Unterschiede je nach der Disposition und 
je nach dem Gegenstand, um den es sich handelt, verschiebbar. 
So ist Wahrheit eben auch nur der zweckmässigste Grad 
des Irrtums und Irrtum der unzweckmässigste Grad der Vor- 
stellung, der Fiktion. Unsere Vorstellungswelt heissen wir dann 
wahr, wenn sie uns erlaubt, am besten die Objektivität zu be- 
rechnen und in ihr zu handeln; denn die sogenannte Überein- 
stimmung mit der Wirklichkeit ist doch endlich als Kriterium auf- 
zugeben. Sonach haben wir damit eine weitere Streitfrage der 
Logik und Erkenntnistheorie tangiert, welche enge mit 
unserem Thema zusammenhängt. Zwischen wahr und falsch sind 
keine' so schroffen Grenzen, wie man gewöhnlich anzunehmen 
beliebt. Irrtum und Wahrheit fallen unter den gemeinsamen 
Oberbegriff des Mittels zur Berechnung der Aussenwelt; 
das unzweckmässige Mittel ist der Irrtum, das zweckmässige 
heisst man Wahrheit. Das mit Notwendigkeit Gedachte ist 
noch nicht wirklich: denn jene Notwendigkeit ist nur ein Ge- 
bot der Zweckmässigkeit 



13 



194 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung, B. Logische Theorie der Fiktionen. 

Kapitel XXVI. 
Die Methode der Korrektur 
willkürlich gemachter Differenzen resp. die Methode 
der entgegengesetzten Fehler.*) 

Nachdem wir im Vorhergehenden die logische Theorie der 
Fiktionen auf eine psychologische Analyse gestützt und die 
Bedeutung der Fiktionen und ihrer Methodologie für verschiedene 
Fragen zu skizzieren gesucht haben, bleibt noch übrig, den logi- 
schen Mechanismus des Denkens, der sich an die Fiktionen 
anknüpft, vom spezifisch logischen Gesichtspunkt aus zu 
betrachten. Die bisherige Betrachtung war eine mehr psycholo- 
gische, die folgende rouss mehr logisch sein. 

Wir bemerkten mehrfach, dass in den Fiktionen das Denken 
absichtlich Fehler begehe, um vermittelst dieser Fehler selbst 
das Werden zu erfassen. Alle Abweichungen von der Wirklichkeit 
sind Fehler; und vollends alle Selbstwidersprüche sind logische 
Fehler ersten Grades. Wir fügten mehrfach hinzu, dass diese 
Fehler wieder rückgängig gemacht werden müssten, weil 
sonst die Fiktionen wertlos seien und' schaden würden. Also 
wenn Adam Smith vermittelst seiner Fiktion des Egoismus die 
Handlungen der Menschen berechnet, so beging er einen Fehler, 
weil faktisch der Egoismus nicht der einzige Quell der Hand- 
lungen ist Bei der Anwendung der aus jener Fiktion gezogenen 
Gesetze auf die konkrete Wirklichkeit müsste also die Differenz 
wieder ausgeglichen werden. Lotze drückte dies, wie wir sahen, 
in exakter Formulierung so aus: man müsse die Folgerungen 
aus der Fiktion nachher korrigieren durch Hinzufügung der 
Modifikationen rf, welche um des nicht hinwegzubringenden Unter- 
schiedes d willen notwendig werden. 

Allgemein ausgedrückt ergibt sich folgendes: Wenn das 
Denken in den Fiktionen der Wirklichkeit widerspricht, und 
wenn es sogar sich selbst widerspricht, und wenn nun aber 
; doch trotz dieser bedenklichen Handlungsweise das Denken sein 
'Ziel erreicht, nämlich die Wirklichkeit zu treffen, so muss — dies 
ist eine notwendige Konsequenz — jene Abweichung wieder 
korrigiert, so muss dieser Widerspruch wieder gut- 
gemacht worden sein, " 



XXVI. Die Korrektur der gemachten Fehler» 



195 



Insofern also eine Korrektur eintreten muss (bei den Semi- 
fiktionen), kann man das Verfahren der logischen Funktion hier- 
bei die Methode der Korrektur gemachter Differenzen 
heissen: insofern aber ein Widerspruch mit sich selbst ein 
logischer Fehler ist, und insofern dieser Fehler wieder gut ge- 
macht werden muss, was nur durch einen äquivalenten Fehler 
entgegengesetzter Natur geschehen kann, so kann man dieses 
Verfahren die Methode entgegengesetzter Fehler nennen. 

Durch diese seltsam scheinende Bezeichnungsart wird ein 
Kenner der Mathematik wohl sofort an gewisse mathematische 
Methoden erinnert werden, welche ganz ähnlich verfahren; denn 
alle Denkmethoden sind in der Mathematik am reinsten aus- 
geprägt. 

Die Art der Korrektur, welche einzutreten hat, kann von 
der einfachen Bemerkung, man solle das fiktiv gewonnene Resultat 
nicht mit der Wirklichkeit verwechseln, steigen bis zu der Not- 
wendigkeit, geradezu hinwiederum einen entgegengesetzten logi- 
schen Fehler zu machen. 

Jene erste leichte Korrektur findet meist bei der Semifiktion 
statt. Die ganze Korrektur, welche bei den künstlichen Ein- 
teilungen stattfindet, beschränkt sich auf die einfache Bemerkung, 
man solle dieses künstliche System nicht für die Wirklichkeit 
nehmen, sondern für ein vorläufiges System zu heuristischen und 
praktischen Zwecken. Freilich immer macht sich das nicht so 
harmlos: es gibt Fälle, wo der erste Fehler, den das Denken bei 
der künstlichen Einteilung macht, durch einen entgegengesetzten 
wieder gut gemacht werden muss: bei der künstlichen Einteilung 
besteht dies in einer notwendigen Abweichung von dem 
künstlichen Systeme selbst: also aus diesen künstlichen Systemen 
entstehen nicht nur Fehler, sondern diese müssen auch durch 
entgegengesetzte Fehler teilweise aufgehoben werden Dies äst bei 
der-künstlichen Einteilung sehr einfach; wir beziehen uns hier auf 
Lotze, der über die künstliche Theorie u. A. sagt (pag. 153): 
„Die Gesamtheit der Kombinationen (welche durch die künstliche 
Einteilung gefunden worden sind) schliesst zwar alle Arten des 
M ein, kann aber ausser ihnen noch andere enthalten, die nur 
gültig sein würden, wenn der Begriff bloss eine Summe seiner 
Merkmale wäre, aber ungültig sind, weil er eine bestimmte Form 
der Vereinigung derselben befiehlt, welcher sie widersprechen" 
[sie = gewisse ungiltige Kombinationen}. Es entstehen also 

13* 



1 96 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. B. Logische Theorie der Fiktionen. 

durch die künstliche Klassifikation unmögliche Glieder (vgl. 
ib. pag. 154); indessen haben doch auch diese unmöglichen 
Glieder einen Nutzen: „ihre vorläufige Aufstellung*, sagt Lotze 
„hätte nur den Nutzen gehabt, die Aufmerksamkeit auf die Natur 
des M und auf die Gründe zu schärfen, welche die giltigen Arten 
möglich, diese ungiltigen unmöglich machen. 14 Dies ist der Fall, 
wenn das M vollständig bekannt ist „Ist dagegen," sagt 
Lotze, „M ein der Erfahrung verdankter Gattungsbegriff, dessen 
innere Gliederung nur unvollständig durch Beschreibung, nicht 
genau durch Konstruktion angebbar ist, so bleiben die in Wirk- 
lichkeit nicht beobachteten Arten, auf welche das kombinatorische 
Verfahren geführt hätte, nur zweifelhaft; der Fortschritt der Be- 
obachtung kann sie noch entdecken, der Fortschritt der sach- 
lichen Erkenntnis ihre Unmöglichkeit nachweisen; zu einem 
von beiden angeregt zu haben, kann auch hier der Nutzen ihrer 
vorläufigen Aufstellung sein ... Ist nun das kombinatorische 
Verfahren in Bezug auf Erfahrungsgegenstände diesem zweifel- 
haften Überschuss seiner Ergebnisse über das Wirkliche aus- 
gesetzt, so hat es anderseits in seiner gewöhnlichen Anwendung 
auch keine Bürgschaft der Vollständigkeit" u. s. w. Und 
S. 155 fügt er hinzu: „Die offenbaren Unzuträglichkeiten dieser 
Unbestimmtheit werden in der wirklichen Anwendung der Klassi- 
fikation durch nebenhergehende Überlegung, durch eine 
Schätzung des verschiedenen Wertes der Merkmale ver- 
mieden, welche auf Kenntnis der Sache, auf richtigem Gefühl, 
oft nur auf einem erratenden Geschmack beruhen. 41 „Nächstver- 
wandte Arten werden zuweilen an verschiedene, oft sehr ent- 
legene Stellen des Systems auseinander gerissen, andere in ihrem 
ganzen Verhalten auffallend verschiedene in eine befremdliche 
Nachbarschaft aneinander gerückt" (ib. 155/6), und 158: „Die 
künstliche Anordnung der Tiere und Pflanzen wird durch Berück- 
sichtigung der natürlichen Verwandtschaften zu verbessern ge- 
sucht/ Lotze führt dies dann weiterhin so aus, dass überhaupt 
alle klassifikatorische Einteilung ein blosses logisches Ideal sei, 
dessen Durchführung aber an der Wirklichkeit scheitere (so dass 
also alle Gattungsbegriffe, alle Artbegriffe künstlich wären; also 
ein ziemlich starker Drang zum Nominalismus!). Der allge- 
meine Begriff erscheint daher richtig bei Lotze samt der auf 
die Analyse seiner Merkmale gegründeten Klassifikation als eine 
Vorläufigkeit, welche die Auffindung der realen Gliederung 



XXVI. Die Korrektur der gemachten Fehler. 



197 



and Entwicklung vorbereitet: die Klassifikation überhaupt aber 
ist nach Lotze (173) ungenügend zur vollständigen Auflösung 
der Denkaufgabe. Der in der künstlichen Klassifikation und ihrer 
Begründung begangenen willkürlichen Abweichung von der Wirk- 
lichkeit — indem ganz beliebig Ein Merkmal zum fundamentum 
divisionis gemacht wurde — muss auf der anderen Seite eine 
Korrektur entsprechen, um die Klassifikation überhaupt für 
die Anwendung brauchbar zu machen, um unmögliche Glieder 
zu entfernen und alle wirklichen in sie hineinzubringen. 

Dass dieselbe Korrektur bei den abstraktiv-neglektiven 
Fiktionen stattfinden müsse, liegt auf der Hand: die vernach- 
lässigten Elemente müssen nachher wieder zu ihrem Rechte 
kommen, wenn nicht Irrtümer entstehen sollen. Genau dasselbe 
ist bei der schematischen Fiktion der Fall, sowie bei der 
paradigmatischen, der utopischen und typischen — alle 
diese Begriffsgebilde erhalten Wert für die Erkenntnis der Wirk- 
lichkeit erst dann, wenn an Stelle der idealen Bilder die wirk* 
liehen Werte eingesetzt werden. Hier liegen also die Verhältnisse 
ganz einfach: die Korrektur, ihre Notwendigkeit, Möglichkeit und 
Wirklichkeit, liegt auf der Hand. Bei den juristischen Fiktionen 
dagegen scheint eine solche Korrektur gar nicht nötig zu sein; 
und sie ist es auch nicht. Denn hier handelt es sich gar nicht 
um exakte Berechnung eines Wirklichen, sondern um Subsumtion 
unter ein willkürliches Gesetz, ein Menschenwerk, kein Natur- 
gesetz, kein Naturverhältnis. Ähnlich wie bei den obigen Fällen 
steht die Sache bei den heuristischen Fiktionen: es gilt vor 
Allem, die fiktive Ursache, die causa fiäa nicht als eine wirk- 
liche anzusetzen. 

Anders liegt die Sache bei den übrigen Fiktionen: während 
bei den bisherigen, welche auf Abweichungen von der Wirklich- 
keit beruhen, einfach die Korrektur dieser Abweichung genügt, 
muss ein anderes Verfahren da eintreten, wo die fiktive Sub- 
sumtion nicht unmittelbar, sondern durch die Vermittlung eines 
fiktiven Vorstellungsgebildes stattfindet Bei jenen obenge- 
nannten sind nur fiktive Vorstellungsformen und -methoden im 
Spiel; hier haben wir fiktive Vorstellungsgebilde. 

Naturgemäss kann bei diesen nur Eine Methode der Kor- 
rektur stattfinden: sie müssen in dem Schlussresultat einfach 
herausfallen. Der Fehler muss rückgängig gemacht 
werden, indem das fiktiv eingeführte Gebilde einfach 



198 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. B. Logische Theorie der Fiktionen- 



wieder hinausgeworfen wird. Beruht aber die Einführung 
auf einem logischen Fehler, so kann das Hinauswerfen auch nur 
durch einen logischen Fehler stattfinden. Darum nannten wir 
dies die Methode der entgegengesetzten Fehler. Der Name 
passt jedoch streng genommen zunächst nur auf jene exakten 
mathematischen Beispiele, welche wir früher aufzählten; er passt 
aber auch auf alle logischen Denkreihen, wenn man nur dieselben 
nach dem Gesetz des Widerspruchs durchgeht 

Bei den praktischen Fiktionen ist der Ausfall dieser 
Vermittlungsglieder ganz einfach: wenn der Zweck erreicht 
ist, so fallen sie weg; freilich aus der Psyche selbst 
fallen sie nicht hinaus, nur aus der Denkrechnung. So 
z.B. bei der Fiktion der Freiheit: der Strafrichter benützt 
diese Fiktion einfach, um ein Strafurteil zustande zu 
bringen. Der Zweck ist das Strafurteil, das durch die Fik- 
tion, der Mensch, also in specie der Verbrecher, sei frei, erreicht 
wird: ob der Mensch faktisch frei ist, ist gleichgültig. Der Mittel- 
begriff der Freiheit fällt heraus, wie in jedem Schluss der Mittel- 
begriff herausfällt. Der Richter schliesst: Jeder Mensch ist frei 
und darum, wenn er gegen das Gesetz sich vergangen, strafbar 
A ist ein Mensch, ein freier Mensch und hat sich vergangen; 
also ist er strafbar. Zuerst wird A unter den Begriff des freien 
Menschen subsumiert, sodann dadurch unter die Strafbarkeit 
Der Begriff der Freiheit fällt aber damit heraus; er hat nur 
dazu gedient, das Urteil möglich zu machen. Ob aber der Mensch 
überhaupt frei sei, diese Prämisse wird vom Richter nicht 
untersucht: faktisch ist diese Prämisse nur eine Fiktion, 
welche zur Ableitung des Schlusssatzes dient; denn ohne Be- 
strafung der Menschen, der Verbrecher, ist keine Staatsordnung 
möglich: zu diesem praktischen Zweck ist die theoretische 
Fiktion der Freiheit erfunden. 

Ähnlich ist es mit der Fiktion des Staatsvertrags: auch diese 
dientnurdazu, dasstaatlicheStrafrecht(alsonicht, wiebeider Frei- 
heit, das moralische Recht zur Strafe) zu begründen: es wird fingiert, 
jeder Bewohner des Landes habe stillschweigend einen Vertrag ge- 
macht mit der Gesamtheit, die Gesetze halten zu wollen. Vertragsbruch 
selbst aber ist nach diesen Gesetzen strafbar: hat nun A diese 
Gesetze übertreten, so hat er den Vertrag gebrochen, und damit 
vefürtlt er eben nach dem Gesetz der Strafe. Diese ganze Fik- 
tion dient also nur theoretisch zur Begründung des Staat- 



XXVI. Die Korrektur der gemachten Fehler. 



199 



liehen Strafrechtes; denn es ist ein öffentliches Geheimnis der 
Staatslehre, dass das Strafrecht auf andere Weise absolut 
nicht zu begründen ist: woher die Gesamtheit (oder ein 
Einzelner an ihrer Stelle) ein Recht haben soll, andere zu strafen» 
ist absolut nicht ersichtlich. 

Dass sie die Macht hat, ist eine andere Sache; aber der Staat will 
sein faktisch ausgeübtes Straf recht nicht auf die Macht gründen, auch 
nicht bloss utilitaristisch begründen, sondern als wirkliches juridisches 
Recht nachweisen; das ist aber nur möglich durch Fiktion eines Ver- 
trages: denn andere Rechte, als aus Verträgen hervorgegangene kennt 
der Jurist nicht (Auch der moralische Rechtsbegriff beruht, wie bes. 
Maimon betont, nur auf einem fiktiven Vorstellungsgebilde.) 

Da man also die Strafe nicht auf blosses Machtverhältnis 
reduzieren will — dass einfach der Mächtigere, die Gesamtheit, 
die Einzelnen strafen dürfe, worin aber keine juridische oder 
moralische Begründung liegt — so versucht man durch jene 
Fiktion vom Staatsvertrag das Strafrecht zu begründen, theore- 
tisch. Auf dieselbe Weise suchte man früher und teilweise auch 
jetzt noch sowohl das Recht des Monarchen, der Krone, als 
auch das Revolutionsrecht des Volkes theoretisch zu be- 
gründen: denn es lässt sich ja doch absolut nicht behaupten, 
dass der Staat irgendwoher ein Recht zur Strafe habe, der 
Regent zum Regieren, das Volk zur Revolution. Auf solche Weise 
bildet also der Vertrag den Mittelbegriff, um die genannten 
Rechte theoretisch abzuleiten. 

Im Schlusssatz selbst aber fällt der Mittelbegriff aus; er fällt 
'Somit aus der vollendeten Denkrechnung heraus. 

Ehe wir diesen Gedanken weiter verfolgen — er wird sich 
uns noch als sehr wichtig erweisen — müssen wir darauf auf- 
merksam machen, dass je nach den verschiedenen Fiktionen 
selbst die notwendigen Korrekturen auch ganz verschieden aus- 
fallen: es gibt hier eine ungemeine Mannigfaltigkeit von Formen. 
Da, wo unberechtigte Übertragungen u. s. w. stattfinden, z, B. 
wo der Kreis als Ellipse definiert wird, bildet das fiktive Vor- 
stellungsgebilde selbst nicht den ersten, sondern den zweiten 
Fehler; nämlich: wenn ich sage: der Kreis ist eine Ellipse: so 
ist dies ein offenbarer Fehler; indem ich aber sage: deren Brenn- 
punkte die Distanz = 0 haben, bekommt der Satz einen Sinn. 
Aber wodurch? Noch einmal durch einen Fehler! Denn 
Distanz = 0 isf ein logischer Nonsens. Eine Distanz = 0 
ist ja eben keine Distanz; der Nichtfall wird also einfach 



200 Erster Teil : Prinzipielle Grundlegung. B. Logische Theorie der Fiktioner. 

als Fall in negativem Sinne betrachtet. Hier sind also zwei 
Fehler: der erste ist die Behauptung, der Kreis sei eine Ellipse; 
dieser wird gut gemacht durch den zweiten Fehler der Behaup- 
tung einer Distanz = 0, was logisch aber doch genau ge- 
nommen derselbe Widerspruch ist, wie die Behauptung, der Kreis 
sei eine Ellipse. Auch hier bildet die Vorstellung Distanz = 0 
den Mittelbegriff, der nachher wieder herausfällt; der Schluss 
ist folgender: Jedes Gebilde, welches u. A. zwei Brennpunkte von 
einer gewissen Distanz hat, ist eine Ellipse. Nun hat der Kreis 
zwei Brennpunkte mit der Distanz = 0 — also ist er eine Ellipse, 
Man sieht, wie hier der fiktive Mittelbegriff im Resultat her- 
ausfällt: das Resultat selbst war der Zweck, um den es sich 
handelte: um eine Verallgemeinerung des Begriffes Ellipse 
zu erreichen, oder um den Kreis unter ein ganz konträres Ge- 
bilde zu subsumieren. Daraus erhellt dann freilich auch die 
Subjektivität aller unserer klassifikatorischen Bezeichnungen; so 
kann ich schliesslich alle konträren Begriffe unter einander sub- 
sumieren, was doch gerade der ordinären Logik widerspricht 1 ) 
Eine Reihe von Korrekturen bezieht sich darauf, dass eine 
anfangs mit dem wirklichen Tatbestand vorgenommene Verände- 
rung nach Vollendung der Rechnung wieder zurückgenommen 
wird. Dies ist besonders in der Mathematik der Fall. Nehmen 
wir ein Beispiel: Es ist die Aufgabe gegeben, eine Linie a solle 
in zwei Teile x und a — x geteilt werden, sodass x*(a — x) ein 
Grösstes sei. Diese historisch gestellte Aufgabe schien lange un- 
lösbar, bis Fermat sie durch folgenden Kunstgriff löste:*) 
Fermat setzt statt x den Teil x -f- e, also einen ganz willkürlichen 
Teil, der grösser ist, als der verlangte. Dadurch verwandelt 
sich jener Ausdruck 

x 2 (a — x) 

in folgenden: 

(x-f e)**(a — x — e). 

Diesen Ausdruck vergleicht er mit jenem, als wenn beide 
gleich gross wären, ob sie es gleich nicht sind. (Denn der 
Wert des einen und anderen sind offenbar verschieden; z.B. 
6* (9 — 6) gibt 108; dagegen (6 + l) 3 (9 — 6 — 1) gibt 98.) Diese 



1) Darauf hat bes. Lotze in seiner Logik aufmerksam gemacht: bes^ 
pag. 230 W./ 

2) Dieser Fall ist bei KI Ü gel im mathematischen Wörterbuch ausgeführt 



XXVI. Die Korrektur der gemachten Fehler. 



201 



Vergleichung nennt er eine adaequalitas (Diophanti naQi<s6xn<;), 
Fermat setzt also folgende Gleichungen: 

(I) x 2 (a — x) = x 2 a — x 3 

(II) (x + e) 3 (a — x — e) = (x 2 + 2ex-f e 2 )(a — x — e) = 

ax* + 2aex + ae 2 — x 3 — 2 ex 3 — e 3 x — ex 2 — 2e*x — e» 
Fermat setzt nun, wie bemerkt (I) = (II); daraus folgt: 

(III) x 2 a — x fl a x 2 + 2 a e x + a e 2 — x s — 2 e x 2 — e 2 x — e x* 

— 2e 2 x~e 8 
2aex + ae 2 = 3ex a + 3e 2 x + e 8 
2ax + ae = 3x 2 + 3xe + e 2 

Wie nun aber weiter?? 

Hier macht nun Fermat einfach den oben begangenen 
Fehler dadurch wieder rückgängig, dass er sagt: Jenes x + e 
war eine blosse Fiktion zur Einfädelung der Rechnung. Fak- 
tisch soll ja doch 1 = 11 sein; das ist aber nur möglich, wenn 
e = 0 ist; 1 ) also fallen alle Glieder mit e heraus. Das gibt 

2ax = 3x* 
2a = 3x 



Beispiel: Die Linie a habe die Länge 12; so ist x = 8, a — x = 4; 
nur in diesem Fall ist x*(a — x) ein Grösstes; d. h. 8 2 (4) = 256. 
Jede andere Teilung gibt ein kleineres Resultat: z. B. 7 2 (5) = 245; 
6 2 (6) = 216; 5 2 (7) = 175 u. s. w. 

In diesem merkwürdigen Beispiel hat man ein typisches 
Bild alles fiktiven, alles diskursiven Denkens. Der Ge- 
dankengang Fermats war folgender: Die fingierte Grösse x + e 
ist nicht gleich mit der Grösse x, wenn e real ist; sie ist aber 
gleich, wenn e = 0 ist. Die ganze Rechnungsweise beruht auf 
einer quaternio terminoram, indem e zuerst = real, dann = 0 ge- 
nommen wird. Eine Gleichsetzung der beiden Grössen x*(a — x) 

1) Man nehme an, der Unterschied zwischen x und x+e, also eben die 
Grösse sei sehr klein, so wäre die Gleichsetzung beinahe richtig. Man 
nehme an, der Unterschied sei so minimal wie möglich, so wird die Gleich- 
setzung immer richtiger. Nimmt man aber e = unendlich klein, so wird die 
Differenz unendlich klein; setzt man endlich e = 0, so wird die Differenz 
auch = 0. Die Grösse e wird also, ohfeleich sie Nichts ist, als ein Etwas 
fingiert; ein Irreales wird eingeschoben [und als real angenommen. Dies ist 
auch ein Vorspiel der Differentialrechnung. 



202 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. B. Logische Theorie der Fiktionen 

und (x + e) 2 (a— x — e) ist gar nicht möglich; darum nennt sie 
Fermat eine adaequalitas, eine approximative Gleichheit, keine 
vollständige. Gleichwohl rechnet er, als ob die Gleichheit 
vollständig wäre, obwohl nach dem strengen Codex der 
Mathematik und Logik x nimmermehr = x -f e ist 

Und doch wird durch diese Rechnungsweise das Resultat 
erreicht! Durch die eingeschobene Fiktion x + e und ihre Gleich- 
setzung mit x! 

Was tat also Fermat? Den zuerst begangenen Fehler 
nahm er im Verlauf wieder zurück, indem er die Hilfs- 
grösse e einfach herausfallen lässt Jetzt ist die Gleichheit 
der Schlussgleichung keine erdichtete mehr, wie die erste, sondern 
sie ist eine faktische. Durch die Erdichtung, durch die Methode 
der entgegengesetzten Operationen ist also hier ein äusserst wich- 
tiges Resultat erreicht 

Genau dieselbe Methode, wenn auch einfacher, befolgt das 
mathematische Denken bei der Auflösung der Gleichungen zweiten 
Grades. Wir haben die Gleichung: 

x* + px = q. 

Mit dieser Gleichung kann das Denken nichts anfangen. Es 
kann nur durch die Methode der entgegengesetzten Opera- 
tionen vorwärts kommen. Und wie fängt das Denken das hier 

an? Es führt die Hilfsgrösse ein, und sagt zunächst 

Das wäre aber ein Fehler: die entgegengesetzte Operation 
wird hier sofort vorgenommen, indem auch auf die entgegen- 
gesetzte Seite dasselbe Zeichen gesetzt wird: also: 

,.+„,+(!)'_,+(£)■ 

Nun ist die Gleichung auflösbar; denn: 



XXVI. Die Korrektur der gemachten Fehler. 



203 



Wie gelangte das mathematische Denken zu diesem Resul- 



tat? Durch Einführung der Hilfsgrösse welche auf den 



beiden entgegengesetzten Seiten der Gleichung hinzu- 



gefügt wurde; indem ich auf der rechten Seite auch hinzu- 



setze, hebe ich den auf der linken Seite begangenen Fehler 
wieder auf. Es ist eine allgemeine mathematische Regel, dass 
ich die Eine Seite der Gleichung nicht quantitativ verändern darf, 
ohne einen Fehler zu begehen, ohne die Gleichung zu zerstören. 
Ich begehe diesen Fehler, mache ihn aber sofort durch den ent- 
gegengesetzten unschädlich. 

Formell ist dieses Verfahren mit dem oben dargestellten 
von Fermat beinahe identisch. In der mathematischen Termino- 
logie heisst man dies Kunstgriffe oder Kniffe. Der zweite 
ist ein deutliches Bild der Semifiktion: hier wird die Wirklich- 
keit verändert; nur erfordert hier eben die Eigenart des Gegen- 
standes die sofortige Remedur, die Sanierung, während sie 
in den übrigen Semifiktionen erst nachher eintritt. 

Gezogene Hilfslinien werden eliminiert, wenn das Resultat erreicht 
ist; diese sind das beste mathematische Beispiel und Gegenstück der 
Semifiktionen. 

Auch bei dem ersten mathematischen Beispiel tritt die 
Remedur resp. Sanierung erst nachher ein: indessen ist jenes 
«rste Beispiel zugleich ein Bild der echten Fiktionen; denn hier 
wird ein Widerspruch begangen: entweder ist x a (a — x) = (x + e) a 
^a — x — e), d. h. also x-(-e = x, dann ist e = 0 (mit 0 zu rech- 
nen, darin besteht aber eben der Kunstgriff; 0 ist ja keine 
Zahl); oder x ist nichi = x + e, dann ist die Gleichsetzung 
falsch; das ist sie aber auch im ersten Falle; denn x + O hat 
keinen Sinn mehr; es ist eben = x, und was soll ein 0 8 ? Somit 
kommen wir hier aus dem Widerspruch gar nicht heraus; die 
Feinheit der Mathematik besteht nun aber darin, doch mit 
solchen sinnlosen Symbolen wie 0 zu rechnen, als ob 
sie wirkliche Zahlen wären. 

Ich behaupte nun, dass alle fiktiven Denkhandlungen mit 
der obigen mathematischen formell ganz identisch sind. Die 
Identität der ersten Form: blosse Veränderung der Wirklich- 
keit (ohne Selbstwiderspruch), liegt auf der Hand. Wie im zweiten 
Beispiel das Gleichungsglied x 2 +px durch den willkürlichen 





204 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. B. Logische Theorie der Fiktionen 

Zusatz (natürlich ganz willkürlich darf er nicht sein, son- 
dern in irgend einer Beziehung damit muss er stehen) ver- 
ändert wird, so verändert die Psyche in den obigen fiktiven 
Methoden : künstliche Einteilung, abstraktive resp. neglektive Fik« 
tion u. s. w. die Wirklichkeit, die gegebene Wahrnehmung. Damit 
das Denkresultat aber stimme, muss eben eine entgegengesetzte 
Operation vorgenommen werden; bei dem mathematischen Bei- 
spiel geschieht dies sogleich; bei den anderen geschieht dies 
nachher. Ich behaupte damit nicht, die logischen Funktionen 
auf mathematische reduziert zu haben, sondern die formale 
Identität der wissenschaftlichen Methoden in verschiede- 
nen Wissenschaftsgebieten nachgewiesen zu haben, und 
zwar derjenigen Methoden, welche das Ziel durch Veränderung 
des Gegebenen erreichen, durch willkürliche Abweichung von 
der Wirklichkeit. Jenes mathematische Beispiel ist nur unter 
allen das durchsichtigste und zeigt, wie es denkbar sei, dass 
das Denken gerade durch die Abweichung von der Wirklich- 
keit vorwärts kommen kann. Das gegebene Denkmaterial steht 
der logischen Funktion spröde gegenüber; ohne sich dadurch 
abschrecken zu lassen, verändert sie willkürlich das Gegebene, 
bringt so die Vorstellungen in Fluss und verändert ganz ruhig 
am Ende ihren anfänglich begangenen Fehler, Wir sehen hier die 
formale Identität dieser logischen Kunstgriffe ganz eklatant. 

Auf das Schema der Fermat'schen Rechnung hat Berkeley, 
was gar nicht mehr bekannt ist, auch die Differentialrechnung 
gebracht und gezeigt (ohne das Fermafsche Beispiel anzuführen), 
dass auf diese Weise sich dieselbe erklären lasse: sein Resultat 
ist, dass doppelte Fehler gemacht werden. Die Einwände 
Berkeleys sind in dem vergessenen Werke: The Analyst ent- 
halten und in 50 Abschnitten weitläufig entwickelt Es ist ein 
ungemeines Verdienst Berkeleys, diese Widersprüche in der 
Fluxionsrechnung hervorgehoben zu haben; nur begegnet ihm 
dabei ein höchst komischer Fehler: er weist genau nach, durch 
welchen Kunstgriff der Mathematiker sein Resultat erreiche, näm- 
lich dadurch/ dass die Fehler doppelt gemacht werden: an- 
statt nun in dieser ganz genialen Entdeckung, die viel tiefer 
geht, als Newtons und Leibnizens eigene Ausführungen, den 
Grund des richtigen Resultates und das Recht der An- 
wendung zu finden — verwirft er die ganze Methode als un- 



XXVI. Die Korrektur der gemachten Fehler 205 



logisch, als dem traditionellen Codex der Logik widersprechend. 
Die Geschichte hat ihn Lügen gestraft: denn noch heute macht 
man dieselben Fehler, Widersprüche mit denselben Kunstgriffen 
und ganz mit Recht. Derselbe Fehler begegnete ihm aber noch 
einmal auf eine noch viel komischere Weise: Berkeley wies voll- 
ständig richtig und mit genialem Blick nach, dass fast alle Grund- 
begriffe der Mathematik widerspruchsvoll seien; daraus leitet 
er den Satz ab, die Mathematiker hätten gar kein Recht, über die 
Unbegreiflichkeiten und Mysterien des Christentums zu schelten, 
da ihre eigene Mathematik daran leide; als ein solcher Wider- 
spruch erscheint ihm die Fluxionsrechnung; diese verwirft er 
eben als widerspruchsvoll; aber als echter Engländer sieht der 
gute Bischof von Cloyne nicht ein, dass er dann ja auch die 
Grundbegriffe der christlichen Theologie verwerfen müsste. 

Und er hatte die Lösung sogar in der Hand; allein wir 
haben hier das seltsame Schauspiel, das nicht so leicht in der 
Wissenschaft zweimal wiederkehrt, dass ein Denker die Lösung 
eines Problems in der Hand hat, — das Problem selbst 
aber nicht! 

Das ging so zu: Berkeley war ärgerlich darüber, dass einige 
„free-thinkers", welche Mathematiker waren, sich skeptisch über 
die Unbegreiflichkeiten der christlichen Dogmatik geäussert hatten: 
sein ganzes Bestreben ging nun dahin, nachzuweisen, die Mathe- 
matiker sollten vor ihrer eigenen Türe kehren, und „wer in 
einem Glashause wohne, solle nicht mit Steinen um sich werfen". 
Seine Tendenz ist bloss, nachzuweisen, dass die Fluxionsrech- 
nung mit Widersprüchen behaftet sei; ja er zeigt sogar und 
findet auf diesem Wege ganz zufällig, dass die Methode immer 
Einen Fehler durch einen zweiten wieder gut mache und so nun 
das richtige Resultat erhalte! 

Berkeley hatte eineun wissen schaftlicheTendenz. Das wahre 
Problem war und ist: Wie kommt es, dass in der Mathematik 
durch Widersprüche, wiesie in der Fluxionsrechnungent- 
halten sind, Richtiges erreicht wird? Anstatt dessen sucht Ber- 
keley nur die Widersprüche selbst nachzuweisen! Aberer hat mehr 
geleistet, als er wollte! Denn er hat auch zugleich die Antwort 
auf jene Frage gefunden, die er gar nicht gestellt hatte. 
Und doch hätte ihn diese Antwort selbst auf die richtige Frage 
bringen sollen. Gewiss ein seltener Fall in der Geschichte der 
Wissenschaften. 



206 Erster Teil : Prinzipielle Grundlegung. B. Logische Theorie der FSktione- 

Die Antwort auf jenes Problem ist: Das richtige Resu:- 
tat wird erreicht durch die Methode der entgegenge- 
setzten Fehler 

Wir müssen das Einzelne dieser höchst interessanten Er.> 
deckung Berkeleys über die Fluxionsrechnung (welche Drobisc: 
und Carnot wiederum gemacht haben) auf eine Spezialdarstellurr 
verschieben: für uns fliesst diese Methode ganz organisch 
unserem Prinzip, und sie bildet nur einen Bruchteil der allgemeiner 
fiktiven Methode des Denkens. Die eingeführten Hilfsgrösser 
fallen wieder aus: in der Mathematik ist dies nur möglich durcr 
entgegengesetzte Operationen. Die eigentliche Auflösung des 
Geheimnisses besteht darin, dass dx und dy das eine Mal = 0. 
das andere Mal = real, wenn auch sehr klein betrachtet werder 
Dies ist die mathematische Lösung. Gewiss, sagt Lotze pag, 4(X. 
„ist die Formel ds 2 — dx 2 + dy a eine Fiktion, wenn man da 
Zeichen n — u wirklich Gleichheit und nicht blosse unendliche 
Annäherung an sie bedeuten lässt" (Vgl. oben }) aäaequalita$ L . 
„So lange ds ein wirklicher Bogen, so lange ist die Gleichung 
falsch; sobald aber ds grössenlos wird, werden alle Glieder 
Null und die Gleichung bedeutungslos; gleichwohl führt sie (sac 
Lotze) zu unendlicher Annäherung an den wahren Wert, we~ 
man durch stetige Verkleinerung von ds den begangener 
Fehler stetig verkleinert und hierdurch die Summe oder da 
Integral des ds zuletzt von ihm unabhängig macht." Diese Dar- 
stellung ist richtig, leidet aber an dem schon lange widerlegtem 
Vorurteil, als ob die Fluxionsrechnungen nur approximatii 
giltig seien. Die meisten sind absolut gilt ig und zwar einfach 
weil der Fehler nicht bloss »stetig verkleinert", sondern gani 
korrigiert wird. Man muss hierbei überhaupt unterscheiden iit 
Motive des mathematischen, Kalküls und die Interpretation 
desselben durch diskursive Begriffe. Die Frage, warum mar 
durch die Fiktion von dx und dy und ds die Resultate richte 
erreiche, kann ganz verschieden beantwortet werden, je nachden 
man rein mathematisch zu Werke geht oder eine Erklärung 
mit diskursiven Begriffen will. Mathematisch ist jene Fiktioc 
ein einfacher Kunstgriff, und die Glieder dx u. s. w. falle 
schliesslich einfach heraus durch den entgegengesetztes 
Fehler, durch die quaternio: denn anfangs werden sie gleict 
real, zuletzt gleich 0 genommen. Logisch und diskursiv aus* 
gedruckt nehmen wir den Begriff „Unendlich klein - zu Hilfe, der 



XXVI. Die Korrektur der gemachten Fehler. 



207 



nur ein diskursives Begriffsgebilde ist, dagegen im mathematischen 
Kalkül selbst bloss als Symbol behandelt wird, und sogar in der 
Differentialrechnung selbst, rein mathematisch behandelt, 
gar nicht notwendig ist Man hat schon oft versucht, 
diesen Begriff aus der Differentialrechnung hinwegzutun: aus dem 
mathematischen Kalkül braucht man ihn nicht zu entfernen, 
denn, richtig verstanden, ist er nicht da, wie Berkeley richtig 
zeigt; das Ganze beruht auf einem mathematischen Kunst- 
griff; dagegen sucht die diskursive Interpretation die mathe- 
matische Berechnung durch diesen Scheinbegriff zu rechtfertigen. 
Das ist richtig. Auch jene Fe r matsche Rechnung lässt sich so 
rechtfertigen: man sagt, x + e sei nur unendlich wenig von x 
verschieden, darum seien beide auch wohl gleichzusetzen. Für 
den Mathematiker ist dies keine Rechtfertigung; und wenn e 
noch so klein ist, so ist doch x + e verschieden von x; die 
mathematische Betrachtung, wenn sie rein, ohne diskursive Bei- 
mischung ist, kann die Fermatsche Methode und die Infinitesimal- 
methode ganz ohne Einmischung des Unendlichkeitsbegriffes be- 
trachten; wie e einfach ein Symbol ist = 0, das dann aber 
zuerst = real, dann = 0 genommen wird, so ist ds, dx, dy, 
zuerst = real, sehr klein (nicht unendlich klein) und nachher 
= 0; durch diesen einfachen kunstreichen Mechanismus wird das 
Resultat errreicht Dieser mathematischen Rechtfertigung oder 
Justifikation steht die diskursive vermittelst des Missbegriffes des 
Unendlichkleinen gegenüber: es ist vollständig richtig, dass 
man diesen entbehren kann bei jenen Methoden, aber den Wider- 
spruch werden sie doch nicht los, denn sie rechnen mit 0 
gleich einer Zahl, oder sie setzen zuerst e und ds = sehr klein, 
dann =0; das sind Kunstgriffe, deren richtiger Erfolg nur auf 
der Methode der entgegengesetzten Fehler beruht. Zuerst 
wird e eingeführt, dann wird es wieder herausgeworfen; so auch 
die Differentiale. Die Verdeutlichung durch den Begriff des 
Unendlichkleinen gehört nur dem diskursiven Denken an; und 
es ist Hoffnung vorhanden, diesen Begriff, wie wir ihn hier als ent- 
behrlich erkannten, so auch sonst entbehrlich zu machen. Wenn 
aber auch dies nicht gelingt, so ist und bleibt er doch als eine 
Fiktion erkannt; es ist nur wichtig, zu zeigen, wie bei diesen 
Fiktionen durch entgegengesetzte Fehler das eigentliche 
Resultat erreicht wird. Wenn wir e, und d s, d x, d y — als 
unendlich klein nehmen, so ist aber die Methode genau die- 



208 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. B. Logische Theorie der Fiktionen. 

selbe wie oben: wir führen dadurch ein fiktives Gebilde ein, 
denn unendlich klein ist logischer Nonsens, ein Bastard von 
Nichts und Etwas. Und das ganze grosse Geheimnis der 
Sache läuft auf diese lächerlich einfache Methode hinaus, diesen 
Begriff bald als Etwas, bald als Nichts zu nehmen. 

Also das Resultat ist dies. Man braucht den Begriff des 
Unendlichklemen gar nicht: die Methode erklärt sich genügend 
dadurch, dass e und ds zunächst als sehr klein, und dann 
als Nichts gesetzt werden; dadurch wird zuerst eine approxi- 
mative adaequalitas erreicht, und durch Vernachlässigung eine 
aeqmlitas: dagegen vereinigt nun das diskursive Denken diese qua- 
ternio von Etwas und Nichts — und macht daraus das Unend- 
lichkleine, das also lediglich ein zusammenfassender Ausdruck 
für die ganze Methode ist. Auf diese einfache Weise klärt 
sich das ganze Geheimnis auf. Das Unendlichkleine ist eine 
Fiktion. Freilich wird dann durch diese Fiktion (welche durch 
die Methode der entgegengesetzten Fehler gerechtfertigt ist) das 
Gegebene gleichsam zersetzt: nur dadurch ist der Fortschritt der 
Rechnung ermöglicht. Indem das Denken entgegengesetzte Ope- 
rationen vornimmt, erreicht es einen Fortschritt: die Zusammen- 
fassung dieser entgegengesetzten Operationen in Einen Begriff 
erzeugt eben die Fiktionen, welche nur das Symptom solcher 
entgegengesetzten Operationen sind, solcher entgegengesetzten 
Fehler. Nun sind die Widersprüche in solchen Begriffen erklärt 
und gerechtfertigt, beides zugleich. Die Hauptsache sind nicht 
diese Begriffe selbst, sondern die in ihnen zum Ausdruck 
kommenden entgegengesetzten Operationen, durch welche 
das Denken seine Fortschritte erreicht. Wie denn aber das mög- 
lich sei, das lehrten uns jene mathematischen Beispiele und wird 
uns noch das Folgende lehren. Der ganze Fortschritt des Den- 
kens beruht nur auf solch entgegengesetzten Operationen oder 
Fehlern: in diesem Hin und Her besteht einzig und allein 
der logische Fortschritt, der keine gerade Linie ist, sondern ein 
beständiges Lavieren gegen einen ungünstigen Wind. 1 ) 



1) Dies ist wohl auch der Sinn der Methode Lotzes in seiner Logik, die 
Jogische Funktion durch Überwindung gefundener Widersprüche fortschreiten 
zu lassen. Lotze, der feine Kenner der Mathematik, hat diese Natur des 
Denkens richtig erkannt in seiner Logik, dem besten seiner Werke. Auch bei 
Hegel findet sich jene Erkenntnis, aber in mehr mythischer Form. 



XXVI. Die Methode der entgegengesetzten Operationen. 209 

Wir haben oben an speziellen mathematischen Beispielen 
nachzuweisen versucht, wie die Seele kunstreich verfahre, um 
schwierige Aufgaben zu lösen: sie weicht der Schwierigkeit 
einfach nach der Seite hin aus und sucht indirekt ihr Ziel zu 
erreichen. Es waren frappante Beispiele, welche wir zu betrachten 
hatten, aber sie allein sind imstande, uns den eigentlichen Denk- 
mechanismus, den psychischen Mechanismus des Denkens zu 
enthüllen. Wenn nämlich alle Kategorien und Allgemeinbegriffe 
nach unserer früheren Ausführung auch nur Fiktionen sind, so 
muss ja wohl hier ein Ähnliches stattfinden? Natürlich I Und es 
findet auch statt, und wir haben auch schon darauf hingewiesen 
und wollen noch einmal darauf hinweisen. Durch die Ein- 
schiebung einer Kategorie wird nämlich, wie wir sahen, nicht 
nur der Schein des Begreifens erzeugt, sondern auch eine 
gewisse Ordnung der Phänomene hervorgebracht, und die Be- 
rechnung der Data der Erfahrung ermöglicht. Ich sehe übrigens 
auch gar nicht ein, was denn die Einteilung der Phänomene in 
Kategorienfächer vor einer künstlichen Einteilung vor- 
aus haben sollte? Praktisch ist diese Einteilung recht wertvoll, 
aber wer wird heutzutage behaupten, dadurch sei irgend eine 
Erkenntnis geschaffen, wer wird leugnen, dass diese Einteilung 
zu Unzuträglichkeiten und Widersprüchen, zu „unmöglichen 
Gliedern", wie Lotze sagt, führe. 

Also unsere Kategorieneinteilung ist eine rein künstliche 
Klassifikation der Dinge, und das Prinzip dieser Einteilung ist 
einzig und allein die Analogie der Abfolge und Gleichzeitigkeit 
der phänomenalen Unabänderlichkeiten mit subjektiven Verhält- 
nissen; aus diesen werden prominente Fälle herausgehoben, sie 
bilden das Gleichzeitszentrum, um das sich die äusseren ähnlichen 
Fälle versammeln. Bei der'Denkrechnung aber fallen sie faktisch 
heraus. Das ist leicht zu beweisen: es sei durch die Denkrech- 
nung festgestellt, dass die spezifische Schwere von 19,5 eine un- 
abänderliche koexistente Eigenschaft der Wahrnehmungskomplexe 
sei, die wir „Gold* nennen; wir heissen dies und drücken dies 
so aus: dies ist eine „Eigenschaft des Goldes". Was wird 
denn nun dadurch gewonnen? Nichts, als dass durch diese 
Bezeichnung an die Analogie mit tausenden von ähnlichen 
Koexistenzverhältnissen erinnert wird; ist diese Erinnerung ge- 
schehen, so ist der Zweck der Kategorie vollendet Denn 
was soll die Bezeichnung als »Eigenschaft"? Es ist nichts als 

14 



2 1 0 Erster Teil : Prinzipielle Grundlegung. B. Logische Theorie der Fiktionen. 

eine bildliche Analogie; „Eigenschaft" ist ursprünglich ein 
analoges Verhältnis, das als prominenter Fall zu betrachten ist: es 
wird dadurch also ausser jener Erinnerung an tausende ähnlicher 
Fälle, welche allein Wert hat, noch eine Erinnerung an ein 
spezielles Verhältnis hervorgebracht, das uns, weil es uns selbst 
angeht, verständlich, begreiflich erscheint 

Vgl. Laas, a. a. O. pag. 25/26: „Und wenn wir wirklich „inharierende" 
Eigenschaften, Zustände und Aktionen von „subsistierenden* Personen 
und Dingen prädizieren, indem wir aus der komplexen Gesamt Wahr- 
nehmung oder Vorstellung „das eigentlich Beharrende und Radikale 
gleichsam absondern" (Kant) und dem Wechselnden in Gedanken 
gegenüberstellen und urteilend wieder mit ihm vereinigen, 
liegt in dieser logischen Operation" u. s. w. 

Klarer kann die Methode der entgegengesetzten Operationen nicht 
ausgedrückt werden; besonders hat Laas betont, dassim Urteil die ab* 
strakte Gegenüberstellung wieder ihre Auflösung, also ihre Korrek- 
tur finde. 

Jene Leistung, dass uns das objektive Verhältnis verständ- 
lich und begreiflich erscheint durch die kategoriale Fassung, ist 
eine rein illusorische, wertlose und eine blosse Nebenleistung: 
die eigentliche Hauptleistung besteht darin, dass durch diese Aus- 
drucksweise der spezielle Fall des Koexistenzverhältnisses beim 
Golde unter die allgemeinere Beziehung analoger Fälle ge- 
bracht wird, d. h. aber nur, dass diese Kategorienbezeichnung 
gleichsam das Band ist, welches alle diese einzelnen Fälle zu- 
sammenhält, welche sonst dem Gedächtnis entschwinden würden. 
Wer sich also offen prüft, muss gestehen, dass durch diese Sub- 
sumtion unter die Kategorie nur dies erreicht wird, dass dieser 
spezielle Fall tausend ähnlichen speziellen Fällen angereiht ist, 
und dann fällt die Bezeichnung als „Eigenschaft" als blosses 
Bild weg; die Illusion flieht, und das sichere, feste Wissen 
bleibt 

Genau dasselbe ist der Fall bei den anderen Kategorien, 
speziell bei der Kausalität: auch dieser eingeschobene Begriif 
fällt heraus. 

Dass aber auch hierbei entgegengesetzte Operationen im 
Spiele sind, muss nachgewiesen werden: die erste Operation war 
die Zusammenfassung aller ähnlichen Fälle unter die Kategorie, 
die Apperzeption der einzelnen Fälle durch einen „prominenten * 
Fall, der dasselbe unabänderliche Verhältnis zeigt, und der sich 
unter allen uns subjektiv bekannten Fällen schliesslich am passend- 



XXVL Die Methode der entgegengesetzten Operationen. 211 

sten zur Analogie erwies. Die zweite Operation ist die Anwen- 
dung dieser allgemeinen Kategorie auf den neuen Fall; hier dient 
sie als Mittelglied und fällt wie jeder Mittelbegriff schliesslich 
aus; allerdings in unserer Ausdrucksweise nicht, und aus 
dieser kann sie niemals ausfallen, selbst wenn wir uns noch so 
vorsichtig und schleppend ausdrücken wollten: denn die sprach- 
liche Ausdrucksweise ist so eng verwachsen mit den Formen des 
diskursiveit Denkens, dass wir ebenso gut sagen, dieses selbst 
mache erst die Sprache möglich, als: die Sprache sei die nötige 
Bedingung jenes Denkens: beide stehen in engster Wechselwirkung. 
Also in der Sprache fällt die Fiktion niemals aus, weil die 
Sprache die eigentliche Bewahrerin, ja die Erzeugerin und Nährerin 
der Fiktionen ist: allein wenn man sich ehrlich prüft, was man 
sich denn nun eigentlich durch die Kategorie vorstelle (mit jener 
Ehrlichkeit, mit der sich ein Hume prüfte), so bleibt uns nur 
das Geständnis übrig, dass wir dadurch zunächst an den pro- 
minenten Fall erinnert werden, und durch diesen an eine zahl- 
lose Reihe ähnlicher Phänomenalbeziehungen: das Begreifen aber 
erweist sich als trügerisch und besteht ebenso sehr in der 
Meinung, durch Reduktion auf den subjektiv bekannten Fall 
etwas erreicht zu haben, als in der Täuschung »der verdichteten 
Erinnerungssumme wie ich dies nennen möchte: eine Summe von 
aufeinanderfolgenden Phänomenen, von welchen jedes für sich 
unverständlich ist, kann, wenn sie in rascher, verdichteter 
Erinnerung, wie dies durch die Kategorie eben möglich ist, 
verfolgt wird, den Eindruck des Begreifens hervorbringen. 

Also diese beiden Illusionen abgezogen, bleibt nichts übrig, 
als die Ähnlichkeit des speziellen Falles mit tausend 
ähnlichen Fällen: in dieser kritisch gesichteten Vorstellungs- 
weise — und sie allein ist wissenschaftlich — ist nicht nur die 
Kategorie herausgefallen, sondern auch aller Schein des 
Begreifens verschwunden; denn streng genommen wird ein 
Phänomen durch seine Häufigkeit nicht erklärbarer. In der un- 
befangenen Seele freilich bringt diese häufige Wiederholung des- 
selben Phänomens und dann seine rasche Erinnerung den trüge- 
rischen Schein des Begriffenhabens hervor. Freilich in der 
sprachlichen Ausdrucks weise kann man sich dieser Fiktion 
nicht entledigen; denn die ganze Sprache ist ja das Vehikel 
des diskursiven Denkens. In der sprachlichen Ausdrucksweise 
kann man diese Phänomene eben nicht anders als mit den kon- 

14* 



212 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. B. Logische Theorie der Fiktionen. 

ventionellen Symbolen titulieren und benennen; sonst bleiben 
sie unausdrückbare logische Inexpressible, mit denen man in der 
menschlichen Gesellschaft nichts anfangen kann; um sie zu 
brauchen, müssen die nackten Tatsachen nach Konvention und 
Mode umkleidet sein. 

Nicht viel anders steht es aber mit der zweiten Haupt- 
fiktion der logischen Funktion, mit den Allgemeinbegriffen: 
auch sie fallen nach Vollendung der Denkrechnung heraus, wie 
oben „e* und <fs, äx f dy herausfielen, weil sie fiktive, einge- 
schobene Vorstellungsgebilde sind ohne wahre, objektive 
Bedeutung. Verfolgen wir eine Denkrechnung in ihrem Ver- 
lauf, und analysieren wir dabei den psychologischen Mecha- 
nismus. Es handle sich darum, als Resultat zu erhalten, dass 
— es ist ein altes Schul-Beispiel — Sokrates sterblich ist, weil 
jeder Mensch, weil der Mensch überhaupt sterblich ist. Die 
wahre Aufgabe hierbei ist, von dem speziellen Phänomen 
solches auszusagen, was in vielen tausend ähnlichen 
Fällen beobachtet war. Also wir haben: 

M — P — Der Mensch ist sterblich. 

S — M — Sokrates ist ein Mensch, 

S — P — Sokrates ist sterblich. 
Was haben wir damit getan? Mit Hilfe des Mittelbegriff es 
„Mensch"habenwireineDenkrechnung vollzogen, deren Resul- 
tat ist: Sokrates ist sterblich. Der Mittelbegriff selbst ist 
herausgefallen. Es war uns ja auch nur darum zu tun, den 
einzelnen Fall des Sokrates: dieses Spezialphänomen, so mit 
einer zahllosen Reihe anderer zu vergleichen, dass wir eine ge- 
meinsame Koexistenz oder Succession erschliessen können, d. h, 
wahrnehmen könnten, wenn der spezielle Fall überhaupt in unsere 
Wahrnehmung treten würde. Eigentlich ist dieser Schluss eine 
Hypothese nach der Analogie: weil viele Menschen, d. h. alle 
bekannten Menschen sterblich gewesen seien, sei auch Sokrates 
sterblich. Allein diese blosse Analogie — und faktisch besteht 
unser ganzes Wissen darin — wird vermittelt und erleichtert 
durch den Mittelbegriff Mensch. 

Nachdem das Resultat erreicht ist, fällt der Mittelbegriff 
heraus. 

Die entgegengesetzten Operationen bestehen also darin, 
dass zuerst der Allgemeinbegriff „Mensch" überhaupt ge- 
bildet wird, und dass dann Sokrates selbst darunter subsumiert 



XXVI. Die Methode der entgegengesetzten Fehler. 213 

wird: dadurch wird eben das Ausfallen des Mittelbegriffes 
ermöglicht. 

Die entgegengesetzten Operationen nannten wir aber 
auch entgegengesetzte Fehler: wir wollen dies hier spezieller 
verwerten; vielleicht finden wir noch ein ganz anderes, uner- 
wartetes Resultat Der erste Fehler besteht in der Bildung des 
Begriffes: „Mensch überhaupt". Was ist dieses „ überhaupt "? 
Es ist eine reine Einbildung, eine Fiktion, ein fiktives Vor- 
stellungsgebilde, Aus der unzahligen Menge der vielen beobach- 
teten Menschen schiebt sich allmählich ein Allgemeinbild 
heraus (dem wohl auch immer ein „prominenter Fall" zugrunde 
liegt), ein Typus, ein Schema, in dem die allgemeinsten „Eigen- 
schaften" dieser ähnlichen Phänomene gesammelt sind. Dieses 
Bild ist bloss ein Vorstellungsgebilde: in Wirklichkeit gibt es 
nur einzelne Menschen. Wir heissen dies Gebilde nun den 
Allgemeinbegriff „Mensch", Da ein solches Gebilde nicht 
existiert, so ist der Satz: Der Mensch ist sterblich — logisch 
streng genommen — falsch; denn sterblich sind nur die ein- 
zelnen Menschen, die einzelnen A, B, C 9 D. . . . Eine Aus- 
sage über „den Menschen" ist logisch streng genommen falsch, 
eine Abweichung von der gegebenen Wirklichkeit, weil diese uns 
keinen „Menschen" gibt. 

Der Untersatz: S — M ist aber auch falsch; denn in ihm 
wird ein individuelles Wesen dem Allgemeinbegriff gleichgestellt. 
Jenes M als Allgemeinbegriff ist doch etwas Anderes als das 
M a b c (a b c als die Reihe der individuellen Bestimmungen ge- 
setzt nach der Bezeichnungsweise Lotzes), welches Sokrates aus- 
macht. Nennen wir dies M 1 . Es wird also im Untersatz gesagt: 
S ist M. Das ist aber auch nicht wahr, denn S ist M 1 , 

Formell ist dies ganz identisch mit dem mathematischen Beispiel 
Lotzes (Lotze, Log. pag. 400). Wie dort M unter T 1 statt unter T sub- 
sumiert wird, so hier M l unter M; so wenig aberT 1 mit T identisch ist^ 
so wenig ist hier Sokrates M 1 identisch mit M. Vgl. oben S. 187. 

Genau wie wir oben eine quaternio terminorum hatten bei e 
(in der Rechnung von Fermat war es zuerst = real, dann = 0) 
so hier: und in dieser quaternio besteht eben auch die Methode 
der entgegengesetzten Operationen. Zuerst werden alle M 1 , M a , 
M 8 durch eine willkürliche Abstraktion zusammengef asst zu einem 
M, dem die an jenen beobachteten Eigenschaften zugeschrieben 
werden; dann wird umgekehrt ein gegebenes M 1 mit diesem M 



214 Erster Teil; Prinzipielle Grundlegung. B. Logische Theorie der Fiktionen- 
identifiziert, also der entgegengesetzte Fehler gemacht; durch 
diesen Fehler nun wird die willkürliche Abweichung wieder gut 
gemacht, und der Mittelbegriff fällt aus. 

Also beruht jeder solcher Schluss, dessen Mittelbegriff ein 
Allgemeinbegriff ist, auf einer guaternio terminorum. 

Ob und in wie weit dies mit Brentano 's Theorie der Quaternio, 
welche er in seiner Psychologie ankündigte, eine Verwandtschaft habe, 
ist noch nicht festzustellen, da er die Theorie noch nicht vollständig 
vertmentiicht hat. 

Auf jene Quaternio hat auch Zeising im ersten Abschnitt seiner 
Schrift: „Religion und Wissenschaft* hingewiesen: er bemerkt, dass 
in solchen Fällen keine strenge Dreiheit der Termini vorhanden sei, und 
macht die richtige Beobachtung, das sehe man schon äusserlich darin, 
dass der Obersatz heisse: Das M ist P, der Untersatz aber: S ist Ein M: 
also sei doch das M des Obersatzes nicht identisch mit dem des Unter- 
satzes, sondern jenes ist M, dieses M 1 . 

Somit sind auch beim Gebrauch der Allgemeinbegriffe die 
Methode und der Mechanismus des Denkens auf die allgemeine, 
bisher beobachtete Methode der entgegengesetzten Opera- 
tionen zurückgeführt — 

Eine Folgerung aus dem Gesagten müssen wir noch hinzu- 
fügen: Ausdrücke, wo die entgegengesetzte Operation noch nicht 
vollzogen ist, sind also streng genommen ebenso falsch, als 
x 2 (a — x) = (x + e)*(a — x — e), wo eben die entgegengesetzte 
Operation noch nicht stattfand. 

Das trifft nun einmal auf alle allgemeinen Sätze zu; 
denn der allgemeine Satz hat nur die Funktion, in einer Denk- 
rechnung verwertet zu werden und zur Vermittlung zu dienen: 
der Satz: »Der Mensch ist sterblich 44 ist also, wie schon manche 
Skeptiker behaupten, falsch, weil „der Mensch 4 * gar nichts Reales 
ist Es ist ein unrealer Satz, der nach seiner Ergänzung verlangt 
wie eine abgerissene Hälfte. 

Nun hat aber Lotze (und ähnlich vor ihm Steinthai) die- 
selbe Bemerkung gemacht in Bezug auf alle in Kategorien ge- 
fassten Begriffe überhaupt, und sicher mit vollem Rechte. Steinthal 
macht mehrfach darauf aufmerksam, dass im Urteil eigentlich 
erst die Spannung gelöst werde, welche durch die Bildung 
einzelner Begriffe ins Denken hereingebracht werde. Natürlich! 
Nach unserer Theorie sind alle Begriffe, alle in Kategorien ge- 
brachten Verhältnisse Fiktionen: ein einzelnes Glied dieses Ver- 
hältnisses, eine Fiktion nackt hinzustellen, darin besteht eben die 



XXVI. Die Methode der entgegengesetzten Fehler. 215 

Spannung, der Widerspruch: Baum, grün sind Beispiele; ab- 
getrennt, isoliert sind das Fiktionen: sage ich aber 9 dieser Baum 
ist grün", so ist die Spannung im Urteil gelöst. 

Das eigentliche Prinzip, dass die isolierten Begriffe und Allgemein- 
urteile zur Ergänzung drängen, liegt eben darin, dass sie nur Mittel zu 
einem Zwecke sind,, ohne den sie wertlos sind: die Mittel aber ohne 
Rücksicht auf ihren Zweck zu behandeln, führt eben auf Spannung und 
Widersprüche. 

Indessen ist dies nur ein spezieller Fall einer viel allge- 
meineren Erscheinung bei allen Fiktionen. Wir machten ja mehr- 
fach darauf aufmerksam, dass, wenn man die Fiktionen, die 
Mittelglieder, allein herausnehme und behandle, man nur die 
Schalen nehme und den Kern fallen lasse: sowie man eine 
Fiktion abgelöst betrachtet von dem Boden, auf dem sie ge- 
wachsen ist, und von dem Z weck, den sie erfüllt, so ist sie 
Schale, ohne Kern, wie y) — 1 , wie rfy, 6x f wie jenes e 1 ) u. s. w., 
und somit hat man nicht nur Schalen in den Händen, sondern 
auch Widersprüche und Scheinbegriffe: sie haben eben nur Leben 
in der Beziehung aufs Wirkliche: ohne diese sind sie tot; ohne 
ihren Zweck betrachtet sind sie wertlos. Ganze Zeiten haben 
sich mit Schalen begnügt; so das Mittelalter, welches sich mit 
Begriffen abgab ohne ihre Beziehung auf die lebendige Wirk- 
lichkeit, in der sie allein ihren Zweck erfüllen. Also alle Be- 
schäftigung mit den Fiktionen als solchen ist wertlos und schäd- 
lich, weil sie selbst nur Wert haben in ihrer Beziehung auf 
ihren Zweck: von diesem allgemeinen Gesetz, — das mit abso- 
luter Notwendigkeit aus dem Wesen der Fiktion selbst folgt und 
so Vieles aus der Wissenschaftsgeschichte auf einmal erklärt — 
ist jene obige Bemerkung nur ein AnwendungsfalL Natürlich 
haben Begriffe und darauf gebaute Allgemeinurteile keinen Werf 
als in Beziehung auf die einzelnen Phänomene und ihren 
Zusammenhang. Darum drängt der Begriff zum Urteil, 
weil er selbst unvollkommen ist, d. h. ein fiktives Vorstellungs- 
gebilde; im Satz wird aber der begangene Fehler wieder rück- 
gängig gemacht, indem im Einzeltirteil — die in Kategorien aus- 
einandergerissene Erscheinung wieder zusammengesetzt wird: wir 
hatten oben das Beispiel: „Der Baum ist grün", „Der Zucker 



1) Kenner der Mathematik werden hierbei wohl sofort an die bekannten 
Vorsichtsmassregeln erinnert, dass z. B. <? x t <fy an sich keinen Sinn haben, 
nur im Zusammenhang der Rechnung Wert haben u. s. w. 



216 Erster Teil : Prinzipielle Grundlegung. B. Logische Theorie der Fiktionen. 

ist weiss". „Zucker", „weiss" für sich sind Fiktionen: dagegen 
das Urteil „der Zucker ist weiss" spricht eine Tatsache aus. 
Freilich ist, wie wir oben sahen, ein solches allgemeines Urteil, 
von einem höheren Standpunkt aus betrachtet, auch streng ge- 
nommen, falsch, da es nur dieses und jenes Stuck Zucker gibt, 
nicht aber Zucker überhaupt 

Ihre eigentliche Wichtigkeit und Bedeutung gewinnt unsere 
Ansicht aber erst durch die Anwendung auf die grossen Lieb- 
lingsbegriffe der Philosophen: Gott, Freiheit, Unsterblich- 
keit, Ding an sich, Absolutes u. s. w. und auf eine Reihe 
anderer Begriffe und Methoden, welche hier zum erstenmal unter 
diesem zusammenfassenden Gesichtspunkt betrachtet werden, und 
denen ihre wahre Bedeutung in demselben Moment erst zu- 
gewiesen wird, als ihnen jede Bedeutung für die Wahr- 
heit abgesprochen werden muss. Die eigentliche Bedeutung 
unserer Untersuchung liegt also in der schonungslosen Anwen- 
dung dieser Theorie auf gewisse beliebte Begriffe und berühmte 
Ideen, ebenso wie auf die ganze Vorstellungswelt, wodurch der 
kritische Positivismus allein zur konsequenten und lücken- 
losen Ausführung gelangt Nicht nur jene einzelnen Begriffe, 
nicht nur eine Reihe von Methoden, nicht nur das diskursive 
Denken, sondern die ganze Vorstell ungs weit ist also für uns 
eine Fiktion. Wirklich ist und bleibt nur die beobachtbare Un- 
abänderlichkeit der Phänomene, ihrer Verhältnisse u. s. w.; alles 
andere ist blosser Schein, den die Psyche „darum herum" macht: 
die ganze formelle Bezeichnung und Titulierung nicht nur ist 
konventionell, sondern auch die ganze diskursive Betrachtung 
des Geschehens ist und bleibt ^subjektiv. Wahres, nacktes Sein, 
„reine Erfahrung", aus der wir die „Welt" erst machen, zunächst 
zum Zweck, um jene Wirklichkeit selbst berechnen zu können, 
ist nur jener Rest, der freilich die ganze Erfahrung in sich 
schliesst. 

Damit bleibt aber für die echte Wissenschaft genug übrig 
zur Erforschung; und ausserdem bleibt ja die grosse Aufgabe, 
die Vorstellungswelt, dieses Denkmittel im grössten Massstab, 
immer zweckmässiger zu gestalten: die Wissenschaft sammelt 
denn auch solche Formeln an, welche immer rascher und sicherer 
eine Berechnung der Wirklichkeit ermöglichen. Nicht die wahre 
Wissenschaft wird also durch unsere Kritik getroffen, sondern 
alles und jedes dogmatische Spielen mit Begriffen. Ausserdem 



XXVI. Die Methode der entgegengesetzten Fehler. 



217 



möchten wir den Blick für die logischen Methoden schärfen und 
stets daran erinnern, streng zwischen bloss subjektiven und fik- 
tiven Operationen einerseits und zwischen Wirklichkeit und Wirk- 
lichkeitsbeziehungen andererseits zu scheiden; vor Missbrauch 
der Fiktion möchten wir endlich ebenso sehr warnen, wie vor 
allzu grosser Scheu vor solchen Vorstellungsgebilden freierer 
Natur, deren Nutzen und Wert wir glauben hinlänglich nachge- 
wiesen zu haben. 

Besonders möchten wir aber den Blick auf jenen wunder- 
baren Mechanismus des Denkens lenken, jene Methode ent- 
gegengesetzter Operationen, welche der eigentlich logische 
Kern der Fiktion ist Wir können uns nicht versagen, auch hier 
ein sehr bemerkenswertes Analogon aus dem Gebiet der Physio- 
logie herbeizuziehen. Worauf beruht die Bewegung der Orga- 
nismen, der Menschen? Gehen ist ein reguliertes Fallen: mit 
jedem Schritt fällt der Mensch auf Eine Seite durch Veränderung 
seines Gleichgewichtes und sucht den Fall durch Vorsetzung des 
anderen Fusses zu hemmen: auf dem antagonistischen Spiel 
solcher Funktionen beruht nicht bloss das Gehen, sondern be- 
ruhen auch sonstige organische Bewegungen. 

Der Fortschritt der logischen Vorstellungsbewegung ist ähn- 
lich: Denken ist ein regulierter Irrtum. Das Kind lernt nur 
durch Fallen das Gehen; und der Mensch nur durch Irrtum 
Denken: wahres Denken ist nur regulierter Irrtum, wie wir schon 
sagten, dass Wahrheit der zweckmässigste Irrtum sei, und 
Gehen ist die zweckmässigste Fallbewegung. Aller Fort- 
schritt beruht auf momentaner Aufhebung des logischen Gleich- 
gewichts (auf jenen Widersprüchen durch die Fiktionen), die 
wider durch eine entgegengesetzte Operation gut gemacht werden 
muss. Kein Mensch weiss ohne die Wissenschaft, dass er beim 
Gehen beständig fällt, und doch lehrt das die Physiologie, die 
Maschinenkunde des menschlichen Körpers, die Mechanik des 
menschlichen Organismus; kein Mensch weiss, dass er beim 
Denken beständig fehlt und irrt, und doch macht er Fort- 
schritte. Und wenn dieser Gesichtspunkt bisher noch nicht mit 
demjenigen Nachdruck geltend gemacht worden ist, den wir im 
Vorhergehenden darauf legten, so liegt dies eben an den über- 
kommenen Vorurteilen: es folgt diese Betrachtung aber mit Not-' 
wendigkeit aus der Entwicklung des Kritizismus seit dem XVIII. 
Jahrhundert: das Grundgesetz des Denkens ist die Methode 



218 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung, B. Logische Theorie der Fiktionen , 

der antagonistischen Operationen. Der Fall, die Auf- 
hebung des Gleichgewichts ist das Prinzip der menschlichen 
Bewegung; 1 ) der Widerspruch, die Aufhebung des logischen 
Gleichgewichts, ist das von Hegel geahnte Prinzip der mensch- 
lichen Denkbewegung, und ohne Widerspruch kämen wir zu 
keinem Fortschritt. Das Denken ist von Anfang an mit Fik- 
tionen durchzogen, und diese sind die Vermittler des logischen 
Fortschrittes, und doch widersprechen sie der Wirklichkeit und 
sich selbst 

So auch schon Condillac. Von Condillac scheint Lewes influiert zu 
sein, der die hier vorgetragene Theorie der entgegengesetzten Operationen 
teilweise ganz ähnlich in der Einleitung zu seiner „Geschichte der alten 
Philosophie", deutsch, Berlin 1871, bes. pag. 68 ff. vorträgt Er betont die 
Notwendigkeit des Denkens (welches auf der menschlichen Unvollkommen- 
heit beruhe), Kunstgriffe anzuwenden, Kunststücke zu machen wie ein 
Taschenspieler. Ein solches sei das antagonistische Spiel der Abstraktion 
und Konkretion. Ebenso warnt er vor dem grossen Fehler, nur Einen 
Schritt zu tun ohne den zweiten. „Man muss das Abstrakte wieder in die 
Konkreta eintauchen, aus denen es entstanden ist" (pag71). Lewes be- 
spricht daselbst auch die von uns sogenannten personifikativen Fiktionen, 
indessen alles in ziemlicher Unordnung. Vgl. bei Lewes bes. noch pag. 77 
(„der bequeme Ausdruck wird realisiert*), ib. „über die Taschenspielerei 
des Gedankens", „über geistige Stenographie und die Nützlichkeit dieses 
Kunststückes, sowie über den allgemeinen Fehler, die vernachlässigten 
Elemente nicht wieder herbeizuziehen", bes. pag, 78; „in einer schliesslichen 
Ausarbeitung müssen wir das wiederherstellen, was wir in einer vorläufigen 
ausgeschieden haben", ib. 79, 80: „wir verrücken die Ordnung der Natur 
durch Analyse und Abstraktion. Diesen Kunstgriff dürfen wir häufig an- 
wenden, denn er führt zu Entdeckungen, wenn wir nur eingedenk bleiben, 
„dass er ein Kunstgriff ist, und dass die Ordnung, welche wir verrückt 
haben, schliesslich wieder herzustellen ist"; und ib.: „man operiert 
mit diesen Abstraktionen, als wenn sie die ganze Wirklichkeit wären", 
bes. pag. 81 : „Diesen zwiefachen Prozess schlage ich vor, zu einer logischen 
Regel zu erheben, die auf alle induktive Untersuchung anwendbar ist, zu 
der Regel der Restitution oder Wiederherstellung". Ibidem ein Beispiel, 
wie Kepler und Newton „vorläufig" die Wirklichkeit „verfälschen"; bes. 
noch pag. 82, 83, bes. 85 über die Entstehung einer Kategorie durch Ana- 
logie. Lewes hat sehr richtig und mit genialem Blick das Grundgesetz 
des Denkens erkannt, die Methode entgegengesetzter Operationen. 

Übrigens betrachten wir diese Methoden und Kunstgriffe des Denkens 
keineswegs wie Lewes als „Schwächen", sondern als Betätigungen der 
wunderbaren organischen Zweckmässigkeit des Denkens: da- 
durch erhält unsere Darstellung ein anderes Gesicht als die von Lewes, 



1) Über das Prinzip der antagonistischen Arbeit im Organismus, s. M e y e r , 
Entstehung unserer Bewegungen, Berlin 1868, pag, 7—8. 



XXVI 1. Das Gesetz der Ideen Verschiebung. 



219 



Unsere Ansicht hat insofern auch noch einen viel breiteren Boden 
als die Lewes', als wir dieselbe Tätigkeit auch au! ganz andere Gebiete 
ausdehnen, also auf Allgemeinbegriffe, Kategorien, ja auf die ganze 
Vorstellungswelt, und als wir, wie bemerkt, den Gesichtspunkt der 
Zweckmässigkeit geltend machen, welche diese Fiktionen erfüllen, 
indem sie als Durchgangspunkt der Denkbewegung dienen. 



Kapitel XXVIL 
Das Gesetz der Ideenverschiebung.*) 

Die bisherige Untersuchung bietet uns nun auch Material 
genug dar, um noch ein weiteres, auf die Fiktionen bezügliches 
Gesetz zu formulieren und psychologisch zu begründen: ich nenne 
das betreffende Gesetz das Gesetz der Ideenverschiebung. 
Dasselbe lässt sich allgemein dahin formulieren, dass eine Anzahl 
von Ideen verschiedene Stadien der Entwicklung durch- 
laufen, und zwar das der Fiktion, der Hypothese, des Dog- 
mas; und umgekehrt das des Dogmas, der Hypothese, der 
Fiktion, Dabei ist zu bemerken, dass beim zweiten Prozess 
wiederum dem Stadium des Dogmas das der Fiktion und der 
Hypothese oder auch eins der beiden vorhergehen kann ; sowie 
ferner, dass sich beim zweiten Prozess an das letzte Stadium, 
das der Fiktion in vielen, doch nicht in allen Fällen der ein- 
fache Tod der betreffenden Idee, d. h. einfach ihr Aussterben 
anschliessen kann. Dies in dieser allgemeinen Formel aus- 
gesprochene Gesetz folgt als unmittelbares Korollar aus der 
psychologischen Natur der betreffenden Stadien selbst, wie das 
Gesetz der Lautverschiebung aus der Natur und den Gesetzen 
der physiologischen Beschaffenheit der Laute selbst folgt. Wir 
müssen zu diesem Zweck noch einmal kurz die psychologische 
Beschaffenheit der betreffenden Formen wiederholen und den 
Stand der Psyche zeichnen, wenn sie eine dieser Formen hegt. 

Die psychischen Elemente, sahen wir, sind einzuteilen in 
feste, alteingesessene Vorstellungen und Vorstellungssippen einer- 
seits und in solche Vorstellungen, deren Aufnahme in jene erst 
noch eine Frage, ein Problem ist 



*) Im ms. — s ss 



220 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung, B. Logische Theorie der Fiktionen. 

Auf der Einen Seite stehen Vorstellungsgruppen, welche als 
Ausdruck der Wirklichkeit (ohne Zweifel daran) gelten, auf der 
anderen Seite stehen solche Vorstellungen, bei denen ein Zweifel 
über ihre objektive Giltigkeit herrscht. Jene sind Dogmen, 
diese sind Hypothesen. 

Vergleichen wir nun zuerst einmal das Dogma und die 
Hypothese, so bemerken wir, dass die letztere einen Span* 
nungszustand darstellt, welcher der Seele äusserst unangenehm 
sein muss. Die Seele hat die Tendenz, alle Vorstellungsinhalte 
ins Gleichgewicht zu bringen und eine ununterbrochene Ver- 
bindung zwischen denselben herzustellen: dieser Tendenz aber 
steht die Hypothese insofern feindlich gegenüber, als ihr die 
Vorstellung beigemiccht ist, dass sie noch nicht durchaus mit 
den übrigen objektiven Vorstellungen in Eine Reihe zu setzen 
sei: sie ist nur probeweise in die Seele aufgenommen und hindert 
also jene Tendenz allseitiger Ausgleichung. Die einmal als ob- 
jektiv angenommene Vorstellung hat ein stabiles, die Hypothese 
nur ein labiles Gleichgewicht; die Psyche tendiert aber dahin, 
jeden psychischen Inhalt immer stabiler zu machen, seine 
Stabilität zu vergrössern. Der Zustand des labilen Gleich- 
gewichts, wie er physisch unangenehm ist, ist auch psychisch 
unangenehm. 

Es ist wohJ nicht zu billigen, wenn Lieb mann, Analysis pag. 295/6 
[erste Auflage] die Fiktion des Atoms als ein labiles Gleichgewicht be- 
zeichnet Nur Hypothesen sind labil; Fiktionen sind davon generlsch 
verschieden. 

Aus diesem Spannungszustand, der also ein unangenehmes 
Gefühl mit sich bringt, erklärt sich nun ganz naturgemäss die 
Tendenz der Seele, jede Hypothese in ein Dogma zu ver- 
wandeln. Der einzige Weg, um ein labiles Gleichgewicht in 
ein stabiles zu verwandeln, ist die Unterstützung des betreffenden 
Körpers: in der Psyche entspräche dieser Notwendigkeit, die 
Hypothese durch immer neue Bestätigung immer stabiler zu 
machen. Diesen einzigen erlaubten Weg indessen, der bei 
manchen Vorstellungen nicht bloss Jahrhunderte in Anspruch 
nehmen kann, sondern bei manchen sogar ganz unmöglich ist, 
umgeht die Psyche einfach dadurch, dass sie die Hypothese auf 
unerlaubte Weise in ein Dogma verwandelt. Der Übergang 
einer Hypothese in ein Dogma ist ein so alltäglicher psychischer 
Vorgang, dass wir uns hierbei nicht weiter aufzuhalten brauchen. 



XXVII. Das Gesetz der Ideenverschiebung. 



221 



Nicht nur im Individuum selbst findet dieser Übergang alltäglich 
statt, sondern auch bei der Mitteilung an Andere: was der Eine 
als Hypothese mitteilt, das nimmt der Andere als Dogma an: 
davon gibt es Beispiele in allen menschlichen Gebieten, nicht 
nur in der Wissenschaft; natürlich meinen wir damit also -nicht 
die allmähliche Verifikation der Hypothese, sondern di£ 
unerlaubte Verwandlung einer Hypothese in ein Dogma: 
insbesondere die Historik, die Wissenschaft der Geschichte, weiss 
davon zu erzählen, wie z, B. historische Hypothesen eben 
einfach in Dogmen, in feststehende Ansichten verwandelt werden, 
ohne alle Berechtigung. Die Vorstellung wird in letzterem Fall all- 
mählich oder plötzlich in ihrem Wert um Eine Steile verschoben; 
darum kann man dies dasGesetzder Ideenverschiebung nennen. 

Eine Verschiebung, die der Hypothese in ein Dogma, 
wäre somit erwiesen: behandeln wir nun die Verschiebung der 
Fiktion in eine Hypothese. Diese erklärt sich einfach aus der 
äusserlichen Ähnlichkeit beider Gebilde, wie wir sie oben ge- 
schildert haben: nichts natürlicher, als dass zwei so ähnliche 
Gebilde verwechselt werden. Hierbei ist indessen zweierlei zu 
bedenken, einmal, dass die Verwandlung der Fiktion in eine 
Hypothese (nicht der umgekehrte Prozess) der natürliche ist, und 
sodann, dass die Fiktion sich auch leicht ohne das Mittelglied 
der Hypothese in ein Dogma verschiebt. Beides ist leicht zu 
erklären. Wenn man Fiktion und Hypothese vergleicht, so ist 
der Spannungszustand, der durch die erstere in der Seele 
entsteht, ein viel bedeutenderer, als derjenige, der durch die 
zweite entsteht. Man denke daran, welch kompliziertes Gebilde 
eine echte, wissenschaftliche Fiktion ist. Man soll etwas an- 
nehmen, von dem man doch überzeugt ist, dass es gar nicht 
so sei; man soll etwas betrachten, als ob es so oder so wäre; 
damit ist also eine Vorstellungsform ganz in die Reihe der übrigen 
aufgenommen, denn sie dient ja zur Berechnung der Wirklichkeit; 
und doch soll die Seele bei ihrer Anwendung zugleich die 
Vorstellung gleichsam nachschleppen, dass diese Vorstellungs- 
form nur subjektiv sei: eine solche Vorstellungsform ist sogar 
positiv hemmend und verhindert direkt die Tendenz zur Aus- 
gleichung der Vorstellungsgebilde; die Hypothese hemmt nur 
negativ, indirekt diese Ausgleichung, die Fiktion aber direkt 
und positiv. Der einfachste Weg, um diesen unangenehmen 
Spannungszustand auszuschliessen, ist, die ganze nachgeschleppte 



222 Erster Teil; Prinzipielle Grundlegung. B. Logische Theorie der Fiktionen 

Vorstellung nur subjektiver Geltung — ganz fallen zu lassen; 
und da sich die Vorstellungsform ohnedies gleichberechtigt unter 
den anderen bewegt, sie als Dogma anzuerkennen. So wird die 
Fiktion einfach Dogma: das Als ob wird zum Weil und Dass. 
Der andere Weg, der ebenso oft betreten wird, geht durch die 
Hypothese hindurch: jene Vorstellungsform erhält den niedri- 
geren Spann ungskoeffizienten der Hypothese: das Als ob wird 
zum Wenn. 

Nun haben wir also die Eine Reihe des Verschiebungs- 
gesetzes aufgewiesen: die Fiktion wird zur Hypothese, die 
Hypothese zum Dogma; zuweilen, in nachher noch zu be- 
merkenden Fällen, wird die Fiktion sofort Dogma. Das treibende 
Motiv bei dieser Umwandlung und Verschiebung ist die Aus- 
gleichungstendenz der Seele, welche in voreiliger Ungeduld 
jener unangenehmen Spannungszustände sich entledigen will. Zu 
bemerken ist, dass diese Tendenz zur Stabilisierung der Vor- 
stellungen der natürliche Gang ist So sehr nun allerdings 
auch die Wissenschaft diese Tendenz hat und haben muss, so 
ist doch die voreilige Ausführung dieser Umwandlung die Quelle 
vieler Irrtümer. 

Wir schliessen hieran, ehe wir Beispiele geben, sogleich die 
Darstellung und Begründung des zweiten Prozesses, Ist jener 
erste Prozess in seiner Voreiligkeit ein unwissenschaftlicher 
Umbildungsprozess, so ist dieser zweite der Wissenschaft- 
liehe Rückbildungsprozess. 

In der Psyche der Menschen ist, wenn die Wissenschaft 
ihre Arbeit beginnt, eine zahllose Menge von Dogmen, nicht 
allein auf religiösem Gebiete, vorhanden. Diese stellen eine stabile 
Lage dar und kehren nach kleinen Erschütterungen stets wieder 
in ihre Stabilitätslage zurück. Anders, wenn Erfahrung und Nach- 
denken jene Dogmen allmählich zweifelhaft machen: nach dem 
Gesetz der Beharrung sucht die Psyche die Vorstellungen in- 
dessen noch festzuhalten, und behält sie auch bei, und wenn es 
nicht mehr mit stabilem Gleichgewicht geht, wenn die Position 
schon zu sehr erschüttert ist, so begnügt sie sich mit dem labilen 
Gleichgewicht der Hypothese. Das Dogma wird Hypothese, 
Die Vorstellung ist in ihrem Werte um Eine Steile zurück- 
geschoben. 

Es kommen neue Zweifel, neue Stösse; auch hier stehen 
der Seele nur zwei Wege zu Gebote: entweder die Vorstellung 



XXVII. Das Gesetz der Ideenverschiebung. 



223 



wird einfach eliminiert, sie fällt; die Wissenschaft hat ihre zer- 
störende Arbeit beendigt, das falsche Vorstellungsgebilde wird 
einfach hinausgeworfen. Aber es kann die Seele noch einen 
anderen Weg nehmen: jene Vorstellung kann für sie einen solchen 
theoretischen oder praktischen Wert haben, dass sie dieselbe 
nicht gerne verwirft und sogar für immer oder auch auf unbe- 
stimmte Zeit hinaus nicht entbehren kann; dann wird das Vor- 
stellungsgebilde aus einer Hypothese in eine Fiktion ver- 
wandelt, entweder in eine bleibende, permanente oder in 
eine provisorische, so dass sie also schliesslich dann doch 
abstirbt, wenn sie eben nicht permanent notwendig ist Nach 
dem Gesetz der Beharrung der Vorstellungen wird die Seele 
letzteren Weg, wenn er Überhaupt möglich ist, dem ersteren 
vorziehen: einmal festgewurzelte Vorstellungsgebilde werden lieber 
noch als Fiktionen festgehalten, als dass man sie ganz wegwirft. 

Dies ist nun unser Gesetz der Ideenverschiebung, das 
aus der Kulturgeschichte und allgemeinen Wissenschafts- 
geschichte die besten Bestätigungen erhält, wie es zugleich 
eine Reihe von Erscheinungen erklärt und zusammenfasst 
Schliesslich ist zu bemerken, dass eine Idee beide Prozesse 
durchlaufen kann, d. h. zuerst den Umbildungs-, dann den Rück- 
bildungsprozess. 1 ) Selten dagegen oder wohl ganz ohne Bei- 
spiel, weil unnatürlich, ist der zweite Fall, dass zuerst der zweite 
Prozess und dann der erste vorkäme. 

Das Gesetz des „Ideenwandels", wie man diese Er- 
scheinung auch heissen kann, konstatiert also drei Epochen, 
drei Stadien der Lebensgeschichte einer Vorstellung (natürlich 
nicht aller Vorstellungen, sondern nur eben einer Anzahl) : diese 
drei Stadien sind die fiktive, die hypothetische und die 
dogmatische Periode einer Idee. 

Nicht bloss figürlich kann man diese Stadien „Epochen der Lebens- 
geschichte 0 einer Idee nennen, sondern ganz berechtigt ist der Ausdruck, 
sie seien Stadien einer organischen Entwicklung der Ideen. Diese 
sind Produkte einer organischen Tätigkeit, als welche wir die logische 
Funktion erkannt haben, und also organische Produkte, welche eine ganz 
bestimmte Entwicklungsgeschichte haben. 

Wie beim Gesetz des Lautwandels aus speziellen Gründen 
bei vielen Wörtern nur die eine oder die andere dieser Utnwand- 



1) Einen solchen Kreislauf der Vorstellungsweise kann man bei 
vielen Ideen beobachten. Das beste Beispiel ist die Gottesidee. 



224 Erster Teil : Prinzipielle Grundlegung. B. Logische Theorie der Fiktione- 

Jungen und Rückwandlurtgen sich geltend macht, so ist dies au<± 
der Fall bei den Vorstellungen, 

Der erste Prozess, der der Umwandlung von Fiktion iz 
Hypothese, von Hypothese in Dogma, findet besonders häufig iz 
der Geschichte statt: so ist allen Historikern eine Menge voz 
Beispielen bekannt, wo anfängliche bewusste Mythen (solch t 
Mythen eben sind psychologisch genau so gebaut wie Fiktionen 
sich in historische Hypothesen verwandelten und dann späterhin 
zu historischen Dogmen wurden. 

Dieses Gesetz der Historik trägt Zeller in seiner Vorlesung über 
„Literarische und historische Kritik* vor; bewusste Fabeln und Myther 
werden zuerst zu historischen Hypothesen, dann zu Dogmen und um- 
gekehrt. Als instruktives Beispiet führt Zeller die Sage von den „46: 
Pforzheimer Bürgern* an: zuerst Fabel, dann Hypothese, dann Dogma. 

Weitere Beispiele bieten sodann die Mythologie unc 
mythische Geschichte jedes Volkes: diese Mythen überspringen 
dabei häufig das Stadium der Hypothese und werden sofort zr 
Dogmen; indessen sind für uns diese Mittelglieder häufig aber 
auch verlorengegangen. Alle Mythen sind fiktive Schöpfungen. 
Gleichnisse u. s. w., welche von den Wissenden nicht selten 
tatsächlich ursprünglich mit vollem Bewusstsein aufge- 
stellt werden und aus denen dann Hypothesen oder Sogleich 
Dogmen werden. In demselben Gebiete haben wir dann auch 
den Rückbildungsprozess sehr deutlich: solche Dogmen 
werden anfänglich festgehalten, bis der Zweifel des Kritikers sie 
in Hypothesen verwandelt; wird der Zweifel so stark, um die 
Vorstellung in ihrer Objektivität zu stören, so wird die Vorstellung 
verworfen: indessen, wenn solche Vorstellungen gerade als 
Stammessagen, wie z. B. die Tellsage, wertvoll sind, so behä!: 
man sie als Fiktionen, als Symbole bei 1 ) Diese Beispiele 
aus dem Gebiete der Historik sind indessen nicht die eigentlich 
instruktivsten, weil hier die betreffenden Vorstellungen doch meistens 
sogleich ursprünglich als unbewusst entstandene J^ythen auf- 
treten. Sie dienen aber als Parallelen illustrierend zur Ver- 
anschaulichung des Gesetzes. Denn faktisch sind bei dieser 
Umwandlung eben auch dieselben psychischen Gesetze 
wirksam. 



1) So sagt Engel, Phii. für die Welt, 24. StUckr Was jetzt zur blosse« 
poetischen Fiktion geworden, das war früher wirklich Glaube des 
Volkes u. s. w. 



XXVII. Das Gesetz der Ideenverschiebung. 225 



Bessere Beispiele bietet die Religionsphilosophie: ur- 
sprüngliche Mythen, Gleichnisse, ja bewusste Fiktionen von 
Religionsstiftern werden bei diesen selbst oder ihren Anhängern, 
bei dem Volke sofort zu Dogmen, und sie machen hier selten 
das Stadium der Hypothese durch- Dagegen bei der Rückbildung 
und Zersetzung der Religion finden sich alle drei Stadien sehr 
schön ausgeprägt. Anfänglich ist alle Religion allgemeines Dogma 
(nachdem dieses Dogma selbst vielleicht aus einer Hypothese 
oder eventuell sogar auch aus einer Fiktion entstanden ist); 
der Zweifel regt sich und die Vorstellung wird Hypothese: der 
Zweifel wird stärker, und nun wird von Einzelnen die Idee ganz 
weggeworfen: Andere halten die Idee noch aufrecht 'als eine 
öffentliche oder private Fiktion, Diesen letzteren Zustand 
repräsentiert jede bis jetzt bekannte Religion in einem gewissen 
Alter; bei der griechischen Religion lässt sich dies sehr gut 
verfolgen: die griechischen Volksgötter sind zuerst allgemeine 
Dogmen: für Aristoteles und viele andere Philosophen nur 
Hypothesen. Fiktionen aber werden sie später für die ge- 
bildete Masse, welche am Gottesdienst oder vielmehr Götterdienst 
festhält trotz der Oberzeugung, dass den Ideen nichts Reales 
entspricht, und wohl auch für einige Philosophen, deren wider- 
sprechende Äusserungen über die Götter nur so erklärt werden 
können. Genau dasselbe fand beim Christentum statt: die 
ursprünglichen Dogmen des Christentums werden bei den Philo- 
sophen des 17. und 18. Jahrhunderts Hypothesen. Was sind 
sie aber bei Kant und Schleiermacher? Nur Fiktionen! 

Aber auch das eigenste Gebiet der Philosophie und 
Wissenschaft zeigt diese allmählichen Obergänge sowohl bei 
einzelnen Individuen als in ganzen Zeiträumen. So z. B. sind 
die Platonischen Mythen (von der Seelenwanderung u. s. w.) 
ursprünglich Fiktionen, die aber schon in der Seele des Ur- 
hebers selbst aus dem fiv&os zum loyog, d, h. zur Hypothese 
werden, vermöge der Wirkung der Ausgleichung psychischer 
Spannungen: 1 ) und bei seinen Anhängern sind sie richtige 
Dogmen, z. B. bei den Neuplatonikern. Später gelten sie wieder 
als Hypothesen, und für den heutigen Plato-Kenner sind sie 
reine Fiktionen, mythische Vorstellungsformen, 



1) Gut ist die Bemerkung Dührings, Krit Gesch. pag. 101: „Die Kon- 
zeption entartet schon unter den Händen ihres eigenen Urhebers.* 

15 



226 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. B. Logische Theorie der Fiktionen. 

Auch die Platonischen Ideen galten für Plato selbst wohl 
nur zuerst als Fiktionen; doch macht er sie selbst noch zu 
Hypothesen, und dann waren sie Jahrhunderte lang Dogmen: 
später wieder Hypothesen; mit Recht macht Dühring darauf 
aufmerksam, dass sie ursprünglich wohl nur Fiktionen ge- 
wesen seien. 

Eine treffliche Bestätigung dieser Ansicht findet sich bei Herbart, 
der (nach Flügel, Probleme 140) die Äusserung getan hat, logische 
Allgemeinbegriffe (die nach Herbart bekanntlich nur logische Ideale, 
d.h. Fiktionen sind) werden erst hypostasiert, dann zu mytholo- 
gischen Wesen gemacht 

Ähnlich ging es, wie wir schon oben andeuteten, mit dem Ding an 
sich bei Kant. Es hat bei ihm selbst verschiedene Stadien durchgemacht; 
in seiner streng-kritischen Zelt war es für ihn doch wohl nur eine blosse 
Idee, d. h. in unserer Sprache eben eine Fiktion; aber schon in seiner 
Psyche vollzieht sich der Prozess der Umbildung zur Hypothese; für 
seine Anhänger und für Herbart und Schopenhauer ist das Ding an 
sich schon festes Dogma. Nachher wurde es wieder Hypothese» 
und jetzt sind viele Kantianer bereit, z.B. Stadier und Lange, es als 
blosse Fiktion anzuerkennen, als ein praktisch wertvolles Gebilde, aber 
ohne eigentlichen theoretischen Erkenntniswert; andere werfen es ganz weg. 

Es gibt bekanntlich eine Reihe Ideen, welche für eine frühere Zeit 
notwendig waren (zu gewissen Zwecken), „und von welchen sich ein freier 
denkendes Zeitalter völlig losmacht* (Dühring, Kr. Gesch. d. Phüos. 317). 
So kann eine Idee, z. ß. die der Unsterblichkeit, für eine Zeit notwendig 
sein, um die moralischen Begriffe zu erzeugen. Sind diese erzeugt, 
so kann eventuell das Gerüst, d. h. jener Begriff, abgebrochen werden. 

Als speziellen Fall fanden wir S. 55 bei den heuristischen 
Fiktionen, wie frühere Dogmen zu Hypothesen, frühere 
Hypothesen zu Fiktionen werden; so gings mit der Teleo- 
logie, so mit dem Ptolemäischen System- Andererseits ist es 
nicht immer historisch zu ermitteln, ob nicht solche Dogmen ur- 
sprünglich überhaupt nur fiktiv gemeint waren. 

Linne und Smith hatten, jener sein botanisches System, 
dieser sein soziologisches System nur als künstliche Systeme auf- 
gebaut; ihre Anhänger machten daraus Hypothesen oderfassten 
jene Systeme als Hypothesen auf (weil zur Erfassung einer 
Idee als fiktiv schon ein hochgebildeter Geist gehört), und flugs 
wurden diese Hypothesen selbst zu Dogmen; später betrachtete 
man das Smithsche System als Hypothese, und jetzt seit Bu ekles 
fiberzeugendem Nachweis betrachtet man es fast allgemein als 
ein künstliches, auf eine Fiktion aufgebautes System. Aber 
früher galt die Idee so sehr als Hypothese resp. als Dograa, 



XXVII. Das Gesetz der Ideen Verschiebung. 



227 



dass man dann nicht bloss glaubte, immer egoistisch zu handeln, 
sondern auch faktisch so handeln zu müssen, wie dies Lange 
sehr richtig ausführt. 1 ) 

Natürlich ist dies nun noch weit mehr der Fall bei jenen 
Fiktionen, welche die Psyche unbewusst bildet,,und die dann 
als fertige Dogmen vor die Seele treten und im Bewusstsein als 
solche gelten: so die ganze Kategorieneinteilung. Diese, ur- 
sprünglich Dogma, wird dann Hypothese, und seit Hume und 
Kant steht ihre Fiktivität fest, wie sie denn auch ursprünglich 
blosse Fiktionen sind. So wird eine Reihe ursprünglich rein 
fiktiver Gebilde im Laufe der Zeit hypothetisch, speziell jene 
Ideale und jene fiktiven Urformen: so fingiert man z. B. 
einen ursprünglichen Idealstaat — ilugs wird daraus ein 
historischer. 

Am deutlichsten ist dies bei den tropischen und ana- 
logischen Fiktionen: die fiktive Analogie des Staats mit einem 
Vertrag wird zur Annahme eines historischen Staatsvertrages, 
historischer Urrechte: kurz, aus den theoretischen Begründungen 
wird sofort die Annahme historischer Vorfälle; später macht 
man aus diesen Hypothesen dann immer wieder Fiktionen, 

So werden aus den Differentialen und Fluxionen noch 
bei Newton und Leibniz selbst hypothetische Wesen, später 
Dogmen; dann findet wieder eine Rückbildung statt 

So wird aus Kants fiktiver Annahme der intelligiblen 
Freiheit noch in der Kritik selbst eine Hypothese, und für 
Schopenhauer ist die Hypothese schon ein Dogma. 

So oder ähnlich steht es mit dem Atom, dem Unendlich- 
kleinen und Unendlichgrossen (einer unberechtigten Verall- 
gemeinerung) und schliesslich auch mit dem Absoluten. 

Allmählich aber werden die Fiktionen, welche Dogmen ge- 
worden waren, als Fiktionen wiedererkannt, und der Prozess der 
Ideenverschiebung hat sein Ende gefunden. 

Dieses Oesetz kreuzt sich mit dem Comt eschen Gesetz der drei 
Entwicklungsstadien in der Art, dass dieses Comtesche Gesetz den 
materialen Gehalt der Ideen betont, welcher sich allmäh lig verändert 
(mythisches wird metaphysich, dieses wird positiv); unser Ge- 
setz betont den formalen Wandel der einzelnen Ideen selbst, deren 
Gehalt dagegen immer derselbe bleibt, während nach Comte der Ge- 
halt sich verändert. 



1) Lange, Geschichte des Materialismus II, pag. 453 ff. 

15* 



228 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. B. Logische Theorie der Fiktionen. 

Ein ahnliches Gesetz hat Avenarius in der mehrerwähnten Schritt 
angedeutet. Allein er verkennt ganz die Notwendigkeit des fiktiven 
Stadiums; er verkennt, dass viele Ideen als Fiktionen festzuhalten sind, 
insbesondere die von ihm selbst nocH festgehaltenen Ideen, z. B. die der 
Substanz. Dieses Verkennen beruht auf einem Mangel der Bekanntschar: 
mit den mathematischen Methoden. 

Mehrere dieser Fiktionen bleiben aber doch unsterblich: 
diejenigen, welche das diskursive Denken selbst ermög- 
lichen, die Kategorien und Allgemeinbegriffe: aber sie 
bleiben es nur als Fiktionen, mit dem Bewusstsein, dass es 
Fiktionen sind. 

Insofern ist ein Fortschritt nicht nur des logischen Ge- 
wissens in der Menschheit zu beobachten, als die Widersprüche 
in den Fiktionen bemerkt werden, sondern auch der logischen 
Fähigkeit: denn zur Festhaltung einer Fiktion als Fiktion ge- 
hört schon ein logisch hochgebildeter Geist, der dem Drange 
nach Ausgleichung nicht voreilig nachgibt, die Mittel und 
Zwecke strenge scheidet Zur Festhaltung des rein kritischen 
Standpunktes, wie ihn Hume und Kant vertreten, gehört eine 
grosse geistige Energie. Alle nachherigen Versuche nach 
Kant sind nichts als Versuche, diesen unangenehmen Span- 
nungszu stand, der aber das geistige Einschlafen verhindert 
auszugleichen, und zwar höchst voreilige. 

Inwiefern die Tendenz, den unangenehmen Spannungszustand (dazr 
gehört der Zweifel ebenso gut wie die Fiktion) zu entfernen, ml: 
dem „Prinzip des kleinsten Kraitmasses" zusammenhängt, wird 
einer besonderen Betrachtung vorbehalten. Das Gesetz, von Avenarius 
für die Psyche aufgestellt, wird von ihm nur in seinen nützlicher 
Wirkungen betrachtet; es hat aber auch schädliche; eine solche ist die 
voreilige Tendenz, den Spannungszustand vor der Zeit zu entferner. 
So machen die Nachkanttaner vielfach voreilig aus Fiktionen Kants 
einfach und ohne weiteres Hypothesen oder gar Dogmen. So z. B. aus 
der Kantischen Fiktion einer intelligiblen Anschauung. Thiele 
verkennt in seiner Schrift: Kants intellektuelle Anschauung u. s. w_ 
Halle 1876, ganz, dass für Kant dies nur eine Fiktion war, welche 
natürlich die Nachfolger zur Hypothese machten, und welche bei 
Thiele selbst — ein falsches Dogma ist Ebenso ist es mit dem sog. 
kritischen Begriff einer „Identität von Denken und Sein*, ebenso mir 
dertCiBegriff des absoluten Wissens und vielen ähnlichen fiktiver 
Begriffen. Thiele verkennt total die Wahrheit, dass solche Begriffe, wie 
auch „das Unendliche* nur Hilfsbegriffe sind, welche Kant bildete. 
Allerdings hat Kant durch seine ungenaue Ausdrucksweise diese und äh^ 
liehe Missverständnisse nahegelegt, und teilweise hat erselbst sicr 
dem Irrtum hingegeben. 



XXVII. Das Gesetz der Ideen Verschiebung. 229 

Vgl. die trefflichen Bemerkungen von Riehl hierüber, Kritizismus I, 
437: w An einer Stelle der Kr» d. U. hat Kant die ganze Konzeption einer 
anderen, etwa intellektuellen Anschauungsart . . . als blossen Hitts begriff 
bezeichnet, um die Abhängigkeit der Vorstellung der Dinge von den im 
Subjekte entspringenden Formen des Anschauens deutlich zu machen. So 
erfasst, hat dieser Gedanke einen guten Sinn; er dient in der Tat, wie der 
Durchgang durchs Imaginäre, die Lehre von der Anschauung als Erscheinung 
der Dinge anschaulich zu machen. Nun ist die Möglichkeit einer über- 
sinnlichen Welt von diesem, allein zu methodischen Zwecke brauchbaren 
Begriffe abhängig. Und dennoch hat Kant in der praktischen Philosophie 
von der Vorstellung jener erdachten Welt einen positiven Gebrauch ge- 
macht!" Damit ist der Übergang sehr gut gekennzeichnet, welcher sich 
bei Kant selbst unmerklich vollzogen hat: die Idee der intellektuellen An* 
schauung, welche ihm ursprünglich nur methodische Fiktion war, ist ihm 
zur Hypothese, zum Dogma geworden. Vgl. Dühring, Krit. Gesch. d. 
Philos. 430. Cfr. Liebmanns Bemerkungen, Kant und die Epigonen, 
pag. 95, die intellektuelle Anschauung sei eine leere Fiktion (darum 
kann sie aber doch nützlich sein). 

Heutzutage sind wir wieder auf den ursprünglich kritischen 
(allerdings psychisch gelegentlich unangenehmen) Spannungs- 
zustand zurückversetzt Dieses Gesetz der Ausgleichung psy- 
chischer Spannungen beherrscht nicht bloss das Spezialgesetz der 
Ideenverschiebung, sondern auch ein gutes Stück aller geistigen 
Entwicklung Überhaupt und wirkt, wie alle Naturgesetze, je 
nach den Umständen nützlich oder schädlich. 

Eine nützliche Wirkung besteht darin, dass durch die Tendenz zur 
Ausgleichung jene Dogmen und Hypothesen, welche es irgendwie zulassen 
und bei denen es zweckmässig erscheint, eben aus Dogmen und Hypo- 
thesen in Fiktionen verwandelt werden. Au! diese Weise wird die Un- 
zweckmässigkeit vermindert, so dass wir uns nicht mehr mit Widersprüchen 
und Schwierigkeiten zu plagen brauchen, indem diese wegfallen, sobald 
wir eben jene Vorstellungsgebilde als blosse Fiktionen ansetzen. So 
lange wir diese Vorstellungsgebilde als objektive Werte nehmen, ent- 
springen für uns daraus Widersprüche und Schwierigkeiten, welche weg- 
fallen, wenn wir dieselben als blosse Fiktionen erkennen. Dies ist die 
kritische Methode, welche Kant angebahnt hat. 

Das Denken führt eben ganz von selbst auf gewisse Scheinbegriffe hin, 
ebenso wie das Sehen auf notwendige optische Täuschungen. Wenn wir 
jenen logischen Schein als notwendigen erkennen, wenn wir die dadurch 
gesetzten Fiktionen mit Bewusstsein akzeptieren und sie gleichzeitig durch- 
schauen (z. B. Gott, Freiheit u.s.w.), so können wir die dadurch entstehen- 
den logischen Widersprüche als notwendige Produkte unseres Denkens er- 
tragen, indem wir erkennen, dass sie notwendige Folgen des inneren 
Mechanismus des Denkorgans selbst sind. Man darf also daraus auch 
kein Kapital für den gemeinen Skeptizismus schlagen, als ob das mensch- 
liche Denken zu schwach wäre für die Erkenntnis der Wahrheit. Indem 



230 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung, C Geschichte der Fiktion. 

das Denken ohne jene fiktiven Hilfsbegriffe nicht auskommen kann, muss 
es auch notwendig die durch dieselben entstehenden Widerspruche mit in 
den Kauf nehmen. Wenn wir auch theoretisch jene Fiktionen als solche 
erkennen, so btetben sie doch praktisch für uns notwendige Elemente unseres 
Denkens. Das Denken treibt aus seiner eigenen Natur jene Fiktionen mit 
Notwendigkeit heraus, und damit auch die dadurch gegebenen Widersprüche, 
durch seine eigene instinktiv-ingeniöse Methode. Das Denken selbst schürzt 
aus den Fäden, die ihm die Erfahrung darbietet, Knoten und Knotenpunkte, 
die dem Denken Hilfsdienste leisten, die aber demselben selbst zu Fall- 
stricken werden, wenn diese Knoten als etwas genommen werden, was die 
Erfahrung selbst objektiv enthält; sie sind nur subjektive Hilfsgebilde. 



C. Beiträge zur Geschichte der Fiktion und ihrer Theorie, 

Vorbemerkung. 
Theorie und Praxis der Fiktionen,*) 

Unsere historische Aufgabe zerfällt in zwei streng zu 
sondernde Teile, nämlich in den Nachweis des wissenschaft- 
lich-praktischen Gebrauches der Fiktion im Verlaufe der histo- 
rischen Entwicklung der Wissenschaft und zweitens in den der all- 
mählichen Entdeckung und Theorie dieser Fiktionen. Wir 
haben es ja schon in unserer Einleitung als Grundsatz aufgestellt, 
dass die logische Theorie aus der wissenschaftlichen Praxis ihr 
empirisches Material zu nehmen habe. Das faktische Vorkommen 
solcher Fiktionen in der gegenwärtigen Wissenschaft hat unsere 
obige Aufzählung zweifellos ergeben. Allein es ist auch eine 
Aufgabe der Logik, aus der allgemeinen Wissenschaftsge- 
schichte die allmähliche Entwicklung der wissenschaftlichen 
Praxis im Allgemeinen und jeder wissenschaftlichen Methode 
speziell zu verfolgen* Bisher wurde diese eben geforderte Auf- 
gabe vermischt mit der anderen Aufgabe, die allmähliche Ent- 
wicklung der logischen Theorie« zu schildern. Die allmähliche 
Ausbildung eines Erkenntnisinstrumentes bietet Seiten des höchsten 
Interesses dar: die Geschichte der Methoden ist die unerläss- 
liehe Ergänzung und Vorbedingung der Methodologie selbst 
Wie die vergleichende Entwicklungsgeschichte die all- 
mähliche Ausbildung der Organe eines animalischen Mechanis- 



*) Im MS. = §39. 



XXVIH. Praxis der Fiktion bei den Griechen. 231 

mus in den verschiedenen Tierreihen untersucht, so ist es auch 
Aufgabe des Logikers, die allmähliche Entwicklung eines Organs 
des psychischen Mechanismus in den verschiedenen, parallel sich 
entfaltenden oder auch einander zeitlich und logisch folgenden 
und voraussetzenden Organismen der einzelnen Wissen - 
schatten und wissenschaftlichen Methoden zu verfolgen. 



Kapitel XXVIII. 

Die Fiktion in der wissenschaftlichen Praxis der Griechen»*) 

Die wissenschaftlich wertvolle Fiktion ist erst ein Kind der 
neueren Zeit. Wenn die Hypothese, die doch eine ganz natür- 
liche Methode, eine naheliegende Form des Denkens ist, erst in 
der neueren Zeit in der wissenschaftlichen Praxis eine richtige 
Anwendung und Ausbildung erfahren hat, wenn erst die moderne 
Wissenschaft gezeigt hat, wie Hypothesen wissenschaftlich zu 
bilden seien UHd welchen Nutzen sie einer gewissenhaften For- 
schung gewähren, so lässt sich vermuten, dass die künstliche 
und ein hochgebildetes Denken voraussetzende Fiktion erst viel 
später in Anwendung kam. Versucht doch der Mensch auch in 
anderen Gebieten erst alle natürlichen Mittel, ehe er sich ent- 
schliesst, zu künstlichen zu greifen» Es hat denn auch lange 
gedauert, bis die wissenschaftliche Fiktion in ihrer Reinheit sich 
herausbildete, und es ist ein höchst interessantes und lehrreiches 
Schauspiel, zu beobachten, wie der menschliche Geist allmählich 
sich entschliesst, diese kunstlichen und gefahrvollen Methoden 
«inzuschlagen. 

Das von uns zum Gegenstand unserer Untersuchung ge- 
wählte Instrument der logischen Operation, dieses Hilfsmittel bei 
der logischen Arbeit ist also in seiner eigentlich wertvollen Form 
erst ein Produkt der neueren, modernen wissenschaftlichen Praxis. 
Es ist zur Anwendung dieses Instrumentes eine Freiheit und 
Selbständigkeit der logischen Funktion, eine Emanzipation des 
Denkens von den ordinären Vorurteilen notwendig, dass wir eine 
ausgiebige Ausnützung dieses Weges erst da finden und erwarten 
können, wo die logische Funktion sich wirklich emanzipiert hat 



•) Im MS. = § 40. 



232 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. C. Geschichte der Fiktion. 

von dem Vorurteil ihrer Identität mit dem Sein, wo sie sich 
schon mehr oder minder bewusst ist, dass zwischen ihren Ope- 
rationen und den faktischen Seinsverhältnissen eine Kluft besteht 
Den Griechen mangelte diejenige Selbständigkeit des Denkens, 
welche zur Anwendung jenes Mittels notwendig ist, eine Selbst- 
ständigkeit, welche sich vor allem darin zeigen muss, sich kühn 
loszureissen von der Wirklichkeit und doch die Hoffnung nich: 
zu verlieren, trotz der Abweichung, die Wirklichkeit wieder zu 
erreichen. Der Grieche scheut den kühnen Flug des Denkens, 
das vermittelst willkürlicher und widersprechender Begriffe doch 
zum Ziele kommt Wo aber im Altertum das Bewusstsein jene: 
tiefen Spaltung zwischen Sein und Denken erwachte — und es 
ist vielleicht niemals wieder in solcher Schärfe erwacht wie bei 
den griechischen Skeptikern — , da war eine tiefe theoretische 
Niedergeschlagenheit die Folge. Die logische Funktion hatte ja 
noch nicht jene wissenschaftlichen Grosstaten vollbracht, welche 
die moderne Zeit auszeichnen: sobald daher der Zwiespalt zwischen 
Denken und Sein, zwischen logischen Operationen und faktischen 
Seinsverhältnissen erwachte, musste die natürliche Folge jene 
Skepsis sein, welche trotz ihrer Kindlichkeit etwas Grossartiges 
an sich trägt. Das Problem, wie wir es früher gestellt haben» 
woher es komme, dass wir trotz der Anwendung eines bloss 
subjektiven Denkens voller Widersprüche doch zur richtigen Be- 
rechnung und Behandlung der faktischen Phänomene gelangen 
— ein Problem, das schon Kant vorschwebte — dies Problem 
konnte im Altertum einfach darum nicht gestellt werden, weil das 
Denken eben noch nicht den Beweis geliefert hatte, dass es Un- 
geheures leisten könne* Der Grieche hing noch so eng und 
unselbständig an der unmittelbaren Wahrnehmung, dass, wo er 
diese erschüttert sah, er oft an allem Denken verzweifelte. Wo der 
antike Skeptiker merkte, dass das Denken seine eigenen Wege 
geht und sich von der Wirklichkeit entfernt, da glaubte er sofort 
die Nichtigkeit alles Denkens aussprechen zu müssen, ohne doch 
zu bedenken, dass dieses Denken uns doch zu praktisch-rich- 
tigen Resultaten führe; er wagte es gar nicht, kühn einmal auf 
dem Wege des Denkens weiterzugehen und zu sehen, ob wir 
denn doch nicht am Ende wieder auf die Wirklichkeit stossea 

Das Schwanken zwischen einer unselbständigen Hingabe an die Wirk- 
lichkeit, und einer ungezügelten, phantastischen Denkweise, dann, wenn 
das Denken einmal die unmittelbare Wirklichkeit verlässr, ist so oft das 



XXVIII. Praxis der Fiktion bei den Griechen. 



233 



eigentliche charakteristische Zeichen griechischer Wissenschaft Das 
Denken hatte noch nicht gelernt, sich so von dem Sein zu scheiden, dass es 
sich als Mittel zu dessen Berechnung eriasst. Nur dieses Bewusstsein 
aber gibt dem Denken Kraft und Mut, die Wirklichkeit nicht sklavisch zu 
verfolgen, und warnt es auch wieder davor, nicht alle Denkgebilde für 
objektiv zu halten. So Wessen die Irrtümer Piatos und die der Skeptiker 
aus derselben Quelle — der Unselbständigkeit des Denkens gegenüber 
der Wirklichkeit Die Methoden der wissenschaftlichen Untersuchung 
waren einfach, direkt, ja zum Teil plump und schwerfällig, sie stehen zu 
unseren verfeinerten Methoden in demselben Verhältnis, wie etwa ein 
antiker Dreiruderer zu einem modernen Dampfschiff. 

Es zeigt sich dies besonders in der Mathematik, wo die 
Alten doch noch am meisten wirklich wissenschaftliche Resultate 
aufzuweisen haben: selbst die kompliziertesten Methoden der 
Alten sind im Vergleich zu den modernen Methoden schwer- 
fällig. Das beste Beispiel hierfür ist die Exhaustionsmethode der 
Alten, und ich berufe mich hierüber auf die Urteile bewährter 
Mathematiker. Besonders interessant ist aber eine Bemerkung 
von Drobisch 1 ) hierüber, der die ausdrückliche Notiz macht, 
dass die Alten mit einer auffallenden absichtlichen Ängstlichkeit 
diejenige Methode vermieden, welche wir jetzt zur Lösung der- 
selben Probleme anwenden, nämlich die Fiktion, z> B, dass der 
Kreis aus unendlich vielen Dreiecken besteht, oder ein Vieleck 
mit unendlich vielen Seiten sei, eine Fiktion, vermittelst welcher 
wir das Resultat, dass der Diameter sich zum Umfange verhalte 
wie 1 : 3,1416, auf viel elegantere und einfachere Weise erhalten 
als die Griechen. Die griechischen Mathematiker vermieden 
gerade absichtlich jeden Begriff, der einen Widerspruch an sich 
trägt, insbesondere den des Unendlichen, sie wichen solchen 
Fiktionen geradezu aus, weil sie sich vor den Widersprüchen 
solcher Begriffe fürchteten, während die modernen Mathematiker 
unbekümmert um die Widersprüche sich der fiktiven Methode 
bedienen. Freilich merkten die Griechen nicht, dass schon die 
Grundlagen der Elementargeometrie, die Begriffe des Punktes, 
der Linie und noch andere, Vorstellungsformen fiktiver Natur 
sind, wie ja überhaupt das vorwissenschaftliche Denken eine 
Reihe von Fiktionen schafft, mit denen das bewusste Denken 
lange Zeit operiert, ehe es den Widerspruch in diesen Vor- 



1) In derselben Abhandlung, in welcher er die Entdeckung der ent- 
gegengesetzten Operationen mitteilt: „Sitzungsbericht der sächs, G eselisch, 
d. Wissenschaft". 1859. 



234 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung, C. Geschichte der Fiktion. 

Stellungsformen bemerkt, einfach weil die lange Gewohnheit die 
Schärfe des logischen Gewissens abstumpft Denn den bedeuten- 
den logischen Denker zeichnet ebenso sehr ein ungemein ge- 
schärftes logisches Gewissen aus, wie den ethisch hochstehenden 
Menschen ein ethisch geschärftes Gewissen; beide Gewissens- 
formen können geweckt und abgestumpft werden. 

Viele wissenschaftliche Vorstellungen der Griechen kursieren 
noch heutzutage, aber nur als Fiktionen, während sie jenen, 
den Griechen, Hypothesen und Dogmen waren. Das wissen- 
schaftliche Denken in seiner ersten Periode operiert aber genau 
so, wie das vorwissenschaftliche Denken: beide bilden eine Reihe 
von Vorstellungsformen aus, welche in der anfänglichen Naivität 
einfach für wirklich angesehen werden, bis das fortgeschrittene 
Bewusstsein merkt, dass diese Formen nur brauchbare Fik- 
tionen seien und keineswegs sich als Hypothesen betrachten 
lassen. Aber das Altertum hat doch auch Fiktionen ange- 
wandt, und nicht etwa bloss in der Form von Hypothesen, so 
dass es Hypothesen gebildet hätte, welche faktisch nur Fiktionen 
wären, sondern solche Vorstellungsformen, welche von dem Be- 
wusstsein der Fiktivität und Subjektivität begleitet waren, freilich 
alles in roher, unvollkommener Form. 

Schon die spätere griechische Mathematik und Mechanik 
lässt allerlei Anfänge von wissenschaftlichen Fiktionen finden, 
welche als erste, rohe Versuche, diese Vorstellungsform wissen- 
schaftlich zu verwerten, zu betrachten sind. In der Politik be- 
gegnet uns die utopische Fiktion des Idealstaates Piatos. 
Die juristische Fiktion hat bei den Griechen nur schwache An- 
fänge gemacht Das Sokratische Verfahren ist eine Approxi- 
mationsmethode, welche zu den Semifiktionen zu rechnen ist, 
die einzigen, welche überhaupt gewagt wurden. Die platonische 
Vorstellungsweise der Ideen betrachten wir schon als eine 
Fiktion, welche noch im Kopfe des Urhebers selbst zur Hypo- 
these, zum Dogma geworden ist Die mythischen Fiktionen 
Piatos sind sehr schöne Typen von Fiktionen. Bei ihnen ist 
das Als ob doch schon sehr stark ausgebildet: aber sie sind 
doch mehr poetische Gleichnisse, als wissenschaftliche 
Fiktionen: höchstens stehen sie den tropischen Fiktionen der 
modernen Theologen an logischem und ethischem Werte gleich. 

Ob die Lehre vom Anfang der Welt, der nicht sowohl zeitlich als 
logisch sein soll (wie Erdmann meint, Grundriss I, 199), auch eine solche 



XXVIII. Praxis der Fiktion bei den Griechen. 



235 



Fiktion ist? (Dass das Gute durch eine Gottheit der Materie eingepflanzt 
wird, ist offenbar auch nur als eine Fiktion aufzufassen.) Schon Krug hat 
richtig die platonischen Mythen als Fiktionen erkannt; s. Wörterbuch I, 805 
(im Artikel „ Erdichtung*): „Wenn Plato seinen Dialogen Fiktionen einwebt, 
«o tut er es immer, um einen philosophischen Gedanken anschaulich zu 
machen, wie die Erzählung im Gastmahle von der Erzeugung des Eros durch 
den Porös und die Penia. Solche Fiktionen einem philosophischen Raison- 
nement beizumischen, ist nicht unerlaubt, wenn es mit Geist und Mässigung 
geschieht. Aber freilich soll ein philosophisches Raisonnement nicht durch 
und durch mit Fiktionen so verwebt sein, dass es sich wie eine bunt aus- 
gelegte Arbeit ausnimmt" Auch solche Mythen müssen unter einer metho- 
dologischen Kategorie betrachtet werden: sie sind illustrative Fiktionen, 
veranschaulichende Erdichtungen oder Tropen. (Vgl. oben S. 39, N. 3.) 

Die Litteratur über die platonischen Mythen und die dabei eingehaltene 
Methode ist sehr gross (vgl. Teuffei, Platonlitteratur, pag. 7). Eine andere 
Anwendung der Fiktion bei Plato ist die anachronistische Versetzung der 
Gespräche (die „fiktive Zeit* derselben, wie man gewöhnlich sagt, vgl. 
Teuffei, a. a. 0. 20, 26). Die ganze Einkleidung der Dialoge ist fiktiv. Im 
Kritias wollte Plato das Vorhandensein platonischer Staatseinrichtungen in 
der Vergangenheit, eine „mythische Verwirklichung des platonischen 
Staatsideals u (Teuffei, a. a. O. 22) darstellen; d. h. er wollte auch hier 
mittelst einer mythischen Fiktion seine Gedanken darstellen. Über die 
„fiktive Zeit* der platonischen Gespräche s. Zellers Abhandlung in den 
Abh. der Berliner Akad. 1876: „Über die Anachronismen bei Plato - . 
Ob das Chaos der Griechen Fiktion oder Hypothese ist? 

Mit dem Bisherigen hängt auch zusammen, dass bei Piaton 
Allegorien gebildet wurden, z.B. die des Herakles am Scheide- 
wege, oder dass die alten Dogmen des Volksglaubens als nütz- 
liche Fiktionen beibehalten werden, oder auch als solche auf- 
gefasst werden: indem man annimmt, sie seien ursprünglich 
nur Fiktionen gewesen und dann erst zu Glaubensartikeln ge- 
worden. 

Überhaupt ist hier zu erinnern an die in Griechenland sehr 
beliebte religiöse allegorische Symbolik, d. h. an die bei Philo- 
sophen (Pythagoras, Parmenides, Empedokles, Anaxagoras, Metro- 
dorus u. A.) beliebte Manier, die überkommenen religiösen Dog- 
men als Fiktionen weiter zu verwenden. Vgl. Gilow, Ober das 
Verhältnis der griechischen Philosophie im Allgemeinen und der 
Vorsokratiker insbesondere zur griechischen Volksreligion (Olden- 
burg 1876), Vornehmlich die Stoiker haben später in ausge- 
dehntem Masse die Gebilde der Volksreligion als philosophische 
Fiktionen weiterleben lassen, ebenso auch die Neuplatoniker. 
Die platonischen Mythen liegen in derselben Linie. Es liegen 
hier bis jetzt noch unbeachtete Elemente der kritischen Theologie 



236 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. C. Geschichte der Fiktion. 

resp. Religionsphilosophie bei den Griechen, mit vollem Bewusst- 
sein der fiktiven resp. bewusst symbolischen Natur der religiösen 
Vorstellungen. 

Wohl blühte die poetische und ästhetische Fiktion, nicht 
aber die wissenschaftliche, mit der wir es hier eigentlich zu 
tun haben. Schematische Fiktionen, fingierte Fälle und 
ähnliche ungefährliche Methoden, welche mit dem reichlichen Ge- 
brauch von rhetorischen Fiktionen zusammenhängen, finden 
sich häufig, aber niemals in derjenigen Ausdehnung, wie in der 
modernen Zeit, und nicht so, dass solche Fiktionen allen Ernstes 
der theoretischen Begründung ganzer wissenschaftlicher Systeme 
zur Grundlage dienen. 1 ) 

Die einzige wirklich wertvolle, d. h. rein methodologisch 
brauchbare Fiktion, die freilich materiell ganz wertlos ist, ist 
ein Gedanke des Parmenides, der bisher seinen Auslegern 
manches Kopfzerbrechen machte, der sich aber unserer Theorie 
ganz gut einreiht und dadurch erst seine wahre Beleuchtung er- 
hält: Parmenides lehrt bekanntlich, das Viele und Wechselnde 
sei nichtiger Schein, es gebe kein Werden; alles wechselnde und 
geteilte Sein sei kein wirkliches Sein, sondern ein Nichtseiendes, 
ein Unwirkliches und Undenkbares. Wahrhaft wirklich sei nur 
das ewig ruhende Sein, unveränderlich, unbeweglich, in ewig 
göttlicher Dieselbigkeit beharrend; das Sein sei ein unteilbares 
Ganzes, ein einartiges Kontinuum, unbegrenzt und absolut. Die 
Welt der sinnlichen Erscheinung dagegen ist nur Schein, ist un- 
wirklich: Werden und Vergehen sei nur ein von den Sinnen vor- 
gespiegelter Wahn. Die erscheinende Natur ist die Sphäre des 
Nichtseienden, 

Bekanntlich fügt nun Parmenides dieser Weltanschauung 
noch eine weitere Ausfuhrung hinzu, welche die Geschicht- 
schreiber der Philosophie vergeblich damit zu vereinigen suchen, 
und welche sie schliesslich eine „hypothetische* Weltanschauung 
nennen. Die Welt des Scheins nämlich wird nun doch als 
seiend behandelt, sie bestehe aus zwei Prinzipien, Licht und 
Nacht oder Feuer und Erde; alle Dinge seien nur Mischungen 
davon. Die Bezeichnung dieser Physik des Parmenides als 



1) Die von Lange in den Beitr. zur Gesch. des Mat. pag. 19 ff. auf- 
geführte „Methode der Möglichkeiten" bei Epikur ist ein sonderbares Ge- 
misch von Hypothese und Fiktion. (Schon ^möglich" ist eine Fiktion.) 



XXVIII. Praxis der Fiktion bei den Griechen, 



237 



hypothetisch finde ich ungenau und mangelhaft: hypothetisch 
wäre sie, wenn nicht der erste Teil der Metaphysik vorhanden 
wäre, in dem aller Wechsel und die ganze empirische, geteilte 
Welt für blosser Schein erklärt wird. Parmenides kann also, 
ohne in Widerspruch mit sich selbst zu geraten, die wirkliche 
Existenz dieser Elemente nicht annehmen, d. h, diese sind keine 
Hypothesen, sondern blosse Fiktionen. Parmenides sagt 
nicht: die Welt der Erscheinung besteht aus Feuer und Erde, 
sondern er kann nur sagen: die Welt der Erscheinung kann so 
betrachtet werden, als ob sie aus beiden bestünde; diese beiden 
Elemente sind für ihn nur fiktive Vorstellungsgebilde, auf 
welche sich alles reduzieren lässt 

So erklärt auch richtig Flügel, Probleme der Philosophie, pag. 35, 
Parmenides bringe die Erscheinungswelt zum Spiel in eine geordnete Dar- 
stellung; es ist dies nach Parmenides nicht Gegenstand des Wissens, 
sondern nur des Mein ens und nichts als ein „Wort schmuck". Auch 
Zellers gewichtige Autorität ist für unsere Auffassung anzuführen: s. 
Philos. der Griechen, I. Band, 4. Aufl. 1877, pag. 533. Zeller sagt, die Philo- 
sophie des Parmenides habe in der Physik „hypothetische Bedeutung": 
damit meint er aber das Fiktive: Er „will zeigen, wie die Erscheinungswelt 
anzusehen wäre, wenn wir sie für etwas Wirkliches halten dürften". Diese 
Ausdrucksweise ist die von uns aufgestellte Formel der Fiktion: also 
die Erscheinungswelt ist so zu betrachten (nämlich aus Feuer und Erde 
bestehend), wie sie zu betrachten wäre, wenn sie wirklich wäre; d. h, sie 
ist zu betrachten, als ob sie aus Feuer und Erde bestünde. Die Physik 
des Parmendies ist also eine fiktive. 
Nur durch diese Wendung lässt sich Sinn in das System 
des Parmenides hineinbringen. Feuer und Erde sind also keine 
Hypothesen für Parmenides, sondern Fiktionen. Ob auch 
die Vergleichung des Seins mit einer in sich vollendet abge- 
rundeten Kugel mehr als eine symbolisch-analogische Fik- 
tion sei, ist zweifelhaft; mir scheint diese Vergleichung nur eine 
solche Fiktion zu sein, und Parmenides will nur sagen, dass 
Sich das absolute Sein so betrachten lasse in Bezug auf seine 
Vollendung und Selbstgenügsamkeit, wie eine Kugel; jenes wird 
nur auf dieses Vorstellungsmittel vergleichend bezogeq: die Kugel- 
gestalt des Seins ist für Parmenides keine Hypothese, sondern 
eine Fiktion. 

Die Kugelgestalt des Absoluten bei Parmenides scheint 
uns also auch eine solche symbolische Fiktion zu sein; er sagt 
nicht, das Absolute sei so, sondern es lasse sich so betrachten, 
als ob es eine Kugel wäre, und die Eigenschaften dieses Ge- 



238 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. C. Geschichte der Fiktion. 

bildes aus der Erscheinungswelt können auf das Absolute sym- 
bolisch Übertragen werden; so ist die Kugelgestalt auch nur ein 
Vorstellungshilfsmittel, um das Unvorstellbare, wenn auch nich: 
zu erkennen, so doch zu berechnen. 

Der Wert, aber auch die Gefahr solcher Fiktionen liegt hier auf der 
Hand. Charakteristisch, dass der moderne Philosoph sich das Absolute 
unter ganz anderen Symbolen vorstellt! Ober andere Verwendung der 
Kugelfiktion siehe bes. Herbart, der sich ja so eng an Parmenides 
anlehnt. Auch bei Herbart hat die Fiktion den Wert, die Vorstellung des 
1n sich Vollendeten zu erzeugen. 
Dies ist das bemerkenswerteste Beispiel einer wirklich wissen- 
schaftlichen Verwertung und Anwendung der Vorstellungsform der 
Fiktion, wenngleich zufolge der mangelhaften Ausdrucksweise, 
welche im Griechischen hier herrscht, die eigentliche Meinung des 
Parmenides mehr erraten werden muss. 

Wenn das Altertum die wirkliche Welt der Erscheinung für 
Schein erklärt, für Irrtum, so bestimmt sie das Wesen der 
Vorstellungswelt keineswegs als fiktiv, sondern eben als trüge- 
risch: denn zur Bestimmung der Erscheinungswelt als fiktiv 
gehört die ausdrückliche Bemerkung, dass diese Vor- 
stellungswelt ein Mittel sei zur Berechnung und Be- 
handlung des im Grunde seiner Natur nach unvorstell- 
baren absoluten Seins. Diese Ansicht hat sich erst aus der 
neueren Philosophie herauspräpariert und tritt bis jetzt auch nur 
sporadisch auf. 

Mehr als dieses Spärliche lässt sich wohl über die Anwen- 
dung der wissenschaftlichen Fiktion in der Praxis der Alten 
nicht auffinden. Das Resultat ist, dass diese Form wohl hin und 
wieder angewandt wurde in ihren wertloseren Gestaltungen, dass 
sie dagegen in ihren eigentlich wertvollen Anwendungen mehr 
oder minder absichtlich vermieden wurde. 



Kapitel XXIX. ) 

Ansätze zu einer Theorie der Fiktion bei den Griechen,*) 

Nicht viel ergiebiger sind die Untersuchungen, soweit sie 
sich auf die wissenschaftliche Theorie der Fiktion bei den 
Griechen beziehen. Was Überweg in seiner Logik (3. Auf!., 



*) Im M&^=§ 4L 



XXIX. Theorie der Fiktion bei den Griechen. 



239 



pag. 396) von der Hypothese bemerkt; „Ehe die logische Theorie 
den vollen wissenschaftlichen Wert der Hypothese anerkennen 
konnte, musste die positive Naturwissenschaft mit der grossen 
Tat eines ernsten, in vielen Fällen jahrhundertelangen Kampfes 
wissenschaftlicher Hypothesen vorangegangen sein und die end- 
lich gewonnene sichere Entscheidung der Macht der treuen und 
beharrlichen Forschung bewährt haben* — das gilt auch von 
der Fiktion» Ehe eine logische Theorie der Fiktion entstehen 
konnte, musste die wissenschaftliche Praxis dieselbe geschaffen 
und angewandt haben — denn wenn in irgend einem Gebiete, 
so ist sicher in diesem Gebiete die Theorie niemals der Praxis 
vorangeeilt. Die spärlichen Anfänge der praktischen Anwendung 
der Fiktion im Altertum konnten nicht genügen, um eine Theorie 
hervorzutreiben, und sollte irgend einmal wirklich die Eigenart 
der Fiktion jemandem aufgestossen sein, so verwechselte er sie 
sicher in demselben Momente noch mit der gewöhnlichen An- 
nahme oder Hypothese: denn zu der Ansicht, dass man etwas 
denken könne und müsse, ohne dass das Sein sich so 
verhalte, und dass man trotzdem ein praktisch richtiges 
Resultat erhalten könne, zu dieser Ansicht gelangte das Alter- 
tum nie: der Zwang, etwas zu denken, galt immer zugleich als 
Beweis der Realität des Gedachten: dass das mit Notwendig- 
keit (oder scheinbarem Zwange) Gedachte nicht objektiv ist, 
sondern deswegen doch nur Mittel sein könnte — dieser 
Oedanke ist erst ein moderner. Die Form der bewussten 
Fiktion entstand erst, nachdem man lange genug und oft genug 
erfahren hatte, dass das Denken nicht das Sein widerspiegele, 
und doch zugleich die Erfahrung gemacht hatte, dass das 
Denken nichtsdestoweniger das Sein erreiche, dass die Denk- 
rechnung schliesslich doch stimme. Dann erst erwachte der Ge- 
danke, dass die Welt der Erscheinung nicht blosser Schein sei, 
sondern ein symbolisches, zweckmässig formiertes Vorstellungs- 
gebilde, das uns ermöglicht, in der Welt des Unerkennbaren und 
Unerfahrbaren uns zu bewegen und zu orientieren, ohne sie 
selbst zu kennen: indem wir einfach an ihre Stelle ein durch 
immer reichere Erfahrung zweckmässiger angepasstes Vorstellungs- 
gebilde formieren, das wir der unerklärten Welt substituieren können, 
wenigstens praktisch, wenr>auch theoretisch jene Vorstellungs- 
welt mit ihren Widersprüchen nicht ein blosses Abbild des 
wahren Seins sein konnte, sondern nur ein subjektives Mittel. 



240 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. C. Geschichte der Fiktion. 

Dem niedrigen Stand der wissenschaftlichen Methoden ent- 
spricht der beinahe absolute Mangel einer Methoden lehre de? 
wissenschaftlichen Denkens. Aristoteles hat in seinem Organoz 
ein mustergiltiges Werk geschaffen, aber nur für die Syllo 
gistik. Die Theorie der eigentlichen Methode ging beinahe 
leer aus; fehlt doch sogar bei ihm eine Methode auch nur de- 
gewöhnlichen Hypothese; denn die dürftigen Anfänge dazu, 
die u. A. Eucken herausgestellt hat, verdienen kaum dieser 
Namen einer logischen Theorie: das sind lediglich einige empi- 
rische Regeln selbstverständlicher Natur. 

Da indessen bis auf heute die Fiktion meist mit der Hypo- 
these verwechselt oder wenigstens sehr häufig mit demselben 
Worte bezeichnet worden ist, so werden einige Worte über die 
Bedeutung der griechischen vno&Miq nicht überflüssig sein: wi: 
wollen hier zwar keinen philologisch-lexikologischen Exkurs geben, 
indessen wird das Wenige, was hier zu bemerken ist, immerhin 
einiges Licht verbreiten können. 

^YnoTtSsvat hat die zunächst sinnlich klare und anschauliche 
Bedeutung, welche lateinisch mit mpponere, subjicere, deutsch mi: 
unterstellen, unterlegen wiedergegeben wird. Aus diese: 
primitiven Bedeutung konkreter Natur, etwas unter etwas hin- 
unter stellen oder legen, entwickeln sich nun abstraktere 
Bedeutungen. Verfolgen wir den allmählichen Differenzierungs- 
prozess der Bedeutungen. Eine determiniertere Bedeutung is: 
schon: etwas unter etwas zur Stütze unterlegen, zu Grunde 
legen, was jenes trägt. Daraus entwickelt sich nun natur- 
gemäss jene bildliche Bedeutung: für eine bekannte Erscheinungs- 
reihe einen Grund annehmen, etwas unter sie als tragende 
Stützung hinunterlegen; was dieses Etwas sei, das man hinunter- 
legt, ist aber offenbar noch hier vollständig freigelassen. Daraus 
entwickelt sich weiterhin die Bedeutung: annehmen, eine An- 
nahme machen, die nämlich notwendig ist, um Anderes zu 
begründen, zu stützen, ohne welche dieses Andere nicht bestehen 
kann. So entsteht die Bedeutung: vermuten, lat supponer^ 
suppositare (veluti principium ponere). Offenbar aber kann die 
betreffende Annahme sich auch auf etwas beziehen, was mä: 
grösserer Willkür angenommen wird; dann entwickelt sich die 
Bedeutung: den Fall setzen, lat fingere. Deutsch hat ja: »an- 
nehmen" auch diese beiden Bedeutungen: vermuten und den 
Fall setzen. Diese beiden Bedeutungen, die sich auf diese 



XXIX. Theorie der Fiktion bei den Griechen. 



241 



Weise naturgemäss aus der Natur des vnotiS&vai entwickeln, 
spielen nun in den weiteren Anwendungen des Wortes immer 
durcheinander. Eine besondere Modifikation durch das Medium 
scheint nicht stattzufinden; doch scheint das Medium eben be- 
sonders das Hypothetische, Problematische bezeichnen zu sollen; 
so sagt man: VTtoztösfievov, p/q äno<p<uv6fievov dneZv, d.h. hypo- 
thetisch, problematisch, nicht assertorisch reden. Die Anwen- 
dungen dieses Ausdruckes bei den Klassikern sind der Art, dass 
man selbst im einzelnen Fall oft nicht entscheiden kann, ob hier 
hypothetische oder fiktive Vorstellungsweise gemeint ist; meist 
bezieht er sich auf eine bloss rhetorische, stilistische Fiktion, 
die noch keinen eigentlich wissenschaftlichen Wert hat Besonders 
Plato liebt es, mit verschiedenen Möglichkeiten zu spielen und 
es dabei ganz offen und unbestimmt zu lassen, ob man es mit 
Hypothesen oder Fiktionen zu tun habe. 

Weiterhin erhält dann vntn&foat eine noch bestimmtere 
Bedeutung, zunächst = proponere, sich etwas vornehmen, und 
insbesondere = ponere (sensu latiore, sagt Stephanus), statuere 
= feststellen, also schon assertorisch, nicht mehr problematisch; 
wie ja überhaupt das Problematische gerne ins Assertorische sich 
verwandelt* 

% Yn6Seau; (ein Wort, das, wie es scheint, erst bei Plato 
vorkommt, hat dieselben Wandlungen: zunächst hat es die ganz 
sinnlich -konkrete Bedeutung = fundammtum et basis älicuius re% 
supposita sive subjeäa; hierfür ist jedoch vnoSrnia häufiger; dann 
bezeichnet es die Handlung, in welcher das geschieht = suppo- 
sitio, subjectio, das Hinunterlegen, vorher das Hinuntergelegte selbst. 
Daraus entwickelt sich dann parallel der obigen Reihe die Be- 
deutung eines zunächst hypothetisch angenommenen Grund- 
satzes, der einer Reihe von Ausführungen als Basis zu Grunde 
gelegt wird; seltener wird hierbei die Seite des eigentlich Hypo- 
thetischen, die Vermutung betont, sondern die Bedeutung 
eines einmal angenommenen Satzes überwiegt. Dann heisst 
es weiterhin immer bestimmter institutum, propositio, propo9itum> 
comilium, opinio, dogma, decretum. Am allerseltensten hat das 
Wort die moderne Bedeutung. Ganz hat indessen diese Be- 
deutung nicht gefehlt: häufiger ist aber die Bedeutung: Annahme, 
Satz, Voraussetzung; später bekommt vitodetttg die Bedeutung 
= hypothetischer Satz, in dem eine Voraussetzung, eine Be- 
dingung ausgesprochen ist. 

16 



242 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. C. Geschichte der Fiktion. 

Für Fiktion linden sich bei den Griechen Ableitungen von nl&ttur. 
So besonders bei Aristoteles: nXd«te t nXac^u, nXvaptttiat, niaopuzwdf ; 
(s. Bonitz, Index 597). IZXattuy ist =* formart % fingere, zunächst iür orga- 
nische Bildungsvorgänge (besonders in den „Teilen der Tiere'), dann beson- 
ders in rhetorischer Hinsicht, hier aber in tadelndem Sinn; so auch 
TT X<xgis = fictio, Metaph. /* 9 (1086* A ) f nXdcfia = nenXacfiivoy = figmentum. 
Damit findet sich zusammengestellt: ani&avoc, tnipv&evt-o&ttt, dvcxiqua, 
«Xoyos, «wiw, aJvratoe, besonders bei Widersprüchen (so 289** über das 
zusammen von Verzögerung und Beschleunigung, Der häufige Ausdruck, 
der lateinisch wiedergegeben wird mit: figmento simüe, ist also in erster 
Linie — widerspruchsvoll, etwa wie Fabeltier, Die oben aufgestellte Be- 
hauptung, die Griechen hätten keinen Terminus für fictio gehabt, ist also 
dahin zu modifizieren, dass sie zwar einen hatten, aber dass dieser ein- 
seitig nur — t fälschliche Erdichtung, absurde Behauptung ist, ohne 
den positiven Wert der Fiktion zu treffen. Die eigentlichen Anfänge 
einer wertvollen Fiktion finden sich unter Inodseie. 

Bei Plato, bei welchem das Substantiv ino&eats gleichzeitig 
mit Xenophon zuerst vorkommt, hat vmn&toai häufig die schon 
oben angeführte Bedeutung proponere, sich etwas zum Vorwurf 
einer Untersuchung machen; ausserdem hat es auch die Bedeu- 
tung: Fall setzen; also eine paradigmatische Fiktion machen: 
z, B. Tim. 48 E: %v p£v a>g na^a^cyfxaxog uäog inoTeSev. *rn6&eoti 
selbst hat ausser der Bedeutung Grundidee, Grundgedanke, 
Hauptzweck — Bedeutungen, welche sich naturgemäss aus den 
früheren entwickeln — bei Plato häufig die Bedeutung einer 
Annahme, Voraussetzung; dann ist tWofco* ein als wahr 
hingestellter, aber unerwiesener Satz, auf den sich eine Beweis- 
führung stützt Zu bemerken ist jedoch hier eben, dass solche 
Sätze nicht eigentlich methodologisch als M Hypothesen 44 in unserem 
modernen Sinn aufgestellt werden, sondern mehr formal-logisch 
als Grundlagen weiterer Erörterung. So z. B. Soph. 244 D: %whrp 
trv vnoSeuv vno9£p£vo$. Das bekannteste Beispiel ist Phaed. 
94 B: €i o$$r ^ vnodeaig rp> %6 xpv%i{v affiovtav efoai; allein auch 
in diesem Beispiel heisst doch Wto« weniger „Hypothese" im 
modernen Sinne; ebenso Parin. 128 D: # vndfteais rj d noUd 
fawv, die Annahme der Vielheit. Ebenso ist der Satz; J£ vno- 
Siaewg cxonslo&ai ti (Men. 86 E) auf diese Weise zu verstehen. 

Beliebt ist bei Plato die Verwendung der vnofcois als 
Methode, dem Gegner zunächst einen Satz als wahr zuzugeben, 
seine Wahrheit also als Fall zu setzen, d.h. zu fingieren, als 
ob er wahr wäre, um dann aus demselben Konsequenzen zu 
entwickeln, durch welche die Unwahrheit jenes Satzes erwiesen 



XXIX. Theorie der Fiktion bei den Griechen, 



243 



wird; hier bildet also jener hypothetisch angenommene Satz, 
jener fiktiv als wahr aufgestellte Satz die Grundlage zu einer 
deduciio ad absurdum in einem indirekten Beweis. Natürlich eignet 
sich dies besonders für den Dialog, findet aber dann auch weiter- 
hin in der eigentlich wissenschaftlichen Abhandlung Platz. Also 
hier sind zwei Handlungen zu unterscheiden: erstens die Auf- 
stellung des Satzes selbst als einer gegnerischen Behauptung 
oder eines gegnerischen Einwandes und zweitens die vorläufige 
Aufstellung dieses Satzes, als ob er wahr wäre, zum Zweck, 
um dann doch nachher aus seinen Konsequenzen seine Falsch- 
heit zu beweisen. 

Wir bemerken also, dass bis jetzt diese Formen für unseren 
Zweck wenig Interesse bieten und suchen bei Aristoteles zur 
Klarheit zu kommen. 

Vgl. Sigwart, Beiträge zur Lehre vom hypothetischen Urteil, Tübingen 
1871, pag. 1. Wo Aristoteles von v7o*«kc im logischen Sinne spricht, 
versteht er darunter in weiterer Bedeutung überhaupt einen Satz der einer 
Folgerung zu Grunde liegt; so die Prämissen eines Schlusses, so die 
Axiome. „In engerer Bedeutung ist ihm vno&eoic ein Urteil über Statt- 
finden oder Nichtstattfinden, das nur angenommen wird, ohne dass es ge- 
wiss . . . wäre; ein Satz, der also nur insofern zu einer Folgerung verwendet 
werden kann, als er zugestanden wird, somit auf einer SuoXoyue beruht. 
So wird insbesondere im apagogischen Beweise die Annahme des kontra- 
diktorischen Gegenteiles ein vnou&ivai, das angenommene Gegenteil eine 
v7i6$GGt$ genannt 41 » Eine solche vno&ects wird mit dem Bewusstsein 
ihrer Falschheit gemacht und ist also eher schon als logische Fiktion 
zu bezeichnen. Sigwart führt das selbst nachher aus pag- 3 ff.; es wird 
in dem apagogischen Beweise vorläufig ein Satz als wahr ange- 
nommen, der doch notorisch falsch ist. Indessen hat dies an und 
für sich für unsere Frage wenig Wert; es ist nur ein Zeugnis von der Viel- 
deutigkeit von vno&eotc. In diesem Falle ist es einfach eine logische Fik- 
tion; um apagogisch zu beweisen, nimmt man zunächst und vorläufig das 
Gegenteil des zu Beweisenden als wahr an, da es doch falsch ist. So 
Prantl. Sigwart scheint an der angegebenen Stelle Prantl nicht widerlegt 
zu haben: Prantl sagt, dass der apagogische Beweis darum ein Schlusses 
vno&BO£a>e genannt werde, weil eine seiner Prämissen ein nur angenommener 
und zwar trotz seiner Falschheit als wahr angenommener Satz ist, 
Vielleicht war Aristoteles selbst hierüber schwankend. Übrigens lässt sieb 
unsere Ansicht, dass hier vno&eats „fiktive Annahme" heisse selbst mit der 
Sigwartschen Ansicht vereinigen: nach ihm „ist die vno&eots im apagogischen 
Schlüsse, um derenwiHen er ein Schluss i£ ino&eaew heisst, nicht die 
\mo&£öi$, von der der Syllogismus ausgeht, die Annahme des Gegenteils 
des demonstrandum, sondern die Annahme (das Zugeständnis), dass sein 
Schlusssatz falsch sei." Selbst wenn der Schlusssatz damit gemein* 
ist, so wird doch dieser — für einen Moment — als wahr angenommen, 

16* 



244 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. C. Geschichte der Fiktion. 

obgleich er falsch ist — Offenbar ist Aristoteles' Meinung selbst hier- 
über nicht unzweideutig. Sollte aber auch die mit ungemeinem Scharfsinn 
vorgetragene Ansicht Sigwarts richtig sein, so würde zwar unsere, mit 
Prantl gemeinsame Annahme, dass derNam e derapagogischen Schlüsse von 
der „hypothetischen" d.h, fiktiven Prämisse stamme, fallen; dagegen bleibt 
doch faktisch, dass in dem apagogischen Schluss eine fiktive Prämisse 
gemacht wird, und die Aufstellung dieser benennt Aristoteles, wie Plato, 
ebenfalls mit vnou&ivctt; so dass, wie Sigwart a. a. O. pag. 6 selbst sagt 
vizoziHvat, vnodscte hier zwei verschiedene Funktionen hat: a) als fiktive 
Voraussetzung ($4$ »jioW), b) als ofxoXoyiv> dass der Schluss- 
satz falsch sei, also Annahme. Vgl übrigens a. a. 0. pag. 37, die aristo- 
telische Inu&eote bezeichne eine provisorische oder „bittweise" gemachte 
Annahme. Vgl. noch Sigwart, Logik I, pag, 191. Über die aristotelische 
vn6&£<nc vgl. noch Trendelenburg, Elementa, Adnotata ad §66 (pag. 157). 

Es ist im Allgemeinen zu bemerken, dass das Wort vno- 
detng eines der schwankendsten und undeutlichsten bei Aristoteles 
ist, eine Unklarheit und Unentschlossenheit, die ein charakter- 
istisches Symptom davon ist, dass Aristoteles sich der metho- 
dologischen Unterschiede der verschiedenen logischen Handlungen 
keineswegs vollständig klar gewesen ist. Das Wort hat bei 
Aristoteles auch die Bedeutung: Grundbedingung, Grundlage (eine 
Bedeutung, die bei Plato noch zu fehlen scheint), so in der Stelle: 
irzodsöiq %fy 3ri(ioic4aTix7{$ noXitetas i?*€v$€Qta. Eine modifizierte 
Bedeutung ist: das Prinzip (z> B. der Staatsverwaltung Pol 2, 6) 
und wieder wie bei Plato die Grundidee. Dann ist aber auch wo- 
&s<rt$ = hypothetische Annahme: so Met 5, 1 em<ui}fi<u vnoHwv; 
laßovaai. Diese Bedeutung ist dann sehr häufig bei Aristoteles. 

Bemerkenswert nun ist die Stelle Pol 3, 3 u. Ö.: ot fisv 
anXws nokTrai eialv, oi d* e£ vno^idBwq, was Stephanus übersetzt: 
non iitsii cives, sed modo ex quadam suppositione; vgl. Ed. Didot 
I, 525: hi sitnpliciter Uli ex condicione et cum adiectione. Jene 
sind schlechtweg Bürger, diese nur bedingungsweise unter einer 
Voraussetzung. Hier ist offenbar schon ein Anfang der späteren 
römischen juridischen Fiktion, durch welche gewisse Individuen 
doch als Bürger betrachtet und so behandelt werden, als ob 
sie es wären, wiewohl sie es nicht sind. Andere Stellen bei 
Aristoteles mit diesem Worte haben den Erklärern viele Mühe 
gemacht, gemäss der Unklarheit der Bedeutung desselben; z. B. 
Pol. 4, 1. 

Abgesehen von dem Worte fartitan* selbst spricht Aristo- 
teles Met XIII, 7 von verkehrten und erdichteten Annahmen, 
tXcuffjuzTÖtöes to nQog vn6$wiv foßta&uEvov (erdichtet, sagt 



XXIX. Theorie der Fiktion bei den Griechen. 245 

er, nenne er das, was auf einer gewaltsamen Annahme beruht). 
Mit dieser Bezeichnung: einer „gewaltsamen Annahme* drückt er 
das Wesen des Irrtums, aber auch das der Fiktion treffend aus. 

Eine „gewaltsame* Annahme in diesem Sinne ist es auch, wenn Ari- 
stoteles die „reine Form" (ohne Materie)» die er eigentlich für unmöglich 
erklärt, doch andererseits annimmt; jedenfalls ist aber die Annahme einer 
„reinen Materie* (ohne Form) für Aristoteles eine Fiktion, keine Hypothese; 
zu letzterer machten sie erst seine Nachfolger. Vielleicht fällt von hier 
aus auch rückwärts Licht auf Piatons Lehre von der Materie, die er einmal 
ein a\ri&i*oy \f/evdo$ nennt, eine Art bewussten Irrtums, also eine Art Fik- 
tion; in diesem Sinne ist es wohl auch gemeint, wenn Piaton von der 
Materie sagt, sie sei nur durch einen unechten Schluss (*6&to cvlloyiopy) 
zu erreichen. Hier Hegen noch unerforschte Anfänge der Fiktion. 

In Bezug auf die geometrischen Grundbegriffe nähert sich 
Aristoteles auch der Annahme, dass sie nicht hypothetisch, 
sondern fiktiv zu verstehen seien; ob man dies schon in der 
Stelle Met XIII, 8, wo er von der „unteilbaren Linie" Piatos 
Spricht, annehmen darf, ist zweifelhaft Dagegen ist die Stelle 
XIII, 3 bemerkenswert, wo er davon spricht, dass, wenn man 
Dinge absondere und sie abgesondert betrachte, man dadurch 
nicht in Unwahrheit gerate; so wenig, als wenn man eine Linie 
auf dem Boden ziehe oder sie einen Fuss lang nenne, obgleich 
sie es nicht sei; in solchen Voraussetzungen sei nichts Falsches 
enthalten; vielmehr werde jedes Ding am besten dadurch unter- 
sucht, dass man das Nichtgetrennte trenne, wie der Arithmetiker 
und Geometer tue. Hier ist offenbar die Idee der abstraktiven Fik- 
tion, der Abstraktion ziemlich genau entwickelt; er sucht das 
Verfahren der Mathematik zu rechtfertigen gegen den Vorwurf, 
ihr Gegenstand sei ein nichtseiender und unselbständiger. 

Eine ganz besondere Bedeutung bekommt das Wort vnodeaig 
später, wo es = alrrjfiaza gebraucht wird, = postulata, petitiones, 
besonders der Mathematiker, uti: punctum carere magniiudine et 
esse individuum. Formell sind diese Sätze Postulate der Mathe- 
matik; materiell sind sie, wie dieses Beispiel zeigt, Fiktionen. 
Hier haben wir also schon die andere Bedeutung von vnoöeöis 
sehr klar und distinkt: hier bedeutet das Wort nicht eine die 
Wirklichkeit betreffende Annahme, sondern eine Voraussetzung, 
die nur „bittweise" zugegeben wird. Die ursprüngliche Unbe-! 
stimm theit der vno&ecrtt = „Annahme" differenziert sich immer j 
mehr in die zwei Möglichkeiten einer Annahme, welche die' 
Wirklichkeit trifft, und einer Annahme, welche Sätze aus-; 



246 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. C. Geschichte der Fiktion 

spricht, die zwar als Prämissen und Grundlagen weiterer Schlüsse 
dienen, die aber doch nur postuliert werden können, die fak- 
tisch eben nach unserer Ausdrucksweise Fiktionen sind: es liegt 
ja auch eben in dem Begriff der „Annahme" diese Zweideutigkeit, 
welche bei Aristoteles auch offen da liegt, und erst allmählich 
tritt eine deutlichere Scheidung ein zwischen hypothetischen und 
zwischen fiktiven Annahmen. 

Es entsteht nun eine weitere Bedeutung, welche sich bei 
Plato und Aristoteles noch nicht findet: das Wort erhält die Be- 
deutung naga6elyfia 9 Beispiel, species, exemplum, besonders juri- 
disch „casus legis". 

Davon ist zu unterscheiden die Bedeutung aJs quaesHo ficta, nämlic* 
die Aufgabe zu einer Abhandlung oder Rede» ein zur Übung erdichteter 
Fall, Cfr, die moderne didaktische Anwendung erdichteter Rechts- 
fälle. Dafür auch nXatpa. 

Ebenso heisst rhetorisch vnöStöig ein einzelner fingierter 
Fall, und er wird als solcher der &&st$ gegenübergestellt, als dem 
allgemeinen Satze, zu dessen Illustrierung und Begründung der 
einzelne Fall dienen soll. Hier ist also indSetfig = der ge- 
setzte Fall, oder wie Stephanus sagt: eine forma dicendi condi* 
iionalis, i e. mentio rei, quae neque facta est, neque tarn est, sei 
fingitur a rhetore> si hoc vd iUud fiat aut consequatur, unde dicun- 
tut argumenta duci xa§* inoSetStv, h. e. fingendo aliquid, quod, si 
verum sit, aut solvat quaestionem aut adiuvet.. 

Daraus erhellt der Zusammenhang mit dem apagogischen Schlüsse, bei 
dem auch eine fingierte vit6&$mc gemacht wird; allerdings heisst, wie Sig- 
wart nachzuweisen sucht, der apagogische Schluss nicht darum der Schluss 
kg v7iQ$i(T£tnf' f dagegen hier scheint doch der Schluss xaf vn6$«ti*. 
wenigstens nach Stephanus' [nterpretation darum so zu hetssen, weil etwas 
Fingiertes vorausgesetzt wird. 

Ähnlich ist die Redensart gemeint: tovto xad? Wftfi» 
eiiyffl&iö, xaö' vTTo&stsiv einelv; z. B* Theophrast 1, 13, 3: tovto 
fikv ovv äv xotf* vno&€<fiv et^erto; was Stephanus so kommen- 
tiert: „a mpponmte dictum: non id plane statw, nec vi argumenta 
probatum sequor, sed quasi dleXtififievriq v7iQ§£a£(a<; 9 ut Aristoteles 
Metaphys. 5 in. loquitur." Man beachte hier, dass also der Redner 
nicht assertorisch, nicht problematisch spricht, sondern quasi etc. 
d. h. als ob, also fiktiv. Auch die obige Interpretation des 
Stephanus: forma dicendi erinnert an den Ausdruck Leäbntzens 
über seine Differentiale, sie seien nur ein modus dicendi Stepha- 
nus führt noch eine andere interessante Stelle an: Eufus in Walrii 



XXIX. Theorie der Fiktion bei den Griechen. 



247 



Rhei. Voh 3. pag- 457: To xa&* vno&etsiv ovre yeyevvrjfievov 
ov%e yevofitvov nQdyttavos drjXaHtic, ä)X vnore^efxevov tov QrjfuOQog, 
ei to xai ti yevrjtai, ti av ovfißalvy* 

Das Wesen der rhetorischen Fiktion ist in dieser Stelle sehr 
klar dargelegt; nur hat eben die rhetorische Fiktion für uns weiter 

keinen wissenschaftlichen Wert. 

Nur insofern hat diese Untersuchung Wert, als sie nachweist, dass 
schon bei den Griechen vno&ws sowohl fingierte Annahme, als hypo- 
thetische, problematische Annahme bezeichnet; und während die 
Römer streng zwischen fictio und suppositio (praesumtio) unterscheiden, 
mag sich daraus die bis heute fortgesetzte Verwechslung von Hypothese 
und Fiktion ableiten, weil eben bei den Griechen vno&ects beides be- 
deutet. Nach dem allgemeinen Gesetz der Differenzierung der Bedeutungen 
hat sich dann später diese doppelte Bedeutung herausgestellt und hat der 
sprachliche Genius dem griechischen Wort vno&wc die eine Funktion, 
dem lateinischen Wort „fictio" die andere Funktion übertragen; weil Hypo* 
these im Griechischen zweideutig ist, hat die Sprache die Notwendigkeit 
gefühlt, daneben noch ein anderes Wort zu besitzen, und so ist dafür das 
lateinische eingesetzt worden. Diese Differenzierung tritt ein, sobald 
der tiefgreifende Unterschied solcher Annahmen hervortritt, welche mit dem 
Bewusstsein ihrer problematischen Modalität aufgestellt werden, von 
denen also Möglichkeit oder mögliche Wirklichkeit prädiziert wird, und 
solcher, weiche mit dem Bewusstsein aufgestellt werden, dass sie unwirk- 
lich oder unmöglich, aber doch um eines gewissen Zweckes willen er- 
laubt oder notwendig sind. Diese beiden Formen werden allmählich immer 
genauer unterschieden» Bei den hypothetischen Annahmen ist über die 
Wirklichkeit oder Unwirklichkeit noch nicht entschieden (doch neigt sich 
modeets gerne der Behauptung der Wirklichkeit zu); bei der fiktiven An- 
nahme ist allerdings unterschieden und entschieden, nämlich 
dass solche Annahmen unwirklich oder unmöglich seien, dass sie aber 
doch um eines Hilfszweckes willen gemacht werden. Es muss 
allmählich eine solche Differenzierung eintreten. Zuerst macht man An- 
nahmen ohne weitere Rücksicht auf ihre objektive Giltigkeit Dieser in- 
differente Zustand herrscht noch bei Plato, wo noch kaum eine Besinnung 
Über den logischen Wert solcher Annahmen vorhanden ist Im Lauf der 
Zeit bemerkt man, dass es zweierlei Annahmen gibt, solche, welche sich 
auf das Wirkliche beziehen, und solche, welche ein Unwirkliches oder Un- 
mögliches mit dem Bewusstsein dieser Qualitäten doch aufstellen, mit dem 
Zweck, dadurch ein logisches Resultat zu erreichen. Dieser Gang der Ent- 
wicklung ist psychologisch natürlich: die ursprüngliche Indifferenz folgt aus 
ebenso bekannten psychischen Gesetzen, wie die allmähliche Differenzierung. 
Es sei noch auf folgende Stellen hingewiesen: Diogenes apud 
Eusefr 4, 138, A: et xct£ J vno&eöiv dlq9tg; ähnlich Plutarch 
de fato 569 D dicit (nach Stephanus) rijv eljuaofiforjv esse ez eorwm 
numero, quae sunt e% vno94*em$. Ob hier Plutarch nicht meint, 
das Faturn sei nur eine Fiktion, nicht eine Hypothese, ist zweifei- 



248 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. C. Geschichte der Fiktion. 

haft, indessen wäre es nach dem ganzen Sprachgebrauch nicht 
unmöglich. 

Allmählich wird nun vnou&avat auch mit imaginari zu- 
sammengestellt und erhält speziell diese Bedeutung; so führt 
Stephanus eine Stelle an aus Sextus Empiricus 529 (c. 43): tovco 
<T vnoTi&eTCu ti$ fjroi äXr]$6g iori xai totovzov otov aizo vnoxC- 
jtoat, % xftsväog. Nach Stephanus erhält nun das Wort auch die 
Bedeutung: animo verum eventum praesumere et fuiura quasi 
praesentia sibi tamquam ad oculos ponere. 

Aus dem Bisherigen geht klar hervor, dass bei den Griechen 
eine deutliche Trennung nicht vorhanden war, dass jedenfalls in 
dem Ausdrucke die Doppelbedeutung hypothetischer und 
fiktiver Annahme durcheinandergeht, und dass beide Be- 
deutungen keineswegs streng in jedem einzelnen Falle ausein- 
anderzuhalten sind. Und soweit der Ausdruck vno&eaig fiktive 
Annahme bezeichnet, so beziehen sich diese immer nur auf bloss 
rhetorische oder stilistische Fiktionen, oder auf solche 
Annahmen, welche provisorisch einer Beweiskette zum Grunde 
dienen, die wir darum syllogistische Fiktionen nennen können; 
eigentlich methodologische Fiktionen in unserem modernen Sinn 
sind hierbei ausgeschlossen. 

Bemerkenswert ist jedoch noch, dass bei den nacharistote- 
Hschen Skeptikern immerhin eine Ahnung davon erwacht, dass 
Annahmen auch in wissenschaftlicher Hinsicht nur fiktiv 
gemeint sein können; leider sind aber gerade bis jetzt diese 
Partien der Geschichte der griechischen Philosophie noch nicht hin- 
reichend durchforscht; auch fliessen hier die Quellen zu spärlich, 
um Genaueres angeben zu können. Bemerkenswert ist das von 
Sextus Empiricus adv. Math. IX, 207 mitgeteilte Argument gegen 
die Kausalität, sie gehöre zum Relativen; das Relative {tvqos ti) 
habe aber keine Existenz (ov% indQ%si\ sondern werde nur hinzu- 
gedacht (e7ttvo€Zxcu iiqvqv). Hier haben wir das erste Aufdämmern 
der Einsicht, dass die Kategorien nicht der hypothetische 
Ausdruck eines Wirklichen, sondern nur fiktive Hilfsmittel 
zur Erfassung desselben seien. Wenn aber irgendwo im Altertum 
die Theorie der Fiktion zu suchen ist, so kann sie nur bei den 
Skeptikern zu finden sein, 1 ) welche sich des Zwiespaltes zwischen 

1) Nach Mitteilungen Schusters, des genauesten Kenners dieses Teil« 
der griechischen Philosophie, finden sich bei den Skeptikern sehr erhebliche 
Ansätze zur Theorie der Fiktion. 



XXX. Praxis der Fiktion bei den Römern. 



249 



Denken und Sein wöhl bewusst waren, ohne freilich über den 
skeptischen Negativismus zum kritischen Positivismus hinaus- 
zugehen. Die Skeptiker wiederholen und erweitern gewisse Sätze 
der Sophisten, welche ebenfalls schon ein Verständnis, wenn 
auch in verzerrter Gestalt, davon zeigen, was wir eine Fiktion 
heutzutage nennen* Überall bemerken wir hier den oben erklärten 
Mangel, dass die Griechen von der unmittelbaren Wirklichkeit 
so abhängig sind, dass sie, wo sie sich von derselben verlassen 
sehen, sofort in theoretische Resignation versinken, ohne zu dem 
positiven Begriff des Denkens als eines Instrumentes, 
der Vorstellungswelt als eines zweckmässigen Symbols 
weiterzuschreiten, 



Kapitel XXX. 
Die Praxis der Fiktion bei den Römern**) 

Bei den Römern findet sich schon Eine Gattung der wissen- 
schaftlichen Fiktion in voller Blüte, es ist die juridische Fik- 
tion. Die verwickeiteren Rechtsverhältnisse machten dieselbe not- 
wendig. In der Praxis der Rechtsprechung ergaben sich Fälle, 
welche nach den bestehenden Gesetzen nicht behandelt werden 
konnten. Da wurden sie denn unter analoge Fälle gerechnet 
und geradezu gewaltsam 1 ) unter gewisse Gesetze subsumiert. 
So sagt Forcell. im Lex. Tot Latinit II, 287 ff. über die fictio 
legis: fictio legis dicitur, cum per legem aliquant cuipiam conceditur, 
ut alia conditione censeatur atque in praesenti est: v. gr. lex Cor- 
nelia sanxit, ut 9 qui apud hostes morerentur, eorum tesiamenta perinde 
vcderent, ac si in civitate decessissent. Itaque lex quodammodo 
fingtt, eos in civitate testamentum condidisse, quamvis inter hostes 
fecerint Hier tritt denn das Als ob schon ganz deutlich auf, 
das wir als das äusserliche Merkmal der Fiktion bezeich- 
net haben, und dem wir bei den Griechen nur in poetischen 
Bildern, nicht aber bei wissenschaftlichen Fragen begegnet sind. 
Fictio, sagt die Realencyclopädie der klassischen Altertumswissen- 
schaft von Pauly III, 473, nannten die Römer eine durch das 
prätorianische Recht geschaffene Erleichterung und Rechts- 
umgehung, welche darin besteht, dass etwas, was das strenge 



*) Im MS. = §42. 

1) Die Gewaltsamkeit ist ein Hauptsymptom der Fiktionen, vgl S.245, 



250 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. C. Geschichte der Fiktion. 

Recht fordert, unter gewissen Umständen als geschehen oder vor- 
handen angenommen werden soll, wenn es auch nicht gescheher: 
oder vorhanden ist Dadurch treten gewisse rechtliche Wirkungen 
ein, auch wenn die vorausgesetzten Verhältnisse nicht so statt- 
finden, wie es das Gesetz vorschreibt. — Diese Erklärung pasr 
mutatis mutandis vollständig auch auf die wissenschaftliche 
Fiktion im engeren Sinn; auch hier findet eine Erleichterung 
und Umgehung der Schwierigkeit statt, welche aber auch hie: 
wie dort Folge der verwickeiteren Verhältnisse ist: auch hie: 
wird eine Forderung des strengen Rechtes der Logik um- 
gangen, und auch hier treten Konsequenzen, praktische Folgerungen 
ein, welche stimmen, obwohl das Vorausgesetzte selbst 
falsch ist — So gibt es, fährt das Reallexikon fort, Klagen, 
welche ein peregrinus anstellen kann, indem er als dm fingiert 
wird, denn als peregrinus hätte er sie nicht anstellen dürfen. 
Einer, welcher den Besitz einer Sache vor vollendeter Usucapioc 
verloren hat, wird fingiert, als ob er usucapiert hätte und kanr. 
darnach klagen; ein capite deminuius wird unter gewissen Ver- 
hältnissen angesehen, als habe er nicht capitis deminutio erlitten 
(Gajus III, 84). Der honorarius emptor darf klagen als fingierter 
Erbe, Solche actiones, welche durch Fiktionen auf andere Fälle, 
als die im Gesetz bestimmten ausgedehnt werden, (also unbe- 
rechtigte Ausdehnung!) heissen actiones utiles (Gaj. IV, 32—381 
Nun, jene logischen Ausdehnungen, jene fiktiven Handlungen 
kann man auch solche actiones utiles nennen; actiones, welche 
nützlich sind, ohne doch streng richtig zu sein (vgl. Freund, 
Wörterbuch d lat Spr. II, 567). 

Wir sehen also im römischen Volke die juridische Praxis 
schon so weit vorgeschritten, dass die juridische Fiktion ohne 
Anstand entwickelt ist Die logischen Zusammenhänge, welche 
zwischen der juridischen Fiktion und der allgemein wissenschaft- 
lichen Fiktion stattfinden, haben wir schon früher dargelegt. Aus 
den oben angeführten Stellen erhellt zur Genüge die formale 
Identität der Verstandeshandlung und des ganzen Vor- 
stellungszustandes in den juridischen Fiktionen mit den 
anderen wissenschaftlichen Fiktionen. 1 ) 

1) Vgl. auch die bei Pauly a.a.O. angegebene Literatur, bes. A. O.Alt e- 
serra; de fictionibus juris, I, tl, Paris 1659—1679, auch zitiert von Eisenhart. 
HaJ. 1769. D. Balck, de origine atqxie utüitate fictionum juris apud Montana 
Franc! 1714, 



XXX. Praxis der Fiktion bei den Römern. 251 

Dieser Praxis gemäss entwickelte sich denn auch eine be- 
deutende Theorie. Ebendasselbe findet in dem verwandten Gebtete 
der Rhetorik statt, auf dem die Römer, wie in der Jurisprudenz, 
wissenschaftlich tätig waren. 1 ) Gerade in der Rhetorik spielt 
die Fiktion eine grosse und bedeutende Rolle; indessen bietet 
gerade diese für uns nur ein vergleichendes Interesse dar. 
Eigentlich wissenschaftliche Fiktionen in anderen Gebieten 
waren bei den Römern noch viel weniger im Gebrauch, als bei 
den Griechen, um so weniger, als die Römer absolut keinen 
Geschmack fanden an abstrakter Mathematik und rein theo- 
retischen Untersuchungen. 

Bei dem Mangel einer universalen Wissenschaftsgeschichte lässt sich 
Weiteres sicher nicht behaupten; indessen mag in den Spezialdar- 
stellungen der historischen Entwicklung einzelner Wissenschaften, bes< 
der Mathematik, viel Material vorhanden sein. 

Das allmähliche Auftreten eines solchen Erkenntnisinstrumentes muss 
nicht bloss allgemein verfolgt werden, sondern in jeder einzelnen 
Wissenschaft wieder besonders. Hier aber ist das Material noch un- 
gemein lückenhaft und zerstreut. 



Kapitel XXXL 

Ansätze zu einer Theorie der Fiktion bei den Römern.*) 

Wichtig ist für unseren Zweck die allmähliche Ausbildung 
des Ausdruckes fictio, den wir auch heute anwenden, im Unter- 
schied von dem griechischen Ausdruck vno&eoit. Diesem müssen 
wir einige Aufmerksamkeit schenken. 

Das Bemerkenswerteste hierbei ist, dass die Römer den in 
dem griechischen Ausdruck vno&etftg Hegenden Doppelsinn sehr 
wohl merken und das griechische Wort demgemäss auf zwei 
verschiedene Weisen übersetzen. Da nun die lateinische Aus- 
drucksweise von da an herrschend blieb, das ganze Mittelalter 
hindurch galt und ihre Wirkung bis auf heute erstreckt, so ist 
es höchst folgenreich gewesen, dass die Römer einen energischen 
Schnitt machen zwischen der hypothetischen und der fiktiven 
Annahme. Also so ganz ohne wissenschaftliches Verdienst sind 



1) Vgl. die römische Formel der Redner: „fingo* (a. unten). 
*) Im MS. « ff 43. 



252 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. C. Geschichte der Fiktion 

die Römer in dieser Hinsicht nicht Nicht nur bildeten sie 
praktisch die juridische Fiktion selbständig aus, die den Griecher 
wohl nur embryonal bekannt gewesen war, sondern sie be- 
merkten ganz deutlich den Unterschied dieser Annahmen von ein- 
ander und bahnten so die Möglichkeit einer Theorie an. Sie 
erkannten, dass die fiktive Annahme streng von der Hypothese 
zu trennen sei Der praktisch nüchterne Sinn der Römer ha: 
also hier sehr richtig geurteilt, und viel richtiger als die leb- 
hafte Einbildungskraft der Griechen, welche beide Annahmer 
ganz vermischten, und denen ihre sonst so reiche Sprache 
einen Ausdruck versagte für die Fiktion, wie wir denn auch sonst 
manche Unbeholfenheiten in der griechischen Sprache bemerken, 
welche in der lateinischen glücklich überwunden sind. Die Römer 
übersetzen vn6&€<n$ bald mit suppositio, bald mit fictio — 
da haben wir auf einmal streng logisch geschieden, was bei 
den Griechen unklar durcheinandergeht 

Die natürlichste Übertragung von vn6&€<ri$ ist suppositio 

„Unterstellung*, wie man auch in Deutschland früher die 
Hypothesen nannte. 

„Unterlegung" sagt Beneke, s. System der Logik H, 103 ff, Daruza 

spricht er auch II, 90 von „Unterlegungsschiüssen* d. h. Bildung voa 

Hypothesen. 

Zunächst ist supponere = subtus ponere, subjicere, subdert. 
siibmiüere (cfr. Forcell. IV, 290/1); dann ist es — tamquam certux, 
ponere, also genau wie im Griechischen. Dagegen erhält das 
Partizip: suppositus schon die Färbung des Fiktiven, weil eben 
Hypothetisches und Fiktives nicht immer zu trennen ist. Suppo- 
situs ist = gefälscht, untergeschoben = pro alio positus, substitutiv 
also das Falsche statt des Wahren untergeschoben (dies ist 
ja auch bei der Fiktion der Fall)* So ist suppositus — subditi- 
cius, suppositicius, fictus (praesertim $i dolo et fallendi causa). Wir 
sahen ja auch oben, dass Fiktion ein Ausdruck für Lüge, Un- 
wahrheit, Irrtum sei; dasselbe heisst subjicere = pro vero fdtez 
supponere, dolo mutare, ebenso subdere = siibstituere, immutart^ 
fictum (z. B, testammtum) pro vero subjicere et ostendere; mfficer* 
— in locum alterius ponere; wir sehen also, wie suppositio zu- 
nächst umbiegt in den Begriff der fictio im Sinne der 
Fälschung, Weiterhin aber hat suppositio einfach den Sinn 
einer Hypothese, einer problematischen Annahme; diese 
Bedeutung entwickelt sich aber erst im Spätlateinischen; die 



XXXI. Theorie der Fiktion bei den Römern. 



253 



romanischen Sprachen haben daraus die Worte für Hypothese 
gebildet, sofern und soweit nicht dieses Wort (Hypothese) selbst 
allmählich herrschend wurde; suppositio eben ist das eigentliche 
Synonym zu Hypothese in den romanischen Sprachen. 

Fingere ist die andere Übersetzung für das griechische 
cnoTvÜevcu, da, wo es sich dem Sinne des imaginari nähert; 
fingere heisst zunächst formare, dann simulare, dann imaginari 
«ForcelL II, 294). Am häufigsten wird das Wort für die rhetor 
ri sehe Fiktion gebraucht, und es liegt hier schon ein bedeutender 
Schritt gegenüber der griechischen Vermischung derselben 
Bedeutung mit der Hypothese in dem griechischen Worte vor. 
Häufig kehrt in Ciceros Reden die Formel wieder: finge . . - 
dann heisst es auch erweitert: fingere cogitatione* Und mit dem- 
selben Worte wird bekanntlich auch die ideale Vorstellung be- 
zeichnet, also die typische oder ideale Fiktion: fingere et for- 
mare sibi prineipem (Plin. Pan. 4. 4) = formam, imaginem perfecti 
prindpU ingenio coneipere. 

In re oratoria, sagt Quintilion 5, 10, aüquando fingere est 
proponere aliquid, quod $i verum sit, aut solvat quaestionem aui 
adiuvet: deinde id, de quo quaeritur, facere Uli simile. Hier wird 
auch zugleich darauf hingewiesen, dass das Prinzip dieser (und 
aller) Fiktionen die Analogie sei. 

Hier sind also Ansätze zu eine Theorie wenigstens der rhetorischen 
Fiktion. Quintiiian bezeichnet hier recht deutlich den psychischen Mecha- 
nismus: zuerst wird ein Unwirkliches fingiert, dann tritt das simile facere 
ein; vgl, oben die Analyse von „wie wenn", „als ob"; in dem Wie liegt 
das simile facere, in dem „Wenn* die Aufstellung einer unmöglichen 
Voraussetzung. Also Gleichsetzung eines Wirklichen mit 
einem Unwirklichen — ist das Wesen der Fiktion. 

Fictio selbst ist zuerst der actus fingendi et formandi, die 
Erfindung: so die bekannte Stelle bei Quintiiian 8, 6, 31: fictio 
nominum adiectis> detractis, mutatis Werk (dieselben Tätigkeiten 
sind auch bei der wissenschaftlichen Fiktion wirksam) und Gel!. 
18, 11: Turium veterem poetam dedecorasse linguam latinam hujus- 
cemodi fictionibus vocum. Weiterhin heisst es dann Verstellung, 
Lüge = simülatio; die ästhetische Fiktion wird ebenfalls so aus- 
gedrückt als fictio personae = prosopopoea; vgl. Lactant 1, 21, 
Poetanim fictionibus credere. (Daraus leitet sich die moderne eng- 
lische Bezeichnung der Poesie als fiction ab; poetische Schriften 
heissen dem Engländer „works of fiction*). Ganz richtig über- 
setzt der Römer das xa& vno$e<nv elmtv der Griechen mit fiäio 



254 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung, C. Geschichte der Fiktion. 

= ratio ducendi argumenti a rebus in cogitatime posüis; diese 
Übersetzung beweist die feine Unterscheidung zwischen hypo- 
thetisch Gesagtem und fiktiv Angenommenem, und Quin- 
tilian 5, 10, 95 führt diesen stilistischen Terminus ausdrücklich an; 
zweifellos ist diese Ausdrucksweise viel klarer, als die griechische, 
schon darum, weil diese stilistisch-syllogistiscbe Fiktion mit der 
rhetorischen nahe verwandt ist, wenn sie auch etwas höheren 
wissenschaftlichen Wert hat. 

Dieselben Bedeutungen kehren wieder bei fictus, dem Parti- 
zip und Adjektiv; es ist = fiktiv. 



Kapitel XXXII 
Mittelalterliche Terminologie.*) 

Einen kurzen Paragraphen müssen wir auch dem Mittel- 
alter widmen; dass hier von einer wissenschaftlichen Praxis 
nicht die Rede sein kann, ist bekannt; daher sind wohl auch 
hier keine streng wissenschaftlichen Fiktionen zu suchen. Dass 
das ptolemäische System den Arabern als Fiktion galt (vgl. 
oben S. 55), ist eine wahrscheinliche, wenn auch nicht sicher ver- 
bürgte Nachricht; und dies lässt darauf schliessen, dass auch sonst 
immerhin Anklänge und Anfänge vorhanden sein mögen. 

Das Glossarium mediae et inürnae latinitatis von Carpenter- 
Adelung, Paris 1844, das allerdings sehr unvollständig ist, bringt 
auf S. 279/281 im III. Band nur die Worte fictitiae, fictuositas, 
fiduose im Sinn von lügnerischer Erfindung, 

Wichtig sind diejenigen Stellen in Prantls Geschichte 
der Logik, wo im Streit [ zwischen Nominalismus und 
Realismus von dem Wesen der AUgemeinbegriffe die Rede ist: 
naturgemäss erklärt der Nominalismus alle AllgemeinbegriHe für 
ficta, fidiones, ohne jedoch damit den positiven Sinn der Fik- 
tion zu verbinden, den wir damit verbinden, und der schon in 
der juridischen Fiktion enthalten ist „Negativen Sinn" der Fik- 
tion heissen wir eben die Annahme, dass z. B. die Allgemein- 
begriffe Ausdrücke für Unreales seien, also rein erfunden und 
erdichtet; dagegen positiven Sinn der Fiktion nennen wir 



*) Im MS. ~ §44. 



XXXII. Mittelalterliche Terminologie. 



255 



die Einsicht, dass diese Fiktionen trotzdem einen hohen prak- 
tischen Wert haben, dass sie als Erkenntnismittel dienen; 
denn dies ist ja der Sinn der wissenschaftlichen Fiktion» dass in 
ihr eine Annahme gemacht ist, deren vollständige Unwahr- 
heit oder Unmöglichkeit eingesehen wird, die aber nichts- 
destoweniger um gewisser praktischer Interessen oder 
theoretischer Zwecke willen gemacht wird* Daran leidet die 
Erklärung der AÜgemernbegriffe durch die Nominalisten, dass sie, 
wie die antiken Skeptiker, nur bis zum Negativismus gehen, nicht 
zum kritischen, positiven Standpunkt fortschreiten, auf dem die 
Einsicht herrscht* dass diese Denkmittel absolut notwendige 
oder nützliche Verstandeshandlungen sind, welche, ob- 
gleich theoretisch mehr oder minder wertlos, doch gewisse prak- 
tische Zwecke erfüllen, das Denken erleichtern und seine Be- 
wegung beschleunigen. Nichtsdestoweniger lag ein tiefer Sinn 
in der fiäio rationis, 1 ) wie man die Allgemein begriffe hiess, und 
es ist ein grosser Fortschritt gegenüber dem Piatönismus und 
zugleich ein Fortschritt in der Erkenntnistheorie überhaupt, dass 
der NominaHsmus den Übertreibungen des mittelalterlichen Rea- 
lismus entgegengetreten ist. Denn nach diesem sollte ja jedem 
Allgemeinbegriff nach Platonischer Weise ein existentes, tran- 
szendentes Ding entsprechen. Auf dem Wege des NominaHsmus 
schritt später Locke weiter 

Lieb mann unterscheidet genau zwischen der metaphysischen und 
zwischen der psychologischen Frage: in beiden Gebieten ist der Allge- 
mein begriff ais Fiktion nachgewiesen, VgL Lieb mann, Zur Analysis 
der Wirklichkeit, pag* 416ff„ wo die Frage aufgeworfen ist, ob das Ab- 
straktem nichts ist als eine theoretische Fiktion, ein logisches Ldea! und 
Postulat, dem unsere auf intuitives Vorstellen beschränkte Intelligenz 
niemals Genüge leistet 
Die naheliegende Versuchung, die fictiones rattimes mit den 
fictiories juris et legis zu vergleichen, eine Vergleichung, die ohne 
Zweifel zu interessanten Resultaten hätte führen müssen haben 
die Nominalisten nicht gefühlt: sonst wären sie darauf ge- 
kommen, dass die ßdiones rationü der Erkenntnis denselben 
Dienst leisten, wie die fictiones legis der Rechtswissenschaft, und 
dass beide adiones xiilJes sind. {Leibni2 hat in den Nouveaux 

1) Auch entia rationis. Dieser Nominalismus hat in der Geschichte der 
neueren Philosophie ungeheuer nachgewirkt. Z. B. Spinoza nennt in den Dialog- 
fragmenten II, 44 — 46 (Supplentcntum ad Bert, Spinoza opera, Amstelod. 
1362 f. die Begriffe cfes Ganzen und sogar dsn des In teile kfs entia rationis* 



256 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. C. Geschichte der Fiktion, 



Essais, wie es scheint t zuerst einen solchen Vergleich an- 
gestellt) 

Von diesem mittelalterlichen Ausdruck nun leitet sich aller 
weiterer Gebrauch des Wortes fictio ab, besonders bei den Eng- 
ländern bis auf Locke und Hume, dessen „fiction of thoughi* 
aber noch genau an denselben Fehlern leidet, wie die nomi- 
nalistische fictio rationü, nämlich an der einseitigen negativen 
Verwerfung der als ücttons bezeichneten Begriffe, anstatt ihre 
positive Nützlichkeit und Notwendigkeit ins Auge zu 
fassen, anstatt sie als Instrumente der Psyche zu fassen, ver- 
mittelst weicher diese sich des Wirklichen indirekt bemächtigt; 
es wird nur einseitig betont, dass die fidions = Vorstellungs- 
gebilde sind; und doch hätte schon die einfache teleologische 
Betrachtung des psychischen Mechanismus dahin führen sollen, 
den positiven Wert der ficiions zu finden. 

Durch die Hilfe der lateinischen Sprache hatte sich denn 
aber doch allmählich die Terminologie sehr bereichert* Wir 
steilen hier eine Axt Genealogie derjenigen Begriffe auf } welche 
sich aus der griechischen rnoSeatg entwickelt haben; 



V7l ftÜStflS 




mmüo principium supjjoaitio conjedura praemmtio fidic 

Stvmiio oder positio, ist die einfache Annahme, der Satz, die 
Behauptung; principium ist = d^r, Grundlage» Ausgangspunkt; 
mppositio und conjeciura bezeichnen Vermutungen, Voraussetzungen 
und sind wohl kaum mehr als graduell verschieden; im Sprach- 
gebrauch bezeichnet Konjektur eine philologische Hypothese; 
mppositio ist der Ausdruck der romanischen Sprachen für Hypo- 
these (wofür wir deutsch „Unterstellung" haben, oder „Wagesatz"); 
indessen gebrauchen jetzt alle modernen Sprachen auch das 
originale griechische Wort eben im Sinn der wissenschaftlichen 
Hypothese; praesumüo ist besonders ein juridischer Ausdruck 
und bezeichnet eine Voraussetzung, welche so lange an- 
genommen wird T bis das Gegenteil bewiesen wird. 

Endlich ist noch, wie bemerkt, der Terminus fictio in alle 
modernen Sprachen übergegangen und bezeichnet allgemein als 
„Produkte der Einbildungskraft" folgende Gebilde: 



XXXIII. Anwendung der Fiktion in der neueren Zeit 



237 



a) eine lügnerische Erfindung, 

b) eine poetische Erdichtung, 

c) eine mythische Erdichtung, 

d) eine irrige Annahme, 

e) eine wissenschaftliche „Fiktion", 

Die letztere Bedeutung (e) ist die am wenigsten bis jetzt 
festgestellte und behandelte; gemeinsam ist diese Bedeutung 
besonders allen modernen Sprachen in Bezug auf die juridische 
Fiktion, sowie auf die mathematische. Eine Übersetzung 
des Ausdruckes fictio in seiner Bedeutung als „wissenschaftliche 
Fiktion" in einem Worte ist den modernen Sprachen unmöglich; 
Fiktionen sind tri unserem Sinne : wissenschaftlich erlaubte 
oder gebotene Erdichtungen. 



Kapitel XXXIIL 
Die Anwendung der Fiktion in der neueren Zeit.*) 

Wir gehen nunmehr zur Feststellung des Gebrauches der 
wissenschaftlichen Fiktion in der neueren Zeit über; hier wird 
die Anwendung derselben ungleich reicher. 

Bis jetzt fanden wir a!s einzig wirklich wissenschaftliche 
Fiktion nur die juridische, allein hier ist doch zu bemerken, 
dass die Rechtswissenschaft nicht eine eigentliche Wissenschaft 
des Seienden ist, sondern eine Wissenschaft menschlicher, will- 
kürlicher Einrichtungen; auch wurde die Fiktion mehr in der 
Rechtspraxis angewandt; dagegen fand sie noch nicht jene 
weite Ausdehnung wie im modernen Rechte, wo sie insbesondere 
zur Begründung des Staatsrechtes angewandt worden ist, 
und wo ausserdem noch die Fiktion juridischer Persönlich- 
keiten so ungemein ausgedehnt worden ist, sogar bis auf den 
Staat selbst, insofern auch dieser als eine juridische Person 
betrachtet wird. Sowohl in der engeren Rechtspraxis als in 
der Rechtstheorie ist die Fiktion in neuerer Zeit viel reicher 
angewandt worden als im Altertum. Besonders in England hat 
die Fiktion vielen Gebrauch und *Missbrauch gefunden. Sie 



*) Im MS, = § 45. 

17 



\. 258 Erster Teil; Prinzipielle Grundlegung, C. Geschichte der Fiktion. 

jl dient zur Subsumtion eines Falles unter eine allgemeine Reget, 

| f wenn dieser einzelne Fall dadurch eine juridische Behandlung 

erfahren soll: so wird z, B. fingiert, dass der Ehemann Vater eines 
Kindes sei, falls er zur Zeit der Konzeption im Lande war, d. h. 
jj da nicht jeder einzelne Fall untersucht werden kann, so wird 

|| äm allgemeinen angenommen, dass jeder Ehegatte als Vater des 

jj Kindes zu betrachten sei, wenn er zur Zeit der Konzeption im 

j: Lande war; dieses Beispiel wird von Leibniz in den „Nouveanx 

|! Essays" angeführt; indessen ist dies zunächst keine eigentliche 

![ Fiktion, sondern nur eine präsumtio. Es ist nur dann eine 

!j Fiktion im juristischen Sinn vorhanden, wenn ein Ehegatte, 

jj dessen Ehefrau etwa Ehebruch begeht, doch als Vater des da- 

| durch erzeugten Kindes angesehen wird, wenn er zu derselben 

'i Zeit im Lande war: da wird er betrachtet, als ob er der Vater 

j| wäre, obgleich er es nicht ist, und obgleich man weiss^ 

jj dass er es nicht ist; dieser letztere Zusatz unterscheidet die 

f Mio von der praesumtio; denn in der pr&esttmtio wird eine Vor- 

;; aussetzung so lange gemacht, bis das Gegenteil bewiesen 

!; ist; dagegen ist die fietio die Annahme eines Satzes resp, einer 

j Tatsache, obwohl das Gegenteil sicher ist Ein Beispiel 

i einer eigentlichen Fiktion ist ferner das, dass in England (im 

; XVIII. Jahrhundert) jedes Vergehen betrachtet werden konnte, als 

j ob es gegen den König persönlich begangen worden 

| wäre; jedem Kläger stand das Recht offen* seine Klage unter 

j dieser Fiktion anzustreben: der praktische Wert war, dass eine 

: Verhandlung nach dieser Fiktion viel strenger war, als nach dem 

[ gewöhnlichen Rechte, insofern eine solche Klage mit dieser Fik- 

tion vor einen besonderen Gerichtshof kam* Hier ist das 
j „als ob* in seiner vollen Wirksamkeit* Auch im Code Napo- 

leon sind eine Reihe legaler Fiktionen gestattet; z> B. wird das 
Meublement einer Frau als immobiles Gut fingiert; es gibt 
fingiertes Eigentum u. s, w., ebenso kann in gewissen Fällen ein 
„enfant con^u 4 " als „ne" fingiert werden, wenn daran juridisch 
wichtige Folgen sich knüpfen. 

Die Anwendung der Fiktion in der Rechtspraxis kann so- 
wohl zum Nutzen und Wohle, als auch zur härtesten Unge- 
rechtigkeit führen: so wurden z. B, alle Frauen so behandelt, 
als ob sie unmündig wären. 

In der Rechtstheorie fand die Fiktion besonders Verwertung 
bei der Theorie des Vertrags, insofern der Staat als ein Ver- 



XXXHL Anwendung der Fiktion In der neueren Zeil. 



259 



tragsprodukt aufgefasst wird, und insofern er als eine juridische 
Person betrachtet wird. 

Diese schon im Altertum bekannte Fiktion fand in der Neu- 
zeit eine reichere Anwendung» 

Ausserdem begegneten uns bisher die rhetorischen und 
stilistischen sowie die paradigmatischen Fiktionen; diese haben/ 
streng genommen, wissenschaftlich keinen hohen Wert Indessen 
finden auch sie jetzt reichere Anwendung: fiktive Beispiele 
sind eine allgemein beliebte Methode zur Erläuterung, und waren 
es in den vergangenen Jahrhunderten noch mehr als heute. 

Eine beliebte, damit zusammenhängende Fiktionsmethode 
war die ideale Fiktion oder die utopische; indessen artet 
diese Anwendung leicht zu blossen wissenschaftlichen Spielereien 
aus- Auch diese Anwendung war früher beliebter als heute; in- 
dessen haben noch Im XIX, Jahrhundert die französischen 
Sozialisien, 2. B. Fourier sich dieser fiktiven Methode be- 
dient, um ihre Ideen zu verbreiten, indem sie Städte oder Staaten 
schilderten* als ob in diesen die von ihnen vertretenen Ideen 
realisiert wären. Diese Methode artet leicht ins Phantastische aus 
und bildet den Übergang von wissenschaftlicher Behandlung in 
reine Poesie. Indessen darf doch diese ganze Gattung der wissen- 
schaftlichen Produktion in unserer Aufzählung nicht vergessen 
werden, obgleich sie weder sehr wertvoll ist* noch auch der 
Theorie irgendwie Schwierigkeiten darbietet, 

Mit dem Wachstum der Wissenschaft findet die Fiktion all- 
mählich eine viel weitere Ausdehnung. 

Das erste Hauptgebiet, auf welchem die Fiktion wirklich 
Grosses leistet, ist die Mathematik. Die moderne Mathematik 
zeichnet sich gerade durch die Freiheit aus, mit weicher sie 
solche fiktiven Vorstellungsbildungen formiert. Ein genaues Ver- 
folgen deT Entwicklung der Mathematik zeigt eine Menge solcher 
Fiktionen. Weniger meinen wir damit also solche Substitutionen, 
wie die Anwendung der Buchstabenrechnung statt der Ziffern- 
rechnung, indessen ist schon diese einfache Methode doch auch 
strenggenommen nur eine Fiktion; durch die Fiktion, a, c, 
y seien Zahlen, indem sie behandelt werden, als ob sie 
Zahlen wären, wird doch ungeheuer viel erreicht: efne Verall- 
gemeinerung der Resultate, eine Erleichterung der Rechnung. 
Indessen nennt man dies meist eine Anwendung von Symbolen: 
nichts destoweniger ist streng logisch genommen hier eine sub- 



260 Erster Teil: Prinzipielle Gründl egung, C. Geschichte der Fiktion, 



stitutive Fiktion vorhanden- Und auch das Denken selbst im 
Allgemeinen, wenn es mit Worten rechnet, statt mit Anschau- 
ungen, bedient sich solcher Symbole. 

Allein auch abgesehen von dieser Anwendung wird die 
Fiktion in der neueren Mathematik immer reicher verwertet. Am 
berühmtesten und fruchtbarsten war ihre Anwendung durch Car- 
tesius, Leibniz, Newton zur Berechnung der Kurven» Dies 
möchten wir das eigentlich klassische Beispiel nennen- Durch 
die Fiktion der Koordinaten, dieser Hilfslinien (alle Hilfslinien 
sind solche fiktiven Methoden) und durch die Fiktion der Diffe- 
rentiale oder Fluxionen wurde eine Berechnung der Kurven 
möglich. 

In diesem Zusammenhang sei hingewiesen au! ein merkwürdiges und 
lehrreiches Buch von A, MouchOt, La reforme Carte&ienne etendue avs 
diverzes branchts <£es ynath€rria,tiqu& pures (Paris, Ganthier Villard 1S71): 
[n Analogie mit der Theorie der beiden kartesiani sehen Koordinaten, welche 
zum Zweck der Berechnung der krummen Linien von Descartes fingiert 
werden, betrachtet Mouchot jeden reellen Punkt als aus zwei imaginären 
Punkten bestehend. Er behandelt ferner die imaginären Zahlen von seinem 
Standpunkt aus, Sodann stellt er ein Principe des rUatims c&nting&ites auf, 
das mit Herbarts „Methode der zufälligen Ansichten* Verwandtschaft besitzt 
Dann spricht er von cord&t ideales, von rayons et tentrtn imagiaairesj von 
imaginären Variabein, imaginären Triangeln, imaginären Dimensionen, 
Winkeln — alles abgeleitet aus der Theorie der imaginären Punkte. Es 
kommt dabei alles darauf hinaus, durch willkürlich-zufällige Betrachtung des 
Wirklichen dasselbe in verschiedene Beleuchtung .zu bringen und der Rech- 
nung zu unterwerfen Der Verfasser knüplt an Chasles an (Appsrgu 
hiaforique ßfc), um den Zusammenhang des Imaginären mit dem Kontingenten 
zu beleuchten. Die räations tontingentes geben den Schlüssel zum Imagi- 
nären. Bei Mouchot spielt in diesem Sinne dann das cvmnte m eine grosse 
RoUe: Imaginäres wird betrachtet, als ob es reell wäre und wird dem 
Reellen substituiert Mouchot spricht von verschiedenen conceptioti8 t 
welche als vtihs secours en geometrie suptrivurc dienen* 

Fast alle oben S. 69ff +J 1 05 ff, aufgezählten mathematischen 
Methoden haben erst in der Neuzeit ihre Ausbildung erhalten: es 
sind lauter Hilf smethoden, welche zur Verallgemeinerung der Re- 
sultate und zur Lösung schwieriger Aufgaben dienen. Die Methode 
der unberechtigten Übertragung, die Methode der Null- 
tälle, der abstrakten Verallgemeinerung u, s.w. sind moderne 
mathematische Kunstgriffe. Unter diesen Namen waren sie 
allgemein bekannt: grosse Mathematiker zeichnen sich immer 
durch Erfindung von Kunstgriffen aus, und diese Kunstgriffe 
beruhen wesentlich immer auf Fiktionen, Schon die Ziehung 



XXXIIt Anwendung der Fiktion in der neueren Zeit 



261 



der Hilfslinien ist ein solcher Kunstgriff. Schopenhauer hat 
darauf aufmerksam gemacht, dass durch solche Kunstgriffe kein 
eigentliches Begreifen erzeugt werde; die Kunstgriffe sollen dies 
auch gar nicht leisten, sie dienen nur zu praktischen Zwecken, 

Auf solchen Kunstgriffen und Fiktionen beruhen nun die 
Begriffe des Unendlich-Grossen, die negativen, gebroche- 
nen, imaginären und irrationalen Zahlen; welche alle zur 
Erleichterung der Rechnung dienen, aber streng genommen 
logisch widerspruchsvoll sind. 

In der neueren Mathematik sind die Kunstgriffe so fein 
ausgebildet, dass es notwendig ist, eine eigentliche, voll- 
ständige Methodologie der mathematischen Kunstgriffe 
zu geben; es ist dies im Wesentlichen darum von Wert, weil 
das Denken dieselben Kunstgriffe auch in anderen Gebieten an- 
wendet* 

Die Anwendung von Kunstgriffen, denen die moderne 
Mathematik ihre Ausbildung verdankt, hat sich bis in die neueste 
Zeit fortgesetzt, und jede eigentlich neue Entdeckung der Mathe- 
matik beruht auf einem solchen Kunstgriff. Den Kunstgriff 
der abstrakten Verallgemeinerung hat man auf den Raum 
jetzt angewandt und Räume von mehr als drei Dimensionen 
fingiert. 

Die Methode der Determinanten beruht auf einem solchen 
Kunstgriff. 

Besonders interessant sind die Fiktionen der Linien-, 
Flächen- und Körperelemente, um den Gebrauch der Mass- 
zahlen zu begründen, Besonders Mertschinsky *) hat die Fik- 
tion der Minima von konstanter Grösse angewandt zu dem 
genannten Zwecke, Diese Fiktion wurde schon von Giordano 
Bruno in seinen Schriften: de triplici minima et me?i$itra\ de 
monade, numero et figum angewandt; indessen schwankt Bruno 
noch, ob er die Minima als Fiktionen oder als Hypothesen 
behandeln solle, Dasselbe Schwanken setzt sich bei Leibniz 
fort, der zwar einerseits erklart, die Minima infinite parva seien 
nur ein modus dicendi, dann aber doch der Monadologie zu 
liebe wieder 2ur Annahme der Hypothese hinneigt Ob Leibniz 
durch Bruno auf seine Idee gekommen sei, diese Frage ist noch 
nicht gelöst Unwahrscheinlich ist es nicht Indessen ist das 

1) Vgl. hierüber: Dr Wernekke, Programm der Realschule zu Borna 
1874, wo die Fiktion der ^kürzesten Linie* besprochen wird. 



262 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. C. Geschichte der Fiktion. 

Prinzip der Anwendung bei Bruno ein Anderes, als bei Leibniz: 
jener gebraucht die Minima zur Begründung des Messens, 
dieser zur Berechnung der Kurven, 

Weitere mathematische Fiktionen beziehen sich besonders 
auf das Unendliche; so unendlich ferne Punkte, unendliche 
Strecken, Grenzen unendlicher Flächen, Zusammen- 
treffen in unendlicher Ferne u. s, w. 

In der modernen Mathematik ist die Anwendung solcher 
fiktiven Begriffe allgemein gebräuchlich, ohne dass Mathematiker 
oder Philosophen bis jetzt eine Methodologie solcher Kunst- 
griffe gegeben hätten; und doch müsste eine Methodologie solcher 
Kunstgriffe ein ungemein erhellendes Licht auch über die An- 
wendung des Unendlichen und Absoluten in philosophischer 
Hinsicht werfen. Diese Fiktionen sind, allgemein gesprochen — 
methodische Hilfsmittel zur Gewinnung von Resultaten; 
die auf andere Weise gar nicht, oder nur mit grossen Schwierig- 
keiten zu erlangen wären. 

Eine weitere reiche Anwendung findet die Fiktion in der 
Mechanik und ausserdem in der theoretischen Physik und 
auch sogar in der Chemie, Wissenschaften, welche erst in der 
modernen Zeit zur Ausbildung gekommen sind. 

Weitere, immer mehr sich häufende Anwendungen der Fiktion 
in der modernen Zeit sind schon in der Aufzählung der Fiktionen 
besprochen; dort ergab sich, dass in der Neuzeit eine Reihe von 
Wissenschaften die wissenschaftliche Fiktion mit Erfolg angewandt 
haben in den allerverschiedensten Formen. Häufig war die Ein- 
sicht in das eigentliche Wesen dieser Kunstgriffe vorhanden; nicht 
selten wurden sie angewandt rein instinktiv, ohne irgend eine 
methodologische Besinnung. Darum entstand auch eine Reihe 
berühmter Kontroversen, welche sich darauf bezogen, ob 
gewisse Begriffe zulässig seien oder nicht Das Nähere hierüber 
ist zum Teil schon früher bemerkt worden, 

Ausser vielen brauchbaren Fiktionen sind auch viele 
schlechte und unbrauchbare entstanden, also Kunstgriffe, 
welche die abverlangte Leistung nicht oder unvollständig oder 
mit zu grossen Umschweifen, also unelegant vollbrachten. Eine 
ganze Reihe solcher Fiktionen könnte aufgezählt werden, welche 
wertlos und schädlich sind* Freilich war auch hier stets die 
methodische Unklarheit über die hypothetische oder fiktive 
Natur solcher Gebilde von grossem Nachteil. Und auch wenn 



XXXIJJ, Anwendung der Fiktion in der neueren Zeit 



263 



je einmal der Unterschied von Fiktion und Hypothese ins Be- 
wusstsein trat, was immerhin nicht selten war, so war man sich 
nicht klar darüber, was denn eine Fiktion leisten sollte: eine 
Fiktion kann niemals etwas erklären; erklären kann nur eine 
Hypothese; dagegen kann und soll sie rein theoretisch in 
gedanklichem Zusammenhang einen anderen Gedanken so be- 
gründen, dass mit dessen Hilfe eine Berechnung des Wirk- 
lichen möglich wird. Eine Fiktion kann immer nur einen Rech- 
nungsansatz abgeben, der nach vollbrachter Arbeit herausfällt, 
während die Hypothese im Gegenteil immer mehr befestigt 
werden soll. 

Daraus ergibt sich, dass die Fiktion besonders von Nutzen 
ist in der Mathematik und in der Mechanik, sowie in allen 
praktischen Wissenschaften und in der Nationalökonomie, wo- 
gegen sie in allen erklärenden Wissenschaften fast ohne An- 
wendung sein muss. 

Aus diesem Grunde folgt, dass sie in der Philosophie 
zwar wohl eine Anwendung finden kann, allein wenn irgendwo, 
so ist hier Vorsicht geboten: sie kann niemals zur Erklärung 
dienen, nur zur Erleichterung des Denkens, sowie zu praktisch- 
ethischen Zwecken. 1 ) 

Maimon hat die Ansicht aufgestellt, Leibnizens Monado- 
logie und prästabilierte Harmonie seien nur Fiktionen gewesen; 
dieser Ansicht vermögen wir nicht beizutreten, da Leibniz selbst 
seine Lehren anders verstanden haben wollte; sollten sie aber 
Fiktionen gewesen sein, so wären sie sehr unbrauchbare 
Gebilde gewesen. Eine andere Frage ist, ob Leibniz sie selbst 
so verstanden haben wollte, und eine andere, wie wir solche 
Gebilde verwerten sollen. Ohne Zweifel verstand Leibniz seine 
Lehren als Hypothesen, nicht als Fiktionen: ob sie sich, 
nachdem sie als Hypothesen gefallen sind, codi als Fiktionen 
verwerten lassen — wie wir das in anderen Fällen sahen — 3 ist 
zweifelhaft Eher ist dasselbe der Fall bei der Parallelismus- 
theorie Spinozas; diese ist für uns nur eine Fiktion, aber eine 
Fiktion von ungeheurem wissenschaftlichem heuristischem Werte. 
Dagegen metaphysisch kann das Verhältnis des Physischen und 

1) Cartesius macht methodische Fiktionen. Mit Recht nennt Dühring, 
Kritische Geschichte der Philosophie, die Idee eines täuschenden 

Gottes eine wertvolle Fiktion und andere solche B Tropen H . Auch der. 
absolute Zweifel ist für Descartes nur eine methodische Fiktion. 



264 Erster TeH; Prinzipielle Grundlegung. C. Geschichte der Fiktion. 

Psychischen wohl kaum ein solches sein, wie es Spinoza und 
der moderne Spinozismus, z.B. Bain (im Anschluß an Hart- 
ley) und Lange, Wundt, u. A. annehmen. 

Sehr beachtenswert, aber wenig beachtet ist die höchst 
merkwürdige Analyse Spinozas durch Herbart (III, 158 ff-, bes. 
174). Dort untersucht Herbart den spinozistischen Terminus }} qua- 
tmu$ % und sagt, nach Spinoza sei die ganze Welt eine »zu- 
fällige Ansicht** von der Substanz, 

Was das quotmus betrifft, so sollte einmal eine grammatisch- 
logische Analyse desselben gegeben werden, und zugleich sein 
Zusammenhang mit qua&i erörtert werden. Es heisst: Ji. sofern, 
als", d. h. „in der Hinsicht, dassS „unter dem Gesichts- 
punkt, dass", ist aber doch auch zugleich kausal = „weil"* 
Allerdings liegt der „Schlüssel zu Spinozas Kosmologie" in dieser 
Partikel, allein auch zugleich der Schlüssel zu seinen Irrtümern* 
Quatenus ist eine ganz zweideutige Partikel, welche zu Sophis- 
men gebraucht wird (vgl. Herbart IV, 276 über Fichte und sein 
Verhältnis zum Qxtatenus Spinozasl. Ob nicht durch diese Partikel 
Fiktives und Hypothetisches vermischt wird? Dies bedarf 
noch besonderer Untersuchung. Wichtig ist Ethik, L Buch, 
Propos, 28, wo Spinoza in der Demonstration sagt: Altributo, 
qwxtenns aliqtiQmQd? ajftctuni con$ideratur\ in diesem ^connderatuY* 
zusammen mit „quatmus" Hegt offenbar eine Fiktion (oder nach 
Herbart „zufällige Ansicht 41 ) ausgedrückt Also auch Spinoza 
sucht mit Hilfe der Fiktion den Schein aus dem Sein zu erklären; 
vgl. oben 5. 236 f, über Parmenides, 

Eine merkwürdig tiefsinnige Äusserung, welche man bei 
Herbart gar nicht gesucht hätte, ist die Bemerkung, die Welt sei 
bei Spinoza eine zufällige Ansicht der Substanz und, fügt 
er hinzu, „wir werden etwas gewissem] assen ähnliches auf einem 
anderen Wege finden*. 

Die eigentlich erste fruchtbare Anwendung der Fiktion in 
der Philosophie machte Kant, allein teilweise auch er ohne 
methodische Klarheit Über den Wert der Fiktion des „Dinges 
an sich" Iässt sich streiten und wird noch gestritten» 

Herbart ist der Einzige, der sich methodologisch über den 
Unterschied zwischen Hilfsvorstellung und Hypothese klar 
war; wir müssen ihn im Folgenden im Zusammenhang be- 
sprechen; bemerken aber, dass* obwohl er den Unterschied wohl 
einsah, doch seine Anwendung der Fiktion in seiner Methode 



XXXlll. Anwendung der Fiktion in der neueren Zeit 



265 



der zufälligen Ansichten ganz verfehlt ist, in der er dieselbe 
insofern falsch anwandte, als er das auf fiktivem Wege Gewon- 
nene später einfach in hypothetische Resultate verwandelte. 

Nichtsdestoweniger ist diese Herbartsche Methode ein äusserst 
lehrreicher Gegenstand, aus dem wir für unsere Theorie viel 
— positiv und negativ — gewinnen können. 

Die ungemein feine Ausbildung Herbarts in der Mathematik 
verführte ihn, die hier beobachteten Methoden auf Gebiete zu 
übertragen, wo sie nicht mehr dieselben Dienste leisten können; 
das zeigt auch die Anwendung der Rechnung in der Psycho- 
logie, die ganze Herbartsche Philosophie, besonders seine Psycho- 
logie beruht auf einer Verkennung der Leistungsfähigkeit und 
Aufgabe der Fiktion, 

Dagegen lassen sich viele seiner Resultate erkenntnis- 
theoretisch verwerten: denn dies ist ein weiteres Moment in der 
modernen Anwendung der Fiktion, dass sie in der Erkenntnis- 
theorie zur Anwendung kommt, freilich ganz anders als in den 
anderen Wissenschaften. In diesen dient sie selbst zur Berech- 
nung; in jener beginnt man eine Reihe von Vorstellungen für 
wissenschaftliche resp. vorwissenschaftliche Fiktionen zu erklären, 
welche zunächst für den gewöhnlichen Menschen als real gelten. 

Damit beginnt die Anwendung der logischen Theorie auf 
die Erkenntnistheorie: man findet, dass das vorwissenschaftliche 
Bewusstsein die Kunstgriffe des Denkens ebenso anwendet wie 
das wissenschaftliche Denken. Man beginnt eine ganze Reihe 
von Vorstellungen und Begriffsgebieten für Fiktionen zu erklären, 
welche man sonst für Hypothesen hielt* 1 ) 

Demnach sind folgende drei Punkte zu unterscheiden: 
1) Verwendung der Fiktion im wissenschaftlichen Denken; 
und hier ist wieder zu unterscheiden: a) bewusste Anwendung 
von Fiktionen; b) instinktive Anwendung derselben, wobei die 
betreffenden Gebilde zunächst für Hypothesen gelten, bis sie 
erst später als Fiktionen erkannt werden. 2) Erkenntnistheoretische 
Anwendung des Fiktionsbegriffes; a) instinktive Anwendung von 
Begriffsgebilden im Denken, welche zunächst als hypothetisch 
gelten; b) Erkenntnis, dass das diskursive Denken derartige Be- 
griffs^ebilde anwendet und anwenden muss, dass sie aber nur 

1) Schon bei Leibniz findet sich diese Anwendung, s. Opera, ed. Erd- 
mann 756; allein auch hier ist fictio immer nur = aegaüv wertlose Erdich* 
tung, nicht aber positiv wie in der Mathematik = wertvoller Kunstgriff, 



266 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. C. Geschichte der Fiktion. 

fiktiv sind, 3} Logische Theorie der Fiktionen, Diese drei 
Punkte sind sehr genau zu unterscheiden. 

Bei Kant Jaufen 2 b und 1 a und b durcheinander: er er- 
kennt erstens, dass die Kategorien und die sinnlichen Vor- 
stellungsformen nur Fiktionen seien; zweitens wendet er selbst 
bald instinktiv bald bewusst die Fiktion an, um dadurch wissen* 
schaftliche Resultate zu erreichen: bes. indem er das Ding an sich 
bildet, das er dann selbst aber wieder für eine Hypothese hält 
Es ist höchst notwendig, bei Kant selbst diese beiden Punkte zu 
unterscheiden, einmal die Entdeckung und Erkenntnis, dass 
viele Begriffe nur logische Kunstgriffe sind, die man sonst 
für Abbilder eines Wirklichen hält; sodann die Anwendung einer 
Fiktion selbst zum Zweck wissenschaftlicher Erörterung. 

Es ist ganz merkwürdig, wie bei Kant im Ding an sich 
Beides durcheinanderläuft. Auf der einen Seite erkennt er, 
dass das Ding an sich, wie es gewöhnlich angenommen wird, 
auch vor ihm, als Substanz u. s. w, nur eine Fiktion des 
Denkens sei. Auf der anderen Seite wendet er diese Fik- 
tion selbst an, um mit ihrer Hilfe die empirische Welt begreif- 
lich zu machen; indem sich ihm aber diese Fiktion wieder in 
eine Hypothese verwandelt, fällt er auf den gewöhnlichen 
Standpunkt zurück, der ja auch die Welt in „Iche und Dinge* 
{rennt Dies ist die merkwürdige Komplikation bei Kant, welche 
nunmehr durch diese Unterscheidung klar zu Tage tritt, und durch 
welche so viele Unklarheit bei Kant aufgeklärt wird: einerseits 
erkennt er die gewöhnliche Scheidung in Ich und Ding an sich 
als eine Fiktion; auf der anderen Seite wendet er diese Fik- 
tion selbst an, um die Berechtigung rationaler, apriorischer 
Urteile zu begründen und zu erklären. Somit wendet Kant selbst 
die Fiktion methodologisch falsch an, wenn er dadurch 
etwas erklären will; darum verwandelt sich ihm diese Fiktion 
sofort wieder in eine Hypothese. 

Dagegen hat diese Fiktion doch insofern hohen Wert, als 
durch sie eine ganze Welt als Produkt des Subjekts erscheint, 
und dadurch sowohl der theoretische Schein der Begreiflichkeit, 
als praktisch die Freiheit erreicht wird, aus bloss subjektiven 
Elementen die Vorstellungswelt zu erklären. 

Es müsste Gegenstand einer besonderen Untersuchung sein, 
ob wirklich Kants Fiktion eines Dinges an sich für uns noch 
wertvoll sei? Aber streng muss hierbei unterschieden werden 



XXX1IL Anwendung der Fiktion in der neueren Zeit 



267 



zwischen der Kantischen Einsicht, dass das Ding an sich eine 
Fiktion sei, und zwischen der Anwendung und Verwertung 
eben derselben Fiktion durch Kant selbst Er selbst ge- 
braucht diese Fiktion zu seinen wissenschaftlichen Zwecken, und 
unter der Hand verwandelt sie sich ihm in eine Hypothese. 

Es ist also zu unterscheiden, dass Kant die bisherige An- 
Sendung des Dinges an sich, wie sie bis auf ihn stattfand, 
als auf einer Fiktion beruhend erkannte, und dass er selbst eben 
dieselbe Fiktion machte. Was Kant bei Anderen einsah, sah 
er bei sich selbst nicht klar, dass auch sein Ding an sich eine 
Fiktion sei. 

Durch diesen Irrtum wurde er verhindert, die wirkliche 
Empfindung als das Einzig-Reale zu erkennen, und zu finden, 
dass alle reale Erkenntnis nur aus Beobachtung und Empfindungs- 
successionen stammt. 

Kant hat die vorläufig und stillschweigend gemachte 
Voraussetzung, dass es Iche und Dinge an sich gebe, als Ge- 
rüste stehen lassen. Hätte er das Gerüste nachher abgebrochen 
hätte er, wie das Ich, so auch das Ding an sich wieder fallen 
lassen, so wäre ihm die Empfindung als das einzig Reale übrig 
geblieben. 

Wenn also Jacobi sagt, „dass ohne die Voraussetzung von 
Gegenständen als Dingen an sich und Vorstellungsvermögen, 
auf welche sie wirken, nicht in das Kantische System hinein- 
zukommen ist, dass aber platterdings darin nicht mit ihnen zu 
bleiben sei" — dass also der Anfang und der Fortgang der 
Kritik einander »vernichten" — , so hatte er ganz Recht, Kant 
hätte einfach, nachdem er in der Kritik selbst ausgesprochen und 
gefunden, dass Dinge an sich blosse Fiktionen seien, offen 
anerkennen sollen dass seine eigene Voraussetzung solcher ein 
blosser vorläufiger Rechnungsansatz war, um sein Resultat 
zu erreichen; nämlich, dass es blosse Erfabrungserkenntnis 
gäbe; dann wären die Empfindungen als einzig Reales stehen 
geblieben, wie dies bei Maimon der Fall ist Kant Hess aber 
seinen Rechnungsansatz stehen: sobald man aber Fiktionen 
nicht ausfallen lässt, führen sie auf Widersprüche, Der 
Grund, warum Kant seinen Rechnungsansatz stehen liess, war 
ein reaktionärer: erstens im Interesse des Freiheitsbegriffes, 
zweitens im Interesse des apriorischen Rationalismus; so 
gab es ja nur Jreie Wesen", so nur „Erkenntnisse a priori". 



268 Erster TeiJ: Prinzipielle Grundlegung. C. Geschichte der Fiktion. 

Machen wir die Kantische Rechnung: wir machen die 
Fiktion, es gebe „Iche* und Wesen, weiche auf sie einwirken, 
also Dinge, Bei dieser Einwirkung kommt aber nur der Anstoss 
von aussen, alles andere tut das Ich von innen hinzu; Raum, 
Zeit, Kategorien, kurz alles stammt aus dem Ich, und es produziert 
diese Formen in Folge jenes Anstosses. Der Anstoss selbst 
aber bleibt jenseits des Ich, d. h, über die durch den Anstoss 
erregte Wirkung in uns können wir nicht hinaus: d. h. jenseits 
der Erfahrung können wir die Kategorien nicht anwenden, denn 
diese sind die Reaktion der Iche auf äussere Anstösse nach 
kausalem Zusammenhang. 

Nun aber sind ja die Kategorien als subjektiv erkannt Aber 
auch Substanz, Kausalität sind Kategorien, auch Einheit, Also 
sind das Ich, das Ding an sich, und die zwischen ihnen 
bestehende Kausalität selbst nur ein subjektiver Ansatz, der 
wieder wegzufallen hat. 

Bleibt: die Empfindung, über welche als einzige Er- 
fahrung nicht hinauszukommen ist Der vorläufige Rech- 
nungsansaiz fällt also hinweg, während Kant ihn stehen Hess, 

Wir lassen also den Kantischen Rechnungsansatz 
fallen; dieser Rechnungsaasatz dient aber eben dazu, um das 
Resultat zu finden, dass das einzig Wirkliche nur die Empfin- 
dungssnccessionen seien: ob wir selbst auch noch zu diesem 
Resultat die Kantische fiktive Methode brauchen, ist fraglich. 
Kant selbst hatte eine deutliche Ahnung dieses Sachverhaltes, 
indem er an der Stelle über den Naturalismus des Denkens 
(Kritik, ed. Ros. und Schub. H, 658) von den „ mathematischen 
Umschweifen 4 und „künstlichen Mitteln* redet, 1 ) 

Nun, solcher Umschweife hat Kant noch mehrere angewandt: 
eine Reihe seiner Begriffe z> B. reinet Verstand, reine Ver- 
nunft, intellektuelle Anschauung u.s.w. sind blosse Fiktionen, 
um das Resultat zu erreichen und seine Auffindung zu 



1) Diihring ist ein solcher Naturalist Merkwürdig ist folgende Stelle 
Dührings im Kursus 41: „Für ein positives und ernsthaft dogmatisches 
System würde es aber ein wunderlicher Ausweg sein, jene Fehlgriffe, die 
man teils psychologische Methode, teils Vermmftkritik genannt hat, erst im 
Einzelnen mitzumachen und sich hinterher mit der künstlichen Ausgleichung 
der falschen Konzeptionen weitläufig abzumühen* u, s, w. Man kann aber 
jene fiktiven Konzeptionen schon darum nicht von vornherein weglassen, weil 
sie uns durch die Sprache mitgegeben sind. 



XXXUL Anwendung der Fiktion m der neueren Zeit. 



269 



erleichtern (cf. Laas, pag, 41), Vermittelst solcher Fiktionen 
werden die Resultate verallgemeinert. Man hat diesen Sachver- 
halt bis jetzt wohl nicht selten eingesehen; allein der Zusammen- 
hang, in welchen hier diese Tatsachen gebracht werden, scheint 
von sehr grosser Wichtigkeit 

Es ist gamicht zu leugnen, dass sich Kants Resultate noch 
einfacher finden lassen, und doch bleibt seine ganze Methode 
bahnbrechend, Kant hat durch seine Methode ermöglicht, die 
Resultate der Philosophie und Erkenntnistheorie viel allgemeiner 
auszusprechen und zu begründen. Diese Methode besteht in der 
Anwendung abstrakter, erdachter Begriffe, d. h. Fiktionen, Kant 
hat fast sämtliche der oben geschilderten mathematischen Methoden 
logisch verwertet, so z. B. die Methode der abstrakten Ver- 
allgemeinerung, ohne sich stets dessen bewusst zu sein; darum 
fiel er gelegentlich wieder zurück in den Dogmatismus, 

Man lese einmal Nicolais Ergüsse gegen Kant: er tadelt 
stets die Anwendung solcher „abstrakten" Begriffe* Solche Er- 
güsse sind ganz ähnlich denen Berkeleys gegen Newton und 
moderner Mathematiker gegen Gauss (in Bezug auf den Raum 
mit mehr als 3 Dimensionen)* 

Somit hat Kant eine wichtige Doppelbedeutung für unseT 
Thema: 

I, Er hat entdeckt, dass die Kategorien Fiktionen seien; 
dabei ist jedoch zu bemerken, dass er diese Entdeckung insofern 
verdunkelte, als er den Rechnungsansatz des Ich stehen liess 
und sie diesem als eingeborene Formen zuschob, statt dass 
er das Ich wegnahm; dieser Punkt ist ungemein wichtig, Mit 
Hilfe des Rechnungsansatzes Ich und Ding an sich entdeckt 
Kant die Tatsache, dass die Kategorien nur subjektiv seien; 
aber weil er das Ich stehen lässt, werden die Kategorien zu 
angeborenen Formen, und weil er das Ding an sich stehen 
lässt, verkennt er die Wirklichkeit der Empfindungswelt, 

IL Er hat die Methode der Fiktionen selbst an- 
gewendet; viele seiner Begriffe sind künstlich; er hat die 
künstliche Klassifikation angewandt, die Methode der abstrakten 
Verallgemeinerung, den künstlichen Rechnungsansatz (Einführung 
fiktiver Begriffe) — freilich aber war sich Kant seines Tuns 
selbst nicht durchaus klar. 

Bei Maimon ist diese Erkenntnis angebahnt, 



270 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. C. Geschichte der Fiktion- 
Kant hat eine ganze Reihe solcher fiktiven Begriffe gebildet, vgl. La» 
a, O, 41; intuitiver Verstand, intellektuelle Anschauung, ein 
avisierendes, auf unser Subjekt einwirkendes Ding an sich, das ausser der 
Zeit ist (oder das Ding in sich); das letztere nennt er auch ein Objekl 
einer ni cht-si nn I ichen Anschauung, dessen Dauer kein« Zeit ist, eine 
Ursache, welche zugleich intelligibel und phänomenal sein solJ, — das 
sind „Konzeptionen, die unvorstellbar, unausdrückbai sind, und vod denen 
gleichwohl Seinsmöglichkeit behauptet wird fi . Ursprünglich gehören 
alle diese Konzeptionen Kants zu jenen am Schlüsse der Kr. d, r. V, ge- 
nannten „Umwegen und Umschweiien", d. h. sie sind für Kant 
Fiktionen, sie werden aber für ihn im Laufe der Zeit zu Hypothesen. 
Eben dahin gehört die Konzeption des Bewusstseins überhaupt, 
welche Laas treffend w eiterbildet und mit der Konzeption eines Raumes 
überhaupt, einer Zei t ü berhaupt zusammenstellt. Dass diese Konzep- 
tionen Hypothesen seien, wird Niemand sagen wollen; dass sie dagegen 
sehr nützliche Fiktionen sind T erhellt auä der trefflichen Anwendung, 
welche Laas a. a, 0, 94/97 davon macht (cfr. 179, 79), 

Dieses „überhaupt (vgl das Infralisregister bei Laas a. a. 0. 358) 
scheint das Symptom einer abstrakten Verallgemeinerung zu sein. 
Es ist ein Verdienst, dass an der genannten Stelle dieser Ausdruck betont 
und seine Anwendungen bei Kant gesammelt sind. So ist es auch mit der 
Idee einer „Anschauung überhaupt* (cfr, pag. 184), weiche der unseren 
nicht mehr ähnlich zu sein braucht. Andere Beispiele, in denen Kant diesen 
Ausdruck gebraucht (cfr. Laas a. a, O., pag. 184, 177, 178, 43), lassen sich 
offenbar nicht auf dieselbe Weise betrachten. Hier scheint das r überhaupt u 
eine andere Funktion zu hüben. Jenes B ßew uksiseia überhaupt* nennt 
Laas a, a- 0, 96 auch hypothetisch und ideaL d, h- eben fiktiv. Dieses 
fingierte VorsteJlungsgebilde erleichtert die Darstellung der Ge- 
dankenreihen; es ist als der Sitz der „objektiven Wen" gedacht (clr. 
127), vgi, noch besonders den Passus auf S. 102: ^Allerdings, jene abso- 
lute Zeit, welche alsldealform für alles objektive Geschehen in einem 
„Bewusstsein überhaupt angesetzt wird, jene als in ewiger Gieich- 
mässigkeit dahinfliegend vorgestellte Zeit, welche Kaut als die Zeit 
schlechtweg zu bezeichnen pflegt" u. s. w. Man bemerke den Aus- 
druck: „angesetzt*, mit welchem treffend nach mathematischer Ausdrucks- 
weise das Fiktive der Vorstellung bezeichnet ist, 

Laas selbst nennt sehr richtig das Bewusstsein überhaupt pag. 
107 einen denknotwendigen Hilfsbegrlff. Diese abstrakte Verallgemeinerung 
des empirischen Bewusstseins ist ein sehr fruchtbarer KunstgriR Am 
besten ist dies ausgedrückt auf pag, 108: „unsere Konzeption war vor- 
läufig nichts, als ein wisstnschaftiieh notwendiger Hiifsbegriff, wie die 
absolute Zeit, der absolute Raum und die objektive Welt* Kants 
Begriff gehe [?] auf die transzendente Tätigkeit eines hypothe- 
tischen, „metaphysisch realen Etwas, eines Ich, das denkt etc, Unser 
reines Ich ist eine Abstraktion aus dem empirisch Gegebenen, eine Ideali- 
sierung, Erweiterung und Generalisierung desselben.* Ferner: „das 
Bewusstsein überhaupt ist idealer Schauplatz aller objektiven Erschei- 
nungen, als vorgestellter Träger der Weltweit und des Weltraumes 



XXXI1L Anwendung der Fiktion in der neueren Zeit 271 

gedacht* Wozu ein solches „Bewusstsein überhaupt" dienlich sei, nämlich 
zu objektiv giltigen Bestimmungen, siehe pag. 136, ib. 120, 157 — es ist 
ein „Gebilde der Vorstellung*, ib. 129, bes, (36 „Idealbewusstsein*: 
femer 192, wo das Bewusstsein überhaupt in der gleichen Linie mit 
dem Ding an sich, der absolut geraden Linie u>&,w. genannt wird, 
und als Ideal bezeichnet wird, Über das „Sein überhaupt' — Ab- 
solutes vgl. oben pag, H4. Sehr gut sagt Laas pag. 135 von dem „Be- 
wusstsein überhaupt", es werde in der Vorstellung über Geburt 
und Tod hinaus perpetuiert Gtlenbar ist nur durch dieses imaginative 
Gebilde eine Umfassung aller Welttatsachen möglich. Wir denken uns 
ßleichsam als schwebend über allem Geschehen, als ob sich alles Weit- 
geschehen in Einem Bewusstsein abspielte. 

Liebmanns Vorstellungsgebilde eines „Übermenschen 1 ' gehört auch 
in diesen Zusammenhang; sie ist nützlich, so lange es als Fiktion aner- 
kannt ist; als Hypothese ist es so wertlos wie alle anderen realisierten 
Fiktionen. S, Liebmann, Analysis der Wirklichkeit pag. 618 (et Laas, 
a, a. ü, pag. 45), Erwähnt sei auch noch ja diesem Zusammenhang die 
fiktive Rolle, welche Laas der Idee einer intellektuellen Anschauung im 
Sinne Kants zuweist a. a. 0, 28: diese Idee leiste als Fiktion gute Dienste. 

Kant hat eine Reihe von Kunstgriffen gebraucht, welche 
sich ihm und vielen seiner Anhänger in Hypothesen verwan- 
delten. Dies ist ja eine in der Wissenschaft häufig wieder- 
kehrende Erscheinung, dass ein Denker sich über seine Ent- 
deckungen und Methoden nicht selbst durchaus klar ist. 

Ob der ganze künstliche Apparat Kants für uns noch not* 
wendig sei, ist eine andere Frage: bis zu einem gewissen Grade 
wird er es immer sein, 

Also Kants Methode ist eine ungemein scharfsinnige und 
verhält sich zu der Methode Anderer, welche dasselbe Resultat 
gefunden haben, eben wie das Verfahren eines modernen Mathe- 
matikers zur antiken mathematischen Methode, z. B. bei der Be- 
rechnung des Kreisumfanges. 

Dieser Tatbestand wird aber verdunkelt durch Kants reak- 
tionäre Tendenzen. Dahin gehören die Rechtfertigung des 
Rationalismus, sowie die Rettung gewisser Dogmen. Aber 
die eigentlich wissenschaftlichen Zwecke Kants waren: Begrenzung 
des Denkens auf Erfahrung, Nachweis der Vorstellungs- und Be- 
griffsformen als bloss subjektiver Werte, sowie Nachweis, dass 
nur das unmittelbar Erfahrene wirklich sei, 

Statt dessen liess er aber das Ding an sich stehen als 
Rechnungsansatz, und so verkennt Kant selbst wieder die Wirk- 
lichkeit der Empfindungen, Kants Interesse war geteilt, und 
so verkennt er schliesslich, dass einmal der ganze Apparat des 



272 Error Teil: Prinzipielle Grundlegung C. Geschichte der Fiktion. 

Denkens nur dazu dient, die Berechnung des Wirklichen zu 
ermöglichen, sodann, dass sein eigener Apparat nur dazu dient, 
dieses Resultat festzustellen. Diese beiden Punkte gehen bei 
Kant immer durcheinander. Die Bekämpier Kants haben seine 
schwachen Punkte vielfach richtig erkannt: er Hess den Rech- 
nungsansatz stehen; dies ist ein Hauptfehler, der auch in der 
Mathematik zu Widersprüchen führt» 

Ein Rechnungsansatz des Denkens, der nachher wieder 
aufgehoben wird, ist dagegen ein ganz erlaubter Kunstgriff 
Ohne einen solchen künstlichen Rechnungsansatz können wir gar 
keine Philosophie treiben: so geht man in allem Denken not- 
wendigerweise aus von dem Schein des Gegensatzes derDinge 
und des Ich, um diesen Rechnungsansatz dann selbst wieder 
aufzuheben, Der Vergleich des Denkens mit dem Rechnen ist 
noch vielmehr berechtigt und richtig, als man bisher glaubte. 
Eine genaue Kenntnis der wunderbaren Methoden der Mathematik 
lässt erst erkennen, dass das Denken dieselben Methoden auch 
sonst anwendet. 

Kant hat nicht nur erkannt, dass das Denken unbewusst 
so verfährt, sondern er hat auch selbst mit Bewusstsein diese 
Kunstgriffe angewendet^ allein beidemal, ohne zu einer definitiv 
klaren Formulierung zu gelangen. 

Also schon um das Resultat festzustellen, dass z. B, Substanz und 
Eigenschaft nur fiktiv seien, muss ich doch schon stets in diesen Kate- 
gorien denken. Um die Fikti vi tat de& diskursiven Denkens zu 
erkennen und auszudrücken, muss ich mich der disKursiven Fiktionen 
selbst Dedienen. 

Bei Kant ist die wunderbare Verschlingung, dass er einerseits die 
Fiklivitat des Denkens nachweist, andererseits aber dadurch, dass er dies 
Resultat nicht ohne die diskureiven Fiktionen erreichen kann, irre gemacht 
wird und sie schliesslich wieder für real, ti> h. für Hypothesen annimmt, 
Dass man mittelst eines fiktiven Rechnungsansatzes doch zu richtigen 
Resultaten gelangen könne, sah Kant nicht: darum verwandelt sich ihm 
der fiktive Rethnungsansatz schliesslich in Realität. Daher kommt es 
auch, dass Kants metaphysische Weltanschauung sich eigentlich von der 
populären wenig unterscheidet: es gibt Iche und Dinge an sich, und 
beide wirken aufeinander ein. Das ergibt sich naturgemäss daraus, dass 
Kant die Fiktionen des gewöhnlichen, diskursiven Denkens, also die 
Kategorien, schliesslich doch als Hypothesen gelten lässt. 

Dasselbe ist in seiner praktischen Philosophie der Fall. 
Erstens weist er nach, dass die Ideen der praktischen Philo- 
sophie nur Fiktionen seien; er verwendet sie selbst bewusst 



XXXLIL Anwendung der Fiktion in der neueren Zeit 



273 



ia diesem Sinne, bis sie sich ihm doch wieder in Hypothesen 
Terwandeln. 

Natürlich kann man von den Anhängern nicht mehr ver- 
engen, als vom Meister. Seine Nachfolger machen dieselben 
Fehler, nur viel gröber, als Kant selbst, sowohl in der theore- 
tischen Philosophie als in der praktischen. In der theore- 
tischen Philosophie hat nur Mainion, in der praktischen 
Philosophie nur Schleiermacher das Richtige annähernd erkannt. 
Neuerdings hat Lange diesen Sachverhalt am deutlichsten 
erkannt, ohne indessen alle Fehler Kants zu vermeiden. 

Das Weitere hierüber verläuft in die Geschichte der neueren 
Philosophie. An dem Schicksale der von Kant aufgestellten Be- 
griffe bei seinen Nachfolgern kann man das Gesetz der Ideen- 
verschiebung sehr klar demonstrieren. Der fiktive Rechnungs- 
ansatz wird immer mehr zur (falschen) Hypothese. Die Fest- 
haltung des reinen Resultates ist eben sehr schwierig: denn 
der Mensch hat einen Hang zum Dogmatismus. Das Studium 
Humes und Comtes hat die Irrtümer Kants und seiner Epi- 
gonen wieder berichtigt. 

In einer ganz anderen Weise als Kant hat Herbart (wahr- 
scheinlich von Maimon influiert) die mathematischen Denk- 
methoden verwendet; ob aber nützlich, das ist die Frage, 

Er ging vom Dogma der Monadon aus, welche doch vielleicht 
nur denselben Wert besitzen, wie die Atome in der Naturwissen- 
schaft: Fiktionen zu sein. So fasste sie auch Maimon auf. 

Über Maimon, der im folgenden Paragraphen noch einmal (bei der 
Theorie der Fiktion) zur Sprache kommen muss, ist folgendes zu bemerken; 
er glaubte, Fiktionen seien in der Philosophie anwendbar wie in der 
Mathematik. Darum vergleicht er stets Kants Methode mit der Differential- 
rechnung, und das Ding an sich mit L Er hatte voltständig Recht, 
soweit seine Behauptungen sich auf Kant seihst erstreckten; dagegen wenn 
er nicht nur behauptet, Leibnizens Hypothesen seien eigentlich Fiktionen, 
sondern sogar die Hoffnung hegt, dass durch die Fiktionen weitere Resul- 
tate in der Philosophie zu erreichen seien, so irrt er. Gegen Maimon er* 
schien in dem von Wieland herausgegebenen Deutschen Merkur 1794, 
XI, S, 202 (nicht 1791, wie Krug, Philos. Wörterbuch I, 800 zitiert) eine 
Abhandlung: Über den Gebrauch der Fiktion in der Philosophie. 
Der Verfasser ist nicht genannt; er scheint ein entschiedener Gegner 
Maimous zu sein. Reinhold scheint es nicht zu sein, da der Stil für 
diesen eleganten Schriftsteller zu schwerfällig ist. Dieser gänzlich ver- 
gessene Aufsatz polemisiert sehr stark gegen Maimons Theorie, welche, wie 
bemerkt, nachher noch zu berücksichtigen ist in der Hochflut des deut- 
schen Idealismus sind also diese unmi ttel baren Nachfolger und Kritiker 

13 



274 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. C. Geschichte der Fiktion. 

Kants nur zu sehr in den Hintergrund geschoben worden. Es 
ist dies ein Gebiet, wo sich noch Manches entdecken lässt. 

Ob aber solche Konstruktionen dann nicht rein in spielende 
Phantasie ausarten, das ist die Frage. Bei Herbart scheint dies 
der Fall zu sein* Fiktionen sind nur dann zulässig, wenn sie 
wertvoll, rechnungsergiebig sind- Die Kantischen sind das, nicht 
so die Herbartschen: es gibt ja in allen Wissenschaften Grenzen, 
wo die Wissenschaft aufhört und die Spielerei anfängt, beson- 
ders in Metaphysik und Mathematik. Die Geschichte der 
Mathematik kennt mehrere solcher Fälle, und auch die heutige 
Mathematik ist in dieser Gefahr. Die Geschichte der Metaphysik 
ist beinahe eine fortgesetzte Geschichte von Begriffsspielerei ohne 
Wert: hier ist die wissenschaftliche Dichtung in voller 
Blüte, uud nur der hier und da zu Tage tretende praktische 
Nutzen solcher Spielerei kann sie entschuldigen: wie F. A. Lange 
ausdrücklich und häufig hervorgehoben hat 

Schliesslich sind nur diejenigen Fiktionen zu dulden, weiche 
das Ziel, den Zweck am besten erreichen, nämlich den Zweck, 
dem ethischen Handeln eine Grundlage zu geben, — — 

Die Fiktion wurde erst vom XVIL bis zum XIX. Jahrhundert 
in allen Wissenschaften immer mehr angewandt insbesondere in 
den mathematischen, physikalischen, in den sozio- 
logischen und in der Philosophie. Es entwickelten sich in 
diesen Gebieten auch die verschiedenen Formen und Methoden 
der Fiktion in grosser Mannigfaltigkeit Allmählich treten immer 
mehr grosse und bedeutende Fiktionen aui, freilich auch hin und 
wieder Missanwendungen der ohnehin schon so leicht miss- 
verständlichen Methoden. 

Wir weisen hierbei besonders hin auf die allmähliche 
Entwicklung der Fiktion und auf die stetige Ausdehnung 
sowohl ihres Anwendungsbezirkes als ihrer Mannigfaltigkeil. 
Schon mit dem XVI, Jahrhundert beginnt dieser Prozess, der in; 
XVI£, auf seinen Höhepunkt gestiegen ist Im XVIII. JahTbunden 
beginnt sich schon die logische Theorie zu regen, aber sehr 
schwach; dagegen wird immer mehr die Bedeutung der Fiktionen 
von der Erkenntnistheorie eingesehen. Im XIX- Jahrhundert 
steigert sich die Anwendung besonders in der Mathematik 
und Physik immer mehr, ebenso in der Nationalökonomie. 
Hypothesen, welche als falsch erkannt worden sind, werden 
aoch in Menge als heuristische Fiktionen beibehalten 



XXX11L Anwendung der Fiktion in der neueren Zeit 



275 



Die heutigen Lehrbücher und Abhandlungen über höhere 
Mathematik, mathematische Physik und über Soziologie 
zeigen viele gute! aber auch schiechte Fiktionen, Ein 
besonderes Interesse gewinnt für uns eine Anwendung der Fiktion, 
welche aber verfehlt ist: die Methode der zufälligen An- 
sichten von Herbart, 

Was den Namen betrifft, so ist „zufällige Ansicht" (der 
Terminus scheint von Herbart selbst gebildet zu sein; wenigstens 
in der Mathematik ist er ganz unbekannt) ein konzentrierter 
Ausdruck dessen, was wir oben S. 154 ff, bei der Analyse des 7 als 
ob' fanden und feststellten: n A kann betrachtet* angesehen 
werden, als ob es B, als ob es so oder so wäre* 1 , also die Be- 
trachtung des A unter dem Bilde oder der Form des B ist für 
das A zufällig; dagegen kann die Ansicht für das Subjekt, 
welches so betrachtet, wenigstens zur Berechnung unentbehrlich, 
also notwendig sein. Der Ausdruck selbst ist insofern nicht 
anglücklich gewählt 1 ) 

Wir besprechen an diesem Ort nur die Anwendung, weiche 
Herbart von diesen Fiktionen macht; im folgenden Paragraphen 
ist auch das Verdienst zu erwähnen, welches er um die Aus- 
bildung der Theorie sich erworben hat, Herbart war ein 
ungemein feiner Kenner der Mathematik und sah ungemein tief 
in die Funktion des Denkens und in seine Kunstgriffe hinein. 

Allein er machte wie Spinoza doch einen grossen Fehler 
in seiner Anwendung der Mathematik und mathematischen Methode 
auf die Philosophie. Statt nämlich die mathematischen Methoden 
zur erkenntnistbeoTetischen Analyse des Denkens zu benutzen, 
sucht er mit mathematischen Methoden das Sein zu erlassen. 
Kurz, er vermischt Erkenntnistheorie und Metaphysik auf 
eine ganz fehlerhafte Weise. Er geht synthetisch aus von sub- 
stantiellen Monaden, wie Spinoza von der monistischen 
Substanz, und sucht daraus die Erscheinungswelt zu deduzieren, 

1) Vgl. auch Flügel, Probleme der Philosophie pag.69(29), 30, 81/2, 
Inieressant ist die dort mitgeteilte Tatsache h dass Herbarts Fiktion einet 
Ausdehnung der Elemente von Drö bisch in eine wirkliche Ausdehnung 
verwandelt worden ist, vgl, ib. 8öff. 

Die „zufällige Ansicht" steht wohl in einem genetischen Zusammenhang 
mit dem Aristotelischen xoct« cvfi^^r^o^ = per acridens, unwesentlich 
im Gegensatz zu eavjoy, wesentlich, notwendig. Bei Aristoteles ist 

das Zufällige indessen die unwesentliche Eigenschaft des Dinges, 
bei Herbart eine zufällige subjektive Bestimmung über das Ding. 



276 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung, C, Geschichte der Fiktion. 

Dabei passiert ihm aber derselbe Fehler wie dem Spinoza: das 
deduzierende Subjekt sieht gleichsam absolut jenseits der 
Welt, und das erkenntnistheoretische Subjekt wird garnicht 
berücksichtigt Herbart macht so denselben Fehler wie Hegel: 
er vermischt Denken und Sein; er vermischt Erkenntnis- 
prinzip und Seinsgrund. 

Herbart macht so eigentlich auch denselben Fehlen wie 
Kant: die Monaden hätte er als Gerüste wieder abbrechen 
sollen; ihm aber sind sie Hypothesen. 

Herbart hat in der „Methodologie" IV t 11 ff, eine Rechen- 
schaft von seiner Methode gegeben. Er entwickelt hier, wie auch 
sonst, eine genaue Kenntnis der mathematischen Methoden. Aber 
er wendet diese Einsicht ganz verkehrt an, Schon pag, 10 sagt 
er, man muss die Erscheinungswelt durch unmögliche Wurzeln 
auflösen, d, h. eben, man muss Fiktionen anwenden zur Er- 
klärung der Erscheinungswelt Allein das ist wohl 2ü unter- 
scheiden von unserer Ansicht, dass die Erkenntnistheorie 
nachweist, dass das Denken Fiktionen anwende zur Be- 
rechnung des Seins; diese erkenntnistheoretische Aufgabe 
ist eine ganz verschiedene von der metaphysischen Herbarts, 
Bei Herbart werden die Fiktionen nachher zu Realen, 

Die Methode der zufälligen Ansichten ist entwickelt 
pag. 31 ff. Als Beispiele bringt Herbart mathematische Hilfs- 
linien und die Kunstgriffe bei der Gleichung 2. Grades. 

Nun aber ist es ganz ein Anderes, nachzuweisen, dass das 
Denken dieselbe Methode in der Konstituierung des Weltbildes 
anwende (wie wir das nachweisen), und wieder ein Anderes zn 
versuchen, mit derselben Methode metaphysische Resul- 
tate zu erreichen, was Herbart will. 

Das hängt damit zusammen, dass nach der Herbartschen Ansicht eine 
konstruierende Metaphysik möglich sei, wahrend wir der Ansicht sind, 
dass bloss eine regressive, srkenntnlstheoretischeAnalyseder Welt- 
Vorstellung möglich ist. Sollte aber eine Synthese auch möglich sein, so 
kann sie doch nicht auf die Herbartsche Welse geschehen, bei dem ja gu 
keine erkenntnistheoretische Rücksicht genommen ist, sondern derScüei* 
objektiv durch Fiktionen erklärt werden soll, ohne dass man weiss, »er 
denn diese Fiktionen macht; offenbar macht sie der Philosoph, und er Übertri^ 
sie dann unberechtigt an! die ngestörten^Alonaden; es handelt sich jadaru^L 
zu erklären, wie in uns dre Vorstellung der Erscheinungswelt entstehe. 
Herbart hypostasiert die Fiktionen gleichsam in ein Wel tbewusstseia 
hinein, in dem seine Erscheinungswelt konstruiert wird, statt an- 
zuweisen, wie in den Monaden durch jene imaginäre „Störung* darc* 



XXXHI. Anwendung der Fiktion in der neueren Zeit 



277 



andere Monaden die Weit Vorstellung entstehe. Nur wenn die zufälligen 
Ansichten ata taktische Methoden der einzelnen erkennenden 
Subjekte nachzuweisen sind, haben sie Wert. Bei Herbart aber schweben 
sie in der Luft auf eine ganz zwitterhafte Weise 

In engem Zusammenhang damit steht bekanntlich die 
Methode der Beziehungen; gerade hier zeigt sich deutlich 
die falsche Anwendung der Fiktion bei Herbart. Es ist immer 
derselbe Fehler: statt das Denken durch die Einsicht in diese 
Methoden, in seinen wunderbaren Funktionen zu belauschen, 
wendet Herbart die Methode metaphysisch an. Der beste Be- 
weis, dass diese Anwendung verkehrt waT, ist der Misserfolg 
der Herbartschen Methode, wie schon Trendelenburg (Logische 
Untersuchungen 11, XIX) in der Abhandlung „Ableitung aus dem 
Begriff und die zufällige Ansicht 41 freilich teilweise unge- 
nügend nachwies, 

Herbart benutzt seine Methode „der zufälligen Ansichten* 
sowohl in der Ontologie, als in der Synechologie (ausserdem 
noch an mehreren Stellen seines Systems, so auch in der Psycho- 
logie). In der ersteren handelt es sich um die Theorie der 
Selbsterhaltung, Es ist nämlich die Störung zwischen 
jenen Wesen nur eine „zufällige Ansicht", eine Fiktion; nun ist 
also ganz unerfindlich, wie daraus die Selbsterhaltung folgen soll, 
dass das Wesen betrachtet wird (oder sich betrachtet??), als 
ob es gestört worden wäre* 

Es ist dies eine ganz verkehrte Vermischung subjektiver 
und objektiver Elemente, Herbart verwechselt den jetzigen Be- 
trachter (das Subjekt) mit den Vorgängen im Betrachtelen (im 
Objekt), Er wollte erklären, wie die Monade zur Fiktion komme, 
als sei sie gestört, statt wie wir zu dieser Fiktion gelangen. 
Unsere „zufällige Ansicht* 1 kann aber nichts Objektives be- 
gründen. Das ist also eine ganz falsche Anwendung der Hilfs- 
met h o de n f eine Vermischung metaphysischer und erkenntnis- 
theoretischer Aufgaben. 

Eine noch ausgedehntere Anwendung macht Herbart von der 
Fiktion in der Synechologie zur Erklärung von Raum und 
Materie, Dies hier ins Einzelne zu verfolgen, würde zu weit 
rühren. Herbart macht eine Menge von Fiktionen, so die Kugel- 
gestalt des Einfachen, so die Teilbarkeit des Einfachen; trotz 
der falschen Anwendung hat Herbart unschätzbares Material zu 
einer Theorie der Fiktionen gegeben. Besonders wichtig 



278 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. C. Geschichte der Fiktion. 

ist hierbei die Einsicht, dass solche Hilfsbegriffe Wider- 
sprüche enthalten, so der intelligible Raum, in dem zwei 
widersprechende Elemente^ das Zusammen und Nichtzusammerj 
der Wesen, vereinigt werden. Die ganze Synechologie ist eine 
Kette solcher Fiktionen, Herbart leitet alles, nicht bloss die 
Selbsterhaltung, auch die Qualitäten, und die ganze Materie 
aus solchen zufälligen Ansichten her, 

Es fragt sich aber, wer hat die zufällige Ansicht? Ent- 
weder der Philosoph — so scheint es bei Herbart Allein was 
kümmern diese „zufälligen Ansichten* des Philosophen das 
Reale? Oder etwa die Monaden selbst? 

Olfenbar geht Herbart ganz falsch zu Werke. Nachdem er 
durch eine verkehrte Anwendung der Methode die Existenz von 
realen Monaden gefunden haben will, will er durch dieselbe 
Methode aus diesen die ganze Erscheinungswelt ableiten. Er 
hätte statt von den Monaden von der Empfindung ausgehen 
und zeigen sollen, wie aus dieser durch fortwährende Fiktion 
die Vorstellungswelt entstehe, wie hier die logische Funktion 
mit feinem Instinkt zerlege und verbinde und so ^zufällige An- 
sichten* fasse* 

Herbart hat richtig geahnt s dass die ganze VorsteNungswelt auf zu- 
fälligen Ansichten beruhe; er hat nur dieselben falsch erweisej statt sie in 
das erkennende Einzelsubjekt hineinzulegen, gewjssermassen objektiv hin- 
gestellt; allerdings entsteht die Vorstellungswelt durch eine tortgesetzte, 
immer neu ansetzende Fiktionstätigkeit der Psyche; sie ist eine Kette, ein 
ganzes System von Fiktionen; aber es bandelt sich darum zu zeigen, wie 
die Psyche dazu komme, diese Fiktionen zu bilden. Freilich fallen dann 
Herbarts Monaden vollständig hinweg; sie sind kaum als Fiktionen 
brauchbar 

Herbart hat selbst in der Psychologie (und auch in der 
Metaphysik) darauf hingewiesen, wie allmählich die Kategorien 
entstehen und eingeschoben werden — hier ist der wahre Ort, 
die Fiktion zu verwerten, aber nicht zur Erklärung des Objektiven, 
sondern indem man sie als Mittel des Denkens nachweist 
Die Philosophie will ja gerade die Fiktionen des Denkens 
nachweisen und als Schein auflösen und zerstören; eine An- 
wendung der Fiktion zum Auffinden des Realen dagegen 
ist nicht möglich, wie aus unserer erkenntnistheoretischen Be- 
gründung folgt In der Philosophie sind die Fiktionen offenbar 
ganz anders anzuwenden, als von Herbart geschehen. Die Haupt- 
aufgabe der Philosophie ist, zu zeigen, wie die logische Funktion 



XXX1N Anwendung der Fiktion in der neueren Zeit 



279 



durch allmähliche Fiktionen aus der Empfindung die Vor- 
stellungswelt schafft Dagegen kann sie über diese selbst nicht 
hinausgehen, denn die Fiktion kann nichts erklären. 

Die Entstehung der Empfindung selbst aus einer Fiktion 
abzuleiten, wie das Herbart will, ist eine metaphysische Begriffs- 
spielerei, Durch die ^zufällige Ansicht" der Philosophen kann 
nicht die Entstehung der Empfindungen aus einer Abweisung 
einer fingierten Störung erklärt werden. Hier ist ein Über- 
schritt aus dem Subjektiven ins Objektive; hier ist gerade der 
Hauptfehler gemacht, den die Methodologie der Fiktion ver- 
bietet: nicht die Wege des Denkens für Wege des Seins 
zu halten. 

Die Monaden und alle sich daran anknüpfenden „zufälligen 
Ansichten" sind als Hypothesen falsch, als Fiktionen wertlos, 
weil sich Herbart nicht methodologisch klar war, was eine 
Fiktion leisten könne, zu was sie diene, Sie ist ein Kunst- 
griff des Denkens; bei Herbart erscheint die zufällige Ansicht 
wie ein Kunstgriff der Monaden selbst, wie ein dms ex machina, 
der zwischen die einfachen Realen hineintritt 

Bei genauerer Analyse zeigt sich Herbarts Methode als eine 
ganz grossartige Selbsttäuschung und Unklarheit über die Methode 
und ihre Tragweite, So wendet er z, ß. den imaginären Raum 
selbst auf die Monaden an, statt zu zeigen, wie die Psyche auf 
die Empfindungen den Raumbegriff anwende, resp. wie sie aus 
diesen denselben herauspräpariere als eine Fiktion, wie dieser 
Raum ein Produkt der fingierenden Tätigkeit der Seele sei. 

Herbart hat hier ausserdem der mathematischen Physik 
nachgeeifert: allein für diese sind die Fiktionen nur Rechnungs- 
mittel, für Herbart sind sie Erklärungsmittel, So sehen wir 
hier, wie ein Mangel der Methodologie verheerenden Schaden 
angerichtet hat: aus der falschen Anwendung der Fiktion bei 
Herbart lässt sich erst recht eine Methodologie der Fiktion negativ 
entwickeln, nämlich wie man diese Methode nicht anwenden so]], 

HerbaTts Methode ist aber, trotz ihrer Verkehrtheit, ein 
geniales Werk, und es lässt sich doch ungemein viel aus ihr 
lernen. Die Ergebnisse einer Analyse der Herbartschen Methode 
sind methodologische, nicht aber sachliche. Aus Herbarts Irr- 
tümern, auch in der Psychologie, lässt sich ungemein vieles lernen. 

Herbart hat die Fiktionen angewandt, wo sich dazu die 
Möglichkeit darbot, oft auch auf wirklich fruchtbare Weise, 



280 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. C, Geschichte der Fiktion, 

häufiger aber unfruchtbar. Wie zur Erklärung der Natur- 
erscheinungen, so wendet er sie auch an zur Erklärung und 
Berechnung der psychischen Erscheinungen. (Vgl. bes. V, 109 f 
§ 150, wo die Räumlichkeit der Seele fingiert wird; vgl. 
ferner IV, 561/2)-*) 

Herbart hat sich, wie es scheint, durch Maimon verführen 
lassen, die Fiktion synthetisch in der Philosophie anzuwenden. 
Der Misserfolg dieser Anwendung ist Zeugnis, dass eine solche 
Anwendung falsch ist 

Drobisch hat die Methode der Beziehungen in das 
System der Logik eingereiht ($. § 34 und § 144). Wir glauben, 
dass diese Einreihimg nur {eilweise im Sinne Herbarts gewesen 
wäre. Dagegen hat er die Methode der „zufälligen Ansichten 11 
nicht in die Logik eingereiht* weil er trotz zerstreuter An- 
deutungen und trotz seiner enormen mathematischen Kenntnisse 
eben die Bedeutung der Fiktion nicht erkannt hat. 

So ist denn die „zufällige Ansicht" Herbarts als eine 
Missanwendung der fiktiven Methoden erkannt Aus dieser 
Missanwendung lassen sich die methodologischen Grundsätze für 
die richtige Anwendung ableiten. Vor allem ergibt sich daraus> 
dass in der Philosophie die Fiktion nicht in demselben Masse 
anzuwenden ist, wie in der Mathematik. Herbart hat die Fik- 
tionen angewandt ohne genügende Methodologie; er hat sie zu 
hypothetischen Konstruktionen angewandt und stehen lassen, 
während sie nach vollbrachter Arbeit abzubrechen sind. Was 
mit Fiktionen erreicht werden kann, zeigt die Mathematik; was 
nicht, zeigt Herbarts Metaphysik. Wir weisen den „zufälligen 
Ansichten" also engere Grenzen an als Herbart (vgl, IV, 136), — 

Eine Hauptfiktion in der Naturwissenschaft der Gegenwart 
ist endlich das Atom; vgl Lotze, Streitschriften!, Lotze erklärt 
im Gegensatz zu dem jüngeren Fichte, der hier auffallend richtig 
sieht, das Atom für eine Hypothese; das tut er aus monado- 
logischen Gründen, also auch unter Herbartschem Einfluss. 

[n allen Wissenschaften sind also Fiktionen in Anwendung, 
Die Logik hat nur bis jetzt keine Theorie derselben aufgestellt 

1) V^I. Drobisch, Herbart-Rede 20, der diese Methode, wie es 
scheint billigt 



XXXiV, Theorie der Fiktion in der Neuzeit 



281 



Kapitel XXXIV, 
Die Theorie der Fiktion in der Neuzeit.*) 

Wir haben in einem letzten Paragraphen noch die Ansätze 
zu einer Theorie der Fiktion in der Neuzeit zu erwähnen und 
zwar erstens in rein logischer Hinsicht, zweitens im Interesse 
der Erkenntnistheorie* d. hu 1) inwiefern bis jetzt die Logik eine 
Methodologie versucht habe, 2) inwiefern bis jetzt die Erkenntnis- 
theorie die Bedeutung der Fiktion erkannt habe. 

Was das Erstere betrifft, so ist Folgendes zu bemerken: 
Bacon kennt die ficüones nur als falsche Hypothesen = Irrtümer. 3 ) 
Leibniz versucht in den Nouveaux Essais die juristische Fiktion 
methodologisch zu erklären. Die Logique von Port Royal gibt 
keine Methodologie oder Theorie der Fiktion Dagegen ist die 
Theorie der Abstraktion, welche in derselben enthalten ist, von 
Wert für einen Teil der Fiktionen. Hobbes hat den Vergleich 
des Denkens mit dem Rechnen eingeführt Die Fiktion behandelt 
er nicht. 2 ) 

Condillacs Logique ist insofern sehr wertvoll, als sie die 
Methode der entgegengesetzten Operationen betont (Ana- 
]yse und Synthese), sonst aber ist diese Logique äusserst dürftig 
und von einer merkwürdigen Verfcennung der Aufgabe der Logik. 
Sie ist eine sensualistische Reaktion gegen Cartesius und die 
Logique von Port Royal, welche Condillac verachtete. 

Wolff ist der erste Logiker, welcher die Fiktion behandelte 
und zwar recht einsichtsvoll, wie überhaupt Wolff unverdient 
geringschätzig behandelt worden ist. Zeller hat ihn neuerdings 
wieder zu Ehren gebracht. Wolff ist zu einer solchen Methodo- 
logie befähigt, nicht bloss als Schüler Leibnizens sondern als 
selbständiger Mathematiker. 

Er hat sowohl die mathematischen Fiktionen gewürdigt 
und in einer, freilich für die Jer2tzeit ungenügenden Weise be^ 
handelt, als auch in seiner Metaphysik gewisse fiktive Begriffe 

*) Im MS. §46. 

1) So z, B. Nov, Org. [ t 60; El, 36 (cfr. I 47). Indessen haben wir doch 
einige Ansätze von eigentlichen Fiktionen, freilich nicht unter dieser Bezeich- 
nung, oben festgestellt, 

2) Bemerkenswert ist Löches 30, KapüeJ des JL Buches: t Vom Unter- 
schied wirklicher und eingebildeter Vorstellungen' indessen hat diesem 
Kapitel für den zweiten Teil dieses Paragraphen mehr Wert, 



282 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. C Geschichte der Fiktion. 

und Operationen berücksichtigt: so Ontotogie, § 404 über die 

Fiktion ~ sei ein Bruch, § 77 über die Fiktion des ft Schla- 

raffentandes", § 797 über die Fiktion der Infinitesimale (non sunt 
verae guanttiateB^ sed saltem %maginariae) t ebenso § 804, 

In den Elemente Matheseos umversae {Halae 1741) bespricht 
Woiff mit ungemeinem Scharfblick eine Reihe mathematischer 
Fiktionen, Zugleich stellt er diese mit den juristischen in Parallele. 
Mit Vorliebe bespricht er die arteficia analyiica* 

Demnach ist Woiff der erste Logiker, welcher diese Fik- 
tionen behandelt hat. Indessen hat er gerade in der Logik 
selbst diese kunstreichen Methoden des Denkens nicht behandelt; 
und das folgt teilweise aus der falschen Begriffsbestimmung der 
Logik, und aus dem Mangel an Interesse für reine Methodologie, 

In den logischen Lehrbuchern selbst wurde überhaupt die 
Fiktion wenig oder gar nie besprochen. Dagegen finden sich 
in mathematischen Abhandlungen, besonders in denen der Aka- 
demien, z, B, speziell der Berliner Akademie, bei einzelnen 
mathematischen Problemen Andeutungen über die Fiktion, so 
besonders beim Unendlichgrossen und Unen dlichkleinerr 

Am meisten Aufmerksamkeit hat Maimon in allen seinen 
Schriften der Fiktion geschenkt, sowohl in rein methodologischem 
Interesse als in erkenntnistheoretischem. 

Beinahe in jeder seiner nunmehr fast gänzlich vergessenen 
Schriften hat er diesen Punkt betont; und selbst wo seine Schriften 
gekannt werden, da ist gerade dieser Punkt ganz übergangen. Die 
Darstellung von der Lehre Maimöns durch Erdmann und Fischer, 
und später durch Witte haben diesen Punkt mit Stillschweigen 
übergangen,*} Und doch ist es das Einzige, was Maimon eigentlich 
geleistet hat; der Punkt hängt zusammen mit seiner Ansicht über 
das Ding an sich, welche wir schon S, 116 berührt haben, 
indessen tritt bei Maimon das methodologische Interesse doch 
weit hinter das erkenntnistheoretische zurück, wie das ebenso 
auch bei Kant selbst der Fall ist. 

Unter den späteren Logikern hat diesen Punkt rein metho- 
dologisch besonders Herbart ausgeführt in dem Lehrbuch zur 
Einleitung in die Philosophie bes. §152, wo die zufälligen 
Ansichten sowie die Hiifsbegriffe des Raumes, sowie ver- 
schiedener mathematischer Methoden aufgezählt werden. Auch 

V DUs hat jetzt {1912) F.Runtzein seinem grossen Maimonwerk nachgeholt* 



XXXIV Theorie der Fiktign in der Neuzeit. 



283 



die Theorie der Fiktion ist von Herbart an der genannten 
Stelle sehr klar ausgesprochen, und er bemerkt sehr richtig, dass 
das Denken gewisse Durchgangspunkte haben müsse, „dass es 
seinen eigenen Weg verfolge, um in den erkennbaren Haupt- 
punkten mit der Natur der Dinge wieder zusammenzutreffen'. 
Aber auch hier behandelt Herbart diesen Punkt keineswegs in 
dem der Logik gewidmeten Abschnitte, sondern in dem meta- 
physischen, obwohl er doch vor allem diese Hilfsbegriffe hatte 
logisch behandeln sollen, und obwohl er seine schon oben be- 
sprochene Methode der .zufälligen Ansichten" 1 hätte logisch und 
methodologisch begründen sollen. (Vgl S. 275 ff. m. Buches.) 

In dem naturphüosophtschen Teile derselben Schrift wird 
die mathematische und physikalische Fiktion noch mehrfach be- 
sprochen, so bes. § 160 die Fiktion der Teilbarkeit des mathe- 
matischen Punktes, sowie die Fiktion der Betrachtung desselben 
als einer Grösse; ebenso § 161, wo die schon oben besprochenen 
naturphilosophischen Ansichten kurz wiederholt werden. 

Aber am allerwichtigsten ist der § 162 (Hartenstein I, 319), 
wo zum erstenmal in der Philosophie deutlich, klar und rund der 
Unterschied der Fiktion und der Hypothese entwickelt wird. 
„Zwar Fiktionen, wie die des Schwerpunktes sind höchst nützlich 
und täuschen Niemanden, aber Hypothesen . , . werden höchsi 
schädlich* etc. nämlich falsche Hypothesen, wie die von der 
actio in distans oder die Symmersche von den zwei elektrischen 
Flüssigkeiten u. s, w. 

Bei Herbart lag schon das vollständige Material zu einer 
logischen Theorie der Fiktionen vor, allein Herbart selbst 
hat keine Theorie derselben gegeben, er hat den inneren Zu- 
sammenhang 1) der zufälligen Ansichten, 2) der Htlfs- 
begriffe, 3) der Fiktionen durchaus nicht klar dargelegt* 
Hätte er das getan, so hätte er gefunden, dass seine eigene 
Anwendung dieser Methode fehlerhalt war. 

Freilich hat er in Parmenides einen grossen Vorgänger 
gehabt, und diese bis jetzt nicht zur Sprache gekommene Parallele 
ist sehr beiehrsam, Denn Beide halten das Sein für ein starres, 
mit sich identisches, ohne Werden noch Bewegung, Beiden 
macht sich daher die Notwendigkeit geltend, von der Erscheinungs- 
welt sich Rechenschaft 2u geben, und dies suchen sie zu tun mtt 
Hilfe der Fiktion. Allein hier ist die Fiktion übel angebracht. 
Sie kann niemals zur Erklärung dienen, sie dient nur zur Be- 



284 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. Geschichte der Fiktion. 

rechnung. Nur die Hypothese dient zur Erklärung. Dies liegt 
ja schon in dem Ursprung der Fiktion — wie soll ein einge- 
bildeter Begriff die reale Erscheinung erklären? Dagegen zu 
ihrer Berechnung kann er wesentlich beitragen. 

Lotze, der sich vielfach an Herbart anscbliesst, ist der 
Einzige der neueren Logiker, der die Fiktion in den Kreis der 
logischen Diskussion hereingezogen hat; dass er dies ungenügend 
tat, haben wir schon S. 187 u. ö. erörtert. Derselbe hat auch in 
seinen „Streitschriften* den Begriff der Fiktion sehr klar ent- 
wickelt, aber dort in monadologischem Interesse das Atom als 
eine Hypothese verteidigt gegen des jüngeren Fichte richtigere 
Anschauung, dass es nur eine Fiktion sei. 

Unter den neueren Logikern hat noch Bain in seiner zwei- 
bändigen Logik die Fiktion zum Gegenstand der Untersuchung 
gemacht, aber in dürftiger und unvollkommen er Weise. Und 
doch hätte Bain, der die Idee einer Methodologie aller Wissen- 
schaften mit seltener Klarheit erfasst hat, die Notwendigkeit fühlen 
sollen, aus allen Wissenschaften hierfür Material zu sammeln. 
Seine Darstellung ist im Verhältnis zu LoUes Äusserungen 
geradezu dürftig und schal. 

Endlich haben wir mit wenigen Worten noch die allmähliche 
Anwendung des Begriffes der Fiktion auf die Erkenntnistheorie 
zu erwähnen. 

Locke steht hier voran, der eine Reihe von Vorstellungen 
für subjektiv erklärte; dagegen zu der positiven Ansicht der- 
selben als nützlicher Fiktionen ist er so wenig durchge- 
drungen als Hume, bei dem, wie schon S t 256 bemerkt, der 
Ausdruck »ficiion of thonghV sehr oft wiederkehrt. Auch Hume 
weiss nur negativ nachzuweisen, dass die Kategorien subjektive 
Einbildungen seien- 

Kant rnachie den Anlauf, den Nützen dieser subjektiven 
Vorstellungen nachzuweisen, und dieselben dadurch zu wirklich 
logischen Fiktionen in unserem Sinne zu erheben; allein sein 
System misslang, weil falsche Tendenzen und Vorurteile ihn 
hemmten* Nichtsdestoweniger ist dies der eigentliche und wahre 
Schritt Kants über Hume hinaus, dass er nicht nur nachwies, 
dass die Kategorien nicht bloss durch Gewohnheit entstehen, 
sondern aus der Seele seihst hinzugebracht werden — wobei er 
rtihcii einem falschen Apriorismns huldigt — sondern dass 



XXXtV. Theorie der Fiktion in der Neuzeit 



255 



er auch versuchte, den wirklichen Nutzen dieser subjektiven 
Vorstellungen nachzuweisen. 

Kant wollte den subjektiven Vorstellungen einen Erkenntnis- 
wert* einen Dienst zuschreiben, im Gegensatz zu Hume, der sie 
einseitig negativ als Erdichtungen betrachtet hatte, dadurch, dass 
er zeigte, wie durch diese subjektiven Vorstellungen erst die ob- 
jektive Welt für uns entstehe. 

Aber Kant geriet in eine ganz falsche Position hinein! weil 
er die subjektiven Vorstellungsformen bald für Fiktionen ansah, 
bald für Hypothesen, bald für ein unglückliches Zwitterding beider. 
Offenbar sind von Kant aus nur zwei Ansichten möglich: ent- 
weder die Kategorien sind Hypothesen und zwar a priori auf- 
gestellte, und gelten von der ganzen Welt — weil diese selbst 
ideell logisch ist; diese Konsequenz zieht der Dogmatismus. Die 
kritische Philosophie geht den entgegengesetzten Weg und er- 
klärt sie für Fiktionen. Welche Änderung der ganzen Weltan- 
schauung funktionell damit zusammenhängt, ist klar; aus dem 
dogmatischen Idealismus und unkritischen Dogmatismus wird 
ein positiver Kritizismus oder kritischer Positivistnus. 

Dass also die Kategorien dem Denken grosse Dienste 
leisten, sah Kant ein, Er machte damit einen grossen Schritt 
über Hume hinaus, aber zugleich auch über ihn zurück: die 
Kantische Anschauung ist unhaltbar, weil sie die Kategorien halb 
für fiktiv, halb für hypothetisch ausgibt. Die Kategorien ent- 
stehen erst durch die Wahrnehmung der objektiven Welt; sie 
sind logisch betrachtet nachher eingeschobene Hilfsvorstellungen, 
durch welche das Denken sich das Geschäft erleichtert und sich 
die Berechnung der Wirklichkeit ermöglicht 

Der grosse Fortschritt Kants über Humes Philosophie hin- 
aus besteht also darin, dass er den Kategorien einen Dienst 
auferlegt, dass er sie im Gegensatz zur bloss negativen Leug- 
nung ihrer objektiven Gültigkeit positiv im System des Wissens 
verwertet, 

Kant war hierbei von dem richtigen Instinkt geleitet, zu 
zeigen, dass die Kategorien u, s. w, nicht nur wertlose Ein- 
bildungen seien, sondern wirklich einen Dienst leisten. Nur im 
Nachweis dieses Dienstes hat er gefehlt; er hat den Kategorien 
objektive Gültigkeit zugeschrieben iür eine Zwitterwelt> welche 
weder real noch blosse Erscheinung war. Darauf beruht das be- 
kannte Schwanken Kants in seinen Erklärungen über das Objektive, 



286 Erster Teil; Prinzipielle Grundlegung. C, Geschichte der Fiktion, 

Maimon erkannte mit vollem Bewusstsein den logischen 
Wert, den logischen Dienst, den die Kategorien dem Denken 
leisten; aber sowohl er als Herbart, welcher ebenfalls zur positi- 
vistischen Auffassung beigetragen hat, konnten sich von ander- 
weitigen Vorurteilen nicht losreissen. 

Der Positivismus der Neuzeit ist aui dem Wege und hat 
es schon teilweise ausgesprochen, dass für ihn alle Kategorien 
nur Symbole und Fiktionen seien, dass *das diskursive Denken", 
wie Maimon sagt, »eine Fiktion sei*. 

Um aber zu wissen, was man damit sagt; es ist etwas eine 
Fiktion, dazu muss erst ausführlich die Logik in der Methodologie 
nachweisen, welche Merkmale eine Fiktion habe, welchen Dienst 
sie leiste und wo sie anwendbar sei: dann wird die Anwendung 
der logischen Unterscheidung von Fiktion und Hypothese au! 
die Erkenntnistheorie fruchtbar sein, und nur dann kann dieser 
Gedanke, wie F. A. Lange sagt, „ein Ecksteirf der philoso- 
phischen Erkenntnistheorie werden". — 



D. Erkenntnistheoretische Konsequenzen,^ 

Kapitel XXXV. 

Das erkenntnis theoretische Grundproblem, 

Aus dein Chaos der Empfindungen tritt die geschiedene 
Anschauung hervor; in jenem Chaos ist noch keine Vorstellung 
von einem besonderen Dinge, denn die grosse, unWare Nebel- 
niasse der Empfindungen kommt erst allmählich in eine rotierende 
Bewegung, und es ballen sich die einzelnen zusammengehörigen 
Stücke erst allmählich zu Wahrnebmungsdingen, zu Anschauungen 
des Einzelnen zusammen* Die Anschauung ist schon ein durch 
die psychische Attraktion der Elemente zu Stande gekommener 
Verband von Empfindungserkenntnissen, Die Formen, in denen 
dieser Verband sich vollzieht, sind schon die Verhältnisse des 
Ganzen und seiner Teile, des Dinges und seiner Eigen- 
schaften, Hier setzt also schon die logische Funktion ein, 

*) Der Absch/iitt D bildet, wie schon S r 20 bemerkt teord&i ist, im MS 
äu § 11—21. Dem § 11 entspricht Kap, XXXV, 



XXXV. Das erkenntnistheorätiscne Grundproblem. 287 

Ehe wir nun weitergehen, haben wir hier eine Bemerkung 
in machen, welche für unsere weitere Untersuchung entscheidend 
ist. Wenn die Psyche das ihr dargebotene Material der Empfin- 
dungen also die ihr einzig und allein gegebene Grundlage mit 
Hilfe der logischen Formen verarbeitet, wenn sie das Empfundene 
sichtet und von dem gegebenen Empfindimgsmateriat gemäss 
jenen logischen Funktionen geradezu Teile wegschneidet und 
andererseits zu dem unmittelbar Gegebenen subjektive Zusätze 
beimischt — und eben in diesen Operationen besteht der Er- 
fcenntnisprozess — so entfernt sie sich von der ihr gegebenen 
Wirklichkeit Es liegt ja auch schon in dem Begriff der Be- 
arbeitung, der Weiterbildung des Gegebenen, dass hier das Ge- 
gebene verändert, dass die unmittelbare Wirklichkeit alte- 
riert wird. Die Empfindungen gehen innerhalb der Psyche rein 
subjektive Prozesse ein, denen in der Wirklichkeit — sie mag 
nun gedacht werden wie sie will — nach unserer modernen An- 
schauung nichts entsprechen kann. Man kann (mit Steintba]) 1 ) 
die eingegangenen Verbindungen noch als „geistige Äquivalente 
der realen Verhältnisse 1 * auffassen. Aber wir müssen auch mit 
demselben fortfahren, dass es ein grosser Irrtum ist, zu meinen, 
die Empfindungen bildeten im Bewusstsein behufs Herstellung 
der Anschauung (und dasselbe gilt von den Verbindungen der 
Anschauungen behufs Herstellung der Begriffe) gerade solch einen 
Verband in gerade solchen Verbin dungsweisen, wie die durch 
unsere Empfindungen erfassten realen Verhältnisse. Wir haben 
uns, fährt Steinthal 1 ) fort, vielmehr die Verbindung psychischer 
Elemente ganz anders zu denken, als die realen Verbindungen, 
obwohl jene den Wert der letzteren geistig darzustellen suchen. 
Dass die Vorsteltungen von einem „Dinge* (bei der begrifflichen 
Erkenntnis desselben) nicht einen unmittelbaren Abklatsch des 
Realen gewähren, ergibt sich schon daraus, dass Vorstellungen 
zu den Ergebnissen der Sinnestätigkeit hinzugedacht werden. 5 ) 
Solche hinzu gedachten und aus dem eigenen Fonds der Seele 
geschöpften Vorstellungen sind alle Kategorien, d. h. die Ver- 
bindungsforraen der Empfindungen, die dann von diesen losge- 
löst und als selbständige Vorstellungen hingestellt werden. Hier 

1) Einl in die Psychol. pag> 111 (§ 36) und 117 (§ 48). 

2) Ib. pag, 118 (§ 4SI 

3) Schon die griechischen Skeptiker bemerken dies im Begriffe der 

Kausalität: itv^ vnapxst) entrOEiTut pQvov 



288 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung, Erkennt^ s theoretisch es, 

macht sich also eine die Wirklichkeit verändernde, von ihr ab- 
weichende Tendenz und Richtung der logischen Funktion geltend. 
Die Bemerkung, die wir also zu machen haben, ist die, dass 
schon in den elementaren Prozessen des logischen Geschehens eine 
Abweichung von der Wirklichkeit stattfindet. Gerade der Um- 
stand, dass das Denken das Sein darstellen will, dass es ferner 
dazu dient, die Verbindung zwischen seienden Wesen zu unter- 
halten und zu erleichtern, spricht dafür, dass Denken und Sein 
nicht Eins sein können, dass die Wege des Denkens nicht die 
des Seins sein können. Es ist unwahrscheinlich, und es wider- 
spräche den Usancen der Natur, dass zwei auf so heterogenem 
Boden vorgehende Prozesse wie der des subjektiven Vorstellens 
und der des objektiven Geschehens in denselben Formen ver- 
liefen. Es ist aber auch gar nicht abzusehen, was denn streng 
genommen jenen subjektiven Formen im Sein entsprechen solite, 
nachdem wir dieses wesentlich als ein geordnetes System von 
Bewegungen erkannt haben* Seitdem uns die Natur diese Seite 
zugekehrt hat, sind mehr und mehr alle jene subjektiven Zutaten, 
welche wir ihr als logischen Zierat anhängten, d.h. die Kate- 
gorien im weitesten Sinne des Wortes, als solche erkannt worden, 
und erst nachdem die Natur diesen Schmuck abgelegt hat und 
uns in ihrer nackten Unverfälschtheit entgegengetreten ist, sind 
jene Zutaten der Psyche selbst als Eigentum zugesprochen worden, 
welche sie — sollen wir sagen, in neidloser Freigebigkeit oder 
in kindlicher Selbsttäuschung? — dem Objekt der Welt ange- 
hängt hatte. Diese Abweichung von der Wirklichkeit steigt 
in den höheren Entwicklungsstufen der Psyche und erreicht 
schliesslich einen solchen Maximalgrad, dass sie als solche er- 
kannt wird. Aber damit fällt sie nicht als wertlos weg. 
Tatsache ist demnach, dass die Psyche in der Verarbeitung des 
gegebenen Materials immer mehr von der Wirklichkeit ab- 
weicht Aber auch abgesehen davon, dass auf einer gewissen 
Stufe der geistigen Entwicklung diese Abweichungen (welche zu- 
erst der objektiven Welt als Eigentum untergeschoben werden*) a!s 
solche durchschaut werden, so macht doch diese Veränderung und 
Abweichung sich im praktischen Handeln und im Resultat der Denk- 
rechnung in der Regel ni^ht geltend; obwohl die Wege des Seins 
und die Wege des Denkens verschieden sind, so trifft das Denken 
doch immer wieder mit dem Sein zusammen. Wir haben schon 
mehrfach davon gesprochen und auch das daraus entstehende 



XXXV. Das erkenn tnistheoretische Grundproblem. 



289 



Problem entwickelt Dieses heisst für uns aber nicbt bloss: Wie 
ist die Natur des Objektiven beschaffen, dass dös Denken, 
wenn es sich den logischen Gesetzen überlässt, am Ende seines 
richtig durchlaufenen Weges wieder mit dem Verhalten der Sachen 
zusammentrifft? Eine solche Formulierung scheint uns unge- 
nügend zu sein* Ein richtig formuliertes Problem ist bekanntlich 
schon eine halbe Lösung; dann ist aber mit einer falsch gestellten 
Frage auch schon die Hälfte des Weges zum Irrtum zurückgelegt. 
Und das scheint uns auch in der oben mitgeteilten Problem- 
stellung zu liegen; denn sie setzt voraus, dass das Gebiet der 
Untersuchung, auf dem die Lösung zu suchen sei, ausschliesslich 
die „Nalur der Sachen" sei In Wahrheit aber ist es umgekehrt: 
das Gebiet, auf dem die Lösung zu suchen ist, ist die Natur 
des Denkens* Die Natur der realen Vorgänge ist uns immer- 
bin soweit hinreichend bekannt, dass wir sie als von einer un- 
wandelbaren Gesetzmässigkeit beherrscht denken müssen; die 
objektiven Prozesse spieten sich mit einer absoluten, wandeliosen 
Notwendigkeit ab, mögen nun diese Prozesse weiterhin gedacht 
werden wie sie wollen* Auf eine bis jetzt ungelöste Weise knüpft 
sich an diese objektiven Vorgänge die subjektive Welt an. 

Wenn also in den subjektiven Vorgängen von deT Wirklich- 
keit abgegangen und diese durch Abzüge und Zusätze ver- 
ändert wird t und wenn doch trotzdem beim Handeln schliesslich 
wieder praktisch richtige Resultate sich zeigen und die abge- 
schlossene Denkrechnung mit der Wirklichkeit übereinstimmt, — 
so ergibt sich aus diesen zwei sich zum Widerspruch reizenden 
Sätzen das wichtige Problem: Wie kommt es t dass — trotz- 
dem wir im Denken mit einer verfälschten Wirklichkeit 
rechnen, doch das praktische Resultat sich als richtig 
erweist? Die Lösung dieses Problems ist vorzugsweise im Ge- 
biete des Denkens 2u suchen. Die Natur des Denkinstrumentes 
muss so eingerichtet sein, dass, obwohl die Wege und Methoden 
des Denkens ganz andere sind als die des Seins, sie doch am 
Ende wieder mit dem objektiven Sein und Geschehen zusammen- 
treffen. Die Frage, in jener Allgemeinheit gefasst, ist das tiefste 
Problem der Erkenntnistheorie und Logik, Die Veränderung der 
Wirklichkeit besteht vornehmlich in der Umformung des 
Empfindungsmaterials durch die subjektiven Kategorien; 
diese Veränderung findet in dem gewöhnlichen Denken durch- 
gängig statt. Wir sahen, dass dieselbe umformende Tätigkeit 

19 



290 Erster Teil : Prinzipielle Grundlegung. D. Erkenn tmstiieorfc tisch es. 



auch im spezifisch wissenschaftlichen Denken wirksam ist und 
auch hier, auf eine nur noch auffallendere Weise von der Wirk- 
lichkeit abweicht, und — nicht trotz dieser Abweichung, 
sondern gerade durch sie — wieder mit der Wirklichkeit zu- ; 
sammentrifft. Und darin wird auch das Geheimnis liegen* Gerade . 
weil das Denken eine vom Sein verschiedene, heterogene Tätig- . 
keit ist, müssen seine Formen andere sein, als die des Seins, . 
um mit diesen schliesslich wieder übereinstimmen 2u können. 

Und darin besteht ja nun eben die Frage; Wie kommt es, 1 
dass, obgleich die Rechnung des Denkens auf ganz j 
andere Weise angesetzt und durchgeführt wird, als das I 
objektive Geschehen sich vollzieht, — doch beide Wege j 
zusammentreffen und die Rechnung auffallend stimmt? ! 
Die Lösung muss in der Rechnungsweise des Denkens liegen; ; 
diese müssen wir speziell daraufhin untersuchen. Das Natur- 
geschehen ist etwas Unwandelbares und vollzieht sich nach harten, 
unbeugsamen Gesetzen; der Wille der Natur ist eisern; das Denken 
aber ist eine sich anschmiegende, biegsame, sich anpassende, 
organische Funktion, 



Kapitel XXXVI, 
Die Verfälschung der Wirklichkeit durch die logischen 
Funktionen^) 

Logischer Optimismus, Pessimismus und Kritizismus. 

Wo die logische Funktion mit ihrer Tätigkeit eingreift, ds 
verändert sie das Gegebene und entfernt es von der Wirklich- 
keit Wir können nicht einmal die elementaren Prozesse de; 
Seele schildern, ohne auf Schritt und Tritt diesem — sollen wir 
sagtm störenden oder nachhelfenden Faktor? — zu begegnen. 
Sobald die Empfindung in den Kreis der Psyche eingetreten ist, 
wird sie in den Wirbel der logischen Prozesse hineingezogen. 
Die Seele verändert selbständig das Gegebene und Dargebotene. 
Bei dieser Veränderung ist zweierlei zu unterscheiden: 1) die 
Formen an und für sich, in denen diese Veränderung ge- 
schieht; 2) die durch diese Veränderung aus dem ursprünglicher 
Material geschaffenen Produkte» 



*) Im MS, § & 



VXXVl. Verfälschung der Wirklichkeit durch die logischen Funktionen. 291 

Die organisierende Tätigkeit der logischen Funktion reisst 
alle Empfindungen in ihren Prozess herein und baut so ihre 
eigene innere Welt auf, welche sich von der Wirklichkeit immer 
mehr entfernt und doch an gewissen Spitzen wieder mit ihr so 
eng zusammenhängt, so dass stets ein Übergang von der einen 
in die andere stattfindet, und der Mensch gar nicht merkt, 
dass er gleichsam doppelt handelt — in seiner inneren Welt 
(die er freilich objektiviert als die sinnliche Anschauungswelt) 
und in einer ganz anderen Welt, in der äusseren- Es gibt also 
Wechselorte, wo die Werte der einen Welt gleichsam in die der 
anderen umgetauscht werden, wo der lebhafte Verkehr zwischen 
beiden Welten ermöglicht wird, wo gleichsam das leichte Papier- 
geld der Gedanken umgesetzt wird in die schwere Münze der 
Wirklichkeit, und wo umgekehrt das Metall der Wirklichkeit gegen 
jene leichtere Ware, welche aber auch den Verkehr erleichtert, 
umgetauscht wird. 

An Stelle der schweren Prozesse der Materie tritt die leicht- 
geflügelte Arbeit der Ideen. Eine immer grössere Verdichtung 
findet statt, einzig und allein im Interesse der Belebung und Er- 
leichterung und Bereicherung des Verkehrs. Erst mit der Erfin- 
dung des Papiergeldes wuchs der Verkehr ins Ungeheuere; erst 
mit der Steigerung der schwereren Vorgänge der niederen Welt 
zu den immer feineren Prozessen des Denkens, erst mit der Ein- 
führung des Denkinstrumentes entfaltet sich die organische Welt 
zur Geschichte der Menschheit. Die Schwierigkeit liegt hier wie 
dort nur in der Umrechnung, in der Umwechslung, Da hat sich 
viel falsches Papiergeld, da haben sich viele falsche Ideen einge- 
schlichen, die nicht in die materiellen Werte umgewandelt werden 
können; auch wird nicht ohne Weiteres der Nennwert des Papieres 
bezahlt, sondern es muss Agio bezahlt werden. Dafür aber waren 
alle höheren Spekulationen, der ganze weite Verkehr nur möglich 
auf Grund dieses Hilfsmittels, dieser fiktiven Werte. 

„Fiktive Werte* nennt man in der Nationalökonomie das Papiergeld 
und auch solche Begriffe, wie z. B. das Pfund Sterling, u. a. Das Papier 
wird betrachtet, als ob es den Wert des Metailes hätte; die Rechnung wird 
so gemacht, als ob es faktisch „Pfund Sterling" gäbe. Unsere Analogie 
hat also einen sehr realen Boden. So sagt Littre" im französischen Wörter- 
buch II, 1664: le papier-monnaie est une valeur de fiction; monnaies 
f icti ves = d'une valeur imaginaire, de fiction, par Convention. Diese 
Bezeichnung dient besonders, um unseren noch öfters ausgeführten Ana- 
logien einen realen Boden zu geben. Auch Begriffe sind nur Konven- 

19* 



292 Erstelle!!: Prinzipielle Grundlegung. D. Erkenntnistheore tisch es. 



tionelle Zeichen. Das, worauf es hier ankommt, ist insbesondere, die 
Identität der formalen logischen Tätigkeit zu erkennen, welche 
in allen diesen Fallen wirksam ist; seien sie nun so einfach und 
simpel wie das Papiergeld, oder so kompliziert und wichtig wie die 
Kategorien und Allgemeinbegriffe, überall ist es die fiktive Funktion, 
welche wirksam ist. 
Die aller mannigfachsten Geschäfte waren nur möglich auf 
diese Weise, wenn auch mancher „Aktienschwindel" im Gedanken- 
reiche gemacht worden ist, wo die Leute ihren guten, materiellen 
Besitz dahingaben für schlechte Papiere, für wertlose Gedanken, 
So ist das Denken dem Papiergeld vergleichbar- Die Abweichung 
von der Wirklichkeit oder die Fiktion schlägt je nach Umständen 
zum Nutzen oder zum Schaden aus, gerade so wie das zum Ver- 
gleich herbeigezogene Hilfsmittel des Papiergeldes, Es ist eben 
mit den die organische Funktion des Denkens beherrschenden 
Gesetzen ebenso, wie mit allen Naturgesetzen — sie sind in- 
different, wirken blind; ob sie zum Heil oder Unheil ausschlagen, 
hängt von den Umständen ab; aber sie sind zweischneidig, Jene 
Veränderung der Wirklichkeit in den logischen Prozessen, jene 
Umsetzung des gegebenen schweren Materials in die leichten, 
flüchtigen Gedanken, die aber dem Ersteren so wenig mehr 
gleichen — birgt ebenso viele Gefahren in sich> wie sie anderer- 
seits erst die Möglichkeit eröffnet, rasch zu denken und zu rechnen. 
Für unsere Untersuchung ist es äusserst wichtig, welches Ver- 
trauen wir dem Denken und seinen Arbeiten und Produkten 
entgegenbringen. Wir müssen jedenfalls die naive Ansicht da- 
hinten lassen, als ob das Gedachte wirklich sei, als ob die 
Formen und Wege des Denkens im Sein wiederzufinden seien. 
Diese naive Glaubensseligkeit, diese zutrauliche Hingabe des ver- 
trauensseligen, simplen Naturmenschen an die Produkte seiner 
logischen Funktion, also an seine Welt, wird im Laufe der Er- 
fahrung bitter und mit Hohn getäuscht. Das Denken und die 
logische Funktion ist nicht der Mittelpunkt, in dem die Radien 
der Welt zusammenlaufen, ist nicht die Achse, um die sich die 
Welt dreht, 1 ) im Gegenteil, die logische Funktion spielt im Haus- 
halt der Natur eine bescheidene Rolle und die Veränderungen 
der wirklichen Weit, welche durch die Produkte der logischen 
Funktion zu Stande kommen — so mächtig und ausgedehnt sie 

1) Denn der Mensch steht weit mehr T wie Lotze in der Einleitung rn 
seiner Logik pag. 11 treffend sagt, b id den fetzten Verzweigunger. der Wirk- 
lichkeit", 



XXXVL Verfälschung der Wirklichkeit durch die logischen Funktionen, 293 

vom menschlichen Standpunkt aus sind — im Verhältnis zu den 
kosmischen Veränderungen sind sie von einer lächerlichen Klein- 
heit Aber so gering auch diese Veränderungen sind im Ver- 
gleich mit den grandiosen, machtvollen Verursachungen der wirk- 
lichen Welt, die mit ihrer eisernen, plumpen Notwendigkeit wie 
blinde Riesengewalten handeln und wirken — so ist doch anderer- 
seits eben diese Vorstellungswelt unsere Welt, in der wir leben 
und fühlen. Allein sie mag so schimmernd, so ideal, so herr- 
lich und edel sein, als jemals ein philosophisches Weltsystem 
war — wir dürfen sie nicht an Stelle der objektiven Welt setzen: 
und tun wir das, so begeht der hochfliegende Denker formell 
genau dieselben Fehler wie der niedrigste Wilde, wenn er Ge- 
dankendinge objektiviert Diese Bemerkungen aber soHen die 
richtige Stimmung hervorbringen, welche wir den logischen Funk- 
tionen und ihren Produkten entgegenbringen sollen: wir sollen 
weder dogmatisch noch skeptisch sein* sondern kritisch. 

Der Dogmatismus ist ein logischer Optimismus, der den 
logischen Funktionen und Produkten ein unbegrenztes Vertrauen 
entgegenbringt, der das Denken mit einer so überschwenglichen 
Bewunderung und Zufriedenheit betrachtet, dass er gar nifhl 
wagt, an demselben zu zweifeln. Die logische Unfehlbarkeit des 
Denkens steht dem logischen Optimisten fest wie ein Evangelium, 
an welches es sklavisch glaubt, und mit derselben Intoleranz, 
welche den religiösen Aberglauben begleitet, zieht er diejenigen 
logischen Formen, in denen er zufällig denkt, allen anderen vor. 
Dieser logische Optimismus ist etwas Unschuldiges und Unschäd- 
liches bei den Naturmenschen* er wird bedenklich, mehr, er wird 
geradezu gefährlich und verderblich bei den höherstehenden 
Menschen. Das logische Gebäude, und wenn es noch so sehr 
ein Kartenhaus ist, wird so ängstlich gehütet vor dem frischen 
Luftzug des Zweifels, dass niemand wagt, an der logischen Funk- 
tion zu zweifeln. Der Optimismus wird hier konservativ, reak- 
tionär, er wird verderblich, wie eben alles, was sich überlebt. 
Der logische Optimismus wird überflüssig und gefährlich, trotz- 
dem er notwendig war, denn der Wilde würde verhungern, wenn 
er erst nachdenken müsste, ob der Raum, durch den er seinen 
befiederten Pfeil schiesst, wirklich, und ob er unendlich teilbar 
ist, und ob nicht „sein Pfeil ruhe"; und er erreicht auch seine 
„Schildkröte", ohne sich durch die unendliche Teilbarkeit der 
dazwischen liegenden Spanne irre machen zu lassen. Wollte schon 



294 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung, D, Erkenn tnisthcoretiscner 

der Naturmensch zweifeln an der Objektivität seiner logischen 
Formen, so wäre er kein Kulturmensch geworden, aber will der 
dieser Kulturperiode angehörende Denker nicht zweifeln an jener 
Objektivität, so wird er eben wieder ein Naturmensch im schlim- 
men Sinne des Wortes, also ein unkritischer Mensch, 

Zu dem eben geschilderten Gebahren des logischen Opti- 
misten bietet dasjenige des logischen Pessimisten oder des 
Skeptikers ein lehrreiches Gegenstück, Er versteigt sich bis zu 
dem Misstrauen eines Gorgias, und versinkt bis in die Mystik 
eines Huet oder in die Haltlosigkeit eines Agrippa ^Nettes- 
heim. Er findet keinen Ausdruck, der stark genug wäre, um 
die Unsicherheit, Ungiltigkeit, Un Zuverlässigkeit des Denkens zu 
brandmarken. Er zweifelt mit dem Solipsisten an der Existenz 
der Aussenwelt und ist zuletzt seines eigenen Daseins nicht mehr 
sicher. Das Denken gilt als ein ganz mangelhaftes Instrument, 
das die Wirklichkeit verfälscht, das irreführt, das betrügt Ist der 
Dogmatismus trotz seiner naiven Produktion fruchtlos, so ist 
der Skeptizismus ganz unfruchtbar. Trotzdem ist dieses Miss- 
trauen nicht bloss sehr motiviert, sondern auch recht dienlich, 
um die kritische Stimmung vorzubereiten, mit der wir unserer 
Welt, d. h. den logischen Produkten und Funktionen gegenüber- 
treten müssen. Das Verdienst dieses logischen Pessimismus ist 
nicht hoch genug anzuschlagen; er zerstört die Naivität und un- 
besonnene Glaubensseligkeit, und gegenüber der behaupteten ot!er 
naiv angenommenen Identität von Denken und Sein macht er 
energisch, auf ihre totale Differenz aufmerksam. Er diskreditiert 
das vielgebrauchte und vielgemissbrauchte Büd von „der Wieder- 
spiegelung der Aussenwelt in der Seele", welche das Objektive 
treu und unverfälscht wiedergeben soll. Ihm liegt es dagegen 
nahe, das Denken unter dem Bilde einer gefärbten Brille zu 
fassen, welche ailes Gesehene in falschem Lichte zeigt, oder unter 
dem Bild eines verzerrenden Hohlspiegels. Eines kommt jeden- 
falls bei diesen Vergleichungen heraus — in der Wahl solcher 
Vergleich ungen spiegelt sich der Gang der wissenschaftlichen 
Entwicklung, und es wäre interessant, sowohl in diesen als in 
anderen Gebieten die Reihe dieser BildeT und Analogien zu 
sammeln, — Das Denken wird endlich richtiger unter der Form 
eines die Aussenwelt verarbeitenden Instrumentes aufgefasst; und 
deckt auch diese Vergleichung den Tatbestand nicht, so ist sie 
doch ein sehr grosser Fortschritt gegenüber jener Annahme einer 



XXXVI Verfälschung der Wirklichkeit durch die logischen Funktionen, 295 

Identität vom Denken und Sein — eine Annahme* welche für die 
eingehendere logische Analyse einen völlig undenkbaren Nonsens 
in sich schliesst. Ist die Annahme einer totalen Identität von 
Denken und Sein daher undenkbar, so stössi die entgegen- 
gesetzte Annahme auf etwas Unerklärliches; nämlich — wenn 
die gedachte Welt nicht auf irgend eine Weise mit der wirklichen 
Welt übereinstimmen würde, so wäre es ganz unerklärlich, ein- 
mal wie die theoretischen Berechnungen (im weitesten Sinne des 
Wortes) schliesslich mit den Tatsachen übereinstimmen sollten, 
und sodann, wie denn unser auf Grund jener gedachten Weit 
entstehendes und sich nach ihr dirigierendes praktisches Handeln 
auch in der wirklichen Welt Erfolg haben könne. So ganz 
schlecht kann also doch das Instrument nicht sein, und selbst in 
dem denkbar ungünstigsten Falle, dass nämlich die ganze vor- 
gestellte und gedachte Welt ein in sich zusammenhängender und 
also ganz undurchbrech barer Kreis von Schein wäre — so wäre 
doch unser Denkinstrument so unbrauchbar nicht eingerichtet, 
wenn wir mit seiner Hilfe uns in unserer Scheinwelt so gut 
orientieren können, dass wir es in ihr zu einer leidlichen Zu- 
sammenstimmung bringen, und da wir denn ja doch auch zu- 
gleich Glieder der wahren Seinsreihe wären und auf solche ein- 
wirken würden, so müsste doch jedenfalls jene Scheinwelt sich 
immer mit dieser Seinswelt einigermassen decken. Demnach 
wäre unser Denken doch nicht so unzuverlässig, und wenn es 
uns auch nur bis zu einer in sich zusammenhängenden Schein- 
welt und bis zum Bewusstsein einer solchen brächte — dies ist 
im Wesentlichen der Kantische Standpunkt — so dürfen wir mu 
diesem Instrument noch ganz zufrieden sein, wenn es auch nicht 
zur Erkenntnis der wahren, objektiven Seinswelt eingerichtet 
sein sollte, 

Der wahre Kritizismus oder logische Positivismus 
gibt vorurteilsfrei und kalt an die Untersuchung des Denkinstru- 
nientes. Mit dem logischen Pessimismus emanzipiert er sich von 
dem kindlichen Aberglauben an die Macht und unbeschränkte 
üiltigkeit des Denkens, und mit dem Optimismus hält er an 
dem Faktum der schliesslichen, praktischen Obereinstimmung von 
Denken und Sein fest. Die kostbare Frucht jenes Pessimismus 
aber ist die Gewöhnung, in den Denkgebilden zunächst nur 
subjektive Produkte zu sehen und, anstatt mit dem Dogmatiker 
zu verlangen, man solle ihre Realität so lange annehmen, bis 



296 Erster Teih Prinzipielle Grundlegung. D. Erkenntnistteore tisch es. 

ihre Ungiltigkeit bewiesen sei — ein Grundsatz, der praktisch 
wohl der allein brauchbare ist — dreht er die Richtung der 
Beweisführung um, und den juridischen Grundsatz: „Quisqtte 
pramtmatur mahis, äonec proheiur boniis" — nmtatis mutandis auf 
sein Gebiet anwendend, verlangt er, jedes logische Produkt und 
jede logische Funktion solle solange eben als das gelten, was 
sie zunächst allein ist, als bloss logisches Gebilde, und fordert 
für die Annahme der Realität eines jeden Denkgebildes und jeder 
logischen Form einen speziellen Beweis, Und dies ist theoretisch 
der allein gültige und brauchbare Grundsatz, 

Diese Ausführung war notwendig, um unsere Stellung zu 
bezeichnen, die wir gegenüber der bisher beobachteten Verände- 
rung und Fälschung der Wirklichkeit zu nehmen haben. Sie war 
um so notwendiger, als wir diese Veränderung und Zersetzung 
der Aussenwelt in immer steigendem Masse beobachten — eine 
Beobachtung, welche sich unmittelbar aufdrängt und die Frage 
aut die Lippen ruft: Wie denn doch trotz dieser Verfälschung 
der Wirklichkeit das Denken seinen Zweck erreicht, die 
Wirklichkeit aufzufassen und so zu bestimmen, dass ein prak- 
tisches Handein möglich ist? Zudem aber haben wir es auch 
überhaupt in dieser Untersuchung speziell mit solchen Denkge- 
bilden zu tun, welche als logische Falsifikate sich darstellen, 
und mittelst deren sich doch eine fruchtbare Erkenninis der Aussen- 
welt und eine ergiebige Behandlung derselben gewinnen lässt. 
Diese von der logischen Funktion getriebene Falsch- 
münzerei muss also doch wohl ihre Berechtigung und, ich 
möchte sagen* offizielle Erlaubnis baben> weil sie sonst nicht 
in so ausgedehntem Masse und in so fruchtbarer Weise ausgeübt 
werden könnte. Diesen Denkgebilden gegenüber gewinnen wir nur 
dann die richtige Stellung, wenn wir uns von dem gemeinen Aber- 
glauben an die Identität von Denken und Sein so emanzipieren, 
dass wir im Gegenteil kein Denkgebilde als real passieren lassen, 
das nicht einen speziellen Beweis dieser Realität zu geben ver- 
mag, und dass wir überhaupt die ganze wunderbare und reiche 
Tätigkeit der logischen Funktion mit etwas misstraui scheren Augen 
betrachten, wenn sich auch dieses Misstrauen nicht in einen ab- 
soluten Skeptizismus verwandeln darf. 



XXXVII. Dlt Kategorien aJs Fiktionen. 



297 



Kapitel XXXVIL 
Die Kategorien als Fiktionen 
nebst allgemeinen Ausführungen über den praktischen 
Zweck des Denkens/ 75 ) 

Nachdem wit nun gegenüber der gleich beim Beginn der 
logischen Prozesse beobachteten Veränderung und Verfälschung 
der Wirklichkeit durch das Denken Stellung genommen haben, 
fahren wir fort in der Analyse der elementaren und höheren 
Operationen, 

Zwischen der Aufnahme der Empfindungen in die Seele 
und ihre Prozesse, und der Auflösung der Begriffe und scbliess- 
lichen Denkgebilde wiederum in Empfindungen im praktischen 
Handeln und in der theoretischen Vergleichung der Denkrech- 
nung mit dem wirklichen Geschehen — zwischen diesen beiden 
Toren, dem Eingangs- und Ausgangstoren der Seele — liegt die 
psychische Welt mitten drinnen* Alles was zwischen jenen beiden 
Stationen vorgeht, gehört einzig und allein dem weiten Reiche 
der Seele an. 

Sobald die Empfindungen eintreten in den psychischen 
Prozess, werden sie, wie bemerkt* verarbeitet zu Anschauungs- 
bildern. 

Die Differenzierung des Empfindungschaos in „Dinge mit 
Eigenschaften*, in „Ganzes und seine Teile" u. s. w, ist eine rein 
subjektive Tat Dies sind ja nur Apperzeptionsformen, in denen 
die Empfindungen sich zusammenballen und verbinden* Wir be- 
trachten die Form des Dinges mit seinen Eigenschaften nähen 1 } 

Ehe die Kategorie des Dinges mit seinen Eigenschaften ge- 
staltend eintritt, besteht jede Anschauung aus einem Zusammen- 
hang von psychischen Elementen, aus einer mechanischen 
Konglomeraten, für welche eben nur die gleichzeitige Produktion 
verantwortlich ist. Die Psyche kann diese natürlichen Empfin- 
dungsverbindungen, welche eben rein mechanisch zusammen- 
geraten sind, erst im Verlaufe der Erfahrung als zusammen* 
gehörige entdecken, 3 } 



*) Im MS. = § IS. 

1) Auch von hier an schliessen wir uns wieder eng an Steinthals Em- 
leihitig in die Psychologie an, bes, pag 97 105ff, t 1H ff.. 118 ff. 
3) Vgl, Lotze, Logik pag. 3 ff. 



298 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. D. Erkenn tnls theoretisch es. 

Ob das Zusammentreffen dieser Vorstellungen in der Seele 
auf einem inneren Zusammenhang beruht, dies lehrt uns die Be- 
obachtung, indem sie uns zeigt, dass gewisse Empfindungen in 
derselben Verknüpfung immer wiederkehren* Eine ein- 
malige Gleichzeitigkeit oder unmittelbare Aufeinanderfolge der 
Vorstellungen bietet der Seele weder die Bürgschaft, dass sie 
zusammengehören und immer in derselben Weise wiederkehren, 
noch auch die Veranlassung, dies anzunehmen. Durch die 
häufige Wiederkehr derselben Vorstellungsverknüpfung da- 
gegen findet sich die Seele veranlasst, dies Ereignis als ein be- 
sonderes aus dem Chaos der Empfindungen herauszuheben. Wir 
glauben nicht, dass die Psyche ohne einen praktischen Zwang 
zu dieser Tat veranlasst worden wäre. Wir glauben im Gegen- 
teil, dass nur die Not im weitesten Sinne es war, welche aus 
der Psyche dann die Neigung hervortrieb, für jene bestän- 
dige Vorstellungsverbindung eine besondere Kategorie zu bilden. 
Wir verschieben die Schilderung der elementaren psychischen 
Prozesse, durch welche dieser Gesamiprozess sich vollzieht, auf 
späten Hier müssen wir in möglichster Kürze den Gang dieses 
Ereignisses verfolgen, Gegeben sind der Seele also ausser dem 
Material der Empfindungen als solcher noch die Zeitverhält- 
nisse, in welcher sie in dieselbe eintreten; der Rhythmus, in 
dem das Spiel der Empfindungen und Wahrnehmungen erfolgt* 
In dieser Zeitfolge der Empfindungen heben sich bald solche 
Empfindungsgrössen hervor, welche in dem Strom der Wahr- 
nehmung immer wieder in derselben Verknüpfung wiederkehren. 
Diese Wiederkehr kann in doppelter Form vorkommen, in SimuN 
taneität oder Aufeinanderfolge. Hier betrachten wir zunächst die 
simultanen Empfindungsverknüpfungen, Vor der Seele ziehen 
z. ß. die Wahrnehmungen von Gegenden vorüber, nachher Tiere, 
Pflanzen* altes dies in einem chaotischen Durcheinander, Aber 
wie auch der Fiuss der Wahrnehmung wechseln möge, stets kehrt 
wieder eine Vorstellungsverknüpfung gewisser Gestaltungsformen 
mit einer bestimmten Farbe: der Gestalt einer verzweigten Pflanze 
mit grünem Laube, Immer kehren diese Verknüpfungen wieder. 

Jene verzweigte Pflanze erscheint stets mit dieser Grün- 
empfindung verbunden. Diese bestimmte Empfindungsverknüpf- 
ung ist für die Seele zunächst zufällig; sie bleibt es aber nicht 
Aus nachher zu erörternden Motiven sucht die Psyche mehr da- 
hinter, als eine bloss zufällige Verknüpfung. Aus der Mechanik 



XXXVIL Die Kategorien als Fiktionen, 



299 



der Empfindungen springt die Form des Dinges mit seiner 
Eigenschaft hervor- Es entsteht das Ding: „Baum 1 ' mit der 
Eigenschaft; „grün". Die eine Empfind ungsgruppe — die der 
Gestalt — gilt als das Ding, die andere — das Grün — als 
die Eigenschaft, Es ist ungenau, wenn man bei diesem Vorgang 
schon behauptet (wie z, B. Steinthal a, a, CX 101): „hier wird 
der Baum als das Ding, als der Träger der Eigenschaften hinzu- 
gedacht" Soweit sind wir noch nicht; hinzugedacht wird hier 
allerdings etwas — nämlich das Verhältnis des Dinges zu 
seiner Eigenschaft; die einzelnen Glieder dieses Verhältnisses 
werden auf die verschiedenen Empfindungen verteilt Aliein da- 
mit ist die Sache noch nicht fertig; das Laub fällt ab — der 
Baum ist entblättert. Wie kann nun — nach diesem Vorgang — 
auf die Rest-Wahrnehmung der verzweigten Pflanze noch das 
Verhältnis des Dinges zu seiner Eigenschaft angewandt werden? 
Nur dadurch, dass das Sichtbare als Eigenschaft eines unsicht- 
baren Dinges gedacht wird. Nun wird also nicht nur das Ver- 
hältnis überhaupt (Ding und Eigenschaft) zu dem unmittelbar Ge- 
gebenen hinzugedacht, sondern es wird auch das Eine Glied des 
Verhältnisses ins Imaginäre hinausgeschoben und damit in eine 
reine Fiktion verwandelt» 

Man bemerke hier die Verschiebbarkeit, Verstelibarkeit der Kategorie: 
was das eine Mal als Ding gedacht wird, wird nachher als Eigenschaft ge- 
dacht; aus dieser Verschieb barkeit, welche allen Kategorien eigentümlich 
ist (so z. B, Ursache und Wirkung, Ganzes und Teile, Wesen und Erschei- 
nung), lässt sich auf die Subjektivität der Kategorien schliessen; und aus 
dieser Verschiebbarkeit lässt sich auch erklären, wie das eine Glied jenseits 
der Erfahrung hinausgeschoben werden kann, so dass das Erfahrungsmassige 
als das zweite Glied zu stehen kommt; so entsteht nämlich die Fiktion 
einer Substanz, welche jenseits derErfahrungsgegenstände bestehen soll; 
diese sind dann blosse attributa oder tnQdi jener Substanz ; so entsteht die 
Fiktion einer absoluten Ursache, deren Wirkung die Erfahrungswelt 
sein sotl, so entsteht die Fiktion eines Makrokosmos, dessen Teile die 
Erfahrungsgegenstände sein sollen, so endlich entsteht die Fiktion eine* 
absoluten Dinges an sich, das als B das Wesen* der Erscheinung zu 
betrachten sein soll — dies sind alles unberechtigte Übertragungslik- 
tionen, indem das Verhältnis, welches nur innerhalb der Erfahrung Sinij 
hat, über sie hinaus ausgedehnt wird ins Leere; formell gehören diese Fik- 
tionen zu den Failen der unberechtigten Übertragung (vgl, oben Kap, XII); es 
gehören dahin auch die Beispiele, wo mathematische Operationen auf solche 
Fälle ausgedehnt und übertragen werden, wo ihre Anwendung keinen Sinn 
mehr hat: z. B, die Radizierung im Fall von ^f— a. Wie durch die unbe- 
rechtigte Übertragung mathematischer Operationen die irrationalen und ima- 
ginären Zahlen entstehen, so durch die unberechtigte Ausdehnung kate- 



300 Erster Teil : Prinzipielle Grundlegung. Erkenntnistheoretisches* 

forialer Formen die Fiktionen einer absoluten Sub&tan2> einer absoluten 
Ursache, eines absoluten Ganzen und eines absoluten Wesens, im Gegen- 
satz zur Erscheinung. 

Die Fiktion der Substanz entsteht also, indem das eine 
Glied des Verhältnisses: Ding und Eigenschaft aus dem Gegebenen 
ins Nicht- Gegebene hinausgeschoben wird, ins Imaginäre, Ein 
anderes Beispiel wird diesen Vorgang klarer machen* In der 
Wahrnehmung ist immer wiedergekehrt die Em pfindungs Verknüp- 
fung des „Süssen 1 * und „Weissen*, es ist der beliebte Bestand 
des „Zuckers*, Die Psyche wendet also auf diese Verknüpfung 
die Kategorie des Dinges mit seiner Eigenschaft an: „Der Zucker 
ist süss". Hier erscheint aber noch als Ding das „Weisse", 
,$üss* ist die Eigenschaft, Die Seele bemerkt aber die Empfin- 
dung „weiss 1 * auch sonst: letztere löst sich ab als eine Eigenschaft 
in anderen Fällen, also wird auch m diesem Fall Weiss eine 
Eigenschaft sein, Nun lässt sich aber doch nicht mehr die Kate- 
gorie: Ding mit Eigenschaft darauf anwenden, wenn „süss" 
und „weiss* Eigenschaften sein sollen und sinnlich weiter keine 
Empfindung gegeben ist Hier kommt die Sprache zu Hilfe, und 
indem sie den Namen „Zucker" für die Gesamtwahrnehmung 
gibt, ist es ermöglicht, die einzelnen Empfindungen als Eigen- 
schaften anzusetzen* So rückt das „Ding" aus dem Kreis 
der wirklich wahrgenommenen Empfindungen hinaus 
und wird jetzt als ein besonderer Träger hinzugedacht 
(inivoeUai fiovov). Wir glauben nicht, dass sofort, wie das 
Steinthal schildert, das Ding selbst hinzugedacht wird, als das 
erste Glied des Verhältnisses, Zuerst wird das Verhältnis auf 
eine vorhandene Vorstellungsverknüpfung angewandt, und 
erst dann, indem allmählich alle Glieder als Eigenschaften 
betrachtet werden, macht sich die Notwendigkeit geltend, 
noch ein besonderes Ding als Träger zu den Eigen- 
schaften hinzuzudenken. Der Inhalt der Eigenschaften 
wird durch die Sinne geliefert, das Ding, als der Träger der 
Eigenschaften, ist jetzt ganz hinzugedacht; dass jene an den 
Sinn gelieferten Inhalte „Eigenschaften* sind, das ist eine 
Bestimmung, welche jenen Inhalten erst durch das Be- 
wtssstsein gegeben wird. 

Dem Denken in seiner ursprünglichen Tätigkeit erschein! 
dies als ein höchst unschuldiger P;ozess t Wir, auf dem Stand- 
ptinki der jetzigen Natur- und Weltanschauung, sehen darin abe^ 



XXXVH. Die Kategorien als Fiktionen 



301 



eine höchst bedenkliche Veränderung und Verfälschung der reinen 
Erfahrung. Wer autorisierte das Denken dazu, etwa zuerst 
.Weiss" als Ding, »Süss 1 * als Eigenschaft anzusetzen? Wer 
gab ihm das Recht, weiterhin sogar beides als Eigenschaften 
anzusetzen und ein Ding hinzuzudenken als ihren Träger? 
Weder in den Empfindungen selbst lag dazu das Recht, noch in 
dem, was wir jetzt als die Wirklichkeit betrachten. Wie verhält 
sich die Sache denn wirklich? Was sind jene Empfindungen, 
welche die Seele als Eigenschaften eines Dinges projiziert? Die 
Empfindungen, welche die Seele zu Eigenschaften eines objek- 
tiven Dinges machte, sie sind Vorgänge in der Seele selbst 
Jedenfalls aber hätte die Seele sehr willkürlich gehandelt, indem 
sie solchergestalt verfuhr; ihre reine Erfahrung sind nur Empfin- 
dungen, nichts als Empfindungen, 

Der Ansatz von Dingen mit Eigenschaften ist also 
eine Veränderung, welche den Tatbestand verfälschte. 
Wir nehmen vorläufig, aber auch nur vorläufig, die Metaphysik 
des Materialismus an, und sagen: objektiv existieren nur Atom- 
komplexe und Atom bewegu ngen; so fallen jedenfalls jene „Eigen- 
schaften" ganz hinweg; alle Eigenschaften, die wir ansetzen, 
bestehen nur in der Einwirkung solcher Atombewegungen 
auf uns. 

Hier erhellt nun aber auch, wie es möglich sei, dass die theoretisch 
falsche Annahme doch praktisch immer richtig sein kann; denn offenbar 
ist es für die Praxis ganz gleichgiltig, ob ich die Empfindung „Süss 11 als 
eine Eigenschaft des Dinges ansetze, oder ob ich sie als eine sub- 
jektive Empfindung betrachte, welche stets eintritt, sobald ein bestimmtet 
Atomkomplex in den Kreis meines Organismus eintritt; ob ich also d;s 
»Süsse" als objektive Eigenschaft oder als subjektive Empfindung ansetze, 
ist für die praktische Rechnung ganz gleichgültig. Ich denke ja zu jener 
Eigenschaft doch noch ein „Ding* hinzu, dem sie angehören soll; dadurch 
ist es praktisch gleichgültig geworden, welchen Ausdruck ich wähle. Da 
aber die Ausdrucksweise: *Der Zucker ist süss* viel bequemer und 
handlicher ist, als etwa der Ausdruck: „es gibt einen Empfmdungskomplex, 
mit dem die Empfindung „süss* unabänderlich verknüpft ist", so wär£ 
der erstere gewählt. Bei jener ersteren Ausdrucks weise wird das Subjek- 
tive einfach weggelassen. 

Aus der Mechanik der Empfindungen sprang jene Form: 
Ding und Eigenschaft heraus, welche doch nicht in den Emp- 
findungen selbst lag* Mag auch letzthin dieser Form eine 
gewisse Wirklichkeit entsprechen — uns interessiert hier nicht 
diese Frage, sondern wir machen hier die Beobachtung, dass die 



302 Erster Teil; Prinzipielle Grundlegung. D< Erkenntnis theoretisch es. 

Seele jenes Ding hinzudenkt, cäass sie die Empfindungen als 
Eigenschaften der Dinge ansetzt und einsetzt Damit ist nun 
die Denkrechnung eingeleitet: der Ansatz ist gemacht 

Wir müssen zunächst streng daran festhaken, dass das Ge- 
gebene nur Empfindungen sind, und dass alles weitere, was 
nicht blosse Empfindung ist — selbsteigene Arbeit der Seele ist 
Die kategoriale Verarbeitung der Empfindungen aber ist schon 
eine Veränderung der Erfahrung, eine Verfälschung der 
gegebenen Wirklichkeit Die Schöpfung der Kategorien geht 
durch mannigfache Prozesse hindurch, weiche zu schildern eine 
spezielle Aufgabe der Psychologie ist Hier interessiert uns zu- 
nächst das Resultat, dass sich durch Zerlegen und Hinzudenken 
eine Verwandlung des unmittelbaren Materials vollzieht, ein Re- 
sultat, welches sehr beträchtlich weiter führt, als die blosse Ver- 
einigung der Empfindungen in der Anschauung. Denn hier 
stehen wir schon im Gebiet des begrifflichen, diskursiven 
Denkens. Analyse, Vergleichung, Abstraktion und Kom- 
bination sind die psychischen Prozesse, durch welche jene 
theoretische Verarbeitung vor sich geht Es wurde schon früher 
darauf hingewiesen, dass alle diese Prozesse sich unbewusst voll- 
ziehen. Erst später geschieht diese Verarbeitung kunstmässig, 
und erst später löst man die Denkformen los vom Denkinhalt 
Diese Denkformen müssen aber auch schon vorher wirksam 
gewesen sein, denn sonst könnte die Form nicht vom Inhalte 
getrennt werden. Im gemeinen Bewusstsein sind also Kategorien 
tätig, von denen dieses Bewusstsein selbst nichts weiss* Ver- 
mittelst dieser Kategorien oder Formen wird die begriffliche* 
diskursive Erkenntnis geschaffen. Die Begriffe sind also die 
Instrumente, die Denkmittel, vermittelst welcher das Denken die 
Erkenntnis schafft. Schon darin liegt ja, dass den Begriffen in 
der Wirklichkeit nichts entsprechen kann. Das Mittel kann nicht 
dasselbe sein, wie sein Gegenstand, sein Zweck. 

Soweit im allgemeinen Steinthal, dem wir hier in den meisten 
Ausführungen gefolgt sind. Es ist indessen hier gleich eine Be- 
merkung einzuschieben; allerdings stellen die Kategorien den Wert 
dar, den jeder einzelne begriffliche Faktor für die sogenannte Er- 
kenntnis des Wirklichen hat Allein es ist darauf aufmerksam zu 
machen, dass mit der blossen Einfügung, Subsumtion der Emp- 
findungen unter die Kategorien noch gar keine Erkenntnis 
gewonnen ist. Zwar die Psyche bat, wenn eine solche Sub- 




XXXVIt Die Kategorien als Fiktionen. 



303 



sumtion vollzogen ist, nicht bloss ein Lustgefühl, sondern auch 
den Eindruck des Begreifens. Dieses Begreifen besteht aber nur 
in der Subsumtion unter die Kategorien, ein ärmliches Resultat, 
wenn man bedenkt, dass damit eben faktisch nichts gewonnen 
ist Jahrhunderte lang begnügte sich die Menschheit mit solchem 
Schein der Erkenntnis: besonders Aristoteles und das Mittelalter 
glaubten durch blosse Subsumtion unter bereitstehende oder er- 
fundene Kategorien Erkenntnis zu gewinnen; rein formell ge- 
nommen ist es auch ein Fortschritt Aber eine Erkenntnis in 
unserem heutigen Sinne ist das nicht Der Erkenntniswert dieser 
Kategorien ist daher gleich Null 

Was ist denn aber dadurch gewonnen? Wir müssen das 
prüfen. Es wird sich zeigen, dass diese Art von begrifflicher 
Erkenntnis als Mittel zu praktischem Handeln sehr hohen 
Wert hat, dagegen gar keinen eigentlich wissenschaft- 
lichen Erkenntniswert Der Irrtum der Menschheit bestand 
aber immer darin, auch in das Mittel Wert hineinzulegen, 
der doch einzig und allein in dem liegt, was durch das Mittel 
erreicht wird. 

Gegeben sind dem Bewusstsein nur Empfindungen; indem 
es ein Ding hinzudenkt, dem diese Empfindungen als Eigen- 
schaften angehören sollen, begeht das Denken einen kolossalen 
Irrtum! Es hypostasiert die Empfindung, die doch nur ein Pro- 
zess ist, zu einer seienden Eigenschaft; es schreibt diese »Eigen* 
schaft* einem „Dinge" zu, das entweder eben nur in dem 
Komplex der Empfindungen selbst besteht, oder gar von dem 
Denken noch zu dem Empfundenen hinzugedacht wird* Man 
mache es sich doch klar, dass, wenn das Denken einen Empfin- 
dungskomplex unter die Kategorie von Ding und Eigenschaft 
subsumiert, es einen ungeheuren Fehler begeht Wo ist 
denn das „Süss**, das dem Zucker zugeschrieben wird? Es be- 
steht ja nur in dem Empfindungsakte; und wo ist denn der 
„Zucker", der „weiss*, süss", »hart* und „fein" sein soll, dessen 
„Wesen" darin bestehen soll? Das Denken setzt eben den 
Empfindungskomplex zweimal; erstens als Ding, zweitens als 
Eigenschaft Gegeben ist ihm nur die eine Empfindungsreihe, 
aus dieser macht es zwei ganz verschiedene Begriffswerte: erstens 
ein Ding, zweitens seine Eigenschaften. 

Indem das Denken dies tut, verändert es nicht nur die un- 
mittelbare Empfindung, es entfernt sich auch immer mehr von 



304 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. D, Erkenntnistheoretisches. 

der Wirklichkeit, es verstrickt sich immer mehr in seinen eigenen 
Formen. Vermittelst seiner „Einbildungskraft 1 *, um diesen un- 
wissenschaftlichen Ausdruck zu gebrauchen, hat es sich ein Ding 
ersonnen, welches eine Eigenschaft haben soll. Jenes Ding ist 
eine Fiktion; jene Eigenschaft ist als solche eine Fiktion; 
das ganze Verhältnis ist eine Fiktion, 

Noch mehr. Indem die logische Funktion die beiden Glieder 
des Verhältnisses isoliert, vergrössert sie jenen Fehler. Das 
Verhältnis zerfällt in isolierte Momente; das Ding wird isoliert; 
seine Eigenschaft wird von ihm als getrennt, als trennbar ge- 
dacht Es muss zugestanden werden, dass die logische Funk- 
tion hier eine Reihe von Willkurlichkeiten und Fehlern 
sich zu schulden kommen lässt. 

Jene isolierten Momente und Elemente drängen aber zu der 
Verbindung zurück; sie drängen zur Vereinigung; denn sie sind 
ohne Vereinigung ein Widerspruch, eine Spannung. Der Wider- 
spruch ist ein psychisches Spannungsverhältnis. Dies ist hier der 
Fall. Es besteht ein Widerspruch zwischen dem als isoliert ge- 
dachten Ding und seiner isoliert gedachten Eigenschaft Denn 
was soll das „Ding" sein ohne „Eigenschaft*, was die „Eigen- 
schaft 41 ohne »Ding 41 ? Die Spannung löst sich im Urteil: „Der 
Zucker ist süss". Das ist, sagt Steinthal, der Ausdruck einer 
begrifflichen Erkenntnis; 1 ) hier sei ein Erkennen, ein Wissen. 
— Aber was ist denn damit, mit dem Urteil gewonnen, ausser 
der blossen Subsumtion unter die leere Kategorie? Immerhin 
etwas: Das Denken hat hier seinen ersten Fehler gut ge- 
macht Es hatte zuerst die Empfindung verdoppelt in ein Ding 
und seine Eigenschaft, es hatte Eigenschaft und Ding getrennt. 
Nun wird im Satze Beides wieder verbunden. 

Man sagt gewöhnlich: in einem solchen Satze ist ein Wissen, 
eine Erkenntnis ausgesprochen. Dies scheint uns zu viel gesagt. 
Zwar die Spannung is't gelöst, der Widerspruch zwischen dem 
Ding und seiner Eigenschaft ist (scheinbar) entfernt durch die 
Gleichsetzung, aber damit ist weiter nichts als ein subjektives 
Lustgefühl erreicht Faktisch ist damit nichts erreicht für die 
Erkenntnis, aber um so mehr für den praktischen Gebrauch. 
Man betrachtet diese ganze Bewegung der logischen Funktion 
gewöhnlich viel zu sehr vom Erkenntnisstandpunkt aus. Allein 



l) Vgl a.a.O. pag. 106-108. 



XXXVJJ, Die Kategorien als Fiktionen. 



305 



einmal ist darin noch gar keine faktische Erkenntnis erreicht, und 
sodann diente dieser ganze Prozess auch gar nicht diesen theore- 
tischen Zwecken; sondern er erfüllte praktische Zwecke. Erstens 
ist dadurch nämlich die Mitteilung in ausgiebigem Masse er- 
möglicht: denn wie hätte der Empfindungskomplex sonst mitgeteilt 
werden sollen? Eine Mitteilung war nur möglich, wenn das 
Mittel der Mitteilung, das Wort, zuerst einen ganzen solcben 
Empfindungskomplex ausdrückte, und dann ein neues Wort 
einen Teil desselben als Eigenschaft besonders hervorhebt, 
derart, dass diese Verdoppelung im Satze gleichsam zurück- 
genommen wird. Der Trennung entspricht hier eine Vereini- 
gung, Sowohl der Begriff als der Satz dienen also nur als 
Mittel der Mitteilung; andere noch anzugebende Zwecke sind die 
Ordnung in der Psyche und — kann man noch hinzufügen — 
die durch diese Ordnung vergrösserte Erinnerungsmögltch- 
keit. Als drittes kommt der Zweck des ErkUrens, Begreifens. 
Was es mit der Erreichung dieses Zweckes auf sich habe, wurde 
oben gesagt: der Zweck wird erreicht, aber wie! Die Seele 
-erhält den Eindruck, etwas begriffen zu haben, indem sie ihre 
fiktiven Kategorien auf die Empfindungskomplexe anwendet; und 
die Anwendung derselben schreitet dann weiter so vor sich, dass 
sie sie auch da anwendet, wo sie noch weniger Sinn haben als 
bisher: das ist dann die „symbolische" Anwendung der Kate- 
gorien. 1 ) 

Also sowohl Begriff als Urteil sind rein nur als Mittel zu 
praktischen Zwecken zu betrachten. Das Denken fingiert ein 
Ding, dem es seine eigenen Empfindungen als Eigenschaften 
anhängt; mit Hilfe dieser Fiktion arbeitet es sich heraus aus 
dem Meer der anstürmenden Empfindungen. 

Wir haben hier sogleich Verschiedenes zu merken: die Fik- 
tion hat einen praktischen Zweck, aber sie ist theoretisch wertlos, 
ja widerspruchsvoll. Denn es gibt kein Ding, welches die Eigen- 
schaft hat, „süss" zu sein; dieses *Ding H i&t in sich selbst ein 
Widerspruch; es ist ein ganz widerspruchsvolles Gebilde: es soll 
ein von den Eigenschaften getrenntes, davon zu unterscheidendes 
Wesen sein; und doch kennen wir es nur durch diese Eigen- 
schaften, Aber die Aufstellung dieses fiktiven -Dinges hat 
«inen enormen praktischen Wert; es ist gleichsam der Nagel, 



1) Vgl. Stadler, Grundsätze der reinen Erkenntnistheorie, § 152. 

20 



306 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. D. Erkenntnistheoretiscnes. 

an welchen die Empfindungen als Eigenschaften gehängt werden. 
Ohne seine Aufstellung wäre es dem Denken gar nicht möglich 
gewesen, in dem Wirrwarr der Empfindungen Ordnung zu schaffen. 

Und diese Aufstellung des Dinges wäre nie möglich gewesen 
ohne Mithilfe der Sprache, welche für das Ding ein Wort hergibt, 
und welche den Eigenschaften besondere Namen gibt. An das 
Wort heftet sich nun jener Wahn* es gäbe ein Ding, welches 
Eigenschaften habe: das Wort gestattet die Fixierung des Irrtums, 1 ) 
Die logische Funktion hebt aus dem allgemeinen Fluss des Ge- 
schehens und Empfindens einen Empfindungskomplex heraus, 
fingiert ein Ding, dem diese Empfindungen, die doch die 
Psyche aHein hat t als Eigenschaften angehören sollen. AHein 
Ding, Eigenschaft und das Urteil, in dem sie kopuliert werden, 
sind lauter Veränderungen des Wirklichkeitsbestandes, sind Fik- 
tionen, d. h, sind — Irrtümer, aber fruchtbare Irrtümer. 

Dieser Irrtum macht sich aber zunächst nicht bemerkbar* 
Der Satz, das Urteil und die anderen Fiktionen: Ding und Eigen- 
schaft erfüllen nicht nur den Zweck leichter Mitteilung eines 
Empfindungskomplexes, sie scheinen auch zunächst mit der Wirk- 
lichkeit ubereinzustimmen. Das projizierte Ding scheint ja in 
jedem Moment wieder zur Wahrnehmung bereit zu liegen; und 
seine Eigenschaften behält es ja zunächst. 

Die Widersprüche "und Irrtümer, welche in dieser sinnlichen 
Weltanschauung enthalten sind, machen sich erst später bemerk- 
bar und fordern dann zur Umarbeitung der Anschauung auf: 
allein diese immanenten Widersprüche verhindern nicht nur nicht, 
dass diese Formen und Formeln Jahrtausende lang den inneren 
(psychischen) und den äusseren Verkehr vermitteln, sondern sie 
verschwinden selbst dann nicht, wenn man sie als widerspruchs- 
volle Irrtümer eingesehen hat, sie sind dann nicht etwa bloss un- 
schädlich als Reste früherer Anschauung, sondern sie sind sogar 
und bleiben absolut notwendig zur Mitteilung und zum 
Zweck logischer Ordnung: so sind sie aus unwillkürlichen 
fiktiven Gebilden zu bewussten, wissenschaftlich als not- 
wendig erkannten Fiktionen geworden. 

Das Urteil ist ein Rechnungsansatz des Denkens, mit dem 
es das praktische Handeln voraus berechnen kann* Obwohl 
es kein Ding gibt, welches z. B. i,süss ist", so schadet diese 

1) Vgl Avenarius, Philosophie etc. § 93. 



XXXVIL Die Kategorien als Fiktionen. 



307 



Formel nicht nur nicht dem praktischen Handeln, sie ermöglicht 
es sogar allein- Der Grund hiervon kann einzig und allein darin 
liegen, dass die begangenen Fehler auf irgend eine Weise un- 
schädlich gemacht werden; und bis zu einem gewissen Punkte 
ist es möglich, die Weit so zu betrachten, als ob es Dinge gäbe, 
welche Eigenschaften haben. Die Fiktion hält bis zu einem 
gewissen Punkte Stand, weil diese Denkbewegung so einge- 
richtet ist, dass sie immer wieder mit dem Geschehen zusammen- 
trifft; dem Urteil: das Ding hat diese oder jene Eigenschaft — 
entspricht ja immer ein Empfindungskomplex, zu dem sich jenes 
Ding beliebig hinzudenken lässt. 

Das Resultat dieser ganzen Betrachtung ist also, dass das 
Denken, um vorwärts zu kommen, einen Kunstgriff gebraucht; 
es fingiert ein Ding, schreibt diesem Eigenschaften zu 
und verbindet beide Momente im Urteil, Das Denken würde, 
dies ist hier das Bemerkenswerte, nicht vorwärts kommen 
ohne diese Fiktion eines Dinges; es kann in dem Wirrwarr 
der Empfindungen sich nur auf diese Weise orientieren, sich vor- 
wärts bewegen. Allein tatsächlich sind „Ding tf und „Eigenschaft" 
nur logische Fiktionen, nur Mittel, welche das Denken anwendet, 
um vorwärts zu kommen, um den Erkenntnisprozess einzuleiten. 
Der Irrtum besteht, wie schon bemerkt, darin, in solchen logischen 
Mitteln Selbstzwecke zu sehen und daher ihnen einen selbstän- 
digen Erkenntniswert zuzuschreiben. Sie sind aber nur logische 
Kunstgriffe zur Erreichung der oben mehrfach genannten Zwecke. 
Man muss nur nicht immer sofort den Zweck des logischen Den- 
kens im Erkennen suchen: der erste Zweck des logischen 
Denkens ist ein praktischer, die logische Funktion dient der 
Selbster?] alt« ng. Erst ein sekundärer Zweck ist die Erkennt- 
nis: sie ist gewissermassen nur das Abfallprodukt der 
logischen Funktion. Diese dient in erster Linie dem prak- 
tischen Zwecke der Mitteilung und des Handelns. Zugleich aber 
erzeugt die Betätigung dieser logischen Funktion ein Lustgefühl, 
welches sich als Wissen, Begreifen, Erklären äussert: erst der 
fortgeschrittene Mensch macht dieses Lustgefühl, welches die 
logische Funktion zunächst nur begleitet, 2um Selbstzweck, 
Es ist daher auch ganz falsch, in den ersten Produkten der 
logischen Funktion eigentliche Erkenntnisprodukte zu suchen- 
mit der Aufstellung des Begriffs und Urteils ist faktisch gar nichts 
erreicht: eigentliche Erkenntnis ist bekanntlich nur Einsicht in die 



20* 



308 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung, D, Erkenntnis! heoretisches, 

notwendigen Aufeinanderfolgen und Gleichzeitigkeiten des Ge- 
schehens. Alles andere ist scheinbares Erkennen. Die Um- 
Setzung des Empfind ungsmaterials in die begriffliche 
Form erzeugt gar keine eigentliche Erkenntnis, sondern 
nur ein Lustgefühl, welches jenen Schein des Erkennens erregt 
und umgekehrt durch jenen Schein des Erkennens erzeugt wird. 

Ganz dasselbe ist der Fall mit allen anderen Kategorien, 
durch welche das diskursive Denken geleitet wird; das Ganze 
und seine Teile, die Ursache und ihre Wirkung, das Allge- 
meine und sein Besonderes. Alles dies sind nur begriffliche, 
logische Fiktionen, mit denen absolut keine Erkenntnis im strengen 
Sinne des Wortes hervorgebracht wird. Diesen Standpunkt hat 
insbesondere Avenarius in der mehrfach genannten Schrift ver- 
treten und begründet. Die intellektu anormalen Apperzeptionen 
fassen das wirklich Gegebene durch gewisse Formen unseres 
* Verstandes" auf. Hier besteht „die Beeinflussung in dem Zu- 
satz von Bestimmungen, welche nicht in dem wirklich Gegebenen 
enthalten sind, sondern durch den Erfahrenden hinzugedacht 
werden; somit sind diese „Erkenntnisformen" nur anthropomor- 
phistische Apperzeptionen" (s, § 56 der genannten Schrift), 

Während also das wissenschaftliche Denken in seiner heutigen 
Gestalt geröde die Intellektualformen, d. h. die Kategorien nicht 
als Mittel des Begreiiens anerkennt, sind sie für die sinnliche 
Weltanschauung von jeher massgebend und Mittel des Begreifens 
gewesen: die Menschheit hat Jahrtausende daraui verwandt, die 
Empfindungskomplexe nach rein äusserlichen Merkmalen in jene 
Fächer einzuteilen — und diese Arbeit hat, wenn auch keinen 
theoretischen, so doch ihren praktischen Wert gehabt 

Avenarius betont in seiner Darstellung nur die Wertlosigkeit der 
Intellektualformen für das Erkennen und Begreifen und vernachlässigt 
den hohen praktischen Wert derselben: er begeht damit denselben 
Fehler wie Hume, der nur einseitig nachweist, dass die Kategorien 
theoretisch wertlos seien, aber nicht zeigt, dass und warum sie praktisch 
wertvoll, notwendig und unentbehrlich sind. Diese fergänzung, die wir 
tmuufügeri, besteht mit anderen Worten darin, dass wir den Begriff 
der Fiktion auf die Kategorien anwenden, aber nicht den Begriff 
der Fiktion, den Hume hat (und der auch für Avenarius besteht, obwohl 
er das Wort nicht gebraucht), dass nämlich die Kategorien nur Ein- 
bildungen sden. Für uns steht es vielmehr lest, dass sie praktisch 
wertvolle Hilfsbegriffe und Hilfsformen sind. Der Betonung der 
theoretischen Wertlosigkeit ist also als Ergänzung die Betonung der 
praktischen Unentbehrlich keil hinzuzufügen. 



XXXVIT. Die Kategorien als Fiktionen. 



309 



Wie wenig sicher nun aber die Einreibung des Gegebenen 
in die verschiedenen kategorialen Formen ist, zeigt sich darin, 
dass die Empfindungskomplexe oft ganz nach Belieben in das 
Eine oder Andere jener Fächer eingereiht werden können. Aber 
das, was wir heutzutage Erkenntnis heissen, wird durch solche 
Subsumtionen nicht erreicht; ob ich weiss, dass dies oder jenes 
eine Eigenschaft eines Dinges ist, dass dies oder jenes ein Teil 
eines Ganzen ist, dass dies oder jenes ein Besonderes einer all- 
gemeinen Klasse ist, ja selbst ob ich weiss, dass dies oder jenes 
eine „Wirkung* jener „Ursache" ist — dies alles ist nach den 
heutigen geklärten Begriffen eben nur eine subjektive Ord- 
nung der Empfindungskomplexe nach diesen Kategorien. 
Man wundert sich vielleicht, auch den Kausalzusammenhang hier 
als eine leere Form zu finden, welche keine Erkenntnis schaffen 
soll: nun jwir denken, Hume, Kant und Mill haben genugsam 
bewiesen, dass damit für das Begreifen gar nichts erreicht wird. 
Ursache und Wirkung sind eben so gut Fiktionen, wie die drei 
erstgenannten Verhältnisse, Gegeben ist uns immer nur ein Vor- 
gang, ein Prozess; wenn wir das Vorhergehende Ursache, 
das Folgende Wirkung nennen, so ist damit im Grunde 
nichts erreicht als ein Antbropomorphismus. 

Dass dies sich so verhält, lässt sich auch daraus noch 
schliessen, dass alle logischen Prozesse anfänglich nur den prak- 
tischen Zwecken gedient haben, und dass erst der vorgeschrittene 
Mensch die Umsetzung der Empfindung in Kategorien selbst 
zum Gegenstand einer eigenen Bezweckung gemacht hat: 
darin Hegt eben, dass der Zweck der logischen Funktion voll- 
ständig durch jene, das Handeln und die Mitteilung ermöglichende 
Umsetzung der Empfindung in Kategorien, erreicht ist, und dass 
alles andere, was diesen Zweck überschreitet, aus dem Mittel 
einen Selbstzweck macht, damit aber auch dem Organ viel mehr 
zumutet, als es leisten kann. Die Folge davon ist der Skeptizis- 
mus. Wenn das Begreifen Selbstzweck des Denkens wäre, so würde 
zu sagen sein, dass dieser Zweck ja doch gar nicht definitiv erreich- 
bar ist. Der Skeptizismus entsteht aber natürlich dadurch, dass man 
dem Denkorgan zu viel zumutet: der natürliche Mensch ist vollständig 
zufrieden mit der Umsetzung der Empfindung in Kategorien: diese 
Umsetzung ermöglicht das Handeln in seinem weitesten Umfang, 
also auch inklusive der Mitteilung an Andere. Nun verlangt der 
„Philosoph* noch eine weitere, immer weitere Umsetzung der 



310 Er&teTTetl; Prinzipielle Grundlegung* D. Erkenn tnisrheoretisches. 

Empfindung in immer andere Kategorien und dieser Kategorien 
selbst in immer höhere Denkformen — und doch kann das 
Denken, die logische Funktion, nicht über ihre Grenze hinaus. 
Der ^Philosoph* (als Typus dieser Forderung) hat in den elemen- 
taren Umsetz ungsiormen der Empfindung in Kategorien ein Lust- 
gefühl des Begreifens empfunden — dies will er stets fort- 
setzen; allein, sobald einmal der natürliche Kreislauf des Denkens, 
von der Empfindung zu den Begriffen, von den Begriffen zurück 
zur Empfindung vollendet ist, kann das Denken absolut nichts 
weiter leisten. 

Kant hat nachgewiesen, dass die Kategorien nur auf die 
Erfahrung anwendbar sind — dieser Nachweis ist ein anderer 
Ausdruck dessen, was wir behaupteten* Alle jene Umsetzungen 
haben ursprünglich nur einen praktischen Zweck Die Kategorien 
sind nichts als bequeme Hilfsmittel, um die Empfindungs- 
massen zu bewältigen: weiter haben sie ursprünglich keinen 
Zweck. Sie sind entstanden aus diesem praktischen Bedürfnis, 
und die Zahl und spezielle Art derselben war bestimmt durch 
die verschiedenen Äusserungsformen des Seienden, denen sich 
die Psyche mit diesen Formen anpasste — aber oft recht 
äusserlich. 

Begreifen ist ein aus der empirischen Umsetzung der 
Empfindung in Kategorien uns wohlbekanntes Lustgefühl; es ist 
ganz sinnlos, dieses Lustgefühl über seine möglichen 
Grenzen ausdehnen zu wollen. Wenn BegieiEen faktisch 
nur in dieser Umsetzung besteht, wenn diese Umsetzung ein 
Kreislauf ist — so ist es ganz unsinnig, über diese Um- 
setzung selbst hinauszugehen und da das Lustgefühl des Be- 
greifens holen zu wollen, wo *eine solche Umsetzung gar nicht 
mehr stattfindet Der Wunsch, die Welt zu begreifen, ist 
nicht bloss ein unerfüllbarer, er ist auch ein törichter 
Wu n s cb. Der psychische Zustand des Begreifens ist uns 
immer nur bekannt geworden, wenn eine Einreihung, eine 
Einkleidung in die Uniform jener Kategorien gelungen war. 
Dieses Lustgefühl also weiter ausdehnen zu wollen, die Kate- 
gorien selbst begreifen zu wollen, ist ein törichter Wunsch. 
Die Wissenschaft führt eben schliesslich nur auf unabänder- 
liche Successionen und Koexistenzen: hier ist nichts „Be- 
greifliches* mehr: das Wort , Begreifen" hat hier gar keinen 
Sinn mehr. 



XXXVII. Die Kategorien als Fiktionen. 



311 



Das Begreifen der Welt ist also ein widersinniger Wunsch: denn 
alles Begreifen besteht in der faktischen oder bloss eingebildeten Reduktion 
auf Bekanntes; worauf soll denn nun aber dieses Bekannte selbst redu- 
ziert werden, zumal da sich schliesslich dieses „Bekannte" doch als ein 
„Unbekanntes" herausstellt? Wenn es auch gelingt, alles Geschehen auf 
Atembewegungen zu reduzieren, so ist damit die Welt doch nicht be- 
griffen; denn einmal sind Atome selbst ein Eingebildetes, und sodann ist 
die „Kausalität 11 selbst ja auch wiederum nur eine subjektive und fiktive 
Denkform- Versucht man aber das Physische aur psychische Elemente 
zu reduzieren, so kommen wir hier wieder bei einem letzten^ in sich 
seihst Unbegreiflichen an; es est unbegreiflich, weil es nicht von einem 
Anderen mehr apperzipiert werden kann, Alles Begreifen ist Appempieren: 
sobald also etwas da ist, was nicht mehr apperzipiert werden kann, so 
ist dieses unbegreiflich, Entweder kommt man bei der Welterklärung auf 
ein Letztes, dann ist dieses nicht mehr apperzipierbar, also unbegreiflich; 
oder man versucht weiter zu apperzipieren, so fuhrt dies auf neue fiktive 
Apperzeptionen und so ins Unendliche fort. 

Somit ist die Welt selbst nicht begreiflich, nur wissbar. Die 
Philosophie kann nur ein Wissen der Weit, nicht ein Begreifen der- 
selben hervorbringen, und zwar ein Wissen der Welt in ihrer nackten; 
Reinheit, mit Zerstörung alier subjektiven AufFassungsformeji und Zutaten 
und mit der bewussten Erkenntnis der Fiktionen als Fiktionen, d. h, als 
notwendiger, brauchbarer, nützlicher Hilfsbegriffe. Die Welt als Ganzes 
„begreifen" zu wollen, ist ein törichter Wunsch: töricht nicht in dem 
Sinn, als ob der menschliche Verstand dazu zu unvollkommen sei, sondern 
in dem Sinn, dass jeder, auch ein übermenschlicher Geist die 
letzten für uns konstatierbaren Wirklichkeiten einfach als Gegenstand des 
Wissens hinnehmen muss: sie noch begreiten zu wollen, ist ein in sich 
widerspruchsvoller, also törichter, kindlicher Wunsch, Die Kategorien 
besonders Ursache (ebenso Zweck) haben nur eine zweckmässige Ver- 
wendung inne-rhaf b des gegebenen Emptindungsmatenals; auf das Ganze 
desselben angewendet, verlieren sie jeden praktischen, so auch jeden 
theoretischen Wert, und erzeugen nur Schein prob lerne, wie z. B, die 
Frage nach der Ursache oder auch nach dem Zweck des Weltgeschehens. 

Diese Betrachtungsweise des Denkens und der logischen 
Arbeit allein ist geeignet, die Stellung derselben richtig zu be- 
urteilen» Indern die logischen Produkte eben nur als Mittel zu 
einem praktischen Zweck betrachtet werden, sinkt die abgöttische 
Bewunderung der logischen Formen sehr herab; die logischen 
Produkte erscheinen uns nicht mehr als Offenbarungen 
des Wirklichen, sondern rein als mechanische Hilfsmittel 
des Denkens, um sich vorwärts zu bewegen, um seine prak- 
tischen Zwecke zu erreichen, Und indem wir somit die logischen 
Funktionen und Produkte als blosse Mittel betrachte^ bahnt 
dies uns den Weg, sie als Fiktionen aufzufassen, d. h- als Denk- 



312 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. D- Erkenntnis theoretisch ei 



bildungen, als Denkgebilde, welche, von der Wirklichkeit ab- 
weichend und ihr sogar widersprechend, doch von dem Denken 
erfunden und eingeschoben werden, um seine Zwecke 
rascher zu erreichen. 



Kapitel XXXVIII. 
Die Kategorien als analogische Fiktionen,*) 

Wir haben somit bisher schon recht die fiktive Tätigkeit der 
Seele erkannt; sie verändert nicht bloss den Empfind ungsstöff> 
sondern sie denkt auch Dinge als Träger der Eigenschaften hinzu. 
Damit fingiert sie etwas; sie fingiert „Dinge", sie fingiert 
„ Eigenschaftsverhältnisse", 

Somit kann die elementarste Tätigkeit des Urteilens 
nicht ohne die fiktive Tätigkeit derSeele bestehen. Das- 
selbe wie bei dem Eigenschaftsverhältnis ist aber auch bei den 
anderen Kategorien der Falh Das Hinzudenken eines Ganzen 
zu den einzelnen wahrgenommenen Teilen ist ganz dieselbe 
Tätigkeit Auch hier wird der Empfindungskomplex doppelt ge- 
dacht Erstlich werden die Empfindungsverknüpfungen im Ganzen 
zusammen als Eines, wiederum als ein Ding gedacht; ausserdem 
die Teile, die Elemente, aus denen das Ganze zusammengesetzt 
wird. Auch hier ist also eine Verdoppelung* Derselbe Kom- 
plex wird zweimal gedacht als Ganzes und als Teile, Die 
Empfindungen werden als Teile aufgefasst, und ausserdem wird 
noch ein Ganzes hinzufingiert. Genau wie beim Eigenschafts- 
verhältnis der ganze Empfindungskomplex als Ding heraus- 
gesetzt und dann an ihn die einzelnen Empfindungen als Eigen- 
schaften angehängt werden, so wird hier der vorhandene 
Empündungsstoff verdoppelt, und dem Ganzen werden die 
einzelnen Empfindungen als seine Teile zugesprochen, und doch 
existiert ein solches Ganzes nirgends. 

Im Satz, im Urteil wird das Getrennte wieder verbunden 
und damit der Fehler wieder gut gemacht (vgl. oben S. 213 die 
Methode der entgegengesetzten Operationen), Nur durch diese 
Verbindung im Urteil wird nun überhaupt ermöglicht, dass der 



*) Im ms. = § 14, 



XXXVIU. Die Kategorien als analggisehe Fiktionen. 



313 



:n der Aufstellung jenes Begriffsverhältnisses begangene Fehler 
unschädlich gemacht wird; indem die aufgerissene Kluft wieder 
geschlossen wird, wird der Fehler zurückgenommen. Die Auf- 
stellung des Dinges, dem Eigenschaften, — des Ganzen, dem 
Teile gegenüberstehen, ist ein deT Wirklichkeit zuwiderlaufender 
Schritt Das Denken fühlt sich in Spannung versetzt, indem es 
wohl merkt, dass es ja ohne jene Eigenschaften, ausser jenen 
Teilen kein Ding, kein Ganzes gibt: im Urteil wird dies aus- 
gesprochen. Da nun faktisch das Denken hier die von ihm auf- 
gerissene Kluft selbst wieder schliesst, wird dadurch ermöglicht, 
dass das ganze Urteil auf die Dinge anwendbar ist, obwohl doch 
seine einzelnen Momente ohne entsprechende Repräsentanten 
in der Wirklichkeit sind» Die objektiven Seinsverhältnisse lassen 
diese logische Behandlung zu, solange die gemachten Fehler 
gutgemacht werden: das' Urteil findet in der Wirklichkeit 
keinen Widerspruch, aber die einzelnen Teile desselben: 
es gibt ja kein Ding, keine Eigenschaften, kein Ganzes, keine 
Teile: aber wenn dann die gemachten Fehler im Urteil rück- 
gängig gemacht werden, verschwindet praktisch der Fehler; 
theoretisch bleibt er natürlich bestehen. 

Es ist nun hier hervorzuheben, dass solcher Kategorien un- 
bestimmt viele denkbar sind; man kann wohl sagen, dass ur- 
sprünglich die Psyche eine viel reichere Kategorientaf el 
besass als heutzutage, und dass die heutige Kategorien- 
tafel nur das Produkt einer natürlichen Selektion und 
Anpassung ist. Es lassen sich solche Spuren ehemaliger Kate- 
gorien in allen Sprachen nachweisen; und die heutigen Kategorien 
weisen ja auch ganz deutlich auf ihren Ursprung hin, Es sind 
kurzweg Analogien; a priori sind aber sehr viele Analogien 
möglich, und solche wurden historisch auch angewandt. Die 
Kategorien sind nichts als Analogien, nach denen die objektiv 
geschehenden Vorgänge erfasst werden. 

Die Kategorien sind also keineswegs ein angeborener Be- 
sitz der Seele, sondern sie sind im Lauf der Zeit angewandte 
und ausgewählte Analogien, nach denen die Geschehnisse er- 
fasst werden. Woher die Analogien genommen wurden, ist nicht 
schwer zu erraten; aus der inneren Erfahrung. Das Ding 
und seine Eigenschaft — ist der abstrakte Ausdruck des primi- 
tivsten Eigentumsverhältnisses; die Seinsverhältnisse werden be- 
trachtet, als ob sie Dinge wären, welche als , Eigentum* diese 



314 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung, D, Erkenn tnistfieoretischfiS. 

oder jene „Eigenschaft* 1 hätten. Es ist Sache der Etymologie, 
dies weiter nachzuweisen, z, B. bei dem Ganzen und seinen 
Teilen, dem Allgemeinen und dem Besonderen. Höchst wahr- 
scheinlich wird sich dann auch nachweisen lassen, dass den- 
selben Kategorien in verschiedenen Sprachen ganz ver- 
schiedene Analogien zu Grunde liegen. Wir müssen also 
die bisher vorläufig gemachte Annahme, dass die logische Funk- 
tion diese Formen aus sich selbst heraustreibe, dahin modifizieren 
und restringieren: die Empfindungsverhältnisse legen es der 
togiscben Funktion nahe, verschiedene Analogiebeziehlingen zu 
denken. Die logische Funktion macht die Entdeckung, dass die 
Empfindungsmassen sich viel leichter übersehen und ordnen 
lassen, wenn dieselben nach gewissen Analogien gedacht werden, 
Unter den Empfindungsverhältnissen tritt Eins als sehr prägnant 
hervor; ihm werden alle anderen, so weit es geht, subsumiert. 
Geht es nicht mehr, so kommt eine andere Subsumtion an die 
Reihe; ursprünglich waren es sicher viel mehr solcher Analogie- 
verhältnisse; allein durch die natürliche Tendenz, möglichst wenige 
zu haben, wurden die nicht recht passenden eliminiert und die 
passenden immer feiner und abstrakter Man muss sich aber 
nur nicht durch die abstraktive Höhe dieser Kategorien täuschen 
lassen; Fragt man sich selbst und Andere nach der eigentlichen 
Bedeutung derselben, so schlupft doch schliessJich irgend eine 
sinnliche Analogie heraus* 

Nun lässt sich allerdings denken, dass in diesem Anpassungs- 
prozess solche Analogien gefunden wurden, welche am ehesten 
dem objektiven Sein * entsprechen \ Was heisst aber hier „ent- 
sprechen"? Man kann höchstens sagen, dass die Zahl und Art 
der schliesslich übrigbleibenden Kategorien gewissen wieder- 
kehrenden Typen des Seins und Geschehens „entspreche". 
Je mehr diese Typen aufeinander reduziert werden, desto besser. 
Schliesslich bleiben dann immer nur einige wenige übrig. Darin, 
dass diese objektiven Typen aber von uns zusammengefasst unt 
unter gewisse Analogien gebracht werden, ist faktisch für das 
Erkennen nichts erreicht Jene Typen sind objektiv nur ge- 
wisse Knotenpunkte, in denen sich die wirklichen Beziehungen 
schneiden; wir fassen diese oft wiederkehrenden Typen auf unc 
zusammen und kleben ihnen die glänzende Etikette irgend einer 
Analogie auf. Weil nun aber diese Analogien aus der inneren 
Erfahrung genommen sind, können sie wirklich eine Zeit lang 



XXXVtfL Die Kategorien als anatomische Fiktionen, 



315 



den Schein des Begreifens und Erkennens erzeugen, weil uns 
tben die eigene, seelische Welt bekannt ist und darum begreiflich 
erscheint Aber wie lange hält dies vor? 

Es ist nun interessant zu beobachten, wie die grossen 
Oesamtweltanschauungen sich im Laufe der Zeit an einzelne der 
Kategorjen-Analogien angeschlossen haben: die Systeme des 
Dinges, der Substanz mit ihren Attributen (Spinoza), des Ganzen 
und seiner Teile, des Allgemeinen und seiner Besonderungen 
(Hegel) haben wir untersucht, und als reine Begriffssysteme 
erkannt» Natürlich ist dasselbe auch der Fall mit dem System der 
mechanischen Kausalität: kein vernünftiger Mensch giaubt 
mehr mit den Worten „Kraft*, „Wirkung", „Ursache", etwas zu 
begreifen. Es ist natürlich, dass diese letzte Analogie sich auch 
historisch zuletzi unter allen noch erhält, weil sie eben am be- 
greiflichsten erscheint, weil sie diejenige Analogie ist, die dem 
Menschen am nächsten liegt Heutzutage zweifelt kein Philosoph 
mehr daran, dass er damit nichts sagt. 

Es liegt in dem Prozess der Bildung der Kategorien selbst, 
wie er oben skizziert wurde, — dass in ihnen die Seele nur zeit- 
weise ausruhen kann, und sich dem süssen Wahne des Begreifens 
und Begriffenhabens hinzugeben vermag. Die Sachen stehen 
eben einfach so, dass die Psyche allmählich alle ibr zu Gebote 
stehenden Analogien erschöpft; jedesmal aber wird das betreffende, 
auf diese Analogie-Kategorie gestützte System besonders durch 
zwei Umstände wieder gestürzt: erstens, weil sich eben die 
Weltverhältnisse nicht alle unter diese Analogie bringen und 
zwingen lassen, und sodann, weil schliesslich die Analogie doch 
selbst als das Ewig-Unbegriffene dasteht- Die Systeme der Philo- 
sophie teilen sich ganz einfach ein nach den Kategorien, weiche 
in ihnen zum Prinzip gemacht sind. Das ist aber ganz natürlich 
nach dem Bisherigen: alles Begreifen, fanden wir, ist reine Sub- 
sumtion unter Kategorien; das Gesamtbegreifen in einem Systeme 
kann auch nichts Anderes sein. So werden allmählich alle Kate- 
gorien erschöpft, bis die Menschheit einsieht, dass sie sich im 
Kreise gedreht hat Dann geht man wieder auf die einfachen 
sinnlichen Empfindungen zurück. Der Materialismus geht aber 
keineswegs auf die reine Erfahrung zurück. Seine Begriffe, 
mit denen er operiert, „Kraft" und „Stoff", sind auch solche 
Analogien: „Kraft* 1 ist eine Analogie auf Grund einer inneren 
Erfahrung; der „Stoff aber (der nur eine äusserliche Spiegelung 



316 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. D. Erkenntnis theoretisch es, 1 

des Ich ist) wird immer mehr aufgegeben und in Kräfte aus- 1 
und aufgelöst „Stoff* 1 ist schon ein durch die Dingkategone ! 
verwandelter Empfindungskomplex. 

Daraus ergeben sieb nun verschiedene wichtige Folgerungen. 
Unsere obige Ansicht, dass die Fiktionen keinen theoretische- \ 
Erkenntniswert haben, ist bestätigt. Alle diese Kategorien sind ! 
Analogien, sind Anwendungen eines zwar analogen, aber do:- ! 
schliesslich unpassenden Verhältnisses auf die objektiven Verhak ! 
nisse; und solche Analogien, bei denen die Erfahrungskomplexe 
so betrachtet werden, als ob sich das Sein ähnlich ver- 
halte, sind reine Fiktionen. Es wird alles Geschehen nach 
diesen Analogien gefasst, weiche sich immer mehr verEeinem. 
und zu abstrakten Begriffen verflüchtigen, welche immer mehr 
mit Recht als analogische Fiktionen erkannt werden. Dem- 
nach, wenn die Kategorien keinen theoretischen Wert haben, sondern 
nur praktischen — zur Ordnung, Mitteilung, zum Handeln — 
so können die philosophischen Weltsysteme auch keinen anderes 
Wert haben, und sie haben historisch auch niemals einen anderer, 
gehabt Alles dadurch erreichte Begreifen war nur psychische 
Illusion. Die Fiktionen haben aber faktisch keinen anderen als 
praktischen Zweck, und alle auf diese elementaren Fiktionen 
aufgebauten Systeme sind nur feinere, ausgebildetere Fik- 
tionen, denen niemals ein theoretischer Wert zuzuschreiben ist 
welche aber alle jene Merkmale an sich tragen, die wir bis jetzt 
an den Fiktionen kennen gelernt haben; sie sind theoretisch wert- 
los, aber praktisch wichtig. 

Alle Philosophie, welche mit den Kategorien oder mit einer 
derselben unbefangen operiert, ist Dogmatismus. Skeptizis- 
mus ist die Entdeckung, dass damit nichts erreicht wird, und 
die sich auf alles Erkennen erstreckende Verzweifelung, weiebe 
sich dann auch auf die praktischen Zwecke des Denkens aus- 
dehnt und auch diese ganz willkürlich als unerreichte hinstellt 
Es ist aber vor? dem theoretischen Zweck zu unterscheiden der 
praktische Zweck der logischen Funktionen; sobald sich der 
Zweifel auf diese erstreckt, ist der Skeptizismus unberechtigt 
also an dem Zweck, den die allgemeine Anwendung der Kausa- 
ütätskategorie erfüllt — Ordnung zu schallen, darf nicht gezweifelt 
werden; der Zweifel abpr ist insofern berechtigt, als es sich heraus* 
stellt, dass durch diese Kategorien eben nichts erkannt ist, dass sie 
nur Analogien sind, mit denen schliesslich nichts Rechtes gesagt 



XXXVIir Die Kategorien als analogische Fiktionen. 317 



«ird. Der Kritizismus sieht die Ursachen davon, indem er eben 
die Kategorien als blosse Analogien durchschaut, als von dem 
Denken erfundene, aufgestellte Fiktionen, um die Emp- 
midungsmassen zu ordnen und sich die Illusion des Begreifens 
and Erklärens zu verschaffen. Der Kritizismus weist ferner 
cach, dass diese Analogien selbst aber unbegreiflich und 
schliesslich schon aus viel zu komplizierten Gebieten gegriffen 
sind. Selbst die brauchbarste Analogie, die Kausalitätskategorie, 
welche sich allein aus dem Ruin bis heute in die Wissenschaft 
hinübergerettet hat, entstammt einem viel zu hohen Gebiet, um 
schon als Erklärung dienen zu können; sie entstammt dem Ge- 
biet der inneren Erfahrung, des Handelns — dies aber ist das 
Produkt eines äusserst komplizierten Wesens. Wir gebrauchen 
denn auch bekanntlich heutzutage die Ausdrücke nur symbolisch, 
um eben bloss ein unabänderliches Successionsverhältnis damit 
zu bezeichnen. An sich würde jedes andere Successionsverhältnis 
denselben Dienst leisten, wie dieses von „Ursache und Wir- 
kung* 1 , welches nur der abstrakte Ausdruck ist für Wille und 
Handlung; und es ist rein konventionell, für das unab- 
änderliche Successionsverhältnis diese Namen zu ge- 
brauchen; wie bemerkt, jede andere Bezeichnung würde den- 
selben Dienst leisten; das Begreifen würde dadurch keinen 
Fortschritt, aber auch keinen Rückschritt machen. Man könnte 
z. B, die Ursache „Vater*, die Wirkung „Sohn" nennen, die Sache 
bliebe dieseEbe. Diese Bemerkung führt uns zu unserer obigen 
Bemerkung zurück, dass ursprünglich viel mehr Kategorien be- 
standen hätten, dass die obige Beziehung: »Vater und Sohn" 
auch als Kategorie bestand, davon ist der Ausdruck „trzeugen" 
der Beweis, Unsere Kategorie wäre nur ein spezieller Fall 
der allgemeinen; der Vater gilt als Ursache des Sohnes, obgleich 
dies eine höchst oberflächliche Bezeichnung ist; allein ursprünglich 
waren wahrscheinlich viele solcher gleichlaufenden parallelen 
Kategorien vorhanden, welche sich schliesslich auf einen gemein- 
samen Typus konzentrierten. Die dichterische Sprache bewahrt 
jene früheren Kategorien auf und erhält dadurch den sinnlichen 
Effekt: z, B. die Sonne, der Tag gilt als Vater des Abends. So 
entsteht der Mythus. Die Wissenschaft, wenn sie mit ihren Kate- 
gorien rechnet, schlägt im Grunde auch nur diesen Weg ein: 
denn Ursache ist nur der verfeinertste Ausdruck jenes Abhängig- 
keitsverhältnisses; faktisch haben wir eben nur unabänderliche 



318 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. O. Erkenntnistheoretische*. 

Zeitfolge- Alles, was wir tun können, um diese zu „begreifen' 1 , 
besteht in der Reduktion auf eines derselben, welches uns klar er- 
scheint: so Handlung als unabänderliche Folge des Willens, 
oder so z, B, Ursache als Grund, Wirkung als logische Folge 
gedacht, lu beiden ist dieselbe unabänderliche Folge, Alles dies 
sind reine Analogien. Beobachtet sind einzig und allein die 
unabänderlichen Successionen und Koexistenzen, welche wir als ; 
Kausalitäts- und Inhärenzverhälinis apperzipieren, ohne damt: \ 
mehr zu tun, als die Sache in einer anderen Sprache zu \ 
wiederholen. Die Sache scheint uns nun begreiflicher; nur 
der simple Dogmatiker lässt sich heutzutage dadurch täuschen* 
Das Denken gebraucht alle diese Kunstgriffe, um seine praktische - 
Zwecke zu erreichen. Einer dieser Zwecke ist auch eben die Lust j 
des „Begreifens", Jahrtausende lang begnügt sich der Mensch \ 
damit und fühlt eine grosse Lust bei diesen unschuldigen Subsum- j 
tionen, ganz so wie ein Kind vor Freude dabei aufjauchzt 

Man kann dies bei Kindern bekanntlich sehr gut beobachten, wie sie 
das Lustgefühl des Begrelfens haben> wenn ihnen ein Ding und dazu der 
Name genannt wird. Die Bezeichnung der Successionsverhältnisse mit V r- 
Sache und Wirkung ist ein ähnlicher Vorgang; es fest sich auch mit dem 
bekannten psychischen Vorgang vergleichen, dass nämlich eine Bezeichnung 
durch ein Wort aus einer anderen Sprache eine grössere Haltbarkeit und einen 
grösseren Nachdruck erhält; so ist eben „Kausalität" nur eine Etikette, eine 
Analogie, gleichsam die Bezeichnung eines Verhältnisses mit einem Wort aus 
einer anderen Sprache, aus einem anderen Gebiete. Der psychische Effekt des 
Begreifeiis und Begriffenhabens ist allemal nur eine Illusion, nur ein Schein, 

Der Erwachsene lässt sich aber dadurch nicht befriedigen 
oder sollte sich wenigstens dadurch nicht befriedigen lassen, wie 
das Kind und der Kindliche, Der Mensch merkt immer mehr, 
dass das ^Begreifen* eine Illusion, dass das Leben und Handeln 
auf Illusionen beruht und auf solche führt, Er fühlt sich als der 
Gefoppte und wird verstimmt Dies ist der Ursprung des Pessi- 
mismus, Die Psyche fühlt sich durch das Erreichte in jeder 
Hinsicht unbefriedigt, weder die Zwecke des Handelns, noch die 
des Denkens scheinen ihr erreicht. Aber sie sind erreicht, so- 
weit sie überhaupt berechtigte Zwecke sind- Der Pessimismus 
entspringt aus einer idealistischen Überspannung der Ansprüche. 

Daraus ergeben sich mehrere Stadien der theoretischen Illusion 
je nach den Apperzeptionslormerj, welche zum „Begreifen 8 angewandt 
werden, bis sich schliesslich das Illusorische aJJer dieser Seelen- 
Bewegungen herausstellt und die Psyche sich auf die reine Erfahrung, 
also den kritischen Positivismws, zurückzieht 



XXXVH1. Die Kategorien als an alogische Fiktionen. 319 

Also aller Dogmatismus besteht darin, mit jenen Kategorien 
zu hantieren und dabei zu glauben, dadurch etwas erreicht zu 
haben. Kant hat ein für allemal nachgewiesen, dass darin der 
Dogmatismus bestehe. 

Nur in einem hat Kant sehr gefehlt; er glaubt, es gebe eine 
prädestinierte Anzahl von Kategorien. Wenn die Kate- 
gorien auf die von uns angegebene Weise entstanden sind — 
nämlich als besonders prominente Analogien, nach denen die 
verschiedenen Successioaen am passendsten gedacht werden, so 
liegt auf der Hand, dass solcher Analogien eine unbestimmte 
Anzahl möglich ist Durch eine natürliche Selektion haben sich 
nun diejenigen erhalten, welche zu jenem Zweck am passendsten 
sind, und hier ist natürlich, dass keine bestimmte Anzahl sich 
herausgearbeitet hat, sondern im Gegenteil, dass die Zahl der- 
selben schwankt, und dass, während manche in voller Aktion 
stehen, manche andere nur noch rudimentär erhalten sind. Der 
eigentliche Boden, auf dem dies nachzuweisen ist, ist die Sprache. 

Heutzutage sind nur zwei dieser Kategorien noch in wirk- 
licher lebendiger Anwendung: einmal Ding und Eigenschaft, 
sodann Ursache und Wirkung. Man geht aber immer mehr 
damit um, jene erstere ganz zu eliminieren und alle Eigenschafts- 
verhältnisse auf Kausaütätsbeziehungen zu reduzieren. Allein auch 
diese letztere Reduktion wird von den hervorragendsten Geistern 
nur noch als ein Hilfsmittel betrachtet, um uns eine subjek- 
tive Klarheit zu verschaffen und eine gewisse Ordnung der 
Phänomene zu ermöglichen. Immer mehr drängt die Wissen- 
schaft dahin, alles Geschehen in reine mathematische Be- 
ziehungen 1 ) aufzulösen, wodurch zwar der reine Tatbestand 
unverfälscht zur Darstellung kommt, aber natürlich alles das auf- 
hört, was wir gewöhnlich „Begreifen" nennen. Das Begreifen 
ist eben eine Subsumtion unter die Kategorien; wo diese Sub- 
sumtion aufhört, hört auch die Begreiflichkeit in gewöhnlichem 
Sinne auf* 



1) VgJ. Laas a. a. 0- pag. 233, 



320 Erster Teil; Prinzipielle Grundlegung D. Erkennfnistheoretiscfcca, 



Kapitel XXXiX. 
Praktische Zweckmässigkeit der kategorialen Fiktionen,*) 

Nach rein „psychomechanischen* Grundgesetzen der Ver- 
bindung, Verschmelzung, Verflechtung, Assoziation u. s. w t bildet 
sich im Fiuss der Vorstellungen sozusagen ein Knotenpunkt: 
also z. B, die Kategorie des Dinges und seiner Eigenschaft — 
eine Kategorie, welche ursprünglich auf einer ganz sinnlichen 
Analogie beruht Diese Kategorie wird immer mehr verfeinert, 
abstrakter gemacht, bis säe sich als eine ablösliche Form dar- 
stellt, deren Genesis aus rein sinnlichen Verhältnissen indessen 
noch nachweisbar ist. Hier haben wir nun ein eklatantes Bei- 
spiel der instinktiven, unbewussten Zweck tätigkeit der 
Psyche, Wir können von dem ausgehen, was dadurch erreicht 
ist, und nachweisen, wie die Psyche diesen Zweck erreicht hat, 
obgleich wir diese teleologische Ableitung nur heuristisch gelten 
lassen. Es ist eine Möglichkeit damit gegeben^ in dem wilden 
Wirrwarr eindringender Empfindungen Ordnung zw schaffen und 
eine, wenn auch oberflächliche Rubrizierung zu gewinnen. 
Dass diese aber nur eine künstliche und provisorische ist, springt 
in die Augen: denn die fortgeschrittene Wissenschaft hat ja voll- 
auf damit zu tun, diese vorläufige Einteilung des Seins und Ge- 
schehens wieder aufzuiösen und durch ganz andere Bestimmungen 
zu ersetzen. Zweitens wird dadurch die Möglichkeit der Mit- 
teilung erreicht Wir setzen hier die Entstehung der Sprache 
voraus und bemerken nur dies, dass die Mitteilung eines Vor* 
ganges oder eines Eindruckes in verständlicher Weise nur mög- 
lich war durch diese Bildung einiger weniger Kategorien; indem 
das Geschehende und Seiende in dieselben gebracht wird, gibt 
der Mitteilende eine dem Anderen bekannte Analogie an, welche 
sofort in ihm eine Vorstellung von dem erweckt, was der Mit- 
teilende zu sagen hat Das hängt mit dem dritten Punkte zu- 
sammen, dass nämlich dadurch ein Begreifen erzeugt wird, 
d.h. in unserer Auffassung ein Schein des Begreifens, indem das 
Geschehende und Seiende nach einer bekannten Analogie gedacht 
wird. Der ungeheure Druck der eindringenden Empfindungen 
wird dadurch gemildert und die Spannung dieser Eindrücke ge- 
hoben, indem dieselben in verschiedene Provinzen abgeteilt werden, 

*) Im MS>^§15. 



XXXIX, Praktische Zweckmässigkeit der kategorialen Fiktionen, 321 

Ich bemerke hier gleich, dass dies in extenso nur möglich war 
durch die Sprache: an das Wort knüpft sich die Kategorie an, 
das Wort wird abstrakter und verliert die sinnliche Färbung, 
Darum wirkt die Sprache befreiend und lösend auf die Psyche, 
weil eben nur durch sie jene Einteilung des Seienden in die 
Kategorien möglich ist 1 ) Endlich war aber auch dadurch die 
Berechnung des Handelns möglich. Die Psyche steht dem 
Fluss des Seienden und Geschehenden nicht mehr hilfslos und 
passiv gegenüber, sie ist nicht bloss auf Reflexwirkungen angewiesen, 
sondern indem sich die Bilder auf jene Weise ordnen und nach 
Kategorien verteilen, kann die Psyche deren Wiedereintritt be- 
rechnen und danach ihr eigenes Handeln einrichten* Diese Mög- 
lichkeit beruht aber wesentlich auf der Möglichkeit der Erinne- 
rung, und diese selbst ist in hohem Grade erleichtert durch jene 
Rubrizierung des Seienden unter jene willkürlichen Kategorien, 

„Indem der Mensch*, sagt Lotze (Logik pag. 7), „den Baum 
und seine Belaubung unter diesen Gesichtspunkt rückt, lässt er 
diese Beziehung, welche zwischen einem Dinge und seiner Eigen* 
schaft bestehe, als den Rechtsgrund erscheinen, der sowohl die 
Trennbarkeit als die Verbindung beider Vorstellungen rechtfertigt* 
u. s. w. Lotze sagt wohlweislich ^bestehe"; darin liegt eben das 
Zugeständnis, dass das Denken damit nur eine subjektive Hand- 
lung vollzieht welche für die Erkenntnis des Wirklichen gar 
keinen Wert hat. 

In unserer Schilderung sind zwei Momente wohl zu unter- 
scheiden, einmal die Behauptung, dass die Psyche zu praktischen 
Zwecken jene Kategorien einschiebe, unter welche dann 
sämtliche Erscheinungen subsumiert, von denen sie apperzipiert 
werden, und sodann der Nachweis, wie diese Einschiebungen 
aus dem psychologischen Mechanismus entstanden sind. 

Jene Kategorien sind keine Formen, denen etwas Objektives 
entspräche; es sind Verbindungen des Denkens* die wohl aui 
Anlass objektiver Beziehungsverhältnisse gebildet sind, die aber 
rein subjektiven Ursprungs sind und absolut keinen wirklichen 
Erkenntniswert besitzen, Diese Rubrizierung der Geschehnisse 
unter die Kategorien gehört zu jenen Umwegen, die der Wahr- 
heit selbst gleichgültig, aber dem sie Suchenden unver- 
meidlich sind (Lotze), 



l) Vgl. Steinthal a. a. 0. pag. 363, 



21 



322 Erster Teil : Prinzipielle Grundlegung. D T Erkenntnis theoretisches. 

Somit haben wir hier einen wichtigen Fall der imagina- 
tiven Tätigkeit der Seele, welche in den Verlauf der Vor- 
Stellungen Fiktionen einschiebt, die gar keine objektive Be- 
rechtigung haben- Zugleich aber haben wir den Weg gezeigt, 
auf welchem jene Formen erzeugt werden: es sind Analogien, 
welche im Laufe der Zeit ihre ursprüngliche Sinnlichkeit verlieren 
und zuletzt zu reinen Formen werden. 

Noch Mehreren ist hierzu zu bemerken. Diese Formen der 
Vorstellungsverbindung sind, wie bemerkt, ursprünglich Ana- 
logien: die Succession und Koexistenz der Erscheinungen wird 
unter diesen Bildern, diesen Analogien apperzipiert. Ursprünglich 
könnte die Psyche nur sagen: diese oder jene Koexistenz von Er- 
scheinungen ist so aufzufassen, kann so aufgefasst werden, als 
ob sie sich verhielte, wie das Verhältnis eines Dinges zu seiner 
Eigenschaft* d> h. sinnlich: eines Besitzers zu seinem Eigentum 
— denn dies ist der sinnliche Boden dieser Kategorie, Und 
wo kein Besitzer, kein Ding zu sehen ist, da wird es hinzugedacht 
als unsichtbar, als das „Wesen". Allein dieses „Als ob" — die 
eigentliche Partikel der Fiktion — verwandelt die Psyche sofort 
in ein objektives, wirkliches Dass, Die Erscheinungen sind nun 
in diesem Verhältnis; der sinnliche Mensch nimmt daran keinen 
Anstoss. Somit ist die blosse analogische Fiktion zu einer 
Hypothese über die Beschaffenheit des Seienden geworden, 
und diese Hypothese wird nun für den sinnlichen Menschen zu 
einem unerschütterlichen Dogma. Also beginnt der Irrtum damit, 
jene reine Hilfsoperation des Denkens zu einer seienden 
Beziehung, zu einem objektiven Verhältnis zu stempeln. 
Dies geschieht zwar eigentlich erst von dem Philosophen; denn 
der sinnliche Mensch macht gar keine solche Reflexionen; für ihn 
bestehen diese Vorsteltungsweisen nur, um handeln zu können; 
ist ein objektives Geschehen in eine Kategorie eingereiht, so ent- 
steht das Lustgefühl des Begreifens, welches alle ohne Anstand 
vollzogenen Apperzeptionen begleitet. So lange dagegen eine 
Erscheinung nicht in jene Kategorie einreihbar ist, erregt sie eine 
psychische Spannung; wo z, B. eine Erscheinung nicht als Wir- 
kung der gewöhnlichen „Ursachen* aufzufassen ist, erregt sie 
Grauen und wird zum Wunder, Die ursprüngliche Rubrizierung 
der Dinge, d. h. der objektiven Geschehnisse unter diese 
Formen dmch den Menschen ist eine sehr oberflächliche und 
kritiklose; wie wenig diese Formen objektive Bedeutung haben, 



XXXIX. Praktische Zweckmässigkeit der kategorialen Fiktionen, 323 

erhellt daraus, dass dieselbe Succession oder Koexistenz unter 
verschiedenen Kategorien z, B. Ding und Eigenschaft, Ursache 
und Wirkung zu bringen ist. 

Trotzdem haben wir dieses Verfahren der Psyche als ein 
äusserst praktisches Hilfsmittel zu betrachten. Durch diese 
Reduktion der in die Psyche eintretenden Ereignisse unter wenige 
leicht begreifliche Analogieen wird eine Ordnung geschaffen, die 
Seele wird befreit von dem blossen Druck des eindrängenden 
Materials und hat Angriffspunkte zu seiner Bearbeitung gefunden. 
Durch diesen einfachen Kunstgriff ordnet sich plötzlich, me mit 
einem Schlag durch einen Zauberstab, die ungeordnete, chao- 
tische Welt: sie ist eingeteilt in Dinge mit Eigenschaften (ab- 
strakte Abbilder des Besitzers und seines Eigentums), in Ursachen 
und Wirkungen (abstrakte Reminiszenz an den Handeinden und 
seine Handlungen). 

In dieser auf diese Weise rein nur in der Vorstellung 
existierenden Welt kann nun der Mensch handeln, berechnen, 
leben, er hat ja die objektiven Erscheinungen auf Analogieen be- 
zogen, welche ihm selbst leichtverständlich erscheinen, 

Wir dürfen aber nicht vergessen* dass mit diesen Analogieen 
nur praktische Resultate gewonnen sind, und dass sie nur Fik- 
tionen sind, dass Dinge und Ursachen reine Vorstellungsge- 
bilde sind, welche in den Lauf der Vorstellungen eingeschoben 
werden. 

Diese so gebildete Vorstellungswelt ermöglicht immer mehr 
das Handeln: es ist aber wohl zu bemerken, dass jene Vor- 
stellungsgebilde: Ding, Eigenschaft, Ursache, Wirkung — ganz 
wegfallen, wenn der Zweck erreicht ist Mit Hilfe derselben war 
das Handeln erleichtert die Berechnung ermöglicht; allein wenn 
die gewünschten Empfindungen eingetreten sind, so verlieren 
jene begrifflichen Formen jeden Wert, Der Mensch will nicht 
„Dinge" haben } sondern er will den Eintritt gewisser Empfin- 
dungen. Die Fiktionen fallen, wenn sie auch theoretisch in uns 
haften bleiben, doch für die Praxis und in der Praxis heraus, 
wenn einmal das gewünschte Resultat erreicht ist. Nun lässt 
sich aber nicht leugnen, dass das Denken dies praktische Resul- 
tat nur auf Kosten seiner logischen Reinheit erreicht hat; die 
logische Funktion — diese besteht eben in jenen Prozessen — 
scheute die dadurch begangenen Fehler und Widerspruche nicht, 
Ein Ding mit einer Eigenschaft ist ein logischer Widerspruch; 

2r 



324 Erster Teil : Prinzipielle Grundlegung, D. Eritenntmstheoretisches. 

denn worin soll das Ding bestehen ohne seine „Eigenschaft"? 
Das Ding ist ein logischer Nonsens, die Eigenschaft ebenso: 
dieser logische Widerspruch findet seine Lösung im Urteil, wo 
beides als Eines verbunden wird, dadurch wird der Widerspruch 
praktisch unschädlich gemacht; denn die Psyche denkt sich ja 
dann das Ding und seine Eigenschaft nicht als getrennt, isoliert, 
sondern als verbunden, als Eins; jene Trennung wird aufgehoben, 
die Folgen jenes Widerspruchs werden damit für die Praxis ver- 
mieden. Denn die Psyche hat ja jetzt beides als verbunden 
gesetzt, wie es auch objektiv der Fall ist; objektiv ist eben nur 
gegeben eine unabänderliche Succession und Koexistenz von 
Phänomenen oder auch eine einzige Erscheinung oder Empfin- 
dungsgruppe. Die Trennung im ersten Fall in Ding und Eigen- 
schaft, die Verdoppelung im zweiten Fall wird also zurück- 
genommen, freiiich nur praktisch. Theoretisch bleibt der 
Widerspruch bestehen. 

Somit bewegt sich das Denken durch Widersprüche vor- 
wärts, eine Beobachtung, die wir schon mehrfach gemacht habett, 
Die Vorstellungsgebilde beharren in der Seele, auch wenn ihr 
Zweck erreicht ist; auch wenn vermittelst dieser logischen Pro- 
zesse die praktischen Zwecke erreicht sind, bleiben jene Formen 
als Residuen und Hüllen zurück. Diese Formen bildeten 
den Gegenstand der Philosophie, bis die Erkenntnistheorie sie 
als blosse Formen fiktiven Ursprungs und Wertes nachwies. 
Die psychologische Analyse zeigt sie als elementare, natürliche 
sinnliche Analogien auf, welche mit Hilfe der Sprache abstrakt 
geworden sind. 

Logisch betrachtet sind diese psychischen Gebilde Fik- 
tionen: sie sind keine Hypothesen Über die Beschaffenheit des 
Seins. Sie wurden freilich von vielen Philosophen dafürgehalten, 
bis die darin enthaltenen Widersprüche zeigten, dass diesen For- 
men nichts Objektives entspreche. Für den Kritizismus sind 
sie nur Fiktionen; d.h. Hilfsbegriffe, Hilfsvorstellungen, 
welche zur Apperzeption der Vorstellungen und ihrer Verhältnisse 
dienen, welche aber, ohne wahren Erkenntniswert zu besitzen, 
nur praktische Bedeutung haben. 



XL Die Kationen als imaginative Schöpfungen. 



325 



Kapitel XL, 
Die Kategorien als imaginative Schöpfungen.*) 

Kant hat die oben geschilderte Tätigkeit der Psyche einer 
transzendentalen Einbildungskraft zugeschrieben; wir kön- 
nen diese Ausdrucksweise zwar historisch begreifen, aber nicht 
mehr akzeptieren. Wir erkennen heule keine „Kräfte" der „Seele* 
an> sondern nur psychische Vorgänge, nur Prozesse und Formen 
dieser Prozesse* Aber die Bezeichnung Kants ist doch höchst 
bedeutsam: wir beobachten, dass die imaginative, fiktive Tätigkeit 
der Seele viel weiter reicht, als gewöhnlich geglaubt wird. 

Imaginative Tätigkeit der Seele können wir solche Prozesse 
nennen , in welchen die gegebenen Vorstellungen willkürlich 
verändert werden. Die Einbildungskraft, die Phantasie des Dich- 
ters besteht nur in solchen Prozessen, in denen die gegebenen 
Vorstellungen sich frei verbinden, Herbart nennt sie daher „frei 
steigende Vorstellungen tf . Damit ist aber nur ein äusserliches 
Merkmal bezeichnet, Das spezifische Merkmal dessen, was wir 
Imagination heissen, ist die willkürliche Verknüpfung der 
elementaren psychischen Gebilde. Wir haben hier das erste 
Beispiel dieser Tätigkeit vor uns gehabt: die gegebenen Vor- 
stellungen, welche die Seele erhält, nimmt sie nicht einfach hin, 
sondern sie trennt sie und verbindet sie von neuem nach Ana- 
logie gewisser weniger prominenter Beispiele. Sie verfährt also 
willkürlich mit dem dargebotenen Material: zuerst werden ge- 
gebene Vorstellungsverknüpfungen nach der Analogie besonders 
hervorragender Fälle betrachtet, und schliesslich denkt die Seele 
sogar „Dinge" hinzu, wo sie doch nur eben bloss Empfindungen 
hat Diese Dinge sind ganz nach Analogie des Ich gedacht. 
Es tnuss auch in diesem Gebiet an dem Grundsatz festgehalten 
werden, dass die Einbildungskraft nichts absolut Neues er- 
finden kann. Wenn wir daher mehrmals den Ausdruck ge- 
brauchen, „die Seele ine ans ihrem eigenen Fonds zu dem ge- 
gebenen Material Neues hinzu", so darf das auch nur relativ 
verstanden werden* Die eigentliche Quelle aller Analogien und 
Kategorien ist die eigene, innere Erfahrung. Das lebhafte 
Gefühl des Ich und seines Besitztums im weitesten Sinne de* 
Wortes gab zuerst den Anhaltspunkt, um koexistente Erschei- 
nungen nach diesem Bilde zu apperzjpieren; die Erfahrung des 



*) Im lf$. = § 16. (Die §§ IT— 21 sinJ ^gelassen* Vgl Ä 20 w. 2S6J 



326 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. D, Erkenntnistheoretisches. 

Willens und der ihm folgenden Wirkung gabenden Anlass zur 
Bildung der Apperzeptionsform der Kausalität, Und man mag 
die Kategorien noch so verfeinern und abstrakt denken — es 
bleibt eben schliesslich doch die sinnliche Analogie bestehen; 
was nicht in diese aufgeht, ist eben die reine, unbegrtffene Tat- 
sächlichkeit der Koexistenz und Successiom 

Somit besteht die Wirksamkeit der „Einbildungskraft*, um 
diesen handlichen, wenn auch nicht streng wissenschaftlichen 
Ausdruck festzuhalten, in der willkürlichen Verknüpfung der Vor- 
stellungen, in der Apperzeption derselben mit einer Analogie. 
Unabänderliche Koexistenzen werden gedacht nach dem Bilde 
des Eigentums, unabänderliche Successionen nach dem des Han- 
delns. Damit sind die gegebenen Empfindungen auf scheinbar 
Bekanntes zurückgeführt, und die fremde Welt nimmt scheinbar 
einen uns verwandten Charakter an. Und durch diese imagina- 
tive Subsumtion ist der dumpfe Druck gelöst, der auf dem emp- 
findenden Wesen liegt, solange es den Empfindungen passiv 
gegenübersteht Darum ist es vielleicht nicht unzweckmässig, 
zur Verdeutlichung dieser unserer Ansicht, sich etwa die niederen 
Tiere vorzustellen als unter dem dumpfen Druck der eindringen- 
den Empfindungen stumpf dahinlebend, gleichsam erliegend, bis 
der eigentlich befreiende Akt der Psyche in den höheren Orga- 
nismen und besonders mit der Sprache eintritt wo die Psyche 
so viel Freiheit gewonnen hat, die gegebenen Empfindungsver- 
bande nach Analogien der eigenen Erfahrung zu apperzipieren. 
Wie bemerkt, schafft also die Einbildungskraft endlich Freiheit 
und Erlösung; allein diese dadurch erzielte Lust des Begreifens, 
das Gefühl, die fremde Welt auf ähnliche begriffene Erscheinungen 
zu reduzieren, hält nur solange an, bis der Zweifel nicht erwacht; 
schliesslich zeigt sich, dass alle diese Formen keine annehm- 
baren Hypothesen über die Natur des Seins sind, sondern nur 
— Fiktionen, 

Der eigentlich falsche Schiuss, der hierbei zu Grunde Hegt, 
bat uns schon mehrfach beschäftigt. Er beruht auf folgendem 
Raisonnement; was ein richtiges Handeln ermöglicht, was eine 
zutreffende Berechnung ermöglich^ muss auch objektiv wahr 
sein, Da nun die Vorstellungsgebilde: „Ding*, „Eigenschaft" 
u. s. w. das Handeln ermöglichen und praktisch sich kein An- 
stand ergibt, wenn man mit ihrer Hilfe die Ereignisse berechnet 
hat, so sind sie auch wahr. Allein dieser Schluss von der Er- 



XL, Die Kategorien als imaginative Schöpfungen, 327 



giebigkeit einer Vorstellung in der Praxis auf ihre theore* 
tische Wahrheit ist sehr unlogisch und beruht auf falschen 
Beobachtungen. Die erste Prämisse ist eine reine päitio principii, 
sie soll ja erst bewiesen werden. Es lässt sich ebenso leicht 
denken, dass solche Vorstellungen nur subjektiv sind. Ausser- 
dem ist die zweite Prämisse der Ausdruck einer unvollkommenen 
Beobachtung. Was das Handeln und Berechnen schliesslich er- 
möglicht, ist nicht jene Apperzeption unter jene Formen, sondern 
die blosse Beobachtung der unabänderlichen Successionen und 
Koexistenzen. Nur diese reine Beobachtung ermöglicht das Han- 
deln, Dagegen ermöglicht jene Fassung der Erscheinungen in 
den Kategorien den Schein des Begreifen*, die Mitteilung, und 
vor allem den Ansatz der Denkrechnung selbst Das diskur- 
sive Denken verläuft in diesen Formen, weil eben ein Fortschritt 
des Denkens nur möglich ist, indem solche fiktiven Anknüpfungs- 
punkte geschaffen werden, 

Aber die Kategorien sind für die Menschheit schliesslich doch 
nur rein psychologische und mnemonische Hilfsmittel, wie sie 
beim Kinde in Anwendung kommen zur Erleichterung der Er- 
ziehung, Dass das Resultat des Denkens der Wirklichkeit ent- 
spricht, beruht darauf, dass die eigentlich wertvollen Elemente 
des Wirklichen, nämlich die unabänderliche Succession und Ko- 
existenz mit in das Denken aufgenommen sind unter den Bildern 
der Kausalität, der Substantialität u. s. w. Das eigentlich 
Wertvolle an den logischen Formen und Gesetzen ist aber 
immer nur das empirisch Beobachtete, nämlich das Vorhandensein 
unabänderlicher Successionen und Koexistenzen, nicht aber die 
spezielle Form, in welche diese Beobachtung gekleidet 
ist, nämlich die kategorialen Analogien, Diese sind nur Vehikel 
zur Einleitung und Führung des Prozesses der Vor- 
stellungsbewegung. 

Somit ist dieser Prozess nur möglich auf Grund der Ima- 
gination, der Einbildungskraft Die Psyche erweist sich also als 
relativ schöpferisch in diesen Formen, in dieser auf freier Be- 
nutzung und Umwandlung des Gegebenen beruhenden Schöpfung 
von Kategorien. Die Einbildungskraft ist somit ein konstitutives 
Element des Denkens, und wir sehen, dass sie in der Wissen- 
schaft, d. h. dem organisierten Denken, eine ganz andere Rolle 
spielt, a!s man gemeinhin glaubt 



Zweiter Teil. 
Spezielle Ausführungen. 



§ i. 

Die künstliche Einteilung.*) 

Als eine der wichtigsten und fruchtbarsten fiktiven Methoden 
ist die künstliche Einteilung zu betrachten. Dieser scharf- 
sinnige Kunstgriff, durch den unübersteigbare Hindernisse wenig- 
stens für einige Zeit ganz beseitigt werden, und welcher die Über- 
windung dieser Hindemisse bedeutend vorbereitet, ist auch einer 
der am häufigsten eingeschlagenen Umwege des Denkens, Die 
künstliche Klassiiikation vertritt die Stelle der natürlichen, da, wo 
diese selbst wegen besonderer Schwierigkeiten nicht möglich ist; 
ja, wo eine solche sogar an sich unmöglich ist, wird ein Gebiet 
von Phänomenen doch durch eine künstliche Klassifikation zu 
praktischen Zwecken eingeteilt* 

Das Streben des Denkens ist selbstverständlich da, wo 
Phänomene eingeteilt werden sollen, zunächst darauf gerichtet, 
dieselben in ein natürliches und ungezwungenes System zu 
bringen. Welche Art von Einteilung ist aber „natürlich"? Dieses 
ist keine unbestrittene Frage, und je nach den Ansprüchen, die 
man an die natürliche Einteilung stellt, wird auch die Definition 
der künstlichen verschieden sein. 

Die natürliche Einteilung muss, allgemein ausgedrückt, ein 
getreu entsprechendes Abbild des realen Zusammenhanges der 
objektiven Beziehungen und Verhältnisse der Dinge sein, um 
deren Einteilung es sich handelt. Das menschliche Denken hat 
das grösste Interesse daran, die chaotische Menge der Objekte 
zu ordnen und zwar so anzuordnen, dass Gleiches zu Gleichem, 

*) Writere Ausführung zu Teil I t Kap, t > S, 2Sffi 



§ I, Die künstliche Einteilung, 



329 



Ähnliches zu Ähnlichem kommt, und dass die Unterschiede, 
xelche Innerhalb derselben Gruppe der Dinge auftreten, wirklich 
zur Geltung kommen. Die Einteilung einer Gruppe von Dingen 
setzt zunächst die Bildung dieser Gruppe selbst voraus. Die ele- 
mentaren logischen Funktionen des Verbindens und Trennens 
bringen unmittelbar schon Klassen hervor- Wo wir einen Ge- 
meinnamen bilden, d, h, wo wir in mehreren Exemplaren einen 
gleichen Merkmalbestand auffinden und benennen, bilden wir 
eine Klasse, Die Entdeckung solcher identisch wiederkehrenden 
Eigenschaften ist ja die häufigste und wichtigste Geistestätigkeit. 
So bilden wir z, B. den Klassen begriff fl Haus\ in welchem wir 
ein Zusammen von Eigenschaften ausdrücken, das wir in vielen 
Dingen antreffen, weiche trotz aller Unterschiede im Einzelnen 
doch jenen gemeinsamen Typus an sich tragen; oder wir bilden 
den Begriff „Farbe", womit wir eine Gruppe von Empfindungsformen 
des Gesichtssinns benennen* Damit unifizieren wir die Vielheit 
der Erscheinungen, indem wir die Ähnlichkeiten und Verwandt- 
schaften herausheben. Schon das ungeschulte Denken findet und 
bildet unendlich viele Klassen, Es sind diese Klassenbegriffe 
Gesetze der Koexistenz von bestimmten Eigenschaften. Indem 
wir Erscheinungen, die in der Totalform ihres Zusammenhanges 
ähnlich sind, gruppieren, entdecken wir Bildungsgesetze der Wirk- 
lichkeit, d. tu Fälle, wo Eigenschaffen in einer stetigen und un- 
abänderlichen Korrelation sich befinden. 

Ist eine solche Gruppe gebildet, so äst unser Interesse wefiter 
darauf gerichtet, den Gattungsbegriff in seine Arten zu zerlegen; 
denn die meisten Gruppen lassen sich wiederum in Untergruppen 
Zerfällen. Die Regeln, welche die Logik hierfür aufstellt, sind 
bekannt. Da die Arten sich von den Gattungen dadurch unter- 
scheiden, dass die unbestimmten Charaktere dieser letzteren bei 
den Arten durch Modifikationen, Zusätze u, s. w. eine bestimmtere, 
speziellere Färbung erhalten, so muss eine wissenschaftliche Ein- 
teilung einer Gruppe von Dingen dadurch zu Stande kommen, 
dass die einzelnen Arten eben als Modifikationen jener Charaktere 
erscheinen, und muss so endigen, dass dann die wirklich verwandten 
Dinge je in Eine Art zusammenkommen; denn nur dann ist die 
Einteilung ein Abbild der Wirklichkeit, 

Als Merkmal und Bedingung einer gelungenen, d. h. natür- 
lichen Einteilung aber ist zu betrachten, dass die Gegenstände in 
solche Gruppen eingeteilt sind, in betreff deren sich eine grössere 



330 



Zweite* Teil: Sp^ielle Ausführungen. 



Anzahl von wichtigen allgemeinen Sätzen aufstellen lässt, 1 ) als 
in betreff irgend welcher anderen Gruppen, in die man dieselben 
Dinge einteilen könnte. Die einander ähnlichsten Objekte müssen 
daher in dieselben Gruppen eingegliedert sein; freilich dari diese 
Ähnlichkeit nicht eine bloss äusserliche sein, sondern sie muss die 
wissenschaftlich festgestellte wesentliche sein; z.B. darf nicht das 
äusserliclie Merkmal der Grösse als ein wesentliches Ähnlichkeits- 
merkmal gelten; dann dürfte man Tiger und Katze nicht zu* 
sammenstellen, sondern etwa Tiger und Kälber, Hasen und Katzen, 
Nur dann ist die Einteilung J'expremon exacU et cwpüte de lu 
uature «tfiere*, wenn das arrangemmt so ist, dass in ihm le$e(re< 
du mime genre, seraiejü phts voisins mtre eux que de mix de toii3 
Us autres genres (Cuvier). 

Allein eine Formierung der Einteilung nach diesen realen 
Verwandtschaftsverhältnissen ist in der Ausführung ungemein 
schwierig. Denn Auftindung der Eigenschaft oder der Eigen- 
schaften, welche wir zum Einteilungsprinzip zu machen haben 
würden, um die natürliche Gliederung aufzufinden, ist gerade die 
diffizile Sache. Diese Eigenschaften müssen wesentliche, konstU 
tutiv-bestiramende sein; aber aus den vielen nebensächlichen, 
konsekutiven Eigenschaften den Kern, den inneren Kreis der essen- 
tiellen, einfiussreicheren, massgebenden Merkmale herauszulösen, 
also diejenigen* welche das Gesetz, die bedingende Regel für die 
Verbindung und Fügung des Ganzen abgeben, durch deren Zu- 
sammenwirken die anderen bestimmt werden, deren Abwandlung 
auch eine Modifikation der übrigen bedingt — gerade hierin liegt 
die enorme Schwierigkeit Die Einteilung, wenn sie natürlich 
sein soll, ist nur möglich einerseits auf Grund genauester Kenntnis 
der Einzeldinge und der Allgemeinzüge; und andererseits ist 
deren Kenntnis schon wieder ihrerseits abhängig von der Ein- 
teilung- Diese beiden Operationen, Wesensdefinüion einer Gattung 
und Klassifikation ihrer Arten, beeinflussen sich gegenseitig. 

Schon aus dem letzteren Grunde müsste man versuchsweise 
Klassifikationen aufstellen, um durch ein Durchprobieren der ver- 
schiedenen Merkmale als Einteilungsglieder die wesentlichen 
Eigenschaften aufzufinden. Allein auch abgesehen von diesem 
theoretischen Erkenntniszweck kann die Wissenschaft schon aus 

1} Vgl. Mill, Logik IVj 7, § 2 ib. § 4; „Der Grundsatz der natürlichen 
fcinteihing ist, dass wir die Klassen so zu bilden haben, dass ihre Objekte 
die grdsste Anzahl gemeinsamer Eigenschaften besitzen," 



§ 1 Die künstliche Einteilung. 



331 



praktischen Gründen nicht warten, bis das natürliche System auf- 
gestellt ist* Der Zweck übersichtlicher Klarheit macht sich gebiete- 
risch geltend, und die logische Funktion macht den einfachen 
Kunstgriff, die H%v^ eine künstliche („technische*) Einteilung 
vorläufig aufzustellen. An Stelle der Gruppe der Wesensmerk- 
male, aus deren gemeinsamen Zusammen die natürliche Einteilung 
fliessen würde, und welche sich, wenn erkannt, notwendig auf* 
drängen würde» also an Stelle eines noch unbekannten, aber 
richtigen Gebildes wird provisorisch ein beliebiges Merkmai will- 
kürlich substituiert, aus dem sich auch eine Einteilung zwingend 
ergibt, aber eben nicht die natürliche. An die Stelle der wahren 
Wirklichkeit, nämlich hier eben jenes gemeinsamen konstitutiven 
Merkmalkomplexes, tritt eine willkürlich ausgewählte Bedingung; 
dieses beliebige Merkmal kann natürlich kein Unwirkliches sein; 
aber es ist nicht das wahre, wirkliche Einteilungsprinzip : an 
Stelle der vielfach verschlungenen Realität tritt eine Vereinfachung, 
welche nun jener untergeschoben wird. Nun wird die ganze 
Fülle der Erscheinungen nach diesem Merkmal eingefeilt, wie 
wenn es^ das reale, zureichende Prinzip wäre. 

Das botanische System Linnes ist das berühmteste Beispiel 
für diese fiktive Methode. Es nimmt die Anzahl der Staubfäden 
und Stempel zum Einteilungsgrund. Nach diesen Blütenteilen 
wurden die Klassen und Ordnungen gebildet; aber auf diese 
Weise kamen teilweise Organismen in Eine Art zusammen, welche 
nur in diesem Merkmale, nicht aber in allen wesentlichen und 
unveränderlichen Merkmalen übereinstimmen Da, wo der ganze 
Organisationsplan ein derartiger war, dass jene Bestandteile nach 
seinen spezifischen Eigenschaften sich modifizierten, fand sich 
freilich das Verwandte zusammen. Wo das nicht der Fall war, 
wurde Heterogenes (Eiche und Veilchen) verbunden und in eine 
befremdliche Nachbarschaft aneinander gerückt, und homogene 
Pflanzen an entlegene Stellen des Systems auseinandergerissen, 
bloss weil sie in dem einen, der Einteilung zu Grunde gelegten 
Organe von einander abweichen. In diesen Fällen sind die diffe- 
rmtiae, welche Modifikationen des gewählten Einteilungsgrundes X 
sind, eben nicht die wahrhaft bestimmenden und artbildenden, und 
anstatt dass diejenigen Individuen zusammengestellt werden, welche 
in der Totalform ihres Zusammenhanges ähnlich sind, werden solche 
verbunden, welche nur eine beschränkte Merkmalgruppe teilen. 
Die Lagenbeziehungen der Arten entsprechen nicht den eigenen 



332 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen, 



Verwandtschaften derselben. Allein nichtsdestoweniger gewähn 
dieses System vön 24 Klassen und 117 Ordnungen doch einen 
grossen Vorteil, nämlich, dass sich die Pflanzen nach diesen un- 
schwer aufzufindenden Merkmalen leicht bestimmen lassen. 1 ) 

Ebenso künstlich sind die Einteilungen der Pflanzen nach 
der Farbe der Blüten, den Zacken der Blätter u. s. w, 

Auch die Einteilung von Jussieu und Tournefoit sind 
teilweise auf einzelne Organe (Staubbehälter, Blumenkrone), statt 
auf die erforderiichen Eigenschaften des Gesamtbaues gegründet;*) 
erst Decandolie, Endlicher u. A. haben den inneren anato- 
mischen Bau, das Wachstum u, s, w. der systematischen Anord- 
nung zu Grunde gelegt. 

Ähnlich ist es in allen anderen Natur gebieten. Die künst- 
lichen Systeme in der Mineralogie*) waren und sind auf mehr 
oder weniger willkürlich herausgegriffene äussere Kennzeichen 
gegründet. Und so lange das auf die chemische Konstitution 
u, s> w. zu gründende natürliche System nicht aufgestellt ist, hat 
eine solche künstliche Einteilung einen vorzüglich praktischen 
Wert. Die Einteilung der Tiere nach Zehen und Klauen (von 
Aristoteles) oder die nach den Zähnen (von Linne) sind weitere 
Beispiele, 

In allen Gebieten sind wir gezwungen, vorläufig oder sogar 
definitiv auf eine natürliche Einteilung zu verzichten und, wie 
das Taine 4 ) bei Gelegenheit seiner Klassifikation der Sensationen 
ausdrückt, uns mit einer Art von revue zu begnügen und }} un 
casier commode gami de cases" zu fabrizieren, oiiFon retrouve aise- 
ment ce gu'on veut constderer; on n*a Hm fait de plus. Solche 
Hilfseinteilungen, welche ein kunstreiches Fachwerk aufstellen, 
dienen eben oft nur zur leichteren Registrierung und Rubrizierung 
der Dinge. 

1) Drobisch, Logik, § 13: „Wenn in dem Untschen System Pflanzen 
von sehr unähnlichem Habitus wegen der gleichen Organisation ihrer Ge- 
schlechtsteile in eine und dieselbe Klasse gestellt werden, so bat dies freilich 
diesem System den Vorwurf der Unnatürlich kei t zugezogen, ihm aber doch 
nicht die Anerkennung entziehen können, dass es zur Übersicht der Mannig- 
faltigkeit des Pflanzenreichs äusserst zweckmässig sei.* 1 

2) V^l. Lotze, Logik 15fi T 

3) Taine, De Vinteltfgerjce 11, 71: En mineralogu% il n T y a $m enewt dt 
Classification rentable* 

4) ib. 1, 396, 



§ 3- Die künstliche Einteilung. 



333 



Ein weiteres Beispiel bietet die Klassifikation der Sprachen 
dar, welche von W, v. Humboldt aufgestellt worden ist Hum- 
boldt teilt die Sprachen ein in zwei Hauptklassen: 1) Sprachen, 
die sich aus reinem Prinzip in gesetzmässiger Freiheit entwickeln; 
2) solche, die im Gegenteil willkürliche Pfade einschlagen mit 
Inkonsequenz. Nach Haym 1 ) ist diese Einteilung von Humboldt 
nur exemplifizierend gegeben, sie werde nicht als endgültig auf- 
gestellt, während nach Steinthai 2 ) Humboldt dieselbe als die wahre 
wirkliche, definitive angesehen wissen wollte. 

Was nun die Frage betrifft, inwieweit diese Klassifikationen 
mit dem Bewusstsein ihrer Künstlichkeit aufgestellt wurden, so 
ist wenigstens seit Linne, der die arbiträre Natur seiner Einteilung 
wohl kannte, der Unterschied der natürlichen und künstlichen 
Einteilung allgemein bekannt, und da die Methodologie seitdem 
diesen Punkt zum Gegenstand von Untersuchungen gemacht hat, 
so wurden solche Einteilungen meistens eben nur ah künstliche 
sogleich von vornherein aufgestellt. In anderen Fällen wurden 
dagegen solche unnatürlichen Klassifikationen zuerst für Hypo- 
thesen angenommen, d, h. man glaubte das natürliche System 
gefunden zu haben, bis sich zeigte, dass auch nur eine unwirk- 
liche Einteilung vorlag. Ist eine solche Hypothese für falsch er- 
kannt so kann sie doch noch als Fiktion gute Diensie leisten. 

Kant hat bei seinen Versuchen über die Menschenrassen 
seine Aufmerksamkeit diesem Gegenstande zugewandt und in der 
Abhandlung: „Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in 
der Philosophie" den Unterschied zwischen Naturgattungen und 
Schulgattungen gemacht Jene nennt er spedes naturales^ diese 
Speeles aiiificiales* „Die Schuleinteilung geht auf Klassen, welche 
nach Ähnlichkeiten, die Natureintcilung aber auf Stämme, welche 
die Tiere nach Verwandtschaften in Ansehung der Erzeugung 
einteilt. Jene verschafft ein Schulsystem für das Gedächtnis, 
diese ein Natursystem für den Verstand; die erstere hat nur zur 
Absicht, die Geschöpfe unter Titel, die zweite aber, sie unter 
Gesetze zu bringen/ Er warnt davor, jene rein äusserlichen 
Ähnlichkeiten der Charaktere unmittelbar für eine Anzeige der 
Ähnlichkeit der Kräfte zu halten, und so die Unvorsichtigkeit zu 
begehen, die „Ideen in die Beobachtung selbst hin eiuzu tragen \ 



1) W. v. Humboldt, Lebensbild und Charakteristik S. 577. 

2) Ursprung der Sprache, 3, Aufl. 136. 



334 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



und die „bloss logische Absonderung, welche die Vernunft unter 
ihren Begriffen zum Behufe der blossen Vergleichung macht, mit 
der physischen Absonderung zu verwechseln, welche die Natur 
selbst tinter ihren Gesetzen in Ansehung ihrer Erzeugung macht* 
Die natürliche Einteilung ist auf die agemeinschaftliche Ursache 0 
zu begründen, welche demselben Wesenkreise zu Grunde liegt, 
sie ist Sache der Naturgeschichte; die künstliche oder SchuJ- 
einteilung beruht nur auf der Vergleichung äusserer Merkmale 
und ist Sache der Naturbeschreibung u. s. 

Noch sei Ampere erwähnt welcher sich über diesen Punkt 
dahin äussert, 1 ) dass in der künstlichen Einteilung einige will- 
kürlich gewählte Charaktere dazu dienen, um den Platz jedes 
Objektes zu bestimmen ; wir abstrahieren von allen anderen 
Charakteren, und dadurch werden die Objekte oft in der bizarrsten 
Weise zusammengestellt oder auseinandergerissen. Im natürlichen 
Klassifikationssystem dagegen legen wir alle wesentlichen 
Charaktere zu Grunde und bestimmen die Wichtigkeit eines 
Jeden; die Resultate werden nur dann als gültig anerkannt, wenn 
die Objekte, welche die grösste Ähnlichkeit zeigen, auch wirklich 
in dieselbe Klasse gebracht sind; das arrangement le plus natural, 
sagt D'Alembert/) ^serait cehi oü les objets succederaieni jpar 
les miances insensibles qui servent toid ä la fois ä les separer et ä 
les unir il t 

Künstliche Systeme sind somit „einseitige Systeme, weil die 
Einteilung nur von einem einseitigen Merkmal ausgehend kein 
reales Gegenbild des reichen Ganzen geben kann\ Alle solche 
Einteilungen, die nur nach äusserlicben, vereinzelten, abgeleiteten 
und zufälligen Merkmalen gemacht sind, sind ein sehr praktischer 
Notbehelf des Denkens, um vorläufige Obersicht zu gewinnen. 
Uod häufig sind diese nach dem Stande des Wissens die einzig 
möglichen und sogar die einzig praktisch brauchbaren. 

Bei mannigfach zusammengesetzten Gegenständen der Wirk- 
lichkeit ist eben die Schwierigkeit sehr gross, die entscheidenden 
Einteiiungsgründe aufzufinden. Bei ihnen sind uns die Merkmale 
eben häufig nur als ein mechanisches Zusammen, als eine Summe 
gegeben, wie Lotze sich ausdrückt, ohne dass wir die inneren 
Determinationen, Abhängigkeiten und Zusammenhänge dieser 



1) Essai $ur la Philosophie des Science* pag. 9, 

2) Discours sur PJÜncyclopfclu* 



§ 1. Die künstliche Einteilung. 



335 



Merkmale kennen; aus dieser Unbestimmtheit folgt aber die Not- 
wendigkeit, zunächst auf gut Glück Ein Merkmal mit Abstraktion 
ron den übrigen, wie wenn diese ganz unwesentlich wären, als 
3estimmungsgrund subjektiv und vorläufig zu betrachten. Man 
reüssiert nicht immer, sagt Taine, 1 ) mit dem Triebe der Einteilung: 
plusieurs de vo$ tämarcations demeurent artißcielles et ne sont gue 
rvmmodes. 

Dabei bleibt die Aufgabe bestehen, dass die fortschreitende 
Wissenschaft diese künstlichen Systeme durch natürliche ersetze, 
i h. „den Gesamtcharakter der Organisation oder den charakte- 
ristischen Typus der Arten auch zur Norm der logischen Gliede- 
rung und Einteilung mache*. Der ganze Habitus, nicht bloss ein- 
zelne Merkmale, insbesondere aber bei den Naturgegenständen 
der genealogische Zusammenhang muss zur Grundlage des natür- 
lichen Systems gemacht werden. Die durch alle Wesen des 
einzuteilenden Ganzen hindurchgehende Grundbedingung muss 
das fundamenium divisionis sein, denn dann werden die natur- 
gesetzlichen Gruppen zusammengestellt. 

Wh e well 2 )' macht hierzu die wichtige Bemerkung, dass, 
wenn nur ein einzelnes nebensächliches Merkmal einer Einteilung 
zu Grunde gelegt ist, diese also der Form nach eine künstliche 
ist, sie doch ganz natürlich in ihren Resultaten sein kann, wenn 
die durch dieses Merkmal ausgedrückten Charaktere und Be- 
dingungen mit den Hauptbedingungen kausaliter so zusammen- 
hängen, dass ihre Modifikationen stets zusammenfallen. Das Haar 
ist sicherlich ein nebensächliches Merkmal und doch kann die 
künstliche Einteilung der Menschen nach der Beschaffenheit des 
Haares zu einer natürlichen werden, wie dies auch bei Blainvilles 
Einteilung der Tiere nach ihren äusseren Hüllen der Fall ist. 
Es liegt daher nahe, wie dies in neuerer Zeit wieder von Jevons 
(Prindples II, 351) geschehen ist, den Unterschied zwischen künst- 
licher und natürlicher Einteilung nur für graduell zu erklären. 
Allein die dafür angegebenen Gründe sind nicht stichhaltig, und 
die Methodologie hält mit vollem Rechte an diesem Unter- 
schiede fest. 8 ) 

1) De IHntelligence II, 217, 

2) Gesch. d. ind. Wissenschaften III, 321, Vgl. Oberweg, Logik §63. 

3) Eine Abart der kunstlichen Einteilung ist die von Lotze (Logik 152 ff.) 
eingehend besprochene kombinatorische Einteilung. Während die gewöhnlich 
sogenannte künstliche Einteilung, schematisch gesprochen, das einzelne Merk- 



336 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



Bei der künstlichen Einteilung muss eine Korrektur eintreten 
entweder nur ideell, dass man sich eben bewusst ist, dass vnaz 
nicht die Wirklichkeit getroffen hat, oder in einzelnen Fällen reel_ 
indem man die sich aus der künstlichen und gezwungener 
Einteilung ergebenden Inkonsequenzen, welche ein beherzigens- 
wertes Merkmal der Fiktivität des ganzen Prozesses sind, durcr 
eine Inkonsequenz des Systems wieder gut macht; den strerr 
methodischen Regeln zum Trotz wird dann etwa derselbe Eir- 
teilungsgrund nicht in allen Abteilungen festgehalten, und ansisr 
der schroffen Durchführung des Prinzips kommen die empirischer 
Ähnlichkeiten zu ihrem Rechte. Ausserdem aber haben gera^ 
diese Unzuträglichkeiten ihren guten heuristischen Wert, der:: 
wenn die künstliche Einteilung Arten bildet, in denen Heterogene 
zusammengestellt ist, die also streng genommen auch unmöglich 
imaginär sind, wenn die kombinatorische Arten bildet, weicht 
überhaupt gar nicht vorkommen, werden diese Widersprüche rr/ 
der Wirklichkeit zu einer genauen Untersuchung anregen, ur: 
die bewusste Abweichung von der Wirklichkeit, das Unwirklich; 
und Unmögliche dient dann zum Vehikel, um die Wirkiichke.; 
zu finden und ihre Faktoren in ihrer Wirksamkeit und ihren Zu- 
sammenhang genauer zu untersuchen. 1 ) Der Beitrag, den diest 
künstlichen und provisorischen Einteilungen zur eigentliche:: 
Kenntnis und Erkenntnis der Dinge liefern, kann ein sehr ver- 
schiedener sein, aber die praktische Brauchbarkeit dieser Hilis- 
mittel, die Nützlichkeit dieser Kunstgriffe liegt auf der Hand. 

Auch die Dichotomie eines M in A und Non-A u. s. w. stell: 
mit Non-A streng genommen eine künstliche Art auf, da eint 
negative Bestimmung der positiven Angabe substituiert wird 
Jevons, der auf diese Methode alle Klassifikation gründen will 
erkennt doch ihre Künstlichkeit und Willkürlichkeit an und führ. 



mal B zum Einteilungsgrund macht, statt den ganzen Merkmalbestand A. E 
C, D, so betrachtet die kombinatorische Einteilung die einzelnen Merkm^t 
jenes Merkmalbestandes als Summanden einer Summe (A + B + C + D), sur. 
sie ,als sich gegenseitig bedingende Faktoren eines Produktes zu behandeJ: 
(A X B X C X D)< Die kombinatorische Einteilung führt daher auf unwirk- 
liche und sogar unmögliche Glieder. 

1) „Die vorlaufige Aufstellung hat den Nutzen, die Aufmerksamke;: 
auf die Natur des M und auf die Gründe zu schärfen, welche die gültige: 
Arten möglich, die ungültigen unmöglich machen* (Lotze). Es ist dies et: 
Gesichtspunkt, dass diese Einteilungen auch tentativer Natur sind und nicr: 
lediglich praktische, mnemotechnische Bedeutung haben. 



gl. Die künstliche Einteilung. 



337 



Linng an, welcher sich über diese von ihm Synopsis genannte 
Methode so äussert: 1 ) „Synopsis iradit divisiones arbiirarias 
longiores aut breviores t plures aut pauciores: a Boianicis in genere 
non agnoscenda* Synopsis est dichotomia arbitraria, quae instar viae 
ad Botanicem dacit Limites autem non determinat". Die Bildung 
einer Klasse Non-A z. B. lungenlose Wirbeltiere ist nur ein Kunst- 
griff, eine logische Methode, welche eine reale Kenntnis keines- 
wegs einschliesst. Non-A, das durch die sogen, abscissio infitiita 
entsteht, ist ein bloss logisches, künstliches Hilfsmittel Wenn die 
Wirklichkeit damit erreicht werden soll, muss jedenfalls dem 
negativen Gliede zuletzt wieder ein positives substituiert werden 
können, so dass Non-A und Non-B u. s. w. schliesslich als blosse 
logische Übergangsformeln wieder herausfallen. Sind der unter 
dem negativen Ausdruck zusammengefassten Arten mehrere, so 
wird sich, wie Überweg richtig bemerkt, 2 ) jene Zweiteilung als 
illusorisch erweisen, sobald dieselben nach ihren positiven Merk- 
malen angegeben werden sollen; „sie kann daher nur etwa zu 
einer vorläufigen Orientierung bei der Bildung und Prüfung der 
Einteilungen dienen, ist aber an sich ohne wissenschaftlichen Wert" 
— Bestimmungen, welche sie eben als fiktiv charakterisieren. 



§2. 

Wettere künstliche Teilungen.*) 

Wenn man auch nicht soweit gehen will, wie einige Ultra- 
nominalisten, und allen Gattungsnamen die objektive Berechtigung 
absprechen, weil sie nur willkürliche Zusammenfassungen, nur in 
dem menschlichen Geiste, nicht in der Natur feststehende Teilungen 
seien, so kann man doch nicht leugnen/ dass es viele Fälle gibt, 
wo wir willkürlich Einschnitte in die objektive Natur gemacht 
haben, ohne dass wir eine hinlängliche Berechtigung dazu hätten. 
So z. B. stehen in unserer gewöhnlichen Anschauung das Tier 
der Pflanze, das Organische dem Unorganischen, das Lebendige 
dem Toten mit grosser Bestimmtheit und schroff gegenüber; und 
doch verlaufen bei genauer Untersuchung jene Unterschiede 

1) Philosophia Botanica (1770) § 154 pag. 98. 

2) Logik, § 63. 

*) Ergänzungen zu Teil I, Kap. 1 u. 2 (8. 25 f., 2$ f.). 

71 



338 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



ineinander, so dass eine Trennung unmöglich wird; Beweis: die 
vielen Grenzfälle, bei denen die Wissenschaft zweifelt, welchem 
Gebiet sie zuzuzählen sind. Zwischen Tier und Pflanze, zwischen 
Unorganischem und Organischem gibt es Mittelformen, welche die 
alten Teilungen zersprengen, so dass sie nur aus Bequemlichkeit 
beibehalten werden können. Alle diese Grenzstreitigkeiten müssen 
uns daran erinnern, dass nicht die Natur es ist, welche jene 
Abschnitte und Linien gezogen hat, sondern dass sie nur unserer 
beschränkten Auffassung angehören. Sobald man aus diesen 
fingierten Grenzen wirkliche Grenzen macht, dann ergeben sich 
jene Streitigkeiten, ob eine Form diesem oder jenem Gebiete 
zuzuzählen sei, dann ergeben sich jene bekannten Widersprüche, 
welche bei allen Einteilungen der Objekte wiederkehren, sobald 
man nicht zwischen dem Faktischen und dem Fiktiven zu trennen 
weiss. Fast die meisten Gruppen, in welche wir die Dinge zu- 
sammenfassen, indem wir sie zugleich von anderen Gruppen 
trennen und unterscheiden, sind von der fortgeschrittenen Wissen- 
schaft als unberechtigt nachgewiesen worden, und man behält sie 
nur noch aus Bequemlichkeit bei, um ihres praktischen Nutzens, 
nicht um ihres theoretischen Wertes willen. So ist es z. B. mit 
der Gruppe „Metall"; während man früher fest daran glaubte, 
damit eine ganz bestimmte natürliche Gruppe der Naturelemente 
zu bezeichnen, wird der Begriff in der strengen Wissenschaft nur 
noch als ein bequemer Obersichtsname beibehalten; denn neue 
Erscheinungen, welche nach dem Einen Teil ihrer Merkmale unter 
jene Gruppe zu rechnen waren, widerstreben mit einem anderen 
Teil ihrer Eigenschaften dem hergebrachten Begriffe, und es zeigt 
sich, dass die Natur selbst eine solche Einteilung gar nicht kennt. 
Kein Merkmal hält Stich und ist durchgreifend, weder Schwere, 
noch Härtegrad, noch Scbmäedbarkeit oder Dehnbarkeit, noch Un- 
durchsichtigkeit; ja sogar die Einfachheit nicht, denn Berzelius 
äusserte bei einem entsprechenden Falle, dass es kein Wider- 
spruch wäre, ein „Metall" zu haben, das kein einfacher Körper wäre. 
Man kann in solchen Fällen nie vermeiden, eine willkürliche 
Teilung zu machen und Abschnitte zu treffen, welche die Natur 
selbst nicht einmal andeutet Die Natur hat keine Kasteneinteilung. 
Gerade Berzelius machte in Bezug auf die Erde, Alkalien, Metall- 
oxyde u. s. w. darauf aufmerksam, 1 ) dass alle unsere Einteilungen 



1) Lehrbuch 1, 688. 



§ 2. Weitere künstliche Teilungen. 



339 



nur künstliche seien, dass man keine naturlichen Grenzen ent- 
decken könne. Welche Einteilungsgründe man auch z. B. bei den 
Elementen anwenden mag» keiner führt zu einer natürlichen und 
festen Begrenzung von Gruppen, So ist es auch mit den Gruppen 
( der Säuren und Basen, der Salze u, s. w* Und um auf andere 
Gebiete überzugehen, z. B. der Unterschied von Stoff und Kraft 
ist der neueren Betrachtungsweise so schwankend geworden, dass 
auch hier alle Abgrenzung nur willkürlich und konventionell ist. 
Solche Teilungen sind Hilfsmittel der Wissenschaft, aber nicht 
Wissenschaft selbst; nur die untergeordneten Arbeiter in der 
Wissenschaft glauben hier absolutes und objektives Wissen zu 
haben; die eigentlichen Forscher sind sich wohl bewusst, dass 
solche und ähnliche Bestimmungen nur provisorische Fiktionen 
sind, welche nur eine dienende Rolle als Hilfsmittel zu spielen 
haben. Trotz ihrer Ungenauigkeit und partiellen Falschheit leisten 
sie der Wissenschaft doch grosse Vorteile. 

Eine solche vorläufige Scheidung und Trennung äst nach 
Manchen, so z.B. nach Lotze (Mikrokosmus I, 187, 314 u. Ö.) 
auch die Trennung zwischen Leib und Seele. Lotze will ganz 
ausdrücklich diesen Unterschied nur als einen vorläufigen, provi- 
sorischen und propädeutischen ansehen und angewendet wissen. 

Das ganze begriffliche, klassifikatorische System und die 
Unterscheidung unserer Begriffe beruhen auf Abstraktionen ein- 
seitigster Art, auf ganz willkürlichen Determinationen; so sind 
z. B., wie Pfleiderer richtig bemerkt, 1 ) Licht und Finsternis, Schwarz 
und Weiss, Leben und Tod lauter Kunstprodukte denkender 
Abstraktion, notwendig in dieser ihrer Korrektheit als klarer und 
sicherer Anhalt, aber in der Anwendung aufs Wirkliche stets mit 
bedachter Vorsicht zu gebrauchen. 

In gewisser Hinsicht sind hierzu auch die Kategorien, welche 
aus Doppeibegriffen bestehen, wie Substanz und Akzidens, Ur- 
sache und Wirkung zu rechnen. „Die begriffliche Trennung von 
Substanz und Akzidens ist ein bequemes, vielleicht unentbehr- 
liches Hilfsmittel der Orientierung," sagt Lange 2 ) sehr richtig. 
Die Kritik hat den Aristotelischen Wahn, dass ia der objek- 
tiven Wirklichkeit eine solche Trennung existiere, schon lange 
zerstört. Für die positive Forschung, für die Naturwissenschaft, 

1) Der moderne Pessimismus, S. 81. Vgl. oben S. 35. 

2) Gesch. d. Mat. I, 168. Vgl. II, 205, 216ff. (auch über die künstliche 
Einteilung in Stoff und Kraft). 

22* 



340 



Zweiter Teil: Spezielle Ausiührungen. 



wie für eine kritisch geläuterte Metaphysik haben alle diese Be- 
griffspaare keinen sonderlichen Wert; im Gegenteil, wenn man 
die rein subjektive und fiktive Natur dieser Begriffe vergisst, und 
sie in die objektive Welt uberträgt, entstehen aus dieser Ver- 
wechslung, wie dies bei allen objektiv gewendeten Fiktionen der 
Fall ist, schwere, verhängnisvolle Irrtümer; man darf aus solchen 
rein subjektiven Hilfsmitteln der Betrachtung keine Konsequenzen 
ziehen, man darf nicht erwarten, dass sie unseren Blick in das 
objektive Wesen der Dinge erweitern. Bei einer tieferen Betrach- 
tung der Objekte und Vorgänge zeigt sich, dass jener Unterschied 
ein ganz relativer ist, wie etwa der von Wärme und Kälte, und 
dass er schliesslich ganz dahinschwindet. Man pflegt diejenigen 
Eigenschaften eines Dinges, welche unter sich eine konstantere 
Gruppe bilden, als die übrigen, als das Substantielle auszuzeichnen 
und ihnen die wechselnden Bestimmungen als den akziden- 
tellen Kranz beizugeben, welcher sich um jenen dauerhaften, 
substantiellen Kern herumlege. Allein wahrhaft dauernd und 
konstant ist keine einzige Eigenschaft, und die Wissenschaft zeigt, 
dass alles in beständigem Wechsel begriffen ist. Nichtsdesto- 
weniger kann es einen praktischen Nutzen haben, diese fiktive 
Determination auf die Dinge zu übertragen, und von Substanzen 
zu sprechen, welche Eigenschaften haben. Man schneidet gleich- 
sam einen Erscheinungskomplex aus dem räumlichen und zeit- 
lichen Zusammenhang heraus, in dem er mit allen anderen kos- 
mischen Phänomenen steht; man betrachtet ihn absolut, da er 
doch nur ein durch lauter Relationen mit den anderen Dingen 
verknüpftes Ganzes ist. Man führt in den Komplex ästhetische 
Wertunterschiede ein, welche die objektive Natur weder kennt 
noch respektiert. Während objektiv alles in beständigem Flusse 
ist, der aus den Kraftrelationen resultiert, hebt man subjektiv 
einen vergleichsweise konstanten Eigenschaftskreis heraus, den 
man als das n Wesen* betrachtet, an das sich unwesentliche Akzi- 
dentien anschliessen. 

Avenarius hat diesen Prozess in einer interessanten Weise 
psychologisch analysiert. 

Wenn man mit Aristoteles den begrifflichen Kern (to xi rp 
ecvai) in den Dingen als ihre wahre und eigentliche Substanz 
heraushebt, so befindet man sich, wie Lange richtig bemerkt, 
bereits auf dem Boden der Abstraktion; zu unserer Orientierung 
und für die praktische Behandlung der Dinge, ich möchte sagen, 



§ 3. Adam Smith's nationalökonomische Methode. 341 

zum Hausgebrauch wird man die von Aristoteles scharf ausge- 
prägten Begriffsgegensätze von Substanz und Akzidenz, von Mög- 
lichkeit und Wirklichkeit, von Form und Stoff u. s. w. wohl 
niemals völlig entbehren können, wie auch schon F. A. Lange 
richtig annimmt. 



§ 8. 

Adam Smifh's nationalökonomische Methode.*) 

Die fiktive Abweichung von der Wirklichkeit zu wissen- 
schaftlichen Zwecken findet in sehr mannigfacher Weise statt, 
und das Mittel spezifiziert sich je nach dem besonderen Zweck, 
den die logische Funktion zu erreichen strebt Neben der Klassi- 
fikation der Objekte ist die erklärende Theorie der Erscheinungen 
eines der wichtigsten Ziele, ja wohl das Hauptziel des wissen- 
schaftlichen Denkens. Allein der theoretischen Verarbeitung der 
Phänomene stellt sich als eine Hauptschwierigkeit die gar oft 
unendlich komplizierte Verflochtenheit der Wirklichkeit entgegen. 
Wo es sich um veränderliche Erzeugnisse einer Mehrheit unab- 
hängiger Ursachen handelt, ist nicht nur die vollständige Summe 
der Bedingungen schwer aufzufinden, sondern noch schwieriger 
ist in diesem Falle, selbst wenn alle Bedingungsfaktoren gefunden 
sind, die Bestimmung des gesetzlichen Zusammenhangs der Er- 
scheinungen und des Beitrags, den jeder einzelne Faktor zum 
Ergebnis leistet, insbesondere da, wo eine quantitative Messung un- 
ix ÖgUch ist. Die Reduktion der fluktuierenden Phänomene auf feste 
Kausalverhältnisse, die Bestimmung der wiederkehrenden Gleich- 
mässigkeiten des Zusammenseins und der Abfolge der Gescheh- 
nisse ist der letzte und schwierigste Teil der wissenschaftlichen 
Forschung. Man will finden, was sein und geschehen muss, 
wenn bestimmte Bedingungen gegeben sind; man will den kon- 
stanten Zusammenhang zwischen einem abgeschlossenen Be- 
dingungskreis und einer genau abzugrenzenden Folgegruppe be 
stimmen. Darin besteht die allgemeine, tiefgehende und weit- 
greifende Macht der erklärenden Theorie. 

Die Auffindung dieser Gesetze des Seins und Geschehens 
erfordert nun eine verschiedene Methode, je nach den Ele- 



*) Ergänzungen zu TeU I, Kap. 2. Ä 28 ff. 



342 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen 



menten, welche uns genauer bekannt sind. In dem einen und 
zahlreicheren Teile der Fälle sind uns die letzten Ausläufer, die 
zusammengesetzten Erscheinungen bekannter und zugänglicher. 
Es lassen sich daher hier durch die Gesetze der Induktion die 
wiederkehrenden Gleichförmigkeiten durch Eduktion allgemeiner 
Sätze aus Wahrnehmungen auffinden, und von hier aus schliessen 
wir auf die konstanten Gesetze und fortwirkenden Ursachen zu- 
rück. In diesen Gebieten — dem Gebiete der gewöhnlichen 
Naturerscheinungen — sind dieser Ursachen meist wenige, und sie 
sind einfach, wenigstens im Vergleich mit der anderen Domäne, wo 
nicht nur die Erscheinungen selbst viel variabler und mannig- 
facher sind, sondern auch durch die Konkurrenz vieler und hetero- 
gener Ursachen hervorgerufen werden. Hier, wo die Erscheinungen 
in einer viel springenderen Weise und in ungleichmässiger Abfolge 
auftreten, weil eben ausser den konstanten Ursachen noch eine 
Menge von bedeutsamen Einflüssen sich geltend machen, lassen 
sich durch Beobachtung und Experiment, also auf induktivem 
Wege, wenig brauchbare und exakte Resultate erhalten» Es ist 
dies insbesondere das Gebiet der psychologischen und sozialen 
Erscheinungen. Diese sind das Gesamtergebnis einer Menge 
gleichzeitig zusammenwirkender Ursachen, Die psychischen und 
die sozialen Phänomene besitzen eine unendliche Modifikabilität, 
und sie werden durch eine unglaubliche Menge und Mannigfaltigkeit 
von Ursachen bestimmt; es liegt hier eine kaum entwirrbare Ver- 
flechtung von Ursachen und Gesetzen vor; und in dieser unend- 
lich reichen Zusammensetzung von Ursachen liegt die Schwierig- 
keit der Erforschung dieser Gebiete. Wirkungen, die von einer 
so reichen Komplikation von kausalen Faktoren abhängen, können 
nicht Gegenstand einer induktiven Forschung werden, wie dies 
Mill in überzeugender Weise in dem X.Kapitel des HI. Buches 
seiner Logik nachgewiesen hat (Von der Vielzahl der Ursachen 
und der Verflechtung von Wirkungen), Denn dann werden die 
Methoden der Induktion unsicher und unzuverlässig» Wenn die 
Wirkungen durch Ineinandergreifen der Ursachen ein verflochtenes 
Netz darstellen, eine verwickelte Vermengung und sozusagen Ver- 
schwisterung der verschiedenen Folgeerscheinungen einer Reihe 
von Ursachen, so ist es oft fast ebenso schwer, ja sogar direkt 
unmöglich, die Erscheinungen zu analysieren in die Faktoren 
und deren Wirkungen, als man von einer beliebigen Summe 
sagen kann, aus welchen Summanden sie im einzelnen Falle ent- 



§ 3. Adam Smith's nationalökonomische Methode. 



343 



«^nden ist Solche Gesamtwirkungen auf das bestimmte Zu- 
sammenwirken von Ursachen zurückzuführen, wenn die Wirkungen 
dn fast unauflösliches Gewebe sind, dazu bedarf es der deduk- 
tiven Methode, welche darum hier anwendbar ist, weil uns in 
solchen Fällen immer oder meistens eine oder mehrere der Ur- 
sachen für sich schon bekannt sind. Die Schwierigkeit besteht 
eben darin, das Gesamtresultat aus sämtlichen Faktoren zu be- 
rechnen. 

In solchen Fällen muss zuerst das Gesetz jeder geson- 
derten Ursache, welche an der Hervorbringung einer Gesamt- 
wirkung einen Anteil hat, für sich erforscht werden. Erst wenn 
dies geschehen ist, kann die Deduktion aus diesen Faktoren vor 
sich gehen, indem man ihre Wirkungen kombiniert. Freilich liegt 
in dieser kombinatorischen Berechnung gerade in den verwickelt- 
en und interessantesten Fällen die Schwierigkeit, und hier greift 
nun die logische Funktion wieder absichtlich zu künstlichen Hilfs- 
mitteln. Wenn die Vereinigung der Ursachen und die kombi- 
nierende Berechnung der Wirkungen dieser vereinigten Ursachen 
zu schwierig ist, so vernachlässigt man einige der konkurrierenden 
Kräfte und, indem man so handelt, als ob diese gar nicht da 
wären, entwickelt man einmal zunächst aus der wichtigsten Ur- 
sache und ihrem Gesetz heraus das ganze System der Erschei- 
nungen. Wo wir nicht die Gesamtheit der Verhältnisse übersehen 
können, abstrahieren wir von einem Teil freiwillig; wenn wir das 
Gesamtergebnis vieler gleichzeitiger Ursachen nicht zu berechnen 
im Stande sind, lassen wir einige weg und vereinfachen das 
Problem. Diese absichtliche Vernachlässigung von Wirklichkeits- 
elementen zum Zweck wissenschaftlicher Vereinfachung nennen 
wir die neglektive oder abstraktive Methode, Wenn die 
logische Funktion ihr Geschäft nicht ungestört vollziehen kann, 
weil es noch nicht gelingt, alle Fäden einerseits auseinander zu 
halten und andererseits zu kombinieren, aus denen das Gewebe 
der Wirklichkeit und ihr unerschöpflicher Reichtum besteht, wenn 
der Entwirrung der Mannigfaltigkeit alle diese Schwierigkeiten 
sich entgegenstellen, dann ist dieser Kunstgriff am Platze, 

Das Standard-Beispiel für diese Methode ist die Art und 
Weise, auf welche Adam Smith die Nationalökonomie begrün- 
dete. Darin, in dieser abstraktiven Methode, besteht das Haupt- 
verdienst seiner Leistung. Der ganze Kunstgriff besteht darin, 
dass Smith alle wirtschaftlichen Handlungen der Gesellschaft so 



344 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



betrachtet, als ob sie einzig und allein vom Egoismus diktie- 
wären: er siebt dabei ab von allen anderen Faktoren, z. B. Wohl- 
wollen, Sittlichkeit, Gerechtigkeit, Billigkeit, Mitleiden, Gewohr- 
heit, Sitten und Gebräuchen u. s. w. Auf diese Weise ist es er- 
möglicht, die Erscheinungsweisen der menschlichen Verhältnisse 
in wirtschaftlicher Hinsicht auf wenige Grundgesetze zu reduzierer.. 
Mit sicherer Hand greift er dasjenige Motiv heraus, welches an 
häufigsten und stärksten ist. Er stellt jenen fiktiven Satz — 
ist, als ob alle wirtschaftlichen, geschäftlichen Handlungen nur 
vom Egoismus motiviert wären — als ein Axiom an die Spitie 
des Systems und entwickelt daraus deduktiv, mit systematische: 
Notwendigkeit, alle Verhältnisse und Gesetze des Handels und 
Verkehrs und aller Schwankungen in diesen komplizierten Ge- 
bieten. Bei der Wichtigkeit des Gegenstandes in methodologischer 
aber auch in materieller Hinsicht mögen über diesen Punkt die 
Stimmen bedeutender Autoritäten noch hinzugefügt werden. Es 
ist der Punkt um so interessanter, als sich hier gerade um die 
Frage, ob Smith die Annahme hypothetisch oder fiktiv aufgestei:: 
habe (wenn auch nicht unter diesen Terminis, doch der Sacht 
nach), ein heftiger Streit erhoben hat. Aber auch abgesehen xcz 
dieser historischen Frage ist die Frage an sich systematisch 
von grösstem Interesse. 

Die „Geschichte des Materialismus 0 von F. A. Lange, jenes 
bewunderungswürdige Werk, das ein unvergängliches Denkmal 
eines reichen und reinen Geistes ist, hat über diese Frage einen 
höchst beherzigenswerten Abschnitt, dessen Gedanken wir hier 
reproduzieren. In dem Kampf gegen die „Dogmatik des Egois- 
mus" wird Lange auf Smith, den Begründer der moderner 
Nationalökonomie, geführt, und anstatt, wie so viele andere, ir 
unflätigen Äusserungen sich über diesen grossen Geist zu ergeben 
sucht er die methodologischen Grundlagen des Gegenstandes zz 
untersuchen. Es ist bekannt, dass Adam Smith, der schottische 
Verfasser der Moralphilosophie, und Freund Humes, ausser seine 
Inguiry on wealth of nations auch ein Werk: Theory of moral seniimenU 
geschrieben hat. Man hat neuerdings nachgewiesen, dass der Wealt/. 
of nations strenggenommen kein selbständiges und abgeschlossene? 
Werk war, sondern nur der Teil einer vollständigen Moralphik- 
sophie. 1 ) Das eine Werk betrachtet die Menschen vom Standpunkt 



1) Aug. Oncken, Adam Smith und Immanuel Kant. Leipzig 1877. 9— 1& 



§ 3. Adam Smith's nationalökonomische Methode. 345 

des Egoismus aus, das andere von dem der Sympathie, des 
Wohlwollens, Ebensowenig als Ökonomik und Politik, wollte er 
Ethik und Ökonomik absolut trennen. „Die Trennung wurde 
nur in der Abstraktion und aus methodischem Bedürfnis 
von ihm vorgenommen/ „Die Materienabteilung ist nur eine 
Abstraktion, die zur Erleichterung der theoretischen Anschau- 
ung getroffen wurde/ 1 ) 

„In der Lehre vom Nationalreichtum," sagt Lange (a.a.O. 
13, 454) „wird das Axiom aufgestellt, dass Jeder, indem er seinem 
dgenen Vorteil nachgeht, zugleich den Vorteil des Ganzen be- 
fördert. Die Regierung hat weiter nichts zu tun, als diesem 
Kampf der Interessen möglichst Freiheit zu geben. Von diesen 
Grundsätzen ausgehend, brachte er das Spiel der Interessen, den 
Marktverkehr von Angebot und Nachfrage auf Regeln, die noch 
heute ihre Bedeutung nicht verloren haben. Ihm war immerhin 
dieser Markt der Interessen nicht das ganze Leben, sondern nur 
eine wichtige Seite desselben. Seine Nachfolger jedoch vergassen 
die Kehrseite und verwechselten die Regeln des Markts mit den 
Regeln des Lebens, ja mit den Grundsätzen der menschlichen 
Natur. Dieser Fehler trug übrigens dazu bei, der Volkswirt- 
schaft einen Anstrich von strenger Wissenschaftlichkeit zu 
geben, indem er eine bedeutende Vereinfachung aller Probleme 
des Verkehrs. mit sich brachte. Diese Vereinfachung besteht nun 
aber darin, dass die Menschen als rein egoistisch gedacht werden, 
und als Wesen, welche ihre Sonderinteressen mit Vollkommenheit 
wahrzunehmen wissen, ohne je durch anderweitige Empfindungen 
gehindert zu werden. In der Tat wäre nicht das mindeste da- 
gegen einzuwenden, wenn man diese Annahmen offen und 
ausdrücklich zu dem Zwecke gemacht hätte, den Betrachtungen 
über den gesellschaftlichen Verkehr durch Fingierung eines 
möglichst einfachen Falles eine exakte Form zu geben. 
Denn gerade durch die Abstraktion von der vollen, mannig- 
fach zusammengesetzten Wirklichkeit sind auch andere 
Wissenschaften dazu gelangt, den Charakter der Exaktheit 
zu erhalten . . , Eine relative Wahrheit, ein Satz, der nur auf 
Grund einer willkürlichen Voraussetzung wahr ist, und 
welcher von der vollen Wirklichkeit in einem sorgfältig 
bestimmten Sinne abweicht — gerade ein solcher Satz ist 



1) Oncken a. a. O, 16, 78. 



346 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



ungleich eher fähig, unsere Einsicht dauernd zu fördern, als e^r 
Satz, welcher mit Einem Schlage dem Wesen der Dinge möglich 
nahe zu kommen sucht, und dabei eine unvermeidliche und r 
ihrer Tragweite unbekannte Masse von Irrtümern mit sich schlepp 
Wie die Geometrie mit ihren einfachen Linien, Flächen ui: 
Körpern uns vorwärts hilft, obwohl ihre Linien und Flächt! 
in der Natur nicht vorkommen, obwohl die Masse 
Wirklichen fast immer inkommensurabel sind, so kann auch i = 
abstrakte Volkswirtschaft uns vorwärts helfen, obwohl es :i 
Wirklichkeit keine Wesen gibt, welche ausschliesslic: 
dem Antrieb eines berechnenden Egoismus, und zwar dieser 
mit absoluter Beweglichkeit folgen, frei von allen etwaigen hem- 
menden Regungen und Einflüssen, die von anderen Eigenschaft 
herrühren. Freilich ist die Abstraktion bei der Volkswirtsctir 
des Egoismus viel stärker, als in irgend einer anderen bisherige: 
Wissenschaft, da sowohl die entgegensiehenden Einflüsse ctr 
Trägheit und der Gewohnheit, als auch diejenigen der Sympal 
und des Gemeinsinns höchst bedeutend sind. Dennoch darf iii 
Abstraktion dreist gewagt werden, solange sie als solche ir 
Bewusstsein bleibt Denn wenn erst gefunden wird, wie \czt 
beweglichen Atome einer dem Egoismus huldigenden Gesellschai-. 
die man hypothetisch annimmt, sich der Vorraussetzung geraäi. 
benehmen müssen, so wird eben damit nicht nur eine Fiktic: 
gewonnen sein, die in sich selbst widerspruchslos ist, sondern aucr 
eine genaue Erkenntnis einer Seite des menschlichen Wesens . . 
Man könnte wenigstens erkennen, wie der Mensch sich verhak 
insofern die Bedingungen seines Handelns jener Voraussetzung 
entsprechen, wenn dies auch niemals vollständig der Fall se± 
wird.* (Der letztere Satz spricht die Fiktion etwas ungenau a-; 
in formeller Hinsicht; eine genauere Fassung gibt S. 461: rr.iz 
fragt, »wie würde der Mensch handeln, wenn er nur Egc^ 
wäre-,) 

In diesem Abschnitt hat Lange mit jener methodologischer 
Klarheit, welche diesen geistreichen Kopf überall auszeich nr_ 
das Wesen der abstraktiven, neglektiven Methode wunderbi- 
charakterisiert an dem Beispiel der Volkswirtschaft. Seinem 
Herzen macht es Ehre, dass er es für das Wesen des praktischer 
Materialismus erklärte, diese Abstraktion mit der Wirklichkeit n 
verwechseln; „wäre (sagt er S. 461) die Volkswirtschaft von Anfa— 
an nur mit der bewussten Absicht auf den Egoismus basie- 



§ 3. Adam Smith's nationalökonomische Methode- 347 

werden, um durch Abstraktion von anderen Motiven einst- 
weilen eine hypothetische und innerhalb der Schranken der 
Hypothese 1 ) exakte Wissenschaft zu gewinnen, als Vorstufe 
^er volleren Erkenntnis, dann könnte von einem tadelnswerten 
Materialismus auf diesem Gebiete keine Rede sein". Man darf 

Formel des exakten Theoretikers nicht zur Grundlage der 
sopulären Praxis machen. »Die rein atomistische Auffassung der 
Gesellschaft, bei welcher alle gewöhnlich sittlich genannten Motive 
regfallen und nur durch eine Inkonsequenz wieder eingeführt 
raden können ... hat als Hilfsmittel einer Methode all- 
zJhlicher Annäherung an die Wahrheit viel für sich, während 
ne als Dogma falsch ist" (468). »Die ganze Betrachtung ist 
•ine Abstraktion, welche nur die eine Seite der Wirklichkeit 
iervorhebt. Die Befriedigung der Bedürfnisse . . . wird in un- 
zähligen Fällen nicht durch die blosse Maxime des Eigennutzes 
rewerkstelligt, sondern unter Beihülfe von Mitleiden, Freundschaft, 
Dankbarkeit, Gefälligkeit und anderen Motiven, die dem Egoismus 
entgegenwirken* (475). Die Streitfrage, ob Smith selbst die An- 
lahme des allgemeinen Egoismus als eine real begründete Hypo- 
iese oder als eine provisorische Fiktion habe aufstellen wollen, 
>*rührt Lange (S. 563) nur nebenbei und entscheidet sich dafür, 
Smith habe sich mit dieser methodologischen Frage garnicht 
refasst und habe den Egoismus als die wesentliche Grundlage 
:er Handlungen der Menschen aufgestellt und der Sympathie 
nur eine nebensächliche, modifizierende Rolle angewiesen. Er 
entscheidet sich damit — inkonsequenterweise — gegen Buckle'S 
znd MilTs Meinung, welche an Aug. Oncken einen beredten 
Verteidiger gefunden haben. 

Buckle's Ansicht ist, dass die beiden Hauptwerke Smith's, 
iie „Theory" und die „Inquiry* als zusammengehörige Ab- 
teilungen desselben Systems zu betrachten sind. Um die Philo- 
sophie dieses bei weitem grössten aller schottischen Denker zu 
verstehen, müsse man beide Werke zusammennehmen und als 
Eins betrachten, denn sie seien in Wahrheit zwei Abteilungen eines 
and desselben Gegenstandes. Das eine Mal untersuchte er die 
menschliche Natur in ihrem mitfühlenden Wesen, das andere Mal 

1) Der Gebrauch von »Hypothese* und ^hypothetisch" ist hier miss- 
:>rauchlich; Lange hat selbst den richtigen Terminus „Fiktion" oben gebraucht 
Üne eindeutige und konstante Terminologie ist in solchen Fällen nicht bloss 
eine Nebensache. 



348 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



in ihrem eigennützigen Verhalten- 1 ) Da wir alle sowohl mit- 
fühlend als eigennützig seien, so habe diese Trennung nur der 
einzig richtige Weg sein können, um vermittelst der deduktiven 
Methode das Studium der menschlichen Natur zu einer Wissen- 
schaft zu erheben. Diese selbständige Behandlung in Wahrheit 
verbundener Elemente beruhe allerdings auf einer Abstraktion, 
einem logischen Kunstgriff, indem wir die untrennbaren Tat- 
sachen in Gedanken trennen und über eine Reihe von Ereig- 
nissen argumentieren, die keine reelle und unabhängige 
Existenz haben und nirgends anders anzutreffen sind als 
in der Vorstellung des Forschers. Aber dieser Kunstgriff 
sei vollkommen haltbar und überall da anzuwenden, wo ein 
Gegenstand keine Experimente zulasse oder sich zu viel ver- 
wirrendes Detail um denselben angesammelt habe. Wenn jede 
einzelne Folgerung auch nur eine unvollkommene Wahrheit ent- 
halte, so würden doch alle zusammen als ein Ganzes die voll- 
kommenere Wahrheit zum Ausdruck bringen* Allerdings sei dabei 
stets zu berücksichtigen, dass man sich dabei auf einem künst- 
lichen Boden befinde, der sich von der Wirklichkeit in 
manchem unterscheide, was besonders bei der Anwendung 
der theoretischen Sätze auf die Praxis im Auge zu behalten sei. 
„Wir müssen uns immer erinnern, dass die politische Ökonomie 
zwar eine tiefe und schöne Wissenschaft, aber nur die Wissen- 
Schaft einer Abteilung des Lebens ist und sich auf die Unter* 
drückung eines Teils der Tatsachen gründet, welche in allen 
grossen Gesellschaften im Oberfluss vorhanden sind. Sie unter- 
drückt oder, was auf dasselbe hinausläuft, sie lässt ausser Acht 
manche hohe und grossmütige Gefühle, die wir nur schwer ent- 
behren könnten. Wir dürfen daher ihre Folgerungen nicht alle 
anderen Folgerungen beherrschen lassen. Wir können sie in 
der Wissenschaft annehmen und doch in der Praxis ver- 
werfen. u *) 

Was die Methode Smith's betrifft, so haben diese Bemer- 
kungen, wie Oncken mit Recht bemerkt, den Nagel auf den Kopf 
getroffen. 

Mill hat diesem Gegenstand auch eine ausführliche Erörterung 
an mehreren Stellen seiner Werke angedeihen lassen, und wir 
heben diejenigen Stellen besonders heraus, an denen auch in der 

1) Gesch. d. Zivilisation in Engl. U, 422, 

2) ib. 425. 



§ 3, Adam Smith's nationalökonomische Methode. 349 

Form des Ausdrucks das Wesen der Fiktion klar gekenn- 
zeichnet ist, 1 ) Er nennt die notwendige Methode der National- 
ökonomie die physikalische oder konkret-deduktive. *) Er ver- 
wendet dabei den bei einer früheren Besprechung eingeführten 
methodologischen Begriff der Tendenz, womit er ausdrücken 
vül, dass eine Kraft auch dann zu wirken strebt, wenn sie in 
ihrer Entfaltung gehindert wird durch entgegenstehende Einflüsse. 
»Alle ursächlichen Gesetze müssen in Folge der Möglichkeit, dass 
sie eine Gegenwirkung erfahren, in Worten ausgedrückt werden, 
:ie nur Tendenzen und nicht wirkliche Erfolge behaupten 41 . Bei 
<ier Berechnung der Gesetze der menschlichen Natur müssen 
wir die verschiedenen „Tendenzen" genauer unterscheiden und 
die Richtung bestimmen, die jede von ihnen, wenn sie allein 
virkte, der Gesellschaft geben würde. 3 ) Wie die Physik, so 
könne auch die Gesellschaftswissenschaft, als ein Ganzes von 
ipriorischen Deduktionen betrachtet, nicht eine Wissenschaft von 
positiven Vorhersagungen, sondern nur von Tendenzen sein. 
Wir können bestimmen, indem wir die Gesetze der menschlichen 
Natur auf die Verhältnisse eines gegebenen Gesellschaftszustandes 
inwenden, wie eine bestimmte Ursache wirken wird, wenn ihr 
nichts entgegenwirkt;*) allein wir können nie wissen, welche 
Gegenwirkung sie erleiden wird, denn wir kennen selten auch 
nur annähernd alle Agentien, welche mit ihr zusammen bestehen 
mögen, und noch weniger können wir das Gesamtergebnis so 
vieler zusammenwirkender Elemente berechnen. Eine solche zur 
Vorhersagung unzureichende Kenntnis kann aber vom höchsten 
Werte für unsere praktische Leistung sein. 

1) System der Logik VI, IX, § 1 ff. 

2) ib. HI, X, § 5. 

3) Der Ausdruck „Tendenz* ist der Naturwissenschaft entnommen, wie 
Ml selbst a. a, 0. sagt, ist aber beidemal nicht in demselben Sinne angewandt. 
Bei den physikalischen Phänomenen sind jene „Tendenzen*, also z. B. die 
Gravitation, welche zu wirken strebt, auch wenn sie durch entgegenstehende 
Hindernisse aufgehoben ist, Kräfte, welche wirklich isoliert vorkommen, 
während in dem vorliegenden Falle der Egoismus als einziges Prinzip des 
Handelns in einer Gesellschaft sich niemals voll isolieren iässt. Eben darum 
ist hier eine ideelle Absonderung, d, h. eine fiktive Abstraktion oder abstrak- 
dve Fiktion am Platz. 

4) MH1 drückt sich, weil er, wie in der vorigen Anmerkung gesagt ist . 
sieht genau unterschied, zwischen isolierbaren Faktoren und nicht isolierbaren 
hier mangelhaft aus. Es muss heissen : „wie die Ursache wirken würde, wenn ihr 
nichts entgegenwirken würde". Er selbst drückt sich w ?iterhin richtiger aus. 



350 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



Die deduktive Wissenschaft kann nur in solchem Sinne 
allgemeine Sätze aufstellen; indem man die Anwendung bekannter 
einfacher psychischer Gesetze auf einzelne Gebiete macht, kann 
man bestimmen, wie irgend eine gegebene Ursache unter be- 
stimmten Umständen wirken würde, vorausgesetzt, dass keine 
andern Ursachen mit ihr vereinigt seien. Wenn, sagt er weiterhin, 1 ) 
der vorausgesetzte Kreis von Verhältnissen das Abbild der Ver- 
hältnisse irgend einer wirklich existierenden Gesellschaft ist [wäre!], 
so werden {würden} die Folgerungen für diese Gesellschaft wichtig 
sein, vorausgesetzt, dass und insoweit als die Wirkung jener Um- 
stände nicht durch andere Umstände modifiziert wird [was der 
Fall ist], die nicht in Rechnung gezogen wurden. Wünschen wir 
der konkreten Wahrheit näher zu kommen, so können wir dies 
nur erzielen, indem wir eine grössere Anzahl von individuali- 
sierenden Umständen in die Berechnung mit einschliessen. Mill 
nennt diese allgemeinen Sätze hypothetischer Art. Auch hier 
müssen wir gegen diesen Terminus protestieren, der methodo- 
logisch nur verwirren kann. Die »Hypothese 44 , um welche es sich 
hier handelt, ist eine unmögliche, ist eine Fiktion, und die 
allgemeinen Sätze sind fiktiver Natur, Der weitere Verlauf 
der MilKschen Ausführung erkennt dies auch deutlich an, wie 
der folgende Auszug aus Mill lehrt. 

Wie man beim physischen Körper die Physiologie und 
Pathologie jedes einzelnen Hauptorganes gesondert studiere, so 
zerfalle auch die sozialwissenschaftliche Forschung in mehrere 
gesonderte, wenn auch nicht unabhängige Zweige. Diejenigen 
gesellschaftlichen Erscheinungen, in denen das Streben nach 
Reichtum die unmittelbar bestimmende Tatsache ist, und in denen 
das psychologische Gesetz des Egoismus die grösste Rolle spielt, 
also denjenigen Teil, der die gewerblichen und kommerziellen 
Phänomene umfasst, können wir gesetzlich bestimmen, insoweit 
als sie von jenem Gesetz des Egoismus allein beeinflusst sind. 
Hierbei sehen wir ab vom Einfluss irgend welcher anderen 
Verhältnisse der Gesellschaft und bringen Störungen und Modi- 
fikationen durch andere Ursachen nicht in Anschlag. Die 
Wirkungen der modifizierenden Verhältnisse werden erst nachher 
in Anschlag gebracht Die politische Ökonomie sieht zu- 
nächst von jeder anderen Leidenschaft und Neigung vollkommen 
ab; sie be trachtet den Menschen als lediglich mit dem Er- 

l) Ib. Vi, IX, § 2. 



§ 3. Adam Smith's nationalökonomische Methode* 351 

werben und Verzehren von Vermögen beschäftigt und strebt danach 
zu zeigen, zu welcher Handlungsweise die im Gesellschaftszustande 
lebenden Menschen geführt würden, wenn dieser Beweggrund 
anbedingte Gewalt über alle ihre Handlungen besässe. Alle 
sozialen Einrichtungen und Verrichtungen (Ansammlung und 
Verwendung von Vermögen, Heiligung des Eigentums, Fest- 
stellung von Eigentumsgesetzen, Verteilung des Arbeitsvertrags 
nach Übereinkunft unter dem Einfluss der Konkurrenz, Verkehrs- 
behelfe, Geld etc.) — von denen viele in Wahrheit das Ergebnis 
einer Vielzahl von Beweggründen sind, sieht die politische Öko- 
nomie so an, als wären sie lediglich aus dem Verlangen nach 
Vermögen entstanden. Die Wissenschaft geht dann daran, die 
Gesetze zu erforschen, die diese verschiedenen Verrichtungen 
beherrschen, unter der Voraussetzung, dass der Mensch nur ein 
egoistisches Wesen sei, das durch seine Natur mit Notwendigkeit 
dazu gedrängt wird, einen grösseren Teil von Vermögen einem 
kleineren in allen Fällen vorzuziehen. Nicht, dass ein politischer 
Ökonom (also auch nicht Ad. Smith) so thöricht war, 2u denken, 
dass die Menschheit wirklich so beschaffen ist, sondern 
dies ist die Art, in der die Wissenschaft notwendig vorgehen 
muss. Sobald eine Wirkung auf dem Zusammenwirken von 
Ursachen beruht, so müssen diese Ursachen jede für sich studiert 
und ihre Gesetze gesondert erforscht werden. Um beurteilen! 
zu können, wie der Mensch unter dem Einfluss all der mannig- 
fachen Neigungen und Abneigungen handeln wird, deren Totalität j 
auf ihn einwirkt, müssen wir vorerst wissen, wie er unter der I 
ausschliesslichen Herrschaft einer jeden einzelnen von ihnen) 
handeln würde. Es gibt aber vielleicht keine Handlung im 
Leben des Menschen, bei der er weder unter dem unmittelbaren, 
noch unter dem entfernten Einflüsse irgend eines anderen Triebes, 
als des blossen Verlangens nach Vermögen stünde. Was jene 
Seiten des menschlichen Handelns betrifft, für die der Erwerb von 
Vermögen nicht das hauptsächliche Ziel ist, so erhebt die politische 
Ökonomie nicht den Anspruch, dass ihre Schlüsse auf sie an- 
wendbar seien. — Die politische Ökonomie geht notgedrungen 
in der Art vor, dass sie das hauptsächliche und anerkannte Ziel 
so behandelt, als ob es das einzige wäre; denn dies ist 
von allen gleich einfachen Hypothesen 1 ) diejenige, die der Wahr- 

1) Der Ausdruck „Hypothese" ist bei Min, gerade wie oben S. 347 bei 
Lange unrichtig verwendet Es handelt sich vielmehr um Fiktionne. 



352 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



heit am nächsten kommt. Der politische Ökonom le£t sich £e 
Frage vor: welches sind die Handlungen, die durch jenes Ver- 
langen erzeugt würden, wenn es innerhalb der betreffender 
Gebiete von keinem anderen Verlangen behindert wäre. An 
diesem Wege wird eine grössere Annäherung an die Erkenntrs 
des wirklich in jenen Gebieten herrschenden Sachverhaltes erzieh 
als sich auf irgend eine andere Weise erzielen Hesse, Diese 
blosse Annäherung muss dann dadurch berichtigt werden 
dass man die Wirkungen irgend welcher anderen Ziele nach- 
träglich gebührend in Anschlag bringt Bei wichtiger 
Fragen werden diese Berichtigungen in die Darstellung de- 
politischen Ökonomie selbst eingeschaltet, wobei die Strengt 
der rein wissenschaftlichen Anordnung der praktischer 
Nützlichkeit zum Teil geopfert wird. Die Schlüsse cer 
politischen Ökonomie können da, wo andere Nebeneinflüsse 
stattfinden, zur Erklärung oder Vorhersagung wirklicher Er- 
eignisse nicht dienlich sein, und man kann sie nur dadurci 
dazu dienlich machen, dass man das Mass von Einfluss. 
welches die andere Ursache ausübt, gehörig in Anschlag 
bringt, und jene Schlüsse dementsprechend modifiziert — 
[Was man also vorläufig ausser Acht lässt, muss man nach- 
träglich wieder in Anschlag bringen.] Sobald solche Ge- 
setze wirklich in Anwendung gebracht werden sollen, bedürfex 
sie einer Revision, wie wenn man Gesetze, welche von eintir 
Gesellschaftszustand abstrahiert sind, auf einen anderen, ver- 
schiedenen anwenden will. 

Diese Methode, welche wir möglichst mit Mill's eigener 
Worten wiedergegeben haben, 1 ) nennt Mill ausdrücklich (ib. § 4 
die hypothetische oder abstrakte, — was über diese Termini ge- 
sagt werden muss, haben wir schon früher angemerkt. Den Modrs 
derselben hat Mill ebenfalls genau gekennzeichnet, es ist der 
doppelte logische Prozess — erstens vorläufige Weglassuc^ 
zweitens nachträgliche Einrechnung gewisser Faktoren. Mar 
vernachlässigt zuerst Ursachen, um deren Einwirkung „auf einer 
späteren Zeitpunkt der Untersuchung zu verschieben*. So lange 
diese sekundären Faktoren nicht in Anschlag gebracht werder 
können, ist die „praktische Anwendung* der aus den primäres: 

1) Vgl. Mill, a. a. O. VI, IX, § 3 und die daselbst angeführten Stellet 
aus desselben Verfassers „Essay» <m Borne Unsettled Questwns of Foliiica* 
JSconomy« 137—140. 



§ 3. Adam Smith's nationalökonomische Methode. 353 

Faktoren abgeleiteten Gesetze «geschädigt*. Die vorläufige 
Sonderbehandlung, indem man ein komplexes Gebiet „in Einzel- 
ächer« zerlegt, diese gesondert erforscht, um deren Ergebnisse 
sich nachträglich zum Behuf der praktischen Anwendung wechsel- 
seitig modifizieren und berichtigen zu lassen, hat zur Folge, dass 
die Schlüsse aus diesen Fiktionen „nur bedingungsweise* und 
mit Vorbehalt der durch die Berücksichtigung der anderen Fak- 
toren „zu übenden Kontrolle" gelten. 1 ) 

Mill hat damit auch ausgesprochen, dass Ad. Smith mit 
Bewusstsein diese Methode verfolgte und sich die abstraktive 
and fiktive Natur seines Verfahrens klar gemacht hat. Freilich 
hat sich der schottische Denker über diesen Punkt nicht aus- 
gesprochen. Aber, wie wenigstens Oncken behauptet, aus der 
ganzen Anlage und Durchführung seiner Philosophie geht her- 
vor, dass er die fiktive Natur seiner Untersuchungen als selbst- 
verständlich voraussetzt Mit einer Härte werden in der Öko- 
nomik aus dem abstrakt angenommenen Prinzipe der Selbstliebe 
die Folgerungen abgeleitet, und jede, auch die ideellste Handlung 
— deren anderweitige Bedeutung er gleichwohl nicht leugnet, 
vielmehr nachdrücklich betont — nach ihrem materiellen Werte 
abgeschätzt, dass an einer absichtlichen Einseitigkeit gar 
nicht gezweifelt werden kann. Diese Methode ist nach Oncken 
eine kennzeichnende Eigentümlichkeit von Smith. Es handelt 
sich, sagt eben derselbe, bei der ganzen Frage um nichts Anderes, 
als um das Wesen der rationalen Forschungsmethode überhaupt, 
deren charakteristische Eigentümlichkeit es ist, die Dinge in der 
Einbildung von allen äusseren Einflüssen zu trennen, 
um sie ganz isoliert mit Rücksicht auf einen besonderen 
Zweck zu betrachten. Es ist, fügt derselbe richtig hinzu, die 
Methode, welche durch Cartesius für die Untersuchung einzelner 
Objekte in die Wissenschaft eingeführt, durch Kant und Smith aber 
auf ganze Abteilungen der Philosophie ausgedehnt worden ist. Er 
hätte noch hinzufügen können, dass diese Methode im 18. Jahr- 
hundert viel gebraucht war, und dass im Laufe der Zeit und beson- 
ders im 19. Jahrhundert nach dem „Gesetz der Ideenverschiebung" 
aus Fiktionen der Meister Dogmen der Schüler geworden sind. 2 ) 

1) a. a. O, § 4. 

2) Die Smith'sche Methode hängt mit den im 18. Jahrh. beliebten Fabeln 
und Utopien zusammen, u. A. besonders mit der Mande ville'schen Bienen- 
fabel, wie Karl Marx (Das Kapital I, S-339, Anm. 57) bemerkt 

23 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



Andere, z. B. Lexis, bezweifeln, — trotz der durch Buckle 
mit Evidenz nachgewiesenen Tatsache, dass der „Reichtum der 
Nationen* nur ein Bruchstück bildet von einem umfassenderen 
sozialpolitischen Werke, welches auf die MoraUheorie folgen 
sollte 1 } — ob Adam Smith die Methode der Abstraktion mit Be- 
wusstsein so angewendet habe, dass er in dem einen Werke den 
Menschen nur vom Egoismus, in dem anderen nur von der Sym- 
pathie ausgehen lasse. Er macht aber auch ausserdem — ab- 
gesehen von, dieser rein historischen Frage — gegen die Methode 
selbst Einwände. Buckle findet in dem Verfahren von Smith 
einen Vorzug vor dem induktiven, welches von Tatsachen aus* 
geht. Durch Vereinfachung der Prinzipien wird die Anwen- 
dung des deduktiven Verfahrens möglich gemacht, und der 
Fehler der Einseitigkeit soll durch das Ausgehen von ver- 
schiedenen Prinzipien korrigiert werden, so dass also die Wirk- 
lichkeit sich zusammensetzen würde aus denjenigen Einflüssen, 
welche vermöge der „Moraltheorie" aus der Sympathie folgen 
und aus denen, welche vermöge „des Nationalreichtums " aus dem 
Egoismus folgen. Dieser Ansicht Buckle's gegenüber mache Lexis, 
fügt Lange hinzu, mit Recht darauf aufmerksam, dass mensch- 
liche Motive sich nicht addieren und subtrahieren lassen, sondern 
schon durch ihr Zusammenwirken anders werden, als sie für sich 
sind. Dieses „mit Recht* Lange's ist aber nach dem, was er 
selbst früher über dasselbe Thema sagte, sehr unberechtigt, und 
eine Erwägung sämtlicher von Buckle, Lange, Mill beigebrachten 
Gründe für das Recht und den Nutzen dieser fiktiven Methode 
scheint den Einwänden von Lexis nicht günstig zu. sein. 



§ 4. 

Beafham's staatswissenschafiliche Methode.*) 

Ein anderes» ebenso lehrreiches Beispiel für die fiktive 
AbstraktionsmeAode bietet die Bentham'sche Behandlung der 
staatswissensdhahixfaen Probleme dar. Nur ist bei diesem Falle 



1) Was zach (rarft Oocten) Dugald Stewart, Account of the Life 

Y# - andWrUinpt of A**m Smmtk (ia der Ausgabe seiner Essays on philosophiert 
t ^ *SEeaCl7*r* OTT 1 



§ 4. Bentham's staatswissenschaftliche Methode. 



355 



<Üe historische Frage, ob Bentham die Methode mit Bewusstsein 
angewandt habe, d. h. ob ihm seine Annahme eine Fiktion und 
nicht eine Hypothese gewesen sei, dahin zu beantworten, dass 
für Bentham seine Ausführungen allerdings Hypothesen gewesen 
zu sein scheinen, und dass erst seine Nachfolger in dieser als 
Hypothese falschen Annahme eine wichtige und brauchbare Fik- 
tion erkannt haben. Bentham gründet die allgemeine Lehre vom 
Staat auf die umfassende Voraussetzung, dass die Handlungen 
der Menschen immer durch ihre Interessen und zwar durch ihre 
rein persönlichen, selbstischen Interessen bestimmt werden. Um 
nun den Konstitutionalismus, den Parlamentarismus als notwendige 
Regierungsform darzustellen, macht Bentham aus jenem Axiom 
folgende Deduktion: Wenn die Handlungen der Menschen im 
Wesentlichen durch ihre selbstsüchtigen Interessen bestimmt 
werden, so sind die einzigen Herrscher, welche im Interesse der 
Beherrschten regieren, nur diejenigen, deren selbstsüchtige Inter- 
essen koinzidieren mit den Interessen des Volkes. Diese Koin- 
zidenz trete aber nur dann ein, wenn die Interessen der Herrscher 
durch Verantwortlichkeit, d. h. durch Abhängigkeit der Regieren- 
den von dem Willen der Regierten mit den Interessen der Letz- 
teren in Harmonie gesetzt werden. Daraus folgt also, dass das 
Verlangen, die Gewalt zu behaupten und die Furcht, sie zu ver- 
lieren, der einzige Beweggrund ist, der als die Quelle eines mit 
dem Gesamtinteresse des Volkes übereinstimmenden Verhaltens 
gelten könne- Das Gefühl der Identität des Interesses kann nur 
durch die Verantwortlichkeit hervorgerufen und erhalten werden. 
Daraus leitet Bentham die Regierungsform der Volksvertretung, 
Verantwortlichkeit der Minister u. s. w. ab. 

Mill, dem unsere Schilderung dieser Theorie entnommen ist, 1 ) 
scheint nun aber eine Inkonsequenz zu begehen, wenn er diese 
Art von Beweisführung für unwissenschaftlich erklärt, weil, wenn 
auch die Deduktion selbst nicht anzugreifen sei, doch das zu 
Grunde liegende Axiom der Wirklichkeit nicht entspreche; denn 
es werden die Menschen nicht in allen ihren Handlungen von 
ihren selbstsüchtigen Interessen geleitet. Eine Inkonsequenz muss 
es genannt werden, weil Mill selbst, wie wir sahen, in der Natio- 
nalökonomie dasselbe Axiom als fiktive Grundlage annimmt und 
die Methode dieser fiktiven Abstraktion ganz richtig schildert. 



1) Logik, a, a. 0. VI, VIII, § 3. 



356 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



Allerdings nimmt die Bentham'sche Theorie die hier in Frage 
kommenden Verhältnisse als nur durch eine Ursache, anstatt 
durch ein Zusammenwirken von Ursachen bestimmt an. Und 
insofern Bentham diese Ansicht als Hypothese statt als Fiktion 
aufstellt, sind Mill's Einwände auch ganz gerechtfertigt Aber er 
selbst gibt im weiteren Verlauf der Darstellung dieser Methode 
alle Merkmale an, welche sich auch bei der oben geschilderten 
nationalökonomischen Methode fanden, so dass sein Einwand 
sich [eben hätte darauf beschränken sollen, dass Bentham hier 
eine Fiktion für eine Hypothese ausgegeben habe. Diese Merk- 
male der Fiktion sind erstens der schon erwähnte Umstand, dass 
faktisch das eigene Interesse des Herrschers oder des Beherrschten 
zwar wohl der mächtigste, aber keineswegs der einzige Faktor 
des Verhaltens ist, sondern dass hier alle jene oben bei der 
nationalökonomischen Frage aufgeführten Motive und noch einige 
andere z. B. Anhänglichkeit, Treue, religiöse Glaubensartikel u. s. w. 
mitwirken, und dass auch eine Identität der Interessen ohne Ver- 
antwortlichkeit bestehen kann; Mill meint daher, man könne un- 
möglich glauben, dass diese Philosophen diese Prämissen für 
hinreichend gehalten haben, um alle gesellschaftlichen Erschei- 
nungen vollständig zu erklären und die Wahl der Regierungs- 
formen gleichwie der Massregeln der Gesetzgebung und Verwal- 
tung zu bestimmen. Das wäre nur ein Beweis dafür, dass dann 
Bentham das Ganze doch nur für eine brauchbare Fiktion ge- 
halten habe. Ein weiteres Merkmal ist der Umstand, dass jene 
Theorie nur mit Zugeständnissen, d. h. mit Inkonsequenzen an- 
wendbar war. Dasselbe Merkmal fanden wir schon oben. Ein 
ferneres Merkmal, das ich der Autobiographie Mill's entnehme, 1 ) 
ist, dass diejenigen Faktoren, welche vorläufig ausser Rücksicht 
gelassen wurden, nachher bei der Anwendung auf die Praxis als 
„Korrektionsmotive' 1 einzutreten hatten. Damit haben wir alle 
Merkmale der Fiktion beisammen, Mill's Einwände, dass der 
Mangel an genügender Breite in den Grundlagen jener Lehre im 
Oberbau derselben keine gebührende Ausgleichung finde, dass 
es unphilosophisch sei, eine Wissenschaft aus nur wenigen von 
jenen Kräften aufzubauen, durch welche die Erscheinungen be- 
stimmt werden, dass die Deduktionen von dem Ganzen und nicht 



1) s. J. St Mill's Selbstbiographie. Aus dem Engl, von Dr. C. Kolb. 
1874, S 130 



§ 4. Bentham's staatswissenschaftliche Methode. 357 



nur von einem Teile der betreffenden Naturgesetze ihren Ausgang 
nehmen sollen, dass man keinen Faktor ausser Acht und Rech- 
nung lassen dürfe u, s. w. — diese Einwände nehmen sich etwas 
sonderbar aus nach dem, was Mill selbst über die notwendige 
Methode der Nationalökonomie gesagt hat Seine Behauptung, 
dass diese Bentham'sche Methode eine „geometrische" sei, weil 
sie nicht die Kollision von Kräften, das Ineinanderspiel der Ur- 
sachen berücksichtige, sondern nur nach Art der Geometrie aus 
Einem Axiom deduziere, ohne Berücksichtigung kontrekarrierender 
Einflösse, ist ganz richtig; nur ist diese Methode sehr nützlich, 
wenn sie mit Vorsicht angewandt wird. Dagegen ist die Ent- 
gegenstellung einer physikalischen oder konkret -deduktiven 
Methode im Gegensatz zu jener geometrischen oder abstrakt- 
deduktiven Methode in der Sozialwissenschaft wiederum unbe- 
rechtigt, weil eben bei genauerer Darstellung der ersteren sich 
zeigt, dass sie ohne die zweite nicht auskommt, dass man bei 
solch verwickelten Gebieten an Stelle der konkreten Wirklichkeit 
eine abstraktere Fiktion setzen muss und darf. 1 ) 

Und dazu kommt noch, dass ja, wie wir schon öfters ge- 
sehen haben und noch mehr erkennen werden, wie übrigens ja 
auch Mill selbst wohl wusste — dass auch die Physik selbst 
durchaus nicht ohne jede abstraktive, resp. fiktive Methode aus- 
kommt. Gerade in der Physik werden abstrakte, schematische, 
fiktiv vereinfachte Verhältnisse der komplizierten Berechnung des 
Konkreten zu Grunde gelegt. 



§ 5. 

Abstraktiv-Üttive Methoden in Physik und Psychologie.*) 

Es ist bekannt, dass man gerade in der mathematischen 
Physik die abstractio logica sive mentalis in Fällen anwendet, wo 
eben von einer abstractio physica sive reälis keine Rede sein kann; 
die letztere wird angewandt, wenn man ein Stück Holz in Teile 
spaltet, die erstere, wenn man z. B. von Körpern ohne Schwere 

1) Vgl. hierzu die Selbstbiographie a, a. 0. 133. Zum Verhältnis Miü s 
zu Bentham vgl. ib. 15. 52 ff, 65 ff. 74 ff. 81 ff. 87 ff. 90 ff. u. '6. 

*) Weitere Ausfiihmngen zu Teil I, Kap. 2, S. 82 ff. 



358 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen 



redet 1 ) und solche fingiert. Sie findet aber auch statt, wenn man 
von dem erfüllenden Medium absiebt und n zur Bequemhchketi 
für den Physiker dahin übereinkommt, den relativ leeren Raum als 
absolut leer zu betrachten*, wobei „der Mathematiker namentlich, 
welcher gewohnt ist, alle höheren Potenzen einer unendlich kleinen 
Grösse aus seiner Rechnung wegzulassen, nichts Bedenkliches 
finden kann 41 .*) Wenn die wissenschaftliche Naturerklärung dis- 
krete Massenteilchen voraussetzt, „welche sich in einem wenig- 
stens vergleichsweise leeren Räume bewegen", so sieht sie 
damit eben ab von den Einflüssen, welche von dem den Raum 
kontinuierlich erfüllenden Medium ausgeübt werden; und diese 
Neglektion wirklich vorhandener und in der Tat stets untrennbarer 
Elemente der Wirklichkeit dient ungemein zur Erleichterung der 
Rechnung. Und hierher ist es doch wohl auch zu rechnen, wenn 
die Physik die Moleküle „der Einfachheit halber als kugelförmig" *) 
betrachtet, eine Annahme, die mit den Anforderungen der Chemie 
nicht völlig übereinzustimmen scheint. Es werden daher die 
möglichen Unregelmässigkeiten der geometrischen Gestalt ver- 
nachlässigt, und eben zur Simplifizierung der Sache ein einfacheres 
Verhalten zu Grunde gelegt, als faktisch stattfindet. Wenn die 
theoretische Mechanik und Physik deduktiv verfahren wollen, ist 
eine andere Behandlungsweise des Wirklichen garnicht möglich. 
Denn gerade hier sind die empirischen Erscheinungen so ver- 
wickelt, dass mit Ausschluss von Nebenumständen, welche aber 
faktisch immer wirksam sind — abstrakte Verhältnisse zu Grunde 
gelegt werden und das Verhalten dann so behandelt und berechnet 
wird, als ob es nur von jenen abstrakten Faktoren abhinge und 
die anderen garnicht in Betracht kämen. 

Dieselbe Methode leistet vortreffliche Dienste nicht nur in 
dem Gebiete der angewandten Psychologie — als was die Sozial- 
wissenschaften seit Adam Smith und Bentham zu betrachten sind — 
sondern auch bei der Erforschung der primären psychischen 
Phänomene. Auch hier macht es die verwickelte Natur der 
Phänomene notwendig, absichtlich nur einen Bruchteil der leben- 
digen Wirklichkeit an Stelle der ganzen Fülle der Ursachen und 
Tatsachen zu setzen. Die psychologischen Verhältnisse sind so 
verwickelter Natur, dass gerade hier Fiktionen, welche zunächst 

1) Vgl. Ersch und Grubers Enzyklopädie; Art Abstraktion. 

2) Lange a.a.O. IL 196. 

3) Lange a.a.O. IL 201. 



§ 5. Abstraktiv-fiktive Methoden in Physik und Psychik- 359 

tiur Ein Moment zur Geltung bringen und andere vernachlässigen, 
um so die theoretische Berechnung leichter anstellen zu können, 
sehr gut angebracht sind. Insbesondere, seit man in der Psycho- 
logie die Analogie der psychischen Phänomene mit mechanischen 
Vorgängen durchgeführt hat, hat diese Methode auch hier um 
sich gegriffen. Speziell hat Lange mit feinem methodolo- 
gischen Auge die Formeln der H erb art* sehen Psychologie 
für blosse Fiktionen erkannt, welche als Hypothesen falsch, 
als Hilfsformeln aber nicht unbrauchbar sind. Herbart selbst 
meinte damit nicht die volJe Wirklichkeit getroffen zu haben — 
auch er selbst schrieb seinen Formeln z. T. nur methodologischen 
Charakter zu. In der trefflichen Abhandlung: „Die Grundlegung 
der mathematischen Psychologie, ein Versuch zur Nach Weisung 
des fundamentalen Fehlers bei Herbart und Drobisch" (Duis- 
burg 1865), hat Lange jenen Nachweis geführt, wobei er freilich 
schliesslich nur wenigen der Formeln Herbarfs Brauchbarkeit zu- 
misst »Die Fiktion einer völligen Unterdrückung aller Tätigkeiten 
(Vorstellungen) bis auf eine*, dieses » Prinzip einer fingierten Unter- 
drückung 0 (S. 6, 8, 9), scheint ihm wenig Wert zu besitzen, und 
*r ist geneigt, die Frage, „ob diese Fiktion eine zulässige und zum 
Ziele führende zufällige Ansicht sei*, zu verneinen. Die »Fiktion 
der ausschliesslichen Belastung der schwächeren Vorstellungen* 
scheint ihm dagegen nicht ganz wertlos zu sein (10). Das Merkmal, 
dass eventuell eine solche Fiktion auf »ein unsinniges Resultat 
führt'*, z. B, auf negative Vorstellungen, kehrt daselbst wieder, und 
Lange macht die richtige Bemerkung, dass darum die Methode der 
Fiktion doch 2ulässig sein kann. Gegen »die Fiktion der Über- 
tragung der Hemmung auf eine einzige Vorstellung* (1 1) hat er metho- 
dologische Bedenken, weil sie anderweitigen Voraussetzungen 
widerspreche. Herbart selbst nennt diese Annahme »eine blosse 
Fiktion, der die Wirklichkeit durchaus nicht entsprechen kann". 
Allein weder dies, noch die Tatsache, dass bei solchen Fiktionen 
„sogar Widersprechendes herauskommt* (12—14), ist prinzipiell 
«in Grund gegen die Nützlichkeit solcher Annahmen, solange 
man sie eben nur als Fiktionen behandelt. Eine Methode ist 
dadurch, dass sie auf ein unmögliches Ergebnis führt, zwar wohl 
als fehlerhaft, d, h. als auf einem Fehler beruhend nachgewiesen, 
aber es fragt sich immer in dem einzelnen Falle, ob nicht dieser 
Fehler nützlich ist, und ob er bei der Anwendung nicht korrigiert 



360 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



werden kann. Diese Methode hat auch Drobisch 1 ) befolgt; auch 
er macht solche fiktiven Annahmen. Er spricht es in der Vorrede 
zu den „ Grundlehren* schon aus, dass die fundamentalen An- 
nahmen der mathematischen Psychologie nur vorläufige Annahmen 
seien, welche der Wirklichkeit, wenn auch nahe kommen, so 
doch nicht entsprechen. Freilich zweifelt Lange a, a. O. (30) die 
wissenschaftliche Rentabilität solcher fiktiven Lehrgebäude skeptisch 
an, ohne Jedoch ihre Nützlichkeit ganz zu leugnen. Er rühmt es 
aber (33) an Drobisch, dass er einen Fehler Herbarts, einen 
»logischen Schnitzer* desselben, nur als eine (wenn auch schwer 
zu rechtfertigende) Hilfshypothese einführe. 

In neuerer Zeit hat sich Steinthal dieser Methode bedient 
und theoretische Formeln in der Psychologie aufgestellt, welche 
nur durch Vernachlässigung vieler empirischer Faktoren gewonnen 
sind:*) er nennt sie „abstrakte Bilder* der seelischen Vorgänge.*) 
Wundt, ebenso vortrefflich in der wissenschaftlichen Praxis, als 
in der Theorie der scientifischen Methoden, äussert sich Über 
diese Herbart'schen und ähnlichen Verfahrungsweisen in folgender 
Art. Nachdem er der verschiedenen Schwierigkeiten, welche einer 
mathematischen Behandlung der psychischen Phänomene sich 
entgegenstellen, gedacht hat, fährt er fort: „Man könnte — dies 
wäre die einzige Möglichkeit, um dennoch zu einer mathematischen 
Behandlung zu gelangen — hypothetische Voraussetzungen über 
die fundamentalen Grössenbeziehungen bei der Wechselwirkung 
der Vorstellungen machen, daraus die Folgerungen entwickeln, 
und diese soweit als möglich mit der Erfahrung vergleichen. In 
der Tat wird dieser Weg in allen Zweigen der mathematischen 
Physik wenigstens aushülfsweise betreten. Da man selten durch 
Induktion wirklich bis zu den letzten Tatsachen gelangt, mit 
welchen man eine mathematische Ableitung gewinnen kann, 
auch wenn dies der Fall sein sollte, jene letzten Voraussetzungen 
wahrscheinlich selten einfach genug wären, um eine Bewältigung 
durch den Kalkül zuzulassen, so bleibt in der Regel zwischen 
dem Punkt, wo die Induktion aufhört und demjenigen, wo die 
Deduktion anfängt, eine mehr oder minder grosse Lücke. Demnach 

1) s. „Quaestionum mathematico-psychologicarvm" fasc, L und „Grund- 
lehren der mathematischen Psychologie" 

2) Dies hat speziell Glogau in der Schrift: „Steinthals psychologische 
Formeln 8 mehrfach ausgesprochen. 

3) s. Ursprung der Sprache, 3. Aufl. S, 30t. 



§ 5. Abstraktiv-fiktive Methoden in Physik und Psycbifc 361 

beginnen denn die Deduktionen der mathematischen Optik, 
Elastizitätslehre u. s. w. mit Hypothesen, die keineswegs durch 
Induktion erwiesen sind, ja die man in der Regel nicht ein- 
mal für wahrscheinlich hält, sondern von denen man nur 
annimmt, dass sie Annäherungen an den wirklichen Tat- 
bestand seien, bei welchem von unberechenbaren Verwickelungen, 
wie sie in der Natur nie fehlen, abstrahiert ist. Soll trotz dieses 
hypothetischen Charakters der ersten Voraussetzungen die mathe- 
matische Theorie doch als eine einigermassen begründete gelten, 
so müssen aber zwei Erfordernisse zusammentreffen: es müssen 
erstens die Hypothesen, von denen man ausgeht, wenigstens 
durch die Induktion vorbereitet sein, diese muss ihnen als den 
wahrscheinlichsten einfachen Annahmen entgegenführen, und es 
darf zweitens die schliessliche Kontrolle durch die Erfahrung 
nicht fehlen. Mangelt das erste dieser Erfordernisse, so kann 
eine mathematische Theorie immer noch als eine brauchbare 
Verbindung der Tatsachen gelten, mangelt das zweite, so lässt 
sie sich, wenn das erste vorhanden ist, wenigstens als Anleitung 
benützen, um Tatsachen, zu denen begründete Vermutung vor- 
handen ist, auf die Spur zu kommen.* 

Dieser Auseinandersetzung ist noch die Bemerkung hinzu* 
zufügen, dass hier auch der Zusammenhang dieser Abstraktions- 
methode mit den besonders in der Mathematik beliebten tentativen 
oder heuristischen und Approximations-Methoden erhellt, d. h. 
mit dem Verfahren, wo probeweise, versuchsweise ganz beliebige 
Werte, z. B. zur Auflösung mathematischer Gleichungen, ange- 
nommen werden, welche dann allmählich durchprobiert werden, bis 
sich der Wert modifiziert und durch Akkomodation und Adaption 
an seine richtige Wertstelle verschiebt. Solche approximativ an- 
genommenen Werte werden durch Experimentieren mit ihnen 
allmählich den Bedingungen akkomodiert; besonders komplizierte 
mathematische Aufgaben lassen oft keine andere Auflösung zu. 1 ) 

1) Diese Methode der allmählichen Annäherung nach Vorbild der Mathe- 
matik ist aber auch sonst üblich; prinzipiell mit diesen mathematischen Methoden 
identisch ist die. sokratisch-platomsche Methode, Definitionen zu suchen» Die 
Bedingungen, denen dieselben entsprechen sollen, sind die gegebenen Bestim- 
mungen, und es werden dann zuerst beliebige Definitionen als ino&e<Teis zu 
Grunde gelegt, welche durch Durchprobieren der Wirklichkeit allmählich an* 
genähert und akkomodiert werden. Der Terminus mi&ms ist dabei aber in 
einem anderen Sinne gebraucht, als unsere moderne „Hypothese % nämlich als 
ein Satz, der nur momentan im Gespräch oder im Beweisgang verwendet 



362 



Zweiter Teil; Spezielle Ausführungen, 



Die Fiktionen, welche wir bisher betrachteten, und die Ver- 
suchsmethoden gehen oft ineinander üben Bei den ersteren ist 
die fiktive Annahme Grundlage eines ganzen Systems, die anderen 
sind nur für den Augenblick gemachte beliebige Annahmen, deren 
Zweck im Verlauf der kurzen Rechnung schon erfüllt ist» Bei 
den Fiktionen werden meistens beliebig Faktoren weggelassen, 
welche man zwar kennt, deren Hineinziehung aber die Denk- 
rechnung zu kompliziert machen würde, bei den tentativen An- 
nahmen dagegen macht man die Voraussetzung nur auf gut Glück, 
ohne die Differenz der falschen Annahme von der wahren, wie 
bei jenen, genau bestimmen zu können; denn würde man das, 
so würde man eben die richtigen Werte selbst zu Grunde legen. 
Beide Beispiele der heuristischen Kunstgriffe des Denkens sind 
somit fast nur graduell verschieden. 



§ 6. 

Die fingierte Statue Condillac's,*) 

Als ein hervorragendes Beispiel der fiktiven AbstraktionS- 
methode, das aber schon den Übergang zu einer anderen Klasse 
von Fiktionen bildet, ist hier die bekannte Condillac'sche 
Fiktion zu erwähnen, welche den Traite des Sensation* so be- 
rühmt und verdienstlich gemacht hat Der Zweck dieser Fiktion 
ist die Aufstellung dessen, was man später „Ideologie* nannte, 
d. h, eine Analyse aller Ideen, eine Reduktion aller Vorstellungen 
und Begriffe auf ihren Ursprung aus der Erfahrung, kurz eine 
Theorie der Ideenbildung aus den Sensationen. Zu diesem Zwecke 
fingiert {imaginer, mpposer) Condillac eine Statue, die ähnlich wie 
ein lebender Mensch zu denken ist, dessen Seele noch ohne alle 
Vorstellungen ist Um Eindrücke auf diese Seele beliebig ab- 
schliessen und zulassen zu können, lässt er diesen fingierten 
Menschen von einer Marmorhülle^ umgeben sein, die ihm den 

werden kann, wenn er zugestanden wird. Nur in diesem antiken Sinne kann 
daher Wundt jene fiktiven Annahmen „hypothetisch" nennen» Da wir jetzt aber 
unter „Hypothesen" Sätze verstehen, welche wenigstens Wahrscheinliches 
aussprechen, so ist es untunlich, damit auch Sätze zu bezeichnen, welche zu- 
gestanden er massen falsch sind. Der Ausdruck fiktiv ist daher vorzuziehen. 
Wcitert Ausführung m Teil 1, Kap. 2, Ä 3h 



§ 6. Die fingierte Statue CondillacV 



363 



Gebrauch seiner Sinnesorgane nicht gestattet Dadurch kann 
Condillac nun die Vorstellungswelt isolieren, welche aus jedem 
Sinne für sich folgen würde, wenn ein solcher Mensch nur je 
auf einen Sinn beschränkt würde. Er beschränkt die Statue zu- 
erst auf den Geruchssinn, dann auf den Gehörssinn, dann auf 
den Geschmack, dann auf den Gesichtssinn und schliesslich nur 
auf den Gefühlssinn, verbindet dann beliebig die verschiedenen 
Sinne miteinander, indem er die Zugänge zu dieser Statue je nach 
Bedürfnis geöffnet oder geschlossen denkt Bei dieser Betrach- 
tungsweise abstrahiert er somit beliebig von einem Teil der Fak- 
toren, welche regelmässig das komplizierte Gewebe des mensch- 
lichen Seelenlebens bilden. Durch diese fiktive Abstraktion kann 
er nun zeigen, welchen Beitrag jeder Sinn zu dem menschlichen 
Seelenleben liefert Er konstruiert so sukzessive einen Geruchs-, 
Gehörs-Menschen u. s. w. und zeigt, welche Vorstellungswelt in 
einem solchen einseitig sinnesbegabten Menschen entstehen wird 
oder würde. An dieser Statue, organisiert wie ein Mensch, be- 
seelt von einem Geist, der noch keine Ideen hat, an welcher die 
Sinne sukzessive erwachen, zeigt er die Entstehung des Bewusst- 
seins, der Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses, des Urteilens, der 
Einbildungskraft, der Abstraktion, der Reflexion u. s. w. Es ver- 
steht sich von selbst, wie durch diese geniale Fiktion die Unter- 
suchung erleichtert wird. „Man weiss," sagt der unbekannte 
Verfasser einer kleinen Abhandlung, „Die Bildsäule" in Engels 
„Philosoph für die Welt* (21. Stück), „zu welchem Endzweck Bonnet 
und sein Vorgänger Condillac eine solche Bildsäule erdichteten. 
Sie glaubten dadurch die Untersuchung zu simplifizieren und 
zu erleichtern, wie bei Gelegenheit der sinnlichen Eindrücke 
sich nach und nach die Kräfte unserer Seele entwickeln-" 1 ) Selbst- 
verständlich ergibt sich daraus eine Reihe von Unmöglichkeiten: 
„Sprache noch vor geöffnetem Ohr, Bewusstsein gleich auf die 
erste Rührung eines der dunkelsten Sinne* u. s. w. Man muss 
jedoch beachten, sagt Condillac selbst, „dass die Unsicherheit 
oder selbst Unrichtigkeit mancher Vermutungen der Grundlage 
dieses Werks nicht zu schaden vermag. Wenn ich diese Statue 
beobachte, so geschieht es weniger, um mich dessen zu ver- 
sichern, was in ihr vorgeht, als um zu entdecken, was in uns 
vorgeht Ich kann mich darin täuschen, dass ich ihr Operationen 



1) Traite* des Sensations I, X, 6. 



364 Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen, 

zuschreibe, deren sie noch nicht fähig ist, allein dergleichen Irr- 
tümer bleiben ohne weitere Folgen, wenn sie den Leser in den 
Stand setzen, zu beobachten, wie sich jene Operationen in ihm 
selbst vollziehen," Man hat gegen diese Methode mit Unrecht 
Einwände erhoben, wie z. B. Liebmann. 1 ) 

Condillac bedient sich in dem genannten Werke noch mehr- 
mals der fiktiven Methode. Ein Fall ist noch als hierhergehörig 
anzuführen. Er setzt jene Fiktion dahin fort, dass dieser 
Statuenmensch, diese Menschenstatue einsam lebe, und er sucht 
nun zu zeigen, wie die Bedürfnisse, Fertigkeiten und Vorstellungen 
eines solchen Menschen sich gestalten müssten, wenn z. B. die 
Natur für alle oder wenn sie nur für einige oder für keine 
Bedürfnisse der Statue sorgen würde. Durch die Variierung der 
Möglichkeiten, welche er für diesen sich selbst überlassenen 
Menschen konstruiert, ist er im Stande, eine Reihe der feinsten 
psychologischen Beobachtungen zu machen. Alles dies wird 
mutatis mutandis auf den wirklichen Menschen selbst angewandt. 
Diese Fiktion war schon im Altertum und Mittelalter ausgebildet; 
Arnobius 2 ) (p. Chn c. 300) macht schon die Fiktion eines von 
der Geburt an in völliger Einsamkeit aufgewachsenen Menschen, 
um Piatos Erkenntnistheorie zu widerlegen. 

Diese Fiktion des Arnobius wurde im 18, Jahrh. von Lamettrie 
wieder aufgegriffen, welcher in seiner Eisioire naturelle de Väme 
(1745) die „belle conjecture d'Arnobe* in abgekürzter Darstellung 
wiedergibt 5 ) und gegen die Cartesianische Doktrin von den an- 
geborenen Ideen ausspielt. B Man nehme an, so referiert Lange 
über diese Fiktion, dass in einem schwachbeleuchteten unter- 
irdischen Gemach, 4 ) von welchem jeder Schall und jeder Sinnes- 

1) Wegen der Brauchbarkeit dieser Methode wurde dieselbe im XVIII. 
Jahrhundert mehrfach angewandt, ausser von Condillac von Bonnet und 
Buffon und vor Condillac schon von Diderot in seinen „Lettres sur le* 
aveugles", mit welch Letzterem Condillac darüber in einen Prioritätsstreit geriet 

2) s. Arnobius, ad versus gentes II, 20. (Ed. Hildebrand, Hai. Sax. 
1844 pag. 150 ff.) 

3) s. Lamettrie, Oeuvres. Das bezügliche Werk ist dort als Trait6 de 
i'äme aufgeführt; der Anhang § 7 enthält die Fiktion unter dem Namen einer 
„Konjektur", wie auch Lange, Gesch. des Mat. I, 336 dieselbe missbräuchlich 
als „Hypothese* bezeichnet, statt als Fiktion. 

4) Man erkennt leicht, dass Arnobius sich in der Form an Piatons 
Höhlenmythus, der auch von Aristoteles in seiner Art benützt worden ist, an- 
schliesst, s. Piaton, Republ. VII; über Aristoteles siehe Cicero de natura 
Deorum II, 37, 95 und Bernays, Die Dialoge des Aristoteles, pag. 106, 



§ 6. Die fingierte Statue Condillac's. 



365 



eindruck fern gehalten wird, ein neugeborenes Kind von einer 
nackten und einer schweigenden Amme notdürftig gepflegt, und 
so ohne irgend eine Kenntnis der Welt und des Menschenlebens 
grossgezogen würde bis zum Alter von 20, 30 oder gar vierzig 
Jahren. Dann erst soll dieser Mensch seine Einsamkeit verlassen. 
Man frage ihn nur, was er in seiner Einsamkeit gedacht, und 
wie er bis dahin genährt und erzogen worden sei. Er wird nichts 
antworten, nicht einmal wissen, dass die an ihn gerichteten Laute 
Etwas zu bedeuten haben. Wo ist nun jener unsterbliche Teil 
der Gottheit? Wo ist die Seele, die so gelehrt und aufgeklärt 
in den Körper eindringt? Wie Condülac's Statue, zu welcher 
Lamettrie den Anstoss gegeben zu haben 'scheint, so soll nun 
dieses Wesen, welches vom Menschen nur die Gestalt und die 
physische Organisation hat, durch den Gebrauch der Sinne 
Empfindungen erhalten u. s, w." 

Zu religionsphilosophischen Zwecken benutzte Avempace 
(gest. 1138) in der »Leitung der Einsamen" und besonders Abu- 
bacer (1100—1185) in dem „Haji Ibn Jokdhän* diese Fiktion. 
Abubacer zeigt darin die stufenweise Entwicklung der Fähig- 
keiten des Menschen bis zur Gemeinschaft seines Intellekts mit 
dem göttlichen, er verselbständigt darin auf fiktive Weise seinen 
»Einsamen" gegenüber den Institutionen und Meinungen der 
menschlichen Gesellschaft; »er lässt, wie Überweg 1 ) sich aus- 
drückt, den Einzelnen sich aus sich selbst entwickeln; indem er 
die Selbständigkeit des Denkens und Wollens, zu welcher ihm 
die bisherige Gesamtgeschichte geholfen hatte, von dieser (not- 
wendigen) Bedingung ablöst und sie in seinem Naturmenschen 
als aussergeschichtliches Ideal setzt" (wie im 18. Jahrh* wieder 
Rousseau). Auch die im 18. Jahrh. so beliebten Robinsonaden 
gehören hierher, in denen, wie Pfleiderer») sich etwas zu witzig 
ausdrückt, „der Isolierschemel des abstrakten, in sich reflek- 
tierten Gedankens sich schematisch kleidet in das Bild der 
einsamen Insel im weiten Weltmeer als eines trefflichen Ver- 
suchsfeldes der Theorie", Wie bei Condillac, dient auch 
hier die Fiktion dazu, durch Abstraktion von regelmässig mit- 
wirkenden Faktoren, hier besonders von der Gemeinschaft mit 
anderen Menschenwesen, eine Untersuchung, eine Darstellung zu 
vereinfachen, und die Pädagogen wie die Psychologen ver- 

1) s. Grundriss der Gesch. d. Phil. II, § 26. 

2) s. Empirismus und Skepsis in D. Hume's Philosophie 1874, pag. 10. 



366 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



werteten diese fiktive Abstraktion sehr häufig für ihre besonderen 
Zwecke- 

Zu den künstlichen Isolierungen gehören endlich alle jene 
Beispiele, wo nicht bloss der einzelne Mensch, sondern etwa eine 
ganze Stadt oder ein ganzer Staat (eine Insel etc.) isoliert ge- 
dacht werden, z. B. auch Fichtes geschlossener Handelsstaat. 
Vgl. hierzu die lehrreichen Bemerkungen von W. Dilthey, Philos. 
Monatsh, XI (1875), S. 257 Anm. 



§ 7. 

Lotzens „hypothetisches Tier".*) 

Wie gerade die Psychologie diese Methode verwertet und 
mit Vorteil verwertet, zeigt auch jenes bekannte „hypothetische 
Tier", welches Lotze in seiner m medizinischen Psychologie 411 ) 
einführt: dieses soll nur einen einzigen, zugleich sensibeln und 
beweglichen Hautpunkt etwa an der Spitze eines Fühlhorns 
besitzen. 

Laas*) nennt dieses „hypothetische Tier* „eine gesundere, 
organischere und aufklärsamere Abstraktion und Fiktion 8 ) als die 
Condillac'sche Statue mit blossem Geruchsinn, welcher der Tast- 
sinn erst ganz zuletzt verliehen wird\ Organisch nennt er die- 
selbe, weil der Tastsinn wirklich in der Entwicklung der Tier- 
reihe der erste ist und sich allein, ohne die anderen Organe 
findet — wie schon Aristoteles 4 ) bemerkt. Jene Äusserung von 
Laas mag zu der methodologischen Bemerkung Anlass geben, 
dass solche Fiktionen eben „organisch und gesund* 4 sein sollen, 
d. h, dass sie — es Iässt sich dies wohl nur negativ ausdrücken — 
nicht solche Vorstellungsgebilde formieren sollen, welche den 
natürlichen Verhältnissen allzuferne stehen, also solche, welche 
sich an die gegebenen objektiven Tatsachen möglichst gewandt 
und geschickt anschliessend 

*) Weitere Ausführung zu Teil J, Kap. 2, S. 3t 
}) §33, S.420L 

2) Kants Analogien 297. 

3) Der Terminus „hypothetisches* Tier ( n hypothetisch er* Fall ib. 297) 
ist daher besser zu ersetzen durch iiktiv. 

4) De An. II, 413 b, 2, 37. 



§ 7. Lotze r s „hypothetisches Tier*. 



367 



Der Wert dieser Fiktion besteht darin, dass durch dieselbe 
die erkenntnistheoretisch-psychologische Frage erleichtert wird, 
durch welche Prozesse die Vorstellung der Aussen weit zu Stande 
komme, und welchen Anteil die blosse Succession von Perzep- 
tionen an dem Weltbild besitze. Die Perzeptionen dieses Wesens 
sind nur successiv: simultane Perzeptionen sind eben durch die 
Natur der Fiktion ausgeschlossen. Was folgt nun aus den auf- 
einanderfolgenden Perzeptionen dieses in verschiedenen Stellungen 
übergehenden und bewegten Fühlhorns? »Ist jenes hypothetische 
Wesen nun psychisch geartet wie wir (hier verbindet sich mit der 
fiktiven Abstraktion noch eine determinierende fiktive Kombi- 
nation), so wird es das, was seiner willkürlichen Entscheidung 
parallel läuft, als „subjektiv", was von derselben unabhängig sich 
einstellt, als „objektiv", als fremd, als ausser sich betrachten. Und 
hat es, wie wir, die Möglichkeit, Perzeptionen sowohl mit ruhen- 
dem als mit bewegtem Organ zu erhalten, und besitzt es wie wir 
Erinnerungs- und Assoziationsvermögen, sowie das Vermögen räum- 
licher Auslegungen: so muss es auch wie wir, trotz seiner dürf- 
tigen sinnlichen Ausstattung, zur Unterscheidung eines sich gleich- 
bleibenden und sich ändernden, eines ruhenden und bewegten 
Objekts gelangen." Die Fiktion gewinnt nach Laas dadurch einen 
hohen erkenntnistheoretischen Wert, dass durch die Ausführung 
derselben, durch Ziehung der Konsequenzen aus der unmöglichen 
Annahme in diesem Falle eine falsche Kantische Doktrin abge- 
wiesen werden könne, nämlich, dass es eines mit Kategorien aus- 
gestatteten spontanen Verstandes bedürfe, um zu jenen objektiven 
Erkenntnissen gelangen; „das Lotze'sche Tier, mit unserem Ver- 
stände ausgerüstet, wird an der Hand des unmittelbar Gegebenen 
sich wohl über objektive Ruhe und Bewegung ein Urteil ver- 
schaffen können", ohne jene von Kant als notwendig erachteten 
kategorialen Funktionen. 

Die physiologische Psychologie bedient sich — wegen der 
enormen Kompliziertheit ihres Gegenstandes — gern und mit 
Erfolg solcher Fiktionen, zu denen z, B, auch jene Helm* 
holtz'sche Annahmen eines Wesens, das nur Auge ist, oder eines 
Menschen, der nur Ein Auge und dieses in der Mitte der Stirne 
hätte (Fiktion eines Zyklopenauges), zu rechnen sind. Auch 
der fiktive Mensch mit mikroskopischen Augen gehört hierher. 
Helmholtz, Aubert u. A. wenden diese Methode sehr häufig an 
(vgl. oben S. 31). 



368 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



Einer verwandten abstraktiven Fiktion bedient sich Thiele 
in seinem „Grundriss der Logik und Metaphysik" Um die 
allmähliche Entwicklung des Denkens und die Entstehung der 
einzelnen Kategorien zu zeichnen, fingiert er „ein hinsichtlich 
alles seelischen Lebens noch ganz unentwickeltes, aber zum 
menschlichen Denken entwicklungsfähiges Subjekt (S), dem also 
nur ein Sein, kein Wissen zukommt 0 , und das der Reizung seiner 
Sinne ausgesetzt wird. Dem S wird vor dem Gereiztwerden 
seines sensibeln Nervenapparates im Momente t jedes Wissen 
abgesprochen. Damit aber soll durchaus nicht behauptet werden, 
dass in Wirklichkeit jedes animalische Wesen genau wie S sich 
entwickle, weil die animalischen Wesen von ihren Vorfahren gleich 
mit und in ihrer Organisation ein Wissenserbe erhalten. Dieses 
S „soll kein einzelnes Individuum sein, sondern der Repräsentant 
des endlichen Geistes überhaupt; S ist eine Fiktion, aber eine 
berechtigte, es ist die Summe, der Niederschlag des logischen 
Gehaltes alles Individuen, und lediglich im Interesse eines festen, 
bestimmten Anfanges sprechen wir dieser Fiktion vor dem Moment 
t jedes Wissen ab"; es entspreche dies der Wahrheit nicht 



§ 8. 

Der homo alalus.*) 

Nach diesen gelungenen Beispielen der fiktiven Abstraktionfi- 
methode mag denn nun auch ein lehrreicher Fall einer misslungenen 
abstraktiven Fiktion hier Platz finden. Steinthal stellt in seiner 
1871 erschienenen »Einleitung in die Psychologie und Sprach- 
wissenschaft" die Fiktion eines sprachlosen Urmenschen auf. Er 
denkt sich die Art homo durch einen schöpferischen Akt in die 
Wirklichkeit gesetzt, und zwar so, dass dieser Mensch schon 
die Sprache mitbringt, „denn die Sprache ist dem menschlichen 
Wesen so notwendig und natürlich, dass ohne sie der Mensch 
weder wirklich existiert, noch als wirklich existierend gedacht 
werden kann. Der Mensch hat entweder Sprache oder er ist gar- 
nicht \ Er macht die ante- und antidarwinistische Voraussetzung, 



1) Halle 1878 S. 7 ff, 

V Weitere Ausführungen tu Teti I, Kap. 2 t & 31 m f. 



§ 8 Der homo alalus. 



369 



»Ursprung der Sprache und des Menschen sei dasselbe". Von 
diesem Standpunkte aus macht nun Steinthal die Fiktion 
eines sprachlosen Urmenschen, eines vorsprachlichen Urzustandes 
der Menschheit „Wir haben", sagt er S. 355 a, a. O. „einen bloss 
gedachten vorsprachlichen Urzustand der Menschen konstruiert, 
gewissermassen eine künstliche Fiktion, deren Wirklichkeit in der 
Zeit uns garnicht kümmert" 1 ) Er fingiert diesen Zustand des 
Menschen, wie er vor der Sprache ist, zu dem Zweck, um die 
Tierseele mit der Menschenseele zu vergleichen und durch diese 
Vergleichung zu zeigen, dass die menschliche Seele überall und 
in allen Beziehungen einen Überschuss an Kraft besitze, den sie 
auf Bildung der Sprache verwende; denn die Seele entwickelt 
in der Schöpfung der Sprache ihre eigentümliche Natur. Natur- 
gemäss muss daher Steinthal bei der Schilderung der Menschen- 
seele „von der Sprache absehen, deren Möglichkeit ja erst erwiesen 
werden sollte; woher die Kraft stamme, vermittelst welcher die 
Seele Sprache bildet, das sollte erst gezeigt werden". Nun aber 
gibt es, wie Steinthal annimmt, überhaupt keinen Menschen 
ohne Sprache. Sonach ist jene Annahme eines vorsprachlichen 
Menschenzustandes nur eine Fiktion, und zwar eine abstraktive, 
indem von einem dem Menschen als Menschen wesentlichen 
Merkmale abgesehen wird. Die „Rechtfertigung" dieser Fiktion 
findet Steinthal darin, dass die Sprache doch nicht als zum Sein 
der menschlichen Seele selbst gehörig angesehen werden kann; 
sie sei vielmehr eine sekundäre Schöpfung der Seele; darum 
eben könne man von ihr abstrahieren und sich Menschen erdenken 
ohne Sprache, obwohl es solche niemals gebe und gegeben 
habe. Der homo alalus war somit für diese Psychologie 
eine berechtigte Fiktion, und die theoretische Erklärung dei 
Sprache wurde dadurch wesentlich erleichtert; und Steinthal tut 
sich selbst Unrecht, wenn er in seiner Selbstkritik diese Fiktion 
mit harten Worten tadelt und sagt: „so widersprach ich meiner 
Voraussetzung, Ursprung der Sprache und des Menschen sei 
dasselbe; ich setzte erst den Menschen und Hess ihn dann erst 
die Sprache erzeugen". Jener Standpunkt, jene antidarwinistische 
Voraussetzung als gegeben und wahr angenommen — so ist jene 
Fiktion methodologisch vollständig erlaubt Wird die Menschen 
seele einfach als geschaffen hingestellt, und die Sprache als eine 



1) s. dagegen: Grammatik, Logik und Psychologie, pag. 290. 

24 



370 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



ihrer — stets mit ihr gegebenen — Wirkungen, so steht nichts 
dem entgegen, einstweilen von dieser Wirkung zu abstrahieren, 
sich eine ganze sprachlose Menschengesellschaft zu fingieren und 
^0 die abstrakte Menschenseele — denn in concreto ist sie 
auf jenem Standpunkt immer sprachbegabt — mit den Tierseelen 
zu vergleichen. 

Nur ist jener Standpunkt eben falsch, falsch geworden seit 
Darwin, wie Steinthal mit anerkennenswerter Offenheit in seiner 
Selbstkritik gesteht 1 ) Und damit fällt eben dann jene Fiktion, 
oder vielmehr der homo alalus wird aus einer Fiktion eine 
Hypothese. Aus der „ästhetischen und idealen" Annahme wird 
eine „reale, genetische"; freilich verändert sich mit der Form und 
dem Gültigkeitswert auch ganz wesentlich der Inhalt: der vor- 
sprachliche Mensch ist eben nicht so hoch entwickelt, wie ihn 
die Steinthal'sche Fiktion annahm, weil eben die Sprache selbst 
jene höhere Entwicklung der Seele bedingt. 2 ) „Folglich war 
meine Fiktion nicht nur eine ungewisse Realität, 8 ) sondern sie 

1) Der Ursprung der Sprache. Bertin 1877. 3. Auflage, pag. 300—319. 

2) „Für den Darwinismus ist dies nicht nur eine unwirkliche, ungültige, 
unberechtigte Phantasie, sondern es ist auch damit die Frage vom Ursprung 
übersprungen und der Mensgh als Art nicht entwickelt, sondern gesetzt* ib. 304. 

3) Hier ist Steinthal wiederum ungenau vom methodologischen Ge- 
sichtspunkteaus. Seine Annahme war als Fiktion nicht „ungewiss*, sondern, wie 
alle Fiktionen, falsch, was aber, wie oft bemerkt, ihre Brauchbarkeit nicht 
hindert „Ungewiss* kann nur eine Hypothese sein, und eine Hypothese sollte 
ja nach den oben mitgeteilten Erklärungen die Annahme nicht sein. Steinthal 
scheint zu jener methodologischen Unsicherheit auch durch den („Ursprung der 
Sprache" 307, 309) ausgesprochenen Gedanken verführt worden zu sein, dass 
selbst auf dem Boden seiner ursprünglichen, falschen Annahme doch „der Mensch 
erst mit der Anlage zur Sprache auf die Erde getreten sei, jedoch so, dass er 
in der ersten Generation hätte müssen Sprache entwickeln". „Ich wollte 
(304) den zur Erzeugung der Sprache fähigen, aber noch sprachlosen Menschen 
darstellen, wie derselbe im ersten Augenblicke seines von Gott und der Natur 
gesetzten Daseins sich befunden haben sollte. So bildete ich die „Fiktion" 
eines noch sprachlosen Urmenschen" Steinthal ist hier methodologisch 
durchaus unklar: Der „sprachlose Urmensch 8 war nur dann eine Fiktion 
(auf dem antidarwinistischen Standpunkt), wenn man annahm, dass der wirk- 
liche erste Mensch vom ersten Moment seines Daseins an gesprochen habe 

— „denn der Ursprung der Sprache und der Menschen sind identisch*. — 
Nimmt man dagegen an, dass der Mensch einen Keim, eine Anlage dazu 
mitgebracht habe, welche schon in der ersten Generation zur Sprache führen 
musste, so ist ja damit die Realität des sprachlosen Urmenschen wenig* 
stens für einige Jahre gegeben. Denn dann war ja der Urmensch faktisch 

— auf einige Zeit lang — sprachlos, aber seine Seele schuf vermöge ihres Ober- 



§ 8. Der homo alaius. 



371 



war falsch ausgeführt Ich nahm den heutigen Menschen, der 
allein unserer psychologischen Beobachtung vorliegt, ja den Euro- 
päer, den gebildeten Mann unserer Zeit; alles, was dieser an 
Kenntnissen besitzt, zog ich ab und betrachtete bloss seine Wahr- 
nehmungsfähigkeit und seine Reflexbewegungen . . . Wenn ein 
solches Wesen besteht, wie ich den Urmenschen fingierte, so muss 
es Sprache erzeugen; fraglich aber bleibt, ob solch ein Wesen vor 
der Sprache wirklich möglich war." 1 ) Er führt dann aus, dass 
diese Übertragung der entwickelteren Sinnestätigkeit auf jenen 
fiktiven Urmenschen unberechtigt war, dass man dem vorsprach- 
lichen Menschen nicht die Sinne des sprachlich entwickelten 
geben darf, weil die Sprache selbst ja diese Entwicklung mit- 
bewirkt. Man darf — sagt er ib. 373 — den vorsprachlichen 
Menschen nicht denken, wie Adam im Paradiese vor der Schöp- 
fung Evas; der wahrhafte homo alaius primigenius Häckelii ist 
vielmehr ein Tier, „ein kluges Tier mit mannigfachen tierischen 
Anschauungen und Anschauungserkenntnissen". 2 ) Man kann also 
die SteinthaPsche Fiktion, wie er selbst sagt, nicht unmittelbar 
in eine „paläontologische Realität • (besser Hypothese) verwan- 
deln, 8 ) weil, wie bemerkt, der Inhalt beider Annahmen in bezug 
auf den Grad der Geistesentwicklung des betreffenden Menschen- 
tieres ein verschiedener ist Aber abgesehen von diesem gradu- 



flusses über die Tierseele in kurzer Zeit die Sprache. Dieses Schwanken 
Steinthals Ist die Folge des schlechten Kompromisses zwischen der Schöpf ungs- 
theorie und der Instinkttheorie; beide sind durch den Darwinismus antiquiert. 
Aber trotzdem ist die methodologische Erörterung der bezüglichen An- 
nahmen noch immer fruchtbar. 

1) Auch hier wieder dieselbe methodologische Unklarheit: auf jenem 
antidarwinistischen Standpunkt war das gar nicht fraglich. 

2) J. B.Meyer kann sich daher nun nicht mehr, wie er in denPhilos. 
Zeitfragen, 2. Aufl., S. 165 es tut, auf SteinthaPs Ansicht, der homo alaius sei 
nur eine Fiktion, berufen. Denn Steinthal ist (ib. 145) „der Urmensch schon 
eine ziemlich vertraute Gestalt geworden" 

3) Denn in concreto war ein solches fiktives Wesen zugestandenermassen 
nicht möglich und nicht wirklich, also auch weder „wirklich möglich" noch 
möglicherweise wirklich. Dagegen war die Annahme — auf jenem Stand- 
punkte — eine mögliche und erlaubte Fiktion, und in der abstrakten, idealen 
Betrachtung war ein solches Wesen wohl möglich. Steinthal unterscheidet bei 
seiner Selbstkritik nicht die Frage, ob seine Fiktion aufjenem antidarwin- 
istischen Standpunkte eine zweckmässige und erlaubte Hilfsvorstellung 
war, von der Frage, ob dieser Standpunkt selbst eine richtige Hypothese 
war. Das erstere ist zu bejahen, das zweite zu verneinen 

24* 



372 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



eilen Unterschied ist hier eine Fiktion unmittelbar zur Hypothese 
transformiert worden. Durch die genetische Betrachtung sind 
solche Fiktionen sehr bedenklich geworden; und in den gene- 
tischen Wissenschaften sind sie daher nur mit grosser Vorsicht an- 
zuwenden. Hier kann man nicht Faktoren willkürlich vernachlässigen. 



§ 9. 

Andere Fälle der fiktiven Isolierung.*) 

Die ideelle Isolierung und Spaltung des Gegebenen, seine 
logische Trennung in verschiedene Seiten ist einer der am meisten 
angewandten Kunstgriffe des Denkens; ein real untrennbarer 
Komplex wird in verschiedene ideelle Elemente und Teile zerlegt, 
und jedes dieser ideellen Elemente wird dann in seiner Isolierung 
betrachtet. Die Abstraktion, sagt Laas, 1 ) „isoliert auch, was 
im Bereiche des wirklich Erlebten immer nur in Komplikation 
und Konkreszenz mit anderen Elementen erscheint, z. B. die 
Gestalt von dem gefärbten und materiellen Gegenstand, den 
Begriff des Wertes im allgemeinen von den einzelnen wertvollen 
Dingen". So trennt z. B. der Psychologe Denken und Bewusst- 
sein, „obwohl sich beide nur ideell, d. h. in Gedanken, nicht 
realiter trennen lassen". 2 ) 

Hierher mag auch das Anaxagoreisch-Platonische Chaos zu 
rechnen sein, falls man Piaton so versteht, dass die Trennung 
zwischen Weltstoff und Weltkraft nur als eine fiktive Isolierung 
der konstituierenden Elemente gefasst werden dürfe; dann gäbe 
es im echt Platonischen Sinne keine Kraft ohne Stoff, keinen 
Stoff ohne Kraft, ohne Ordnung, und die Annahme eines Chaos 
wäre nur eine Fiktion, welche das Eine Element isoliert, um die 
Wirksamkeit des anderen in desto helleres Licht zu stellen. Ob 
diese Auffassung wirklich Piatons Meinung gewesen sei, darüber 
kann man streiten (vgl. oben S. 234 ff.); ob dagegen schon Anaxa- 
goras das Chaos mit dem Bewusstsein, dass es nur eine fiktive 
Hilfsvorstellung sei, aufgestellt habe, wird sich kaum mehr er- 

*) Weitere Ausführungen zu Teil l Kap. 2, & 32 ff.; Kap. 8, & 36 ff, 

1) „Kants Analogien der Erfahrung", pag, 121. 

2) Horwicz, Psycholog. Analysen II, 163. 



§ 9. Andere Fälle der fiktiven Isolierung. 



373 



mittein lassen. Dühring nennt dasselbe „erdichtet und künstlich", 
»erdichtet, um dem gruppierenden Weltverstand Gelegenheit zu 
einer erheblichen Arbeit und Betätigung zu verschaffen*; er scheint 
also die Annahme des Chaos für eine unberechtigte Hypothese 
des Anaxagoras zu halten; es ist dies um so wahrscheinlicher, 
als, wenn dann Piaton aus dieser Hypothese eine Fiktion ge- 
macht hat, wir hier der Wirksamkeit eines Übergangsgesetzes 
begegnen würden, das, wie sich gezeigt hat, einen ausgebreiteten 
Gültigkeitsbereich hat (vgl. S. 219 ff.: „Das Gesetz der Ideenver- 
schiebung"). 

Solche Isolierungen, wo ein Ding aus seinem natürlichen 
Zusammenhang herausgerissen und auf sich selbst gestellt wird, 
sehen wir auch sonst vorgenommen* Wir können hierher vielleicht 
selbst das Galüei'sche Trägheitsaxiom stellen, denn „es setzt 
dasselbe einen idealen Fall voraus, der an keiner einzigen 
materiellen Einheit, an keinem System von solchen in seiner 
Isolierung stattfindet". Es wird festgestellt, was ein bewegter 
Körper tun würde, wenn er unbeeinfiusst von jeglicher Ursache 
bliebe — nur schliesst dieses Wenn eben einen unwirklichen 
Fall ein. Freilich wird man dagegen den Einwand bereit halten, 
dass ja das Galilei'sche Gesetz in jeder Bewegung als eines der 
Komponenten mitstecke. Das scheint aber an der abstrakten 
Isolierung nichts zu ändern: es ist eben doch nur eine abstrakte 
Betrachtungsweise, die sich nie realisieren lässt; denn es liegt 
dem Gesetze eine Annahme zu Grunde, welche aller und jeder 
Wirklichkeit widerspricht, da eben nimmermehr ein Körper allein 
existiert, sondern immer faktisch eine Vielheit der Dinge gegeben 
ist. Die schematische Isolierung des bewegten Einzelkörpers 
setzt einen Fall, der in der Wirklichkeit nie eintritt, nie beobachtet 
werden kann und nach der bestehenden Weltverfassung voll- 
ständig unmöglich ist Also kann auch das auf dieser Annahme 
basierende Gesetz nur fiktiv sein, und in der Tat kann dasselbe 
nur insofern real verwertet werden, als bei der wirklichen Anwen- 
dung desselben die bezüglichen realen Verhältnisse nachträglich 
in Anschlag gebracht werden, indem o die wirkliche Bewegung des 
Körpers als aus der zufolge dem Galilei'schen Gesetz resultierenden 
und der durch anderweitige Einflüsse bewirkten Bewegung zu- 
sammengesetzt gedacht wird. Aber nur mittelst der neglektiven 
Methode durch Fiktion der „einfachen Fälle** sind die einfachsten 
Gesetze zu erhalten. 



374 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



Als weiteres Beispiel für diese ideelle Isolierung eines Ele- 
mentes von den notwendig und faktisch stets mit ihm verbundenen 
Nebenumständen und Nachbarelementen möge eine Stelle aus 
Taine 1 ) dienen. Um die Umstände zu untersuchen und die Ge- 
setze aufzufinden, unter und nach denen die Empfindungen im 
Gedächtnis wieder erweckt werden, isoliert er eine einzige Em- 
pfindung und macht den einzelnen Fall zum Gegenstand der 
Analyse. Er bemerkt aber: c'est qu'ä vrai dire f il n'y a pas de 
Sensation isolee et separee; une Sensation est un etat qui commence 
en continuant les precedents et finit en se perdant dans les suivanis; 
cest par une eoupure arbitraire et pour la commodite du language 
que nous la mettons ainsi ä part Gerade die Psychologie liebt 
solche Isolierungen: so spricht z. B. Noire*) von dem »abstrakt 
gedachten Fall eines isolierten Empfindungsbezirkes", oder er 
fingiert den einfachen Fall eines isolierten bewussten Atoms.*) 

Das Letztere erinnert an jene freilich ziemlich wertlose 
Fiktion, welche Leibniz*) im Systeme nouveau de la naiure macht, 
wo er seine Monaden so betrachtet, n comme $ y ü n'existait rien 
que Dieu et eile", indem er also dieselbe von allen anderen 
Monaden, mit welchen zusammen sie das ganze Natursystem 
ausmacht, isoliert denkt (comme si). Er setzt an dieser Stelle 
noch folgendes hinzu: „pour me servir de la manüre de parier 
d'une certaine personne d'une grande 4l4vation d'esprit, dont la 
saintete est cüebr£e u . Diese Person ist die bekannte Mystikerin 
S. Teresa de Jesus, wie aus einer in den Acta Sanctorum*) ver- 
öffentlichten Brief stelle Leibnizens an Morellius (1696) hervorgeht; 
die hl. Terese sage, animam corporis concipere res debere non 
secus ac si in mundo nil esset nisi ipsa et Dens; quam ideam non 
modice juvat ante oculos in philosophia habere; atque hanc utiliter 
adhibui in hypothesibus meis. — Es ist hierbei nur die Bemerkung 
zu machen, dass der Zweck dieser Fiktion der hl. Therese im 
ethischen Gebiete liegt, während Leibniz die Sache theoretisch 
wendet und für seine Monadologie verwertet; im ersteren Sinne 
hat die Fiktion einen gewissen ethischen Wert, im Leibniz'schen 
Sinne erstreckt sich ihre Bedeutung nur so weit, als der Wert 
der Monadenlehre überhaupt reicht. 

1) s. Taine, De l'intelligenc I, 162. 

2) Grundlegung pag. 22. 

3) ib. pag. 56. 

4) Ed. Erdmann, pag. 127b. 

5) Acta Sanctorum zum 15. Okt. pag. 462 c. 



§ 9. Andere Fälle der fiktiven fcoT^njrte. 



375 



Ein methodologisch interessantes Beispiel bietet uns noch 
ein zwischen Curtius und Pott ausgebrochener Streit dar, näm- 
lich, ob die Wurzeln, welche der vergleichende Sprachforscher 
annimmt, wirklich einmal als solche existierten, ohne alle Flexionen 
und Umbildungen, ob es also einmal faktisch eine Periode 
gegeben habe, in welcher in den von dem Grammatiker auf- 
gestellten Sprachwurzeln gesprochen worden ist, oder ob diese 
Wurzeln nur eine aus den sog, Ableitungen verallgemeinerte Ab* 
straktion seien, mit anderen Worten, ob die Wurzeln sprachgeschicht- 
liche Hypothesen oder ob sie grammatische Fiktionen seien; ob 
der für den Grammatiker notwendigen und unentbehrlichen Los- 
lösung des Stammes wirklich einmal eine isolierte Wurzel ent- 
sprochen habe oder nicht. Diese Frage, ob die flexionslosen 
Wurzeln nur Anhaltspunkte für die — so zu sagen, grammatische 
Rechnung seien, oder ob ihnen eine historische Realität ent- 
sprochen habe, ist methodologisch sehr interessant 

Das vorläufige Abgeben von einem integrierenden Teile der 
Wirklichkeit wird aber auch ausser in den genannten Wissen- 
schaften oft und mit Erfolg angewandt. Es ist nirgends anders 
als hierher zu rechnen, wenn z. B., wie viele Juristen (z. B. Binding 
in den „Normen") wollen, das Verhältnis von Recht und Moral 
einfach so gefasst wird, dass Beides Kreise seien, welche sich 
nicht berühren, dass beide Gebiete auseinanderfallen. Für den 
Gesetzgeber und Juristen ist diese Trennung von hohem Werte, 
nur darf dabei nicht vergessen werden, dass hier wiederum das 
„Dass" durch ein „Als ob* zu ersetzen ist. Denn man mag das 
Verhältnis jener beiden wichtigsten Lebensgebiete näher formu- 
lieren, wie man will, so kann dabei nimmermehr die Meinung 
sich geltend machen, dass beides faktisch nichts miteinander zu 
schaffen habe. Es ist diese Bemerkung darum von Wichtigkeit, 
weil, aus Mangel an methodologischer Einsicht, der Fall nicht 
selten ist, dass Juristen jene Fiktion für das wirkliebe Ver- 
hältnis halten, ein verhängnisvoller und schwerer Irrtum. Die 
einseitige Betrachtungsweise kann der Jurisprudenz und selbst 
dem praktischen Rechtsleben gute Dienste leisten, aber es wird 
sich immer bald der Punkt geltend machen, wo an Stelle der 
vorläufig gemachten einseitigen Abstraktion wieder die volle 
Wirklichkeit in ihre Rechte eingesetzt zu werden verlangt. 

Es muss aber auch hervorgehoben werden, dass mit dieser 
Methode vielfach Missbrauch getrieben wprder^ ist,- §e wird 



376 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen» 



man nicht fehlgehen, wenn man manche Missgriffe, welche Kaie 
begangen hat, seiner falschen Verwertung dieser Methode zu- 
schreibt. Wenn er uberall Form und Inhalt des Erkenness 
scheidet, so scheint dies eine Trennung zu sein, welche viei* 
Bedenken gegen sich hat, und bei der Kant nicht die Gefair 
vermied, fiktive Abstraktionen in wirkliche Trennungen zu ver- 
wandeln, was ihm besonders Nikolai vorgeworfen hat 



§ 10. 

Die Fiktion der Kraft.*) 

Eine der wichtigsten Fiktionen, welche durch isolierende 
Abstraktion entstehen, ist der Begriff der Kraft, jenes berüchtigt 
und oft so verhängnisvolle Produkt der Phantasie. In einr 
Kraft, z. B. der Lebenskraft, werden nicht nur viele einzelne Er- 
scheinungen summatorisch zusammengefasst, es wird auch d:t 
Vorstellung darin ausgesprochen, dass eine solche Kraft etwai 
besonders Existierendes sei. 

Wenn zwei Vorgänge, von denen der eine vorangeht, det 
andere folgt, durch eine konstante Verbindung verknüpft sinl 
nennen wir die Eigentümlichkeit des Früheren, von dem Späterer 
gefolgt zu sein, seine Kraft, und man misst diese Kraft an der 
Grösse des Erfolges. Wir haben in Wirklichkeit nur Successioner 
und Koexistenzen, und wir dichten den Dingen „Kräfte" an, in- 
dem wir die wirklichen Phänomene als schon mögliche ansehen, 
und diese Möglichkeiten und Eigentümlichkeiten hypostasiere- 
und als reelle Entitäten loslösen. Par malkeur, sagt Taine, 
de etile particülariU qui est un rapport, notts faisons, par une fictic** 
de Vesprit, une substance; nous Vappelons (Tun nom subsiantif, forot 
ou pouvoir; nous lui aitribuons des qualites; nous disons qiCeUe zr* 
plus ou moins granäe; nous Vemployons dans le discours comme 
sujet; nous oublions que son etre est tout verbal, qu'elle le tient di 
nous, qiCelle Va recti par emprunt provisoirement, pour la comm - 
dite de discours et qiCen soi il n'est rien, puisqu'il n'est gtiu\ 
rapporL Trompes par le language et par Vhabitude, nous admettorj 

*) Weitere Ausführungen zu Teil l t Kap. 2 t 8. SS ff.; Kap. 6, & 50 ff 
)) Taine, De Tin teil igen ce I, 376. 



§ 10. Die Fiktion der Kraft. 



377 



r»*i7 y alä une ehose reelle, et reflfotissant ä fanx, nous agrandissons 
t chaque pas notre erreur. Dieses betreffende Wesen ist ein 
.blosses Nichts 4 * ; durch eine „Illusion" machen wir daraus ein 
-räes, unkörperliches Wesen; wir betrachten es wie ein Wesen 
iOherer Ordnung; und doch ist es an sich nur ein Charakter, 
*me Eigentümlichkeit, eine Beziehung, welche von dem einen 
Vorgang zum andern waltet, detachSe par abstraction> pos6e 
t pari par fiction, maintenue ä Vtiat (SUre distinct par un nom 
nbstantif distinct, jusqu' ä ce que Vesprit, oubliant son origine* la 
-*ge independante et devienne la dupe de Villusion dont il est Vouvrier. 
Taine spricht von dieser Fiktion häufig: die Kräfte, welche die 
Dinge haben sollen, sind nichts als die konstanten Notwendig- 
keiten der Folge, postes ä pari et considfr&s isolement, des manieres 
£etre extraites de Vevenement et isolees par une fiction mentale. 1 ) 
Man erhebt sie zu Substanzen, setzt sie den flüchtigen Vorgängen 
als dauernden Hintergrund, als konstante Quelle entgegen und 
gibt ihnen eine aparte Existenz. Indem wir die Bedingungen 
eines Geschehnisses zusammenfassen, nennen wir sie die Kraft, 
--eiche zu diesem Geschehen notwendig ist und stellen sie uns 
als etwas Reelles, Besonderes vor: la condition, degagee, isoUe par 
vne fiction de Vesprit, devient ainsi tout-ä-fait generale et abstraite. 2 ) 
Taine betont hier nur Eine Seite: er weist auf die theo- 
retische Wertlosigkeit und Falschheit des Begriffes hin, indem er 
seinen psychologischen Ursprung aufdeckt: aber er betont zu 
wenig, wie praktisch und bequem dieses Vorstellungsgebilde für 
den wissenschaftlichen Hausgebrauch ist, und über den Eifer, zu 
verhindern, dass die Fiktion für eine Realität genommen werde, 
vergisst er die Anerkennung der nützlichen Dienste, welche diese 
Fiktion dem Denken leistet Diese zweite Seite der Sache darf 
aber keineswegs vernachlässigt werden: die kritische Einsicht 
in die theoretische Wertlosigkeit und Fehlerhaftigkeit des Kraft- 
begriffes muss durch die methodologische Einsicht in seine 
praktische Brauchbarkeit und Bequemlichkeit ergänzt werden. 
Dass diese Abstraktion, durch welche das einseitig Losgelöste 
zugleich personifiziert wird, eben eine brauchbare Fiktion sei, 
dafür sei noch eine Belegstelle von einem Schriftsteller angeführt; 
welcher den kritischen Geist mit dem Sinn für die methodolo- 
gischen Bedürfnisse der Wissenschaft verbindet 

1) II, 49. cf. ib. 32-33, 52-53, 176, 190. 

2) II. 280. 



378 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



Bei Moleschott (und ebenso bei Redtenbacher) tadelt es 
Lange 1 ) sehr lebhaft, dass er sagt: „wo sich auch immer Sauer- 
stoff befinden mag, hat er Vexwandschaft zum Kalium*, und dass 
er damit die Kraft als etwas denkt, das im Sauerstoff dauernd 
sitzt. Er nennt diese Vorstellungsweise „die Verwüstungen des 
Möglichkeitsbegriffes*; er tadelt die Verkörperung einer mensch- 
lichen Abstraktion. Er stimmt Dubois-Reymond bei, der findet, 
dass es im Grunde weder Kräfte noch Materie gebe, sondern 
dass beides nur Abstraktionen seien. Aber er stimmt auch dem- 
selben bei, wenn er in jener bekannten Stelle — die Kraft einen 
rhetorischen Kunstgriff unseres Gehirns nennt, das zur 
tropischen Wendung greife, weil ihm zum reinen Ausdruck die 
Klarheit der Vorstellung fehle; die Kraft, insofern sie als Ursache 
der Bewegung gedacht werde, sei nichts als eine versteckte Aus- 
geburt des unwiderstehlichen Hanges zur Personifikation. Diese 
Vorstellung der Kraft, als eines Ausflusses des Stoffes, als eines 
Werkzeuges, gleichsam einer Hand > eines Armes desselben, ist 
allerdings ein Kunstgriff, gegen dessen Anwendung aber weder 
Naturwissenschaft noch Methodologie etwas einzuwenden haben, 
sobald man sich der technischen Natur der Vorstellung bewusst 
bleibt, welche uns das Denken, das schnelle Reebnen mit Ge- 
danken erleichtert. Wenn man sich übersinnliche Kräfte hinzu- 
denkt, bringt man allerdings, wie Lange sich ausdrückt, einen 
falschen Faktor in Rechnung- Und Lange setzt die richtige 
methodologische Bemerkung hinzu: der Mathematiker mag sich 
auch, bevor er seine Gleichung aufgestellt hat, die Kräfte ziem- 
lich nach Art von Menschenkräften vorstellen, aber er wird des- 
halb nie in Gefahr kommen, diesen falschen Faktor in Rechnung 
zu bringen: denn für ihn ist dann die Kraft nicht die Ursache 
der Bewegung: sondern es gibt dann nur noch einen bewegten 
Körper. Jene Vorstellungsweise der Kraft als eines zum Stoff 
hinzukommenden und auf seine Äusserung lauernden Faktors ist 
durchaus erlaubt, so lange man sich dieser Vorstellung nur als 
eines Hilfsmittels der Gedankenbewegung bedient, und wenn 
man methodologisch so streng geschult ist, um 4en falschen 
Faktor, den man damit in die Gedankenreihe einführt, zur rechten 
Zeit wieder zu entfernen. Es kommt hier aber nicht bloss das 
unberechtigte Interesse der begreifungslustigen Apperzeption in 



i) Geschichte des Materialismus EI, 203. 



§ 11. Materie und Materialismus als Hilfsvorstellungsweisen. 379 

Betracht, sich die Kraft als eine Ursache nach Art der mensch- 
lichen und tierischen Organe zu denken, sondern es ist diese 
Vorstellungsweise r wenn auch in abstrakter Verblassung, eine die 
Gedankenbewegung fördernde Fiktion, da das Denken sich an 
solchen Kategorien aufrankt, wie die schwache Pflanze an der 
Stange; ist die Pflanze erstarkt, so wird die Stange weggenommen. 
So ist es mit diesen Kategorien, welche dem Denken eine er- 
wünschte Erleichterung und Verstärkung geben, die daher keines- 
wegs zu verwerfen sind» Gegen den Missbrauch, in solchen 
Formen und Formeln die Sache zu sehen, werde geeifert; aber 
— abusus non tollit usum. 



§ 11. 

Materie und Materialismus als Hilfsvorstellungsweisen.*) 

Nicht anders verhält es sich mit einer anderen einseitigen 
Abstraktion, deren Tragweite eine unübersehbare ist: die ganze 
naturwissenschaftliche Betrachtungsweise, welche eine unabhängige 
materielle Aussenwelt ihren Berechnungen zu Grunde legt, ist 
nur eine einseitige Abstraktion. JMes wollte Lange sagen, wenn 
er überall das methodologische Recht des Materialismus, 
aber auch ebenso stark sein metaphysisches (oder viel- 
leicht besser — erkenntnistheoretisches) Unrecht betonte: 
Die materialistische Betrachtungsweise der Welt ist eine notwen- 
dige und nützliche Fiktion, ist aber falsch, sobald man in ihr 
eine Hypothese sieht Der Kampf Langes, der so häufig miss- 
verstanden wurde, weil er einerseits für und andererseits gegen 
den Materialismus sich ins Zeug warf, gewinnt durch diese For- 
mulierung eine neue, und wie ich glaube, auch erhellende Be- 
leuchtung, ein Umstand, der es begreiflich macht, wenn hier auf 
diesen Punkt näher eingegangen wird. 

Es ist eine durch die Erkenntnistheorie allmählich immer 
mehr zur Geltung und Anerkennung gebrachte Wahrheit, dass 
unsere ganze Weltvorstellung einzig und allein aus transformierten 
Sensationen besteht Ist dies der Fall, so folgt daraus unmittel- 

*) Weitere Ausführungen zu Teil I t Kap. 2 t S. 33 ff., und besonders zu 
Kap.l4> 8. 91 ff. 



380 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



bar die Richtigkeit der Theorie des Relativismus; denn da die 
Sensationen nichts sind, als unsere eigenen Veränderungen, so 
hat alle unsere Erfahrung nur in Beziehung auf uns Gültig- 
keit und Wert, Nicht bloss alle visuellen Phänomene sind nur 
Vorgänge, die in uns stattfinden und daher ohne uns keinen 
Sinn mehr haben, sondern auch die taktuellen Erfahrungen, die 
wir so gerne unmittelbar hypostasieren, indem wir eine Welt 
materieller, ausgedehnter, harter Körper annehmen, sind nur rela- 
tivistisch zu denkende Prozesse. Alles, was wir von anderem 
Sein wissen, sind nur einzig und allein die Eindrücke, die wir 
haben; die Vorgänge, die sich in uns abspielen, sind einzig und 
allein die Sensationen, die sich uns unwillkürlich aufdrängen. 
Nicht allein die Empfindungen der sogenannten höheren Sinne, 
auch die der niederen haben wir kein Recht, auch ohne uns, 
die Subjekte, absolut existierend anzunehmen: nicht bloss die 
farbige und tönende Welt besteht nur aus und in unseren Em- 
pfindungen, auch die Aussagen des Tastsinnes geben einzig und 
allein Modifikationen unseres psychologischen Organismus an. 
Die alte, schon von Demokrit zur Geltung gebrachte Wahrheit, dass 
die sogen, sekundären Eigenschaften nur relative Vorgänge sind, 
ist in neuerer Zeit auf die primären Eigenschaften ausgedehnt 
worden ; . wie nun aber die Farbenlehre eines Goethe von den 
Farben spricht, als wären sie objektiv existierende Eigenschaften, 
so spricht der Materialismus von Materie, Stoff und Handgreif- 
lichkeit, als wären dies reale Dinge, die auch ohne unsere Em- 
pfindung genau so da sind, wie wir sie empfinden. Wie aber 
ferner jene Betrachtungsweise der Farben eine bequeme Ab- 
straktion von dem Beisatz des Subjekts sein kann, welche z.B. 
zu Zwecken ästhetischer, kunstwissenschaftlicher Studien wohl 
unentbehrlich ist — denn man muss hier den Eindruck für die 
objektiv existierende Ursache und für eine reale Eigenschaft an- 
sehen, sonst würde der Vortrag unmöglich, weil viel zu kompli- 
ziert — , so muss auch die Naturwissenschaft ihrerseits von jenen 
Eigenschaften reden, als wären sie objektiv und absolut 
Sie sieht zum Zweck des bequemeren Vortrages ganz ab von 
dem Ichbeisatz, von dem Subjekt, davon, dass ja alle diese vei- 
meintlich objektiven Eigenschaften nur relativ in Bezug auf das 
Subjekt Geltung haben, und spricht und rechnet, als ob wirk- 
lich die materielle Aussenwelt so fest ausser uns stünde, und 
als ob auch ohne das Subjekt die Dinge so wären, wie sie uns 



§ U. Materie und Materialismus als Hilisvorstellungsweisen. 381 

erscheinen. Während faktisch alles, was wir erfahren, nur unsere 
Sensationen sind, die daher immer nur in Bezug auf das Ich 
Gültigkeit haben, sehen wir bei der naturwissenschaftlichen Be- 
trachtungsweise ganz von diesem Tatbestande, von dem Subjekte 
ab, und legen unseren Berechnungen viel einfachere Verhältnisse 
zu Grunde, als die genau beobachtete, reine Wirklichkeit sie uns 
darbietet 

Diese Loslösung unserer Sensationen von dem Mutterboden 
unserer Subjektivität ist in neuerer Zeit im Anschluss an Berkeley 
und Hume, insbesondere von Will undTaine zum Gegenstand 
eingehender Untersuchung gemacht worden, und in Deutschland 
hat in Erneuerung Kanüscher Doktrinen dasselbe Lange nach- 
drücklich betont Der feine analytische Geist der Engländer hat 
insbesondere jene Loslösung bis in ihre feinsten psychologischen 
Motive verfolgt, während Lange methodologisch und systematisch, 
mehr die Notwendigkeit und das Recht, die losgelöste mate- 
rielle Aussenwelt der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise 
zu Grunde zu legen, gegenüber sinnlosen Angriffen verteidigte, 
nicht ohne aber dabei eben stets von neuem darauf aufmerksam 
zu machen, dass der ganze Materialismus nur eine provisorische, 
methodologisch erlaubte, aber nicht mit einer metaphysischen 
Wirklichkeit zu verwechselnde Hilfsvorstellung sei. 

Den Beweis, dass wir bei der gewöhnlichen Weltvorstellung, 
welche eben mit der materialistischen Betrachtungsweise im wesent- 
lichen identisch ist — der Unterschied beider besteht nur darin, 
dass diese letztere nur die primären Qualitäten als objektiv real 
ansetzt, jene dazu auch noch die sekundären — dass wir bei der 
materialistischen Vorstellung auf unberechtigte Weise von dem 
Subjekt, dem notwendigen und integrierenden Beziehungspunkt 
der Sensationen, absehen, haben Viele vielfältig geführt, und es 
konnte hier nur unsere Aufgabe sein, den Kernpunkt dieser 
Argumentationen herauszuheben. 

Der Begriff der Materie ist also eine einseitige Ab- 
straktion, was wir nicht besser als mit ;den Worten eines der 
hervorragendsten Naturforscher ausdrücken können. Helmholt z 
sagt hierüber Folgendes: 1 ) 



1) Helmholtz, Über die Erhaltung der Kraft, eine physikalische Ab- 
handlung, vorgetragen in der Sitzung der physik. Gesellschaft zu Berlin, 
23. Juli 1847. S. 3 und 4. Vgl. Lange, Gesch. d. Mar. II, 215. 



382 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



„Die Wissenschaft betrachtet die Gegenstände der Aussenwelt 
nach zweierlei Abstraktionen: einmal ihrem blossen Dasein nach, 
abgesehen von ihren Wirkungen auf andere Gegenstände oder 
unsere Sinnesorgane; als solche bezeichnet sie dieselben als Mate- 
rien, Das Dasein der Materie ist uns also ein ruhiges, wirkungs- 
loses; wir unterscheiden an ihr die räumliche Verteilung und die 
Quantität (Masse), welche als ewig unveränderlich gesetzt wird." 

Die Rege!, welche wir aufgestellt haben, dass bei der An- 
wendung einer solchen Abstraktion auf die Wirklichkeit die 
notwendigen Korrekturen angebracht werden müssen, indem das 
Vernachlässigte wieder eingeführt wird, findet nun in Helmholtz's 
weiteren Worten eine willkommene Bestätigung: 

„Die Gegenstände der Natur sind aber nicht wirkungslos, 
ja wir kommen zu ihrer Kenntnis nur durch ihre Wirkungen, 
welche von ihnen aus auf unsere Sinnesorgane erfolgen, indem 
wir aus diesen Wirkungen auf ein Wirkendes schliessen. Wenn 
wir also den Begriff der Materie in der Wirklichkeit anwenden 
wollen, so dürfen wir dies nur, indem wir durch eine zweite 
Abstraktion derselben wiederum hinzufügen, wovon wir 
vorher abstrahieren wollten, nämlich das Vermögen, Wirkungen 
auszuüben, d. h. indem wir derselben Kräfte zuerteilen. Es ist 
einleuchtend, dass die Begriffe von Materie und Kraft in der 
Anwendung auf die Natur nie getrennt werden dürfen. Eine reine 
Materie wäre für die übrige Natur gleichgültig, weil sie nie eine 
Veränderung in dieser oder in unseren Sinnesorganen bedingen 
könnte." Auch das Übrige, was Helmholtz noch an dieser Stelle 
sagt, ist sehr beachtenswert; aber für jetzt sei nur noch bemerkt, 
dass hier die Methode der Korrektur in voller Reinheit sich uns 
darstellt: indem wir in der einen, der ersten Abstraktion nur 
Eine Seite des Wirklichen berücksichtigen, sehen wir uns genötigt, 
beim Übergang zur Wirklichkeit die andere Seite wieder ein- 
zuführen; Helmholtz nennt sie die „zweite Abstraktion", weil in 
der Tat hier diese vernachlässigte Seite auch ihrerseits mit Ver- 
nachlässigung der ersten Seite einseitig hervorgehoben werden 
kann — indem wir nur von Kraft sprechen: denn bei der An- 
wendung dieses Begriffes müssen wir ebenfalls wieder die andere 
Seite korrigierend einführen, die Sache, das Ding, an dem die 
Kraft haftet. Diese ganze Zweiteilung ist überhaupt eine metho- 
dologisch höchst interessante Fiktion. 



§ 12. Die abstrakten Begriffe als Fiktionen. 



383 



§ 12. 

Die abstrakten Begriffe als Fiktionen.*) 

Die Bildung abstrakter Begriffe ist einer der beliebtesten, 
notwendigsten, nützlichsten und weitverbreitetsten Kunstgriffe des 
Denkens. Die notio abstracta ist nach Chr. Wolff x ) eine solche, 
quae aliquid, quod rei cuidam inest vel adest (scilicet rerum 
attributa, modos, relationes) repraesentat absque ea re, cui inest 
vel adest. In der abstrakten Vorstellung wird Wirklichkeits- 
faktoren, welche faktisch unselbständiger Natur sind, „die Form 
der gegenständlichen Selbständigkeit geliehen, jedoch mit dem 
Bewusstsein, dass dieselbe nur eine fingierte, nicht eine reale 
ist.* 12 ) Die Einzelexistenz, welche wir an selbständigen Objekten 
beobachten und auffassen, wird auf unselbständige Teilvor- 
stellungen leihweise übertragen; diese werden substantiviert; 
so entstehen alle jene Begriffe wie Süssigkeit, Röte, Raum, Kau- 
salität, Identität, Grund, Folge, Verhältnis, Tugend, Schönheit, 
Liebe, Allmacht, Hass, — also ein ungemein wichtiger und zahl- 
reicher Bestandteil unseres Vorstellungsschatzes verdankt dieser 
Fiktion seine Entstehung. Atle substantiva abstracta bezeichnen 
solche, unter der entlehnten Form selbständiger Existenz ange- 
schaute Vorstellungen, in denen den Inhärenzen ein selbständiges 
Sein in Gedanken zugelegt wird. „Abstrafte", sagt Condillac,*) 
„c'est sdparer une idde d'une autre ä laquelle eile paroit natur- 
ellement unie . ♦ . voilä Partifice des idees que nous nous 
formons,*) „Les choses que nos idees ou nos sensations nous 
representent dans le corps, se nomment qualites ... Or, puisque 
les sens nous representent successivement les qualites, il dopend 
de nous de les considerer les unes aprfes les autres. Nous 
pouvons donc les observer comme si elles existoient 
separees de la substance qu'elle modifient . , . c'est ce qu'on 
nomine une idee abstrafte.* 5 ) „L'äme . . . peut les (les qualites 
des objets sensibles) detacher chacune des collections, dont elles 
tont partie, les considerer ä part, et former des abstractions sans 

*) Weitere Ausführungen zu Teil I, Kap. 2 % 8. 85 f.; auch zu Kap. & 63 f. 

1) Logik, § 110, 

2) Überweg, Logik, § 47. 

3) Traitg des sensations 96. 

4) Cond iMac, L'art de Penser, 93, 94, 

5) Cond ill ac, Grammaire LXX, LXXII. 



384 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



nombre," 1 ) Wie wir die uns bekannte Formel der Fiktion bei 
Condillac finden — observer com nie si — so sagt Bach mann: 2 ) 
„Abstrahieren von etwas, heisst dasselbe aus dem Bewusstsein 
weglassen und nur das Andere festhalten. Wenn A und B an 
sich zu einem Objekte verbunden sind, so abstrahiert man von 
A, wenn man B allein, in seiner Reinheit denkt, gleich als ob 
A garnicht da wäre." Selbstverständlich ist diese Isolierung eine 
künstliche Handlung des Subjekts, welche Kant 8 ) mit der Tätigkeit 
des Chemikers vergleicht: „Die Chemiker sind allein im Besitz, 
etwas zu abstrahieren, wenn sie eine Flüssigkeit von anderen 
Materien ausheben, um sie besonders zu haben, der Philosoph 
abstrahiert von demjenigen, worauf er nicht Rücksicht nehmen 
will." Dem Kunstgriff der Bildung abstrakter Begriffe hat, wie 
wir sahen, besonders Condillac seine Aufmerksamkeit zugewandt. 
Er hat denselben mit Vorliebe und mehrfach behandelt, zuerst 
in seinem Erstlingswerk*) und dann in seiner Gramm aire, seiner 
Logique, der „Art de Penser". Condillac hat das dabei waltende 
Gesetz der entgegengesetzten Operationen vollständig 
richtig erkannt, und es ist daher in der Ordnung, wenn wir uns 
mit seinen Gedanken über diesen Gegenstand noch näher be- 
schäftigen. 

Abstrahieren ist dekomponieren: es ist die Trennung einer 
Sache von einer anderen, deren Teil sie ist: die abstrakten Be- 
griffe sind somit Partialbegriffe, welche von ihrem Ganzen 
losgerissen sind. Diese Dekomposition der Dinge wird begünstigt 
durch den Umstand, dass unsere Sinne einzelne Seiten der Dinge 
perzipieren, welche wir dann verselbständigen. — Selbstverständ- 
lich ist durch diesen analytischen Kunstgriff nicht nur die Mit- 
teilung der Dinge, sondern auch deren Untersuchung erleichtert; 
während wir dem verwickelten und verwobenen Ganzen der Ob- 
jekte ratlos und hilfslos gegenüberstehen würden, sind wir durch 
die Abstrakta in den Stand gesetzt, beliebig Teilstücke aus dem 
Ganzen herauszuschneiden und dieselben der Behandlung zu 



1) Condillac, Tr. d. sens. 219. 

2) Bachmann, Logik 1828, §44. 

3) Über eine Entdeckung u. s. w. 1, A. Nota. 

4) Essai sur Forigine des connaissances humaines. Amsterdam 1746. 
Der Abschnitt „des Abstractions, l, V, Ä 213—237 ist fast vollständig wörtlich 
reproduziert in der „Art de Penser" Chap. VIII: „de la nScessite et des abus 
des ide*es generates* 93—119. 



§ 12. Die abstrakten Begriffe als Fiktionen. 



385 



unterwerfen; und indem wir Teilstücke, welche einer Reihe von 
Objekten gemeinsam sind, herausnehmen, erhalten wir ganze 
Klassen substantivierter Teilgebiete der Erscheinungen. Indem 
wir die Farbe oder die Gestalt logisch loslösen von dem körper- 
lichen Substrat, erhalten wir eigene Wissenschaftssphären, welche 
sich mit diesen Qualitäten aHein beschäftigen, ohne die Sub- 
stanzen, an welchen aliein sie zur Erscheinung gelangen. 

Allein dieser Prozess birgt — und damit knüpfen wir wiederum 
an Condillac an — eine grosse Gefahr in sich und führt leicht 
zu vielen und schweren Irrtümern, welche schlimme Konsequenzen 
nach sich ziehen. »Viele Philosophen sind in diesen Irrtum 
gefallen: sie haben alle ihre Abstraktionen realisiert oder haben 
sie als Wesen betrachtet, welche eine reelle Existenz haben, 
unabhängig von derjenigen der Dingel Relationen, Modifika- 
tionen und Formen werden hypostasiert. Da unser Geist zu 
beschränkt ist, um eine grosse Anzahl Modifikationen zu gleicher 
Zeit der Betrachtung zu unterwerfen, nimmt er eine nach der 
anderen und trennt sie daher von ihrer Substanz; er nimmt ihnen 
damit eigentlich ihre Realität. Da aber, fährt Condillac fort, doch 
diese abstrakten Qualitäten, welche von ihrem Mutterboden los- 
gerissen sind, Gegenstände des Geistes werden sollen, so ist das 
nur* so möglich, dass er diese unrealen Qualitäten doch als Reali- 
täten betrachtet: „Gewöhnt, immer wenn er sie an ihrem Objekt 
betrachtet, sie mit einer Realität zusammenzusehen, von der sie 
dann nicht unterschieden sind, behält er für sie so sehr wie 
möglich dizrt Realität bei, auch wenn er sie von ihrem Substrat 
unterscheidet (oder besser aus dem immer zusammenseienden 
Qualitätenverband willkürlich in der Vorstellung herauslöst). Der 
Geist widerspricht sich damit: einerseits fasst er diese Modi- 
fikationen ohne irgend eine Beziehung zu dem reellen Objekte 
auf, und dann sind sie strenggenommen nichts mehr; auf der 
anderen Seite, weil man das Nichts nicht erfassen kann, betrachtet 
er sie als ein Ding 1 ) und fährt fort, ihnen dieselbe Realität zu 
geben, mit welcher er sie anfangs beobachtet hat, obgleich sie 
ihnen nicht mehr gebührt. Mit Einem Wort: diese Abstraktionen, 
obgleich sie nur Teilvorstellungen waren, haben sich mit der 
Vorstellung eines selbständigen Dinges verbunden", 

1) „Ueaprit le$ regarde comme quelque chose" oder, wie es ebendaselbst 
heisst, „comme des Ztres", De l'art de penser, pag, 103. Aul der folgenden Seite 
heisst es: „nous sommes forces ä considerer ces i&fa comme quelque chose de rief u 

25 



386 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



„Wie fehlerhaft auch dieser Widerspruch sein mag, 
er ist nichtsdestoweniger notwendig. 1 ) Denn wenn der Geist 
zu beschränkt ist, um auf einmal ein Ding und seine Modi- 
fikationen zu umfassen, wird es sehr notwendig sein, dass er sie 
unterscheidet, indem er Abstraktionen bildet; und obgleich dadurch 
die Modifikationen alle ihre Realität verlieren, welche sie hatten, 
wird es doch noch notwendig sein, dass er sie bei ihnen suppo- 
niert, weil er sonst aus ihnen niemals einen Gegenstand seiner 
Rejektion machen könnte/ 

Die Abstraktionen, welche wir als etwas Reales zu betrachten 
gezwungen sind, sind somit Kinder der Einbildungskraft; 2 ) und der 
Fehler aller Scholastik besteht darin, dass sie aus diesen Fik- 
tionen selbständige Wesen macht; die qualitates occultae (z, B, 
Lebenskraft), die hypostasierten spezifischen „Differenzen, welche 
in jeder Substanz Platz nehmen, um sie zu dem zu machen, was 
sie ist", sind Folgen dieser verhängnisvollen Verwechselung: „les 
abstractions sont donc souvent des fantomes, que les philosophes 
prennent pour les choses mernes" (a. a. O. III). 8 ) 

Ein weiteres Beispiel ist die Hypostase der Möglichkeit. 
Die Vorstellung möglicher Dinge ist eine realisierte Abstraktion, 
welche wir bilden, indem wir an die Existenz der Dinge zu denken 
aufhören (von ihr abstrahieren), um nur an die anderen uns 



1) % Quelque vicieuse que soit cette contradktton, tlU est neanmoins neces- 
saire m t a. a. (X 104. 

2) 9 Ö'est cette necessite* gut est cause que bien des philosophes n'ont pas 
soupconne que la realiU des id&s abstraites fut Vouvrage de l'imagination* p 
ib. 104, vgl. S. 112, wo vom feindre als einer Tätigkeit der Imagination die 
Rede ist 

3) Als besonders charakteristische Beispiele für solche Abstraktionen 
führt Condillac Raum und Zeit auf: sie sind nur künstlich abgetrennte Teil- 
qualitäten der Körper; nous pouvous diviser nos notions: wir denken den Körper 
vernichtet und denken seinen Raum erhalten. B est ä craindre que ce ne soit 
ici quun effet de Vimagination, gui t ayant feint qvCun corps est anfanti t est 
obligte de feindre un espace centre les corps environnans (a. a. O. 112). Condillac 
macht ausdrücklich aufmerksam auf die verschiedenen suppositiom, welche 
zur Bildung solcher Abstraktionen notwendig sind, und nennt dieselben p une 
maniert artificieuse* . Ebenso betont Condillac immer wieder die Unentbehr- 
lich keit dieser künstlichen Hilfsmittel, ihre Notwendigkeit für unser Denken: 
in diesem Sinne spricht schon die Überschrift des Kap. VII der Art de penser, 
S. 93, von der necessite* dieser Ideen, und warnt nur vor dem 9 abus des 
abstractions r'ealisees* (113). Sie sind aber unentbehrlich pour les discours les 
plus sh-ieux comme dans les conversatums les plus familieres. 



§ 12. Die abstrakten Begriffe als Fiktionen. 



387 



bekannten Qualitäten der Dinge zu denken — wobei die Existenz 
auch als eine Qualität neben den „anderen" irrtümlicherweise 
vorgestellt wird. Wir denken z. B. an die Ausdehnung, die Figur 
u. s. w. eines Körpers, nehmen aber Abstand von der wirklichen 
Existenz, Obgleich wir nun dadurch dem Dinge alle Realität mit 
einem Male genommen haben, und wir sie gleichsam in Nichts 
versetzen, behalten wir diese Realität doch andererseits bei, in- 
dem wir die Möglichkeit als eine — wer weiss, was Sur eine — 
Realität uns denken. Die Realisation blosser Möglichkeitsabstrak- 
tionen hat zu den törichsten Fragen geführt, wie immer dies bei 
der Hypostase solcher Fiktionen der Fall ist; solche Fragen sind 
ja besonders bei Aristoteles, und dann wieder bei Leibniz und 
Wolff ein beliebtes Tummelfeld eines vermeintlichen metaphysischen 
Scharfsinns gewesen, welcher mit logischen Möglichkeiten rech- 
nete statt mit realkausalen Wirklichkeitsfaktoren, Fragen wie, *was 
musste noch hinzukommen, um die Welt von der Möglichkeit zur 
Wirklichkeit zu bringen?* oder Definitionen, wie die bekannte 
Wolff sehe — „die Wirklichkeit ist das Komplement der Möglich- 
keit 4 * u. s. w. — sind eklatante Konsequenzen jenes Irrtums, der 
blosse Hilfsvorstellungen des Ausdrucks und der logischen Rech- 
nung zu konstitutiven Wirklichkeiten stempelt 

Ein weiteres Beispiel sind die Seelenvermögen. 1 ) Schon 
Locke spricht die Befürchtung aus, dass Sie Art und Weise, wie 
man von diesen Vermögen spricht, bei Vielen die konfuse Vor- 
stellung von ebenso vielen gesonderten Agentien in uns erwecke, 
welche als besondere Wesen verschiedene Gebiete beherrschen. 
Es hat dies eine grosse Menge nichtiger Dispute, dunkler und 
unsicherer Untersuchungen über diese vermeintlichen Seelenver- 
mögen herbeigeführt, z. B M ob das Urteil dem Verstände oder 
dem Willen angehöre, ob diese beiden gleich frei und selbständig 
seien, ob der Wille der Erkenntnis fähig sei, oder ob er eine 
blinde Kraft sei; ob der Wille den Verstand oder dieser jenen 
lenke u. s. w. Auf diese Weise ist die Seele vervielfacht worden, 
indem man aus bequemen Abstraktionen Wirklichkeiten machte: 



1) Auch schon L. Meyer in der Vorrede zu den Princip. Philos, Cartes m 
von Spinoza (Op. Ed. Gfoerer I, LXXI) sagt von den Vermögen wie Ver- 
stand, Begierde, sobald sie etwas praeter ideas sein sollten, das seien facultaies 
fietitiae, sie gehören in numerutn figmtntorum au£ $altzin illarwn acH&num, 
quae homines ex eo, quod res abstracte ooneipiunt, formaverunt, quales sunt 
humanitas, lapiditas et id genus aliae- 

25* 



388 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



denn Abstraktionen sind jene Fakultäten, da in Wirklichkeit kein 
einziger Willensakt ohne Vorstellungstätigkeit, kein Vorstellungs- 
akt ohne Willen oder Gefühl vor sich geht. 1 ) In allen solchen 
Fällen ist die Hauptschutzmassregel gegen Gefahren die Ver- 
meidung der Hypostasierung und der Rückgang zu den wirk- 
lichen, elementaren Vorgängen, aus denen jene Abstraktionen 
sich erst gebildet haben, also zur Beobachtung des Einzelnen 
und Wirklichen in seiner erscheinenden Mannigfaltigkeit und 
seinen unauflöslichen Verbindungen. 

Den deutlichsten Ausdruck erhalten diese fiktiven Abstrak- 
tionen in der Sprache, indem wir von ihnen durchaus sprechen, wie 
von Einzelsubstanzen: wir geben ihnen Adjektiva, wir fügen ihnen 
Verba an; wir sagen: der Raum hat drei Dimensionen; der Krieg 
rafft die Menschen hinweg; wir sprechen von Eigenschaften und 
Handlungen des Ruhms, der Tugend, der Weisheit, der Ge- 
rechtigkeit u. s. w. Wir leihen diesen Abstraktionen also Substan- 
tialität, als ob sie etwas Besonderes, selbständig Existierendes wären 
ohne die Objekte, an denen wir sie faktisch finden. 

Dieser Zusammenhang der Abstraktionen mit der Sprache 
ist insbesondere von Gruppe (im Anschluss an Condillac) be- 
tont worden, und derselbe hat die schlimmen Verheerungen, 
welche die eben durch den Sprachgebrauch begünstigte Ver- 
wechselung der AbstraRta, d. h. also der Fiktionen mit Wirklich- 
keiten in der Philosophie angerichtet hat, einer scharfen Kritik 
unterworfen. Beide Punkte sind noch einer genaueren Beleuch- 
tung würdig. 

In dem „Antäus", dem bedeutenden Monument eines trotz 
der Jugend des Verfassers ungemein unabhängigen und selbst- 
ständigen Denkens, — der „Antäus" erschien 1831, also fünfzig 
Jahre nach Kants Kr. d. r. V. — hat sich Gruppe 2 ) die Aufgabe 
gestellt, „zu untersuchen, welchen Anteil die Sprache und deren 
Mittel und Ausdrucksweise am Denken habe*. Wir bedienen uns 
einer Anzahl abstrakter Ausdrücke, und nur mittelst ihrer ist 
Spekulation möglich. Lassen sie nun ihrer Natur nach eine 



1) Zu welchen Missiichkeiten hat erst die Kantische Trennung ver- 
schiedener sich ausschliessender Erkenntnisvermögen (Sinnlichkeit, Verstand, 
Vernunft) geführt, die doch in Wahrheit nur einseitige Abstraktionen und 
bequeme Hilfsausdrücke sind. 

2) Die folgenden Seiten enthalten einen umschreibenden Auszug aus 
dem genannten bedeutsamen Werke Gruppes. 



§ 12. Die abstrakten Begriffe als Fiktionen. 



389 



solche Anwendung zu? „Ich setze den Fragen, mit welchen die 
spekulative Philosophie über die Ausbeute der empirischen Wissen- 
schaften hinaus in das innere Wesen der Dinge eindringen 
will, folgende von meiner Seite entgegen; welchen wahren Sinn 
haben unsere abstrakten Ausdrücke? . . . Haben sie noch ausser 
ihrer praktischen Anwendung einen absoluten Sinn und Ge- 
brauch? Wie weit ist ihre Geltung, wie weit sind sie unverdächtig? 
Was sind jene Begriffe, aus denen selbständige begriffsmässige 
Erkenntnis soll entwickelt werden können? 4 * Zu diesen Fragen 
kam Gruppe, nachdem trotz Locke, Hume und Condülac durch 
teilweise Verschuldung Kants wieder in Hegel die Begriffsphilo- 
sophie neue Orgien gefeiert hatte. 

Die Spekulationen der Eleaten, Piatons, und des Aristoteles 
sind nur durch den Missbrauch mit den Abstraktis möglich, in 
denen man, statt nur Hilfsausdxücke zu finden, Wirklich- 
keiten sah. Aber obgleich Aristoteles die ä<fa(Q€<tt$, die abstractio, 
wohl kannte und gelegentlich auch die Warnung aussprach, man 
dürfe die ayalgsisu; nicht zum %v£>QtVfx6<; y die logische Trennung 
nicht zur realen werden lassen, so hat er doch selbst diese rich- 
tige Regel keineswegs allgemein befolgt: im Gegenteil, er ist 
derjenige, welcher System atisch\ die Abstraktionen hypostasierte, 
weshalb man ihn nicht mit Unrecht den „Vater der Scholastik 41 
genannt hat Aristoteles selbst war hier dem Trug erlegen, dass 
er die logischen Beziehungen, die er bekanntlich aus der Sprache 
aufnahm, für den unmittelbaren Ausdruck der Wirklichkeit hielt: 
die Vorstellungen, welche das „Organon* über die reale Bedeutung 
des Urteils verbreitete, haben dann die ganze Scholastik be- 
herrscht. Man machte die Voraussetzung, die Begriffe seien 
gleichsam etwas Stoffliches oder doch in sich Selbständiges und 
Festbegrenztes, das im wörtlichen Sinn zu einem Gegenstand 
hinzutrete, sich damit verbinde und sich dann wieder davon ab- 
trenne, wie die Adjektiva, Verba u. s, w. zu dem Satzsubjekt 
hinzugefügt oder von ihm gleichsam weggewiesen werden. Auch 
wenn man mit den gemässigten Realisten die Vorstellung vermied, 
dass diese Eigenschaften, Prädikate u. s w. unabhängig von den 
individuellen Substanzen existieren könnten — ante res — , so 
war doch die Vorstellung, dass sie eine mehr oder minder selbst- 
ständige Existenz in den Dingen — in rehis — führten, krass 
genug und schon eine Hypostasierung einer blossen 
Hilfsvorstellung. Die Eigenschaft des Schönen, sagt Gruppe 



390 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



richtig (71) ist für uns ein Abstraktum, gleichviel, ob wir dieselbe 
für sich oder an einem Gegenstande denken. 

Die nominaiistischen Proteste gegen diesen Unfug wurden 
erst durch Locke mächtig, der die Behauptung, alle diese Ab- 
strakta seien nur flatus vod$, seien nur ticta eniia, durch eine 
analytische Zerfaserung aller Vorstellungen zu beweisen unter- 
nahm. Ihm folgten Hume und Condülac. Allein das 19. Jahr- 
hundert kehrte zur Scholastik zurück, und die Philosophie be- 
schäftigte sich jetzt auf einmal wieder mit Abstrakten und deren 
begriffsmässigem Erkennen. Das beweist, dass jene Kritik noch 
nicht tief und einschneidend genug gewesen war. Die zweite 
Hälfte des 19. Jahrhunderts hat das Gewebe wieder aufgelöst, 
das in der ersten gefertigt wurde. Die neuaufstrebenden empi-, 
rischen Wissenschaften im Bund mit Sprachwissenschaft und Logik 
haben die Natur der Abstrakta aufs neue untersucht und sie 
wieder aus Realien zu blossen» bequemen und nützlichen 
Hilfsvorstellungen des Denkens degradiert, aus denen daher 
auch keine Erkenntnis zu gewinnen ist Durch die Verbindung 
leerer Abstrakta wie Sein und Werden, Wille und Vorstellung ist 
die Welt nicht zu erkennen, und alle Kombinationen solcher Be- 
griffe führen zu einem blossen Scheinbegreifen. 

Im XII. Briefe des „Antäus" kommt Gruppe auf die Abstrakta 
als Absonderungen zu sprechen. Diese Trennungen können 
keineswegs für absolut gelten; sie beruhen weder auf einer Not- 
wendigkeit des Denkens noch auf einer bestimmten Teilung der 
Natur. Es sind vielmehr jene Abstraktionen Gebilde, welche 
durch das willkürliche Spiel der Vorstellungen entstanden und 
durch die sprachliche Bezeichnungsweise befestigt worden sind. 
Nicht nur die substantiva abstrada: Schönheit, Lieblichkeit, Grösse, 
Röte sind nicht in der Natur gegeben; auch die adjectiva abstrada 
wie schön, lieblich, gross, rot sind aus der Natur durch Vor- 
stellungstätigkeit abgesondert, nicht aber so unmittelbar in ihr 
geboten und vorhanden. Da die Bildung abstraktiver Substantiva 
lediglich aus dem praktischen Zweck erfolgt ist, ganze Sätze 
in ein einziges Wort zusammenzuziehen, können die ihnen ent- 
sprechenden Adjektiva nicht als wesensverschieden von ihnen 
angesehen werden — auch sie sind schon Abstrakta. Beruhen 
doch schon die meisten oder eigentlich alle Qualitäten auf Rela- 
tionen, welche wir eben in unserer subjektiven Vorstellungsweise 
zu mehr oder weniger selbständigen Qualitäten umprägen. Die 



§ 12. Die abstrakten Begriffe als Fiktionen. 



391 



Heraushebung einzelner Merkmale auch ohne ihre sprachliche 
Substantivierung ist ein Hilfsakt, welcher zur Erleichterung 
und Verdichtung des Denkens führt. Die Herausgreifung einer 
singulären Beziehung und die Fernhaltung aller übrigen, in denen 
der Gegenstand faktisch steht, ist eben die Abstraktion. Von da 
an liegt die Verirrung nicht mehr weit, sich die Dinge aus den 
selbständig gegebenen Merkmalen erst zusammengeklebt, zusam- 
mengebaut und -gebracht zu denken, also aus Qualitäten, welche 
an und für sich abgeschlossen sind, die sich mit den Dingen 
vereinigen und wieder von ihnen abtrennen können. Die Aus- 
bildung der Sprachen fördert die immer weitergehende Absonderung: 
abstrakte, hochgebildete Sprachen verlangen das scharfe und 
abgesonderte Fassen der Begriffe und Modifikationen. 

Ein weiterer Schritt in dieser Absonderung geschieht dann, 
wenn diese adjektivischen Abstrakta vollends substantiviert werden. 
Diesen Hypostasierungsprozess sehen wir bei den Griechen und 
fast noch mehr bei den Römern vor sich gehen, und die letzteren 
sind ja bekanntlich darin soweit gegangen, blosse Abstrakta, wie 
Virtus, Victoria, Gloria u. s. w, als persönliche Gottheiten zu fassen. 
Alle Sprachen haben Mittel, um eine Eigenschaft, also das Resultat 
eines vergleichenden Urteiles, wiederum als ein Selbständiges zu 
denken, wovon Tätigkeit ausgehen kann, und dem man eine 
Handlung zueignen dart Die Eigenschaften der Dinge werden 
nicht nur als Wirkungen transzendenten Gottheiten zugeschrieben, 
sondern selbst als Personen vorgestellt: das Urschema aller Sub- 
stanlialität ist ja die Personalität Erteilte man ja diesen abstrakten 
Eigenschaftsbegriffen sogar ein Geschlecht und dazu meistens das 
weibliche. Die Endung „heit* ist nach Gruppe ursprünglich ein 
eigenes Wort gewesen und bedeutete „Person". Um jene Fassung 
zu erreichen, welche heutzutage der eigentliche Repräsentant des 
Abstrakten ist, nahm die Sprache und mit ihr der Gedanke die 
Zuflucht zu der Mittelsvorstellung einer Persönlichkeit So gelang 
es leicht, jede Eigenschaft als etwas Selbständiges, also ganz 
abgesehen von ihrem Verhältnis zu bestimmten Gegenständen 
zu fassen. 

Sobald man diese Natur der Abstrakta vergisst, sobald man 
ausser acht lässt, dass sie nur bequeme Formeln des 
Sprechens und Denkens sind, welche das Raisonnement und 
seinen Ausdruck ungemein erleichtern, dass aber die eigentliche 
Wirklichkeit dieselbe gar nicht kennt, sondern aus den Relationen 



392 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



einzelner konkreter Dinge besteht, sobald man diese Fiktionen 
in die Wirklichkeit hineinträgt, so entstehen seltsame Irrungen 
des Denkens, wunderliche Abwege und spasshafte Verlegenheiten. 
Piaton ist ja das Musterbeispiel für das, was wir meinen. Aber 
was bei Piaton ein grossartiger und erhabener Irrtum war, wurde 
in der Scholastik zu einem lächerlichen Fehlen Der eine Teil 
jener Ideen, die abstrakten Eigenschaftsbegriffe — die Allgemein- 
begriffe bilden den anderen Teil — sind das eklatanteste Beispiel 
der Geschichte für die Hypostasierung eines blossen Denk- 
mittels. Die mittelalterlichen «Realisten* weisen schon durch ihren 
Namen auf ihre falsche Meinung hin, als ob die Abstrakta Realia 
wären I Welche sonderbaren Probleme daraus entstanden, ist 
bekannt. Der Gebrauch der lateinischen Sprache, deren korrum- 
pierte Form die Bildung solcher Abstrakta in infinitum erlaubte, 
begünstigte den Unfug, der mit den facultates — und sonstigen 
tatcs — getrieben wurde. Die Abstrakta sind, sagt Gruppe (272), 
„eine scharfe Waffe, welche den Unkundigen, der sie handhaben 
will, in Gefahren stürzt, sie sind ein süsses Gift, das die nach- 
kantische Spekulation aufs neue in kurze, überschwengliche 
Berauschung versetzte, aber Geisteszerrüttung nach sich zog." 

In der gewöhnlichen Sprechweise (ibidem 276) sind aber 
die Abstraktionen nicht nur ohne Irrung und Gefahr, sondern 
auch heilsam, sowie schnell zum Ziele führend. AHein die speku- 
lative Philosophie reisst die Abstrakta aus ihrem Zusammenhange 
heraus und macht aus ihnen Realitäten. „Für den gewöhnlichen 
Sprachgebrauch sind sie nichts als geschickte Abbreviaturen; 
sie sind aus der sprachlichen Praxis entsprungen und leiden nur 
praktische Anwendung; aus ihnen selbst aber ist nichts Theo- 
retisches abzuleiten; man kann nichts aus ihnen herausklauben; 
sie sind nur Mittel, nicht Inhalt; nur Abbreviaturen und Hülfs- 
ausdrücke/ Es sind die Abstrakta Rechnungsvorteile und 
überheben uns vieler Weitschweifigkeit. Wir können mittelst ihrer 
in die Nüancen der Objekte viel feiner eindringen, indem wir 
Merkmale ohne die Objekte, an denen sie sich finden, zum 
Gegenstand der Aussage machen. Aber schliesslich muss immer 
wieder auf die Konkreta zurückgegangen werden — daher der 
Name: Antäus — an denen jene Merkmale, aus welchen wir selbst- 
ständige Abstrakta gemacht haben, sich vorfinden. Sonst bewegt 
sich das Denken in der Luft, statt auf dem Boden der Erfahrung. 
Sobald die Abstrakta zu Aussagen missbraucht werden, welche. 



§ 12. Die abstrakten Begriffe als Fiktionen. 



393 



sobald man die konkreten Dinge und ihre Verhältnisse dafür ein- 
setzt, sinnlos werden, hat man die nötigen Vorsichtsmassregeln 
ausser Augen gelassen» Welchen Missbrauch hat die Hegeische 
Philosophie mit Abstraktis wie: Zahl, Grösse, Geschwindigkeit, 
Quantität, Qualität, Negation, Nichts, Sein, Werden, Einheit, Unter- 
schied u. s. w, getrieben. Alles das sind, sagt Gruppe treffend 
(285), sehr begreifliche Abstraktionen, „ganz arglose, grundehrliche 
Worte; allein man vergesse einen Augenblick, was es mit ihnen 
zu bedeuten hat, so ists nicht mehr unsere treue Muttersprache, 
sondern ein Rotwelsch, eine Gaunersprache, die zu unserem Ver- 
rate dient; es sind Irrlichter, die in Sümpfe führen/ Durch keine 
philosophische Tortur kann man ihnen etwas abfragen. Es darf 
nur daran erinnert werden, welche Schwierigkeiten und Geheim- 
nisse man in dem abstrakten Begriffe des Nichts suchte und fand: 
das Nichts sei dem Etwas entgegengesetzt, und doch sei es un- 
zweifelhaft auch etwas; ob das Nichts gedacht werden könne? 
Schon die Griechen nahmen ernsthaften Anstoss an diesem Ab- 
straktem, da doch die Genesis des Begriffes lehrt, dass „Nichts* ur- 
sprünglich eben den Mangel einer bestimmten Eigenschaft bezeich- 
nete, und dass darum, wenn es den Mangel aller Eigenschaften, 
alles Seins bezeichnet und absolut gebraucht wird, es auch ein 
sinnloser Ausdruck, eine leere Formel, wie die Null an und für 
sich, ohne Verbindung mit bestimmten Zahlen geworden ist. 

Zu welchen metaphysischen Missbräuchen hat ferner das 
Abstraktum Werden geführt; ging man doch so weit, dass man 
vergass, dass damit nur ursprünglich die Veränderung eines be- 
stimmten Gegenstandes gemeint sein kann, und dass es darum 
ebensowenig als ein absolutes Nichts, ein absolutes Werden geben 
kann. Und dass, was wird, vorher nichts gewesen sei, zu welchen 
dialektischen Sophistereien hat dieser auf lauter Abstraktis be- 
ruhende Satz Hegel verführt Welchen Unfug treibt Schelling mit 
dem Begriff des Lebens! 

Den Gipfel erreichte aber der metaphysische Unfug bei dem 
Missbrauch jener Doppelbegriffe, wie sich unter den Abstraktis 
soviele finden, und zu denen auch Sein und Werden, Nichts und 
Etwas gehören; also: Einheit und Vielheit, Teil und Ganzes, Ur- 
sache und Wirkung, Substanz und Akzidenz, Inhalt und Form, 
endlich und unendlich, einfach und zusammengesetzt, absolut 
und relativ, und alle jene Eigenschaftsbegriffe, welche Gegensätze 
bilden, wie Härte und Weichheit, Gut und Böse, Tugend und 



394 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



Laster, Hegel lässt diese und ähnliche Begriffe ineinander über- 
gehen und findet in der rein subjektiven Relativität solcher Aus- 
drücke objektive Geschehnisse, und behandelt jene Abstrakta wie 
Konkreta, ja er verkehrt endlich die Terminologie und nennt das 
Abstrakte konkret, das Konkrete abstrakt. Dies Alles und noch 
eine unendliche Menge ähnlicher Beispiele — es sei nur erinnert an 
den Missbrauch mit Abstraktis, wie Wahrheit, Allgemeinheit, Not- 
wendigkeit, u. s, w. — beweist, dass es nicht möglich ist, aus 
diesen Abstraktis, die eben nur Hilfsmittel sind, auf die 
Natur der lebendigen Dinge zurückzuschliessen. So notwendig 
die Abstrakta zum Denken und Sprechen sind, so wenig Aufschluss 
lässt sich aus ihnen über die reale Welt gewinnen; und sobald 
man sie hypostasiert und sie sich vorstellt als besondere Wesen, 
ausgestattet mit Leben und mit Eigenschaften — und so denkt 
sie sich alle spekulative Philosophie mit Hegel — , so hat man 
den Fundamentalirrtum begangen, Fiktionen in Wirklich* 
keiten, provisorische logische Mittelgebilde in reale, 
definitive Wesen zu verwandeln. Aus diesem Irrtum entstehen 
dann jene „questions frivoles", wie sie Condülac nennt, jene ver- 
zwickten und anscheinend tiefsinnigen Fragen, die in ihrer Falsch- 
heit und Verkehrtheit nur erkennbar sind, wenn man auf die 
konkreten Dinge zurückkehrt. „Ein bösartiger Geist, ruft Gruppe 
aus (311), gab dieses Mittel dem Menschen, — und doch war 
es eben der Geist der Kultur selbst, welche ohne dieses Mittel 
kaum einen Schritt tun konnte/ Somit sind die Abstrakta zwar 
notwendige Hilfsmittel des Denkens, und sie entsprechen einem 
praktischen Bedürfnis — aber sie geben keine theoretische Er- 
kenntnis, man mag sie drehen und wenden, definieren und distin- 
guieren, wie man will. Man verwechselt Faktum und Fik- 
tum, Sache und Mittel, wenn man aus diesen Hilfsausdrücken 
etwas folgern will. Es ist ein gänzliches Verkennen des Instru- 
mentes, dessen man sich bedient: man nimmt das Instrument 
für die Sache, zu deren Bearbeitung es dient. 

Alle Widersprüche, welche Hegel in den Abstraktis fand, 
waren nur die Folge einer verkehrten Anwendung derselben, in- 
dem er, statt ihre Natur zu untersuchen und ihre wahre Geltung 
festzustellen, sie aus dem Zusammenhang herausreisst und ein- 
zeln analysiert. Da sie ja nur durch eine Vernachlässigung eines 
Teiles der Wirklichkeit entstanden sind, so muss eine einseitige 
Betrachtung derselben natürlich Widersprüche in ihnen finden: 



§ 12. Die abstrakten Begriffe als Fiktionen. 



395 



es war nur konsequent, dass Hegel diese Widersprüche in die 
Wirklichkeit hineinverlegte, nachdem er eben die Abstrakta zu 
Wirklichkeiten gemacht hatte. Durch den Missbrauch entstehen 
eben jene Beunruhigungen durch die „fratzenhaftesten Wider- 
sprüche"; diese sind unschuldig, wenn wir wissen, was es mit 
ihnen auf sich hat, aber gefährlich und trügerisch und das Denken 
verwirrend, wenn wir die eigentliche Natur der Abstrakta verkennen. 
„Ein wohlwollender Gott," sagt Gruppe sehr bezeichnend, 
„gab uns ein wunderwirkendes Mittel zu äusserlichem 
Gebrauch, wir aber wendeten es innerlich an. Was erfolgte? 
Krampfhafte Verrenkungen aller Glieder, fieberhaftes Phantasieren, 
völlige Geisteszerrüttung.* Sobald man sich der Natur der Ab- 
strakta bewusst ist und bleibt, leidet das wissenschaftliche Denken 
nicht unter denselben. Sie sind notwendig und lassen sich 
nicht abstellen, solange überhaupt diskursiv gedacht wird. „Wir 
forschen,, mahnt Gruppe (458), „überall nur durch Abstraktion» 
deren wir uns dann wieder erst bewusst werden müssen, um das 
Brutto unseres Ertrages in ein Netto zu verwandeln, um die Hülle, 
das Mittel und Exzipiens zu entfernen.* Das Mittel muss am 
Ende der Rechnung zurücktreten, damit das reine Resultat heraus- 
trete; damit Reelles an Stelle des Formellen, Faktisches an Stelle 
des Fiktiven trete. „Ohne Hypothese" [fälschlich bei Gruppe 
statt Fiktion] »hätte man nicht sprechen können; dagegen wenn 
man von solchen Hypothesen [Fiktionen] nicht zu abstrahieren 
weiss, so gibt es auf keine Frage eine Antwort, welche nicht 
innerhalb der Frage selbst bliebe und immer nur auf das in ihr 
Vorausgesetzte zurückführte. Von hypothetischen [fiktiven] Hülfs- 
vorstellungen ist die Sprachbildung unwillkürlich und unbewusst 
ausgegangen, und sie kann ihrer nie entraten; hierin liegt zu- 
gleich der Vorteil der Sprachen und ihre Gefahr." Diese Fiktionen 
sind Mittel des Denkens und der Verständigung: aber es 
ist eine genaue Kontrolle dieser Mittel erforderlich, um sich nicht 
jeden Augenblick zu verirren. Man darf dem, was nur mnemo- 
technisch, nur technisch ist, keinen eigenen Wert beilegen. 

Gruppe spricht an der letzten Stelle das Gesetz der Fik- 
tionen ganz allgemein aus mit den denkwürdigen Worten: 
„Unsere forschende Wissenschaft ist eine stete Regula 
falsi; 1 ) sie muss, um nur einen Ansatz ihres Exempels zu 



I) Vgl. Condillac, Traitö des systfcmes (Oeuvres Ii) S. 329. 



396 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



haben, von irgend einer Voraussetzung und Annahme 
ausgehen, welche sie dann im Verfolg zu korrigieren 
und modifizieren sucht." Als ein Beispiel dieser allgemeinen 
Regel sind die Abstrakta und ihr Gebrauch zu betrachten; wir 
machen bei denselben Fehler, welche nachher wieder zu 
korrigieren sind. Wir setzen an Stelle des Konkreten Ab- 
straktes, und nachher muss für das Abstrakte wieder Konkretes 
eingesetzt werden. Was wir bei ihrer Bildung wegnehmen, sub- 
trahieren, muss bei der definitiven logischen Rechnungsablage 
wieder hinzugefügt, addiert werden. Wenn man diese Mittel mit 
den Sachen verwechselt, entsteht, wie Gruppe sich drastisch aus- 
drückt, eine düstere Hierarchie — man könnte auch sagen: eine 
wilde Anarchie — von Worten und Begriffen. Faktum und 
blosses Spiel der Sprache, reelle Begriffe und „ Spielbegriff e u , 
um mich eines Kirchmannschen Ausdruckes zu bedienen, müssen 
unterschieden werden. „Die Abstrakta sind eine Schar von 
dienstbaren Geistern, ohne welche kein Denken, keine Wissen- 
schaft, kein menschliches Verständnis möglich sind. Aber 
es fehlt das Wort, sie zu bannen. Da ergriff Schrecken und 
Verwirrung den Neuling, welcher nicht soweit die göttliche 
Zauberkunst besass, um auch dem willkürlichen neckischen 
Wesen aller jener losgelassenen Geister Einhalt zu tun" 
(ib. 467). 

Die Abstrakta sind nur Diener; man muss sie wegschicken, 
wenn sie ihre Schuldigkeit getan haben. Sie sind ein notwendiges 
Hilfsmittel für das menschliche diskursive Denken, und das 
menschliche Denken, das nicht intuitiv ist, kann sie nicht ent- 
behren : aber man muss aus der Not keine Tugend machen. Das 
tat aber Hegel, obgleich doch schon Kant das Widersprechende, 
Verführerische und Inhaltlose des Poigerns aus blossen Begriffen 
wenigstens teilweise nachgewiesen hatte, freilich vermittelst einer 
ganz falschen Methode, insofern ihm die wichtigsten dieser Be- 
griffe apriorisch erscheinen, während sie doch alle faktisch aus 
Erfahrungen abstrahiert sind. Obgleich Hegel die Leerheit der 
abstrakten Begriffe vollständig einsah, obgleich er erkannte, dass 
das Denken mit ihnen auf Widersprüche führt, fand er gerade 
darin das Wesen des Realen. Hatte Piaton die abstrakten Sub- 
stantiva als höhere, mit bevorzugter Realität ausgestattete Wesen 
betrachtet, so findet Hegel in ihnen wirksame kosmische Kräfte. 
Es sind diese Abstrakta aber nur Rechnungsvorteile, logische 



§ 15. Die abstrakten Begriffe als Fiktionen. 



397 



Kunstgriffe; „die Frage nach ihrer Realität hat", wie Gruppe 1 ) 
ganz richtig bemerkt, „hier gar keinen Sinn, und das Unmögliche 
kann ebensogut als vorübergehender Ausdjruck das Seinige leisten, 
wie in der Mathematik der Ausdruck \/— 1; ganz wie letzterer 
eine imaginäre Grösse, d. h. eine blosse Fiktion ist, so auch 
mit der Sprache, welche man in vielen Fällen für nichts anderes 
als ein Papiergeld zu achten hat* Auf dieses Papiergeld, auf 
diese fiktiven Werte, wie man diese substitutiven Geldsurrogate 
auch nennt, haben die Metaphysiker immer ihre Systeme gebaut; 
und weil diese auf blosse Nominalwerte ohne entsprechenden 
Realfond gebaut waren, machten sie Bankerott Man muss aber 
diese Verkehrsmittel, welche nur Tauschwert besitzen, in jedem 
Augenblicke in ihren realen Wert, d. h. in die einzelnen Gegen- 
stände und deren gemeinte Beziehungen übersetzen. Aus der 
Vernachlässigung dieser Vorsichtsmassregel entstand jene Ver- 
kehrtheit der Piatonischen Lehre, dass jene bloss als Hilfsaus- 
drücke fungierenden abstrakten Begriffe das Bleibende, Ewige 
und absolut Reale sein sollten, die Dinge selbst aber, von 
denen sie doch erst als Nachdruck abgenommen sind, nur das 
schwächere und schlechtere Abbild. Statt sich an die Dinge 
selbst zu wenden, spekulierte man mit Worten und Begriffen. 
Das, was Piaton so wunderbar schien, dass die abstrakten Begriffe 
allgemein und ewig, die Einzeldinge vergänglich und verzettelt 
sind, erklärt sich ganz einfach aus der Entstehung der Abstrakta. 
„Schönheit" ist freilich allgemeiner als dieser oder jener schöne 
Gegenstand oder auch selbst als alle schönen Gegenstände zu- 
sammengenommen, weil an diesen immer noch zugleich andere 
Rücksichten erscheinen, die Schönheit in abstrakto aber immer 
nur Schönheit bleibt, weil sie eben eine blosse Abstraktion, d. h. 
eine einzelne Rücksicht, eine einseitige Beziehung ist. Aus der 
Allgemeinheit dieser Hilfsausdrücke darf man also nicht zu 
Gunsten einer höheren Würde derselben Kapital schlagen. Die 
Illusion, dass diese allgemeinen, abstrakten Begriffe das Primitive 
seien, ist eine für einen gewissen Kulturstand ganz natürliche; 
weil sie scheinbar einfacher sind, hält man sie für das Primitive 
und für Prinzipien der Wirklichkeit. So täuscht sich das 
Denken über die Mittel, die es zum Behuf des Verständ- 
nisses eingeführt hat. Während alle abstrakten Begriffe nur 

1) Gruppe, Wendepunkt der Philosophie im 19. Jahrhundert Berlin 
1831, S. 98/9. 



#98 Zweiter Teil; Spezielle Ausführungen. 

relativ sind, d. h. in Beziehung auf die Dinge, von denen sie 
abstrahiert sind, nimmt man sie, indem man sie für Reales hält, 
zugleich für absolut. Da sie aber ihrer ganzen Natur nach nur 
relativ zu brauchen sind» so hört damit alle Stabilität des Denkens 
auf, und es entstehen Widersprüche ins Endlose. Es entsteht 
dadurch entweder die absolute Philosophie Hegels oder jener 
Skeptizismus eines Sextus Empirikus, den Gruppe bezeichnend 
„die Seekrankheit der Vernunft" nennt; das ist die natürliche 
Folge der Verwechslung von logischen Abstraktionen mit Real- 
Prinzipien. Auch die Kantischen Antinomieen verdanken einem 
solchen willkürlichen Schalten mit Abstraktionen ihre Entstehung: 
man darf mit solchen HillsbegriHen nicht rechnen, ohne genau 
zu wissen, worauf sie sich beziehen; wahren Inhalt und Aufschluss 
können sie nicht geben, weil sie zur blossen Bequemlich- 
keit des Denkens geprägt sind. Durch den Missbrauch ent- 
steht jene wunderliche Anmutung, Schwierigkeiten zu lösen, welche 
gar nicht vorhanden sind, sondern welche nur aus dem uner- 
laubten Gebrauch der Begriffe folgen: z. B. ob die Welt nicht 
einige Jahrtausende früher hätte geschaffen werden können, ob 
das Jetzt nicht auch hätte tausend Jahre früher eintreten können, 
ob man das Weltall im Weltraum nicht verschoben denken könnte, 
ob die Welt eine Einheit sei u. s. w. — Fragen, deren Irrationa- 
lität bei einer genaueren Analyse der Begriffe, welche hier ver- 
bunden sind, von selbst erhellt. Die abstrakten Begriffe haben 
nur so lange Sinn und bleiben nur so lange ohne Trug, „als 
sie im Angesicht von Tatsachen und Anschauungen bleiben, auf 
welche sie sich beziehen - (Gruppe, Wendepunkt der Philosophie 
S. 444). Die „Hilfsbegriffe 44 fallen nach der fertigen Denk- 
recbnung heraus; das ganze Wortwerk muss von dem fertigen 
Kern abgebrochen werden, wie das Gerüst von dem fertigen Baue. 
Die Metaphysiker hielten sich meist an das Gerüste, ohne Hilfs- 
mitte! und Sache zu trennen; und doch müssen diese Hilfsmittel 
schliesslich bescheiden zurücktreten, da sie ein blosses Medium 
des Rechnens und Mitteilens sind. So hat Gruppe in Bezug auf 
die abstrakten Begriffe die Natur der Fiktion sehr richtig erkannt, 
ohne damals gehört zu werden. 



§ 13. Die Allgemeinbegriffe als Fiktionen. 



399 



§ 13- 

Die Allgemeinbegriffe als Fiktionen,*) 

Ein beliebter Kunstgriff des Denkens, der sich an die Ab- 
straktion unmittelbar anschliesst, sind die Zusammenfassungen, 
welche zu Allgemeinbegriffen führen. 1 ) Das unmittelbar Dar- 
gebotene ist die Empfindung. 2 ) Die Anschauung ist ein Verband 
von Empfindungserkenntnissen, der in dem Wahrnehmungsakt 
gewonnen wird. Dieser Verband ist immer eine Einzelanschauung, 
welche beliebig wiederkehren und in den Kreis der Empfindung 
wieder eintreten kann. Der theoretische Inhalt unseres Bewusst- 
seins umfasst aber ausserdem noch Allgemeinanschauungen und 
Begriffe. Was spielen nun diese Letzteren für eine Rolle im 
Erkenntnisprozess? Die Begriffe entstehen durch die theoretische 
Verarbeitung der Anschauungen. Durch die Operationen der 
Analyse, Vergleichung, Abstraktion und Kombination werden die 
Einzelbilder der Wahrnehmung und Anschauung auf einen um- 
fassenderen Wert gehoben. Die Verschmelzung der Bilder be- 
reitet die logische Tätigkeit der Abstraktion vor. Schon das ein- 
heitliche Bild, das wir von dem vielmaligen Anblick eines und 
desselben Gegenstandes gewinnen, ist, sagt Steinthal S. 130, ge- 
wissermassen eine ungewollte Abstraktion; wenn nun die beson- 
deren Merkmale dieser einheitlichen Bilder, z. B. eines Pferdes, 

*) Weitere Ausführungen zu Teil 1, Kap. 7, & 53 ff. 

1) Es ist prinzipiell genau zu unterscheiden zwischen abstrakten Begriffen 
und allgemeinen Begriffen: „Güte, Farbe, Glätte, Gleichheit* sind abstrakte 
Begriffe, denn die betreffenden Eigenschaften sind von konkreten Dingen 
durch Isolation losgelöste, aber in Wirklichkeit nicht selbständig vor- 
kommende Qualitäten der Dinge; »Stein, Pflanze, Tannenbaum, Schiff" sind 
allgemeine Begriffe, welche durch Generalisa tion aus vielen ähnlichen 
Einzelerscheinungen zusammengesetzt sind. Die Scheidung ist eine prinzipielle, 
aber auch nur eine prinzipielle: in praxi wirken die beiden Operationen der Iso- 
lation und der Generalisation fast immer zusammen. Um der Klarheit der Dar- 
stellung willen ist es jedoch zweckmässig, diese beiden Arten theoretisch genau 
zu trennen. In den Verhandlungen über Abstraktion, welche von Steinthal, 
Wundt, Liebmann, Lotze, Caspari, Schuppe, Göring u. A. geführt worden sind, ist 
jener prinzipielle Unterschied meist nicht genügend zur Geltung gekommen. 
Condillac (De l'art de penser, Ch. VIII, S. 96) macht zwar eine scharfe prinzipielle 
Scheidung zwischen id&s abstraites und idees gen$rales f wirft aber faktisch 
doch beides durcheinander. Vgl. Logique (Oeuvres XXII) S. 131 ff. 

2) Bei der folgenden Schilderung der Begriffsbildung schliessen wir uns 
eng an S teinthals „Einleitung" an. 



400 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



eines Hundes u. s, w., welche die Verschmelzung dieser Vor- 
stellungen verhinderten, weggedacht werden, d, h, wenn man von 
ihnen abstrahiert, so bleibt von diesen Vorstellungen ein Rest 
vom Inhalt, der in jeder dieser Vorstellungen der gleiche ist, 
und der nun unvermeidlich zu einem Inhalte zusammengeht 
So entsteht der allgemeinere Begriff, z. B. des Tieres. 

So die gewöhnliche Schilderung, welche indessen wesentlich 
ergänzt werden muss. 

Ähnliche Bilder verflechten sich und verschmelzen durch 
Unterdrückung derjenigen besonderen Elemente der Bilder, welche 
dieser Verschmelzung entgegenstehen. So entsteht aus einer Reihe 
von Bildern, welche eine überwiegende Anzahl gleicher Elemente 
haben, eine gemeinsame Verschmelzungsmasse, Diese bezeichnet 
einen Spielraum, eine Abgrenzung, innerhalb welcher eine und 
dieselbe Grunderscheinung in verschiedenen unwesentlichen Modi- 
fikationen sich bewegen kann. Die begrenzende Macht für den 
oft unbestimmten Umkreis und Inhalt des allgemeinen Begriffes 
ist der Gestalttypus, der den einheitlichen Charakter vieler 
Wahrnehmungen ausmacht. Dieser einheitliche Charakter liegt in 
den Wahrnehmungen selbst und bewirkt eben psychomecha- 
nisch die Verflechtung und Assoziation der Vorstellungen. Auch 
das Wort tritt als eine begrenzende Macht im Chaos der Vor- 
stellungen auf, es ist ein fruchtbares Hilfsmittel für die Fixierung 
von Allgemeinbildern, Das Wort unterstützt den begrifflichen 
Typus. Dieser bekommt eben eine neue Art Anschaulichkeit, 
resp. eine sinnliche Stütze durch das hörbare Wort. 1 ) Aber es 
lässt sich z.B. für das Wort „Baum" keine deckende Anschau- 
ung nachweisen. Die Anschauung, sagt Steinthal (S. 443), hat 
immer entweder einen grünen oder einen trockenen, einen hohen 
oder niedrigeren u. s. w. Baum zum Inhalt: Das Wort «Baum" 
dagegen bezeichnet ein Etwas, welches in allen Anschauungen 
vom Baume vorkommt, welchem aber jede nähere Bestimmung 
fehlt = es bedeutet einen Baum, welcher nicht belaubt und nicht 
blätterlos, nicht reich und nicht arm an Zweigen u. s. w. ist 

Was ist nun aber im Verhältnis zur realen Wirklichkeit das 
Allgemeinbild, was der Begriff? Objektiv gibt es nur Einzelnes, 
gibt es nur Getrenntes. Wir sahen eben, dass der Vorstellung 

1) In diesem Sinne sind die gmerälia nur „nomina*, wie der Nominalis- 
mus mit Recht immer betont hat Auch nannten schon die Nominalisten die 

gencmlia blosse ficta. Vgl. oben S. 255. 



§ 13. Die Allgemeinbegriffe als Fiktionen. 



401 



„Baum* nichts Reales entspricht, was sich mit ihr deckt. Also 
weicht auch hier das Denken von der Wirklichkeit ab. 
Alle die geschilderten Operationen und psychischen Prozesse 
verändern den unmittelbaren Stoff der Wahrnehmung und treiben 
die Begriffe heraus, in denen allgemeine Typen, denen also nichts 
Nachweisbares, nichts Wirkliches entspricht, dargestellt werden. 
Es gibt nur einzelne „Sterne", keinen „Stern", es gibt nur einzelne 
„ Hunde*, keinen „Hund" überhaupt. Es gibt nur einzelne 
»Menschen*, keinen „Menschen" überhaupt. Alle diese Vor- 
stellungen stellen absolut nichts Wirkliches dar: wirklich ist nur 
das einzelne Geschehen, welches der Seele zugetragen wird, welches 
sie aufnimmt und verarbeitet/ In diesem allgemeinen Flusse 
bilden sich Knotenpunkte, indem sich einige prominente Eigen- 
schaften als Kern konstituieren. 

Also „Stern", „Hund", Mensch" sind Vorstellungen, denen 
keine Wirklichkeit entspricht. 1 ) Diese Begriffe sind demnach 
psychische Gebilde, welche das Denken aus dem gegebenen 
Material herausarbeitet vermöge des dargelegten psychischen Mecha- 
nismus. Allein diese rein mechanischen Produkte des psychischen 
Lebens erfüllen einen ungeheuer wichtigen Zweck. Der Begriff, 
die Allgemeinvorstellung für sich bedeuten noch keine Erkennt- 
nis; — abgelöst und isoliert vom Satz sind sie fiktive Gebilde, 
denen nichts Wirkliches korrespondiert. 

Allein an die Allgemeinvorstellung knüpft sich der Satz an, 
sie drängt von selbst zum Satz. Vermittelst dieses an die 
Allgemeinvorstellung angehefteten Satzes wird nun der eigentliche 
Zweck des Denkens erreicht; nur dadurch ist das allgemeine 
Urteil möglich; und darauf beruht, wie Stein thal S. 21 be- 
merkt, alles Klassifizieren, Ordnen, alles Begreifen, Beweisen und 
Schliessen. 

Sobald der einzelne Fall, die einzelne Erscheinung von der 
allgemeineren apperzipiert, d. h. unter sie subsumiert wird, ent- 
steht das Lustgefühl des Begreifens; faktisch ist aber mit dieser 
Subsumtion keine eigentliche Erkenntnis, kein Begreifen erreicht 



1) Der Nominalismus ist für die AHge meinbegriffe, was der Kritizismus 
iür die Kategorien. Mit jenen als „figmenta" schliesst Occam, mit diesen als 
»fictlons" schliesst Hume je eine Periode der englischen Philosophie. Diese 
Parallele gibt zu denken. Beidemal wird jedoch nur der negative Sinn von 
„Fiktion" betont: Die positiv-praktische Berechtigung jener Fiktionen trat damals 
noch nicht in den Gesichtskreis. 

26 



402 Zweiter Teil; Spezielle Ausführungen. 

* 

— es ist eben rein das Wissen einer Ähnlichkeit, eine Einord- 
nung in ein allgemeineres System, das zudem rein künstlich ist; 
hier ist also derselbe Fall, wie bei der Subsumtion der 
Successionen und Koexistenzen unter die Kategorien: Erkenntnis 
im strengen Sinn ist dadurch nicht erreicht. 

Was ist denn aber jenes Allgemeinbild, unter das der ein- 
zelne Fall subsumiert wird? Es ist eine reine Fiktion — denn 
ihm lässt sich nichts Wirkliches als in der Aussenwelt 
existierend und ihm korrespondierend nachweisen. Nichts- 
destoweniger ist doch auch hier der Gewinn, welcher durch diesen 
Kunstgriff des Denkens, nämlich die Bildung von Allgemein- 
bildern durch Generalisation, erreicht wird, ein sehr erheblicher. 
Abgesehen von jenem dadurch erreichten Eindruck des Begreifens 
und Verstehens — obwohl sich dieser eben nur auf die Einreihung 
in das künstliche System der Begriffe bezieht — werden durch 
die Allgemeinvorstellungen auch die allgemeinen Urteile er- 
möglicht; z. B. „der Stein ist hart", »der Hund ist treu", „der 
Mensch ist sterblich * . Allein bei genauerer Betrachtung zeigt 
sich, dass diese Redeweise, diese Denkweise, so sehr sie den 
Ausdruck und das Denken erleichtert, doch nur auf einem Kunst- 
griff beruht. Es wird hier von Dingen gesprochen, und es 
werden ihnen Eigenschaften zugefügt, — aber es wird von Dingen 
gesprochen, welche doch nimmermehr existieren. Es wird 
auf diese reinen Vorstellungsgebilde die Dingkategorie angewandt, 
sie werden also als objektive Wesen behandelt, denen Eigen- 
schaften angehören. Diese Ausdrucksweise ist zwar sehr bequem 
und fruchtbar; denn sie gestattet die Zusammenfassung vieler 
Einzelnen, nichtsdestoweniger ist daran festzuhalten, dass der 
durch Abstraktion gebildete Begriff nur ein Vorstellungsgebilde, 
d. h. eine Fiktion ist 

Es wäre unnötig, hierüber weiter Worte zu verlieren, wenn 
nicht in der Philosophie die Meinung aufgetreten wäre, diesen 
Vorstellungsgebilden entspreche etwas Objektives, sie seien also 
keine Fiktionen, sondern Hypothesen, wenn also nicht an Stelle 
des allein existierenden Einzelnen das Allgemeine und Begriff- 
liche für real erklärt worden wäre. Hier ist ein Beispiel, wie ein 
formeller Kunstgriff des Denkens zu einem Irrtum Anlass 
gegeben hat Nun ist allerdings zuzugestehen, dass doch mittelst 
dieser Fiktionen allgemeingiltige Urteile möglich sind, dass also 
diesen Begriffen immerhin etwas Objektives entsprechen muss. 



§ 13. Die Allgemeinbegriffe als Fiktionen. 



403 



Es Ist derselbe Fall wie bei den Kategorien; auch hier entsprach 
denselben etwas: die unabänderlichen Zeitverhältnisse; das hier 
Entsprechende sind weiter nichts als stets wiederkehrende, unab- 
änderlich scheinende Verhältnisse der Empfindungskomplexe. 

Vermittelst der Fiktion eines allgemeinen Dinges ist 
es nun dem Denken möglich, viel rascher und sicherer zu ope- 
rieren, als wenn es alles Einzelne stets einzeln aufzählen müsste. 
Nur durch diese praktische Zusammenfassung ist der eigentliche 
Bau der Wissenschaft möglich: Das Beweisen, Schliessen, Dedu- 
zieren, die durch die Allgemeinbegriffe erst ermöglichten allge- 
meinen Sätze vermitteln den wissenschaftlichen Verkehr. Wenn 
aber z. B. vom „Menschen" die Sterblichkeit ausgesagt wird, so 
darf nicht vergessen werden, dass dieser „Mensch" nur eine Fiktion 
ist: es gibt nur einzelne Erscheinungen, denen wir jene Namen 
geben können. Allein diese Fiktion eines allgemeinen Menschen 
ermöglicht nun allgemeine Urteile auszusprechen, und von dem 
allgemeinen Wesen des Menschen wieder deduktiv aufs Ein- 
zelne zu schliessen. Eigentlich also müsste gesagt werden, dass 
ein allgemeines Urteil logisch fehlerhaft ist, weil das Subjekt eine 
blosse Fiktion darstelle, d. h, dieses Urteil, wenn auch logisch 
formell richtig, habe doch weiter gar keine Bedeutung, da es 
nicht aufs Reale geht, insofern darin von einem nicht existieren- 
den Subjekt gesprochen wird. Indessen ist dieser Satz nicht 
so schroff zu behaupten: unrichtig ist nur die Zusammenfassung 
des Ähnlichen, Wiederkehrenden, des Typischen in einem „Ding"; 
wahr ist aber die Annahme des Wiederkehrenden, Typischen, 
— falsch ist aber seine Auffassung unter die Dingkate- 
gorie. Allein nur durch diese Auffassung ist ein allgemeines 
Urteil, ist eine handliche Ausdrucksweise erreichbar. Die logische 
Funktion bringt also das stetig Wiederkehrende in mehreren Er- 
scheinungen unter die ganz unpassende Analogie eines Dinges 
mit Eigenschaften. Ist schon die Aufstellung eines Einzeldinges 
mit Eigenschaften logisch bedenklich, so ist dies noch mehr der 
Fall mit jenem Allgemeinbegriff. Beides sind Fiktionen, welche 
als Kunstgriffe des Denkens zu betrachten sind, um leichter 
berechnen zu können und um den Schein des Begreifens hervor- 
zubringen. Allein es darf nicht vergessen werden, dass die all- 
gemeinen Urteile, wenn an ein allgemeines Subjekt angeknüpft, 
nur eine bequeme Ausdrucksweise sind. Ein solches Allgemein- 
subjekt existiert ja nicht. 

26« 



404 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



Die schlimmen Folgen einer entgegengesetzten Auffassung 
machten sich geltend; zwar nicht im gemeinen Bewusstsein; denn 
dieses bedient sich seiner Denkinstrumente, ohne weiter darüber 
nachzudenken. Aber indem die Begriffe von Philosophen, von Piaton 
bis Hegel, und bis über diesen hinaus weit hinein in die Gegenwart, 
als objektiv existierend aufgefasst werden, sollen ihnen Dinge 
an sich entsprechen (so Steinthal 443); sie sollen gegenüber dem 
Einzelnen das bleibende Wesen ausdrücken; dies wäre so lange 
schon recht, als nicht dieses bleibende Wesen zu einem Kraftding 
hypostasiert wird, welches dann als der allgemeine reale Grund 
der einzelnen Erscheinungen gefasst wird. Zu allem Wahrge- 
nommenen wird nun das Ding als dessen Grund und Wesen hinzu- 
gedacht. Und je allgemeiner, desto mächtiger und wirksamer 
soll dieser Grund sein, der immer mehr hypostasiert wird. Die 
Allgemeinbegriffe gelten nun als das subjektive Gegenbild wirklich 
existierender kraftbegabter Substanzen, welche als die 
hinter und über den Einzelnen stehenden Kräfte, Quellen, aus 
denen das Einzelne fliessen soll, aufgefasst werden. 

Hier haben wir nun den Gipfel des Missbrauches, der mit 
den logischen Formen, die doch blosse Kunstgriffe des 
Denkens sind, getrieben wird. Die Produkte des Denkens 
werden hypostasiert, und das wirklich Seiende wird verachtet. 
Wirklich sind aber nur die einzelnen Phänomene, die einzelnen 
succedierenden und koexistierenden Phänomene. So werden 
wiederum die blossen Hülsen des Denkens an Stelle des Kerns 
gesetzt Es wird eine wahre Hierarchie der Begriffe gebildet, 
aus dem obersten wird durch Einteilung oder sonstige dialek- 
tische Künste Alles abgeleitet und die Welt .begriffen*. Das 
sind blosse Spiele mit den leeren Hülsen des Denkens; oft 
geistreich, aber eben doch wissenschaftlich unfruchtbar. Nun ist 
freilich ein solches begriffliches System oft von hohem kultur- 
geschichtlichen Wert, indem es praktische Antriebe enthält: allein 
aus der praktischen Wirksamkeit ist nicht auf die theore- 
tische Richtigkeit zu schliessen. Die Verhältnisse der Begriffe 
sind rein logischer, subjektiver Natur; aus diesen praktischen 
Kunstgriffen des Denkens darf kein Kapital für die Theorie 
geschlagen werden. Wie willkürlich, wie rein subjektiv aber diese 
Hierarchie der Begriffe ist, erhellt daraus, dass nicht bloss oft die 
Dinge ganz beliebig in verschiedene Fächer eingestellt werden 
können, sondern auch daraus, dass dieses Begriffsnetz doch nicht da* 



§ 13. Die Allgemeinbegriffe als Fiktionen. 



405 



Wirkliche in seiner ganzen Fülle umfassen kann. In Wirklichkeit 
sind ja jene begrifflichen Grenzen gar nicht giltig; die Arten 
gehen ineinander über; und die ganze Hierarchie der Begriffe 
erscheint als eine künstliche Einteilung von enorm hohem 
praktischem Wert, aber ohne wirklichen Erkenntniswert Diese 
künstliche Einteilung ist eben nur ein Kunstgriff des Denkens, 
das seine Operationen leichter und rascher zu vollführen strebt; es 
ist nur eine bequeme Abkürzungsmethode vermittelst künstlicher 
Gebilde. 

Die Zusammenfassung der Einzelerscheinungen zu Allge- 
meinbegriffen bietet also noch eine andere Seite dar, von der 
aus sie ebenso fiktiv erscheint wie bisher, insofern ja eben die 
Einzeldinge dadurch in Klassen eingeteilt werden, welche eben 
falls nur künstlich sind. In der Natur gibt es keine Arten, nicht 
nur nach der zuerst besprochenen Seite hin, dass den zusammen- 
fassenden Gattungsbegriffen keine selbständigen Allgemeinwesen 
entsprechen, sondern auch nach der anderen Seite hin, dass die 
Einzeldinge sich bei genauerer Betrachtung gar nicht scharf genug 
unterscheiden lassen, so dass überhaupt nicht getrennte Arten 
aufgestellt werden können. Der Zusammenfassung andere Seite: 
die Unterscheidung, die Ziehung von Grenzlinien, die Statuierung 
von Haltpunkten, entspricht ebenfalls nicht der Wirklichkeit, welche 
solche Grenzen nicht kennt. Die Schnittflächen, welche durch 
diese Zerteilung entstehen, sind nicht natürliche, sondern künst- 
liche. Und vollends künstlich ist jene Hierarchie der Begriffe, 
d. h. jenes Verhältnis derselben, wonach die niederen successive 
in höhere eingeschlossen werden, bis zuletzt nur ein ganz allge- 
meiner und umfassender Begriff, der des Etwas, übrig bleibt. Die 
künstlich und kunstreich ausgedachten Begriffe bilden nicht nur 
ein maschenreiches Netz, dessen einzelne Ringe ineinander ein- 
greifen, sondern auch eine Leiter, deren Sprossen übereinander- 
liegen. Das Denken schafft sich so ein überaus künstliches 
Handwerkszeug zur Erfassung und Bearbeitung des Wirklich- 
keitsstoffes, aber eben ein blosses Werkzeug, das wir oft für die 
Sache selbst nehmen. 

So gibt ein rein formeller Kunstgriff des Denkens zu 
einem bedauerlichen und verhängnisvollen Irrtum Anlass. Die Fest- 
haltung des gemeinsamen und allgemeinen Inhaltes in mehreren 
Vorstellungskomplexen ist eine rein logische Operation, und es 
ist eben ein Irrtum, ja ein Aberglaube, der zusammenfassenden 



406 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



Verallgemeinerung ein objektives Allgemeines korrespondieren zu 
lassen. Der Nominalismus hat diesen Irrtum zerstört. Er hat 
nachgewiesen, dass in den Sätzen, wie z. B. „der Mensch ist 
sterblich 1 *, ein Prädikat von einem gar nicht existierenden 
Subjekte ausgesagt wird: denn nur das Einzelne hat wahre 
Existenz, während der „Mensch* ein fiktives Vorstellungsgebilde, 
eine bequeme und handliche Ausdrucksweise ist. Man hat daher 
schon im Altertum — es war dies bei den Megarikern der Fall — 
diesen Einwand gegen die Allgemeinurteile gemacht und nur 
Einzelurteile zulassen wollen. Allein solche Exzentrizitäten beweisen 
nur die mangelnde Einsicht in das Wesen der fiktiven Opera- 
tionen des Denkens, welche trotz ihrer theoretischen 
Bedenklichkeit praktisch doch ungemein wichtig und 
nützlich sind: als Protest gegen die Verwandlung der Fiktionen 
in Hypothesen und Realitäten sind aber solche Einwände wert- 
voll und beachtenswert, wenn sie auch ihrerseits von einem Irr- 
tum über das Wesen des Denkens ausgehen, (wie die entgegen- 
gesetzte Ansicht): der extreme Nominalismus verwirft den Gebrauch 
von Denkformen, auf denen doch alle menschliche Wissenschaft 
beruht und verkennt die praktische Brauchbarkeit solcher logischen 
Kunstgriffe. Der Begriffs-Realismus dagegen folgt dem ebenso un- 
vernünftigen als unverwüstlichen Hange des Menschengeschlechts, 
alles Subjektive zu objektivieren, alles bloss Logische zu hyposta- 
sieren. Jener Personifikationstrieb des menschlichen Geschlechtes, 
den Lange in seiner „Geschichte des Materialismus" häufig 1 ) 
gekennzeichnet hat, ist auch bei der Realisierung der Allgemein- 
begriffe im Spiele: wir bringen das Allgemeine unter die beliebte 
Substanzkategorie, fassen es als Ding mit Eigenschaften und Kräften. 
Der unkritische Sprachgebrauch hat aus dem alles personifizieren- 
den Kindeszeitalter der Menschheit diese Redeweise mit herüber- 
genommen: wie der Astronom noch vom Auf- und Untergang 
der Sonne spricht, so wenden auch wir jene bequemen Hilfsaus- 
drücke, die Allgemeinbegriffe an, als ob das Allgemeine wirk- 
lich etwas Existierendes wäre. Die Zusammenfassung wird 
anschaulich gemacht und fixiert durch den Allgemeinbegriff, resp. 
durch das Wort, die sinnliche Stütze der denkenden und gedachten 
Verallgemeinerung. Nur darf nicht wiederum das Allgemeine als 
das „Wesen", als ein Ding an sich, als Kraft u. s. w. hypostasiert 



1) s. bes. 11, 205. 



§ 13. Die AHgemeinbegriNe als Fiktionen. 



407 



werden, als ein wirkliches, wirksames Etwas, das hinter dem Ein- 
zelnen stünde, aus dem als Quelle es fliesse, als Wurzel empor* 
schiesse. Wirklich und wirksam sind die einzelnen koexistierenden 
und succedierenden Phänomene: unwirklich ist das Allgemeine, 
welches die Seele nur zu bequemerer Vollendung ihrer 
logischen Aufgabe aus dem Fluss der Erscheinungen heraus* 
hebt; wenn sie es als ein Ding mit Eigenschaften betrachtet, so 
soll ihr das bequeme und brauchbare Spiel nicht versagt 
sein, nur soll sie nicht Ernst daraus machen und das Als ob 
nicht in ein starres Dass verwandeln. Sonst wird aus den Hülsen 
ein Kern gemacht, und das wahrhaft Kernhafte am Dasein, die 
Einzelerscheinung und der Einzelvorgang werden als blosse Neben- 
sache angesehen. In diesem Sinne hat daher Mill mit vollem 
Recht das Allgemeine nur als logischen Durchgangspunkt 
für das Einzelne betrachtet: das Allgemeine, die Bildung von 
Allgemeinbegriffen ist ein bequemes Denkmittel: die Begriffe sind 
Denkorgane. Indem in den Allgem einbegriffen ganze Reihen von 
Vorstellungen kondensiert werden, vermitteln sie die Bewegung 
des Vorstellungsinhaltes und erleichtern dieselbe: denn dem vielen 
Einzelnen wird das Eine Allgemeine substituiert: die Begriffs- 
bildung ist ein feiner Kunstgriff der Denkmaschine, durch 
den die Gegeneinanderbewegung der Vorstellungen fruchtbarer, 
ergiebiger gemacht wird. Durch die Verschmelzung des Gleich- 
artigen wird die logische Arbeitsleistung erst ermöglicht. 

Man kann die Allgemeinbegriffe Gleichheitszentra nennen, 
welche die logische Bewegung der Vorstellungen regulieren. Da 
alles Denken schliesslich ein Vergleichen (resp. Unterscheiden) 
ist, so wird selbstverständlich das Denken ergiebiger, wo die 
Vergleichung nicht zwischen einzelnen Empfindungen, sondern 
zwischen jenen das Allgemeine konservierenden, das Spezifische 
eliminierenden Vorstellungsgruppen, welche sich zum Allgemeinen 
sublimieren, besteht. Die Attraktion und Repulsion der Vor- 
stellungen geht mächtiger und rascher vor sich, wo solche Gleich- 
heitszentra vorhanden sind, ebenso wie die ganze Empfindungs- 
welt reicher und stärker ist, wo eine Reihe einzelner Nervenfasern 
in einem Ganglion zusammenströmen. Diese Gleichheitszentra, 
d. h. also die Allgemeinbegriffe, in denen gemeinsame, gleiche 
Merkmale in generalisierter Form verbunden sind, vermitteln und 
erleichtern den Hauptzweck des Denkens: das Vergleichen. Das 
eigentliche Interesse des Menschen ist schliesslich immer dem 



408 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



Einzelnen gewidmet, und das Allgemeine bildet, wie Mill dies 
bestimmt, eben den Durchgangspunkt für die Vermittlung des 
Einzelnen. Mit dieser Vermittlung ist die Leistung des Allge- 
meinen zu Ende, und es wird aus der Denkrechnung herausfallen,, 
wenn es gelungen ist, vermittels desselben das Einzelne, das 
uns interessiert, zu bestimmen. Die Allgemeinbegriffe und 
Allgemeingesetze spielen also nur eine dienende Rolle. 
Wie der Hebel weggelegt wird, wenn er seine Arbeit getan hat, 
so tritt das Allgemeine auf die Seite, nachdem es zur Bestimmung 
des Einzelnen gedient hat. So findet z. B. durch die Vermittlung 
des Allgemeinbegriffs die Übertragung einer Eigenschaft auf ein 
Einzelding statt, welches jenem Allgemeinbegriff subsumiert wird: 
diese Übertragung wird eben durch den Allgemeinbegriff ver- 
mittelt. Wenn ich eine mir vorkommende Erscheinung unter den 
Allgemeinbegriff „Mensch", „Zucker", „Stein* subsumiere, so 
dient dies dazu, um mit Hilfe des Allgemeinbegriffs auf diese 
neue Erscheinung eine Reihe von Prädikaten, z. B, sterblich, 
süss, hart zu übertragen, welche ich aus der mir dargebotenen 
Einzelerfahrung nicht unmittelbar herausnehme. 

Vieles von dem, was über die abstrakten Begriffe gesagt 
wurde, gilt auch von den Allgemeinbegriffen, Besonders das Meiste 
von dem, was dort S, 383 ff. von Condillac angeführt wurde, ist 
auch für diese Art von Begriffen bestimmt, da Condillac beide 
Gattungen nicht trennt. Er nennt die Allgemeinbegriffe des idees 
sommaires et des expressions ahreffees, 1 ) denen man nicht mehr 
Realität zuschreiben solle, als sie haben; sie sind notwendige 
Hilfsmittel des Denkens; sie sind notwendig wegen der Enge 
unseres Geistes; nur der diskursive Verstand bedarf ihrer, nicht 
der intuitive, göttliche. Condillac vergleicht die Begriffe mit 
Hebeln, 8 ) welche der Verstand anwendet, um sich die Natur zu 
unterwerfen; mittelst ihrer nimmt der Geist seinen Aufschwung, 
erhebt sich, gelangt zum Unbekannten und bringt Ordnung in 
seine Kenntnisse. Darin liegt eben, dass die Allgemein* 
begriffe nur fiktive Hilfsmittel des Denkens sind. 8 ) 

1) De PArt de Penser, Chap. VIII, pag. 96. 

2) 9 UtnUn&cment a ses leviers; avec leur secoura il suit, ü suspend, il 
hate, il sonntet la nature — sagt Condillac, De l'Art de penser, pag. 100. 
Dieser mechanische Vergleich ist eine willkommene Bestätigung unserer Aus- 
führungen über den Mechanismus des Denkens, siehe oben S. 175 ff. 

3) Condillac betont ausdrücklich, wie bequem (commode a.a.O. 115) 
die Allgemeinbegriffe für das Denken sind. 



§ 13. Die Allgemeinbegriffe als Fiktionen. 



409 



Dieselben Irrtümer, welche aus dem Missbrauch und der 
Verkennung der Abstrakta steh ergeben, finden sich auch hier. 
Der Begriffs-Realismus ist heutzutage noch nicht ganz überwunden, 
und man denkt sich die Arten häufig genug noch als selbständig 
existierende Kräfte oder Substanzen, 

Gegen den Begriffs -Realismus erhoben die Nominalisten 
u.A. den Einwand, die Natur mache nichts vergeblich: die den 
allgemeinen Begriffen angeblich entsprechenden Realia seien aber 
ganz unnötige Wesen. Diesen Einwand nannte man, nach Con- 
dillacs Bericht (De l'Art de Penser, Oeuvres, Tome VI, S. 101) „fe 
rasoir des Nominanx"; Condillac ist jedoch mit diesem Einwand 
nicht zufrieden: „c'etait soatenir ime bonne these par ime assez 
mauvaise raison; car c'eiait convenir que ce$ realiUs ttaient possibles. 

Die formae stibstantiales, die species intentionales, die E$sentiae> 
das Wesen u. s. w. sind nach Condillac die Folgen dieser Ver- 
wechslung von Fiktion und Realität gewesen. Die Begriffe: 
Körper, Tier, Mensch, Metall, Gold, Silber u. s. w. enthüllen, 
wie er bemerkt, in den Augen der Philosophen Wesen, welche 
den übrigen Menschen verborgen sind. Es entstehen daraus jene 
questions frivoles: ob Eis und Schnee Wasser seien, ob eine Miss- 
geburt ein Mensch sei, ob die Geister Substanzen seien u. s. w,, 
Fragen, welche voraussetzen, dass die Fragenden an die Existenz 
gewisser Essentien, gewisser Realitäten glauben, welche mit den 
Allgemeinbegriffen bezeichnet werden. Auch die Meinung, durch 
subsumierende Definition eines Dinges, durch Angabe seines 
Gattungsbegriffes eine Erkenntnis zu gewinnen, ist — nach Con- 
dillacs richtiger Bemerkung ^— einer jener daraus resultierenden 
Irrtümer. Um diese vermeintlichen Entitäten auszudrücken, er- 
fand die Scholastik jene monströsen Abstrakta, welche aus den 
Allgemeinbegriffen abgeleitet waren, z. B, animalitas, humanitas, 
corporeüas u. s. w M in welchen Worten jene geheimnisvollen 
Gattungswesen enthalten sein sollten. Anstatt, dass man in dem 
AHgemeinbegriff nur eine subjektive Zusammenfassung einzelner, 
sich ähnlicher Erscheinungen sah, löste man von den Einzeldingen 
ein vermeintliches, objektiv existierendes Wesen ab', welches eine 
— Gott weiss, was für eine — Realität haben sollte. 

Ganz so betrachtete schon Locke 1 ) die Allgemeinbegriffe. 
Die Allgemeinvorstellungen sind Gebilde oder Erfindungen der 

1) Essay IV, 7, 9. Auf ihn beruft sich auch Condillac, De l'Art de 
Penser, S. 109. 



410 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



Seele, Locke 1 ) hebt hervor, dass diese Allgemein Vorstellungen in 
sich widerspruchsvoller Natur seien, weil z. B, ein Dreieck weder 
schief- noch rechtwinklig, weder gleichseitig noch ungleichseitig 
sein dürfe und doch zugleich alle diese Formen umfassen müsse. 
Somit ist eine Gesamtvorstellung etwas, was nicht bestehen könne, 
denn es seien darin unverträgliche Vorstellungen verbunden. 
Allerdings aber, setzt er hinzu, «braucht die Seele, bei ihrem un- 
vollkommenen Zustande, solche Vorstellungen und sucht sie wegen 
der Beweglichkeit für den Verkehr und der Ausdehnung des 
Wissens so schnell als möglich zu gewinnen". In diesen Worten 
spricht Locke das Wesen der Fiktion mit klarem Bewusstsein 
aus: die AUgerneinbegriffe tragen in der Tat den Charakter echter 
Fiktionen an sich: sie sind widerspruchsvolle Gebilde, sie sind 
logisch unmögliche Erdichtungen, aber sie sind unentbehrliche, 
nützliche Hilfsmittel des Denkens: säe sind logisch nützlich, weil 
sie logisch unmöglich sind. Das Denken kann sie nur darum 
für seine Zwecke gebrauchen, weil sie, vom streng logischen 
Standpunkt aus, theoretisch widerspruchsvoll sind. Man kann mit 
einem Oxymoron sagen: sie sind logisch nur darum brauchbar, 
weil sie — logisch unbrauchbar sind. 

Mit der Zusammenfassung und Begriffsbildung hängt ein 
ungemein wichtiger Punkt zusammen, nämlich die logische 
Theorie der Begriffe. Die Fiktion der selbständig existieren- 
den und wirksamen Allgemeinbegriffe wird in höchst eigentüm- 
licher Weise von der formalen Logik ausgesponnen. Diese be- 
trachtet jeden Begriff als eine Sphäre, in welche ein Einzelding 
entweder hineinfällt, oder aus welcher es ausgeschlossen wird. 
Die logische Theorie der Urteile basiert vollständig auf dieser 
Betrachtungsweise: Das Urteil ist, logisch betrachtet, die Sub- 
sumtion des Subjekts unter den Prädikatsbegriff, resp. die Aus- 
schliessung des Subjekts aus der Sphäre des Prädikats. 

Gegen diese Subsumtionstheorie sind viele Einwände ge- 
macht worden, und man hat an die Stelle derselben — je nach 
der Stellung der betreffenden Logiker — andere Theorien zu 



I) Auch Spinoza (Cogitata Metaphys. I, I) nennt alle Gattungsbegriffe, 
die classes omnium rerum naturalium, gmus, species u. s. w. entia rationis, 
d. h. modi cogitandi, gut inservittnt ad res firmiw atque facilius retinenda$; 
er schreibt ihnen also nur den rein subjektiven Wert — Gedächtnisstützen zu 
sein — zu; die entia rationis sind aber nichts praeter modum cogitandh sie 
Sind keine ideat rerum. 



§ 13. Die AHgemeinbegrttfe als Fiktionen. 



411 



setzen gesucht, mit Recht und mit Unrecht zugleich. Es ist hier 
wiederum ein Punkt, wo der Mangel einer methodologischen 
Unterscheidung zwischen Fiktion und Hypothese sich in sehr 
fühlbarer Weise geltend macht Dieser Punkt hängt mit der 
ganzen Behandlung der Logik zusammen und betrifft eine Prinzi- 
pienfrage. Die neuere Logik ist wegen Verkennung jenes Unter- 
schiedes auf einem entschieden falschen Wege begriffen, wenn 
sie jene alte Subsumtionstheorie einfach verwirft. Ganz ab- 
gesehen davon, dass die von der neueren Logik an Stelle der 
Subsumtionstheorie gestellten Theorien doch wieder im Grunde 
die Fiktion der Allgemeinbegriffe voraussetzen, — so ist jene 
Subsumtionstheorie als eine Fiktion durchaus zweckmässig und 
berechtigt. Indem die Logik auf Allgemeinbegriffen aufgebaut ist 
(dies gilt auch, wenn man die Logik mit dem Urteil beginnt) — 
operieren wir nicht bloss in der Praxis des Denkens, sondern auch 
in der logischen Theorie selbst mit fiktiven Gebilden. Die ganze 
formale Logik ist ein System von Fiktionen, also von berechtigten 
und zweckmässigen Verdrehungen der Wirklichkeit. Der Kampf 
Sigwarts gegen die bisherige formale Logik ist also zwar insofern 
wohl fundiert, als er die irrtümliche Vorstellung, welche die 
traditionelle Logik von den Dingen gibt, aufdeckt; aber Sigwart 
verkennt doch, dass diese ganze Vorstellungs- und Darstellungsweise 
eine notwendige Fiktion ist: wir müssen in der Logik selbst als 
Wissenschaft mit Bewusstsein so verfahren, als ob die Theorie 
der Begriffsumfänge zu Reht bestünde. Lotze hat, ohne es deut- 
lich zu sagen, diesen Gesichtspunkt in seiner Behandlung der 
formalen Logik angewendet. Übrigens hängt mit der Theorie der 
Begriffe, resp. Begriffsumfänge auch die traditionelle Lehre vom 
Satz des Widerspruchs zusammen: auch dieser beruht daher auf 
einer Fiktion. Es ist sachlich ganz berechtigt, dass Hegel gegen 
den Satz des Widerspruches aufgetreten ist: aber er hat eben 
vollständig die formelle Notwendigkeit und instrumentale Zweck- 
mässigkeit dieses Satzes verkannt, ohne den unser Denken, so 
wie es einmal eingerichtet ist, unmöglich wäre* Die Wirklichkeit 
ist sicherlich ein Heraklitischer Fiuss des Geschehens, aber unser 
Denken würde selbst verf Hessen, wollten wir uns nicht durch 
Fiktion imaginärer Haltpunkte und Grenzlinien jenes Wirklichkeits- 
flusses, jener fliessenden Wirklichkeit bemächtigen. Feste Begriffe 
und scharfe Begriffsumfänge und der sich daran anschliessende 
Satz des Widerspruchs sind also notwendige Fiktionen und daher 



412 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



auch in der Logik als solche zu behandeln und beizubehalten* 
Es liegt auf der Hand, dass damit auch für die Darstellung der 
Logik selbst neue Richtlinien gezogen sind. Vgl hierzu das oben 
S. 212 ff. Gesagte. 



§ 14, 

Summatorische Fiktionen, Nominalfiktionen, Substitutionen.*) 

Derselbe Prozess, welcher der Bildung der Allgemeinbegriffe 
zu Grunde liegt, wird in wenig veränderter Weise auch sonst 
häufig angewandt und gibt dann Anlass zur Entstehung der 
summatorischen Fiktion. Als ein prominenter Fall dieser 
Klasse ist der Substanzbegriff anzuführen, also das Ding. Wir 
sprechen von Dingen mit Eigenschaften: wir sagen, der Baum, 
dieser Baum, der vor mir steht, hat die Eigenschaften der Aus- 
dehnung, Härte, Glätte, diese oder jene Figur, diese oder jene 
Grösse. Was ist nun dieses Ding, das diese Eigenschaften hat? 
Diese Substanz, sagt Taine richtig, ist der unbestimmten Reihe 
ihrer bekannten und unbekannten Eigenschaften vollständig äqui- 
valent. Wenn man alle Eigenschaften successiv wegnimmt, so 
bleibt keine Substanz mehr; sie ist das Zusammen, die Eigen- 
schaften sind die einzelnen Faktoren dieses Zusammen: das Sub- 
jekt ist die Summe seiner Attribute. „Mein Substanzbegriff ist 
also nur ein Resume; er ist äquivalent der Summe der Vor- 
stellungen, welche ihn zusammensetzen, wie eine Zahl der Summe 
der Einheiten, wie ein Abbreviatursymbol den Dingen, für welche 
es als abkürzendes Zeichen steht." 1 ) 

Somit ist der Begriff eines Dinges nichts als eine 
summatorische Fiktion, und die Redeweise, dass das Ding 
die und die Eigenschaft habe, beruht auf der Hilfsvorstellung, 
als ob dieses Zusammen noch etwas ausser und neben den Eigen- 
schaften wäre, wie die Gattung noch als etwas ausser und neben 
der Vielheit der Einzeldinge Existierendes gedacht wird. 

Solche Abbreviaturen vermittelst Hilfsworten, die man daher 
auch Verbalfiktionen nennen kann, werden in allen Wissen- 

*) Weitere Ausführungen zu Teil J, Kap. 6, S. 50 ff.; Kap. 7, 8. 53 f. 
1) Taine, de rintelligence II, 12. 



§ 14. Summatorische Fiktionen» Nominalfiktionen, Substitutionen. 413 

Schäften angewandt Eine ganze Reihe wohlbekannter Begriffe, 
z.B. „Seele", „Kraft", die verschiedenen „Seelenvermögen* u. s.w. 
gehört hierher. Während diese Begriffsgebüde früher häufig und 
auch jetzt noch als Ausdrücke realexistierender Entitäten galten 
und gelten, sind sie in Wahrheit nur zusammenfassende Aus- 
drücke für eine Reihe zusammengehöriger Phänomene und zu- 
sammenhängender Prozesse. Ein lehrreiches Beispiel hierfür ist 
„die Anziehungskraft*« Newton sagt ausdrücklich, dass er ferne 
davon sei, eine solche Kraft als etwas Besonderes neben den 
Erscheinungen anzunehmen; er betrachtet den Ausdruck nur als 
eine summatorische, abkürzende Redensart für das Zusammen aller 
hierhergehörigen Erscheinungen und naturgesetzlichen Vorgänge. 1 ) 

So ist auch „Lebenskraft" — im Munde der neueren Natur- 
wissenschaft — nur eine Abbreviatur für das Ganze der die 
Lebenserscheinungen beherrschenden Ursachen. Nur im Kopfe 
von Dilettanten spukt die Lebenskraft noch als eine besondere 
Realität, so dass also hier das Vorstellungsgebilde als Hypothese oder 
gar als sicheres Dogma gilt: die exakte Physiologie und Medizin 
gebraucht den Ausdruck nur als ein bequemes Hilfswort. Ein 
solcher Begriff hat weiter keinen Wert als den praktischen, nämlich 
um der Zusammenfassung des Vielen und der Erleichterung der 
Ausdrucksweise zu dienen. In solchen Nominalfiktionen ist nichts 
weiter gesagt, als was die einzelnen Phänomene selbst sagen können, 
und wenn man durch solche Worte etwas begriffen und gesagt 
zu haben glaubt — eine Naivetät, die noch weit in die Gegen- 
wart hineinreicht — , so vergisstman, dass diese Ausdrücke rein 
tautologisch sind. 

„Kraft Überhaupt" ist eine solche tautologische Fiktion. Kraft 
ist nichts als eine leere Verdoppelung der Tatsachen, nämlich der 
kausalen Successionsverhältnisse. Man schiebt in der Phantasie 
dieses Gebilde ein und glaubt damit den Sachen genug getan zu 
haben. Für die positive Wissenschaft und eine auf ihr aufgebaute 
Philosophie hat daher dieser Begriff nur den Wert einer be- 
quemen Fiktion, welche, wie die Vorstellungs-, so die Aus- 
drucksweise erleichtert. Die Annahme geheimer Kräfte, welche 
die Succession der Phänomene beherrschen, hilft zur theoretischen 
Erklärung gar nichts und kann deshalb nicht als eine Hypothese an- 
erkannt werden, wenn sie auch historisch fast immer als eine solche 

1) Vgl. Lange a. a O. U, 185 und Czolbe, Extensionale Erkenntnis- 
theorie 207 ff. 



4M 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen, 



aufgetreten Ist» Mit dem Fortschritt der Kritik dorren solche Fehl- 
zweige am Baume der Wissenschaft ab und tun nurnoch prak- 
tische Dienste, indem sie die Vorstellung unterstützen. Die 
wahre und exakte Wissenschaft begnügt sich damit, die Fakta zu 
sammeln, um in ihnen die gemeinsamen Grundzüge und kausalen 
Folgen aufzufinden. Die Einbildung früherer Jahrhunderte, dass 
gewisse Erscheinungskreise unter der Wirkung gewisser „Kräfte* 
stehen, diese Einbildung ist als solche durchschaut, und man behält 
die ganze Vorstellungsweise nur noch bei, weil sie ein be- 
quemes Vehikel der Darstellung und des Ausdruckes ist 
Die Verdoppelung der Erscheinungen, indem man sie nochmals 
als Kräfte ansetzt, ist wissenschaftlich wertlos, hat aber einen 
gewissen praktischen Nutzen. 

Das zeigt sich z, B. auch bei jenem berühmten, auch von 
Kant behandelten Streit des 18. Jahrh. um „die Schätzung der 
lebendigen Kräfte", Wissenschaftlich ist nur die Feststellung der 
Bewegungserscheinungen und ihrer Gesetze von objektivem Werte, 
während bei der Definition der Kraft, die ja nur ein Hilfs- 
begriff ist., allein die methodische Zweckmässigkeit in Frage 
kommt. Das wäre eben nicht der Fall, wenn „Kraft* mehr wäre, 
als eine bequeme Fiktion. 

Besonders die „Seelenvermögen* sind Beispiele tautotogischer 
und zugleich summarischer Fiktionen. „Wille 1 *, „Gefühl", 
„Verstand", Phantasie u. s. w. sind blosse Sammelnamen für zu- 
sammengehörige Tatsachen, welche allerdings früher als reale Kräfte 
galten, die aber heutzutage, wie alle solche Vermögensbegriffe, 
nur noch fiktiven Wert besitzen. Wie gefährlich aber hier 
die Überschreitung der schon häufig angeführten Hauptvorsichts- 
massregel ist — nämlich den Fiktionen nicht realen Wert 
zuzuschreiben — das sehen wir in der alten Psychologie. Das 
bemerken wir aber auch noch jetzt in einzelnen, leider noch nicht 
ganz seltenen Fällen. So ist z.B. die „Raumphantasie*, welche 
für die besonnene Wissenschaft nur eine bequeme summatorische 
Abbreviatur, also eine Fiktion ist, in eine reale Kraft verwandelt 
worden; dagegen hat z. B. Strümpell ganz mit Recht remonstriert, 
indem er davor warnte, eine solche Fiktion in eine Hypo- 
these zu verwandeln und mit fingierten Grössen zu rechnen, 
wie wenn sie reale wären. 

In Bezug auf die „Seele" ist man in wissenschaftlichen 
Kreisen jetzt allgemein darüber einig, dass man in diesem Be- 



§ 14. Summatorische Fiktionen, Nominalfiktionen, Substitutionen. 415 

griff nur eine Fiktion besitzt. Man spricht von einer Seele, als 
ob es wirklich ein getrenntes, einheitliches, einfaches Seelenwesen 
gäbe, obgleich man sich wohl bewusst ist, sich dabei nur einer 
Fiktion zu bedienen. Auch die „Seele 1 * ist nur eine summa- 
torische Fiktion, ohne eigene Realität. An diesem Begriff lässt 
sich das Gesetz der Ideenverschiebung sehr gut studieren: zuerst 
ist „Seele" Dogma, dann Hypothese, dann Fiktion. Für Hume 
und Kant ist die Seele nur eine Fiktion. Kants Nachfolger haben, 
unfähig, die Fiktion in ihrem labilen Zustand festzuhalten, und 
aus Bedürfnis nach stabileren Begriffen, aus der Fiktion vielfach 
eine Hypothese oder gar ein Dogma gemacht. Für den Kritizis- 
mus ist „Seele" nichts als ein bequemer Hilfsausdruck für die 
Gesamtheit der psychischen Vorgänge. Man spricht so, als ob 
es eine Seele gäbe, und es ist gut so: der kritisch geschulte 
Denker veisteht schon, wie das gemeint ist, und wenn die Un- 
kritischen (ol ä<pQov€s) das missverstehen, so ist das weiter nicht 
schädlich, manchmal sogar — nützlich. 

Für diese Hilfsworte gilt der Satz, dass eben, wo Begriffe 
fehlen, die Worte sich zur rechten Zeit einstellen. Denn wenn 
z. B. die Chemie eine Reihe ihr unerklärlicher Prozesse einer 
„katalytischen Kraft" 1 ) zuschreibt, so will sie mit dieser Nomi- 
nalfiktion nur einen bequemen Ausdruck geschaffen haben, 
welcher einstweilen dienend fungieren soll, bis die richtige Er- 
klärung gefunden ist. Solche Worte sind nur Schalen, welche 
den sachlichen Kern zusammenhalten und aufbewahren sollen. 
Und wie die Schale sich in ihrer Form dem Kerne anschmiegt 
und seine Gestalt verdoppelt wiedergibt, so sind auch diese Hilfs- 
worte nur lauter logische Wiederholungen ohne sachlichen Wert. 
Die bekanntesten Beispiele sind ja die vis dormiiiva und der nisus 
formativus. — Aber solche Ausdrücke zu verwerfen, das hiesse 
ihre praktische Brauchbarkeit und Handlichkeit verkennen und 
sich ohne Not eines bequemen Mittels berauben, zumal da 
heutzutage die Gefahr des Missbrauches nicht mehr so nahe 
liegt und durch methodologische Einsicht vollständig überwunden 
werden kann. 

Es wird bei diesen Ausdrücken eine Substitution vorge- 
nommen, indem wir an Stelle des realen Einzelnen den summa- 
torischen Ausdruck setzen. Diese Methode der Substitution dient 



I) Vgl. Hufner, Lebenskraft S 24. 



416 



Zweiter Teil: Spezielle Ausfuhrungen. 



auch sonst als bequemes Hilfsmittel des Denkens. Es können 
sogar alle Fiktionen als Substitutionen im weiteren Sinn be- 
trachtet werden, indem ja an Stelle der Wirklichkeit irgend ein 
Unwirkliches provisorisch gesetzt wird. Als Substitutionen im 
engeren Sinn sind hier solche logischen Operationen aufzuzählen, 
bei denen eine Vorstellung stellvertretender Weise als Symbol 
für ein Anderes fungiert. 

Eine solche Substitution tritt — nach dem sog. psycholo- 
gischen Nominalismus — bei der Verwendung der Einzelvor- 
stellungen an Stelle der Allgemeinbegriife ein. Die Streitfrage ist 
die, ob in unserer Vorstellungswelt sich wirklich Allgemeinbegriffe 
finden, oder ob wir nur individuelle Vorstellungen besitzen, „die 
aber gleichwohl im Denken so angewendet werden können, als 
wenn sie allgemein wären". In dem letzteren Falle — der die 
Meinung aller extremen Nominalisten, insbesondere Condillacs 
und Humes ist — fungieren also an sich individuelle Vorstel- 
lungen als Stellvertreter für Allgemeinbegriffe. 

Die substitutive Verwendung ist insbesondere in der Mathe- 
matik gebräuchlich. Es ist einer der häufigsten Kunstgriffe der 
Mathematik, solche stellvertretenden Symbole zu bilden. Die 
ganze Algebra beruht auf solcher substitutiven Verwendung der 
Buchstaben an Stelle der Zahlen, und wenn dann weiterhin 
z. B. für x + y etwa u gesetzt wird — zur Erleichterung der 
Rechnung — so ist dies ebenfalls ein substitutiver Kunst- 
griff (vgl. oben S. 119 ff.)- Die sogenannte semiotische Phan- 
tasie bringt Zeichen hervor, welche an Stelle irgend eines Be- 
zeichneten stehen. 

Die mathematische Substitutionsmethode ist ihren logischen 
Grundlagen nach sehr einfach. Man setzt statt der Grössen, an 
welchen Rechnungen vollzogen werden sollen, vorläufig einfachere 
und leichter zu unterscheidende Stellvertreter. Der Vorteil ist, 
dass man wegen der leichteren Übersichtlichkeit und Durchsichtig- 
keit derselben die möglichen Reduktionen und Umformungen viel 
bequemer vornehmen kann, als mit den speziellen Grössenzeichen. 
Am Schluss der Reduktion muss man statt der gebrauchten einfachen 
Zeichen diejenigen Werte, deren Vertretung sie übernommen 
haben, wieder einsetzen. Diese Ersetzung erlaubt auch, die all- 
gemeinen Gesetze für gleichförmige Verhältnisse zu finden, was 
beim Gebrauch spezieller Zeichen nicht möglich ist. Man ersetzt 
bekanntlich die Zahlenreihe durch beliebig gewählte Buchstaben. 



§ 15. Naturkräfte und Naturgesetze als Fiktionen* 417 

Diese entsprechen den Allgemeinbegriffen des qualitativen Denkens 
und bieten dieselben Vorteile wie diese. Die Natur der letzteren 
iässt sich daher aus der mathematischen Substitutionsmethode 
erläutern. Wenn man Zeichen allgemeiner Natur an Stelle nume- 
rischer Ausdrücke einführt, muss man selbstverständlich diese 
Zeichen wieder am Schlüsse in diejenigen Werte zurückübersetzen, 
für welche sie eingesetzt wurden. 



§ 15. 

Naturkräfte und Naturgesetze als Fiktionen.*) 

Im Gebiete der Naturerscheinungen bedarf es häufig zu- 
sammenfassender Ausdrücke, welche eine bequeme, hand- 
liche Formel für eine Reihe — an sich unerforschlicher oder 
auch bekannter — Phänomene bilden. So ist es z, B. mit dem Begriff 
der Affinität. Für die wissenschaftliche Chemie ist dieser Aus- 
druck „nur ein zusammenfassender Oberbegriff für eine Klasse 
von genau beobachteten und streng begrenzten Erscheinungen* 1 
Ursprunglich war die Affinität eine echt scholastische Qualität, 
die zum Lieblingsapparat der Alchymisten gehörte. „Im Anfange 
des 18. Jahrh. erhoben sich Viele, namentlich die Physiker 
jener Zeit, gegen diesen Ausdruck, indem sie in dem Gebrauch 
desselben die Anerkennung einer neuen vis occidta fürchteten. In 
Frankreich besonders waltete zu dieser Zeit Abneigung gegen 
den Ausdruck „Affinität* vor und St Geoffroy, um diese Zeit 
(1718 und später) eine der bedeutendsten Autoritäten, was 
chemische Verwandtschaft angeht, vermied den Gebrauch desselben; 
statt zu sagen: zwei vereinigte Stoffe werden zersetzt, wenn ein 
dritter dazu kommt, der zu einem der beiden vorigen mehr Ver- 
wandtschaft hat, als diese unter sich, drückte er sich aus: wenn 
er zu einem derselben mehr rapport hat*. 2 ) Lange 8 ) bemerkt 
treffend zu dieser Stelle, dass sich ein Wort zur rechten Zeit nicht 
nur da einstelle, wo Begriffe fehlen, sondern auch da, wo Begriffe 



*) Weitere Ausführungen zu Teil I, Kap. 6, & $0ff.' t Kap. 7, S. 53 f. 

1) Lange a. a. 0. II, 186. 

2) Kopp, Geschichte der Chemie U, 290, 

3) Lange a. a. O. II, 185. 

27 



418 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



zu viel seien. Tatsächlich aber stecke in beiden Ausdrücken 
nichts als eine Substantivierung des blossen Vorganges. Der 
blassere Ausdruck wecke weniger störende Nebenvorstellungen 
als der gefärbte. Er fügt die methodologisch richtige Bemerkung 
hinzu, dass ein solch blasserer Ausdruck zur Vermeidung von 
Irrtümern beitragen könnte, wenn überhaupt Begriffe und Namen 
der methodischen Wissenschaft gegenüber so gefährlich wären. 
Die Erfahrung, welche die Geschichte der Wissenschaft mit dem 
Begriff der Affinität gemacht hat, zeige, dass die Gefahr nicht so 
gross sei, wenn die tatsächliche Forschung einen strengen Weg 
wandele; die vis occulta verliere ihren mystischen Zauber und 
sinke von selbst herab zum bloss zusammenfassenden Ober- 
begriff u. s. w. 

In ähnlicher Weise äussert sich Laas über diesen Punkt: 
„Solche Konzeptionen (Entitäten, Kräfte u. s. w.) sind iür die 
Naturerklärung von mehr als zweifelhaftem Werte; und man 
kann es der wissenschaftlichen Chemie nicht verdenken, wenn sie 
sich der Affinitätskräfte (falls darunter mehr gemeint ist, als das 
Gesetz und Mass jener ins Groteske gehenden Geschwindig- 
keiten der Atome, die zur Erfüllung der Formel mv 2 von dem 

mechanischen Äquivalent gefordert werden) wie eines Nachhalls 
alchymistischer Denkart so sehr als möglich zu erwehren sucht 
und eifrig an der Ausbildung bestimmter Vorstellungen über die 
Form der Bewegungen und Lagerungen der Molekel arbeitet, 
welche die „qualiiates oceultae*, wenn nicht zu überwinden, so 
doch einzuengen vermögend sind, Vor der Hand sind sie (die 
Affinitätskräfte) gleichwohl hier wie anderswo noch unentbehr- 
lich; und wäre es auch nur mehr, um eine Lücke unserer Er- 
kenntnis zu bezeichnen, als zu füllend 

Der Kraftbegriff überhaupt ist, neben seiner abstraktiven 
Funktion, welche früher zur Sprache kam, ein Hilfsausdruck, 
wie dies neuerdings insbesondere Fechner mit Energie betont 
hat. 1 ) „ Weiter ist nichts gegeben als Sichtbares und Fühlbares, 
Bewegungen und Gesetze der Bewegungen. Wo ist denn da von 

1) s. Fechner, Über die physikalische und philosophische Atomenlehre. 
2. Aufl. 1864. Kap. XVI: „Über den Begriff der Kraft und sein Verhältnis zur 
Materie", S. 120. Vgl. dagegen Drobisch, Fichte's Zeitschrift XXVIII, 52 ff 
und die Replik Fechners ib. XXX T 173. (Vgl. dazu Fechner in den Berichten 
der sächs. Sozietät vom 14 Mai 1849.) 



§ 15. Naturkräfte und Naturgesetze als Fiktionen. 419 

Kraft die Rede? Kraft ist der Physik überhaupt weiter nichts als 
ein Hilfsaus druck zur Darstellung der Gesetze des Gleich- 
gewichts und der Bewegung, und jede klare Fassung der 
physischen Kraft führt hierauf zurück. Wir sprechen von Ge- 
setzen der Kraft; doch sehen wir näher zu, sind es nur Gesetze 
des Gleichgewichts und der Bewegung, welche beim Gegenüber 
von Materie und Materie gelten. Sonne und Erde äussern eine 
Anziehungskraft aufeinander, heisst nichts weiter als: Sonne und 
Erde bewegen sich im Gegenübertreten gesetzlich nacheinander 
hin: nichts als das Gesetz kennt der Physiker von der Kraft; 
durch nichts sonst weiss er sie zu charakterisieren , . , Alles, 
was der Physiker aus Kräften ableitet, ist nur eine Ableitung aus 
Gesetzen mittelst des Hüfswortes Kraft/ 

Methodologisch ist deshalb der Gebrauch solcher zusam- 
menfassender Ausdrücke ganz unbedenklich, solange und 
sobald jnan sich hütet, aus der fiktiven Hilfsvorstellung eine 
Realität, aus der Fiktion eine vis occulta zu machen, und darum 
wenden Physik und Chemie den Ausdruck allgemein an, weil eben 
die moderne Wissenschaft methodologisch sich vollständig über 
den blossen Nominalwert solcher Begriffe klar ist Das- 
selbe gilt auch von den «Affinitätspunkten der Atome", welche, 
wie Lange 1 ) richtig bemerkt, ein blosses Wort zur Zusammen- 
fassung der Tatsachen sind. 

Auch „das Gesetz" ist schliesslich nur ein Hilfsausdruck 
für die Gesamtheit der Relationen unter einer Gruppe von Er- 
scheinungen. 9 ) Das „Gesetz" steht formell durchaus dem Gattungs- 
begriffe gleich, den wir schon als eine zusammenfassende Fiktion 
erkannt haben. Im Gattungsbegriff werden diejenigen Merkmale 
gesammelt, welche allen Einzelobjekten gemeinsam, welche also 
allgemein sind, welche in jedem Objekte wiederkehren. Der 
wissenschaftliche Begriff enthält das Allgemeine und Wesentliche 
der Dinge und dadurch ist eben die Erfassung jedes Einzel- 
objektes, die Rekognition desselben und damit seine wissenschaft- 
liche Erkenntnis ermöglicht. Wenn die bezüglichen Erkenntnis- 
objekte Vorgänge sind, so heisst der Begriff Gesetz. Der 
Gattungsbegriff geht auf das Gebiet des (relativ beharrend 
erscheinenden) Seins, auf Reihen gleichartiger oder ähnlicher 

1) ib. II, 200. 

2) Lange, ib. II, 219. Vgl. Avenarius in der Vierte ijahrsschrift für 
wissenschaftliche Philosophie I, 2 u. 3. 

27* 



420 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



Individuen, das Gesetz auf das Gebiet des Geschehens, auf die 
Gleichförmigkeiten regelmässig wiederkehrender Veränderungen. 
Das . Gesetz" ist weiter nichts als die Zusammenfassung kon- 
stanter Relationen, wobei von den Zufälligkeiten und scheinbaren 
Unregelmässigkeiten im Einzelnen abgesehen wird: das »Gesetz 14 
ist somit eine summatorische Fiktion. Ist dies der Fall, 
so muss dasselbe auch die Eigenschaften einer solchen an sich 
tragen; es muss ein praktisch wertvolles und unentbehrliches, 
theoretisch dagegen ziemlich wertloses Gebilde sein; und ferner 
wird es, wie alle Fiktionen, der Verwechslung mit Realitäten leicht 
ausgesetzt sein. 

Es wird sich verlohnen, bei der Wichtigkeit des Gegen- 
standes auf beides noch etwas einzugehen. 1 ) Die praktischen 
Dienste, welche die „Gesetze" uns leisten, sind sehr wichtige: 
die Operation, welche sie dem Denken in Bezug auf das Ge- 
schehen ermöglichen, ist dieselbe, wie bei den Gattungsbegriffen. 
Genau wie der Gattungsbegriff uns gestattet, auf diejenigen 
Individuen, welche vermöge gewisser übereinstimmender Merk- 
male unter einen AHgemeinbegriff subsumiert werden können, vor 
der Untersuchung die übrigen Eigenschaften anzuwenden, welche 
in dem Gattungsbegriff als eine konstant verbundene Merkmal- 
gruppe beisammen sind, — so gestattet es uns das „Gesetz", 
aus Veränderungen, welche in einer Hinsicht mit dem im Ge- 
setz Ausgedrückten übereinstimmen, auf andere Veränderungen zu 
schliessen, welche uns im einzelnen Falle nicht gegeben sind, 
die aber regelmässig bei den Vorgängen gleicher Beschaffenheit 
eintreten. Es ist die Vorhersage der zukünftigen Weltereignisse, 
welche durch das Gesetz ermöglicht wird. Die praktische Brauch- 
barkeit und Unentbehrlichkeit der „Gesetze" steht also ausser 
Frage. Dagegeü gibt man sich in Bezug auf ihren theoretischen 
Wert meistenteils grossen Täuschungen hin, welche die neuere 
Kritik zerstört hat. Wie früher die Begriffe, so hält man jetzt 
häufig die Gesetze für ErklärungsmitteL Dass sie aber das 
nicht sein können, erhellt aus ihrer Entstehung; denn bei genauerem 
Zusehen verschwindet der ganze Unterschied, den man zwischen 
Tatsachen und Gesetzen macht; denn Gesetze sind nur der 
Ausdruck, die Zusammenfassung eines gleichförmigen tatsäch- 
lichen Verhaltens und schlechterdings nichts rn&ht Wenn 

1) Vgl. Göring, System der kritischen Philosophie II, 234 ff.; Bau- 
mann, Philosophie als Orientierung über die Welt 141 ff. 



§ 15. Naturkräfte und Naturgesetze als Fiktionen. 421 

wir ein gleichförmiges Verhalten vieler Dinge, eine gleichförmig 
wiederkehrende Relation in vielen Fällen beobachten, welche in' 
ihren wesentlichen Merkmalen übereinkommen, so haben wir in- 
haltlich, materiell gar nicht mehr, als in einer einzelnen Tatsache, 
als in einem einmaligen Vorkommen der Relation: nur der for- 
melle Unterschied der Quantität — dass das Gesetz viele Fälle 
umfasst, die Tatsache nur eine — kann geltend gemacht werden: 
diesen quantitativen Unterschied darf man aber ganz und gar 
nicht in einen qualitativen verwandeln; Tatsache und Gesetz sind 
somit keine Gegensätze; zwischen ihnen besteht ein bloss relativer 
Unterschied: „eine Tatsache, welche in vielen Fällen gefunden wird, 
ist ein Gesetz dieser vielen Fälle, eine Tatsache, die in einem 
Beispie! gefunden wird, ist das Gesetz dieses Falles". 1 ) Wenn 
man an einer Tatsache etwas Gleichförmiges entdeckt, redet man 
bei ihr von einem Gesetz, Nun äst aber klar, dass, wenn ein 
Gesetz schlechterdings nichts ist, als eine gleichförmige Tatsache, 
als die Gleichförmigkeit des Verhaltens vieler Fälle, diese Fälle da- 
mit inhaltlich gar nichts für unser Erklärungsbedürfnis gewinnen. 
Die Konstatierung der Vielheit macht die Sache nicht begreiflicher. 
Eine Konsequenz hieraus ist, dass das Gesetz, da es eine Abstraktion 
aus vielen Fällen ist, auch gar nicht sicherer und gewisser sein kann, 
als die Tatsachen, wie man häufig vermeint. Das Gesetz hängt 
in seiner Gewissheit und Gültigkeit durchaus von den einzelnen 
Fällen ab, und nicht diese sind sicher, weil das Gesetz da ist, 
sondern das Gesetz gilt, weil jene da sind. Theoretisch genommen 
liegt also im Gesetz kein Erkennen, keine Erklärung, bloss 
das Wissen der Vielheit, bequem ausgedrückt und formuliert 
Trotzdem unterliegt auch das „Gesetz" demselben Schicksal, 
wie alle fiktiven Gebilde — der Verwechslung mit Realitäten . 
Beim Gesetz ist dies um so auffallender, als seine abstrakte Natur 
es davor zu schützen scheint. In Bezug auf die Gattungsbegriffe 
hat man sich allmählich fast allgemein dem Nominalismus zuge- 
wandt; dagegen ist man bei den „Gesetzen" häufig noch immer 
zu einer realistischen Auffassung geneigt und meint „mit einer 
ebenso natürlichen, als freilich durch Nachdenken leicht klar zu 
legenden Verwechslung zwischen Erkenntnis- und Realgrund, der 
Einzelfall sei realiter vom Gesetz abhängig"» 2 ) Man objektiviert, 
realisiert, hypostasiert das Gesetz und meint, es beherrsche die 

1) Baumann a. a. O 143—144. 

2) Göring a. a. O. 235. 



422 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



einzelnen Fälle und sei wirklich die reale Ursache des Eintretens 
derselben. Die sumraatorische Zusammenfassung wird also als 
Ausdruck einer isolierten Existenz aufgefasst, eine Auffassung, 
welche zwar wissenschaftlich durchaus erlaubt, weil bequem, 
ist, solange man sich bewusst bleibt, sich damit nur 
einer Fiktion zu bedienen. Aber gerade dieses Bewusstsein 
geht ungemein leicht verloren, und im Handumdrehen ist aus 
der Fiktion ein Dogma geworden. Darum ist die Äusse- 
rung Lötz es sehr am Platz, welcher dies so ausdrückt: „Wie 
oft hören wir jetzt von ewigen, unveränderlichen Naturgesetzen, 
denen alle veränderlichen Erscheinungen unterworfen sind; Ge- 
setze, deren Erscheinung zwar aufhören würde, wenn es keine 
Dinge mehr gäbe, draen sie gebieten könnten, die aber auch 
dann noch fortfahren würden, ewig zu gelten, und in jedem 
Augenblick wieder in ihrer wirksamen Macht aufleben würden, 
wenn irgend woher ein neuer Anwendungsgegenstand sich ihnen 
darböte; nicht einmal daran fehlt es, gelegentlich diese Gesetze 
als thronend über aller seienden Wirksamkeit dargestellt zu 
sehen, ganz in jenem Überhimmlischen Orte, in dem Piaton seine 
Ideen heimisch nannte^(S. 507). Wenn Lotze hinzusetzt, diejenigen, 
die so sprechen, würden mit Entrüstung die Unterstellung abwehren, 
sie hätten diesen Gesetzen ein dinghaftes oder persönliches Sein 
ausserhalb der Dinge zugeschrieben, die von ihnen regiert werden, 

— so sagt er eben damit, dass diese Ausdrucks- und Betrach- 
tungsweise der Gesetze nur eine fiktive ist, d. h. also eine 
Hilfsvorstellung, welche aber auf objektive Realität keinen An- 
spruch macht. Die Heraussonderung der Gesetze aus den Einzel- 
fällen, die Vorstellung, als ob diese bloss summatorisch-fiktiven 
Zusammenfassungen eines gleichförmigen Verhaltens unter gleichen 
Bedingungen eine herrschende Macht wären, „ welche die Menge 
<ler Tatsachen regiert und unter sich hat als seine Untertanen" 

— diese Wendung ist nur ein modus dicendi et cogitandi, der die 
logische Rechnung erleichtert, ein rhetorisch-logischer Kunst- 
griff, und die Verwechslung mit Realitäten ist eben der so oft 
gerügte Fehler. Die realistische Auffassung sieht in dem Gesetz 
die Ursache, die vor den Einzelfällen existiert, aus denen diese 
als Wirkungen abzuleiten sind; für die falsche realistische Auf- 
fassung haben wir im Gesetz eine Realität, für die wahre nomina- 
listische dagegen nur eine brauchbare Fiktion: die Gesetze 
sind lediglich ein Produkt unseres Verstandes, aber, wie leicht 



§ 16. Schematische Fiktionen* 



423 



erhellt, bietet dieses Gebilde, das wir existierend fingieren, 
eben vermittelst dieser Fiktion eine bequeme Handhabe für das 
Denken und Sprechen, eine handliche Abkürzung; und die poetische 
Färbung, welche resultiert, wenn man in der angegebenen Weise 
von »Gesetzen" spricht, ist begleitet von dem logischen Vorteil 
einer grösseren Anschaulichkeit. Die Umdrehung des tatsäch- 
lichen Verhältnisses, indem wir das Gesetz als beherrschende 
Macht über die Einzelfälle stellen, ist eine durchaus erlaubte Wen- 
dung, sobald sie sich als bequem und praktisch dokumentieren 
kann. Nur darf man aus dem „Als ob" kein „Dass* machen. 
Die Hypostasierung des summarischen Ausdrucks leistet dem 
Denken Dienste, also ist sie praktisch gerechtfertigt. 



§ 16. 

Schematische Fiktionen,*) 

Ehe wir zu den speziellen naturwissenschaftlichen Fiktionen 
übergehen, sind hier noch einige allgemeine Verfahrungsweisen 
der Naturwissenschaft zu erwähnen, so zunächst die schema- 
tischen Vereinfachungen aller Art, welche gerade in den 
exakten Naturwissenschaften eine grosse Rolle spielen. Sie sind 
auch als eine Unterart des abstraktiven Verfahrens zu betrachten, 
werden aber zweckmässigerweise gerade an der Stelle, an der wir 
uns jetzt befinden, genauer erörtert. 

Um eine leichtere Übersicht über ein gewisses Wirklichkeits- 
gebiet zu erlangen, wird alles Nebensächliche, die Betrachtung 
ablenkende und die Berechnung hemmende und erschwerende 
Beiwerk weggenommen; es werden gleichsam die Füllungen 
herausgenommen, sodass der einfache Grundplan der Sache zum 
Vorschein kommt. Werden Konsequenzen aus diesen schema- 
tisch vereinfachten Fällen gezogen, so muss bei der Übertragung 
derselben auf die volle Wirklichkeit auf das vorher Weggelassene 
wieder Rücksicht genommen werden, was bei der relativen Ein- 
iachheit dieser fiktiven Operationen mit keiner bedeutenden 
Schwierigkeit verbunden ist. 

*) Weitere Ausführungen zu Teil I, Kap. $, 8, 36 ff, Ygl auch Kap, 16, 
•8. 105 ff. 



424 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



Eine Hauptanwendung findet diese Methode in den Schema- 
tischen Zeichnungen, welche besonders in den deskriptiven 
Naturwissenschaften beliebt sind. An und für sich sind ja eigentlich 
schon die gewöhnlichen Zeichnungen Abstraktionen, indem dabei 
von der dritten Dimension abgesehen wird; bei den schematischen 
Zeichnungen geht die Vereinfachung noch weit hinter das zurück, 
was die Kunst leisten könnte, indem nur das Wesentliche, die 
Grundlinien, wiedergegeben werden. Wir finden diese Methode 
in der Botanik, Physiologie, Zoologie u. s. w. Zum Erweis, dass 
auch hier derselbe psychologisch-logische Prozess vorwaltet, sei 
hier, obgleich der Gegenstand seiner Einfachheit halber an und 
für sich kein näheres Eingehen erfordert, eine Bemerkung von dem 
Botaniker De Bary angeführt, der sich einmal beim Gebrauch 
solcher schematischen Zeichnungen folgender Ausdrücke be- 
dient: 1 ) .Die Figur stellt die beiden im Texte beschriebenen 
sukzessiven Zustände der Blüte der Osterluzei dar, scheraatisch 
so gezeichnet, wie wenn die Blume durchsichtig wäre*; »der 
Umriss der Blumenkerne der Wiesensalbei ist in der Seitenansicht 
dargestellt und die übrigen uns interessierenden Teile sind hin- 
weggezeichnet, wie wenn die Blume durchsichtig wäre*. Wir 
finden hier wieder jenes charakteristische „Wie wenn", welches, 
wie wir sahen, die Gleichsetzung mit unwirklichen Annahmen 
bezeichnet. Die Annahme des Unwirklichen — die Durchsichtig- 
keit — bietet hier die Handhabe, um auf bequeme Weise eine 
übersichtliche Darstellung von Verhältnissen zu ermöglichen. Es 
würde von wenig methodologischer Einsicht zeugen, wenn man 
in der Erwähnung solcher Fälle eine überflüssige Aufzählung des 
Selbstverständlichen oder in der Wertlegung auf den Ausdruck 
eine übertriebene philologische Kleinlichkeit finden wollte: gerade 
das ist die Aufgabe der vergleichenden Methodologie, den ge- 
meinsamen Gedankenprozess in den verschiedenen Wissenschafts- 
gebieten, im Kleinen und im Grossen, beim Unbedeutenden und 
beim Wichtigsten, nachzuweisen. 

Als eine charakteristische schematische Fiktion ist hier noch 
das sogen, „schematische Auge" und das »reduzierte oder Schul- 
auge* zu betrachten, zwei naheverwandte physiologisch-ophthaU 
mologische Fiktionen, welche in der neueren physiologischen 
Optik eine grosse Rolle spielen. Listing und Helmholtz haben 



1) De Bary, in der Monatsschrift „Nord und Süd«, ApriJ 1878, S. 126. 



§ 16. Schematische Fiktionen« 



425 



sich durch Einführung und Ausbildung dieser eigentumlichen, 
fruchtbaren Fiktion Verdienste erworben, 

Schematische Konstruktionen sind solche Hilfsvor- 
stellungen, bei denen die einfachen Grundverhältnisse eines ver- 
wickelten Erscheinungsgebietes in einer Weise zum Gegenstand 
theoretischer Bearbeitung gemacht werden, wie sie in Wirklich- 
keit nie zu treffen sind. Die durch Verbindung vieler wesentlich 
gleichartiger oder auch ungleichartiger Elemente entstehenden 
Komplikationen werden zunächst bei Seite gesetzt, und es werden 
nur diejenigen Folgerungen gezogen, welche aus einem oder 
möglichst wenigen Elementen des betreffenden Gebietes sich 
ergeben. Das typische Beispiel hierfür ist die berühmte sogen. 
Thünen'sche Idee, eine nationalökonomische Fiktion. Während 
in Wirklichkeit ein Land eine Verflechtung von Städten und 
Dörfern, von Konsumtionszentren und Produktionssphären land- 
wirtschaftlicher Erzeugnisse ist, also aus vielen Elementen 
besteht, werden in dieser Fiktion die bezüglichen landwirtschaft- 
lichen Verhältnisse auf das einfachste Schema gebracht — vgl. 
oben S. 37. * 

Die Fiktion der einfachsten Fälle, wie man diese 
Methode auch nennen kann, wird mit Erfolg in allen deduktiven 
Wissenschaften angewandt, also insbesondere auch in der Mecha- 
nik. Aber auch in den sozialen Wissenschaften werden solche 
und ähnliche Schemata gerne zur Berechnung und Ableitung 
theoretischer Formeln angewandt. Einen ausgedehnten, fein- 
sinnigen und glücklichen Gebrauch von dieser Methode macht 
z. B. Dühring in seinen nationalökonomischen Schriften. Durch 
Fiktion der denkbar einfachsten Fälle werden die sozialen Grund- 
gesetze auf ganz einfache Weise deduktiv abgeleitet Eben- 
derselbe hat diese schematische Methode auch zur Ableitung der 
moralischen Grundsätze angewandt, indem er zur Feststellung 
der ethischen Grundverhältnisse z. B. das Schema der zwei Per- 
sonen aufstellt Vgl. oben S. 37. 



426 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



§ 17. 

Illustrative Fiktionen.*) 

Vielfach dient die fiktive Tätigkeit dem Zweck, abstrakte 
und daher in Gedanken schwer festzuhaltende Vorstellungen in 
konkrete, und daher leichter zu realisierende zu verwandeln, mit 
dem Bewusstsein, dass statt des Begriffes ein Bild eingesetzt 
wird, dass mit dem Bilde aber auch ein mehr oder minder falsches 
Element in den Begriff hineinkommt Dies ist besonders in der 
Naturwissenschaft der Fall. Solche Veranschaulichungen kann 
man als illustrative Fiktionen bezeichnen. 

Ein Beispiel für diese beliebte Manier, Abstraktes in kon- 
krete Bilder zu kleiden, sind alle jene Veranschaulichungsversuche 
der Kraft, von der rein anthropomorphen Vorstellung an bis zu 
jener mathematischen Versinnlichung durch Linien; auch hier darf 
man nicht die Bilder mit dem Begrifflichen resp. mit dem durch 
den Begriff gemeinten Realen verwechseln. Die Phantasie hilft 
bei dem Begriff der Abstossung und Anziehung u. s. w, wohl 
noch mit der Vorstellung von Kraftbändern, die sie von einem 
Punkte zum andern hinübergehen *Iässt, Hilfsvorstellungen, die 
natürlich aus blosser Phantasieexistenz nie in Wirklichkeit ver- 
wandelt werden dürfen. 1 ) Daher sagt Böhmer 2 ) richtig, »die Fik- 
tion der Kraft überhaupt sei die Vermittlerin des Begriffs*, indem 
diese anschauliche Vorstellung eben zur Verdeutlichung des Ab- 
strakten wird. So lehrt die Erfahrung nur, dass die Körper sich 
einander nach dem Gesetz der Gravitation nähern, und die Vor- 
stellung, dass sie sich anziehen, ist nur eine Einbildung; und 
doch, sagt derselbe, haben wir mit Hilfe all dieses Unwahren 
eine höhere Stufe der Zivilisation erstiegen. 

Als solche Verdeutlichungsfiktionen möchten noch zu 
betrachten sein z. B. die Auffassung der Zeit unter dem Symbol 
der Bewegung. Die Bewegungslinie, welche als Symbol der Zeit 
dienen soll, „muss die Einbildungskraft ziehen*. 8 ) Als histo- 
risches Beispiel, dessen Wert in der Vergangenheit gesucht werden 

*) Weitere Ausführungen zu Teil I, Kap. 3, S. 36 ff, ; Kap. 4, Ä 39 ff. 

1) Vgl. Cornelius, in der Zeitschritt für exakte Phil. VII, 288. 

2) Geschichte der Entwicklung der naturw. Weltansch. in Deutschland, 
201 und 202, 164—167. 

3) Laas, Kants Analogien S. 74 Auch die konkretere Anknüpfung der 
Zeit an die Himmelsbewegungen beruht nach demselben (S. 79) auf einer 
„SymboHsterung und Repräsentation*. 



§ 17. Illustrative Fiktionen. 



427 



niuss, sei angeführt die Auffassung des Absoluten unter dem Symbol 
der Kugelgestalt bei Parmenides. Man sieht, wie hier die Verdeut- 
lichungsfiktion in eine einfache bildliche Vergleichung übergeht* 

Als eine solche Verdeutlichungsfiktion muss man es viel- 
leicht auch auffassen, wenn Locke (Essai II, 33, § 6) die Carte- 
Sianische Theorie der Lebensgeister zu leichterem Verständnis 
adoptiert, weil durch diese Theorie die psychischen oder vielmehr 
die psychophysischen Vorgänge für den damaligen Stand der Wissen- 
schaft eine erhebliche Veranschaulichung gewannen. Locke will 
daselbst das Wesen der Gewohnheit erklären, d. h. das bekannte 
Symptom, dass durch häufige Wiederholung einer Funktion deren 
Ablauf immer rascher und leichter wird. Und er veran- 
schaulicht dies mit Hilfe der durch Cartesius erneuerten Idee der 
spiritus animalesy welche im Körper durch Kanäle hindurch sich 
zum Gehirn und vom Gehirn bewegen: durch das wiederholte Be- 
treten wird der Weg immer glatter. Es ist wohl möglich, dass diese 
Idee, welche für Cartesius eine Hypothese war, für Locke nur 
noch den Wert einer Fiktion hatte, deren er sich zur leichteren 
Veranschaulichung bediente. 

Dies führt uns auf das Grenzgebiet der gewöhnlichen Ana- 
logie. Ein Beispiel mag dies erhellen. Sehr häufig trifft man 
auf den Vergleich des Staates mit einem Organismus, und dabei 
findet man meistenteils die Selbsttäuschung des bezüglichen 
Autors, dadurch eine wirkliche, methodologisch gerechtfertigte 
und zureichende Erklärung des Wesens des Staates gegeben zu 
haben; und doch wird dadurch das noch ungenügend erforschte, 
komplizierteste soziale Gebilde mit dem ebenfalls noch unge- 
nügend verstandenen kompliziertesten physischen auf Eine Stufe 
gestellt. Vergleiche dieser Art haben einen unleugbaren metho- 
dologischen Wert, indem sie dazu beitragen, etwas Abstraktes 
und Schwerverständliches anschaulicher zu machen. Allein über 
der Analogie, über den gemeinsamen Zügen übersieht man dann 
häufig die trennenden und unterscheidenden Merkmale, man identi- 
fiziert die beiden Gebiete und nimmt die Gesetze und Eigentüm- 
lichkeiten des Einen zur Grundlage der Erklärung für das Andere, 
in unkritischer und ungenügend gerechtfertigter Weise, und »so 
wird zuletzt aus einem richtigen (und berechtigten, zweck- 
mässigen) Bilde ein falsches Prinzip", 1 ) d.h. also in der Sprache 

1) Vgl. Jellinek, Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und 
Strafe. Wien 1878. S. 7. 



428 



Zweiter Teil: Spezielle Auslührungen. 



der Logik: aus der berechtigten Fiktion wird eine unberechtigte 
Hypothese. 

Ein englischer Gelehrter hat der Gattung der illustrativen 
Fiktionen im „Mind* eine Abhandlung gewidmet: J. Venn, The 
Use of Hypotheses (Mind f 1878, S. 43—56). Er spricht ausdrück- 
lich von dem „illustrativen* Charakter gewisser Hypothesen. Aber 
er will „Hypothesen* weiter fassen als die gewöhnliche Logik: 
n what will here be understood by the terra, is nothing eise ihayi 
a mental representation or conception of our own which is . . . 
known . . . not to be in accordance with actual facts . . . Often 
tue have occasion to picture to ourselves a state of things which we 
deliberaiely eontemplaie as not-actual; it may be merely, {hat the 
things are considered a$ uncertain; it may be (hat ihey are tttterly 
and even whimsically false. With regard to their nature ihey may 
be either concrete fads, or groups of facts, or properties of bodies, 
or laws of connection or succesion, which we thus picture to our- 
selves as otlier than they are. Natürlich hätte Venn besser getan, 
für derartige Vorstellungsweisen, welche sich doch von den ge- 
wöhnlichen Hypothesen dem Prinzip nach völlig und gänzlich 
unterscheiden, nicht denselben Namen zu wählen, wenn er sich 
darin auch mit dem Sprachgebrauch der Griechen deckt: diese 
unterschieden ja, wie wir sahen, eben nicht zwischen Hypo- 
thesen, die hintennach auf Wahrheit Anspruch machen, und 
Fiktionen, deren Unwahrheit wir von vornherein mit Bewusst- 
sein erkennen. 

Venn schildert eine mehrfache Verwendung derartiger „Hypo- 
thesen": eine konstruktive, eine illustrative und eine praktisch 
ethische. Vom illustrative use heisst es: we employ hypotheses to 
famäiarise ourselves or others with the bearing and the limits of 
any of the laws of nature ... in er der to attain a dear comprehen- 
sion of the bearing of law or principle in the occasional and per- 
haps complicated combinations in which is it found in nature, we 
must work on the result } whidi woidd follow from it in simpler 
imaginary examples. Nach dieser Schilderung würden sich diese 
„Hypothesen* allerdings eher decken mit dem, was wir oben die 
„schematischen Fiktionen* nannten. Indessen versteht Venn nach 
anderen Stellen doch auch etwas Ähnliches darunter, wie wir unter 
„illustrativen Fiktionen", zudem ja auch die letzteren mit den 
ersteren sich teilweise berühren. Auf jeden Fall ist es aber an- 
erkennenswert, dass ein Logiker überhaupt mit diesen Stiefkindern 



§ 18. Die Atomistik als Fiktion. 



429 



der Wissenschaft sich ernsthaft beschäftigt; die genannte Ab- 
handlung von Venn geht dann freilich weiterhin auf Fälle über, 
welche wir selbst anders rubrizieren würden, teils als exempli- 
fikatorische Fiktionen, wie sie besonders zu rhetorischen Zwecken 
gemacht werden (rhetorische Fiktionen, vgl oben S. 38), teils als 
fingierte Fälle zu wissenschaftlichen Zwecken (vgl oben S. 38); 
diese fingierten Fälle können teils fingierte Spezifikationen (Bei- 
spiele), teils fingierte Generalisationen (Venns hypothetical genera- 
lUation sein; und diese beiden letzteren können zu illustrativen 
Zwecken im weiteren Sinne dienen, um eine abstrakte These zu 
veranschaulichen. 



§ 18. 

Die Atomistik als Fiktion.*) 

Ein vorzügliches Beispiel der illustrativen Fiktion ist die 
Atomistik. Die Beobachtung zeigt, dass die chemischen Verbin- 
dungen nach bestimmten, sehr einfachen Zahlenverhältnissen zu- 
stande kommen. Dieses Faktum erfordert eine theoretische 
Bearbeitung, und es fragt sich, worauf diese quantitativen Er- 
scheinungen beruhen mögen. Dalton stellte die Theorie auf, dass 
jene einfachen Zahlen der Verbindungsgewichte auf der ato- 
mistischen Natur der Elemente beruhen möchten. Jene auffallende 
Regelmässigkeit glaubte er am besten durch eine entsprechende 
Gruppierung der Atome anschaulich vorstellig machen zu können. 
Wenn man sich je ein Atom der einen Substanz mit einem Atom 
der anderen, oder auch mit mehreren verbunden denkt, so ge- 
winnt jene Regelmässigkeit eine sinnlich klare und einfache 
Deutung. F. A. Lange bemerkt nun zu diesem Beispiel, dass das 
Bedürfnis der sinnlichen Anschaulichkeit eine unentbehrliche Be- 
dingung für unsere Orientierung in den Erscheinungen sei, und 
dass diese anschauliche Vorstell ungs weise fast immer glänzende 
Erfolge erziele, „so oft sich auch schon gezeigt habe, dass alle 
diese Vorstellungsweisen nur Hilfsmittel zur durchgängigen Her- 
stellung des Kausalzusammenhanges seien und dass jeder Ver- 
such, in ihnen eine definitive Erkenntnis der Konstitution der 



*) Wettere Ausführungen zu Teil J, Kap. lS y 8. 101 f. 



430 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen, 



Materie zu finden, alsbald an neuen Anforderungen scheitern r 
welche uns nötigen, das Gebäude jener Anschauungen von Grund 
aus neu aufzuführen" (Gesch. d. Material. II, 187). 

Wenn man hierzu die Äusserung von Liebig herbeizieht, 
welcher mit dürren Worten bemerkt, „wie man sich die Elemente 
in der chemischen Verbindung gruppiert denke, beruhe nur auf 
Übereinkunft, die bei der herrschenden Ansicht durch die Ge- 
wohnheit geheiligt sei", wenn man ferner das Urteil Schönleins 
damit vergleicht, welcher sich so äussert: n Wo die Begriffe fehlen, 
da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein, und sicherlich ist 
ganz besonders in der Chemie mit Molekülen und ihrer Grup- 
pierung seit Cartesius' Zeiten ein arger Missbrauch getrieben 
worden in dem Wahn, durch derartige Spiele der Einbildungs- 
kraft für uns noch durchaus dunkle Erscheinungen erklären und 
den Verstand täuschen zu können" — wenn man diese Urteile 
zweier Fachautoritäten überlegt, so kann man jener Auffassung 
Langes nicht ohne weiteres die Berechtigung versagen. Lange 
hat ausserdem zu diesem Punkte noch eine wichtige methodo- 
logische Bemerkung hinzugefügt, deren Berücksichtigung wir hier 
nicht umgehen können. Gegenüber dem verwerfenden Tadel 
Schönleins macht er mit Recht darauf aufmerksam, dass tatsäch- 
lich „diese Spiele der Einbildungskraft" gewiss nicht dazu dienen, 
„den Verstand zu täuschen, sondern eher ihn zu leiten und zu 
stützen nach der tief in der Erkenntnistheorie begründeten Maxime, 
dass nur die strenge Durchführung sinnlicher Anschaulichkeit im- 
stande sei, unsere Erkenntnis vor dem weit gefährlicheren Spiel 
mit Worten zu bewahren." Und dazu die höchst wichtige Be- 
merkung, dass eine streng durchgeführte Anschauung, selbst 
wenn sie materiell falsch sei, oft in ausgedehntem Masse 
als Bild und einstweiliger Ersatz der richtigen Anschauung 
diene. Die Benutzung der Einbildungskraft zur Ordnung unserer 
Gedanken über materielle Vorgänge ist also, sagt Lange schliess- 
lich, mehr als blosses Spiel; „selbst wenn sich ein fester, allge- 
mein betretener und für jetzt sicher genug leitender Pfad gebildet 
hat, ist die Benutzung der Einbildungskraft zur Unterstützung 
des Verstandes weit entfernt davon, uns eine Bürgschaft für die 
Tatsächlichkeit unserer Annahmen zu gewähren." (II, 190.) 

Was ist damit anderes ausgesprochen, als dass solche ver- 
anschaulichenden Vorstellungen trotz ihrer Fruchtbarkeit doch 
nur Fiktionen sein können, wenn auch nicht müssen. Dieses 



§ 18. Die Atomistik als Fiktion. 



431 



„Können 11 wird sich für uns aber dann zur Gewissheit erheben, 
wenn andere Gründe jener anschaulichen Vorstellungsweise wider- 
sprechen, wie dies bei der Atomistik der Fall ist In ähnlichem 
Sinne warnt auch Kekute davor, den Buchstaben der Formeln 
eine andere als technische Bedeutung zu unterlegen und sie als 
den Ausdruck wirklicher Atome und Atomgewichte zu betrachten. 

Hierher ist auch die richtige und erhellende Bemerkung 
Langes zu ziehen, dass das seltsame Schwanken der Chemiker 
zwischen einer konkret-sinnlichen und einer abstrakten Auffassung 
der Valenz von methodischem und erkenntnistheoretischem Inter- 
esse sei; man scheue sich einerseits, in jenes dunkle Gebiet 
Phantasiegebilde zu versetzen, deren Übereinstimmung mit der 
Wirklichkeit kaum als problematisch passieren könnte; anderer- 
seits aber sei man von der richtigen Neigung geleitet, nichts an- 
zunehmen, was sich nicht wenigstens in klarer Weise — auf eine 
oder auch auf mehrere verschiedene Arten — sinnlich vorstellen 
lasse; und so spreche man denn von den „Affinitätspunkten" der 
Atome, vom „Haften" an denselben, von „besetzten" und noch 
freien Punkten, wie wenn man an dem ausgedehnten und krystal- 
linisch gestalteten Körper des Atoms solche Punkte, z. B. als Pole 
einer magnetisch wirkenden Kraft vor sich sähe: zugleich aber 
verwahre man, z. B. Kekule, sich gegen die Geltung solcher 
sinnlichen Vorstellungen und erkläre die Affinitätspunkte für 
ein blosses Wort zur Zusammenfassung der Tatsachen, 

Wenn man diese Sachlage methodologisch verwertet, so 
wird man nicht umhin können, darin dasjenige wieder zu er- 
kennen, was wir als illustrative Fiktion charakterisierten. Ver- 
mittelst der Gebilde der Einbildungskraft wird die Wirklichkeit in 
einer bewusst-unrealen Weise vorgestellt, durch welche aber die 
Erfassung derselben erleichtert wird. 

Diese Betrachtungsweise ist nun sehr geeignet, sowohl die 
systematischen Streitigkeiten über die Atomistik zu entscheiden, 
als die historisch hervorgetretenen Kontroversen über diesen Gegen- 
stand nachträglich zu erhellen. 

Was das letztere betrifft, so ist übrigens klar und auch 
wohl allgemein unbestritten, dass sowohl für die Philosophen 
des Altertums, welche diesen Begriff zum erstenmal aufstellten, 
als auch für diejenigen, welche ihn in der Renaissancezeit er- 
neuerten, also insbesondere für Gassendi, das Atom durchaus nur 
als eine Hypothese, nicht etwa schon als Fiktion gelten konnte. 



432 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



Ist ja doch dies methodologische Hilfsmittel, diese eigentümliche 
Betrachtungsweise, welche in der Fiktion liegt, ohnedies erst in 
der neueren Zeit allmählich mit grösserer Klarheit in Anwendung 
gekommen (vgl. oben S. 257). In verschiedenen Modifikationen 
werden die Atome als Hypothesen zu Grunde gelegt bei den 
Nachfolgern Gassendis, bei Boyle, Newton, den Materialisten, bei 
Physikern und Chemikern, Die Atomistik galt durchaus als eine 
naturwissenschaftliche Hypothese zur Erklärung der beobachteten 
Naturvorgänge, Und wenn auch Boyle sein grundlegendes Werk 
Ctiemista scepücus betitelt, so scheinen ihm doch, die Atome ein 
„Glaubensartikel" gewesen zu sein: 1 ) denn die Atomistik war als 
metaphysische Theorie damals schon zu hoher Geltung gelangt 
Auch für Hobbes, der Atome verschiedener Ordnung annahm, 
stand die Annahme derselben als Hypothese fest, die Anschau- 
lichkeit, die Rechnungsergiebigkeit, die Durchsichtigkeit dieser 
Annahme schlug für immer die älteren Anschauungen aus dem 
Felde. Allein später machte sich langsam eine neue Anschauung 
geltend, welche sich dahin zuspitzte, dass das Atom nur mehr 
noch als Fiktion galt Diese Umwandlung geschah unter dem 
Einfluss des Kraftbegriffes, insbesondere durch die Idee von 
Boscovich, der die Ausdehnung als die Kraftsphäre ausdehnungs- 
loser Punkte ansah. Von da aus war nur ein geringer Schritt 
bis zu der Einsicht, dass diese Atome als Kräfteträger eigent- 
lich eine — theoretisch betrachtet k — ganz überflüssige Annahme 
seien; denn die Theorie gewinnt durch die „Träger" nichts, ihr 
genügen die Kräfte schon allein. Die Mechanik der Atome ver- 
wandelte sich in eine Mechanik der Kraftbeziehungen, und das 
Atom spielte nur noch die Rolle einer zweckdienlichen Hüfsvor- 
stellung. Alles, was den Theoretiker interessiert, findet schon in 
den unsinntichen Kräften seinen Ausdruck; denn alle Wirkungen 
waren gedacht als vermittelt durch Kräfte und Kraftpunkte- 
Allein auch diese neue dynamische Fassung der Materie, welche 
an Stelle der Dernokritisch-Gassendi'schen Atome atomistisch ge- 
dachte Kraftmittelpunkte setzte, und welche zuerst als eine definitive 
Hypothese gelten mochte, ist nicht als solche haltbar und muss 
methodologisch als Fiktion angesehen werden. Denn in diesem 
neuen Begriff des Elementes liegt derselbe Widerspruch wie im 
alten, nur in umgekehrter Weise; das alte sollte ausgedehnt, aber 



1) Vgl. hierzu und zum Folgenden Lange, Geschichte des Mat I!, 182 ff. 



Die Atomistik als Fiktion* 



433 



unteilbar, das neue toll unteilbar, unausgedehnt aber doch Ur- 
sache und Element der Ausdehnung sein. Schon die Analogie 
Gay-Lussacs, der die Atome nach Analogie der Differentiale sich 
vorstellte und auffasste, wies darauf hin, dass wir es hier nur mit 
einer Fiktion zu tun haben; denn wenn irgend ein Vorstellungs- 
gebilde, so ist das Differential eine methodologische Fiktion. 

Wenn man mit Cauchy, Ampere, Segnin und Moigno die 
Atome als ausdehnungslose Zentra bestimmt, so hat man damit 
nur den Kraftbeziehungen einen substantiellen Untergrund gegeben, 
der aber bei schärferer Untersuchung sich als ein höchst sonder- 
bares Gebilde erweist. Denn etwas Ausdehnungsloses, das 
substantieller Träger von Kräften sein soll — das sind nur Wort- 
verbindungen, ohne dass wir damit einen bestimmten Sinn 
verbinden könnten. »Einfache Atome*, die also doch noch 
etwas Materielles sein sollen — der Substanzbegriff stammt, wie 
Schopenhauer häufig bemerkt, aus der Betrachtung der Materie — 
können nicht causae verae y können keine realen Dinge sein. Da 
nun aber der Physiker doch zu seinen Konstruktionen die Atome 
braucht, wie lösen wir den Zwiespalt, wie erretten wir die Wissen- 
schaft aus diesem Dilemma? Und dazu kommt dann noch der 
Unbegriff eines leeren Raumes oder leerer Zwischenräume zwischen 
den Atomen, in dem man wohl eine äusserst anschauliche Vor- 
stellung erblicken kann, der aber nichtsdestoweniger in logischei 
Beziehung an den ärgsten Widersprüchen krankt. 

Es ist wohl, was man bisher nicht erkannt hat, Kant, 
welcher zum erstenmal 1 ) auf den Ausweg geriet, die atomistische 
Vorstellung als eine bequeme Hilfsvorstellung gelten zu lassen, 
im übrigen aber definitiv die dynamische Ansicht der stetigen 
Raumerfüllung anzunehmen. Wir sehen hier ganz ab von den 
erkenntnistheoretischen Erwägungen der „Knd. r. V," über diesen 
Punkt, nämlich von der Frage nach der Grenze der Teilung der 
Materie, weil der methodologische Gesichtspunkt, um den es uns 
allein zu tun ist, nicht dort, sondern in den „Metaphysischen 
Anfangsgründen der Naturwissenschaft" enthalten ist 

Kant vertritt daselbst bekanntlich (im Gegensatz zu seiner 
früheren monadologischen Theorie) die dynamische Theorie der 
Materie und nimmt eine unendliche Teilbarkeit derselben an; 
damit wird natürlich auch der leere Raum verworfen, da seiner 

1) In Toland scheint indessen Kant einen Vorgänger zu besitzen; er 
erklärt die Massenteilchen für blosse Hilfsworte. VgL Berthold, Toland S, 48. 

28 



I 

434 Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 

Anschauung nach jene dynamische Raumerfüllung eine stetige 
ist. Kant war aber doch andererseits zu sehr an physikalisches 
Denken gewöhnt, als dass ihm nicht der auffallend methodo- 
logische Vorteil bekannt gewesen wäre, der darin besteht, sich 
die Materie, statt kontinuierlich, sie als ein Zusammen getrennter 
Teilchen vorzustellen. Die mechanische Erklärungsart, sagt er 
daher (Met Anf. d, Nat II. Hauptst AHgem. Anm. 4), ist „der 
Mathematik am fügsamsten". Allein (ib. II. Hauptst Lehrs. 4. 
Anm. 1) „man verfehlt gänzlich den Sinn der Mathematiker und 
missdeutet ihre Sprache, wenn man das, was zum Verfahren der 
Konstruktion eines Begriffes notwendig gehört [hier nämlich die 
Entfernung der Teilchen der Materie voneinander], dem Begriffe 
im Objekte selbst beilegt; denn nach jenem kann eine jede Be- 
rührung als eine unendlich kleine Entfernung vorgestellt werden, 
welches in solchen Fällen auch notwendig geschehen muss, wo 
ein grosser oder kleiner Raum durch eben dieselbe Quantität der 
Materie als ganz erfüllt vorgestellt werden soll. Bei einem ins 
Unendliche Teilbaren darf darum noch keine wirkliche Ent- 
fernung der Teile, die bei aller Erweiterung des Raumes des 
Ganzen immer ein Kontinuum ausmachen, angenommen werden, 
obgleich die Möglichkeit dieser Erweiterung nur unter der Idee 
einer unendlich kleinen Entfernung anschaulich gemacht werden 
kann." In der Anmerkung 2 zum Lehrs. 8 erläutert er dies dahin, 
dass ein Unterschied zwischen dem Begriffe eines wirklichen 
Raumes, der gegeben werden kann, und der blossen Idee von 
einem Räume, der lediglich zur Bestimmung des Verhältnisses 
gegebener Räume gedacht wird, in der Tat aber kein Raum 
ist, gemacht werden müsse. Die physische Monadologie nehme 
solche leeren Zwischenräume als wirklich an. Dagegen denkt man 
sich nach seiner, der dynamischen, Anschauung, weil die nächsten 
Teile einer stetigen Materie einander berühren, diese Berührung 
als einen unendlich kleinen Zwischenraum. „Es ist dies nur die 
Idee vom Räume, die dazu dient, um die Erweiterung einer 
Materie als stetiger Grösse anschaulich zu machen, ob sie 
zwar wirklich so gar nicht begriffen werden kann. Wenn es 
also heisst: die zurückstossenden Kräfte der einander unmittelbar 
treibenden Teile der Materie stehen in umgekehrtem Verhältnis 
der Würfel ihrer Entfernungen, so bedeutet das auch: sie stehen 
in umgekehrtem Verhältnisse der körperlichen Räume, die man 
sich zwischen Teilen denkt, die einander dennoch unmittelbar 



§ 18. Die Atomistik als Fiktion. 



435 



berühren, und deren Entfernung aber darum unendlich klein 
genannt werden muss, damit sie von aller wirklichen Entfernung 
unterschieden werde,* Es ist also diese Vorstellung von Zwischen- 
räumen nur ein mathematisches Hilfsmittel zur Veranschaulichung; 
und dasselbe gilt auch nach Kant von dem mathematischen Begriff 
der absoluten Undurchdringlichkeit (ib. Erkl. 4. Anm. 1 und 2). 
Die Sprache der gewöhnlichen Physiker von vollkommener Dich- 
tigkeit und unvollkommener, je nachdem leere Zwischenräume 
da sind oder nicht, ist erlaubt, wenn man den „mathematischen 
Begriff der Materie" (ib. Allgem. Anm. 1) zu Grunde legt. 

Sonach unterscheidet Kant eine mathematische (mechanische) 
Vorstellung der Materie, welche er nur methodisch, nicht aber 
ernsthaft verwerten will, und eine dynamische, welche er für die 
wahre hält, welche aber für die mathematische Rechnung nicht 
so bequem ist Sobald man aber das absolut Leere und das 
absolut Dichte theoretisch nimmt, so ist das ein „Schlagbaum für 
die forschende Vernunft"; man setzt diese erdichteten Begriffe, 
welche so unberechtigt sind, wie das blinde Schicksal und der 
blinde Zufall, an die Stelle der Wirklichkeit, Man kann, sagt 
er am Schluss derselben Anmerkung, den Raum als leer denken, 
aber es gibt keinen wirklich leeren Raum (also auch keine durch 
leere Zwischenräume getrennten Atome). 

Dieser von Kant hier eröffnete Ausweg, die mathematisch- 
mechanische Vorstellungsweise für blosse Rechnungshilfe zu er- 
klären, ist von da an sehr häufig von den Philosophen einge- 
schlagen worden. Wir finden dieselbe Ansicht bei Hegel und in 
seiner Schule. So sagt z. B. Rosenkranz (Neue Studien II, 504/5), 
die Atomistik sei nur eine brauchbare Fiktion zum Zwecke be- 
quemeren Kalküls, Er nennt die Atome fiktive Grössen und 
bemerkt, die Newton'sche Lichttheorie sei längst gegen die 
Huyghens-Fresnel'sche vertauscht, aber die Schulen sprechen noch 
immer so, als ob die Newton'sche Optik unversehrt dastünde. 
So sei es auch mit der Atomistik. 

Auch aus der Herbarfschen Schule mag eine Stimme an- 
geführt werden; so sagt Cornelius, Grundzüge einer Molekular- 
physik (S. 33): *) „in ihrer gewöhnlichen Fassung erscheint uns 
die physikalische Atomistik als ein zum Teil auf erfahrungs- 
mässiger Grundlage beruhendes System von Hilfsbegriffen, 



1) Vgl. Cornelius in der Zeitschr. I exakte Philos. VII. 287 ff. 

28* 



436 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



das vortreffliche Dienste zu leisten vermag, wenn es sich darum 
handelt, auf dem Wege der Rechnung Gesetze des Gleichgewichts 
und der Bewegung abzuleiten/ Dagegen will er die Atomistik 
nicht definitiv beibehalten wissen. 

Gegen diese Auffassung der Atomistik als einer blossen 
Rechnungshüfe hat sich Fechner ausgesprochen, ohne, wie es uns 
scheint, diese Polemik in einen organischen Zusammenhang mit 
seiner sonstigen erkenntnistheoretischen und metaphysischen Welt- 
anschauung zu setzen. Er tadelt (Atomenlehre S. 6) die Physiker, 
welche im Anschluss an die Philosophen die Atomistik nur für 
eine „bequeme Vorstellungs- und Rechnungshilfe" erklären. Er 
meint, ein Baum, der Früchte trage, wie die Atomistik, müsse 
auch Wurzeln haben (ib. 4); die Atomistik sei für die Wissen- 
schaft des Faktischen notwendig. So lassen sich die einfachen 
Proportionen, in denen sich Stoffe chemisch verbinden, vortreff- 
lich durch die Annahme repräsentieren, dass sich je ein Atom 
eines Stoffes mit je einem oder mehreren Atomen des anderen 
Stoffes verbinde; und noch viele andere Umstände machen die- 
selbe notwendig, und zwar so, dass man die metaphysische 
Wirklichkeit derselben annehmen muss. Die Bestreitung dieser 
Ansicht hält Fechner für falsch; wenn der Philosoph sagt, das alles 
sei ganz gut als mathematische Fiktion, um das Empirische daraus 
abzuleiten, aber höhere Gesichtspunkte verbieten dennoch, es als 
das Wirkliche anzunehmen (ib. 21/22), — so wirft Fechner ein: 
„Aber wie wäre es doch denkbar, dass sich aus nicht wirklichen 
Grundverhältnissen das Wirkliche besser ableiten, d. h. voraus- 
sagen und danach gestalten Hesse, als aus dem eigentlich Wirk- 
lichen? Lassen sich empirische Verhältnisse besser aus diskreter 
als nicht diskreter Materie ableiten, so kann dies nur ein Beweis 
sein, dass erstere selbst empirischer ist, als letztere.* Allein da- 
gegen ist zunächst die Bemerkung zu machen, dass Fechner in seiner 
Schrift, wie er selbst in der Vorrede und Einleitung sagt, als die 
einzige philosophisch berechtigte Gegenannahme die dynamische 
Theorie berücksichtigt. Es ist aber noch die Ansicht zu berück- 
sichtigen, nach welcher das Wesen der Materie uns definitiv 
unbekannt und verborgen sei, und dass die Atomistik ein Hilfs- 
mittel nicht an Stelle der angeblich bekannten dynamischen Ver- 
fassung, sondern der unbekannten sei. Allein auch abgesehen 
davon ist Fechners Gegengrund nicht stichhaltig, wie aus dem 
Weiteren sich ergibt Er meint, es sei natürlich, dass man zum 



§ 18. Die Atomistik als Fiktion. 



437 



Baue eines Luftschlosses nur eine Luftaxt brauche; aber es sei 
sonderbar, wenn man von einer Axt, mit der ein wirkliches Haus 
gezimmert dasteht, behaupte, sie sei viel mehr die Luftaxt, als jene; 
es wird dann von den mathematischen Kunstgriffen, zu denen 
die Philosophen die Atomistik rechnen, gesagt: „Wenn auch die 
Mathematik gar manches Richtige auf falscher Grundlage berechnet 
hat, so ist es doch bloss insofern, als diese falschen Grundlagen 
noch eine Seite des Richtigen hatten, die bei der Folgerung nun 
eben in Betracht kam. Daher kann man freilich nicht durch jede 
einzelne mathematische Folgerung, die richtig ist, eine allgemeine 
Voraussetzung nach allen ihren Seiten hin für sofort erwiesen 
halten. Aber man kann es umsomehr, je mehr die Totalität der 
mathematischen und hiermit strengen Folgerungen sich in der 
Wirklichkeit bewährt. Die Philosophen aber, statt auf eine solche 
Erfüllung des Beweises zu dringen, entleeren ihn vollends, in- 
dem er auch bei vollem Genügen nur die Brauchbarkeit einer 
Fiktion, nicht die Wahrheit der Sache beweisen soll.* Ein 
zweiter Gegengrund scheint es sein zu sollen, wenn Fechner eben 
daselbst sagt, die Mathematik, welche überhaupt nur eine Logik 
der Quantitätsbegriffe und räumlichen Verhältnisbegriffe sei, sei 
eine rein formale Wissenschaft, die durch keinen Kunstgriff mehr 
aus den Dingen herausholen kann, als in ihnen liegt. Aus diesem 
Satze scheint die stillschweigende Folgerung sich zu ergeben, 
dass die Atomistik nicht nur ein solcher mathematischer Kunst- 
griff sei, sondern mehr aus den Dingen herausholen könne, als 
in ihnen liege. Endlich setzt er noch hinzu: „Als Copernikus 
seine neue Lehre vom Weltsystem herausgab, erlangte er den 
Schutz des Papstes nur dadurch, dass er 1 ) die neue Ansicht für 
eine physikalische Hypothese ausgab, welche den Zweck habe, 
die Rechnungen zu erleichtern. Solche Päpste, meint Fechner, 
seien auch viele unserer Philosophen. „Dass die Grundlagen, 
von denen aus die Mathematik etwas Wirkliches errechnet hat, 
selbst den Charakter der Wirklichkeit tragen, werden sie nie zu- 
geben, sofern sie ihr System dadurch gefährdet halten; aber sie 
gestatten allenfalls die Hypothese [besser die Fiktion] und die 
Rechnung, sofern sie doch praktisch nützlich sei; nur soll sie 
nicht wahr sein." Während aus diesen Stellen hervorgeht, dass 
Fechner die Atomistik in einen Gegensatz zu den mathematischen 



1) Nicht Copernikus selbst, sondern sein Herausgeber. 



438 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



Kunstgriffen stellt, und sich ausserdem zeigt, dass er Über das 
Wesen solcher Kunstgriffe methodologisch nicht im klaren ist, 
stellt er an einer anderen Stelle die Atomistik direkt in Parallele 
mit mathematischen Fiktionen» 

Fechner selbst rechtfertigt S. 151 die punktuellen Atome, die 
man sich unendlich klein vorstellen soll, damit, dass die Mathematik 
schon an dergleichen gewöhnt habe. Man brauche, sagt er S. 155, 
diesen Begriff in der Mathematik und Weltbetrachtung; man müsse 
ihn an der Stelle einführen, wo er Frucht bringe, wo man ohne 
ihn weniger leiste als mit ihm. Er stellt dann weiterhin das 
Atom durchaus mit der Vorstellung des Punktes und des Diffe- 
rentials auf Eine Stufe, so dass wir zu der Frage berechtigt sind, 
ob Fechner denn das Differential für etwas Wirkliches halte? 
„Jeder Einwand, den man daraus erheben möchte, dass einfache 
Atome doch absolut nicht rein vorstellbar sind, würde ebenso 
gegen die Anwendung der Differentiale von Zeit- und Raum- 
grössen laufen. So wenig wir aber diese zur genauesten Dar- 
stellung der Gesetze kontinuierlicher Bewegungen missen können, 
so wenig dürften wir die reinen Punkte zur genauesten Darstellung 
des Diskontinuierlichen und Bewegten missen können/ Damit 
hat Fechner sich selbst gefangen gegeben; denn dann nimmt er 
auch die Wirklichkeit der Differentiale an — oder vielmehr, da 
er diese nicht annehmen kann, muss er auch die Atome als Wirk- 
lichkeiten verwerfen. Er hat daher in den beiden zuletzt ange- 
führten Sätzen sehr vorsichtige Wendungen gebraucht; jener Ein- 
wand würde auch gegen die „Anwendung* der Differentiale laufen; 
man könne diese „zur Darstellung der Gesetze nicht missen* ; 
er hat nicht offen gesagt: die Differentiale sind Wirklichkeiten; 
sondern in diesen Redewendungen ist nur gesagt: sie lassen sich 
anwenden, sie sind notwendig zur »Darstellung der Gesetze* 1 
— von Wirklichkeit derselben ist keine Rede, 

Drei weitere Versuche, die Atomistik durch mathematische 
Parallelen zu retten, sind ebenso verfehlt. Der erste Versuch 
ist, dem mathematischen Punkt eine Wirklichkeit zuzuschreiben, 
die dann natürlich auch dem Atome zu gute käme. — Der 
zweite Versuch ist in folgenden Sätzen enthatten: „Sehr wohl 
kann etwas mathematisch aus einem Gesichtspunkte oder nach 
einer Seite, in einer Richtung null, in einer anderen endlich oder 
unendlich sein, wie jede Linie und Fläche beweist, die in ihrer 
Dickenausdehnung null, nach ihrer Längen- oder Flächenaus- 



§ 18. Die Atomistik als Fiktion. 



439 



dehnung aber endlich oder unendlich ist Und so kann etwas 
auch in betreff seiner ganzen räumlichen Ausdehnung null, 
in betreff seines Ortes und seiner, die Sinneswahrnehmung 
bedingenden Intensität, ein ganz reales Wesen sein." — Der 
dritte Versuch lautet (S. 159): Die Behauptung, dass nichts dem 
Geiste und der Behandlung der Physik Widersprechendes darin 
liege, den Ort der Materie in ausdehnungslosen diskreten Punkten 
zu suchen, kann man dadurch gerechtfertigt finden, dass die 
Physik, ja sogar die Masse ganzer ausgedehnter Körper, z. B. der 
Sonne und Erde, bei Berechnung der Hauptgrösse ihrer wechsel- 
seitigen Anziehung auf Punkte reduziert oder in Punkten (den 
Schwerpunkten) konzentriert setzt, und für ihre Distanz den Ab- 
stand dieser Punkte nimmt Freilich ist das nur uneigentlich, 
nur eine Fiktion, um die „Darstellung** der Erscheinungen bei 
zusammengesetzten Körpern unbeschadet derVorstellbarkeitzu er- 
leichtern; aber „um so weniger kann es dem Geiste der Physik 
widerstreben, dieselbe Vorstellung bei den Elementen der Körper 
als wahr gelten zu lassen und hiermit für die Fiktion eine reale 
Grundlage im Metaphysischen zu erhalten* 1 . 

Wenn sich Fechner durch die frühere Zusammenstellung des 
Atoms mit dem Differential gefangen gab, so ist durch diese Er- 
klärung der Selbstmord der Atomistik ausgesprochen. Denn alle 
drei Gründe beweisen nur, dass Fechner, trotzdem er den Unter- 
schied zwischen mathematischer Fiktion und physikalischer Hypo- 
these zu kennen scheint, doch beides vermischt; ja indem er 
die Atomistik in die Gesellschaft mathematischer Fiktionen bringt, 
schlägt er sich tatsächlich auf die Seite seiner Gegner 

Es ergibt sich auch aus dem Obigen, dass Fechner das 
Wesen der mathematischen Fiktion nicht ganz richtig dargestellt 
hat. Dass die Mathematik auf entschieden falscher Grundlage 
gar manches Richtige berechnet hat, lässt sich nicht allein so er- 
klären, das sei „insofern geschehen, als diese falschen Grund- 
lagen noch eine Seite des Richtigen hatten, die bei der Folgerung 
nun eben in Betracht kam". Die Frage ist, warum trotz der 
falschen Grundlage das Richtige herauskommt. — Wenn Fechner 
ferner sagt, man könne auf die Richtigkeit der allgemeinen Vor- 
aussetzung um so mehr schliessen, je mehr die Richtigkeit der 
mathematischen Folgerungen sich in der Wirklichkeit bewähre, 
so würde daraus folgen, dass z. B. die Differentiale als eine rich- 
tige Voraussetzung, als eine Wirklichkeit gelten müssten; denn die 



440 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



daraus gezogenen Konsequenzen decken sich durchaus mit der 
Wirklichkeit, Lässt sich aber die Wirklichkeit der Differentiale 
nicht behaupten, so kann „die Bewährung in der Wirklichkeit", 
wenigstens in dieser allgemeinen und vagen Formulierung, nicht 
als Probierstein und Kriterium für die Wirklichkeit des in der 
Voraussetzung Ausgesprochenen gelten. Vielmehr müssen die 
Kriterien der Wirklichkeit anders bestimmt werden, und es muss 
gezeigt werden, wie trotz der falschen Voraussetzung doch Wahres 
zum Vorschein kommt? — 

Das Bemerkenswerteste ist aber, dass Fechner in bezug auf 
die metaphysische Realität der Atome ein ganz auffallendes 
Schwanken zeigt. So sagt er gleich auf der zweiten Seite: „der 
Physiker behauptet, die atomistische Ansicht für seine Zwecke zu 
brauchen, der gegnerische Philosoph verweigert ihm die Aner- 
kenntnis dieser Notwendigkeit*. Ja darum handelt es sich eben, 
was das für eine Notwendigkeit, ein Brauchen sei? 1 ) Dieses 
„Brauchen" kann auch vielleicht nur ein praktisches sein, d. tu die 
Atomistik kann eine zur Physik notwendige Hilfsvorstellung sein, 
braucht aber darum doch noch keine metaphysische Anerkennung 
zu finden. Den praktischen Gebrauch wird kein kritischer Philo- 
soph bestreiten, im Gegenteil, er wird ihn verlangen. Das Bild, 
das oben angeführt wurde, ein Baum, der Früchte trägt, müsse 
auch Wurzeln haben — ist doch nur ein Bild. Dann müssten 
die Differentiale auch Wirklichkeiten sein; ihre Früchte sind noch 
unbestrittener und offenbarer als die der Atomistik. Die Not- 
wendigkeit der letzteren „für die Wissenschaft des Faktischen* 
(S. 3) kann doch auch eine rein subsidiäre sein. Fechner selbst 
sagt, wie wir sahen, einmal (S. 13), die Atomistik diene zu leich- 
terer Repräsentation *) der chemischen Gesetze. Ja, das VI. Kapitel 
führt die Repräsentierbarkeit des allgemeinen Zusammenhanges 
der sog, Molekularerscheinungen als einen Grund der Atomistik 
an; dieselbe mache alles vorstellbarer, anschaulicher, während jede 
andere, insbesondere die dynamische Anschauung zu einer ganz 
inkommensurablen Behandlungsweise führe. Dieser Grund wäre 
vielleicht von einem kritisch fundierten Misstrauen eher als ein 

1) Das gilt auch für oder vielmehr gegen CzoJbe, der (Die Grenzen und 
der Ursprung der menschlichen Erkenntnis, S. 93) sagt: „Die Atomistik ist der 
allein mögliche, Harmonie in das Ganze bringende Zentralpunkt und schon 
deshalb notwendige Wahrheit*. Dieses „und schon deshalb" ist eben noch 
zu beweisen. 

2) Vgl. die repräsentative fictions bei Bain, Vgl. oben S. 284. 



§ 18. Die Atomistik als Fiktion. 



441 



Grund gegen die Atomistik zu gebraueben: denn weil die Ato- 
mistik eine gute Rechnungshilfe ist, braucht sie eben noch keine 
gute Hypothese zu sein. 1 ) Nach Fechners eigenem Geständnis 
(69) gibt es Physiker und Chemiker, welche, „weil sie die höheren 
Vorzüge und Vorteile der Atomistik nicht anzuerkennen wissen, 
ihr abgeneigt sind, die aber zugestehen, dass sie die bequemste 
Weije sei, die Dinge darzustellen, und man sich ihrer Ausdrucke 
wohl bedienen könne, die Verhältnisse vorstellig zu machen; 
dieselben wollen aber keine Konsequenz daraus gezogen, der 
Vorstellungsweise keine Realität beigelegt wissen". 2 ) Fechner 
kann es nicht unterlassen, hierzu folgende spöttische Bemerkung 
zu machen; diese Leute erscheinen ihm wie Personen, die sich 
zwar ihrer natürlichen Beine bedienen, weil sie die „bequemsten* 
Mittel sind, vorwärts zu kommen, doch ohne damit im mindesten 
zu behaupten, dass das auch ihre wahren Beine sind, die viel- 
mehr noch ganz im Verborgenen ruhen und hoffentlich einmal 
an das Licht kommen werden. Ich möchte dafür ein anderes 
Bild setzen: mir scheinen jene Leute vielmehr da, wo ein unweg- 
sames Terrain ist, es so zu machen, wie jene Bewohner einer 
französischen Gegend, welche, anstatt auf ihren natürlichen Beinen 
zu gehen — weil dies bei dem Terrain schwierig ist — auf künst- 
lichen gehen, nämlich auf Stelzen, durch welche das Gehen 
erleichtert und beschleunigt wird. 

Endlich spricht auch folgende Erklärung dafür, dass Fechner 
selbst die metaphysische Wirklichkeit der Atome keineswegs für 
eine absolut notwendige Annahme hält: er sagt S. 76, der Phy- 
siker könne gar nicht zu behaupten wagen, dass der Raum 
zwischen seinen Atomen absolut leer sei, dass nicht vielmehr ein 
feines kontinuierliches Wesen sich noch zwischen ihnen erstrecke, 
was nur auf die Erscheinungen, die er beurteilen kann, keinen 
Einfluss mehr hat. Der Physiker brauche nur zunächst Atome, 
nicht zuletzt Atome; ja er gestehe willig, dass er das Letzte 

1) Fechner selbst führt S. 39 ein solches Beispiel an, wo viele Physiker 
wegen bequemerer Repräsentation eine Vorstellung wählen, welche sie 
für falsch halten, nämlich die Beziehung der magnetischen Erscheinungen auf 
Elementar- oder Molekularmagnete statt auf elektrisch umkreiste Teilchen. 

2) Auch A. v, Humboldt nennt die Atomistik einmal „ein uraltes 
Symbol*. Auch Gruppe (im Antäus S. 418, vgl. oben S. 385 ff) hält die 
Atomistik nur für eine metaphorische Hilfsvorstellung, ohne welche der 
Physiker weder reden noch denken kann; aber aus bloss Vorläufigem dürfe 
man noch keine Prinzipien ableiten. 



442 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



hinter dem Empirischen nicht erkennen könne. 1 ) Damit hat Fechner 
aber mit dürren Worten ausgesprochen, dass die Atomistik nur 
für den Physiker sei, nicht für den Metaphysiker, mit anderen 
Worten, dass sie nur eine brauchbare Hilfsvorstellung, keines- 
wegs aber eine auf absolute Wirklichkeit Anspruch machende 
Hypothese sei. Fechner hat ausserdem die Atomistik in gar 
keinen organischen Zusammenhang mit seinem eigentumlichen 
pantheistischen Theismus gebracht, den er am Schluss desselben 
Werkes mit einigen kurzen Strichen zeichnet, ein neuer Beweis, 
dass die Atomistik eben nur als Fiktion brauchbar ist. 

So hat auch Lange die Sache aufgefasst, und die oben an- 
geführte Stelle aus Fechner kommentiert er (II, 194) mit folgenden 
Worten: „So lange man die beiden Gebiete (Physik und Metaphysik) 
mit dieser Strenge sondert, müsste es ein seltsamer Philosoph sein, 
der dem Physiker den nächsten, d« h. technischen Gebrauch 
der Atomistik abstreiten wollte". „Der Techniker wird ja, wenn 
er konsequent auf dem von Fechner bezeichneten Standpunkte 
bleibt, auch das nicht einmal leugnen können, dass seine Arbeit 
vielleicht später einmal gleich gut, wo nicht besser nach anderen 
Prinzipien verrichtet werden wird* (ib. 195). Also auch Lange 
fasst diese Stelle in demselben Sinne auf und liest aus ihr eine 
Meinung Fechners heraus, die mit dessen sonstiger heroischen 
Verteidigung der Atomistik gar nicht stimmt Diese kleinmütige 
Sprache Fechners an dieser Stelle wird aber erst erklärlich, wenn 
man die anderen oben angeführten Stellen aus seiner Schrift da- 
mit vergleicht, was Lange gar nicht tat. Fechner teilt, dies ist 
hier noch zu bemerken, seine Schrift in zwei Teile, in einen 
physikalischen und in einen philosophischen; schon darin liegt 
ausgesprochen, dass die physikalische Atomistik an sich noch 
keine metaphysische Hypothese ist, sondern zunächst nur eine 
für den Physiker sehr brauchbare Vorstellungsweise, So stark 
und überzeugend die Gründe für diesen Gebrauch sind, so schwach, 
so schwächlich und gebrechlich sind aber die eigentlich philoso- 
phischen Gründe Fechners, welche beweisen sollen, dass die 
Atomistik nicht nur eine physikalisch-mathematische Rechnungs- 
hilfe sei, sondern eine metaphysisch haltbare Hypothese. 

1) Dazu vergleiche man die ähnlich lautende Erklärung auf S. 74—75: 
Die Physik lasse es dahingestellt, was in letzter philosophischer Instanz mit 
ihren Atomen zu machen sei u.s. w. Ebenso S.76, wo Fechner die Unteilbar- 
keit des Atoms dahingestellt sein lässt. 



§ 18. Die Atomistik als Fiktion. 



443 



Der Kampf ums Atom wurde akut in den Zeiten der Blüte 
des Materialismus. Damals wurde die Frage, ob Hypothese, ob 
Fiktion zwischen zwei Philosophen erörtert, welche selbst beide 
dem Materialismus feindlich gegenüber standen. Es waren, (wie 
schon oben S. 280 und 284 vorläufig erwähnt wurde) Lotze und 
Fichte jr., deren Kontroverse hier eines genaueren Eingehens 
bedarf, weil sie in methodologischer Beziehung fruchtbar ist. In 
seiner „ Anthropologie" (1856) hat JL R Fichte die mechanische 
Atomistik heftig bekämpft Im Anschluss an einzelne Naturforscher 
(v. Ettingshausen, E. G, Fischer, S. Weiss) erklärt Fichte der 
„ gemeinen Atomistik" den Krieg; sie ist ihm eine in sich gänz- 
lich widerspruchsvolle Hypothese, also als Hypothese zur Er- 
klärung der Wirklichkeit völlig unbrauchbar. Aber Fichte gesteht 
ausdrücklich zu, dass sie eine sehr bequeme, brauchbare Fiktion 
sei: er gibt zu (S. 204), „dass sie eine bequeme, an sich un- 
schädliche Fiktion sei, sofern sie nur für nichts anderes und für 
nichts mehr erkannt werde*; „sie ist eine zulässige Fiktion zum 
Behuf e mathematischer Messung und Berechnung" (205); sie ist 
zwar „eine willkürliche Voraussetzung" (216), aber eine „zulässige 
Annahme" (215), ein Ausdruck, den Fichte von H. v. Ettings- 
hausen übernimmt; daher sagt Fichte, die echte Naturwissenschaft 
„wendet die Atomistik bloss einstweilen als zulässige Fiktion an, 
bis die rechte Erklärung gefunden ist* (22); um jene Fiktion 
brauchbar gestalten zu können, muss die Naturforschung sogar 
noch Hilfsfiktionen (308) ausdenken. Zur Erläuterung und Recht- 
fertigung dieser Auffassung beruft sich Fichte (203) auf die „dem 
Geometer gestattete Fiktion* 1 , „die gerade Linie aus unendlich 
vielen aneinander gerückten Punkten bestehen zu lassen, den 
Kreis als ein Vieleck von unendlich vielen Seiten zu betrachten 
u. dergl. Es ist überall Stetigkeit, als unendlich Unterscheid bares, 
Diskretes aufgefasst." Auch beruft sich Fichte (237 und 242) 
noch auf Herbarts Fiktionstheorie, die er beifällig zitiert (vgl oben 
S. 273ft, 282 ff.). 

Hiergegen hat sich nun Lotze in seinen Streitschriften I 
(1857) gewendet, deren 1. Abschnitt (S, 17 — 50) ausschliesslich 
diesem Thema gewidmet ist, das Lotze übrigens auch sonst mehr- 
fach behandelt hat.*) „Ich gestehe, dass ich diese Hypothese, 



*) Man findet diese Stellen jetzt beisammen in dem Index zu den von 
Peipers herausgegebenen „Kleinen Schriften" Lottes* 



444 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



auf deren Ausbildung so viel Scharfsinn verwandt worden ist, 
und von welcher wir einige Früchte doch alle schon geniessen, 
mit ungleich grösserer Achtung anzusehen gewohnt bin, als sie 
Ihm zu verdienen scheint" (17). Die Physik sei, fährt Lotze fort 
(23ff.) # nicht nur eine praktische Wissenschaft, der es nur auf 
Erfolg, nicht auf Wahrheit ankomme. Wäre sie nur eine prak- 
tische Wissenschaft ohne theoretische Ansprüche, dann, ja dann 
könnte sie sich mit blossen Fiktionen begnügen, wie Fichte es 
ihr zumute, dann brauchte sie nicht »den Paradeanzug logisch rein- 
licher, klarer und widerspruchsloser Begriffe 41 ; dann brauchte sie 
nicht »aus logischer Etikette Bedenken zu tragen, nützliche, aber 
nicht ganz gerechtfertigte Handhaben des Fortschrittes anzufassen". 
„So grotesk auch immer die von ihr gewählten Grundbegriffe 
sein möchten: wenn sie damit nur zum Ziele käme, würden wir 
sie uns können gefallen lassen; ja ich muss gestehen, dass ich 
mir sogar ein gewisses humoristisches Vergnügen davon ver- 
sprechen würde, zu sehen, wie die Physik mit logisch nicht ganz 
rein gewaschenen Tatzen und etwas plump zugreifend die Keime 
der Erkenntnis aus den stachlichen Hülsen der Tatsachen quetschte, 
während die Philosophie mit einer in sich ganz widerspruchslosen 
Grazie ihrer Bewegungen leider gerade an diesen Hüllen einen 
kränkenden Widerstand fände" — also Lotze kann sich an sich 
wohl hineindenken, dass der Physik die Atome nur bequeme 
„Handhaben* wären. Aber „die Physik ist nicht so ausschliess- 
lich, wie wir annahmen, eine praktische Wissenschaft; sie gestattet 
sich nicht jede beliebige widersprechende, absurde und plumpe 
Annahme, nur weil diese nützlich schiene". So sind denn für 
die Physik die Atome nach Lotze nicht blosse Fiktionen, wie 
Fichte annimmt Und nun entwirft Lotze eine ausgezeichnete, 
wenn auch nicht erschöpfende Schilderung der Fiktion im Unter- 
schied von der Hypothese, die wir der Wichtigkeit der Sache 
halber wörtlich reproduzieren: „Fiktionen sind mit Bewusstsein 
vollzogene Unterordnungen eines gegebenen Begriffes oder eines 
vorliegenden Falles unter ein Allgemeines, unter welches beide, 
genau genommen, nicht gehören; man wagt sie aber, weil das 
Gegebene durch eine seiner Eigenschaften sich dem annähert, 
wovon jenes Allgemeine spricht, und weil es nur so möglich ist, 
den vorliegenden Fall in den Wirkungskreis einer fruchtbare Folge- 
rungen gestattenden Regel hineinzuziehen. Bei jeder Fiktion sind 
wir uns daher vollkommen bewusst, dass wir den wirklichen 



§ 18. Die Atomistik als Fiktion. 



445 



Tatbestand in irgend einer Weise verändern, dass wir einen Teil 
desselben ohne Rücksicht auf die übrigen einseitig hervorheben, 
dass wir eine einzelne Beziehung, durch welche er sich als Glied 
in irgend eine bekannte Reihe einfügen lässt, von den übrigen 
sie beschränkenden Bestimmungen isolieren, dass wir überhaupt 
nur das festhalten und gesteigert denken, worauf es uns ankommt, 
und weglassen, was für uns unnütz, dennoch ebenso notwendig 
zu der vollen Natur des gegebenen Falles gehört. Aber eben 
deswegen wissen wir auch, dass die Ergebnisse, welche wir aus 
diesen Transformationen des vorliegenden Inhalts ziehen, immer 
nur Annäherungen an die Wahrheit sind, und jede vorsichtige 
Untersuchung gestattet sich den Gebrauch einer Fiktion nur unter 
der Bedingung, dass es nebenher sich beweisen lasse, wie für 
eine bestimmte in Betrachtung gezogene Frage diejenigen Züge 
ohne Bedeutung sind, durch welche sich das wirkliche Verhalten 
von der substituierten Fiktion unterscheidet, Die Annahme, welche 
die Kurven aus einer Anzahl geradliniger Seiten zusammensetzt, 
ist eine Fiktion, und eben dadurch, dass man nicht an ihre tat- 
sächliche Richtigkeit glaubt, sondern sie nur als ein Mittel benutzt, 
um die sonst unanwendbaren Begriffe der Länge auf die Kurven 
zu übertragen, unterscheidet sie sich von einer Hypothese, 
welche letztere allemal darauf ausgeht, auf dem Wege der Ver- 
mutung ein tatsächliches Verhalten zu erkennen. Die Voraus- 
setzung, dass in einer Kugel die ganze wirksame Masse als in 
ihrem Mittelpunkte vereinigt sich denken lasse, ist eine Fiktion, 
und eben deshalb gar nicht brauchbar in bezug auf jede beliebige 
Frage, die sich über irgend eine Wechselwirkung zweier Kugeln 
erheben könnte; vielmehr muss besonders nachgewiesen werden, 
dass für einen bestimmten Fall diese Substitution des Mittelpunktes 
für das Volumen statthaft sei. Wäre dieselbe Annahme eine Hypo- 
these, so würde sie mit dem Ansprüche auftreten müssen, in allen 
Fällen zu gelten, denn ihre Absicht wäre dann, eine wirkliche 
Tatsache auszusprechen." 

„In diesem Sinne nun für eine Fiktion zu gelten, wird", 
wie Lotze meint, „die Atomistik sich sträuben", und nun bringt 
Lotze mit grosser Sachkenntnis und grossem Scharfsinn viele 
Gründe vor, welche seine Ansicht stützen sollen. Diese Gründe 
jedoch zu reproduzieren, würde uns hier zu weit führen, um so 
mehr, als doch in diesem Falle die weitere Entwicklung nicht für 
die Lotze'sche Auffassung günstig gewesen ist; vielmehr ist die 



446 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



Fichte'sche Auffassung bestätigt worden, wobei allerdings die 
Restriktion 2u machen ist, dass die Darstellung Fichte's selbst an 
erheblichen Mängeln und Unklarheiten krankt, welche ihm denn 
auch von Lotze ebenso fein als klar vorgeworfen worden sind» 
Vom Kantischen Standpunkt aus — > nicht von dem der 
dynamischen Naturtheorie, sondern einfach dem des Kritizismus — 
hat auch F. A. Lange die Atomistik betrachtet, und wenn er auch 
für dieselbe nicht das Wort Fiktion gebraucht, so kommt seine 
Anschauung doch sachlich mit der unserigen überein. Das Atom 
darf „ebensowenig als der Stein der Weisen in der exakten 
Wissenschaft einen Glaubensartikel bilden"; man kann die relativ 
unteilbaren Körper als absolut unteilbar, den relativ leeren Raum 
als absolut leer betrachten zur Bequemlichkeit für den Physiker. 
So ist auch das Atom für ihn ein „blosser Ausdruck"; er nennt 
die Atome „ hypothetisch" — wir kennen schon diesen Gebrauch 
resp. Missbrauch des Wortes bei Lange statt fiktiv; — unsere 
Naturerklärung setzt diskrete Massenteilchen voraus, welche sich 
in einem wenigstens vergleichsweise leeren Räume bewegen; in 
dieser Fassung seien, sagt Lange (II, 208), alle philosophischen 
Fragen nach der Konstitution der Materie nicht gelöst, sondern 
bei Seite geschoben. Nach den Grundsätzen der hypothetisch- 
deduktiven Methode (ib.) kann man mit Clausius und Maxwell 
sagen: wenn die Materie aus diskreten Massen besteht, so 
müssen diese folgende Eigenschaften haben. Wird nun die 
Folge, welche sich aus der Theorie ergibt, durch die Erfahrung 
bestätigt, so ist damit nach den Gesetzen der Logik noch 
keineswegs auch die Voraussetzung erwiesen. «Es bleibt 
ja, fugt Lange hinzu, noch immer die Möglichkeit, dass sich die 
gleichen Folgen auch aus ganz anderen Voraussetzungen ergeben." 
Vom kritischen Gesichts- und Standpunkt aus lautet aber die Be- 
trachtungsweise des Physikers so: die materiellen Phänomene 
können so betrachtet werden, als ob ihnen einfache Atome, die 
sich im leeren Räume bewegen, zu Grunde liegen würden. 
Daher drückt sich Lange am Schlüsse seines Abschnittes über 
Kraft und Stoff so aus: das ganze Problem laufe in ein Problem 
der Erkenntnistheorie aus, und für die Naturwissenschaft sei ein 
sicherer Boden nur in den Relationen, wobei immerhin gewisse 
Träger dieser Relationen, wie z, B. die Atome hypothetisch [besser 
fiktiv] eingeführt und wie wirkliche Dinge behandelt werden 
dürfen; vorausgesetit freilich, dass man aus diesen angeblichen 



§ 18, Die Atomistik als Fiktion. 



447 



»Realitäten* eben kein Dogma mache, und dass man die unge- 
lösten Probleme der Spekulation genau da stehen lasse, wo sie 
stehen, und als das, was sie sind, nämlich als »Probleme der 
Erkenntnistheorie". In diesen Worten ist deutlich genug die 
Fiktivität der Atome proklamiert 

Lange wirft (S. 211) dann noch die Frage auf, ob es nicht 
möglich wäre, die Notwendigkeit einer atomistischen Vorstellungs- 
weise (welche ihre Erfolge der Anschaulichkeit ihrer Annahmen 
verdanke), aus den Prinzipien der Kantischen Erkenntnistheorie 
zu deduzieren, trotzdem Kant selbst den Dynamismus gelehrt 
habe. Er deutet seine Meinung näher an, indem er sagt, die 
Wirkungsweise der Kategorie in ihrer Verschmelzung mit der 
Anschauung gehe stets auf Synthesis in einem abgeschlossenen, 
also in unserer Vorstellung von den unendlichen Fäden alles 
Zusammenhanges abgelösten Gegenstande; und mit einer echt 
kantischen Wendung fährt er fort, „wenn man die Atomistik unter 
diesen Gesichtspunkt bringe, so wurde die Isolierung der Massen- 
teilchen als eine notwendige physikalische Vorstellung erscheinen, 
deren Gültigkeit sich auf den gesamten Zusammenhang der Welt 
der Erscheinungen erstreckte, während sie aber doch nur der 
Reflex unserer Organisation wäre: das Atom wäre eine Schöpfung 
des Ich, aber gerade dadurch notwendige Grundlage aller Natur- 
wissenschaft**. Das Atom ist eine Schöpfung des Ich, in dem 
Sinne, dass diese Vorstellungsweise eine von uns zwar willkürlich, 
aber doch mit einer gewissen Notwendigkeit gemachte ist, dass 
sie eine zufällige Ansicht der Wirklichkeit ist; deduzieren könnte 
man die Atomistik nicht, aber man kann zeigen, dass sie wegen 
ihrer Anschaulichkeit und weil sie die Materie nach Analogie der 
getrennten Himmelskörper auffassen lässt, dem Denken grosse 
Dienste leistet, das durch diese Determination der Wirklichkeit 
das Unbestimmte, Unfassbare und Fliessende in ein Bestimmtes, 
Fassbares, Stehendes verwandelt; zur Rechtfertigung der Annahme 
der Atome genügt die Erleichterung, welche dem Denken durch 
diese Verwandlung eines Unbestimmten in eine erfahrungsmässig 
vertraute und bekannte anschauliche Vorstellung geleistet wird« 

Aber auch abgesehen davon liegt die Wendung, die Ato- 
mistik als eine Hilfsvorstellung zu betrachten, so sehr im Geiste 
des erkenntnistheoretischen Kritizismus, dass Lange mit Recht be- 
merkt, diese Wendung hätte, wenn sie auch einen grossen Schritt 
erfordert hätte, doch schon in der sensualistisch-relativistischen 



448 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



Philosophie des Protagoras eintreten können. Demokrit hatte 
keine Schüler; seine Atome ruhten bis auf Epikur; aber die sen- 
sualistische Philosophie hätte „das Atom als eine notwendige 
Vorstellungsweise für einen unbekannten Sachverhalt wieder 
einführen und damit der Naturforschung ihre Basis erhalten" sollen 
(Gesch, d. Mat. I, 44). 

Schliesslich dürfen wir das Votum eines Philosophen wie 
Liebmann nicht übergehen, 1 ) der in der Naturphilosophie be- 
wandert ist wie wenige, und der zugleich neben F. A. Lange einer 
der hauptsächlichsten Erneuerer des Kritizismus ist. Ihm ist das 
Atom ein Interimsbegriff, welcher seinen provisorischen Charakter 
offen zur Schau trägt; es hat ihm nur eine imaginäre Gedanken- 
existenz; es ist eine Rechenmarke der Theorie, eine zeitweilige 
Fiktion, ein recht brauchbarer Interimsbegrtft Vgl. oben S. 102. 
Auch aus der Fries'schen Schule können wir eine solche Stimme 
anführen. Hallier 2 ) verwirft zwar die Atomistik der Philosophen, 
nicht aber diejenige der Physiker. 

Eine ähnliche Auffassung vertritt auch Lasswitz in seiner 
Schrift; „Atomistik und Kritizismus" (1878). Lasswitz bestätigt aus- 
drücklich (S. 37) die oben angeführte Vermutung von F. A. Lange, 
dass sich die atomistische Vorstellungsweise aus den Prinzipien 
der Kantischen Erkenntnistheorie deduzieren lasse; er sucht ein- 
gehend und eindringlich zu zeigen, dass wir den Begriff des 
Atoms mit Notwendigkeit „erzeugen* 1 müssen: „das Atom ist so 
wenig ein Ding an sich wie der Raum und die Materie, aber so 
gut wie wir den Raum notwendig als dreifach ausgedehnt, die 
Materie als in demselben beweglich und undurchdringlich im Be- 
griffe erzeugen, ebenso notwendig erzeugen wir den Begriff von 
einem phänomenalen Gegenstande, welcher in all den wandel- 
baren Formen und Qualitäten der Körperwelt unteilbar, undurch- 
dringlich und unverändert bleibt, erzeugen wir den Begriff des 
Atoms als eines Grundbegriffs alles physikalischen Denkens*. 
So will Lasswitz die Atomistik „von ihrem gewohnten Boden des 
Dogmatismus ablösen" und „ihren Wert an den erkenntnistheo- 
retiscben Grundlehien des Kritizismus prüfen* (Vorwort); es er- 
gibt sich, dass die Natur unserer Sinnlichkeit, insofern sie als 
subjektiver Faktor die Gestaltung unserer Erfahrung mitbedingt, 

1) Zur Analysis der Wirklichkeit 295/6, 

2) Hallier, Die Weltanschauung des Naturforschers, 113. 147, 178. 



$ 18, Die Atomistik als Fiktion. 



449 



bei dem Streben nach wissenschaftlicher Orientierung in der Welt 
uns nötigt, zur theoretischen Grundlage der Physik eine kinetische 
Atomistik zu wählen 44 (ib.). Zum Aufbau einer wissenschaftlichen 
Physik „gibt es nur ein Mittel, die Atomistik* (36), aber sie ist 
eben auch nur Mittel und Gerüst (ib.). Diesen „kritischen Be- 
griff des Atoms" will Lasswitz entwickeln, 1 ) und in diesem Sinne 
überschreibt er einen eigenen Abschnitt: „Verteidigung des phäno- 
menalen Atoms". Das Atom gehört zu „denjenigen Grundbegriffen 
der Physik, die wir nach den Bedingungen unserer Synthesis, 
d. h. der notwendigen Vereinigung der Erfahrungen in unserem 
Bewusstsein bilden müssen, und welche darum als Grundlage 
jeder Physik anzusehen sind 44 (41), In diesem Sinne sagt nun 
Lasswitz ausdrücklich: „die Atome sind nicht mehr Gegenstand 
einer Hypothese von sehr grosser Wahrscheinlichkeit, sondern 
ein sicherer Besitz der Physik 14 — natürlich eben in dem Sinne 
eines notwendigen Hilfsbegriffes, einer Fiktion. Dieser Ausdruck 
fehlt bei Lasswitz, wie er ja so vielen Fachmännern und Philo- 
sophen fehlt — aber der Sache nach will Lasswitz sagen: die 
Atomistik ist keine Hypothese, sie ist mehr, und sie ist weniger, 
sie ist eine Fiktion! Mehr und weniger! Mehr — denn ein 
Hilfsbegriff ist sicherer als eine Hypothese und braucht nicht auf 
Verifikation aus der Erfahrung zu warten, die vielleicht doch nie- 
mals zu erreichen ist; seine Sicherheit beruht auf ganz anderer 
Basis, nicht auf Erwägungen der Wahrscheinlichkeit, sondern auf 
der Notwendigkeit der Anschaulichkeit der Vorstellungs weise und 
auf Erwägungen der Rechnungsergiebigkeit; weniger — denn 
eine Fiktion trifft nie die Wirklichkeit und will sie auch nicht 
treffen, ist überhaupt nicht mit dem Anspruch auf Objektivität 
ausgestattet, sondern sie ist ein Gebilde der subjektiven Notwendig- 
keit und Nützlichkeit. 

Viele, welche also die Schwierigkeiten oder vielmehr die 
Widersprüche der atomistischen Theorie erkennen, bedienen sich 
ihrer doch als eines Surrogates der Erklärung; die meisten Phy- 
siker und Chemiker unserer Zeit halten die Atome für proviso- 
rische Hilfsmittel der Veranschaulichung und Rechnung.*) So 

1) Nicht notwendig wäre es gewesen, dass Lasswitz nun diesen kritischen 
Begriff des Atoms als einen widerspruchsfreien nachweisen will. Wenn der 
Atombegriff nur „Mitte]* ist, schadet es ihm nichts, wenn er Widersprüche 
in sich birgt 

2) Vgl. Wundt, Über die Aufgabe der Philosophie in der Gegenwart S. 6, 

29 



450 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen, 



sagt Preyer: 1 ) »man mag den Begriff des Atoms fassen wie man 
will, immer bleibt er nicht etwa eine Hypothese, die man hoffen 
dürfte, dermaleinst zu beweisen, sondern eine Fiktion, die schon 
deshalb unbeweisbar ist, weil sie in jeder ihrer bisherigen Ge- 
stalten in unvermeidliche Widersprüche verwickelt. Nur darum 
hat sich der AtombegrifJ so lange erhalten und hält sich noch, 
weil wir kein besseres Aushilfsmittel besitzen, um zahlreiche Er- 
scheinungen in Zusammenhang zu bringen. Hierdurch allein 
fristet die Atomistik als ein Provisorium ihr Dasein. Die unge- 
heure heuristische und mnemotechnische Leistungsfähigkeit der 
Atomistik hat oft genug zu einer Verwechslung der Untersuchungs- 
mittel und Untersuchungsobjekte geführt und ihr eine Bewunderung 
eingetragen, welche sie nicht verdient". Ähnlich spricht sich derselbe 
in seinen Vorträgen über einige Grundprobleme der Naturwissen- 
schaft im Anschluss an Heimholte* bekannte Magnusrede aus. 

Die Atomistik dient besonders dazu, unsinnlichen Begriffen, 
z. B. dem der Kraft eine sinnliche Grundlage zu geben, und noch 
geheimnisvolle Vorgäqge, z. B. chemische Mischung, Kohäsion, 
Krystailisation u, s. w. in der Phantasie vorstellig zu machen, 
ohne dass bei dieser Verwendung aus dem subjektiv-methodo- 
logischen Hilfsmittel eine objekliv-metaphysische Realität gemacht 
würde. Man darf das Versinnlichungs- und Rechnungsmittel — 
so betrachten auch Faraday, Schönlein, Magnus, Dubois-Reymond, 
Fick die Atomistik — nicht als ein objektives Verfahren der Natur 
ansehen. 3 ) Viele Naturforscher sprechen von Atomen, ohne doch 
solche in eigentlicher Meinung anzunehmen; einige verwerfen 
sogar die Realität eines leeren Raumes und fahren doch fort, von 
Atomen zu sprechen, obgleich die Annahme des leeren Raumes 
das notwendige Korrelat der Atomistik ist: die Vorstellungsweise 
ist unleugbar die bequemste, was aber kein Beweis für ihre 
objektiv-metaphysische Gültigkeit ist. 

1) Über die Aufgabe der Naturwissenschaft. Jena. Fischer 1878. S. 7. 
Unkritischer Weise nennt derselbe einige Seiten (S. 17) weiter unten das Atom 
eine „Glaubenssache*, sagt dann aber wieder in einem Atem, es sei ein provi- 
sorisches Hilfsmittel. Es hat keinen Sinn auf solche Begriffe das Wort Glauben 
anzuwenden — identisch mit Hilfsvorstellungl Man kann wohl umgekehrt 
Glaubensvorstellungen, d.h. Begriffe des religiösen Glaubens, als fiktive Gebilde, 
ja sogar als bewusste Fiktionen erweisen, dagegen alle Hilfsbegriffe, wie z. ß. 
das Atom, als Glaubensache zu bezeichnen, muss auf Missverständnisse führen. 

2) Vgl. hierzu Harms, Abhandlungen zur systematischen Philosophie. 
1868. S, 2. 



§ 18. Die Atomistik als Fiktion. 



451 



Nach der neueren Auffassung der Physiker, z. B. Kirch- 
hoffs, werden alle Erscheinungen auf Kräfte und relative Kraft- 
wirkungen reduziert. Für den Physiker von Fach ist die Materie 
selbst gar nicht abhängig von der Annahme ausgedehnter kleinster 
Körperchen. Der Stoff bildet zu den Kräften ein an und für sich 
ganz leeres und nichtiges Subjekt, und es ist nur eine ungenaue 
Nachwirkung der an die Vorstellung ausgedehnter, getrennter 
Körper gewöhnten Anschauung, wenn man auch den elementaren 
Kräften Stoffe als Träger unterschiebt Aber aus diesem Grunde 
dient diese Vorstellungsweise zur Erleichterung der Theorie, nicht 
allein indem überhaupt Stoffteilchen als Träger dieser Kräfte, 
sondern auch indem sie als unendlich klein angesetzt werden. 
Jenes dient mehr zur Veranschaulichung des abstrakten Gedankens 
der Kraft, dies mehr zur Erleichterung der Rechnung. Aus diesem 
Grunde lässt man die Atome stehen, obwohl doch alles Seiende 
in den Kräften seinen adäquaten Ausdruck gefunden hat. Man 
schiebt diese Hilfsvorstellung ein und unter, weil sie zu unserer 
Bequemlichkeit dient. Es ist buchstäblich ejn hypostasiertes Nichts, 
mit dem wir es bei dem Atom zu tun haben; denn wenn alles 
in Kräfte aufgelöst und verdampft ist, wo bleibt da der Stoff? 
Und wenn die Atome als unendlich klein vorgestellt werden 
sollen, wie unterscheiden sie sich dann noch vom mathematischen 
Punkt, der doch auch nur ein hypostasiertes Nichts ist? 



§ 19. 

Fiktionen der mathematischen Physik.*) 

In der Physik, besonders der mathematischen, sowie in der 
Mechanik bedient man sich einer Anzahl von fiktiven Vorstellungs- 
gebilden, welche teils nur zweckdienlich, teils sogar unentbehrlich 
sind. So sind z.B. die Faraday'schen „Kraftlinien" ohne 
Masse und Trägheit als Mosse, zur Veranschaulichung dienende 
Hilfsvorstellungen zu betrachten. Maxwell bezeichnet diese 

*) Weitere Ausführungen zu Teil I, Kap. 16, 8. 105 ff.; (vgl auch Kap. £, 
8. 32 ff.). Vgl. oben 8. 357 ff. Die folgenden methodologischen Ausfuhrungen 
behalten als solche ihre Gültigkeit und ihren Wert, trotzdem die materiellen 
Grundlagen der Physik zum Teil andere geworden sind. 



452 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



Vorstellungsweise als einen „Symbolismus". 1 ) Die Kraftlinien, 
n welche sich selber nach allen Richtungen von elektrisierten und 
magnetisierten Körpern ausbreiten, und welche Faraday mit 
seinem geistigen Auge ebenso deutlich anschaute wie die festen 
Körper, von denen sie sich ausbreiteten" , sind ein vortreffliches 
Veranschaulichungsmittel für die eigentümlichen elektrischen und 
magnetischen Prozesse, können aber wohl kaum den Anspruch 
auf physische Realität machen. Sie dienen eben auch nur 
dazu, die Wirkung der magnetischen Kraft anschaulich darzu- 
stellen, und sie bieten zugleich der mathematischen Fassung und 
Messung eine bequeme Handhabe. Dieser Symbolismus diente 
dazu, die ganze Theorie des Elektromagnetismus in sinnlich-an- 
schaulicher Weise klar und leicht verständlich zu machen. Die 
Hypostasierung dieser geometrischen Kraftlinien zu physischen, 
d. h. realen Wesen kann dagegen wohl nur als eine methodolo- 
gische Verirrung bezeichnet werden,*) wenn auch Maxwell 8 ) in 
denselben mehr als rein mathematische Abstraktionen sehen will. 

Dass Maxwell abej mit dieser Interpretation den Intentionen 
Faradays, des Erfinders dieses Begriffs, widerspricht, dass er also 
den alten und häufigen Fehler begeht, eine Fiktion in eine Hypo- 
these, eine mathematische Hilfsvorstellung in eine physikalische 
Theorie zu verwandeln, dafür sind Faradays eigene Worte das 
beste Zeugnis. Die Linien der magnetischen Kraft der Gravi- 
tation, die Linien der elektrostatischen induktiven Kraft und die 
gekrümmten Kraftlinien sind nach seiner eigenen Erklärung nur 
imaginär. 4 ) Man solle mit diesen Ausdrücken keinen spezielleren 
Sinn verbinden; er ist überzeugt, damit nicht die reale Natur- 
wahrheit auszusprechen, trotzdem diese Vorstellungsweise schein- 
bar zutreffe und schön sei.*) Er wünscht die Bedeutung des 
Wortes Kraftlinie (Une of force) derartig einzuschränken, dass 
dasselbe nichts anderes als den Zustand der Kraft hinsichtlich 
ihrer Grösse und Richtung bezeichne, und nicht irgend eine Vor- 
stellung von der Beschaffenheit der physischen Ursache der Er- 



1) Hierüber Maxwell's Vortrag: On action at a distance. Proceedinos of 
tht "Royal Institution VII, I, 44 ff. Vgl. Zöllner, Wissenschaf tl. Abhandlungen, 
1878, I, 36. 

2) s. Zöllner, a. a. O. 39. 

3) ib. 43. 

4) Experimentaluntersuchungen § 1304, bei Zöllner a. a. O. 82. 

5) ib. 84. 



§ 19. Fiktionen der mathematischen Physik. 



453 



scheinungen involviere; wie z. B* die magnetische Kraft durch die 
Körper oder durch den Raum übertragen wird, wissen wir nicht. 1 ) 
Nach diesen Äusserungen Faradays ist Zöllner ohne Zweifel im 
Recht, wenn er die Maxwell'sche Interpretation dieser Kraftlinien 
als physischer Wesen als ein grobes Missverständnis zurückweist, 
und es ist kein Zweifel, dass Maxwell diese Vertauschung aus 
Mangel an methodologischer Einsicht in den Unterschied 
der Fiktion von der Hypothese begangen hat. Es liegt das 
um so klarer da, als Faraday in einem Brief an Tyndall (14, März 
1855) sich ganz unumwunden so äussert: Sie wissen es, dass ich 
die Kraftlinien nur als Repräsentanten (representations)*) der mag- 
netischen Kraft hingestellt habe und nicht zu wissen behaupte, 
welche physische Vorstellung sie später präzisieren oder worin 
sie sich selber auflösen werden. 8 ) Faraday Hess sich durch die 
grosse mathematische Nützlichkeit und Brauchbarkeit seiner neuen 
Vorstellung, welche zur analytischen Herleitung der physi- 
kalischen Erscheinungen ausserordentlich zweckdienlich war, 
keineswegs verleiten, in derselben mehr als eine „repräsentative 11 
Vorstellung zu sehen. Er wies die Missverständnisse schon seiner 
Zeitgenossen energisch zurück, so des holländischen Mathema- 
tikers Van Rees, der in dieser Vorstellung auch eine physikalische 
Hypothese zu finden schien, entgegen den deutlichen Erklärungen 
Faradays selbst. Es ist interessant damit zu vergleichen, was 
Kant 4 ) über die schon damals in einem speziellen Falle (in der 
Optik) gebrauchte Vorstellung von Kraftlinien sagt; er meint, sie 
führe „zu beschwerlichen Folgerungen • und „gebe zu Hypothesen 
Anlass, die gar wohl vermieden werden können 44 ; und er seiner- 
seits setzt an Stelle dieser Vorstell ungs weise die bekannten Ge- 
danken, dass eine Kraft (speziell die Gravitation) einer kontinuier- 
lich erfüllten Kuge! gleicht, wo dann die Grösse der Kraft im 
umgekehrten Verhältnis des Raumes steht, in welchen sie sich 
verbreitet. Allein Kant übersieht dabei, dass seine Vorstellungs- 
weise für die analytische Fassung der Kraftwirkungen keineswegs 
so brauchbar ist, als die Vorstellung der Kraftlinien, welche sich 
für die Differentialbetrachtung vortrefflich eignen. Aber diese 
mathematische Brauchbarkeit bietet noch keine Bürgschaft dar 

1) ib. 84. 

2) Vgl. die representative fictions bei Bain. Vgl. oben S. 284 u. 440. 

3) Phtlos. Magaz. 1855, IX, 254. Zöllner a. a. O. 85, 

4) s. bes. V, 373 (Ed. Rosenkranz und Schubert). 



454 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



für die physikalische Richtigkeit der Vorstellung, und man muss 
daher der naheliegenden Verführung widerstehen, aus der Fik- 
tion eine Hypothese zu machen. 

Ein Beispiel für die Labilität der fiktiven Vorstellungen 
haben wir bei der MaxwelPschen Interpretation der Faraday'schen 
Kraftlinien gesehen, Zöllner sagt hierzu richtig, 1 ) man sei sich 
anfangs noch bewusst gewesen, dass man nur mit mathema- 
tischen Analogien operiere, man habe aber dies im ferneren 
Verlaufe vergessen und sei nun bestrebt gewesen, jenen mathe- 
matischen Symbolen und rein formalen Analogien eine reale 
Bedeutung zu geben, und man habe irrtümlich geglaubt, dass 
auch Faraday an die Realität dieser Symbole glaube. In unserer 
Sprache, d. h. in der Sprache der Logik, heisst das also: man 
hat aus blossen Fiktionen Hypothesen gemacht, weil man sich 
des prinzipiellen Unterschiedes dieser beiden Gedankengebilde 
nicht bewusst war. 

Mit dieser Unterscheidung von Hypothese und Fiktion deckt 
sich auch die von Wilhelm Weber 9 ) gemachte Unterscheidung 
realer und idealer Hypothesen. „Alle unsere Hypothesen 
oder Vorstellungen von den Körpern finden immer nur innerhalb 
eines begrenzten Bereiches von Erscheinungen Geltung und unter- 
scheiden sich von einander durch die grössere Beschränkung oder 
Ausdehnung dieses Bereiches, Wir schreiben ihnen Realität zu, 
so lange wir keine Erscheinungen kennen, die ausserhalb des 
Bereiches, für welchen sie gelten, liegen; im entgegengesetzten 
Falle bezeichnen wir sie als ideal." Als Beispiel hierfür führt 
derselbe die Hypothese der von Arpinus, Ampfere und Gauss 
genauer bestimmten magnetischen Fluida an, „welche künftig 
{nämlich seit den von Faraday entdeckten diamagnetischen Er- 
scheinungen, welche das experitnentum enteis bilden zur Ent- 
scheidung zwischen der Theorie der Fluida und der der elek- 
trischen Molekularströme) in die Reihe der idealen Vorstellungen 
gesetzt werden müssen, 8 ) und diese behalten nach Weber noch 



1) Wissensch. Abhandl. I, 145. 

2) Elektrodynamische Massbestimmungen, insbesondere über Diamagne- 
tismus, Abhandl. d. Sachs. Ges. d. W. I, 560, Vgl. Zöllner, Prinzipien einer 
elektrodynamischen Theorie der Materie 1876. I, 91 und id. Wissenschaftliche 
Abhandlungen 1878. I, 45. 

3) Gauss nennt daher die Verteilung der magnetischen Fluida eine 
ideale; d. h. er betrachtet die Wirkungen, welche ein Magnet auf andere Körper 



§ 19, Fiktionen der mathematischen Physik. 



455 



die nämliche Wichtigkeit und Bedeutung, die sie bisher besassen, 
so oft man die Betrachtungen auf denjenigen Kreis beschränkt, 
für welchen sie gelten. Wenn nun auch der Ausdruck ^nämliche" 
irrig und zu stark ist (weil in mathematischem, statt in physi- 
kalischem Sinne gedacht), so geht doch aus der Weber'schen 
Ausführung so viel hervor, dass die Theorie der magnetischen 
Fluida als eine brauchbare Hilfsvorstellung gute Dienste 
leisten kann, obgleich sie durch jene entscheidenden Tatsachen 
als falsch erwiesen ist 1 ) Ähnlich verhält es sich mit der Max- 
well'schen Hypothese von der Existenz eines kontinuierlich im 
Räume verbreiteten Mediums, welches elektromagnetische Ströme 
fortzupflanzen imstande sein soll, und dessen Spannungen u. s, w. 
jene Kraftlinien sein sollen, von denen vorhin ausführlicher die 
Rede war. Die Maxwell'sche Kontinuitätshypothese ist nach 
Zöllner 9 ) nur als eine „symbolische* aufzufassen, welche, wie 
die Theorie der magnetischen Fluida, nur für ein gewisses ab- 
gegrenztes Gebiet von Erscheinungen seine Berechtigung hat 
Zöllner spricht dieser Hypothese «die Realität* ab; wenn er sie 
aber als eine symbolische und teilweise berechtigte anerkennt, 
so kann er damit methodologisch nichts Anderes meinen, als was 
wir Fiktion nennen, und was Weber als ideale Vorstellungen 
bezeichnet. Umgekehrt spricht MaxweJl der Theorie der Fern- 
wirkung die endgültige Richtigkeit ab, 8 ) will aber nicht leugnen, 
dass sie auch künftig als Leitfaden bei der übersichtlichen An- 
ordnung der Phänomene von Nutzen sein mag. Es ist interessant, 
zu beobachten, wie hier zwei Hypothesen sich gegenseitig als 
Fiktionen zu verdächtigen suchen; die Entscheidung hierüber kann 
selbstverständlich nicht Sache der Methodologie sein. 

Ein anderes lehrreiches Beispiel für den. Unterschied zwischen 
Hypothese und Fiktion sei in diesem Zusammenhang angeführt. 
Nach der von Recht weiter ausgebildeten Redtenbacher'schen 
Theorie der Materie werden reelle physische und fingierte, 

ausübt, so, als ob sie Wirkungen zweier magnetischer Fluida wären, weiche auf 
der Oberfläche des Körpers in bestimmter Weise verteilt gedacht werden müssen. 

1) Auch die Theorie „der elektrischen Molekutarströmungen im Innern 
der Körper* kann nach Weber eventuell bei weiterer Ausbildung der Wissen- 
schaft in die Reihe der „idealen* Vorstellungen versetzt werden, obgleich wir 
denselben jetzt, gleich wie dem in Wellen sich fortpflanzenden Lichtäther in 
der Optik, Realität zuschreiben (Zöllner a. a. 0. S. 45, 253). 

2) a. a. O. 46. 

3) Philosoph. Transactions 1865. 459 (bei Zöllner a. a, O, 53), 



456 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen, 



d.h. mathematische Eigenschaften der Körper unterschieden. In 
Bezug auf das Rechnungsresultat ist es einerlei, ob man die zu 
bewegende Masse als unveränderlich annimmt und dabei vor- 
aussetzt, dass sie gegen Ruhe und Bewegung indifferent sei; 
oder ob man sie als veränderlich, elastisch betrachtet, und dieser 
Veränderung die Wirkung zuschreibt, nach dem Erlöschen der 
Kraft den primitiven Zustand wieder herzustellen. Nach Redten- 
bacher ist das letztere in Wirklichkeit der Fall, das erstere kann 
aber zum Behuf der Rechnungsvereinfachung angenommen werden, 
so dass also hierbei von der vollen Wirklichkeit abstrahiert wird. 
Wenn die analytische Mechanik den Bewegungsobjekten ein sog. 
Beharrungsvermögen zuschreibt, dieses mit der Masse oder dem 
Inhalte wachsen lässt, und dasselbe als momentane Gegenwirkung 
gleichsam in Form einer negativen Kraft betrachtet, so ist dies 
nach der genannten Theorie nur eine Fiktion, weil nach ihr jene 
Erscheinung aus der durch die Einwirkung der Kraft erregten Elasti- 
zität entsteht und eine kontinuierliche, veränderliche Hemmung 
bildet Es ergibt sich daraus von selbst, dass in der analytischen 
Mechanik dann die gleichmässige Bewegung einer momentanen, 
in jener theoretischen dagegen einer konstanten, die beschleunigte 
in jener einer konstanten, in dieser einer kontinuierlich vermehrten 
Kraft zugeschrieben wird. So substituiert die analytische Mechanik 
hier zur Vereinfachung ihrer Rechnung der Wirklichkeit eine Vor- 
stellung, der die Wirklichkeit nicht entspricht: sie bedient 
sich also eines Kunstgriffes, 

Ein ingeniöser Kunstgriff des Denkens ist nun ferner die 
Durch schnittsfiktion (the fictitions mean nach der Bezeich- 
nung von Jevons: The principles of Science, an die wir uns im 
Folgenden anschliessend welche in mehrfacher Weise Verwen- 
dung 1 ) findet Sehr beliebt ist sie in der mathematischen Physik 
in Fällen, wo ein Bündel oder eine Reihe zusammengehöriger 

1) Auch in anderen Wissenschaftsgebieten wird von der Durchschnitts- 
fiktion Gebrauch gemacht» sobald es sich darum handelt» aus einer Menge 
graduell verschiedener Erscheinungen das Mittel zu nehmen und der weiteren 
Rechnung oder Betrachtung zu Grunde zu legen; z. B. in der Statistik, in der 
Meteorologie u. s, w., wo es von Wert ist, an Stelle der vielen um ein ideelles 
Zentrum schwankenden Grössen eine gemeinsame, für alle gültige zu nehmen, 
wird eine Mittelzahl konstruiert, mit der nun so gerechnet wird, als ob jedes 
der bezüglichen Phänomene derselben entspräche. Eine berühmte, hierher- 
gehörige Fiktion ist der „homme moyen u von Qu£telet, d.h. die Fiktion 
eines normalen Durchschnittsmenschen. Vgl. oben S. 34 t. 



§ 19. Fiktionen der mathematischen Physik. 



457 



Kräftebeziehungen in einem idealen Durchschnittspunkte vereinigt 
gedacht wird, um, wenn es die Umstände erfordern, mit jenem Zu- 
sammen auf einmal in die Rechnung einzutreten: da die Berück- 
sichtigung jeder einzelnen Beziehung eine komplizierte Berechnung 
abgeben würde, wird an die Stelle der vielen Einzelnen ein Ein- 
ziges gesetzt, in dem die Vielen verbunden gedacht werden* 

Es ist Archimedes, dem man die erste Anwendung dieser 
fiktiven Methode verdankt Er kam auf die ingeniöse Idee, in 
einem Körper einen Punkt zu konstruieren, in dem das Gewicht 
der sämtlichen Teile desselben konzentriert gedacht werden könne, 
sodass das Gewicht des ganzen Körpers exakt durch das Gewicht 
dieses Punktes repräsentiert wird. Das Gravi tälszentrum tritt so 
an die Stelle der Gewichte der unzählig vielen, unendlich kleinen 
Partikeln, deren jedes an einem besonderen Orte wirkt; um die 
durch letzteren Umstand bedingte ungemeine Komplexion der 
Rechnung zu vermeiden — denn das einfachste mechanische 
Problem löste sich sonst in eine unendliche Anzahl besonderer 
Probleme auf — wird eben jenes Gravitätszentrum fingiert, 
welches — ein Punkt — so gedacht und behandelt wird, als ob 
in ihm alle Kräfte der einzelnen Teile vereinigt wären. .Die 
Methode, dieses Zentrum aufzufinden, hat Archimedes gezeigt. 
So tritt an Stelle einer Kugel als Gravitätszentrum der unteilbare 
Mittelpunkt derselben, der also hier noch innerhalb des Gesamt- 
körpers gelegen ist. Allein schon beim Ringe ist dieses Gravitäts- 
zentrum vollständig imaginär, indem an Stelle der kreisförmig 
lozierten Kräftepunkte der in den leeren Zwischenraum fallende 
Mittelpunkt tritt. Dasselbe ist der Fall bei zwei oder mehreren 
Körpern, mögen diese verbunden oder getrennt sein; auch hier 
kann ein Punkt gefunden werden, der so behandelt werden kann, 
als ob in ihm die vereinigte Kraft der beiden Kräftebändel 
konzentriert wäre: so z. B. kann man ein gemeinschaftliches 
Gravitätszentrum der Erde und der Sonne fingieren, d. h. einen 
Punkt, welcher so betrachtet und in die Rechnung eingeführt 
werden kann, als ob an Stelle jener beiden Himmelskörper 
dieser Punkt als unteilbares Zentrum träte, welches nun genau 
dieselben Wirkungen etwa auf einen dritten Punkt ausüben würde, 
als jene beiden Körper faktisch ausüben. 1 ) 



1) Nach Jevons Angabe Hegt dieser Punkt noch innerhalb der Sonne 
267 (engl) Meilen von ihrem Mittelpunkt entfernt. 



458 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



Es Hegt auf der Hand, wie uns dieser Kunstgriff fn den 
Stand setzt, das Problem zu simplifizieren und die Kompliziert- 
heit zu vermeiden, ohne Fehler zu begehen. Selbstverständlich 
aber stellt dieser Durchschnittspunkt keine reale existierende 
Quantität mit Kräftebeziehungen vor; er ist nur ein fiktives Ge- 
bilde, das uns ermöglicht, an Stelle einer Menge verwirrender 
Details eine einfache Resultante zu setzen. 

Wie Jevons bemerkt, ist diese Fiktion des Gravitätszentrums 
nur ein Spezialfall der allgemeineren Vorstellung von Zentren 
parallelwirkender Kräfte, Wo Kräfte, welcher Art sie auch seien, 
in parallelen Linien wirken, lässt sich ein Punkt konstruieren, in 
dem die algebraische Summe jener Kräfte als genau mit dem- 
selben Effekt wirkend vereinigt vorgestellt werden können. Jevons 
führt hierfür als Beispiel noch das Druckzentrum an, d. h. den 
fiktiven Punkt, in dem Druckkräfte als vereinigt vorgestellt werden 
können. „Wasser in einer Zisterne drückt gegen die Seite mit 
einem Druck, der je nach der Tiefe wechselt, aber immer in einer 
zur Seite perpendikulären Richtung wirkt. Wir können den ganzen 
Druck als an Einem Punkte ausgeübt uns vorstellen, welcher vom 
Grund der Zisterne um */, entfernt ist.* Ebenso konstruiert man 
das Oszillationszentrum eines Pendels, in welchem Zentrum 
das ganze Gewicht des Pendels als konzentriert gedacht werden 
kann, ohne dass die Schwingungszeit sich ändert. Das Perkus- 
sionszentrum ist derjenige Punkt, in welchem die Masse eines 
einen anderen Körper stossenden Körpers konzentriert gedacht 
werden kann, ohne dass der Effekt des Stesses verändert würde. 
In der mathematischen Physik spricht man von Gyrations-, Kon- 
versions-, Friktionszentren u. s. w. 

Die Theorie dieser fiktiven Zentren führt jedoch auf die 
Schwierigkeit, dass streng richtige, unveränderliche Zentren nur 
bei absolut paralielwirkenden Kräften konstruiert werden können: 
dazu gehört aber die Gravitation strenggenommen nicht. Daraus 
folgt, dass diese Zentren nur approximativ richtig sind und nur 
mit Vorsicht auf reelle Verhältnisse angewandt werden können. 
Es gibt jedoch sogen, zentrobarische Formen, d, h. solche Körper, 
welche einander genau so anziehen, als ob (a* if, wie Jevons 
sich ausdrückt) ihre Masse in dem Gravitationszentrum vereinigt 
wäre. Schon Newton zeigte, dass gleichförmige materielle Kugeln 
diese Eigenschaft haben; ein Umstand, der sich ihm als von der 
^grössten Wichtigkeit für die Vereinfachung der Rechnungen ergab. 



§ 19. Fiktionen der mathematischen Physik. 



459 



Aber auch so ist diese ganze Vorstellungsweise nur fiktiv, 1 ) 
weil wir niemals einen absolut genauen kugelförmigen und homo- 
genen Körper finden oder machen können. Die kleinste Unregel- 
mässigkeit oder Störung der Homogeneität macht die strenge 
Korrektheit der Annahme hinfällig. 

Beim Sphäroid liegen die Dinge anders; bei ihm gibt es 
keinen unveränderlichen Punkt, in dem die Masse als konzen- 
triert gedacht werden kann; vielmehr wechselt der Punkt, in dem 
die Resultante der Massenkräfte wirkt, je nach der Entfernung und 
Stellung des anderen anziehenden Körpers. Nur dann fällt das 
Gravitationszentrum mit dem geometrischen bei ihm zusammen, 
wenn es sich dabei um einen unendlich entfernten Körper handelt, 
dessen Anziehungskräfte als in parallelen Linien wirkend gedacht 
werden können. 

Jevons rechnet hierher auch den Pol eines Magneten, den 
er das magnetische Kraftzentrum nennt: die Physiker, sagt er, 
sprechen familiarly von dem Pol eines Magneten, und der Ter- 
minus kann konventionell angewandt werden. Aber wenn wir 
eine wirkliche und bestimmte Bedeutung mit dem Terminus ver- 
binden, so ist der Pol nicht das Ende des Magneten, noch irgend 
ein fester Punkt in ihm, sondern der wechselnde Punkt, in dem 
die Resultante aller durch die einzelnen Partikeln in der ganzen 
Stange auf äussere Teile ausgeübten Kräfte als verbunden, konzen- 
triert gedacht werden können. 

Dieselbe Fiktion kann nach Fechner 1 ) noch zu einem anderen 
Zwecke dienen. Man kann den gewöhnlichen Ausdruck des Gravi- 
tationsgesetzes — von zwei Teilchen strebt sich ein jedes in der 
Richtung der Verbindungslinie nach dem anderen Teilchen hin 
zu bewegen — durch einen anderen Ausdruck ersetzen, nämlich 
man kann dafür auch sagen: Nicht die Kraft jedes Teilchens ist ' 
nach dem anderen Teilchen, sondern sie ist nach dem gemein- 
samen Schwerpunkt beider Teilchen gerichtet, als wenn dieser 
der sie gemeinsam anziehende Mittelpunkt wäre. Somit wird hier 
die bewegende anziehende Kraft als in einem imaginären Punkte 
sitzend gedacht. Diese fiktive Betrachtungsweise bat den weiteren 
Wert, dass nun jenes Gesetz auch auf eine Kombination von drei 
oder mehr Teilchen Übertragen werden kann; denn es ist nur der 

1) Jevons gebraucht statt dessen ungenauerweise den Terminus .hypo- 
thetisch*. 

2) Atomlehre S. 202. 



460 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



Ausdruck resp. die Betrachtungsweise verändert, im Fak- 
tischen kommt Beides auf dasselbe hinaus, da der Effekt beide- 
mal derselbe ist. Durch diese Wendung erhält nun Fechner die 
Möglichkeit, seinen genialen, u. A. von Neumann 1 ) als tiefbedeut- 
sam anerkannten Gedanken ternärer u. s. w. Kräfte anschaulich 
auszudrücken. Während man nämlich bisher nur binäre Kräfte 
annahm, d. h. solche, welche wie das Gravitationsgesetz durch 
zwei Elemente gegeben sind, glaubt Fechner den Gedanken fassen 
zu dürfen, dass auch durch das Zusammen von drei Teilchen 
(und mehr) eine neue Kraft gegeben sein könnte, welche nicht 
aus den binären Effekten zusammengesetzt sei, sondern welche 
zu diesen hinzukommt. Diese „Kraft dritter Stufen" soll durch 
das Zusammensein aller drei Massenpunkte gemeinschaftlich 
bestimmt sein. Um die Richtung dieser Kräfte aus den niederen 
Formen, also dem Gravitationsgesetz heraus zu finden, muss 
dieses verallgemeinert werden. Der gewöhnliche Ausdruck lässt 
sich aber nicht verallgemeinern, dagegen jener zweite, dafür sub- 
stituierte, der auf der Fiktion eines imaginären Schwerkraftpunktes 
beruht. Nunmehr lässt sich nämlich bei einer Kombination von 
drei, vier etc. Teilchen die durch das Zusammensein der Teilchen 
gemeinsam bestimmte neue, ternäre Kraft auch als überall gegen 
den Schwerpunkt der Kombination gerichtet vorstellen, als wenn 
die ganze anziehende Kraft des Systems von da ausginge. Diese 
Vorstellung, dass die Richtung der Kraft jedes Teilchens einer 
Kombination statt in bezug zu einem anderen Teilchen vielmehr 
in bezug zum gemeinsamen imaginären Schwerpunkt aller Teilchen 
der Kombination bestimmt ist, kann nach Fechner nur Schwierig- 
keiten für den haben, der die Kraft als etwas in den Teilchen 
besonders Sitzendes, auf andere Teilchen Hinüberwirkendes an- 
sieht, eine Schwierigkeit, die natürlich wegfalle, wenn man diese 
an sich unklare Vorstellung verlässt, um die Kraft vom Gesetzes- 
begriff (vgl. oben S. 419) abhängig zu machen. So richtig dies 
ist, so darf darüber doch nicht vergessen werden, dass die Aus* 
drucksweise Fechners, wonach »die Kräfte gegen den Schwer- 
punkt der Kombination gerichtet gedacht werden - , auf einer fik- 
tiven Hypostasierung dieses rein mathematischen Punktes beruht, 
dem doch Wieder nach Fechners eigenem Ausdruck anziehende 
oder abstossende Kraft zugeschrieben wird. 



1) Über die Prinzipien der GalUei-Newton'schen Theorie, S. 32. 



§ J9. Fiktionen der mathematischen Physik, 



461 



So katin man sich z. B. auch alle Atome eines Molekels in 
einem Punkte vereinigt denken, wie dies u, A. Fechner proponiert, 
um die mathematische Aufgabe zu vereinfachen» Er sagt: 1 ) 
«Wenn die Moleküle der sogen, einfachen Stoffe wie unteilbare 
Ganzen in chemische Verbindungen eingehen, so bleiben sie 
dabei unstreitig immer noch sehr entfernt im Verhältnis zu der 
Entfernung, welche die Atome jedes Molekels unter sich haben; 
und die Berechnung der Kräfte, unter deren Einfluss diese 
Prozesse stehen, wird also so stattfinden können, als wenn alle 
Atome jedes Molekels in einem Punkte vereinigt wären." So 
treten hier „Kollektivpunkte" an Stelle eines ganzen Punktverbands. 



Als eine eigentümliche und wertvolle Determination ist hier 
auch die Fiktion eines absolut festen Punktes zu erwähnen. 

Das empirische Wahrnehmen aller Veränderung und Be- 
wegung ist stets gebunden an empirische Beziehungspunkte, in 
bezug auf welche erst die Bewegung uns als Bewegung erscheinen 
kann; m. a. W. alle beobachtete Bewegung ist relativ, relativ zu 
uns, dem Vorstellungszentrum, relativ weiterhin 2um festen Hinter- 
grund, relativ etwa weiterhin zur (scheinbar) ruhenden Erde, zur 
Sonne — es sind das lauter Beziehungspunkte, welche wir der 
Reihe nach annehmen müssen ; der Mensch fängt mit sich selbst 
als Beziehungspunkt an und die Wissenschaft setzt immer andere 
Beziehungspunkte ein, weil die anfänglich angenommenen sich 
als illusorische erweisen, insofern sie selbst in Bewegung sich 
befinden. Um eine Bewegung definitiv, endgültig zu konstatieren, 
müssen wir einen absolut festen Punkt haben, in bezug auf 
welchen Geschwindigkeit und Richtung jener Bewegung gemessen 
werden kann. Da nun nach moderner Anschauung im ganzen 
Weltall kein solcher absolut starrer Körper gefunden werden 
kann, so befindet sich die Wissenschaft in einer eigentümlichen 
Schwierigkeit: auf der einen Seite beruht alle Wahrnehmung 
von Bewegung nur auf der vergleichenden Beziehung der ein- 
zelnen Wahrnehmungen; es kann keine Bewegung ohne solche 
Beziehung jemals wahrgenommen werden; auf der anderen 
Seite liegt es im Interesse der Wissenschaft, die Bewegung 



1) s. Über die physikalische und philosophische Atomenlehre. 2. Aufl. S,210. 



462 



Zweiter Teil: Spezielte Ausführungen, 



als eine absolute zu fassen; um sie aber als absolute fassen zu 
können, bedarf es wieder eines absolut festen Bezieh ungspunktes. 
Nun aber gibt es gar keinen solchen. 

Neu mann 1 ) hat das Verdienst, hierauf hingewiesen zu haben. 
Galilei und Newton formulieren ihre Gesetze so, dass sie eine 
absolute Bewegung — Galilei stillschweigend, Newton einge- 
standenermassen — voraussetzen. Das Galilei'sche Trägheitsgesetz 
— ein in Bewegung gesetzter materieller Punkt läuft, falls keine 
fremde Ursache auf ihn einwirkt, falls er vollständig sich selbst 
überlassen ist, in gerader Linie fort und legt in gleichen Zeiten 
gleiche Wegabschnitte zurück — kann nach Neumann als Aus» 
gangspunkt mathematischer Deduktionen unmöglich stehen bleiben; 
denn es ist völlig unverständlich, es ist ein Satz ohne Inhalt, ein 
in der Luft schwebender Satz und bedarf, um verständlich zu sein, 
noch eines bestimmten Hintergrundes, Denn man weiss ja nicht, 
was unter einer Bewegung in gerader Linie zu verstehen ist; man 
weiss sogar, dass diese Worte in sehr verschiedenartiger Weise 
interpretiert werden können, unendlich vieler Bedeutungen fähig 
sind. Denn eine Bewegung, welche mit Bezug auf einen Himmels- 
körper geradlinig ist, wird mit Bezug auf jeden anderen 
Himmelskörper krummlinig erscheinen. Also muss uns irgend 
ein spezieller Körper im Weltall gegeben sein, als Basis unserer 
Beurteilung, als derjenige Gegenstand, mit Bezug auf den alle 
Bewegungen zu taxieren sind — nur dann erst würden wir mit 
jenen Worten einen bestimmten Inhalt zu verbinden imstande 
sein. Es bedarf aber nicht einmal einer geradlinigen Bewegung, 
um diese Notwendigkeit eines starren Beziehungspunktes einzu- 
sehen. Schon ein nur rotierender, isolierter Körper setzt, weil für 
ihn trotz der Beziehungslosigkeit nach aussen ein Unterschied 
von Achsendrehung und Ruhe stattfindet, einen absoluten, starren 
Punkt voraus, auf dessen unbewegliches Achsensystem jene rota- 
torische Bewegung zu reduzieren ist. Selbstverständlich ist dasselbe 



1) Neumann, Über die Prinzipien der Galilei-Newton'schen Theorie, 
Leipzig 1870. Vgl. dazu Avenarius, Philosophie als Denken der Welt u.s.w. 
Leipzig 1876, S. 78 ff. Avenarius hat Neutnanns Fiktion des Körpers Alpha in 
Parallele gesetzt mit der Vorstellung der Substanz überhaupt, der er eben- 
falls nur (ohne aber diesen Ausdruck zu gebrauchen) fiktiven Wert zuschreibt. 
Diese Auslührungen sind sehr betehrend, doch hat Avenarius das Fiktions- 
problem weder mit voller logischer resp. methodologischer Klarheit, noch 
in seiner umfassenden Allgemeinheit erfasst. Vgl. oben S. 105, 308 u. o\ 



& 19. Fiktionen der mathematischen Physik. 



463 



aber auch bei jeder anderen, also fortschreitenden Bewegung 
eines isolierten Körpers der Fall, mag diese nun eine geradlinige 
sein oder nicht. 

Welcher Körper ist es nun, dem wir diese bevorzugte 
Stellung einräumen sollen? Bei Galilei und Newton erhält man 
hierauf keine Antwort. Sie setzten eben die absolute Bewegung 
voraus, ohne sich klar zu machen und ohne sich bewusst zu 
werden, dass diese Voraussetzung die Existenz eines solchen absolut 
festen Beziehungspunktes involviert. Diese notwendig involvierte 
Bedingung ist von Neumann zum erstenmal zum klaren Bewusst- 
sein erhoben worden, obgleich indessen schon Cartesius eine be- 
stimmte Hinweisung auf dieselbe gibt Deshalb stellt nun Neu- 
mann als erstes Prinzip der Galilei-Newton'schen Theorie den Satz 
auf, dass sämtliche, im Universum vorhandene oder überhaupt 
denkbare Bewegungen zu beziehen sind auf ein und denselben, 
absolut starren Körper, dessen Figur, Stellung und Dimensionen für 
alle Zeiten unveränderlich sind. Er nennt diesen Körper „den Körper 
Alpha*. Unter Bewegung eines Punktes ist nun nicht etwa seine 
Ortsveränderung in bezug auf Erde oder Sonne, sondern seine 
Ortsveränderung in bezug auf jenen Körper Alpha zu verstehen. 

Was ist nun durch diese Vorstellung erreicht? Die Bestim- 
mung der Geradlinigkeit in dem GalileFschen Gesetz hat da- 
durch erst einen deutlich erkennbaren Inhalt bekommen: die 
geradlinige Bewegung ist zu verstehen mit Bezug auf jenen 
Körper Alpha; mit anderen Worten ist dies dahin zu erläutern, 
dass nunmehr jede Bewegung als absolut gedacht werden kann. 
Der Charakter, das eigentlich Wesentliche der sogenannten ab- 
soluten Bewegung besteht eben darin, dass alle Ortsveränderungen 
bezogen werden auf ein und dasselbe Objekt und zwar auf ein 
Objekt, das, wie Neumann sich ausdrückt, räumlich ausgedehnt 
und unveränderlich, im Übrigen nicht näher angebbar ist. Nimmt 
man aber keine absolute Bewegung an, so fällt die ganze Galilei- 
Newton'sche Theorie; denn dann könnte man, da sich faktisch 
jeder Körper in der Welt in Bewegung befindet, jede Bewegung 
nur als eine relative Ortsveränderung zweier Punkte gegen- 
einander definieren, und dadurch würde man zu einer Theorie 
gelangen, welche von der Galilei-Newton'schen wesentlich ver- 
schieden ist, und deren Übereinstimmung mit den beobachteten 
Erscheinungen sehr zweifelhaft sein dürfte. Folglich ist die 
absolute Bewegung im absoluten Raum eine notwendige 



464 



Zweiter Teil: Spezielle Au*f«>i runden. 



Voraussetzung des Galilei'schen Trägheitsgesetzes. Um diese 
Vorstellung der absoluten Bewegung zu erleichtern, dazu dient 
der Körper Alpha. 

Der Gedankenprozess hierbei ist so merkwürdig, dass ein 
genaueres Eingehen auf denselben von Interesse erscheint. Es 
liegt, wie wir sahen, durchaus im Interesse der theoretischen 
Physik, die Bewegung als absolut zu denken. Ganz abgesehen 
von allen sich daran anknüpfenden metaphysischen und logischen 
Schwierigkeiten ist eine solche absolute Bewegung ein absolut 
notwendiges Postulat der Mechanik. Nun aber drängen andere 
Gründe dazu, jede Bewegung als eine relative zu fassen, d. h. 
so, dass das System der Koordinatenachsen, auf welches man sie 
bezieht, selbst wiederum auf ein anderes als fest gedachtes System 
bezogen und gegen dasselbe als in Bewegung befindlich gedacht 
wird, und so in infinitum. Denn was wir wirklich bei der Bewegung 
in unsere isoliert gedachte Wahrnehmung bekommen, ist nur die zu* 
nehmende Entfernung oder Annäherung zweier Körper von- oder zu- 
einander. Die Entscheidung aber, welcher von diesen zwei Massen- 
punkten sich bewegt, oder ob beide bei der Bewegung beteiligt sind, 
lässt sich ohne die Zuhilfenahme eines dritten Punktes, der als ruhend 
gilt, nicht treffen. Da nun aber die Ruhe dieses dritten Punktes 
wieder nach einem vierten Punkte, der als ruhend angenommen 
wird, zu bestimmen wäre, so liegt auf der Hand, dass dies zu einer 
Reihe ohne Ende führen müsste* Daraus folgt dann sofort, dass 
somit die Entscheidung, ob ein bestimmter Körper sich bewege 
oder ruhe, in der empirischen Welt eine Sache der Unmöglich- 
keit ist. Und doch kann es als eine apriorische Wahrheit gelten, 
dass von zwei Körpern, deren Entfernung von einander ab- oder 
zunimmt, einer von beiden oder beide sich bewegen müssen. 
Die Entscheidung hierüber im einzelnen Falle ist aber der empi- 
rischen Physik unmöglich. Das Interesse der theoretischen Physik 
und Mechanik liegt aber, wie wir sahen, darin, dass eine abso- 
lute Bewegung statuiert, und dass dieselbe als geradlinig be- 
stimmt werde. Dies schliesst aber die Zuhilfenahme eines empi- 
rischen Richtpunktes aus, da ja eben, wie bemerkt, derselbe keine 
absolute Bewegung verbürgen kann, und da ja mit ihm die Be- 
wegung eben keine absolute wäre, sondern eine relative. Nun 
aber kann doch der mathematische Physiker andererseits gar keine 
Bewegung in Formeln fassen, ja man kann sie sich sogar gar 
nicht vorstellig machen, ohne die stillschweigende Beziehung auf 



§ 19. Fiktionen der mathematischen Physik. 



465 



einen absoluten und unbeweglichen Richtpunkt, ohne die Voraus- 
setzung, dass der absolute Raum ein unbewegliches Koordinaten- 
system von drei Weltachsen sei. Um nun aber die Härte dieser 
Vorstellung zu mildern, — denn der leere Raum kann eben nur 
ganz bestimmungslos gedacht werden, als eine Ausdehnung ohne 
feste Achsen, ohne bestimmte Dimensionen; wo und wie in aller 
Welt soll man hier feste und unveränderliche Weltachsen 
anbringen? — werden diese Weltachsen nun doch an einen 
bestimmten festen Punkt angeknüpft Aber man hat ja keinen! 
— Nun, hat man keinen, so macht man einen, nämlich in der 
Vorstellung, und darin besteht der Kunstgriff, darin besteht die 
merkwürdige Wendung des Mechanikers. 

Ein empirischer Punkt, der diesen oben dargestellten Er- 
fordernissen entspricht, lässt sich nimmermehr finden. Also 
fingiert man einen ideellen Punkt, der dieselben Dienste 
leistet. So allein versteht auch Neumann seinen Körper Alpha. 
Er wirft sich 1 ) selbst die Frage auf, ob jener Körper denn eine 
wirkliche, konkrete Existenz besitze gleich der Erde, der Sonne, 
und den übrigen Himmelskörpern? — 

Die Antwort, welche er hierauf gibt, ist methodologisch so 
interessant, dass wir sie in ährer ganzen Ausdehnung hierher 
setzen : 

„Treten, sagt er, bei einer rein mathematischen Untersuchung 
gleichzeitig verschiedene Variable auf, und soll der Zusammen- 
hang zwischen diesen Variablen in übersichtlicher Weise zur 
Anschauung gebracht werden, so ist es häufig zweckmässig 
oder selbst notwendig, eine intermediäre Variable einzu- 
führen, und sodann den Zusammenhang anzugeben, in welchem 
jede der gegebenen Variabein zu dieser intermediären Grösse 
steht. — Ähnliches zeigt sich uns in den physikalischen Theorien. 
Um den Zusammenhang zwischen verschiedenen Phänomenen, 
die sich gleichzeitig darbieten, zu übersehen, dient häufig die 
Einführung eines nur gedachten Vorganges, eines nur gedachten 
Stoffes, weicher gewissermassen ein intermediäres Prinzip, einen 
Zentralpunkt repräsentiert, um von ihm aus in verschiedenen Rich- 
tungen zu den einzelnen Phänomenen zu gelangen. In solcher 
Weise werden die einzelnen Phänomene mit einander verbunden, 
indem jedes derselben in Verbindung gesetzt wird mit jenem 



1) a. a. 0, 20 ff. 

ao 



466 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen 



Zentralpunkt Eine derartige Rolle spielt der Lichtäther in der 
Theorie der optischen Erscheinungen, und das elektrische Fluidum 
in der Theorie der elektrischen Erscheinungen; und eine ähnliche 
Rolle spielt auch jener Körper Alpha in der allgemeinen Theorie 
der Bewegung/ 

Diese interessante methodologische Analogie wird von Neu- 
mann noch dahin fortgesetzt, dass er bemerkt: „Ebenso ferner, 
wie die in einer gegebenen Substanz enthaltenen elektrischen 
Fluida ihrer Quantität nach unbestimmt sind, nämlich (unbe- 
schadet der Theorie) ungleich viel vermehrt oder vermindert 
werden können, 1 ) ebenso haftet auch jenem Körper Alpha eine 
gewisse Unbestimmtheit an. Denn ohne Beeinträchtigung der 
Gaiilei-Newton'schen Theorie kann derselbe ersetzt werden durch 
irgend einen anderen Körper Alpha, falls nur diesem letzteren 
eine progressive Bewegung zuerkannt wird, die mit Bezug auf 
den ersteren geradlinig und von konstanter Geschwindigkeit ist 
— Ebenso endlich, wie die gegenwärtige Theorie der elektrischen 
Erscheinungen vielleicht dereinst durch eine andere Theorie 
ersetzt, und die Vorstellung des elektrischen Fluidums beseitigt 
werden könnte, ebenso ist es wohl auch kein Ding der absoluten 
Unmöglichkeit, dass die Galilei -NewtorVsche Theorie dereinst 
durch eine andere Theorie, durch ein anderes Bild verdrängt, 
und jener Körper Alpha überflüssig gemacht werde/ — 



1) Der Grund hiervon, den Neumann nicht angibt, ist einfach der, weil 
es nur au! das Verhältnis der Fluida in mehreren Körpern ankommt, nicht 
auf ihr absolutes Quantum. Es ist ähnlich mit der Materie als dem suppo- 
nierten Kräfteträger überhaupt, wie hier speziell mit dem elektrischen Fluidum 
als dem fiktiven Träger der elektrischen KräHewirkungen, Auch die Materie 
überhaupt ist eine solche intermediäre Fiktion, bei der es nicht auf die Be- 
stimmung eines absoluten Quantums, sondern auf das Verhältnis der (angeb- 
lichen) Materiemengen in verschiedenen Körpern ankommt; denn der Begriff 
der relativen Quantität der Materie ist von der Vorstellung ganz unabhängig, 
weiche man sich von der Materie selbst macht; denn man kann, wie Dühring 
(Kritische Geschichte der allg. Prinzipien der Mechanik, S. 201) ganz richtig 
bemerkt, dasselbe Etwas noch einmal und überhaupt vervielfältigt und gehäuft 
(oder vermindert) denken und auf diese Weise es selbst samt seinen Konse- 
quenzen multiplizieren (oder dividieren), ohne sich um die genauere Ver- 
fassung dieses Etwas zu kümmern. Offenbar ist aber auch dasselbe der Fall, 
wenn dieses Etwas nur ein fingiertes Prinzip ist, welches als Hilfsvorstellung 
dient Nur das Verhältnis ist unabänderlich bestimmt, aber die elementaren 
Faktoren können ganz beliebig und willkürlich angenommen werden. Das ist 
eben ein Symptom der Fiklivität 



§ 19. Fiktionen der mathematischen Physik. 



467 



Diese Auseinandersetzungen sind so klar und durchsichtig, 
dass es keiner Erläuterung derselben bedarf. Nur dies ist hinzu- 
zusetzen, dass dennoch jener Körper Alpha nicht eine Hypothese 
ist, sondern eine zweckmässige und selbst notwendige Fiktion, 
m. a. W.: er ist ein modus cogitandi, eine Hilfsfunktion des Denkens, 
durch welche es ermöglicht wird, eine nicht-relative Bewegung, 
obgleich uns eine solche niemals in der Erfahrung gegeben ist, 
zu wissenschaftlichen Zwecken zu denken, „Das stillschweigende 
Koordinatensystem, welches der Vorstellung jeglicher Bewegung 
unwillkürlich zu Grunde liegen muss, hat hierdurch einen be- 
wussten rationellen Ausdruck erhalten. Der Begriff der Bewegung 
selbst ist erst durch die Beziehung auf drei als absolut fest ge- 
dachte Achsen ausser Zweifel gestellt, d. h. er kann für dieMathematik 
und Mechanik nicht mehr zweideutig sein, sobald die Lagever- 
änderung gegen diese in Gedanken fixierten Achsen sein Merk- 
mal und auch seinen Inhalt bildet." l ) Aber diese Achsen und ihr 
Schnittpunkt, jener Körper Alpha, sind schlechterdings nur fingiert, 
und es würde eine sonderbare Vorstellung vom Wesen der letzten 
Prinzipien der mechanischen Welt verraten, darin mehr, also 
Hypothesen zu erblicken. 

Es ist daher keine richtige Wendung, etwa den Ort dieses 
Körpers Alpha eben nur als unbekannt und unbestimmt, im 
Übrigen ihn selbst aber als wirklich oder möglich zu fassen. Es 
würde das, wie schon bemerkt, zu der Vorstellung führen, der 
absolute leere Raum sei nicht völlig bestimmungslos, d. h. mit 
anderen Worten, er sei weder absolut noch leer. Wenn dieser 
absolute Raum mit seinem absoluten Achsenpunkt für die Empirie 
unerreichbar ist — denn man mag in dem empirischen Regress 
zurückgehen, so weit man will, man wird nie auf einen letzten 
und fundamentalen Raum mit festem unbeweglichem Achsensystem 
stossen — so ist er nicht etwa eine für die Theorie notwendige 
Hypothese, d. h. die Existenz eines solchen Körpers Alpha oder 
eines ihm entsprechenden festen Achsenpunktes ist nicht eine 
Vorstellung, welche auf ein real entsprechendes Sein hindeutet, 
— diese Meinung scheint mir vom methodologischen Gesichts- 
punkte aus unhaltbar — sondern er ist und bleibt eine notwen- 
dige und fruchtbare Hilfsvorstellung, wie dies auch Neumann 



1) Dühring, Kritische Geschichte der allgemeinen Prinzipien der Mecha- 
nik, S. 219. 

30* 



468 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



mit exakter Schärfe ausdrückt Wenn Lieb mann sagt, 1 ) dass 
der Verstand schon durch konkrete Tatsachen und weiterhin durch 
die Axiome der rationalen Theorie über diese Unbestimmtheit 
hinausgedrängt wird zur Antizipation eines uns unbekannten und 
unerreichbaren fundamentalen Raumsystems, auf welches sich alle 
mechanischen Prozesse im empirischen Weltall zurückbeziehen; 
wenn er fortfährt, dass wir diesen absoluten Raum, mit Bezug auf 
welchen absolute Bewegung existiert, nach Analogie unserer 
empirischen Raumvorstellung denken als eine ebene, drei- 
fach ausgedehnte und kontinuierliche Mannigfaltigkeit; wenn er 
damit schliesst, dass wir in diesem absoluten Raum uns Natur- 
kräfte denken u. s, w>, so wird diese Erklärung, welche man 
dahin zu deuten versucht sein möchte, Liebmann sehe in jenem 
absolut festen Achsensystem des Raumes eine Hypothese, und also 
sei ihm der Körper Alpha ein hypothetisches Gebilde, durch die 
weiteren Zusätze dahin erläutert, dass auch ihm diese Vorstellung 
nur als eine provisorische und fiktive erscheint So wenigstens 
scheint mir der Schlusspassus auszulegen zu sein, worin es heisst, 
dass in der Unvermeidlichkeit der drei anschaulichen Grundvor- 
stellungen, d.h. in dem Umstand, dass wir den sinnlich wahrnehmbaren 
Erscheinungen den absoluten Raum, die absolute Zeit und die ab- 
solute Bewegung zu suppeditieren 2 ) uns gedrungen fühlen, sich 
ihre transzendentale Bedeutung, d, h. ihr solidarisches Verwachsensein 
mit der eigentümlichen Organisation unserer intuitiven Intelligenz 
offenbare. Die auf das Gebiet der Tatsächlichkeit sich beschrän- 
kende Physik habe daher vollkommen das Recht, alle drei als 
absolut zu betrachten. Aber aus der transzendentalen Geltung 
folge bekanntlich keineswegs transzendente Realität Aus 
der Unumgänglichkeit jener drei Grundvorstellungen für jede uns 
gleichartige Intelligenz nun darauf schliessen zu wollen, dass sie 
getreue, kongruente, homogene Gegenbilder ihrer metaphysischen 
Korrelate seien, dies wäre eine dogmatische Kompetenzüber- 
schreitung der spekulierenden Vernunft — Wenn wir diese Er- 
klärung aus der Sprache des Kritizismus in die gewöhnliche 
übersetzen, so kann dies nur heissen, dass die Annahme eines 
absoluten Raumes in physikalisch-mechanischem Sinne, also eines 

1) Liebmann, Zur Analysis der Wirklichkeit, 1876, bes. S. 96 ff. „Ober 
relative und absolute Bewegung". 

2) Das kann doch nach dem allgemeinen Sprachgebrauch nur heissen, 
„als Hilfsvorstellung unterschieben" 



g 19. Fiktionen der mathematischen Physik. 



469 



festen Weltachsen punktes eine der Physik erlaubte und notwendige 
Fiktion sei (= Annahme mit transzendentaler Geltung in Kan- 
tiscber Terminologie), dass sie aber für die kritische definitive 
Betrachtung keineswegs als eine auf reale, objektive Geltung 
Anspruch machende Hypothese (= Annahme transzendenter 
Realität) gelten könne. 

Es ist somit eine eigentümliche determinierende Fiktion, mit 
welcher wir es bei diesem Gebilde zu tun haben. Es ist ein 
Zusatz zur Wirklichkeit, ein Einschiebsel, das die Vorstellungs- 
bewegung, die Bestimmung der Begriffe erleichtern soll. Bei der 
definitiven Betrachtung der Wirklichkeit muss daher dieses Ein- 
schiebsel wieder herausfallen, wieder eliminiert werden; sobald 
die Anknüpfung und Vermittlung geschehen ist, um derentwillen 
die Fiktion gebildet und eingeschoben wurde, so verliert diese damit 
auch ihre Bedeutung und fällt daher aus dem Schlussergebnis 
der Rechnung heraus. In der empirischen Physik ist somit von 
diesem Körper Alpha auch gar keine Rede mehr, der wegfällt, 
sobald die mathematischen Formeln gefunden und angewandt 
sind. So dienen auch andere Hilfsvorstellungen der Mechanik 
und Physik eben nur zur Veranschaulichung und zur Anknüpfung 
der Rechnung, und das Intermediäre fällt weg, nachdem die Ver- 
mittlung zustande gekommen ist. Diese Zwischenhändler werden 
bei der definitiven Feststellung der Wirklichkeitsbeziehungen nicht 
zu Rate gezogen und aus den engeren und eigentlichen Prin- 
zipien wie provisorische Hilfspersonen ausgeschlossen. 



Anhangsweise und zugleich als Übergang zum Folgenden 
sei hier noch eine Reihe willkürlicher Bestimmungen angeführt, 
durch welche die Wirklichkeit in eigentümlicher Weise den Zwecken 
der Wissenschaft dienstbar gemacht wird — Fälle, welche zwar 
nicht so fundamental wichtig sind, wie die vorigen, welche aber 
doch sehr geeignet sind, um die willkürliche, in die Wirklichkeit 
souverain hineingreifende und sie nach der eigenen Einbildung 
umgestaltende Art des Denkens zu illustrieren. Auch dadurch 
entstehen Fiktionen eigener Art. In der Natur finden wir überall 
fliessende Übergänge; und eine Menge exakter Bestimmungen des 
Wirklichen wäre uns unmöglich gemacht, wenn wir uns nicht 
durch ganz willkürliche Anhaltspunkte die Möglichkeit verschafften, 
mit Zugrundelegung derselben das Wirkliche rechnungsmässig 



470 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



genau zu bestimmen. So wäre es z. B. an sich ganz unmöglich, 
auf unserer Erdkugel einen Ort so genau zu fixieren, dass wir 
ihn selbst wieder auffinden, und dass auch andere ihn eindeutig 
und zweifellos noch finden könnten, wenn wir nicht dieselbe, 
wie auch die sogen, Himmelskugel, mit einem ganz willkürlichen 
Netze von Breite- und Längegraden umspinnen würden, Insbe- 
sondere wäre es unmöglich, einen Punkt auf der Erdoberfläche 
mit absoluter Eindeutigkeit zu fixieren, wenn wir nicht auf rein 
konventionelle Weise einen Meridian, den von Ferro, zum Aus- 
gangspunkt aller Bestimmungen angenommen hätten. Indem wir 
sagen, der Punkt A liege 20° östlich oder 35° westlich vom 
Meridian von Ferro, behandeln wir diesen letzteren wie eine 
von der Natur selbst gegebene Grundlage, während doch in 
Wirklichkeit diese Annahme eine ganz beliebige und willkürliche 
Determination ist» So fixieren wir also durch reine Konvention 
einen Anhaltspunkt, um von ihm aus nach verschiedenen Seiten 
hin Koordinaten zur Bestimmung und Einreihung der Erschei- 
nungen zu ziehen. Die Anfangs- und Ausgangspunkte des 
mathematischen Koordinatensystems sind ganz willkürlich fixiert, 
und die Aufstellung solcher Normalpunkte, auf welche die Er- 
scheinungen bezogen werden, ist Sache einer determinativ fin- 
gierenden Tätigkeit, weil in der Wirklichkeit sich solche Punkte 
gar nicht finden. So ist es auch, um ein weiteres Beispiel an- 
zuführen, mit der Bestimmung eines Punktes als Nullpunktes auf 
irgend einer Skala, z. B. auf der Temperaturskala, so auch mit der 
Fixierung des Wassers als Massstabes des spezifischen Gewichtes, 
so bei einer Menge räumlicher und zeitlicher Bestimmungen; der 
Anfang des Jahres, der Ausgangspunkt einer Zeitrechnung, der 
Gebrauch der Himmelsbewegungen als Index der Zeit — das 
sind Beispiele für solche willkürlichen Bestimmungen, die wir aus 
Ordnungsbedürfnis treffen. Zur Markierung und Artikulierung des 
im beständigem Flusse befindlichen und in ununterbrochenem 
raumzeitlichen Konnex stehenden Wirklichen, zur exakten Gliede- 
rung des Realen, zur Vermeidung vager Angaben treffen wir unter 
den Elementen der Wirklichkeit eine willkürliche Auswahl, und 
ziehen Striche und Grenzen, wo keine sind. Obgleich diese Art 
der imaginativen Tätigkeit am wenigsten der Verwechselung mit 
objektiven Seinsbestimmungen ausgesetzt ist, so ist es doch gut, 
sich beständig vor Augen zu halten, wie wenig in unserer 
Auffassung der Erscheinungen der reinen und unverfälschten 



§ 19. Fiktionen der mathematischen Physik. 



471 



Wirklichkeit angehört, wie viel von uns zu unserer subjektiven 
Orientierung und Bequemlichkeit eingeschoben ist. Das Arbiträre 
bei diesen Bestimmungen zeigt sich ja darin, dass wir jene An- 
fangspunkte ganz verschieden ansetzen können, nur dass wir einen 
einmal gewählten beibehalten und ganz durchführen müssen; ich 
erinnere nur an die verschiedenen Thermometersysteme oder an 
die verschiedenen Längen- und Gewichtsmasse. Überall dienen 
solche fixen Punkte dazu, da relative Unterschiede zu markieren, 
wo in der Wirklichkeit keine absoluten gegeben sind; wir legen 
ganz willkürliche Einheiten unseren Massbestimmungen und Ver- 
gleichungen und Einteilungen zu Grunde, um das wenigstens 
beziehungsweise fixieren zu können, bei dem uns eine abso- 
lute Abgrenzung gar nicht möglich ist, weil es in der Wirklich- 
keit keine gibt Aus diesen Determinationen erwachsen ganze 
Systeme von Massbestimmungen und komparativen Relationen, 
ganze Netze von Bestimmungslinien, die bei der rein objektiven 
Betrachtung der Dinge zu eliminieren, dem Forscher hingegen 
unentbehrlich sind, und auf deren exakter Anwendung und Aus- 
bildung die Sicherheit und Zuverlässigkeit unserer modernen 
Wissenschaften beruhen. Wie die Münzen konventionelle Mass- 
stäbe aller Wertbestimmungen sind, ohne welche ein ergiebiger 
Handelsverkehr nicht möglich ist, so konnte die Wissenschaft 
einen wirklichen Anfang nur da nehmen, als man sich nicht da- 
mit begnügte, die Wirklichkeit, so wie sie sich uns gibt, hinzu- 
nehmen, sondern sie durch Einführung und Einschiebung solcher 
willkürlichen Bestimmungen der vergleichenden Betrachtung zu 
unterwerfen. 



§ 20. 

Die Fiktion des reinen, absoluten Raumes.*) 

Von der falschen Annahme, dass die Mathematik in einem 
anderen Sinne 1 ) a priori verfahren könne, als jede andere Wissen- 
schaft, und dass in ihr Alles aus dem Geiste selbst hervorgezaubert 

V Weitere Ausführungen zu Teil I, Kap, 10, S. Tlff.; Kap. 16, & 108. 

i) Das apriorische und deduktive Verfahren derMathematik unterscheidet 
sich nicht dem Wesen, der Qualität, sondern der Quantität, dem Grade 
nach von dem in den übrigen Wissenschaften möglichen deduktiven Verfahren 



472 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



werde, hängt unmittelbar eine verkehrte Anschauung über die 
logische Bedeutung der Raumvorstellung ab. Die Frage ist: 
Was ist der Raum, seinem logischen Werte nach betrachtet? 
Welchen logischen Rang nimmt der mathematische Raum ein? 1 ) 
Er ist die Voraussetzung der Mathematik. Aber „Voraussetzung* 
ist ein zweideutiges Wort, das keinen bestimmten logischen 
Wert ausdrückt „Voraussetzung* kann sein so viel als etwas 
empirisch Gegebenes, auf dem die Mathematik als Erstem 
fusst; es kann aber auch heissen, der Raum sei eine Hypo- 
these, ohne welche die Mathematik nicht bestehen könne. Ohne 
Zweifel ist der mathematische Raum eine notwendige Voraus- 
setzung, aber weder in jenem noch in diesem Sinne. Dass der 
Raum im mathematischen Sinne, d.h. eine reine Ausdehnung 
nach drei Dimensionen — dass diese Vorstellung nicht etwas 
empirisch Gegebenes, also kein Faktum sei, ist unschwer zu 
erweisen. Empirisch sind uns immer nur einzelne Körper ge- 
geben, welche die fundamentale Eigenschaft der Ausgedehntheit 
besitzen, niemals aber der allgemeine und reine Raum- Freilich 
der Umstand, dass sich die Gegenstände von einem einfarbigen 
(meist helleren, aber auch oft dunklen) Hintergrund abheben, 
sowie die Durchsichtigkeit und Farblosigkeit der Luft geben den 
Anschein, als ob die Einzeldinge in einem gleichsam wahrnehm* 
baren leeren Raum sich befänden. Dieser eigentümliche Umstand 
hat ohne Zweifel die Losreissung der unabhängigen, absoluten 
Raumvorstellung sehr begünstigt; allein er kann nicht dahin aus- 
gebeutet werden, dass der mathematische Raum ein empirisch 
Gegebenes sei. Es ist darum auch noch niemand eingefallen, 
dies im Ernste zu behaupten. Den logischen Wert einer Er- 
fahrung hat also die mathematische Raumvorstellune nicht. 
Dann also vielleicht den einer Hypothese; allein damit gelangen 
wir auf noch grössere Schwierigkeiten. Wie kann eine Vor* 
Stellung, welche so absurd, so widerspruchsvoll ist, auf den Rang 
einer Hypothese Anspruch machen? Der mathematische Raum 
ist ein Etwas, welches ein Nichts ist, ein Nichts, welches ein 
Etwas ist Die Widersprüche, welche in dem Begriff des leeren, 
des mathematischen Raumes liegen, sind ja bekannt. Ein leerer 
Raum wäre ein Neben- und Aussereinander, in welchem nichts 

1) Es handelt sich also hierbei nicht in erster Linie um die 
psychologische Frage und auch nicht um die erkenntnistheoretische 
Frage, sondern vielmehr um ein rein logisches Problem. 



§ 20. Die Fiktion des reinen, absoluten Raumes. 



473 



neben- und auseinander ist Ist der Raum das Verhältnis der 
Koexistenz von realen Dingen, so kann er eben ohne diese selbst 
nichts sein, er fällt mit diesen selbst hinweg. Da aber das Haupt- 
erfordernis einer brauchbaren Hypothese ihre Widerspruchslosigkeit 
ist, so kann eine so widerspruchsvolle Vorstellung wie die des 
absoluten , leeren, mathematischen Raumes keine Hypothese sein. 
Und eben diese widerspruchsvolle Beschaffenheit gestattet nun 
auch nicht, uns ohne Weiteres mit der beliebten Wendung der 
Mathematiker, diese und ähnliche Begriffe seien »Postulates zu 
begnügen; denn letzterer Begriff ist selbst unklar und unbestimmt. 
Wir müssen vielmehr die scharfe, die peinliche Frage stellen: 
Welche logische Stellung kann die Raumvorstellung demnach noch 
einnehmen? 

Leibniz, der bei den meisten mathematisch-philosophischen 
Problemen mit Erfolg zu Rate gezogen wird, gibt uns einen 
Fingerzeig, wie wir in logischer Hinsicht die Vorstellung des 
absoluten Raumes rangieren müssen. Der Raum, das reine ab- 
solute Ausgedehnte, ist ihm „rein*, insofern bei dieser Vorstellung 
abgesehen wird von Materie und Veränderung; er ist ihm „ab- 
solut", insofern er unbeschränkt 1 ) und alle Ausdehnung umfassend 
ist (Baumann, die Lehren von Raum, Zeit und Mathematik in 
der neueren Philosophie, 1869, II, S. 29). Während Leibniz den 
Raum oder das corpus mathematicwn, „das nichts Anderes ent- 
hält als die drei Dimensionen und der allgemeine Ort aller Dinge 
ist*, in früherer Zeit für eine Substanz, das ens primo-extensum 
(das primär ausgedehnte Wesen) erklärt (Baumann, a. a. 0. II, 1> 
2, 4), während er es dann späterhin dahingestellt sein lässt, „ob 
der von der Materie unterschiedene Raum ein Ding ist oder bloss 
eine konstante Erscheinung* (ib. 29), bestimmt er zuletzt in immer 
wiederkehrender Weise den Raum als ein „Abstraktum", als eine 
„Imagination"; während er anfänglich nur die jfigura, magnitudo, 
siius, numerus* für habitudines a mente sitperveniente faclae hielt 
(Erdm. 53). Die Ausdehnung ist „eine Modifikation der Materie 0 
(Baum. 79). Er belobt die Scholastiker, weil sie den Raum ohne 
Dinge „imaginär" genannt haben, wie die Zahl ohne gezählte 
Dinge. Die Ausdehnung des Raumes fällt mit der Ausdehnung 
des Körpers zusammen. Der Raum ist ein ideales Ding, wie 



1) Über den Zusammenhang von „absolut 0 und „unendlich*, vgl. Leibniz. 
Nouveaux Essais Ed. Erdm. 242. 244. 



474 



Zweiter Teil; Spezielle Ausführungen. 



die numerische Einheit, die man nach Belieben in Brüche 
teilen kann (ib. 80), Besonders in dem Briefwechsel mit Clarke 
wird die rein abstrakte und ideale Natur des Raumes sehr stark 
betont, wobei freilich die freie wissenschaftliche Diskussion sehr 
durch theologische Rücksichten, wenn auch nicht direkt beein- 
flusse so doch wenigstens unangenehm gefärbt wird. Der Raum 
ist (ib. 313) etwas rein Relatives; es kann also keinen absoluten, 
geometrischen Raum geben. Es erinnert an Mili's Definition der 
Dinge als „permanent possibüities of Sensation", 1 ) wenn Leibniz den 
Raum definiert als etwas, das „marque en termes de possi- 
bilite un ordre des choses qui existent en rneme temps, entant 
qu'elles existent ensemble, sans entrer dans leurs manieres 
d'exister. Et lorsqu'on voit plusieurs choses ensemble on s'aper- 
?oit de cet ordre des choses entr'elles* (Ed. Erdm. 752). Und 
besonders 776: „Je ne dis donc point, que Tespace est un ordre 
ou une Situation, mais un ordre des situations, ou selon lequel 
les situations sont rangees, et que Tespace abstrait est cet 
ordre des situations, congues comme possibles. Ainsi 
c'est quelque chose d'ideal" (cf, 240). Ähnlich heisst es 
pag. 752: Tespace n'est rien du tout sans les corps que la possi- 
bilit£ d'en mettre. Dasselbe gilt natürlich immer auch von der 
Zeit: auch die absolute Zeit ist nur etwas Ideales. „Le temps 
sans les choses n'est autre chose qu'une simple possibilit6 
ideale" (770). „Die Ausdehnung, sagt er S. 755 (Baum. 314), 
muss die Affektion eines Ausgedehnten sein. Wenn aber dieser 
Raum leer ist, so wird er ein Attribut ohne Subjekt sein, eine 
Ausdehnung von keinem Ausgedehnten"; und S. 771: „Les 
choses £tant r&olues avec leurs rapports, il n'y a plus de 
choix sur le temps ni sur la place, qui n'ont rien de reel 
en eux a part, et rien de determinant, ou meme rien de dis- 
cernable*. 

1) Indessen versteht Mill unter seinen „possibüities" etwas Gegebenes 
(thcy are given to us; s. Mill, Examination of Sir W. Hamiltons Philosophy, 
3. Aufl. 1872. pap. 239 Nota) etwas faktisch Bestehendes; während Leibniz 
hier den Raum als die logisch losgelöste Möglichkeit der Koexistenz der Dinge 
bestimmt. Unter „der Form der Möglichkeit" („conpues comme possibles*) 
werden die „Situationen* vorgestellt, d.h. also etwas, was seiner Energie, seiner 
Wirklichkeit nach nur unter Voraussetzung reeller, materieller Dinge vorhanden 
ist, was also eine von diesen abhängige Funktion ist, wird als unabhängig von 
diesen existierend vorgestellt, indem wir dasselbe als ein „Mögliches" ablösen 
und diese Möglichkeit hypostasieren. 



§ 20. Die Fiktion des reinen, absoluten Raumes. 



475 



Bei der fundamentalen Wichtigkeit dieses Punktes für alle 
folgenden Argumentationen und bei der grossen Klarheit, mit 
welcher Leibniz diesen Punkt im Wesentlichen behandelt hat, 
müssen wir noch länger bei ihm verweilen. Der Streit, um den 
es sich hier handelt, — das ergibt sich schon aus dem Bis- 
herigen — ist, was den Raum betrifft, ob die Vorstellung des 
absoluten, geometrischen oder leeren Raumes eine berechtigte 
sei, d. h« ob ihr in der Wirklichkeit ein leerer Raum entspreche. 
Aus hier nicht weiter diskutierbaren theologischen Gründen ist 
Clarke mit Newton für die Existenz eines absoluten Raumes 
(und daher auch einer absoluten Bewegung). 1 ) In diesem abso- 
luten Raum befindet sich an einer beliebigen, aber bestimmten 
Stelle das Universum, d. h. die Körperwelt; und zwischen den 
Körpern, die im Räume gleichsam schwimmen, befindet sich noch 
leerer, absoluter Zwischenraum. Diese Theorie bekämpft Leibniz 
mit den oben mitgeteilten Gründen. Er macht sich freilich selbst 
auch so wenig von den theologischen Gründen los als seine 
Gegner; nichtsdestoweniger verteidigt er eine rationale Sache mit 
im Ganzen annehmbaren Gründen gegen anglikanisch -kirchliche 
Beschränktheit, deren letzte Gründe immer auf — einen Bibel- 
vers hinauslaufen. 

„II n'y a point de vuide du tout" (Erdm. 748), dies ist die 
These, welche Leibniz mit theologischen, physikalischen, mathe- 
matischen und logischen Gründen zu beweisen bestrebt ist 
„L'espace reel absolu" ist (751) eine „idole de quelques Anglois 
modernes. Je dis „Idole", non pas dans un sens Theologique, 
mais Philosophique comme le Chancelier Bacon disoit autrefois, 
qu* il y a Idola Tribus, Idola Specus." Er zählt mehrfach die 
grandes difficultSs und die contradictions auf, auf welche diese 
Vorstellung führt Es ist insbesondere das „Principe de la raison 
süffisante 0 , auf welches gestützt er die Gegner und ihre „imagina- 
tions", ihre „suppositions chimeriques", ihre „fictions impossibles" 
zu widerlegen sucht. Faktisch führt auch die Vorstellung des 
absoluten Raumes und der absoluten Zeit auf sonderbare Wider- 
sinnigkeiten, 2 ) und Leibnizens Widerlegung ist vollständig 

1) Zu diesen theologischen Gründen treten dann aber auch sehr 
erhebliche rein sei ent irische Argumentationen hinzu. 

2) Solche Widersinnigkeiten sind z. B. der Gedanke, dass Gott das Uni- 
versum im absoluten, leeren Räume um einige Millionen Meilen hinausschieben 
könnte, oder dass Gott in der absoluten, inhaltlosen Zeit die Welt um einige 



476 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



gerechtfertigt. Wiederholt nennt er daher jene Vorstellungen von 
absoluter Zeit und absolutem Raum „chimfcres toutes pures* et 
„imaginations superficieHes". Es sind „fictions impossibles" (771). 
Man kann die Vorstellung eines absoluten Raumes, einer absoluten 
Zeit wohl fassen, aber „das ist wie in der Geometrie, wo man 
manchmal einen Beweis liefert, gerade durch die Voraussetzung, 
eine Figur sei grösser (d. h. wo man manchmal den Beweis dafür, 
dass zwei Figuren gleich sind, dadurch liefert, dass man das 
Gegenteil voraussetzt). Das ist, sagt er, ein Widerspruch; aber 
der Widerspruch liegt in der Hypothese, welche eben darum sich 
als falsch erweist" (756). „Man kann die Fiktion machen 
(on peut s'imaginer) in Ermangelung direkter Erkenntnis, dass 
zwei Momente (oder zwei Raumpunkte) different sind, da wo es 
doch bloss einen Zeit- und Raumpunkt gibt; aber das ist, wie 
in der Geometrie, wo man häufig eine Zwei voraussetzt, um den 
Irrtum eines Gegners deutlich zu machen, und wo man doch nur 
die Einheit findet. w Denn, da die Raumpunkte und Zeitpunkte, 
prises en elles m&nes, sont des choses ideales, so gleichen 
sie sich so vollständig, dass sie zusammenfallen, d. h. nur die 
Teile des absoluten Raumes und der absoluten Zeit, nicht aber 
effektive, aktuelle, erfüllte, konkrete Zeit- und Raumpunkte — 
oder um dieses Argument Leibnizens deutlicher darzustellen: Man 
könnte jede beliebige Raumstelle der Welt im absoluten Raum 
um eine beliebige Entfernung verrückt denken; da man nun aber 
diese beiden Punkte nicht unterscheiden könnte, darum sind sie 
eben nur ideell, imaginär, und die Voraussetzung, dass diese 
Verschiebung möglich wäre, d. h. die Voraussetzung des abso- 
luten Raumes ist eine blosse Fiktion. 1 ) Gerade die Tatsache, dass 
es keinen zureichenden Grund dafür gibt, dass Gott die Welt in 
einem früheren Moment geschaffen hätte, als er sie schuf, beweist, 



Millionen Jahre früher oder später hätte schaffen können. Solche unmöglichen 
Vorstellungen nennt Leibniz öfters z. B, 766 einfache Fiktionen, natürlich hier 
in tadelndem Sinne. — Nebenbei sei hier bemerkt, dass die Schwierigkeiten 
des Raum- und Zeitproblems, die im Leibniz-Clarke'schen Briefwechsel zum Vor- 
schein kommen, offenbar die Entstehung der Kantischen Antinomienlehre stark be- 
einflusst haben. Auch Kants „Symmetrische Figuren" haben hier ihren Ursprung. 

1) Man sieht hier deutlich, wie bei Leibniz „imagination", resp. „fiction" 
bald in tadelnder Bedeutung genommen ist, indem die betreffende Vor- 
stellung im metaphysischen Sinn als unreal zurückgewiesen wird, bald 
aber in lobender Bedeutung, indem die betreffende Vorstellung im methodo- 
logischen Sinn trotzdem als berechtigt und zweckmässig anerkannt wird. 



§ 20. Die Fiktion des reinen, absoluten Raumes. 



477 



dass diese ganze Betrachtungsweise und die Voraussetzung der 
absoluten Zeit, auf welche sie gestützt ist, falsch ist — und was 
von der Zeit gilt, gilt auch vom Räume. Dieser Oedanke, dass 
der absolute Raum eine chimärische Supposition, eine unmögliche 
Fiktion sei, zieht sich durch diese ganze, für die Leibniz'sche 
Philosophie so wichtige Korrespondenz in allen möglichen Varia- 
tionen hindurch, deren wir einige zur Vervollständigung noch 
anführen. 

Leibniz beschuldigt diejenigen, welche den leeren Raum 
verteidigen, dass sie sich mehr durch die Imagination, als durch 
die »raison« leiten lassen. Zwar habe er selbst als Knabe (gargon) 
sehr viel auf das Leere und die Atome gegeben; aber die Vernunft 
habe ihn davon zurückgebracht Die Einbildung sei freilich eine sehr 
verführerische gewesen (riante). Man begrenze damit (voreilig) 
seine Untersuchungen; wie an einem Nagel fixiere man daran 
seine Meditationen (758 Apostille). 1 ) 

Man glaube damit, fährt er an jener Stelle fort, die letzten 
Elemente, ein Non plus Ultra gefunden zu haben; man wolle, 
dass die Natur nicht weiter ginge, und dass sie endlich und be- 
grenzt wäre, wie unser Geist Es mutet uns freilich als ein selt- 
samer Grund an, wenn er an derselben Stelle dann weiterhin sagt: 
Man solle einmal die Fiktion machen (figurons nous), es gäbe 
einen vollständig leeren Raum; dann hätte Gott, ohne den anderen 
Existenzen etwas abbrechen zu müssen, dahinein Materie setzen 
können; „also* hat er es auch getan; „also" gibt es keinen leeren 
Raum. Das „Principium rationis sufficientis" verlange, dass, da kein 
Grund für das Leerlassen da sei, der Raum überall voll sein müsse. 
Durch dieses Prinzip will Leibniz definitiv und ernstlich bewiesen 
haben, dass der Raum lediglich ein „ordre des choses 11 sei und 
„nullement un Stre absolu". Fürwahr schlechte Argumente für eine 

1) Dieser Vergleich ist sehr charakteristisch, das Bild sehr anschaulich; 
dass Leibniz hier eine berechtigte Selbstbeschränkung der Naturwissen- 
schaft, eine nicht nur zu rechtfertigende, sondern auch notwendige Fiktion 
der mechanischen Physik, die Atomistik, mit Unrecht tadelt und verwirft, folgt 
aus dem früher Entwickelten» Jede Wissenschaft hat aber das Recht an einer 
passenden Stelle Halt zu machen und ein Erstes zu setzen, um von diesem 
aus als der Basis und Voraussetzung zu operieren. Eine solche Annahme ist 
immer eine berechtigte Fiktion der empirischen einzelnen Wissenschaften, 
und die Philosophie hat eben die Aufgabe, die Fiktivität jener Vorstellungen 
einerseits nachzuweisen, andererseits aber die logische Berechtigung solcher 
Fiktionen darzutun. 



478 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



gute Sache Ähnliche Beweise sollen auch den Atomismus wider- 
legen. Beides, der absolute Raum und die Atome, sind für 
Leibniz n fictions purement arbitraires et indignes de la vraie 
Philosophie; les raisons qu'on allfcgue pour le vuide ne sont que 
de sophismes* (758 rir. 778). 

Der absolute Raum, der zugleich ewig und unendlich sein 
müsse (751), wird von Clarke verteidigt, und er muss die Konse- 
quenz ziehen, dass das Universum von Anfang an eine andere 
Position in Zeit und Ort hätte haben können, ohne dass sich 
die Position der Teile des Universums untereinander verändert 
hätte. Nur der freie Wille Gottes ist der zureichende Grund, 
dass das Universum gerade diese und keine andere Stellung im 
absoluten Raum hat; aber das nennt Leibniz „une fiction impos- 
sible* (756); dieselben Gründe, welche ergeben, dass der leere 
Raum ausserhalb des Universums sich als imaginär herausstellt, 
sind ihm auch für die bloss imaginäre Existenz des leeren Raumes 
innerhalb des Universums stichhaltig (756). Die „Patrone des 
leeren Raumes können keine Substanz nachweisen, deren Attribut 
oder Eigenschaft derselbe sein könnte." Weitere Einwürfe be- 
ziehen sich auf Clarkes Behauptung, der absolute Raum habe 
keine Teile. Alle solche Annahmen sind Folgen der „Philosophie 
paresseuse" (der ignava ratio, wie sie Kant heisst), welche die 
Analyse der Dinge nicht weit genug treibt, und mit diesen die 
Imagination befriedigenden Annahmen sich begnügen lässt (765). 
Gegen die unten zu besprechenden Einwürfe Clarkes bringt er 
seine Ansicht in immer neuen Wendungen vor: insbesondere 
gegen die aus der Physik genommenen Einwände, die sich auf 
die Experimente Guerickes und Torriceiiis beziehen, führt er ganz 
dieselben Argumente ins Feld, welche auch heutzutage gegen die 
Annahme eines Vacuum vorgebracht werden. Die Annahme eines 
unwägbaren Äthers muss gegen alle Einwände der neuen „Parti- 
sans du vuide" helfen. Es ist, sagt er S, 767, eine seltsame Fik- 
tion, sich alle Materie wägbar vorzustellen. Insensible Fluida, 
wie die Lichtstrahlen, welche noch viel feiner sind als die wäg- 
bare Materie, verhindern, dass irgendwo ein Vacuum existiere. 
In den „luftleeren Rezipienten soll sich leerer Raum befinden"; 
aber wessen Eigenschaft soll denn dieser imaginäre Raum sein? 
Etwa imaginärer, immaterieller Substanzen oder gar Gottes selbst? 
(707). Aber das letztere ist eine „etrange imagination", das sind 
„phrases etranges qui font bien connaitre qu'on abuse des terms " 



§ 20. Die Fiktion des reinen, absoluten Raumes. 479 

(768); solche „plaisantes imaginations, ces spectres d'imagina- 
tions" verschwinden vor dem klaren Licht des Principium rationis 
sufficientis. „Die Menschen machen sich leicht solche Fiktionen, 
anstatt jenes grosse Prinzip richtig anzuwenden" (769). 

Eine psychologische Analyse der Entstehung des Raumbe- 
griffes soll diese logischen Argumente unterstützen. Er zeigt 
Tu sage de Tesprit auf die gewöhnliche Manier, durch welche 
der Geist zu solchen Vorstellungen gelangt, indem wir be- 
obachten, dass zwei Körper A und B, die nacheinander an die- 
selbe Stelle treten, dieselben Beziehungen zu den unveränder- 
lichen Körpern CDEF haben; „Platz* ist die Beziehung, welche 
die Körper zueinander haben. Die Betrachtung dieser Beziehungen 
genügt vollständig, und wir brauchen keine absolute Realität zu 
erdichten, die ausser den Dingen da sein soll, deren Situationen 
man beobachtet. Wenn man alle Raumbeziehungen zusammen* 
fasst und sich diese Beziehungen ohne die Körper und 
ausserhalb ihrer denkt, wenn man bei Gelegenheit der Akzi- 
dentien, die in den Objekten sind, eine Sache sich bildet, die 
ihnen ausserhalb der Objekte entsprechen soll, wenn man also 
hier aus Übereinstimmung der Beziehungen zweier sich ablösender 
Körper zu den umgebenden Körpern oder aus der Fortdauer der 
Beziehungen eines Körpers zu anderen Körpern eine abstrakte, 
von den Körpern losgelöste Sache macht, ein Ding, welches 
wirklich dasselbe sein soll (während faktisch nur die Be- 
ziehungen dieselben sind), so fingiert man eben den abso- 
luten Raum, der doch nur etwas „Ideales* sein kann, das eine 
gewisse Ordnung enthält, in welcher der Geist die Anwendung 
der Beziehungen begreift 1 ) (oder „vorstellt*, wie Baumann 
a, a. 0. S. 319 übersetzt). Leibniz wies endlich darauf hin, dass 
die Spuren beweglicher Dinge, welche sie manchmal auf unbe- 
weglichen Dingen zurücklassen, der Einbildungskraft der Menschen 
die Gelegenheit gegeben haben, sich die Idee zu bilden, „als ob" 
(comme si) noch eine Spur übrig bliebe, selbst wenn kein „Un- 
bewegliches* (Baumann unrichtig: „Bewegliches*) mehr da wäre; 
aber das sei nur ideal. Und diese Analogie verführe zu der Vor- 
stellung des Raumes als einer absoluten Realität, die auch ohne 

l) Hier berührt Leibniz das tieferliegende Motiv der Bildung des abso- 
luten Raumes, das wir im Anschluss an die moderne Psychologie dahin defi- 
nieren können, dass der Trieb der begreifenwolienden Apperzeption es 
ist, aus dem diese und ähnliche Vorstellungen entspringen. 



480 



Zweiter Teil: Spezielle Ausfüllungen. 



die Beziehungen selbst da sei (769), So ist offenbar auch hier 
der springende Punkt die Beibehaltung der Vorstellung einer Be- 
ziehung als einer fortdauernden Wirklichkeit, wenn die bezogenen 
Dinge schon verschwunden sind: es ist die unberechtigte Los- 
lösung der Akzidentien von den Substanzen und die Erhebung 
derselben zu absoluten Dingen, also die Vorstellung derselben 
unter der ihnen nicht zukommenden Form von Substanzen. Hierin 
besteht gerade die abstraktive Fiktion. Places, Traces und 
Espaces sind nur Rapports und ihre Verabsolutierung aus 
blossen Relationen — dies ist es, wogegen Leibniz ankämpft. 
Raum und Materie fallen ihm zwar nicht zusammen; Leibniz sagt 
nur, dass, wo es keine Materie gibt, es auch keinen Raum gibt. 

Ehe wir die Einwände Clarkes zusammenstellen, müssen 
wir sogleich darauf hinweisen, inwiefern sich dieser Streit durch 
eine einfache methodologische Unterscheidung löst, denn um den 
logischen, methodologischen Wert der Vorstellung des absoluten 
Raumes handelt es sich. Da er jedenfalls kein Objekt der Erfahrung 
ist, so kann es sich nur darum handeln, ist er eine berechtigte 
Hypothese oder eine berechtigte Fiktion, Fiktion in unserem, 
anfänglich festgestellten Sinne. Wir sehen, wie Leibniz nachweist, 
dass die bezügliche Vorstellung widerspruchsvoll, unmöglich sei, 
weshalb er dieselbe eben verwirft. Wir werden andererseits sehen, 
dass Clarke ihre praktische Notwendigkeit und Nützlichkeit betont, 
gestützt auf Newtons mathematische Naturphilosophie. Schon Leib- 
niz nennt die Vorstellung eine Fiktion, freilich im tadelnden Sinne. 
Er gebraucht diesen Begriff überhaupt sehr häufig und zwar in den 
zwei oben S. 476 Anm. 1 unterschiedenen Bedeutungen, der guten 
und der schlechten Fiktion. Hätte hier nicht die Parteiwut gegen 
die Newtonianer und die dabei beiderseits entstandene Leiden- 
schaftlichkeit und Animosität Leibnizens klares Auge getrübt, wäre 
der Briefwechsel mit Clarke nicht in jene späte, durch allerlei Miss- 
geschick getrübte, äusserlich und innerlich vereinsamte Periode 
Leibnizens gefallen, so hätte er wahrscheinlich die schon früher in 
anderen Punkten ihm aufgegangene fundamentale Erkenntnis, dass 
es notwendige und berechtigte Fiktionen gäbe, auch hier ange- 
wandt, und die einzig richtige Lösung ausgesprochen, dass die Vor- 
stellung des absoluten Raumes eine unentbehrliche Hilfsvorstellung 
sei, d. h. dass diese Vorstellung zwar widerspruchsvoll und darum 
imaginär, ideal sei, dass sie aber zur Konstruktion der Mathematik 
und mathematischen Physik notwendig gebildet werden müsse. 



§ 20. Die Fiktion des reinen» absoluten Raumes. 481 

Diese einfache Lösung, die seitdem mehrfach ausgesprochen 
worden ist, erhellt mit einem Male jenen durch Leidenschaft so 
getrübten Streit zwischen Leibniz und dem Newtonianer. 
Alle Gründe Leibnizens beziehen sich darauf, dass die Vorstellung 
imaginär sei; alle Gegengründe Clarkes darauf, dass sie not- 
wendig sei. Wie so oft, sehen wir eine solche widerspruchsvolle 
Vorstellung, (deren exakte Definition wir in diesem Falle Newton 
verdanken,) anfänglich bekämpft ob ihrer logischen Härten; wir 
sehen sie dann ins allgemeine Bewusstsein übergehen, zu einer 
alltäglichen Vorstellung werden, bis sie aufs Neue bekämpft wird, 
so dass ihr schliesslich zwar ihre Realität genommen, ihr aber 
ihre Unentbehrlichkeit gelassen und zugestanden wird. 

In der Zweideutigkeit und Zweischneidigkeit des Begriffes 
„Supposition" erkennen wir wieder jene Dualität der logischen 
Bedeutungen, welche diesen Vorstellungen des absoluten Raumes, 
des Atomes u. s. w. ein so schillerndes und schwankendes An- 
sehen gibt. Clarke stützt sich auf die Notwendigkeit dieser Suppo- 
sition, auf die Tatsache, dass Leibniz sie selbst mache, Leibniz 
aber nennt sie chimärisch, sophistisch, imaginär* In der von uns 
entwickelten Bedeutung der „Fiktion* 4 ist dies beides vereinigt; 
die Vorstellung ist widersinnig, aber sie ist fruchtbar 

Freilich tritt das methodologische Motiv der Unentbehrlich- 
keit bei Clarke auch nicht rein hervor; seine Gründe sind ver- 
mischt mit theologischen Argumentationen, mit Vorwürfen gegen 
die raisonneurs, welche die Natur an Stelle Gottes setzen, und 
dasselbe, fürchtet er, resultiere auch aus der Leibniz'schen Philo- 
sophie. Zum guten Glücke braucht uns diese Argumentation 
nicht weiter zu bekümmern; beschränken wir uns daher auf die 
rein sachliche Diskussion. Dieser ;Sectateur a von Newton geht 
aus von der allerdings höchst missverständlichen, bekannten 
Äusserung Newtons, der unendliche, absolute Raum sei das Sen- 
sorium Gottes. Da ihm diese Betrachtung gefällt, so verteidigt 
er nicht nur die Vorstellung, dass Gott überhaupt ein Sensorium 
habe, sondern auch die Vorstellung, es bestehe ein absoluter 
Raum, dessen Unendlichkeit und Aseität ein Abbild des absoluten 
Gottes sein soll Leibnizens Einwände hiergegen sind treffend, 
können uns aber hier nicht interessieren. Nur so viel sei zur 
Charakteristik des Streites bemerkt, dass Leibniz betont, Gott 
hätte einen zureichenden Grund haben müssen, um die Welt im 
absoluten Raum gerade an diesen und keinen anderen Platz zu 

31 



482 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



stellen; im absoluten Raum und seinen Teilen gäbe es, da sie 
ununterscheidbar sind, kein Motiv für Gott, den einen Teil dem 
anderen vorzuziehen. Darum eben sei der absolute Raum unmög- 
lich ; das ist jedenfalls trotz der theologischen Färbung ein ratio- 
nalerer Gedanke, als wenn Clarke in anglikanisch -kirchlicher 
Beschränktheit den freien, absoluten Willen Gottes für ein genü- 
gendes Motiv hält, warum er die eine Stelle des absoluten Raumes 
einer anderen vorgezogen habe. Die Absurditäten, welche Clarke 
aus Leibniz' Theorie von der Relativität des Raumes herausklauben 
will (z. B. S. 753/4), sind schon im Vorhergehenden von Leibniz 
widerlegt. Nicht ohne Grund dagegen ist die Bemerkung, dass 
die Behauptung, der Raum sei „imaginär", unbestimmt sei, inso- 
fern man nicht genau sage, was man mit diesem Terminus meine. 
Leibnizens Ausführungen sind indessen eine genügende Antwort 
auf diesen Einwand: imaginär ist der Raum, d. h, er wird vor- 
gestellt als ein Ding, welches auch da wäre, wenn die Dinge nicht 
da sind; reell ist der Raum, insofern die Raumbeziehungen der 
Körper nicht zu leugnen sind. Allein der abstrakte, absolute Raum 
als der Behälter der Welt, entsteht, wenn man diese Beziehungen 
ohne das Bezogene als mögliche vorstellt, und aus dieser blossen 
Möglichkeit eine imaginäre Wirklichkeit macht. 

Besonders der 4. und 5, Brief Clarkes — wenn man diese 
ziemlich unhöflichen Repliken, DupHken u. s. w. überhaupt Briefe 
nennen will 1 ) — enthält die Einwände gegen Leibniz. Es sei 
eine seltsame Behauptung, der durch einen Körper eingenommene 
Raum sei nicht identisch mit dessen Ausdehnung, sondern der 
ausgedehnte Körper existiere in diesem Raum (781); der absolute 
Raum soll einfach und unteilbar sein, und doch unendlich. 
Clarke stützt sich dabei ebensosehr auf die naive Anschauung des 
Naturmenschen, als auf Newtons „Prinzipien*, was für uns natür- 
lich wichtiger ist. Er meint, die Realität des Raumes sei nicht 
nur eine einfache Supposition: sie sei sogar bewiesen eben durch 
die Möglichkeit der Vorstellung, dass das Universum sich — un- 
beobachtbar von uns — im absoluten Räume vorwärts bewegen 
könnte; die Antwort Leibnizens hierauf haben wir schon angeführt. 
Der Raum ist für Clarke (761) „le Heu de toutes les choses 

1) Dieser „Briefwechsel" zwischen Leibniz und Clarke eignet sich übrigens 
ausgezeichnet zu seminaristischen Übungen an Universitäten, allerdings nur für 
Fortgeschrittenere. Eine exakte Einzelausgabe dieses „Briefwechsels* ist daher 
ein Desiderium, welchem dem Vernehmen nach Cassirer bald abhelfen wird. 



§ 20. Die Fiktion des reinen, absoluten Raumes. 483 

et de toutes les idees," nicht allein die Ordnung der koexistieren- 
den Dinge. Er hat Scharfsinn genug, einen Widerspruch darin zu 
finden, wenn Leibniz auf der einen Seite die Möglichkeit jener 
sich auf den absoluten Raum beziehenden Fiktionen zugebe, sie 
selbst sogar bilde, und doch auf der anderen Seite sie eben „fic- 
tions impossibles" nenne. Obgleich man anerkennt, sagt Clarke 
(780), dass meine Supposition möglich sei, so will man mir 
doch nicht erlauben, dieselbe zu machen. »Man macht (783) 
an dem einen Orte ganz formell die Voraussetzung, Gott hätte 
das Universum früher oder später machen können; und an einem 
anderen Orte sagt man, diese Ausdrücke [früher oder später] 
seien unverständlich und unmögliche Voraussetzungen." Was es 
mit diesem Einwände Clarkes auf sich habe, haben wir gesehen. 
Die methodologische Unklarheit, welche bei Clarke entschieden 
viel grösser ist als bei Leibniz, ist hier sehr stark. Freilich hat es 
eben auch Leibniz an der vollständigen Aufklärung hierüber gerade 
hier fehlen lassen, und doch lag ihm die Lösung, so zu sagen, 
auf der Zunge. Weist er doch (769) selbst darauf hin, dass solche 
„choses purement ideales* 1 doch (trotzdem man ihre Irrealität 
einsehe) nützlich seien („dont la consideration ne Iaisse pas 
d'etre utile"). Damit haben wir eben den wahren Begriff der 
methodologischen Fiktion, und es ist nur aus der Leidenschaft- 
lichkeit Leibnizens zu erklären, dass er diesen, ihm sonst so ge- 
läufigen Gedanken hier nicht gänzlich durchgeführt hat, sondern 
ihn bloss gelegentlich [hinwirft. Dann hätte er eben in ruhiger 
Diskussion die Suppositionen Clarkes als notwendige und nütz- 
liche Fiktionen anerkannt. Es ist fast unbegreiflich, dass er diesen 
Standpunkt hier nicht mit mehr Entschiedenheit geltend macht, 
da er sich doch schon noch ausserdem auf jenen mathematischen 
Usus berufen hatte, nach welchem unmögliche Voraussetzungen 
fiktiv gebildet werden; freilich beschränkt er sich hier nur auf 
jene Fiktionen, welche die Mathematik beim indirekten Beweise 
nicht selten macht, und welche eben darin bestehen, durch die 
Annahme des Unmöglichen selbst eine Unwirklichkeit zu be- 
weisen. Wir begegnen derselben geometrischen Methode wieder 
in dem Fall der sog* Tangentenmethode, wo man die Behaup- 
tung beweist, dass eine Gerade eine andere nur in einem Punkte 
schneiden könne, wobei man zunächst fiktiv zwei Schnittpunkte 
voraussetzt, und dann deren Zusammenfallen beweist. Auch da, 
wo Leibniz davon spricht, dass die betreffenden Annahmen auf 

31* 



484 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



einem höheren Standpunkt sich als unmöglich erweisen, ist er 
der Sache ganz nahe, indem es eben nur noch der positiven Be- 
merkung bedurfte, dass diese Annahmen provisorischer Natur sind, 
dass sie Hilfsvorstellungen sind, deren Fiktivität eben die ge- 
nauere erkenntnistheoretische Analyse aufdeckt und durchschaut. 
Und es grenzt fast an Unaufrichtigkeit, wenn er es (766) den 
Mathematikern, die nur Mathematiker seien, zum Vorwurf macht, 
dass sie sich solche Ideen schmieden, da er doch selbst die gross- 
artigste mathematische Fiktion des Infinitesimals eingeführt hatte, 
das, wie er selbst ausführlich darlegt, ihm wohl in seiner Fikti- 
vität bekannt war. Nur der Unmut, dass solche mathematischen 
Vorstellungsweisen ohne weiteres realisiert werden, kann diese 
Sprache erklären, die an Berkeleys Poltern erinnert, mit dem 
dieser gegen die Mathematiker loszieht. Und doch weist Leibniz 
(770) selbst auf diesen Usus der Mathematiker hin, wo er davon 
spricht, dass man, „en considerant la chose mathematiquement", 
die absolute Ruhe der Körper annehme, die doch in Wirklichkeit 
nicht bestehe. Warum hat er diese einzig richtige Betrachtungs- 
weise nicht auf den absoluten Raum ausgedehnt; warum hat 
Leibniz diese methodologische Erkenntnis nicht auch hier ange- 
wandt? Nur die Animosität gegen Newton hindert ihn an der 
Anerkennung und vielleicht auch der gerechte Unwille gegen die 
Borniertheit Clarkes. Mehrmals bricht diese richtige Betrachtungs- 
weise durch. Einige Zeilen abwärts von jener Stelle weist er 
darauf hin, dass man wohl „absolument parlant" annehmen könne, 
das Universum hätte früher beginnen sollen. Er selbst fordert 
auf, diese Supposition zu machen. Er stellt die Zeit dar als die 
von der unabhängig veränderlichen Ordinate der materiellen 
Zustände abhängige Abszisse und weist auf die Möglichkeit 
hin, dass mit der Annahme eines anderen Anfangspunktes der 
Ordinate auch die Zeitabszisse einen anderen Anfang haben würde. 
Aber eben damit weist er auch entschieden den Gedanken einer 
absoluten Zeit zurück, zeigt jedoch, wie man, „absolument parlant", 
d. h. eben die Zeit loslösend von ihren realen Bedingungen, 
also von den Veränderungen der Dinge, von einer absoluten Zeit 
sprechen könne. Er weiss also wohl, dass diese Verselbständi- 
gung eine, wenn auch unerlaubte, so doch mögliche Supposition 
ist, ein 2 Supposition, die eventuell nicht allein dem indirekten 
Beweise dienen kann, dass es eben keine absolute Zeit gibt, 
sondern die uns eventuell sehr nützliche Dienste leisten kann. 



§ 20. Die Fiktion des reinen, absoluten Raumes, 485 

Bei der grundlegenden Wichtigkeit dieses Punktes ist es von 
Interesse, noch andere Stellen von Leibniz herbeizuziehen, aus 
denen seine Meinung unzweideutig hervorgeht. So bemerkt er 
z. B, in der Replique aux Reflexions de Bayle (Erdm. 189; sie 
ist 17 Jahre vor dem Streit mit Clarke geschrieben), dass die 
mathematischen Vorstellungen Zeit, Ausdehnung, Bewegung und 
Kontinuum nur seien: des choses ideales. Er stimmt Hobbes 
bei, nach dem der Raum nur ist: ein Phantasma existentis. Die 
Ausdehnung ist „die Ordnung der möglichen Koexistenzen". Be- 
sonders bemerkenswert ist aber die Stelle (190), dass, obgleich 
die meditations der Mathematiker ideal seien, dies ihnen nichts 
von ihrer utilite nehme. So wusste er denn also wohl den 
Nutzen solcher Vorstellungen zu schätzen, wenn er auch sich 
wohl bewusst ist (191), dass Mathematik noch nicht die tiefste 
Erkenntnis sei und gebe, sondern dass diese im wichtigeren Kalkül 
der Metaphysik zu suchen sei, in der „ Analyse der Ideen", an 
deren Stelle wir — ohne zu erheblich von Leibniz' Meinung ab- 
zuweichen — wenigstens in einer Richtung die Erkenntnistheorie 
und eine mit ihr liierte Methodologie zu setzen haben. 

Wie gegen die Newton'sche Vorstellung vom Räume als 
dem Sensorium Gottes, so wendet sich Leibniz auch gegen die 
ähnliche von Malebranche (Erdm. 450): er bemerkt dort wieder- 
um ausdrücklich, dass es eine „Fiktion" sei, den Raum als eine 
unbewegliche Substanz zu betrachten; und er lässt durchblicken, 
dass diese Vorstellung einer allgemeinen, unbeweglichen Sub- 
stanz (des absoluten Raumes), zu der die Körper eine essentielle 
Beziehung haben, nur eine provisorische Hilfsvorstellung sei. 
Anderwärts gebraucht er den Ausdruck Abstraktion, 1 ) (so z.B. 
S. 230, 240, 692); da es aber in der Natur kein Beispiel gibt von 
der Identität des Abstrakten und Konkreten, so muss auch die 
Realität des abstrakten, absoluten Raumes geleugnet werden. 
Freilich ist es naheliegend, auch die Abstrakta als konkret vor- 
zustellen, oder, wie er (739) sagt, die Phänomene extra substantiam 
zu „realizare". „Extensionen! concipere ut absolutum ex eo fönte 
oritur, quod spatium concipimus per modum substantiae, 
cum non magis substantia sit, quam tempus.« Wenn man die 
Monaden wegnimmt, bleibt keine Ausdehnung, so wenig als 

1) Dasselbe besagt der Terminus „id£al a , der besonders im Briefwechsel 
mit Clarke vorwiegt, aber auch sonst gebraucht wird, z. B. S. 461, 441. Auch 
die numerische Einheit ist ein solches Ideales. 



486 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen, 



Zahlen bleiben, wenn man die Dinge wegnimmt. Denn es gibt 
nicht zwei Ausdehnungen, die absolute (abstrakte) und die kon- 
krete in den Substanzen: jene ist eben nur eine Abstraktion, 1 ) 
d. h, eine abgezogene Vorstellung, die aber, wie wir sahen, 
zur notwendigen Hilfsvorstellung wird, indem man dem 
Abstraktum wirklich den Schein der Realität verleiht und dasselbe 
per modum stubstantiae, comme une substance immuabie, also 
nach einer unberechtigten Analogie vorstellt So stellt man sich 
ja auch das Unendliche vor: velut unam magnitudinem, d. h. unter 
dem Bild, unter der Form einer vollendeten Grösse (437). Dies 
aber sind nur „locutioues, in aliqua analogia fundatae, sed quae 
si accuratius examines, subsistere non possunt". Was hier Leibniz 
also von der Vorstellung des vollendeten Unendlichen sagt, das 
gilt ebenso von der Vorstellung des absoluten Raumes: es sind 
falsche Analogien, die aber nützlich und notwendig sind. 
Oder in modernerer Sprache: Indem wir die Relation der Ko- 
existenzverhältnisse als ein Substantielles vorstellen, wenden 
wir auf die Relation eine Apperzeptionsform an, welche ihr 
nicht eigentlich gebührt. Wir begehen einen Fehler; aber dieser 
Fehler ist fruchtbar und nützlich. Wir stellen uns vor, es gäbe 
einen absoluten Raum, d. h. wir betrachten die Sache so, als ob 
die abstrakten Raumbeziehungen ein auch von den Substanzen 
unabhängiges, absolutes Sein besässen, d. h. eben, wir leihen 
ihnen die ihnen nicht zukömmliche Apperzeptionsform 
der Substantialität. Es ist dies ein arbitrium, ein arteficium 
des Denkens, ein Kunstgriff, durch den es einen bestimmten, 
sonst nicht oder schwer erreichbaren Zweck erreicht 

Vergleichen wir nun damit anderweitige historische Äusse- 
rungen, so finden wir sehr häufig ganz ähnlich lautende Urteile. 
Insbesondere ist die Lehre von der Relativität des Raumes, 
die Leugnung eines absoluten Raumes eine sehr alte. Baumann 
bemerkt mit Recht, dass viele der für neu geltenden Lehren schon 
in der Scholastik enthalten waren, und dass Leibniz gerade von 
Suarez, dem „letzten Scholastiker *, ungemein beeinflusst war. 
Es kann uns daher gar nicht wundern, wenn wir die ganze Lehre 
von der imaginativen Natur des absoluten Raumbegriffs schon in 
sehr vollkommener Gestalt bei Suarez finden, eine Lehre, deren 



1) Vgl. hierzu die Ausführungen oben S, 383 II in dem § 12 über „die 
abstrakten Begriffe als Fiktionen*. 



§ 20, Die Fiktion des reinen, absoluten Raumes. 487 

Wurzeln bis zu Aristoteles zurückreichen. Die Lehre vom unend- 
lichen, unteilbaren, unbeweglichen, immateriellen, kurz dem ab- 
soluten Raum findet an Suarez einen gewandten Gegner. Es gibt 
ohne die Körper keinen realen Raum mit realen Abmessungen 
(Baum. I, 57 ff.). Nur die Einbildungskraft erdichtet ein solches 
imaginäres Wesen; er ist ein durch die Tätigkeit des Intellekts 
Erdichtetes. Es ist nur unsere Vorstellung, dass der Körper 
einen Raum erfüllt, der an sich leer wäre; aber in Wirklichkeit 
existiert ein solches Leeres nicht. Die räumliche Existenz des 
Körpers ist nicht, wie wir es vorzustellen gewöhnt sind, eine 
reale Beziehung zum Raum (als einem absoluten Receptaculum), 
sondern die Räumlichkeit der Körper ist eben ihre »reale, quanti^ 
tative Gegenwart"; 1 ) wo ein Körper ist, da ist Raum; er drückt 
dies auch so aus, jeder Körper habe ein „innerliches Wo"; 
das Ȋusserliche Wo" ist dann die Beziehung zur Umgebung; 
wo kein Körper ist, ist kein Raum; es ist geradezu notwendig, 
dass es keinen absoluten Raum gebe. Der Raum als ein posi- 
tives Sein ist ein blosses Verstandeswesen, — denn da er kein 
real Seiendes sein kann, und es kein Mittleres zwischen diesem 
und einem Verstandeswesen gibt, so muss er das Letztere sein — 
aber kein umsonst Erdichtetes, wie die unmöglichen Wesen, 
sondern er ist ein Fundament, aus den Körpern selbst entnommen. 
Suarez scheint es als eine verkehrte, aber nicht unnützliche Rede- 
weise zu betrachten, wenn man sagt, der Köirper ist im Räume; 
das bedeute nicht: „sein in einem anderen", sondern sein da, wo 
wir unter Ausschluss des Körpers einen leeren Raum vorstellen. 

Die Einbildungskraft wird beschuldigt, diesen imaginären 
Raum erdichtet zu haben; sie stellt sich die Dinge so vor, als 
ob sie im Räume wären, wie in einem Gefäss. Man könne wohl 
sagen, das Wasser sei im Gefäss oder in dem Haus oder in der 
Welt, aber man könne oder dürfte nicht sagen, das Wasser sei 
auf dieselbe Weise im Räume. Man sieht, Suarez betrachtet 
diese letztere Redeweise als eine unberechtigte Analogie und Über- 
tragung des Verhältnisses der Umschliessung, der Umschreibung, 
Umfassung eines realen Dinges durch ein anderes auf die räum- 

1) Suarez bestimmt auch schon ganz richtig, woher das Einnehmen des 
Raumes komme: »Das Wo und das Einnehmen eines Raumes kommt her von 
dem natürlichen Widerstreben, welches die Teile der Quantität unter sich 
rücksichtlich desselben Raumes haben* (ib. 64), d. h. eben, Ausdehnung folgt 
aus der Widerstandskraft. 



488 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



liehe Existenz des Dinges, das auf ähnliche Weise als im Räume 
seiend gedacht wird. Die richtige Betrachtungsweise, die auf ein 
Ding im Verhältnis zu anderen Dingen anwendbar ist, wird 
unberechtigterweise ausgedehnt auf ein Gebiet, wo sie sinnlos 
(aber nicht wertlos) wird, auf das Ding, gewissermassen im Ver- 
hältnis zu sich selbst, jedenfalls auf das Ding nicht mehr im 
Verhältnis zu anderen Dingen. Suarez berührt hier ganz richtig 
die Entstehungsweise dieser Vorstellung, mit der wir es hier zu 
tun haben; die Übertragung einer Betrachtungsweise auf unge- 
hörige Fälle. Es mag schon hier darauf hingewiesen werden, 
dass, rein logisch (oder wenn man will psychologisch) genommen, 
die Operation, durch welche diese unberechtigte Übertragung 
geschieht, genau dieselbe_ist,_wie diejenige, durch welche z. B. 
die irrationalen Wurzeln ^2, y6, oder die imaginären Zahlen 
y— r entstehen — es ist auch hier die Übertragung einer Ope- 
ration, der Radizierung, von den möglichen und berechtigten 
Fällen auf unmögliche, ungehörige Fälle, wo die ganze Operation 
und schon der blosse Versuch ihrer Anwendung ein sinnloser, 
ein unlogischer ist. Genau aber wie diese unberechtigte 
Ausdehnung auf ungehörige Fälle ihren hohen logischen (oder 
analytischen) Wert besitzt, so ist auch jene unberechtigte Über- 
tragung der Vorstellung des „Inesse" auf den Körper an sich 
betrachtet, ein nützliches Hilfsmittel des betrachtenden Geistes, 
um sich die Vorstellung der Dinge zu erleichtern und die Be- 
rechenbarkeit ihrer Bewegungen zu ermöglichen. Vgl. oben S. 80» 
Diese moderne Betrachtung finden wir indessen schon bei 
Suarez, und fast schon in vollständiger Klarheit. Er ist lebhaft 
durchdrungen von der Notwendigkeit, einen absoluten Raum mit 
einem festen Achsensysteme anzunehmen. Er sagt (Baumann 60): 
«Wir erklären dieses Wo (d. h. den Ort der einzelnen Dinge) 
durch die Ordnung (Beziehung) auf den imaginären Raum, nicht 
weil ein solcher Raum etwas wäre, sondern weil wir dieser 
Vorstellungsweise bedürfen, 1 ) um die Weisen der Dinge und 
die Beziehungen und Verhaltungsarten zu erklären, welche 

1) Baumann fasst passend (62) die Lehre Suarez hierüber so zusamme . 
„Daraus, dass die Körper durch ihre Ausdehnung tauglich dazu sind, reale 
Räume zu bilden, nicht bloss die wirklichen» sondern ins Unendliche fort ausser- 
halb des Himmels, entspringt der imaginäre Raum, der zwar nichts ist an sich, 
aber als eine in der angezeigten Weise fundierte Vorstellung — für unsere 
räumliche Auffassung und Bestimmung der Dinge nicht kann entbehrt werden * 



§ 20. Die Fiktion des reinen, absoluten Raumes. 489 

daraus zwischen den irgendwo existierenden Dingen entstehen, 
Geradeso, wie wir, als es sich um die Dauer handelte, die Vor- 
stellung der imaginären Zeit oder Sukzession oft gebraucht haben, 
weil wir den Begriff der Dauer und das Verhältnis von früher und 
später nicht anders erklären können, obgleich die ima- 
ginäre Aufeinanderfolge an sich nichts ist* Suarez ist 
freilich noch nicht ganz mit sich einig; denn andererseits nimmt 
er doch „tatsächlich feste und unbewegliche Grenzpunkte des ima- 
ginären Raumes" an; indessen erklärt sich dieses Schwanken leicht 
einmal aus gewissen, theologischen Interessen, andererseits aus 
der Schwierigkeit der Sache, welche das gespannteste Festhalten 
an der Einsicht verlangt, dass diese Vorstellung eine notwendige, 
aber unberechtigte sei. An dieser höchst bemerkenswerten Stelle 
glauben wir fast den Terminus für diese eigenartige logische 
Vorstellungsweise hervorspringen zu sehen, den Terminus „Fik- 
tion", in dem eben das ausgedrückt ist, dass der imaginäre Raum 
weder ein Faktum, noch eine berechtigte Hypothese sei, sondern 
eine notwendige, wenn auch geradezu sinnlose Vorstellungsweise. 
Die methodologische Betrachtung konnte schon damals darauf 
führen, diese neue und eigentümliche logische Gattung von Vor- 
stellungen von dem Faktum und von der Hypothese zu unter- 
scheiden. Die Sache ist mit vollständiger Sicherheit wohl von 
Suarez zum erstenmal bestimmt worden; die Herausarbeitung des 
methodologischen Begriffs, unter den dieses logische Phäno- 
men mit vielen anderen fällt, ist dagegen langsam vorgeschritten, 
und wir finden nicht einmal bei Leibniz volle Klarheit hierüber. 

Suarez bestimmt näher, dass der Ort eingeteilt werde in 
einen mathematischen und .in einen physischen; der erstere sei 
die „letzte umfassende Fläche", der letztere eine „unbewegliche 
Fläche". Die Annahme dieser „letzten umfassenden Fläche" ist 
natürlich ebenfalls nur eine mathematische Fiktion, wobei 
eben die Grenze als ein Besonderes, für sich Seiendes angesetzt 
wird. Was dagegen die „physische unbewegliche Fläche" be- 
trifft, so bezieht sich dieser Ausdruck auf die Vorstellung des von 
dem Körper eingenommenen Raumes als eines unbeweglichen 
Gefässes, das eben unbeweglich bleibe, wie auch der Körper 
etwa um sich selbst gedreht wird. Suarez bemerkt hierzu richtig, 
, diese Unbeweglichkeit könne nicht gedacht werden in einer 
realen Fläche, die numerisch dieselbige sei, denn es gäbe keine 
Fläche, die nicht bei der Bewegung ihres Körpers beweglich wäre, 



490 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



sondern sie muss notwendig gedacht werden in der Weise des 
Verhaltens oder des unveränderlichen Abstandes zum Zentrum 
und den Polen der Welt; im imaginären Räume stellen wir feste 
und unbewegliche Flächen, Linien und Punkte vor, und mit Be- 
zug hierauf ist jene Unbeweglichkeit eben die Beziehung auf die 
festen Grenzpunkte des imaginären Raumes*. Mit anderen Worten, 
in dem absoluten Räume mit dem absolut festen Zentrum 1 ) und 
dem festen Koordinatensystem kann der Ort, den ein Körper ein- 
nimmt oder eingenommen hat, losgelöst von diesem Körper, als 
fest und unbeweglich angenommen und bestimmt werden, wenn 
der Körper selbst sich auch bewegt; wir fingieren den Raum mit 
dem festen Achsensystem und dem festen Zentrum, um den abso- 
luten Ort eines Körpers (unabhängig von den Relationen zu den 
umgebenden Körpern) feststellen zu können; aber dieses feste 
Zentrum (das eben als ruhender Körper oder unter dem Bilde 
eines solchen vorgestellt wird) ist eben nur eine Fiktion, um den 
Ort eines Körpers, der doch eigentlich nur durch das Verhält- 
nis zu seiner Umgebung bestimmt werden kann, uneigentlich 
ohne dieses Verhältnis vorstellen zu können. Suarez gibt voll- 
kommen richtig an, dass wir dieser Vorstellungsweise bedürfen, 
um das Verhatten der Dinge zu „erklären"; es wird wohl richtiger 
sein, zu sagen, „begreifen, vorstellig machen"; denn der Gewinn 
ist eben nur ein scheinbarer; eine Fiktion kann niemals etwas 
erklären, nie eine wirkliche Erklärung geben, sie kann aber die 
Vorstellung unterstützen und erleichtern. Denn wie schwerfällig 
wäre unser Denken, wenn wir die Dinge immer nur in bezug 
auf ihre Umgebung fixieren, ihren relativen Ort immer bestimmen 
müssten, wenn wir stets die Vorstellung mitschleppen müssten, 
dass das Ding seinen Ort nur in bezug auf seine Umgebung 
einnehme; die Unruhe, welche dadurch in unsere Vorsteliungs- 
welt hineinkäme, das Schwanken, das uns beim Gedanken an 
dieses Heraklitische nävza $et ergreift — wir glauben, der Boden 
wanke bei dieser Vorstellung — diesen Übelständen wird abge- 
holfen durch die Fiktion des absoluten Raumes, in welchem Alles 
seine feste Situation einnimmt, in welchem also jedes einzelne 
Ding unabhängig gemacht ist von seiner Umgebung. Da diese 
Fiktion an dem tatsächlichen Bestände der Welt keine solche 
Änderung vornimmt, dass dadurch die Naturauffassung verdorben 



1) Vgl, oben S. 462 ff, die Theorie Neumanns vom Körper «. 



§ 20. Die Fiktion des reinen, absoluten Raumes. 491 

würde — obgleich immerhin eine fehlerhafte und irrige Vor- 
stellungsweise dadurch in uns eingeführt wird, deren Korrektur 
wieder notwendig ist — so bietet diese Vorstellungsweise die 
erwünschte Handhabe, sich die Apperzeption der äusseren Phäno- 
mene wesentlich zu erleichtern. Dass die Welt kein Oben und 
Unten habe, dass dieses nur uneigentliche Vorstellungsweisen 
sind — wie man schon im Altertum erkannte — dass diese Aus- 
drucksweise nur eine „Metapher sei", sagt Suarez deutlich (ib. 61), 
so sehr auch seine ganze Schreib- und Vorstellungsweise von 
scholastischen Begriffen durchzogen ist. Er erlaubt aber diese 
Vorstellung eines Oben und Unten im Universum, „es kann 
eine gewisse Lage und gleichsam eine Disposition der Teile des 
Ganzen gedacht werden, rücksichtlich dessen man von ver- 
schiedenen Körpern sagt, sie hätten eine verschiedene Lage im 
Universum"; ohne eine solche Fiktion kann der Begriff des Oben 
und Unten, d. h. eben der Lagebeziehungen „nicht von uns aus- 
einandergesetzt werden". 

Im Vergleich mit diesen, im Wesentlichen richtigen Ansichten 
von Suarez sind die von Cartesius erhaltenen Äusserungen über 
diese Frage verhältnismässig dürftig, sowohl dem Umfang als dem 
Inhalte nach. Wir können an dieser Stelle absehen von seinem 
deduktiven Versuche, a priori aus der reinen Raumvorstellung 
zur Materie zu gelangen; denn dieser Versuch ist fragmentarisch 
und hat auf das eigentliche Problem keinen Einfluss ausgeübt; 
vielmehr geht er alsbald über diesen Versuch hinweg zu der 
Frage nach der Existenz des absoluten Raumes, d. h. er geht über 
die erkenntnistheoretische Frage hinweg zur metaphysischen. — 
Er schliesst sich in der Frage wesentlich an Suarez an, indem 
er die materielle Ausdehnung der Körper, das „innerliche Wo", 
als die Hauptsache und das Einzig-Reale annimmt; der leere, 
absolute Raum ist nur eine sekundäre Vorstellung. 

Bekanntlich soll nach Cartesius das Wesen der materia 
corporea vollständig zusammenfallen mit der sola extensio. 
Er glaubt, duritiem, pondus, colorem et alias omnes ejusmodi 
qualitates, quae in materia corporea sentiuntur, ex ea tolli posse, 
ipsa integra remanente (Princ. II, 4). Die Materie ist res quaedam 
extensa in latum, longum et profundum, weiter ist sie an sich 
betrachtet (proprie sumpta) nichts. Diese Identifizierung des 
Raumes mit der Materie ist sicherlich nicht in dem Platonischen 
Sinne zu verstehen, wonach die x ü ^ a als das materielle Prinzip 



492 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



gesetzt wird, d. b« er will nicht die Materie etwa als blossen 
Raum definieren; vielmehr will er offenbar umgekehrt in der 
Weise des Suarez den Raum auf die Materie reduzieren, in 
dem Interesse, jede Idee eines leeren und absoluten Raumes aus- 
zuschliessen. 1 ) Daher sagt er (Princ II, 8) in re, faktisch unter- 
scheide sich die quantitas von der substantia extensa keineswegs, 
sondern nur ex parte nostri conceptus, ut et numerus a re 
numerata (dasselbe Gleichnis gebraucht Leibniz), Auch spatium 
sive locus internus, und substantia corporea in ea contenta unter- 
scheiden sich nicht in re, sed tantum in modo, qui a nobis 
concipi soient. Er zeigt ähnlich wie später Leibniz, wie bei der 
Änderung der Körperbeziehungen die Ausdehnung des Raumes, 
den der Körper erfüllt, „nicht als geändert gedacht wird* (non 
mutari censeatur), bes. Kap. XII; extensionem loci, in quo erat 
lapis, remanere arbitramur eandemque esse, — obwohl unterdessen 
andere Gegenstände an die Stelle des Steins getreten seien. 

Die Vorstellung des absoluten, fixen Weltraumes verwirft er 
ebenfalls. Er zeigt, wie wir, um die Lage der Körper zu be- 
stimmen, auf andere zurückgreifen, quae ut immobilia spectamur; 8 ) 
er zeigt, wie wir allmählich immer andere, scheinbar feste Körper 
hierzu verwerten, findet es aber dann wahrscheinlich, nulla puncta 
vere immota in universo reperiri; inde concludemus, nullum esse 
permanentem ullius rei locum, nisi quatenus a cogitatione 
nostra determinatus Dies ist der Körper a Neumanns, den 
wir als festen Himmelsmittelpunkt fixieren und fingieren. 

Die Cartesianische Tendenz, Materie und Ausdehnung zu 
identifizieren, ist von Spinoza weiter geführt worden, nur dass 
bei ihm die eigentlich mathematischen Erwägungen zurücktreten 
hinter das rein metaphysische Interesse. So lässt er denn vor 
Allem das Bedenken fallen, welches bei Cartesius noch wirksam 
ist, den absoluten Weltraum zu statuieren. Er will den Riss, 
welchen Cartesius zwischen Gott und Welt gemacht, verdecken 
durch Identifizierung beider: er lässt die Cartesianische Unter- 
scheidung fallen, wonach die Welt „indefinitus^ Gott aber. 



1) Dagegen spricht allerdings Kap. IX der Principia, aber Kap. X zeigt, 
dass er keineswegs die pure Ausdehnung mit der Materie identifiziert. 

2) Vgl. Bacons scharfsinnige Bemerkung: intellectus humanus fertur ad 
abstracta propter naturam propriam, atque ea, quae fluxa sunt, fingit esse 
constantta. Nov. Organ. I, 51. 



§ 20. Die Fiktion des reinen, absoluten Raumes. 493 

.infinitus" sein soll, und setzt beides identisch, sodass Gottes 
Unendlichkeit unmittelbar mit der unendlichen Ausdehnung der 
Welt zusammenfällt. Damit statuiert er den absoluten Raum, der 
Gottes Eigenschaft ist, eine Lehre, welche, wie oben bemerkt, 
Newton teilt. Richtig bemerkt Bau mann (I, 172), dass dies eine 
Verschärfung der cartesianischen Fassung sei; den Begriff der 
positiven, absoluten Unendlichkeit in der verschärften Fassung 
knüpft er direkt an Gott an; diese Anknüpfung schien sich (ib. 75) 
zu empfehlen, sowie man die Ausdehnung als unendlich fasste. 
Die dogmatische Manier Spinozas schliesst das kritische Ver- 
ständnis für diese wichtigen Fragen aus, das wir noch bei Car- 
tesius und noch viel mehr bei Suarez fanden. 

In der englischen Schule ist das Interesse ein vorwiegend 
psychologisches; schon bei Hobbes tritt diese Richtung scharf 
hervor, er zeigt die psychologische Genesis der Raumvorstellung; 
sie entsteht, wenn man kein anderes Akzidens des Dinges be- 
trachtet, als dass es ausserhalb des vorstellenden Subjekts existiert; 
der Raum ist das Bild eines Dinges als (quatenus) existierenden. 
Aber, obwohl er diesen Raum „imaginär** nennt, lässt er es doch 
unentschieden, ob es einen von dem Materiellen unterschiedenen 
Raum gäbe; ja er neigt dazu, die letztere Frage in bejahendem 
Sinne zu beantworten (vgl, Baumann I, 271 ff.). Dasselbe ist 
bei Locke der Fall, welcher den reinen, leeren Raum als ein 
von der Materie unabhängig Existierendes anerkennt. Es gibt 
eine klare und deutliche Idee vom reinen Räume; man kann an 
Raum denken, ohne dass etwas in ihm ist! Dieser reine Raum 
ist ein unendliches, unbewegliches, unteilbares Kontinuum; auf 
die Frage, ob dieser Raum Akzidens oder Substanz sei, weiss 
er keine Antwort, und „schämt sich seiner Unwissenheit darüber 
auch nicht**. Wir sehen also hier die Wirklichkeit des absoluten 
Raumes unbedenklich anerkannt und gelehrt, und an ihn nebst 
an -Spinoza schliessen sich weiterhin Newton und Clarke an. 

So bleiben von den Vorkantianern nur noch Berkeley und 
Hume übrig, bei denen indessen das psychologische Interesse 
das logische erheblich überwiegt. Berkeley bekämpft mit schla- 
genden Gründen die Theorie vom absoluten Räume, wie sie 
Newton im Anschluss an Spinoza und Hobbes gelehrt. Wir 
wollen uns einbilden, sagt er (Baumann II, 416), es wären alle 
Körper zerstört und vernichtet. Was dann übrig bleibt, nennt man 
den absoluten Raum, da alle Relation, welche aus der Lage und 



494 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen 



den Umständen der Körper entspringt, so gut wie die Körper 
selbst mit weggetan ist Nun ist dieser Raum unendlich, unbe- 
weglich, unteilbar, nicht Objekt der „Sensation, d. h. alle seine 
Attribute sind negativ oder privativ; darnach scheint es, dass er 
ein reines Nichts ist, „Allerdings ist, so wirft er sich selbst ein, 
die Ausdehnung desselben ein positives Attribut — aber was ist 
denn das für eine Ausdehnung, die weder geteilt noch gemessen 
werden kann, von der wir keinen Teil mit unseren Sinnen wahr- 
nehmen noch mit unserer Einbildungskraft vorstellen können". 
Auch dem reinen Intellekt entzieht er sich, sodass nichts als die 
blossen Worte vom absoluten Räume übrig bleiben; so bleibt 
in Sensation, Imagination, Intellekt nichts übrig. Es wird rein 
nichts durch diese Worte bezeichnet; — wir sehen, dass Berkeleys 
psychologischer Standpunkt ihm die Einsicht in die logische Natur 
dieses Begriffes verschliesst. Die Tatsache, dass wir keine Idee 
von diesem Räume bilden können, genügt ihm, um den Begriff 
als absolut unberechtigt und untauglich zu verwerfen. Es ist eben 
eine „irrtümliche Vorstellung", wenn wir uns einen absoluten 
Raum bilden, in dem alle Bewegung vor sich gehe. Diese un- 
leugbar richtige Erkenntnis involviert aber nicht die weitere Kon- 
sequenz, welche Berkeley zieht, dass, da dieser absolute Raum 
unseren Sinnen nicht zugänglich sei, er für die Wissenschaft auch 
keinen Vorteil habe. Dasselbe ist mit der absoluten Bewegung 
der Fall. Statt des absoluten Raumes genüge die Betrachtung 
des relativen, der durch den Fixsternhimmel gekennzeichnet ist; 
freilich fügt er hinzu, „ diesen angesehen als ruhend", womit er 
eben die Notwendigkeit des absoluten Raumes wieder einführt, 
da die Ruhe des Fixsternhimmels eine blosse Täuschung ist. Es 
macht sich eben immer wieder die Notwendigkeit der Vorstellung 
eines absolut ruhenden Systems geltend, womit eben der absolute 
Raum gesetzt ist. Berkeley zieht aber nichtsdestoweniger unent- 
wegt gegen die Mathematiker los, welche solche und andere 
unwissenschaftliche, „absurde" und „dunkle" Begriffe gebrauchen. 
Diesen Kampf Berkeleys gegen die Mathematiker, speziell in bezug 
auf die Infinitesimalrechnung haben wir schon oben S. 204 ff. 
kennen gelernt. Berkeley hat sich gar nicht die Frage vorgelegt, 
wie es denn komme, dass die Mathematiker trotz dieser fehler- 
haften Begriffe zu so glänzenden Resultaten kommen; hätte er 
diese Frage aufgeworfen, so hätte er vielleicht auch die Antwort 
gefunden, dass die Mathematiker nicht trotz, sondern gerade 



§ 20. Die Fiktion des reinen, absoluten Raumes. 495 

vermittelst dieser logisch fehlerhaft gebildeten Begriffe zu logisch 
wertvollen Resultaten gelangen. 

Bei Hume finden wir auffallender Weise keine klare Er- 
kenntnis der Streitfrage; es überwiegt bei ihm vollständig die 
psychologische Ableitung der Raumvorstellung. Er zeigt, wie der 
Begriff der Ausdehnung aus dem des Abstandes entstehe. Erst 
bei der Frage nach dem Punkte und den unteilbaren Linien kommt 
Hume auf methodologische Erwägungen, welche jedoch ziemlich 
unbestimmt sind. Auf Kants Stellungnahme in dieser Frage, resp. 
in diesen Fragen hier einzugehen, würde zu weit fuhren: denn bei 
Kant sind die methodologischen Fragen, um welche es sich für 
uns handelt, verquickt mit erkenntnistheoretischen resp. meta- 
physischen Problemen; durch deren Diskussion würden wir von 
unserem gegenwärtigen Ziele weit abgeführt werden. Was aus Kant 
für uns in Betracht kommt, findet sich im III. Teile zusammen- 
gestellt. 



Bei genauerer Analyse des Problems und der auf dasselbe 
gegebenen Antworten zeigt sich, dass unter der allgemeinen Flagge 
des absoluten Raumes mehrere, wohl zu unterscheidende Fragen 
verborgen sind, durch deren Vermischung die Lösung der 
Probleme verzögert wird, und welche daher einer reinlichen 
Sonderung bedürftig zu sein scheinen. Die Probleme, auf welche 
es hier ankommt, hängen mit so magischen Fäden untereinander 
zusammen, dass das Eine unmerklich das Andere nach sich zieht, 
und ehe wir es uns versehen, hat der Weg eine andere Wen- 
dung genommen. Dies ist der gemeinsame Charakter aller prinzi- 
piellen Fragen: in der einen liegen alle anderen und es ist falsch, 
jene Fäden zerschneiden zu wollen, durch welche sie verbunden 
sind. Darin besteht ja die Philosophie, dass sie nicht nur Alles 
in Eins zusammenschaut, sondern auch vom Einzelnen aus zum 
All gelangt. 

Die Mathematik nimmt sich das Recht, ihr Gebäude auf 
den Begriff des reinen Raumes zu basieren. Die „Messkünstler" 
wollen nichts als den reinen Raum und seine Eigenschaften zum 
Gegenstand ihrer Untersuchung machen. Sie legen den Begriff 
einer reinen Ausdehnung ohne alle und jede materielle Erfüllung, 
ohne allen körperlichen Inhalt zu Grunde. Sie sprechen vom 
Räume als einem existierenden Etwas, dessen Wesen darin 



496 



Zweiter Teil; Spezielle Ausführungen 



aufgeht, Ausdehnung ohne Ausgedehntes zu sein, Dieser Raum 
ist eine dreifach ausgedehnte Mannigfaltigkeit, ein blosses Ausein- 
ander, kurz, eine gähnende Kluft, ein Abgrund, in dem nichts ist, 
und der von Nichts begrenzt ist. Das Problem ist: Mit welchem 
Rechte redet der Mathematiker von einem solchen Unding? Hat 
man das Recht, von einem Räume ohne Materie zu sprechen? 
Es ist wohl bemerkenswert, dass die Mathematik damit bewusst 
fortsetzt, was der natürliche Verstand unbewusst begann; es ist 
ein Vorurteil zu glauben, die Wissenschaften setzen auf einmal 
mit einem neuen Hebel ein: im Gegenteil, ein kontinuierlicher 
Weg führt von der populären Vorstellung zum wissenschaftlichen 
Begriff. Auch der Mathematiker verlangt mit seiner Forderung, 
mit Abstraktion von allem Materiellen und körperlich Ausge- 
dehnten, den Begriff der reinen Ausdehnung als solcher an sich 
zu fassen, nichts, was nicht schon in der alltäglichen Raumvor- 
stellung des Menschen enthalten ist» Allein dieser Zusammen- 
hang der Wissenschaft mit dem — ich möchte sagen — Volks- 
bewusstsein enthebt jene keineswegs der strengsten Prüfung ihrer 
Grundbegriffe. So sind wir denn auch berechtigt und verpflichtet, 
die Frage zu stellen: Was soll dieser Raum sein, mit dem ihr 
operiert? Wollt ihr damit behaupten, es gebe einen Raum ausser 
der Materie, einen Raum, der allen Inhalts entleert und entblösst 
sein , kann, dem also nicht einmal das niedrige Geschäft der ex- 
pleiio spaiii zukommt, sondern der nichts ist als Ausdehnung? 
Nicht als ob wir dem Mathematiker den Gebrauch des Begriffes 
streitig machen wollten; der grosse Erfolg der Methode sichert 
ihre Berechtigung. Allein der Methodologe hat noch ein anderes 
Interesse an diesen Begriffen und an der Methode ihrer Bildung 
und Anwendung, als der Mathematiker. Das Interesse des Letz- 
teren ist ein praktisches, das des Ersteren ein theoretisches. Der 
Letztere schafft die wissenschaftliche Praxis, zu der der Erstere 
nachträglich die Theorie sucht So will es uns denn auch speziell 
mit dem Raumbegriff gehen: Wir können uns an dem Erfolg 
allein nicht weiden, und uns damit nicht begnügen lassen; wir 
wollen wissen, nicht allein wie etwa der Begriff entsteht, sowohl 
im vulgären Bewusstsein — dies ist ein psychologisches Problem 
— als im wissenschaftlichen Bewusstsein — dies ist das methodo- 
logische Problem — sondern auch, welchen Wert er für die 
Wirklichkeit und ihre Erkenntnis, nicht nur für ihre Berech- 
nung habe? 



§ 20. Die Fiktion des reinen, absoluten Raumes. 



497 



Ihm fehlt es nicht an geistigen Eigenschaften, 
Doch gar zu sehr am greif lieh Tüchtighaften — 
so lässt sich vom Raumbegriff des Mathematikers sagen. 

Freilich die Vorstellung ist gleich bei der Hand — und sie 
weiss uns diesen reinen Raum recht plausibel zu machen: Wir 
sehen ja die vielen Dinge im Räume; es sei doch gar keine 
grosse Zumutung, nun eins nach dem anderen wegzudenken, und 
da bleibe eben der Raum. Und die begriffliche Abstraktion knüpft 
daran an und spricht von einer reinen, puren Ausdehnung. Indem 
wir diesen Raum des Mathematikers, den er von aller materiellen 
Erfüllung loslöst, den mathematisch-absoluten Raum nennen, 
ist nun das erste Problem, was dieser Begriff repräsentiere? Ob 
er ein Faktum oder eine Hypothese einerseits, oder andererseits 
eine abstraktive Fiktion sein wolle und sein solle? 

Die Eigenschaften dieses Raumes sind der Gegenstand des 
Geometers: seine dreifach ausgedehnte Mannigfaltigkeit, seine 
Ebenheit, und alle die unzähligen Gestaltungen verschiedenster 
Ordnung, welche sich aus demselben ausschneiden, welche sich 
durch Zusammensetzung der elementaren Raumbestimmungen, 
der geraden und der gekrümmten Linie u. s. w. komponieren 
lassen. 

Damit haben wir den verknüpfenden Faden mit dem folgen- 
den Problem gewonnen. Unsere Ortsbestimmungen, die Bestim- 
mungen der Lage der Gegenstände im Räume beginnen mit den 
in den Partikeln : hier, dort, rechts, links u. s. w. ausgedrückten 
Operationen. Wir ziehen Linien, verbindende Fäden von uns zu 
den Gegenständen, von den Gegenständen zu uns, und so 
bestimmen wir Lage und Ort der Dinge — was für den Anfang 
auch genügt. Allein die Relativität dieser Bestimmungsart treibt 
uns weiter, indem wir zunächst jene Verbindungsfäden nicht mehr 
an uns, die wir uns bewegen, sondern an unbewegliche Dinge 
anknüpfen. Und das genügte wiederum, bis die scheinbar ruhende 
Erde mit ihren Wurzeln herausgerissen und als ein ruhelos sich 
bewegender Planet erkannt wurde. So wurde der Verstand, der 
einen festen Nagel sucht, an dem er seine Fäden aufhängen kann, 
wiederum weiter geschickt; und er nahm seinen Flug in den Welt- 
raum hinaus, um dort jenen Punkt zu suchen. Allein schon 
Cartesius und vor ihm Suarez erkannten, dass es einen solchen 
Punkt nicht gebe. Um den Ort eines Dinges — hier zunächst 
eines ruhenden — zu bestimmen, ein für allemal, bedarf es eines 

32 



498 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen, 



ruhenden Schnittpunktes zweier Koordinaten; sind die Entfernungen 
von ihnen aus gegeben, so kann ich diesen Ort so bestimmen, 
dass ihn jeder und ich selbst immer wieder auffinden kann. Den 
Raumteil, den jedes Ding einnimmt (oder einzunehmen scheint), 
kann ich nur dann mit absoluter Sicherheit für ewig bestimmen, 
wenn ich einen unbeweglichen Punkt habe, zu dem er konstante 
Beziehungen hat. »Hat man Keinen, so macht man Einen ■ — 
haben wir denn nicht das ewig ruhende Gefäss des absoluten, 
unbeweglichen Raumes, dessen drei Dimensionen gleichsam das 
nackte Knochengerüst der Welt darstellen? Kurz, man denkt sich 
den Raum, den man vorhin von aller Materie entblösst als absolut 
hinstellte, jetzt auch noch als unbeweglich, als den ruhenden 
Hinter- und Untergrund, auf dem sich Alles abspielt; er ist 
exemt vom Wandel und Wechsel, er ist der Rahmen, in den 
alles nach Mass und Zahl gleichsam hineingesteckt ist. Hat nicht, 
wenn man alle Dinge ausser Einem wegnimmt, doch dieses Eine 
seinen festen Ort, der durch die konstante Beziehung zu den 
umgebenden ruhenden Raumteilen bestimmt ist? Und dieser 
absolute Raum hat ja feste, unbewegliche Achsen. So hat jenes und 
so jedes ruhende Ding seinen absoluten Ort, zu dessen Bestim- 
mung nun die übrigen materiellen Dinge nicht mehr nötig sind. 
Mit Hilfe dieser Vorstellung vom absoluten, unbeweglichen 
Raum ist eine feste Ortsbestimmung denkbar. Nennen wir diesen 
unbeweglichen Weltraum, in dessen Achsensystem die Dinge ein- 
gezeichnet werden, den astronomisch-absoluten Raum (oder 
den topographisch-absoluten Raum, jenes, weil die Astronomie 
das meiste Interesse an ihm hat, dieses, weil der Zweck seiner 
Annahme die feste Ortsbestimmung ist), so haben wir das zweite 
Problem, welches lautet: Mit welchem Rechte nimmt man einen 
absolut-unbeweglichen Raum mit festen Achsen an? Wie kann der 
reine Raum, der doch das Nichts ist, noch die Eigenschaft der 
Unbeweglichkeit erhalten, die nicht aus der sinnlichen und 
trügerischen Anschauung stammt? Denn kein empirisch gegebener 
Körper ist absolut unbewegt 

Und das führt zu einem dritten Problem: Da die Dinge 
nicht allein dauernd einen Raum einnehmen, sondern da auch 
Ortswechsel stattfindet, so wird die Bestimmung der Bewegung 
notwendig. Die Dinge sollen nicht nur einen absoluten Ort 
einnehmen, so lange sie ruhen, sondern auch eine absolute 
Bewegung haben, wenn sie sich von ihrem ersten Orte 



§ 20. Die Fiktion des reinen, absoluten Raumes. 499 

entfernen. Denken wir alle Körper weg ausser einen, so soll dieser 
dann, auch wenn alles Andere verschwunden ist, denselben Ort 
einnehmen, wie zuvor, denselben Teil des absoluten Raumes, 
aus dem dieser Ort eben ein Ausschnitt sein soll; und wenn sich 
der Körper bewegt, so soll sein Weg, auch wenn sonst nichts 
in der Welt ist, derselbe Ausschnitt des absoluten Raumes sein, 
der er zu sein scheint, solange die übrigen Dinge ihn noch um- 
geben. Ganz abgesehen von der Beziehung auf diese soll er 
im absoluten Räume ruhen und sich bewegen; wenn die ganze 
Welt um ihn her in Trümmern stürzte und diese Trümmer „ins 
Nichts hinübergetragen würden", so würde derselbe teilnahmslos 
denselben Ort einnehmen oder denselben Weg machen, wie zu- 
vor. Nannten wir den vorigen Raumbegriff den astronomisch- 
absoluten Raum, so werden wir diesen den mechanisch- (oder 
kinetisch-)absoluten Raum betiteln. Es ist beidemal derselbe 
Raum, nur zu verschiedenen Zwecken, jener zum Zweck der 
festen Ortsbestimmung, dieser zum Zweck der Bestimmung des 
Ortswechsels, jener zur Vorstelligmachung des Raumteiles, den der 
Körper einnimmt, dieser zur Veranschaulichung der Raumstrecke, 
welche er zurücklegt, beidemal in der Absicht, in diesen Bestim- 
mungen unabhängig zu sein von den umgebenden Körpern, also 
um nicht bloss eine relative, sondern eine absolute Bestimmung 
möglich zu machen. 

Allein nicht nur der , Messkünstler * postuliert seinen reinen 
Raum, dessen Eigenschaften er untersuchen will, nicht allein der 
Astronom und Himmelsmechaniker verlangt mit Newton ein 
absolutes Achsensystem, um Ort, Ruhe und Bewegung absolut zu 
bestimmen, auch der Physiker will einen absoluten Raum haben, 
wenn auch in anderem Sinne, Er kann sich die Bewegung selbst, 
die Dinge und ihre Eigenschaften nicht erklären, nicht vorstellig 
machen, wenn wir ihm nicht zu seinen Atomen einen leeren Raum 
zugeben, der sie trennt, durch den hindurch sie wirken. Das 
Vakuum ist, resp. scheint ihm aus noch anderen Gründen not- 
wendig, und so müssen wir viertens das Problem des physi- 
kalisch-absoluten Raumes unterscheiden, das alte Problem, das 
von Parmenides, Demokrit und Aristoteles an bis heute die Geister 
beschäftigte. 

Und zu guter Letzt meldet sich auch noch der Philosoph 
und bringt uns das schwierigste Problem, das uns erst Kant zum 
Bewusstsein gebracht hat Alle Welt nahm die absolute Objek- 

32* 



500 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen, 



tivität der Räumlichkeit überhaupt als das sicherste Phänomen, 
als das gewisseste Faktum an, woran trotz mancher Einwände 
eines Parmenides, Zeno und in neuerer Zeit eines Berkeley und 
Hume nicht zu zweifeln war. Auch wenn ich nicht da bin und 
den Raum vorstelle, auch wenn gar kein mit Bewusstsein begabtes 
Wesen da ist, sind doch der Raum und die Materie, ist die ausgedehnte 
Stoffwelt da, mag nun in dieser ausgedehnten Stoffwelt der Raum 
als solcher absolut sein oder nur relativ; aber die absolute Ob- 
jektivität des Raumes galt als sicher; d. h, niemand zweifelte, dass 
die Räumlichkeit auch losgelöst von dem vorstellenden Ich da 
ist Da kam Kant und riss die Welt aus diesem Irrtum: es gibt 
keinen absoluten Raum ohne das Ich; der Raum ist nur da, 
sofern das ihn vorstellende Bewusstsein da ist; kurz der Raum, 
d. h. eben die Ausgedehntheit der Objekte ist nur relativ zu uns, 
absolut genommen gibt es keine Räumlichkeit. Nennen wir den 
Weltraum in diesem Sinn, d. h. also die Räumlichkeit der Welt 
den metaphysisch- absoluten Raum, so haben wir das fünfte 
und schwierigste Raum-Problem. 

Die prüfende Wissenschaft zieht die Absolutheit in Frage in 
allen jenen fünf Punkten: die erkenntnistheoretische Wissenschaft 
ist es, welche alles auf gegenseitige Beziehungen, Verhältnisse, 
also auf Relationen reduziert, während das Interesse des Be- 
greifens und der Vorstelligmachung auf absolute Bestimmungen 
gerichtet ist. So und in diesem Sinne ist Heraklits Bemerkung 
richtig, dass die niedrige Vorstellung uns überall Festes, Ruhen- 
des, Absolutes zeige, während die Vernunfterkenntnis diesen 
Schein der Ruhe und der Absolutheit zerstöre. In diesem Sinne 
gehören auch die erklärenden und begreifenden Einzelwissen- 
schaften zu der niedrigeren Erkenntnisstufe, während die moderne 
Erkenntnistheorie jene Vernunfterkenntnis Heraklits repräsentiert. 



Nach dieser dialektischen Exposition der verschiedenen Raum- 
probleme kehren wir zurück zu unserem ersten, fundamentalen 
Probleme des mathematisch-absoluten Raumes, und fassen unsere 
Ergebnisse und Überzeugungen in folgenden Worten zusammen: 

Der reine, mathematische Raum ist eine Fiktion. 1 ) 
Der Begriff desselben enthält die Merkmale der Fiktivität: der 



l)Der leere Raum und die leere Zeit, in welcher die Dinge als ver- 
laufend gedacht werden, sind Fiktionen, welche dem Zwecke des Messens 



§ 20. Die Fiktion des reinen, absoluten Raumes. 501 

Gedanke einer Ausdehnung ohne Ausgedehntes, eines Ausserein- 
ander ohne Dinge, welche aussereinander sind, ist ein Ungedanke, 
ist absurd und unmöglich. Der Begriff ist aber für die Mathe- 
matik notwendig, nützlich und fruchtbar, weil der Mathematiker 
nur die Eigenschaften und Gesetze der ausgedehnten Objekte als 
Ausgedehntes, nicht aber ihre Materialität und sonstigen phy- 
sischen Eigenschaften zum Gegenstande der Untersuchung macht. 
Der Begriff des reinen Raumes entsteht, indem das Verhältnis 
der Dinge festgehalten wird, während die Dinge selbst weggedacht 
werden; während wir die Materie und ihre Intensität allmählich bis 
zu 0 abnehmen lassen, behalten wir das blosse Verhältnis der 
materiellen Dinge zurück. Während der Raum strenggenommen 
in demselben Moment mit verschwinden sollte, in welchem die 
Materie zu 0 abgenommen hat und verschwindet, behalten wir 
das Verhältnis zurück, während die bezogenen Dinge verschwunden 
sind. Betrachtet man ein kontinuierlich ausgedehntes Ding, 
und Iässt man in Gedanken die Materie sich immer mehr verdünnen 
und zu 0 abnehmen, so ist der reine Raum die Grenze, wo die 
Materie im Verschwinden begriffen ist, wo die Intensität der 
erfüllenden Materie im Aufgezehrtwerden, Verfliessen begriffen ist, 
— diesen Moment halten wir fest; im nächsten Moment träte 

dienen. Man verdoppelt die erscheinende Wirklichkeit dadurch, dass man die 
nur in und an den Dingen und Ereignissen erscheinenden Raum« und Zeitver- 
hältnisse loslöst und als eine besondere unabhängige Wirklichkeit hinter resp. 
neben das wirkliche Geschehen und Sein stellt; es ist dies insofern eine Ver- 
doppelung, als die Raum- und Zeitverhältnisse, die sich von den Dingen und 
Ereignissen gar nicht realiter abtrennen lassen, in abstrakter Weise angesetzt 
werden; die Dinge, weiche in diesen Raum hineingespannt, die Ereignisse, 
welche in diese Zeit hineinversetzt werden, haben schon an sich Raum- und 
Zeitverhältnisse; indem man aber in jener Weise verfährt, erhält man an dem 
abstrakten und leeren Raum ein dreidimensionales Mass- und Koordinaten* 
System, und ebenso erhält man an der abstrakten Zeitlinie, an dem tempus 
quod aequabiliter fluit, einen Massstab zur Bemessung der anscheinend in 
ihnen befindlichen, resp. verlaufenden Dinge und Ereignisse. Man fingiert 
demnach die leere Zeit und den leeren Raum. 

Wie alle Fiktionen, so führen auch diese, wenn hypostasiert, auf Wider- 
sprüche und Sonderbarkeiten: der progressiv in vnfinitum ist bei diesen beiden 
abstrakten Fiktionen einer der Widersprüche, die sich aus der Behandlung 
derselben nicht als blosser Fiktionen, sondern als Hypothesen ergeben. Diese 
.Schalen ohne Kern" dürfen eben nicht als volle Wirklichkeit behandelt 
werden, auch nicht hypothetisch. Sie sind keine Hypothesen, denen eventuell 
noch etwas Wahres entsprechen kann, sondern Fiktionen, welche mit dem 
Bewusstsein ihre Falschheit gebildet sind, resp. sein sollten. 



502 



Zweiter Teil; Spezielle Ausführungen. 



schon das Nichts, die Null an Stelle der Materie ein, die in dem 
letzten Momente ihres Verfliegens und Verfliessens erhascht wird. 
Aus diesem Grunde stellen wir uns Alle den reinen Raum als 
erfüllt mit einem unendlich dünnen Fluidum vor, wo „unend- 
lich 1 * nicht bloss als unbestimmbar gemeint ist, sondern in dem- 
selben Sinne, wie in der Infmitesimalkonzeption, wo „unendlich 
klein* identisch mit „0 a ist, — ob wir sagen, die den reinen 
Raum erfüllende Materie ist unendlich dünn, oder sie ist — 
keine, ist hier gleichgültig. Beidemal wird der Raum noch unter 
derselben Form gedacht, in der uns der erfüllte Raum bekannt 
ist — als ausgedehnte Wirklichkeit, nur dass der Faktor der Er- 
füllung als 0 oder unendlich klein gesetzt wird. Bezeichnen 
wir den erfüllten Raum mit R, die erfüllende Materie von be- 
liebiger Intensität mit i, und lassen wir die Intensität bis zu 0 
abnehmen (oder unendlich klein werden), so ist der reine, mathe- 
matische Raum identisch mit dem Grenzwert. 

Eine andere Form, den „reinen Raum* abzuleiten, besteht 
darin, dass man den Raum mit Leibniz als Verhältnis betrachtet, 
als Verhältnis von Punkten, durch deren Beziehung erst der Raum 

x 

entsteht, schematisch ausgedrückt, durch den Wert-—. Lässt man 
beide Faktoren x und y zu 0 abnehmen, oder überhaupt weg- 
fallen, so bleibt noch als Rest ~ zurück, als reine Form des 

Verhältnisses ohne die bezogenen Dinge, eine Abstraktion, welche 
die Reflexion ohne Schwierigkeit vollziehen kann. 

Wir haben in dem bisherigen Verlauf unserer Untersuchung 
als Resultat gefunden, dass der Raum begriff, d. h. der Begriff 
des reinen, mathematischen Raumes durch einen eigentümlichen 
Prozess unseres Vorstellungsvermögens gebildet wird, in welchem 
Abstraktion und Imagination auf eine merkwürdige Weise 
zusammenwirken. Auf der einen Seite löst die Abstraktion 
etwas, was wir nur an einem Anderen erfahren (sei es als Eigen- 
schaft, sei es als Verhältnis), los von diesem Anderen, an welches 
es doch so fest und unzerreisslich gebunden ist, dass, wenn man 
das Losgerissene genau logisch analysiert, man sich gestehen 
muss, man habe eben nichts mehr in der Hand. Die Abstraktion 
nimmt die Eigenschaft, nimmt das Verhältnis weg vom Substrat, 
von den Elementen, und genau genommen haben diese los- 
gerissenen Stücke ohne das, wovon sie losgerissen sind, keinen 



§ 20. Die Fiktion des reinen, absoluten Raumes. 503 

Sinn, sie verfliessen in das Nichts, sie führen auf das Absurde. 
Der Abstraktion, welche auf diese Weise das Gegebene gleichsam 
in Nichts auflöst, sodass sie diesem Ergebnis ihrer Tätigkeit 
ratlos gegenübersteht, kommt die Imagination zu Hilfe, welche 
vermittelst ihrer eigentümlichen Gaben Rettung bringt. 'Die Ima- 
gination schiebt dem losgelösten Verhältnis die Vorstellung der in 
Verhältnis stehenden Elemente wieder unter, aber in einer Form, 
in welcher sie gleichsam nur noch ein Schatten dessen sind, als 
was sie in Wirklichkeit sich uns darstellen. So gibt sie dem 
Abstraktionsprodukt eine Stütze, sodass es nicht im Abgrund des 
Nichts verschwindet 

Die Abstraktion löst also auf der einen Seite den Raum, 
der doch nur ein Verhältnis materieller Dinge ist, los von diesen 
Dingen. Allein so betrachtet, verschwindet eigentlich das Ver- 
hältnis mit dem Bezogenen, und nehmen wir noch die Materie weg, 
so verschwindet folgerichtig auch der Raum. In diesem Falle 
heisst es: wenn der Herzog fällt, muss auch der Mantel nach. 
Und doch braucht die Wissenschaft diese Abstraktion, um das 
Verhältnis ganz im Allgemeinen zu untersuchen. Allein ohne 
das Bezogene zerfliesst das Verhältnis in Nichts. Nun kommt 
die Imagination, welche durch ihre beliebige Vergrösserungs- und 
Verkleinerungsgabe es ermöglicht, die bezogenen Elemente so 
unendlich klein vorzustellen, dass sie gerade noch an der Grenze 
der Vorstellungsmöglichkeit liegen. So ist es hier mit der Materie. 
Die Imagination vermag den Prozess der Verdünnung, der Eva- 
kuation so weit zu treiben, als sie will, so weit, bis die Materie 
ganz verschwindet. AHein ehe dieses letzte Ereignis eintritt, 
stellt sie gleichsam ihren Verdünnungsprozess ein, bleibt in dem 
Momente stehen, wo die Materie so verdünnt ist, dass sie im 
nächsten Moment ins Nichts zerfliessen würde; mit anderen Worten, 
sie macht Halt an der Grenze, wo die Materie ins Nichts 
verschwindet. 

Diese eigentümliche Kraft unserer Imagination ist nicht 
irgend etwas Unerklärliches, so wenig als Vergrösserungs- und 
Verkleinerungsgläser uns noch wunderbar sind: der optische 
Mechanismus erklärt uns diese Erscheinung, So erklärt uns auch 
der psychische Mechanismus jene Erscheinung, dass wir imstande 
sind, ein Vorstellungsbild beliebig zu vergrössern und zu ver- 
kleinern, es nicht nur extensiv, sondern auch intensiv, sei es ins 
Unendliche zu steigern oder ins Unendliche abnehmen zu lassen. 



504 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



Und ebenso liegt nichts Wunderbares darin, dass wir diesen Pro- 
zess beliebig abschneiden und unterbrechen können. Nur ist ein 
Unterschied bei der Vergrösserung und der Verkleinerung. Jene 
braucht nicht aufzuhören, diese muss es unter Umständen. Durch 
sukzessive Abnahme kann ein Objekt verschwinden. Lassen wir 
also in der Vorstellung irgend ein Vorstellungsobjekt sukzessiv 
sich vermindern (hier intensiv), so ist das Resultat, welches drohend 
in der Ferne steht, das Nichts. Das diskursive Denken kann 
diesen Prozess in beliebig kleine Momente zerschneiden, und 
kann so auch den Moment vor dem Verschwinden als einen unter 
diesen Momenten fixieren. Und dieser kritische Moment ist nun 
wissenschaftlich von höchster Bedeutung. In diesem Moment ist 
das betreffende Objekt gleichsam mit dem einen Fusse schon im 
Grab des Verschwindens, mit dem anderen gehört es noch der 
Klasse der lebenden Vorstellungen an. Und gerade in diesem 
widerspruchsvollen Moment hat diese Vorstellung diejenigen Eigen- 
schaften, welche wissenschaftlich am fruchtbarsten sind. 

Wie wir also ein Verhältnis, speziell den Raum loslösen 
von den bezogenen Elementen, deren Verhältnis er ist, und es 
verhindern wollen, dass uns dieses Verhältnis, wie es strenge 
Logik fordert, ohne Bezogenes nicht unter der Hand zerrinne, so 
substituieren wir ihm das Bezogene in dem oben beschriebenen, 
künstlich präparierten Zustand, in dem es so zugerichtet ist, dass 
es einerseits gerade noch die Dienste tut, das Verhältnis als ein 
Reales zu stützen, und doch andererseits der Betrachtung dieses 
Verhältnisses an sich keine Hindernisse in den Weg legt, da es 
bis zu den Grenzen der Möglichkeit seiner Eigentümlichkeit be- 
raubt ist Indem wir so das gleichsam zum Schemen abgemagerte 
Bild der Materie, die eben darum auch nur noch als blosses 
Schema fungiert, zur Grundlage des Verhältnisses machen, wird es 
uns möglich, dieses selbst an sich zum Gegenstand der Unter- 
suchung zu machen, ohne dabei durch die bezogenen Elemente 
und ihre Eigenschaften gestört zu sein. 

Mag der Raum nun als Eigenschaft oder als Verhältnis oder 
als beides zu bezeichnen sein, er hängt einmal funktionell zu- 
sammen mit oder vielmehr ab von den materiellen Phänomenen. 
Diese sind die unabhängig Veränderlichen, er ist das abhängig 
Veränderliche. 

Bezeichnen wir den Raum mit R, die einzelnen materiellen 
Phänomene, von denen er abhängt, schematisch mit M 1 , M* M* 



§ 20. Die Fiktion des reinen, absoluten Raumes. 



505 



u. s. w., so erhalten wir folgende Funktion; 

R=F(M 1 ,M a ,M s ) 
oder wenn y die abhängig, x die selbständig veränderliche Grösse 
bedeutet: y=f(x). 

Lassen wir x zu 0 abnehmen, so sollte naturgemäss y eben- 
falls verschwinden. Wir lassen x aber nicht ganz zu 0 abnehmen, 
sondern nur bis zu der Grenze, ehe es zu Null verschwindet, und 
so erhalten wir für y einen Wert, der das gibt und enthält, was 
wir suchen und brauchen. 

Wir behalten R noch bei, obgleich M\M 2 ,M 3 , verschwunden 
sind: oder genauer, wir rufen ja dem Verschwindungsprozess ein 
Halt zu, ehe das Nichts eintritt — wir betrachten R da, wo die 
M, von denen es abhängt, an der Grenze ihrer Wirksamkeit an- 
gekommen sind. Mit anderen Worten, wir betrachten den Raum 
an sich, ohne die bezogenen Elemente oder richtiger, da wo die 
bezogenen Elemente von uns auf eine Form reduziert sind, in 
der sie uns nicht mehr stören. 

Es kommt darauf an, sich klar zu machen, dass der Raum 
des Mathematikers schlechterdings nichts Anderes ist, als ein 
wissenschaftliches, künstliches Präparat, welches sich von den 
künstlichen Präparaten, von schematischen Hilfsgebilden u. s. w, 
anderer Wissenschaften nur durch die Art des zu untersuchenden 
Gegenstandes, nicht aber durch die Methode unterscheidet. Die 
Einheit der Methode ist es, welche stark betont werden muss. 
Nur diese methodische Betrachtungsweise vermag die alten Vor- 
urteile über die Objekte der Mathematik auszurotten. Nur der 
Methodologe kann, indem er den verschlungenen Gängen des 
menschlichen Verstandes nachgeht, zeigen, wie auch in der Mathe- 
matik genau dieselben methodologischen Prinzipien walten, wie 
in den anderen Wissenschaften. Die Objekte der Mathematik sind 
künstliche Präparate, Kunstgebilde, fiktive Abstrakta, abstrakte 
Fiktionen, wie dies unten noch von den einzelnen mathematischen 
Gebilden erwiesen wird. Hier handelte und handelt es sich um 
den Raumbegriff im Allgemeinen, um den reinen, absoluten Raum, 
ein Musterbeispiel einer normalen, wissenschaftlichen Fiktion. 
Eben deshalb hat es keinen Zweck, die in diesem Begriff liegenden 
eklatanten Widersprüche hinwegdisputieren zu wollen. Als 
echte Fiktion muss die Raumvorstellung in sich selbst wider- 
spruchsvoll sein. Wer die Raumvorstellung von diesen Wider- 



506 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen, 



Sprüchen „ befreien* will, der nimmt ihr ihr Charakteristikum, 
so zu sagen ihre Ehre als Musterfall einer echten und ge- 
rechten Fiktion* 



§ 21. 

Fläche, Linie, Punkt u. s, w. als Fiktionen.*) 

Was vom reinen, absoluten Räume gilt, das gilt — mutatis 
mutandis — nun auch von den einzelnen mathematischen Räumen 
und Raumteilen, zunächst von der Vorstellung der sog. mathe- 
matischen Körper, wie Kugel, Zylinder, Kubus, Prisma u. s. w. Die 
Grundlagen für die psychologisch-logische Entstehung dieser Gebilde 
sind die entsprechenden empirischen körperlichen Gegenstände 
Aber wiederum sind Abstraktion und Imagination in derselben Weise 
tätig, wie es oben beschrieben wurde. Das Körperliche wird auf 
ein Minimum, zuletzt auf Null reduziert; damit mussten nun 
streng logisch die Umgrenzungen jener körperlichen Gegenstände 
ebenfalls wegfallen und so zu sagen in sich zusammenfallen. 
Aber indem eben nur vom erfüllenden Inhalt abstrahiert wird, 
wird die Form noch festgehalten, und ehe jene Umgrenzungen, 
alles Gehaltes entleert, in sich selbst zusammenbrechen, werden 
sie von der Imagination gestützt, welche, entsprechend der Eva* 
kuation des Inhalts und Reduktion desselben auf eine unendliche 
Verdünnung, die Umgrenzungen als unendlich dünne Schalen, 
als leere Hülsen, als Haut, als Deckblatt, ja als blosse Gestelle 
aufrecht erhält. Solche Formen ohne Inhalte sind an sich nichts, 
ja schlimmer als nichts, denn sie sind widerspruchsvolle Gebilde, 
ein Nichts, das doch noch als ein Etwas vorgestellt wird, ein Etwas, 
das schon in ein Nichts übergeht — aber eben diese wider- 
spruchsvollen Gebilde, diese fiktiven Wesenheiten sind die unent- 
behrlichen Grundlagen des mathematischen Denkens. Die Um- 
grenzungen des empirischen Körpers werden für sich genommen, 
werden abstrahiert und hypostasiert, und mit diesen imaginativen 
Gebilden operiert die Mathematik, speziell die Geometrie. 

Dasselbe ist — wiederum mutatis mutandis — der Fall mit 
Fläche, Linie, Punkt. Dass die Fläche die Grenze des Körpers 



*) Weitere Ausführungen zu Teil I, Kap. 10, Ä 71 ff. 



§ 21, Fläche, Linie, Punkt u.s.w. als Fiktionen. 507 

sei, ist eine uralte Definition, Geschichtlich und psychogenetisch 
kommen natürlich zuerst nur wirkliche „Flächen", d. h. flache 
Umgrenzungen in Betracht: der Begriff der krummen Fläche entsteht 
erst später. Flache, also wirklich ebene Gebilde gibt es in der 
Natur, sowie schon durch primitives Eingreifen des Menschen sehr 
viele: aber hier wird nun abstrahiert von demjenigen Material, 
das die Fläche bildet, die formale Beschaffenheit wird allein für 
sich genommen und von der Imagination verselbständigt. Auch 
hier ist es an sich ein Widerspruch, von einer Fläche als solcher 
zu sprechen, aber über solche und noch viel härtere Widersprüche 
geht das wissenschaftliche Denken unbedenklich seinen Weg. 
Würde das Denken sich über alle derartige Widersprüche auf- 
halten, so käme es nie vom Fleck. 

Und so ist es auch mit der Linie — als „Grenze der Fläche*. 
Auch Linien zeigt uns die Natur, sowie die primitive Kunst genug 
in Wirklichkeit, aber doch, so zu sagen, ins Körperliche versenkt. 
Erst die Abstraktion reisst diese Linien heraus als etwas Beson- 
deres, für sich Seiendes, und ruft die Imagination zu Hilfe, um 
diese Gebilde nun zu hypostasieren, Dass nun diese Gebilde nur 
fiktive Vorstellungen sind, liegt auf der Hand. Was der Mathe- 
matiker, was der Geometer auf die Tafel zeichnet, aufs Papier zieht 
als Linie, das ist ja keine Linie im mathematischen Sinne, denn 
es hat immer noch eine, wenn auch auf ein Minimum reduzierte 
zweite (ja sogar drittel) Dimension. Eine Linie im mathematischen 
Sinne kann nie sinnlich dargestellt werden, sie ist eine Sache der 
Abstraktion und der Imagination, und sie bleibt auf alle Fälle ein 
widerspruchsvolles Gebilde. 

Dasselbe gilt schliesslich natürlich auch vom Punkte, den 
man die Grenze der Linie zu nennen pflegt. Auch hier hat 
die Mathematik im Anschluss an gewisse sinnliche Erfahrungen, 
deren es ja genug in Natur und Menschenwelt gibt, die unsinn- 
liche, ja tibersinnliche Idee eines nach jeder Dimension hin aus- 
dehnungslosen Punktes gebildet — eine in sich haltlose und wider- 
spruchsvolle Idee, einen trotz seines Minimums monströsen Begriff 
eines Etwas, das schon ein Nichts ist, eines Nichts, das doch 
noch ein Etwas sein soll. Der mathematische Punkt ist vollends 
eine vollendete echte Fiktion der mathematischen Wissenschaft. 
Doch ist auch hier zu beachten, dass die Wissenschaft mit dieser 
Idee, wie mit den Ideen der Linie und Fläche nicht etwas absolut 
Neues setzt, sondern nur fortsetzt, was der gewöhnliche Mensch 



508 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



schon unbewusst begonnen hat: die Wissenschaft ist auch hierin 
die reichere Erbin des gewöhnlichen Menschenverstandes. 

Der Punkt als ein null-dimensionales Gebilde ist eine in 
sich gänzlich widerspruchsvolle Idee, aber ebenso notwendig als 
absurd. Ein Gebilde ohne jegliche Dimension ist ein Nichts in 
sich selbst. Aber auch das ein-dimensionale Gebilde der Linie, 
das zwei-dimensionale Gebilde der Fläche sind widerspruchsvolle 
Ideen. In Wirklichkeit kennen wir nur materielle körperliche 
Dinge, aus deren ausgedehnter Eigenart wir die drei Dimensionen 
abstrahiert haben. Das zwei-dimensionale Gebilde der Fläche 
und das ein-dimensionale Gebilde der Linie, das wir an diesen 
Körpern gelegentlich zu beobachten glauben, sind nur Abstrak- 
tionen, durch die Imagination verselbständigt, also Fiktionen, mit 
denen wir rechnen, als ob ihnen Wirklichkeiten entsprächen, not- 
wendige Vorstellungshilfen und Hilfsvorstellungen, die uns wohl 
im Denken unterstützen, die uns aber keinen realen Aufschluss 
gewähren können. Wir rechnen hier mit Undingen, statt mit 
Dingen, aber es sind nutzliche und unentbehrliche Undinge. Wir 
aber halten diese Undinge für Dinge, weil wir gewöhnt sind, 
alles, dem wir einen Namen geben, für real zu halten, ohne zu 
bedenken, dass wir nicht bloss Reales, sondern auch Irreales durch 
Namen fixieren können. Wer letzteres einsieht, und wer weiter 
einsieht, dass gewisse irreale Vorstellungen uns notwendig und 
nützlich sind, der hat den wahren, wissenschaftlichen Begriff der 
Fiktion erfasst. 

Bei der Betrachtung von Fläche, Linie und Punkt kann nun 
noch ein anderer Gesichtspunkt angewendet werden. Bisher 
nahmen wir diese Gebilde als Grenzen in dem Sinne, dass die 
Grenzen durch unsere Imagination verselbständigt sind, obgleich sie 
doch nur Grenzen an einem Etwas sind, die nur durch unsere Ab- 
straktion von ihren realen Gegenständen losgelöst werden. Aber 
wir können auch hier den Begriff des Fliessens, des fliessenden 
Abnehmens vom Realen bis zu Null einführen, und die betreffenden 
Gebilde dann so entstehen lassen, dass wir den Verschwindungs- 
prozess im letzten Augenblick aufhalten, wie wir das schon im 
vorigen § 20, S. 501 ff. bei der Entstehung des reinen, mathe- 
matischen Raumes getan haben. Nehmen wir einen Würfel, einen 
körperlichen, nicht einen mathematischen. Diesen Kubus, von 
dessen 6 Oberflächen wir Eine besonders ins Auge fassen, lassen 
wir in der Vorstellung allmählich zusammenschrumpfen, derart, 



§ 21. Fläche, Linie, Punkt u. s.w. als Fiktionen. 509 

dass die dritte Dimension desselben immer mehr abnimmt. So 
wird er immer dünner, und aus dem Kubus wird eine immer 
dünner werdende Platte. Aber auch diese lassen wir immer mehr 
abnehmen, aber im letzten Augenblick, ehe sie ins Nichts ver- 
schwindet, halten wir sie noch fest: sie ist noch ein Etwas, das 
doch nichts mehr ist. Das so entstehende Gebilde hat nur noch 
zwei Dimensionen, da die dritte verschwunden ist, oder da diese 
richtiger im Moment des Verschwindens noch festgehalten wird, 
und so nennen wir dieses Gebilde auch eine unendlich-dünne Platte. 
Dem Begriff nach darf dieses Gebilde gar keine dritte Dimension 
mehr haben, aber der leichteren Vorstellung halber schreiben wir 
ihr noch eine unendlich -dünne Dicke zu. So haben wir die 
Fiktion der mathematischen Fläche. Wir können sie auch derart 
entstehen lassen, dass wir den Kubus nicht (wie oben) nur von 
einer Seite her bis zur Grenzfläche zusammenschrumpfen lassen, 
sondern von beiden Seiten her nach der Mitte zu, so dass genau 
in der Mitte die unendlich dünne Fläche übrig bleibt als Rest. 

So ist es auch — mutatis muiandis — mit der Entstehung 
der Linie. Lassen wir nun jene so gewonnene mathematische 
Fläche, von der wir eine Grenzlinie im Auge behalten, nach 
dieser hin langsam abnehmen, so bleibt im Moment des Ver- 
schwindens die Linie Übrig, und lassen wir diese wiederum, unter 
Festhaltung des einen ihrer beiden Endpunkte, sukzessiv abneh- 
men, so bleibt der mathematische Punkt übrig — wobei Linie 
und Punkt beidemal als fiktive Grenzbegriffe übrig bleiben, wie 
oben die Fläche. Die Linie kann man aber auch (ohne Da- 
zwischenkunft der Fläche) gewinnen, wenn wir einen Stab ins 
Unendliche abnehmen lassen; es bleibt dann im Moment des 
Verschwindens auch eine unendlich dünne Linie zurück. Und 
den Punkt können wir (ohne Dazwischenkunft der Fläche und 
Linie) direkt aus dem Körperlichen gewinnen, wenn wir eine 
Kugel oder eine Scheibe ins Unendliche abnehmen lassen, wobei 
die ins Nichts verschwindende Masse im letzten Augenblicke 
festgehalten wird und damit den Punkt ergibt 

Streng begrifflich hat die Fläche keine 3. Dimension, die 
Linie keine 2. Dimension. Statt dessen können wir auch sagen: 
das Geleugnete ist beidemal da, nur in unendlich kleinem Masse; 
letztere Ausdrucksweise entspricht mehr den Bedürfnissen unserer 
Imagination, erstere mehr den Anforderungen der Abstraktion. 
Aber methodologisch kommt Beides auf dasselbe hinaus: auf 



510 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



widerspruchsvolle Begriffsgebilde, welche nur als Aushilfsvor- 
stellungen erlaubt sind, die aber vor dem Forum der strengen 
Logik als widerspruchsvolle Gebilde verurteilt werden müssen, 
Aber ihre Verurteilung ist eine bedingte: sie werden verurteilt, 
weil sie logisch abnorm und in sich unmöglich, also lebens- 
unfähig sind, aber sie werden so lange als berechtigt zugelassen, 
als sie sich nur als Aushilfsvorstellungen gerieren, als nützliche 
Fiktionen. Jedesmal, wo sie mehr sein wollen, tritt die logische 
Verurteilung in Kraft, und sie werden aus dem Kreis der Real- 
vorstellungen hinausgewiesen; aber sie werden geduldet, ja viel- 
mehr herbeigeholt, weil man sie immer wieder zur Aushilfe 
gebraucht Kein Wunder, dass sie gelegentlich immer wieder den 
Anspruch erheben, realgültige Sach Vorstellungen 2ü sein; aber 
dies ist eine missverständliche Ehre, nach der sie geizen: ihre 
wahre Ehre besteht darin, als Fiktionen zu dienen, als bewusste 
Selbsttäuschungen des Verstandes, der ohne diese unlogischen 
Kinder der Phantasie zur Unfruchtbarkeit verdammt wäre. 

Bemerkenswert ist hier nun noch Eines, was wohl bisher 
noch nirgends oder wenigstens noch nicht genügend beachtet 
worden ist Aus den bisherigen Darlegungen erhellt, dass schon 
die elementarsten Begriffe der Mathematik die Infinitesimal-Fiktictfi 
einschliessen. Nicht erst da, wo man gewöhnlich vom Infinitesi- 
malen spricht — bei der Berechnung der Kurven und bei der 
Differentialrechnung — sondern viel früher, schon bei den ele- 
mentarsten Grundbegriffen kann die Mathematik nicht ohne die 
Infinitesimal-Fiktion auskommen. Wie wir sahen, sind Fläche, 
Linie und Punkt mathematische Fundamentalbegriffe, welche ohne 
die lnfinitesimal-Fiktion gar nicht vorstellbar sind. Man wird aus 
dieser methodologischen Erkenntnis vielleicht auch eine andere 
Behandlung der Eleraentar-Mathematik als bisher ableiten wollen 
und können. 



Eins ist noch in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Wie 
es in der Natur der quantitativen Bestimmungen der materiellen 
Gegenstände liegt, dass sie sich leicht durch isolierende Abstrak- 
tion 1 ) von dem letzteren loslösen lassen — leichter als qualitative 
Bestimmungen — so ist es auch eine natürliche Konsequenz aus 

1) Über den methodologischen Wert der isolierenden Abstraktion in 
anderen Wissenschaften vgl, oben S. 28 ff., 372 ff., 383 ff. 



§ 21. Fläche, Linie, Punkt u. s. w. als Fiktionen. 511 

der eigentümlichen Natur derselben quantitativen Bestimmungen, 
dass sie sich bei Gelegenheit dieser Abstraktion leicht in einer 
vollkommeneren Weise abstrakt denken lassen, als sie in der 
Wirklichkeit selbst vorkommen. Es ist eine alte Wahrheit, dass 
es in der Natur keinen vollkommenen Kreis gibt, während der 
Mathematiker nur mit einem solchen rechnet Ein solcher absolut 
vollkommener Kreis ist eine willkürliche, aber zweckmässige, ja 
notwendige Fiktion des menschlichen Denkens, Ebenso sind alle 
anderen in absoluter Vollkommenheit gedachten mathematischen 
Figuren (z. B. das Quadrat, das gleichseitige Dreieck, die Kugel 
u. s. w.) derartige ideelle Fiktionen. Auch in diesem Sinne ist 
die Mathematik wesentlich auf Fiktionen aufgebaut. Eine voll- 
ständige Umkehrung des an der Wirklichkeit orientierten Denkens 
entsteht aber, wenn, wie seit Piaton vielfach, die Behauptung auf- 
gestellt wird, jener Umstand, dass in der Natur kein vollkommener 
Kreis u. s. w. zu finden sei, beweise, dass das Empirische nur eine 
unvollkommene, „halbreale* Nachahmung des absoluten Wirklichen, 
des Idealen sei. Diese Behauptung macht eben aus den metho- 
dischen Fiktionen der Mathematik — Dogmen. Nun gilt der 
vollkommene Kreis u. s. w. als dogmatisch angenommene Wirk- 
lichkeit, während er doch nur eine methodologisch zweckmässige 
Hiifsvorstellung ist. Auch hier führt die missverständliche Ver- 
wandlung methodischer Fiktionen in systematische Dogmen zu 
den verhängnisvollsten Irrtümern. 



§ 22. 

Die Fiktion des Unendlich-Kleinen.*) 

Um die Funktion, welche das Unendlich-Kleine spielt, zu 
ermessen, müssen wir die Natur der Objekte, bei denen es ins 
Spiel kommt, näher betrachten. Die mathematischen Gebilde sind 
die abstrakten Formen des räumlichen und zeitlichen Nebenein- 
ander- und Nacheinanderseins. Eine fundamentale Eigentümlich- 
keit derselben, die in letzter Linie etwas durchaus definitiv 
Gegebenes ist, ist ihre Einteilung in Gattungen und Arten. So 



*) Weitere Ausführungen zu Teil I t Kap. 12, S. SQff,; Kap. IS, S.87f. 



512 



Zweiter Teil: Spezieile Ausführungen. 



haben wir z t B. die Gattung der Kegelschnitte, welche sich in die, 
verschiedenen Arten: Kreis, Ellipse, Parabel, Hyperbel teilt. Es 
sind ganz bestimmte und genau definierbare Modifikationen der 
allgemeinen Form des Begriffs, welche aus der Gattung einzelne 
Arten machen. Man kann von der einen Art zur anderen nur 
durch einen begrifflichen Sprung gelangen. So ist es auch, um 
noch ein anderes Beispiel anzuführen, mit den einzelnen Arten 
der Dimensionen und der in ihnen enthaltenen Gebilde: Linie, 
Fläche, Körper sind drei Arten, welche ganz genau und bestimmt 
durch die Anzahl der Dimensionen definiert sind. Zwischen diesen 
Begriffen besteht eine absolute Diskontinuität, d. h. man gelangt 
von dem Einen zum Anderen nur durch einen begrifflichen Sprung. 
Wenn man, wie man muss, an der identischen Natur jedes 
Begriffes festhält, so bleibt jener begriffliche Unterschied uner- 
schütterlich. 

Nun haben die mathematischen Gebilde freilich eine Eigen- 
schaft (wenn man überhaupt eine blosse formale Denkmöglich- 
keit, die wir auf sie anwenden, „ Eigenschaft * nennen darf): die 
Möglichkeit der unaufhörlich fortgesetzten Verkleinerung und 
Vergrösserung. Und dazu kommt die materielle Eigenschaft, dass 
durch fortgesetzte Verkleinerung (oder Vergrösserung) eines Ele- 
mentes eines solchen Artbegriffes sich derselbe einem benach- 
barten immer mehr nähert. Die begriffliche Formel der Ellipse 
verlangt z. B. das Vorhandensein zweier Brennpunkte, welche sich 
also auch in einer endlichen Entfernung befinden müssen. Diese 
Entfernung selbst aber ist unbestimmt, und sie kann beliebig gross 
oder beliebig klein sein; so lange die Bedingung noch inne- 
gehalten ist, haben wir eine Ellipse. Es ist nun aber eine objek- 
tive und unleugbare Tatsache, dass sich, je näher sich die Brenn- 
punkte rücken, die Ellipse desto mehr dem Kreise nähert Daraus 
folgt, dass, wenn jene Entfernung ganz geschwunden ist, die Ellipse 
in einen Kreis übergegangen ist. Mit Rücksicht auf die Natur dieser 
Gebilde als Kegelschnitte kann man dasselbe auch so ausdrücken: 
es ist ein begriffliches Element der Ellipse, schräg gegen die Achse 
des geraden Kreiskegels zu stehen. Es ist aber eine Tatsache, 
dass die Ellipse sich immer mehr dem Kreise nähert, je mehr sich 
die schräge Stellung des Schnittes der zur Achse senkrechten 
Stellung annähert. Hört die schräge Stellung ganz auf und geht 
sie in die Normalstellung über, so ist die Ellipse verschwunden, 
und der Kreis tritt an ihre Stelle. Allein dieser Übergang von 



§ 22. Die Fiktion des Unendlich-Kleinen. 



513 



der einen zur anderen Art ist zuletzt doch nur möglich durch 
einen plötzlichen Sprung, der auf einmal in ein ganz neues 
Gebiet führt. Die Definition der Ellipse verlangt, dass sie eine 
Exzentrizität, dass sie zwei Brennpunkte F und F besitze, welche 
die Entfernung 2 e = m haben. Es entsteht eine durchaus anders 
geartete Gestalt, wenn diese Entfernung wegfällt. Zwischen Vor- 
handensein von m und Fehlen von m gibt es nun aber absolut 
kein Drittes. Der Begriff der Ellipse besitzt m als variables Element. 
Ich kann in beliebigen Intervallen m steigern oder vermindern, 
die Ellipse bleibt ewig eine Ellipse; solange m noch einen end- 
lichen Wert besitzt, bleibe ich in derselben Art Lasse ich es 
weg, so gelange ich in fremdes Gebiet Somit gibt es keinen 
stetigen Übergang von der Ellipse zum Kreis. Der Fortschritt 
von Ellipse zum Kreis ist schlechterdings diskontinuierlich. So 
sehr ich auch die Ellipse quantitativ variiere, eine Änderung der 
Eigenschaften, d. h, also der Art führe ich dadurch nimmermehr 
herbei. Ellipse und Kreis hängen nicht ohne Unterbrechung 
zusammen. Es ist eine Kluft da, über welche keine Brücke führt. 
Zwischen Verkleinerung und gänzlichem Verschwinden, zwischen 
Etwas und Nichts gibt es keine Vermittelung. 

Tatsache ist also, die Ellipse wird durch sukzessive Ver- 
kleinerung von m dem Kreis stets genähert: wird jene Distanz m 
zu 0, so tritt an Stelle der Ellipse der Kreis. Aus diesen Tat- 
sachen macht nun aber die Vorstellung noch ein Weiteres, 
was aber rein im Gebiete der Vorstellung, der Imagination bleibt 
Wir können diese neue Argumentation auf doppeltem Wege 
darstellen. Gehen wir zunächst aus von der Ellipse und von 
der endlichen Grösse m in ihr, so lässt sich dieselbe, wie bemerkt, 
unbeschränkt verkleinern, und damit nähert sich die Ellipse 
Schritt für Schritt dem Kreis, nach Massgabe der Verkleinerung. 
Freilich, ich mag m noch so klein nehmen, es bleibt doch eine 
endliche Grösse. Je mehr ich m teile, desto kleiner wird es. 
Diese Teilung kann ich ins Unendliche fortsetzen; wie wenn ich 
es nun wagte, mir vorzustellen, d. h. die Fiktion machte, diese 
ins Unendliche fortschreitende Teilung — sei vollendet? Freilich 
begehe ich damit einen recht krassen, logischen Widerspruch, 
aber ich erhalte doch auch dadurch einen Vorteil. Wäre näm- 
lich — was ich freilich nur imaginativ, fiktiv setzen kann — 
jene unendliche Teilung vollendet, so wäre der letzte Teil nicht 
mehr endlich, sondern eben — unendlich klein. Wenn nun 

33 



514 



Zweiter Teil: Spezielle Ausfuhrungen. 



dadurch jene Distanz m unendlich gering würde, so würden ja 
auch F und F' zusammenfallen und doch eigentlich nicht zu- 
sammenfallen. Es wäre noch eine Distanz da, die aber doch 
keine eigentliche Distanz mehr wäre; weil sie eben nicht mehr 
endlich ist. Fingieren wir einmal diesen ganz chimärischen Fall. 
Was hätte ich damit bezweckt, was erreicht? 

Es war uns dabei darum zu tun, einen stetigen Übergang 
zwischen Ellipse und Kreis zu statuieren oder mit anderen Worten, 
es war uns darum zu tun, den Kreis als einen Spezialfall 
der Ellipse zu denken, Wir wollten nicht aus den Artgrenzen 
heraus, um zum Kreis zu gelangen. Was kann denn das aber 
für einen Wert haben? Ist das nicht eine blosse Spielerei? 
Keineswegs. Denn wenn ich sagen kann, der Kreis ist als eine 
Ellipse zu betrachten, so habe ich auch das Recht, die Gesetze 
dieses Gebildes auf jenen anzuwenden. So habe ich z, B. als 
die Mittelpunktsgleichung der Ellipse: 

a s y 2 + (a 2 — e 2 ) x* — a 2 (a 2 — e 2 ) 
(a = halbe grosse Achse, y = Ordinate, x = Abszisse, e = Ex- 
zentrizität). 

Wenn nun der Kreis ein Spezialfall der Ellipse ist, so muss 
diese Gleichung auch von ihm gelten. Nichts sicherer als das. 
Freilich ohne alle Modifikation geht das nicht ab. Beim Kreise 
ist ja die Exzentrizität natürlich nur unendlich klein. Deshalb 
muss ich e 2 wegfallen lassen, weil es eben mit den endlichen 
Grössen gemessen ganz wertlos ist Dann erhalte ich; 

a * y* a 2 x 2 = a 4 oder 
y 2+x- = a 2 
y 2 = a 2 — x a 

In dieser Modifikation muss also jene Gleichung der Ellipse vom 
Kreise gelten. Und tatsächlich ist diese letztere Gleichung be- 
kanntlich die Formel des Kreises (wobei a = r und der Mittel- 
punkt Koordinatenschnittpunkt ist). 

Dies war die erste Argumentation: in ihr gingen wir von 
der Ellipse aus. Wir erreichen aber auch dasselbe, wenn wir 
nun in einer zweiten Argumentation vom Kreis ausgehen, Ich 
weiss, dass die Ellipse aufhört und der Kreis anfängt, sobald m 
zu 0 wird. Ich könnte nun offenbar den Kreis als Ellipse denken, 
wenn es mir gelänge, die Tatsache des Fehlens der Brennpunkt- 
distanz unter irgend einer Form auch als Anwesenheit derselben 
zu denken. Aber welch horribler Gedanke! Kann ich das Nichts 



§ 22. Die Fiktion des Unendlich-Kleinen. 



515 



jemals zu einem Etwas machen? Wird 0 jemals zu einer Zahl? 
Ich könnte die Null allerdings als eine Zahl fassen, wenn auch 
nur als eine — unendlich kleine. In diesem — freilich nur 
durch eine widerspruchsvolle Fiktion — erreichten Falle 
wäre der Kreis auch eine Ellipse. Daher gilt auch Alles, was 
von der Ellipse gilt, vom Kreise, wenn ich nur immer statt der 
endlichen Grösse m(=2e) 0 einsetze. Dann gilt die Formel 

a 2 y 2 + (a* — e*) x 3 = a a (a* — e 2 ) 
auch vom Kreise, sobald ich statt e die Null einsetze. Ich kann 
sagen, der Kreis ist eine Ellipse, freilich eine solche, bei welcher 
jene Distanz „unendlich klein" ist. Man kann die Sache auch 
so ausdrücken: ich mache mit der Behauptung, der Kreis sei eine 
Ellipse, einen Fehler. Denn bei der Ellipse sind zwei Brenn- 
punkte, beim Kreise ist nur ein Mittelpunkt: aber ich mache jenen 
Fehler immer kleiner, indem ich m immer verkleinere; der Fehler 
wird unendlich klein sein, wenn ich m auch als „unendlich klein* 
setze. Freilich bediene ich mich dabei eines sehr widerspruchs- 
vollen Begriffes und mache eben damit einen zweiten Fehler; 
aber ich erreiche damit doch mein Ziel, den Kreis nach Analogie 
einer Ellipse fassen und behandeln zu können. 

Es handelt sich also um eine erzwungene und gezwungene 
Analogie, um eine unberechtigte Übertragung (vgl. oben S. 80 ff.) : 
ich tue, als ob der Kreis eine Ellipse wäre, ich erreiche dies 
durch die Vorstellung, als ob es eine unendlich kleine Distanz 
gäbe — ich bewege mich also in lauter fingierten Vorstellungen, 
äb$fit$ sind fruchtbare Fiktionen. 

* Betrachten wir nunmehr die Funktion des „Unendlich- 
Kleinen" allgemeiner, so sehen wir, dass dieser Begriff dazu dient, 
Gebilde, welche nahe verwandt sind und deren Eines durch eine 
Verminderung (oder Vermehrung) eines seiner Begriffselemente 
sich dem Anderen stets nähert, ohne doch jemals mit ihm zu- 
sammenzufallen, so lange jenes Begriffselement noch überhaupt da 
ist, als gleichartig fassen zp können. Wo aber eine Art 
auf eine andere und auf deren Gesetze reduziert werden kann, 
wird die Aufgabe des Denkens vereinfacht. Somit dient der Be- 
griff durch Stiftung einer gezwungenen Analogie, eines 
Bandes zwischen verschiedenen Arten zur Vereinfachung des 
Denkens. 1 ) 

1) Sobald man einmal dies Prinzip ergriffen hat, so lässt es sich in 
ausgedehntester Weise anwenden. So kann man die Linie als eine Fläche 

33* 



516 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



Der Begriff des „Unendlich-Kleinen" muss freilich 
eben darum widerspruchsvoll sein» Da, wie wir feststellten, 
zwischen den mathematischen Arten ein begrifflicher Sprung ist, 
weil zwischen Nichts und Etwas eine ewige Kluft bleibt, so muss 
der besagte Begriff selbst ein Zwitterding zwischen Etwas 
und Nichts sein. Wenn er zwei Arten vermitteln soll, welche 
sich durch Anwesenheit und Abwesenheit eines Elementes unter- 
scheiden, wenn es gelingen soll, die eine Art als Spezialfall der 
anderen zu fassen, so muss entweder die Anwesenheit jenes Ele- 
mentes als Abwesenheit, oder die Abwesenheit als Anwesenheit 
aufgefasst, vorgestellt, fingiert werden können. Diese widerspruchs- 
volle Aufgabe übernimmt jener Begriff, indem er allerdings die 
Abwesenheit eines Elementes als die Anwesenheit eines unendlich 
kleinen Teiles dieses Elementes fasst Im „Unendlich-Kleinen" 
steckt eben das Nichts und das Etwas zugleich. Als Vermitte- 
lungsbegriff muss das Unendlich-Kleine jene kontra- 
diktorischen Bestimmungen in sich vereinigen — das 
„Unendlich-Kleine" ist somit eine echte und rechte Fiktion. 

Es mögen nun noch einige besonders interessante Belege 
zu dem Entwickelten verstattet sein. Wir führten eben die Tat- 
sache an, dass die einzelnen Kegelschnitte Arten einer gemein- 
samen Gattung seien. Das drückt sich in der allgemeinen Form 
der Scheitelgleichung für die drei Kegelschnitte im engeren Sinne 
aus: y 2 = px + qx a ; je nachdem q positiv, negativ oder Null ist, 
gibt die Gleichung die Hyperbel, die Ellipse, die Parabel; denn 
deren Scheitelgleichungen sind: 

Hyperbel: y 2 = px + cjx 2 

Parabel: y 2 = px 

Ellipse : y 8 = p x — q x a 

wobei p den Parameter, q den Wert bezeichnet. Die Ellipse 

£ a 

wird zur Parabel, wenn die grosse Achse 2 a unendlich gross 
wird. Denn dann wird pp-zu — = 0, womit das negative Glied 



betrachten, deren zweite Dimension unendlich klein ist, so die Fläche als 
einen Körper, dessen dritte Dimension unendlich klein ist So kann man die 
gerade Linie als einen sogen, gestreckten Winkel betrachten, indem man ; 
die Linie a b an einem beliebigen Punkte x geteilt denkt und die beiden* 
Teile ax und xb als die Schenkel eines Winkels betrachtet, deren Neigung 
eine unendlich geringe ist. 



5 22. Die Fiktion des Unendlich-Kleinen. 



517 



ganz wegfällt Je grösser die Achse wird, desto mehr nähert sich 
die Ellipse der Parabel. Allein, so lange 2 a ein endlicher Wert 
ist, bleibt die Ellipse Ellipse, mag sie sich auch der Parabel bei 
fortgesetzter Vergrösserung des 2 a noch so sehr nähern. Man 
kann das auch so ausdrücken, dass die Ellipse der Parabel sich 

um so mehr nähert, je mehr sich der Ausdruck ^ verringert, 

Allein so lange dieser endlich bleibt, bleibt auch die Ellipse 
Ellipse. Wir haben hier denselben Fall, wie oben beim Über- 
gang von Ellipse zu Kreis. Beide Arten sind getrennt, und nur 
durch einen Sprung ist die Kluft zwischen beiden zu überbrücken. 
Aber auch hier gestattet derselbe Kunstgriff — die Fiktion eines 
Unendlich-Kleinen oder, wenn man will,einesUnendlich- 
Grossen — dieselbe Subsumtion einer Art als eines Spezialfalles 
unter die andere. Auch beim Unendlich-Grossen haben wir die- 
selben Widersprüche; denn auch dieser Begriff dient zu derselben 
Vermittelung. Man denkt sich die Vergrösserung, welche in ab- 
stracto und formell unbeschränkt ist, vollendet; man hat also 
den Widerspruch einer vollendeten Unendlichkeit Dieser 
fiktive Begriff erlaubt aber, die Parabel als eine Ellipse zu fassen, 
nur als eine, deren Achse „unendlich gross" ist Dann gilt natür- 
lich auch die Ellipsengleichung von der Parabel, wie oben ge- 
zeigt wurde. 

Ein ähnliches Verhältnis findet zwischen Hyperbel und 
Parabel statt. Je kleiner die Achse 2 a wird, desto mehr nähert 
sich die Hyperbel der Parabel. Wo sie fehlt, haben wir eine 
Parabel. So kann man denn die Parabel als eine Hyperbel 
ansehen, d. h. fingierend betrachten, bei der die Achse 2a un- 
endlich klein ist. Wieder gilt auch hier dann die Hyperbel- 
gleichung von der Parabel mit den bezüglichen Modifikationen; 
diese Gleichung y 2 = px + qx 2 verliert in diesem Falle, wenn 

2 a „unendlich klein" wird, ihr letztes Glied (da -P-= oc), und wir 

erhalten wieder die bekannte Parabelgleichung. — Endlich können 
wir auch die Scheitelgleichung des Kreises aus der Ellipsen- 
gleichung herausrechnen. Wenn wir nämlich den Kreis als 
eine Ellipse mit unendlich nahen Brennpunkten betrachten, so 

wird p = 2a und 7 | ) -=l, wodurch sich die Ellipsengleichung 
a a 

y 2 = p x — q x 2 verwandelt in die Form y 2 = p x — x 2 und da 



518 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



p = 2 a = 2 r, so erhalten wir die bekannte Scheitelgleichung des 
Kreises y* = 2 r x — x* 

Wenn so der Widerspruch als für die Begriffe des 
Unendlich-Kleinen und Unendlich-Grossen ganz unent- 
behrlich nachgewiesen ist, so fragt es sich allerdings, ob denn 
nicht diese ganze Betrachtungsweise eine höchst entbehrliche 
Spielerei sei. Und diesen Vorwurf können wir bei einigen 
dieser Fälle ebensowenig zurückweisen, als wir ihn bei anderen 
für unverständig nachweisen werden. In der Tat hat es wenig 
Wert, z. B. beim Verhältnis von Kreis und Ellipse, gewaltsam den 
Kreis als einen Spezialfall der Ellipse zu betrachten, aus dem 
einfachen Grunde, weil der eigentliche Zweck, um dessentwillen 
eine solche Subsumtion vorgenommen werden soll, nämlich die 
Ableitung der Kreisgleichung aus der EUipsengleichung, unwichtig 
ist; denn dieselbe Gleichung kann ganz direkt aus der Betrach- 
tung des Kreises gewonnen werden, und es bedarf jenes Um- 
weges durch die Fiktion des Unendlich-Kleinen gar nicht. Nichts- 
destoweniger ist diese Betrachtungsweise darum nicht ganz zu 
verwerfen, weil wir dadurch zwischen den verschiedenen Formeln 
der einzelnen Kegelschnitte einen dialektischen Übergang her- 
stellen, durch welchen wir eine Art Skala der einzelnen Gestal- 
tungen erhalten. Doch darf man .der Sache darum nicht zu viel 
Wert beilegen, weil genau genommen der begriffliche Sprung 
zwischen den einzelnen Formen doch bestehen bleibt und durch 
die Einführung des Hilfsbegriffes des „Unendlich-Kleinen* nur 
schlecht verdeckt wird. Die Betrachtungsweise wird aber dann 
gefährlich und selbst verwerflich, wenn man mit übel angebrachtem 
Tiefsinn darin etwas Mysteriöses, Transzendentes und Geheimnis- 
volles erblickt, kurz, wenn sich damit eine mathematische Mystik 
verbindet, welche dieser rein verstandesmässigen Wissenschaft 
schlecht ansteht. Eine solche Mystik unterscheidet sich kaum 
von jenen pythagoreischen und mittelalterlichen Zahlenspielereien, 
welche sich zur eigentlichen exakten Mathematik verhalten, wie 
die Alchymie zur Chemie, wie die Magie zur Physik, 

Es gibt dagegen auch Fälle, und diese sind die wichtigsten, 
wo jene fiktive Betrachtungsweise mehr als blosse, dialektische 
Spielerei und unnötige Vermittelung ist, nämlich dann, wenn die 
direkte Ableitung einer Formel nicht gelingen will; dann ist dieser 
indirekte Weg, dieser Schleichweg, das einzige Mittel, um zum 
Ziele zu gelangen. Schon bei der Berechnung der Kreisfläche 



§ 22, Die Fiktion des Unendlich-Kleinen. 



519 



tritt dieser Fall ein. Aus der Betrachtung des Kreises als Kreises 
können wir wohl niemals zu der Flächenformel gelangen, schon 
deshalb nicht, weil ja das Verlangen, die Fläche des Kreises zu 
bestimmen, auf der fiktiven Vorstellung beruht, es lasse sich ein 
gemeinschaftliches Mass für geradlinige und krummlinige Figuren 
finden. 1 ) Wo wir also eine solche Formel nicht direkt ableiten 
können, da tut jener bezeichnete Umweg durch das Unendlich-Kleine 

1) Das wichtigste Beispiel der „Methode der unberechtigten Über- 
tragung* (vgl. oben S. 80 ff,) ist die Anwendung der Gesetze des Geradlinigen 
au! das Krummlinige. Auch dies sind disjunktive Begriffe. Krummes und 
Gerades sind spezifisch verschieden. Indem der Begriff der Richtung sich 
differenziiert, näher determiniert wird, erhalten wir die beiden Möglichkeiten» 
dass die Richtung stets gleich bleibe und dass sie sich stetig ändere. Jenes 
ergibt das Gerade, dies das Krumme. 

Aliein mit dieser scharfen Auseinanderhaltung ist der Mathematik nicht 
gedient; ihr kommt es nicht auf diese logische Distinktion an, sondern darauf, 
geradlinige und krummlinige Gebilde und Flächen in ihrem gegenseitigen 
Verhältnis zu bestimmen. Die Geometrie beginnt mit der Vergleichung gerad- 
liniger Figuren; die Elementargeoinetrie umfasst nur noch die einfachste der 
krummlinigen Figuren, den Kreis. Allein schon bei ihm zeigt sich die Unmög- 
lichkeit, mit den einfachen Prinzipien auszukommen, welche die Vergleichung 
der geradlinigen Figuren, des Dreiecks, Vierecks, des Quadrats, Parallelo- 
gramms, des Trapezes, der Vielecke u. s. w. regeln und bestimmen. Diese 
Prinzipien beruhen auf den bekannten einfachen Massmethoden. Da alle gerad- 
linigen Gebilde spezifisch verwandt sind, so bedarf es nur der Zerlegung der 
geraden Linien, Flächen und Körper in eine endliche Anzahl gleicher Teile. 
Nur vor dem Inkommensurablen muss diese Methode Halt machen. 

Allein sobald die Synthese weiter schreitet zu den krummlinigen 
Figuren, verhindert die spezifische Verschiedenheit derselben die Anwendung 
der gleichen Massmethoden: es bedarf zu diesem Zwecke neuer Grundsätze 
und neuer Methoden. Denn das Interesse des Geometers ist darauf gerichtet, 
allen Figuren und Gebilden ein einheitliches Mass (das A) zu Grunde zu legen; 
nur so lassen sich auch die Inhalte gerad- und krummliniger Gebilde ver- 
gleichen, wenn ein einheitliches Mass gefunden wird. 

Allein die Natur des Krummen scheint diesem Ziele die grösste Schwierig- 
keit entgegenzusetzen. An krummen Linien lässt sich kein geradliniges Mass 
direkt anlegen; sie weichen sofort davon ab, und eine genaue Bestimmung ist 
gar nicht möglich, da eben das Krumme nach der Definition in jedem Moment 
seine Richtung verändert; in der Wirklichkeit, bei der Geodäsie resp. beider 
praktischen Geometrie, konnte man sich mit ungenaueren Massen notdürftig 
begnügen: allein wissenschaftlich genügte dies nicht. 

Eine vollständige Unterwerfung der Kurven unter die Gesetze des 
Geraden gelang erst dem Begründer der modernen Philosophie und Mathe- 
matik, Descartes; aber schon vor ihm hatte man Methoden erfunden, um das 
Krummlinige dem Geradlinigen zu unterwerfen, dieses auf jenes zu über- 
tragen, so die Exhaustionsmethode. 



520 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



vortreffliche Dienste; indem wir in diesem Falle bekanntlich den 
Kreis als einen Spezialfall, als den Grenzfall eines Vieleckes be- 
trachten, erhalten wir jene Formel durch diese fiktive Behandlung 
desselben. Wir tun, wir sprechen, wir denken, wir rechnen — 
als ob der Kreis ein regelmässiges Vieleck mit unendlich vielen, 
unendlich kleinen Seiten wäre. Wir machen also die Fiktion 
unendlich vieler, unendlich kleiner Seiten. Somit ist hier die Fik- 
tion des Unendlich-Kleinen nicht nur eine wertlose Spielerei, 

sondern sie hat ihren guten Sinn und ihr 
gutes Recht, und sie ist, wie gezeigt, wenig- 
stens eine bequeme Rede- und Vorstel- 
lungsweise. Aus der Formel der Viei- 

ecksfläche F = |cM(AB + BC + CD 

+ . « . + N A) (wo CM = dem Radius des 
eingeschriebenen Kreises ist) erhalten wir 
die Formel für die Kreisfläche durch die 
Erwägung, dass in diesem Falle, wenn 
wir den Kreis als ein regelmässiges Vieleck von unendlich vielen, 
kleinen Seiten betrachten, der Radius des umschriebenen Kreises 
(Seite der Dreiecke, in die man das Vieleck zerlegt) und der des 
eingeschriebenen Kreises (Höhe derselben Dreiecke) unendlich 
wenig differieren, und wir also das Recht haben, an Stelle des 
Faktors C M den Radius des bezüglichen Kreises selbst zu setzen, 
wodurch wir nebst den übrigen Modifikationen die bekannte 
Formel F = r 2 7r erhalten. 

Diese Beispiele, welche sich beliebig vermehren Hessen, 
weisen alle darauf hin, dass das „Unendlich-Kleine" und „Un- 
endüch-Grosse" Vermittelungsbegriffe zwischen ungleichartigen 
Gebilden sind, hinter denen keineswegs etwas Mysteriöses zu 
suchen ist. 1 ) Der „Durchgang durchs Unendliche", wie. man diesen 
Kunstgriff getauft hat, ist ein durchaus durchschaubarer metho- 
discher Vorgang, wie unsere Analyse desselben gezeigt hat. Der 
Widerspruch ist für diese beiden Begriffe eben darum 



1) In Bezug auf das Unendliche sei hier noch angeführt, was Gauss 
darüber sagt (Briefwechsel II, 271). Er sagt, das Unendliche sei nur »eine 
Facon de parier, indem man eigentlich von Grenzen spricht, denen gewisse 
Verhältnisse so nahe kommen; als man will, während anderen ohne Einschrän- 
kung zu wachsen verstattet ist" ti. s. w. Fagon de parUr — ganz so bezeichnet 
schon Leibniz das Unendliche in jeder Hinsicht: als einen modus dicendi. 




§ 22. Die Fiktion des Ünendlich-Kieinen 



521 



unentbehrlich, weil sie Gebiete vermitteln sollen, die ungleich- 
artig sind, deren Definition sie einander ausschliesst, weil in 
dem Begriff des Einen ein Element fehlt, das in dem Anderen 
enthalten ist Aber wir bilden trotzdem jene widerspruchsvollen 
Begriffe mit vollem Bewusstsein ihrer widerspruchsvollen Natur: 
mit vollem Bewusstsein bilden wir falsche , unmögliche Begriffe 
um eines praktisch-wissenschaftlichen Zweckes willen — Fiktionen. 



Wenn man die Frage aufwirft, wie sich denn das Rätsel 
erkläre, dass man gerade durch solche unlogischen, ja unsinnigen 
Begriffe richtige Rechnungsresultate erhalte, so liegt die Antwort 
hierauf schon in dem, was wir bei den früheren Fiktionen als 
gemeinsames Gesetz fanden, nämlich in der Korrektur der 
gemachten Fehlen (Vgl. oben S. 194 ff.) 

Das Denken macht offenbar einen Fehler, der in dem zuletzt 
betrachteten Falle eklatant genug ist Dieser Fehler besteht ein- 
fach darin, dass der Kreis überhaupt als ein Vieleck betrachter 
wird. Da, wie aus den elementaren Definitionen leicht erhellt, 
jene beiden Gebilde — Kreis und Vieleck — spezifisch ver- 
schieden sind, so ist schlechterdings logisch unmöglich, das eine 
Gebilde unter die andere Spezies zu subsumieren. Der Fehler 
besteht somit offenbar. Es ist aber selbstverständlich, dass sich 
ein irgendwo eingeführter Fehler in dem Schlussergebnis störend 
geltend machen muss; da nun aber im vorliegenden Falle dies 
nicht stattfindet, indem ja das Resultat und die daraus gezogenen 
Konsequenzen, speziell die Flächenberechnung, zutreffen, so kann 
das nur so erklärt werden, dass jener Fehler wieder auf irgend 
eine Weise rückgängig gemacht worden ist 
Das ist denn auch der Fall. Betrachten wir das V 
Bogenstück m n, welches als äquivalent mit der ^>n 
Zcke m p n angesehen wird (mn = mp + pn), " 
so liegt der Fehler auf der Hand und das Gleichheitszeichen ist 
hier positiv falsch. Der Fehler wird aber dadurch rückgängig 
und unschädlich gemacht, dass beide Seifen der Gleichung 
unendlich klein angenommen werden, sowohl das Bogenstück als 
die Ecke, und dass, wie schon oben bemerkt war, daraus dann als 
Folge sich ergibt, dass jener Kreis als ein Vieleck mit unendlich 
vielen, unendlich kleinen Seiten betrachtet wird. Durch die stetige 
'Zerkleinerung von m n und durch entsprechende Vervielfachung der 



522 



Zweiter Teil: Spezieile Ausführungen. 



Zahl der Ecken des eingeschriebenen Vielecks wird der gemachte 
Fehler ebenso stetig verkleinert; und weil dies ins Unendliche 
fortgesetzt gedacht wird, wird eben der begangene Fehler dadurch 
selbst unendlich klein, oder vielmehr ™ Null Somit besteht 
das ganze Geheimnis hierbei in der Kompensation des 
gemachten Fehlers. Diese Korrektur spezifiziert sich nun in 
diesen und in ähnlichen Fällen dahin, dass der eine Fehler durch 
einen anderen Fehler kompensiert wird, weshalb man dieses ganze 
Verfahren die „Methode der doppelten Fehler 0 zu nennen berech- 
tigt ist Dieser zweite Fehler ist hier eben die unlogische 
Annahme eines Unendlich-Kleinen oder, wenn man will, eines 
Unendlich-Grossen (jenes bezieht sich auf die Grösse der Viel- 
ecks-Seiten, dieses auf ihre Zahl, was beides von einander abhängig 
ist). Jene obige Gleichung ist, so wie sie dasteht, falsch; sie ver- 
liert an Unrichtigkeit mit der zunehmenden Kleinheit und Anzahl 
der Seiten, bleibt aber eine endliche, so lange die beiden betreffen- 
den Grössen selbst endliche bleiben. Sie wird, wie bemerkt, 
unendlich klein, d. h. = Null, sobald jene Grössen selbst ins 
Unendliche übergehen; nur dass diese Setzung eines Unendlich- 
Kleinen, wie bemerkt, ein neuer Fehler ist, der aber den ersteren 
kompensiert. Nachdem so die beiden Fehler sich gegenseitig 
gleichsam vertilgt haben, wird die Rechnung von beiden zugleich 
befreit; das Resultat wird ein richtiges, nachdem der erste Fehler 
durch einen zweiten gutgemacht ist. Jetzt lassen sich viele Sätze, 
die von Vielecken gelten, mutatis mutandis auf den Kreis Über- 
trägen, wenigstens diejenigen, welche diese Umwandlung ertragen 
und zulassen. Durch die fiktive Analogie ist also ein bestimmter, 
sehr nützlicher Zweck erreicht Die Betrachtung des Kreises, als 
ob er ein Vieleck wäre, hat sich als eine fruchtbare Vorstellungs- 
weise erwiesen: ich tue, spreche, denke, rechne, als ob es 
unendlich kleine Vielecksseiten gäbe, als ob es unendlich viele 
solcher gäbe, und als ob die unendlich grosse Anzahl derselben 
doch in einer endlichen Grösse vollendet summiert wäre: durch 
alle diese falschen Vorstellungen hindurch komme ich zu einem 
schliesslich doch richtigen Resultat 

Bekanntermassen steht dieses Beispiel — die Reduktion des 
Kreises auf ein Vieleck — nicht isoliert da. Vielmehr wird die- 
selbe fiktive Analogiemethode sehr häufig angewendet Nach 
ganz denselben Prinzipien betrachtet man den Zylinder als ein 
regelmässiges Prisma von unendlich grosser Seitenzahl, und 



§ 22. Die Fiktion des Unendlich-Kleinen. 



523 



vermöge dieser Fiktion ist die Inhaltsformel des Prisma: V = h»F 
in der Form V=lw 2 7r auch auf den Zylinder anwendbar. So 
kann man den Kegel als eine regelmässige Pyramide von unend- 
licher Seitenzahl betrachten, und die Inhaltsformel der Pyramide 

V=-^h»F gilt unter der Form V=-^-hr 2 *r vom Kegel. Genau 

so ist es bei der Kugel, deren Oberfläche berechnet werden soll. 
Man sucht zu diesem Zwecke zuerst die Fläche, welche ein um 
€ine Achse rotierendes Vieleck beschreibt und überträgt das hier 
gefundene Gesetz auf die von einem Halbkreis beschriebene 
Fläche, Um den Inhalt zu berechnen, kann man sich die Kugel 
in eine unendliche Anzahl um den Mittelpunkt herumliegender 
dreiseitiger Pyramiden von unendlich kleiner Grundfläche zerlegt 
denken. 1 ) Ebenso kann man sich das ausgeschnittene Stück 
eines Kreisringes oder die Seitenfläche eines abgekürzten geraden 
Kegels als Summe von unendlich vielen Trapezen von unendlich 
kleinen geraden Grundlinien vorstellen* 

Wir finden hier überall dasselbe Prinzip der fiktiven 
Analogie, nach dem das Krumme als aus unendlich vielen, un- 
endlich kleinen geraden Linien zusammengesetzt gedacht wird. 
Nach streng logischen Regeln könnte man, wie bemerkt, niemals 
das Krumme unter das Gerade subsumieren. Alle Gesetze gerad- 
liniger Figuren gelten nur für solche, und die geradlinigen Figuren 
bleiben geradlinig, auch wenn man die Zahl der Ecken ins Un- 
bestimmte vermehrt. Man kommt damit nie zu einer Grenze, und 
es gibt keinen angebbaren Punkt, wo das Geradlinige plötzlich 
umspränge und krummlinig würde. Freilich werden sich beide 
immer mehr nähern, aber Näherung ist noch keine Berührung, 
ist noch kein Zusammenfallen, Keine Vervielfältigung der Seiten 
kann zu einem Zusammenfallen führen. Der Fehler, den man 
also mit der Identifizierung macht, ist da. Wie er korrigiert wird, 
wurde schon oben bemerkt. 

Es gibt noch mehrere belehrende Beispiele derselben 
Methode. Es kann nämlich z. B. auch umgekehrt von Wert sein, 
das Gerade unter das Krumme zu subsumieren. Da nun eine 
Kreislinie von sehr grossem Durchmesser sich sehr dem Gerad- 
linigen annähert, so lässt sich das Letztere als Ausschnitt eines 



l) Bekanntlich kann man den Inhalt der Kugel auch n<jch auf andere 
Weise berechnen. 



524 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



Kreises mit unendlichem Durchmesser betrachten; eine Gerade 
wird so betrachtet und behandelt, als ob sie Teil der Peripherie 
eines Kreises mit unendlich grossem Durchmesser wäre. 

Ähnlich ist es mit dem Punkte, d. h. dem mathematischen, 
bei dem es von Interesse sein kann ihn als Fläche (oder Körper) 
zu betrachten* Man betrachtet den mathematischen Punkt zu 
diesem Zweck, als ob er ein Kreis oder eine Kugel von unend- 
lich kleinem Durchmesser wäre. 

Dieselbe Vermittlerrolle, welche wir das Unendliche, speziell 
das Unendlich-Kleine hier spielen sehen, übernimmt derselbe Be- 
griff bekanntermassen in viel ausgedehnterer Weise in der „Infini- 
tesimalmethode*. In dieser wird dasselbe Prinzip, das wir bisher 
verfolgten, weiter ausgedehnt, und, was das Auszeichnende und 
Unterscheidende ist, die Rechnung bemächtigt sich jener fiktiven 
Methode in eigentümlicher Weise. Bei den bisher betrachteten 
Fällen bot ja die Rechnung keine Schwierigkeiten dar; sobald die 
Betrachtungsweise gerechtfertigt war, sobald die Übertragung ihre 
Begründung gefunden hatte, konnte man die Vieleckssätze ohne 
weitere Umschweife auf den Kreis anwenden; denn jene unend- 
lich kleinen Grössen spielten nur in der Begründung, nicht aber 
in der Rechnung eine Rolle. Einen anderen Aspekt gewinnt aber 
die Sache in der eigentlichen Infinitesimalrechnung, deren aus- 
zeichnende Eigentümlichkeit nicht, wie man häufig meint, in der 
Infinitesimalkonzeption als solcher zu suchen ist — diese war 
auch schon vor Leibniz und Newton aufgekommen — sondern 
vielmehr in der Auffindung eines analytischen (algebraischen) 
Ausdrucks für das Unendlich-Kleine. 

Dieselbe fiktive Subsumtion oder Analogie, durch welche 
das Krumme den Gesetzen des Geradlinigen unterworfen werden 
kann, finden wir also, wenn auch in einer anderen Form, wieder 
angewandt in der Methode der Infinitesimalrechnung (und zwar 
setzt diese Form die bekannte, auch schon oben S. 83 besprochene 
Cartesianische fiktive Betrachtungsweise voraus)- Wir fanden bis- 
her, dass die Gleichsetzung eines Kreisbogens mit einer Vielecks- 
seite falsch ist, und dass dieser Fehler nur dadurch rückgängig 
gemacht wird, dass beide Elemente bis ins Unendliche verkleinert 
gedacht werden; damit verschwindet der Fehler. Hier haben wir 
es nun mit einer anderen falschen Gleichsetzung zu tun, zu der 
eben das Cartesianische Koordinatensystem die Voraussetzung 
bildet. Es ist bekannt, dass eine Linie (es braucht nicht 



§ 22. Die Hktion des Unendlich-Kleinen. 



525 



A 



i 

UHR 



notwendig eine krumme zu sein) durch eine Funktion zweier 
veränderlicher Grössen bestimmt gedacht wird. Daraus ergibt 
sich nun im Allgemeinen ein Funktionsverhältnis zwischen einem 
bestimmten Teil der Hauptlinie einerseits und den dazugehörigen 
Teilen der Koordinaten 
andererseits, das (bei recht- $f 
winkligen Parallelkoordi- 
naten) einfach auf dem 
Pythagoreischen Lehrsatze 
beruht. Wie die Figur 
zeigt, haben wir die Glei- 
chung MN 2 = MR* + NR*; 
oder wenn wir das Stück 
MN der Hauptlinie S = 
As setzen, und die bezüg- 
lichen Koordinatenteile — — 
Ax und Ay (Ax als 
Wachstum PQ der Abszisse 
A P = x, Ay, als Wachs- 
tum NR der Ordinate MP), so haben wir A$ 2 = Ax 2 + Ay*. 
Wenn man alle diese drei Elemente als unendlich klein setzt, so 
ändert sich dieses Verhältnis nicht; und die Schwierigkeit steckt 
hier einzig und allein im 
Begriff des Unendlich- 
Kleinen, den wir als eine 
Fiktion erkannt haben. 
Anders dagegen stellt 
sich die Sache bei Kur- 
ven oder bei Linien, wel- 
che nicht, wie die eben 
besprochenen, aus Funk- 
tionen ersten Grades ent- 
stehen, sondern aus sol- 
chen höherer Grade. Wenn 
wir als Beispiel hierfür 
die nebenstehende Figur 
zu Grunde legen, so er- 
halten wir hier wieder jene Schwierigkeit, dass das Krumme dem 
Geradlinigen inkommensurabel ist. Entsprechend dem obigen 
Beispiel sollten wir auch hier ansetzen können Mv* = Mr 2 + rv 3 




526 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



(Mv als Stück der Kurve S, Mr als Wachstum der Abszisse x, 
r v als Wachstum der Ordinate y) oder A s 2 — A x a + A y 2 - 
Allein hier erhebt eben jene Inkommensurabilität Einspruch: und 
diese Gleichung ist positiv falsch. Es ist also damit ein Fehler 
begangen, der wieder zu redressieren ist; und diese Korrektur 
kann auch hier nur dadurch eintreten, dass wir statt A s* = A x* 
+ Ay* setzen d s* = d x a + dy*, d. h, dass wir den Fehler stetig 
verkleinern durch stetige Verkleinerung der gleichgesetzten Ele- 
mente bis ins Unendlich -Kleine. 1 ) Wenn wir das tun, erhalten 
wir als Kurvenstück eben ein unendlich kleines Element und 
haben damit die Möglichkeit erreicht, dieses unendlich kleine 
Element als gerade zu betrachten; dann ist jene Gleichung 
richtig, denn der gemachte Fehler ist durch jene Verkleinerung 
selbst unendlich klein gemacht worden. 

In dasselbe Kapitel gehört nun bekanntlich auch jene funda- 
mentale Gleichsetzung dieses unendlich kleinen Kurvenstücks mit 
dem unendlich kleinen Berührungsstück der Tangente, wodurch 
das brennende Tangentenproblem im 17, Jahrh. so genial zum 
Austrag kam. 8 ) Wir benutzen dazu die vorige Figur, aus der die 
Sache leicht erhellt. In dem verschwindenden, unendlich kleinen, 
sog. charakteristischen Dreieck vrM fällt das unendlich kleine 
Element Mv der Kurve, das Differential ds, mit der Tangente 
am Punkte M ganz genau zusammen, und kann darum eben 
auch als wirklich gerade betrachtet werden; dann ist natürlich 
die Tangente TV nichts anderes, als die Verlängerung dieses 

1) Man muss wesentlich beachten (was man aber sehr häufig nicht tut), 

dy 

dass die Formeln und ähnliche an sich keinen Sinn noch Wert 

haben, sondern nur gerechtfertigt werden durch die vermitüerische Rolle, 
welche sie spielen. Sie müssen sich immer auf unendlich kleine Elemente 
beziehen, welche zur Vermittlung zwischen zwei ungleichartigen Gebieten 
eingeschoben werden, also z, B. zwischen Tangente und Sekante, zwischen 
Geradlinig und Krummlinig, zwischen Stetig und Unstetig. 

2) Die Methode, die Betrachtung eines Gebildes als Grenzfalles einer 
anderen Art, zu der es gehört, wenn man gewisse Elemente unendlich klein 
(oder auch nach Umständen unendlich gross) setzt, hat nun ihren, man kann 
sagen, welthistorischen Triumph gefeiert bei dem berühmten Tangenten* 
problem. Indem man die Tangente als den Grenzfall einer Sekante betrachtet, 
bei der also die Schnittpunkte in unendlich kleiner Distanz sich befinden resp. 
zusammenfallen, gelangt man zu der so wichtigen und auf keinen direkten 
Wege zu erhaltenden Formel für den Winkel, unter den die Tangente an eine 
beliebige Kurve anzulegen ist. 



§ 22. Die Fiktion des Unendlich-Kleinen. 527 

Elementes ds. Man setzt nun bekanntlich das Dreieck vrM mit 
dem Dreieck MPT ähnlich; allein diese Ähnlichkeit ist ebenfalls 
ungenau oder falsch, so lange vrM endlich ist, weil dann die 
Hypotenuse Mv in diesem Dreieck gar keine gerade Linie ist 
Auch hier wird der Fehler nur dadurch korrigiert, dass man 
vrM bis ins Unendliche abnehmen lässt, worauf Mv aus einem 
Kurvenstück eine unendlich kleine gerade Linie wird. Jetzt ist 
jene Ähnlichkeit eine exakte, und nun ist auch ZvMr = r y und 

dg 

daraus ergibt sich sofort tg T = gp woraus sich nun der Be- 
rührungswinkel für den durch seine Koordinaten bestimmten Punkt 
M unmittelbar ergibt Auch hier ist die Als-Ob-Betrachtung 
wieder das ingeniöse Mittel, um Schwierigkeiten, welche sonst 
unlösbar wären, aus dem Weg zu räumen, um zu einem prak- 
tisch wichtigen und brauchbaren Resultat zu gelangen: Der 
Zweck heiligt das Mittel. 



Ein Rückblick auf alle diese Fälle zeigt in allen dasselbe 
merkwürdige methodologische Prinzip. Man will das Krumme 
dem Geradlinigen subsumieren; man macht damit einen Fehler; 
man repariert diesen Fehler dadurch, dass man ihn stetig bis ins 
Unendliche verkleinert; dann verschwindet der Fehler und die 
Gleichung wird exakt. 

Die Erleichterung, welche dadurch dem Denken verschafft 
wird, liegt auf der Hand. Wenn es gelingt, ein komplizierteres 
Gebilde nach Analogie eines Einfacheren zu behandeln und die 
Betrachtung des Ersteren auf die Formen und Gesetze des Zweiten 
zu reduzieren, so ist nicht nur die Aufgabe des Denkens verein- 
facht, sondern in diesem Falle ist es auch möglich, viel exaktere 
Resultate zu erreichen. Eine Theorie der Kurven wäre ohne diese 
fiktive Analogie gar nicht möglich; denn was die Alten durch 
ihre synthetische Methode erreichten, waren' entweder nur sehr 
dürftige Resultate, oder diese Erleichterung lag schon ver- 
schwiegen zu Grunde. Dass mit dieser fiktiven Analogie eine 
Härte begangen wird, ist unbestreitbar; ja es ist mehr als eine 
Härte; es ist ein Fehler, ein direkter Fehler, den man begeht. 
Unsere Darstellung und Analyse der Methode zeigt aber, worin 
das Geheimnis dieser anscheinend so mystischen Methode be- 
steht und deckt dasselbe als die Kompensation doppelter Fehler 



528 



Zweiter Teil: Spezieile Ausführungen. 



auf* Wir sagen „doppelter Fehler", denn zwei Fehler sind es, 
welche in Betracht kommen; erstens der Fehler der Gleichsetzung 
von Ungleichem und sodann der Fehler der Statuierung eines 
Unendlich-Kleinen. Es ist klar, dass in den quantitativen Wissen- 
schaften die fiktive Analogie oder adaequalitas (vgl. S. 201) stets 
durch einen äquivalenten Fehler ausgeglichen werden muss. Bei 
den qualitativen Disziplinen ist eine solche Ausgleichung durch 
die Natur der Sache ausgeschlossen. 



Eine andere bekannte Anwendung des Unendlichen mittelst 
einer gewaltsamen Subsumtion ist folgende: Man kann einen der 
drei Eckpunkte eines Dreiecks beliebig von der ihm gegenüber- 
liegenden Seite allmählich immer weiter und weiter ins Unbeschränkte 
hinausrücken. Dabei werden selbstverständlich die zwei Winkel 
an jener Seite immer grösser, während der an dem besagten Eck- 
punkte sich ins Unbeschränkte verkleinert. Da alle drei Winkel 
zusammen zwei Rechte ausmachen, so werden also jene zwei 
Winkel an der Seite zusammen sich immer mehr der Summe vcn 
zwei Rechten nähern, ohne sie jedoch, solange jene Hinaus- 
schiebung eine endliche ist, zu erreichen. Nimmt man nun hier 
den Begriff des Unendlicb-Grossen zu Hilfe, indem man jenen 
Eckpunkt in unendlicher Entfernung denkt, so verwandeln sich 
die beiden Seiten in Parallellinien, und die zwei Winkel werden 
genau gleich zwei Rechten. Man kann also die beiden parallelen 
Geraden in Verbindung mit dem von ihnen auf der dritten 
Geraden abgeschnittenen Stücke betrachten, als ob sie ein Dreieck 
mit zwei unendlich langen Seiten bildeten. Und daraus folgt 
dann sogleich, dass das sog. 11. Axiom, nach dem die Summe 
der beiden inneren Gegenwinkel zweier parallelen geraden Linien, 
welche von einer dritten Geraden geschnitten werden, 180° be- 
trage, als ein Spezialfall des Satzes zu betrachten ist, dass die 
Summe der drei Winkel in einem ebenen Dreiecke gleich zwei 
Rechten sei- Wir haben also auch hier wieder dieselbe Anwen- 
dung: der Begriff des Unendlich-Grossen dient zur Subsumtion 
eines heterogenen Falles unter einem anderen, als dessen sog. 
Grenzfall er sich betrachten, d. h. fingieren lässt. Aber gerade 
die fiktive Annahme dieses Grenzfalles ist eben der Fehler, 
welcher durch Einführung des fiktiven Unendlichkeitsbegriffes 
korrigiert wird. 



T 

§ 22. Die Fiktion des Unendlich-Kleinen. 529 

Auch in den übrigen Fällen, wo wir das Unendlich- Kleine 
und -Grosse antreffen, spielt es genau dieselbe Rolle eines fik- 
tiven Vermittlungs- und Korrekturbegriffes, so z. B. bei den sogen, 
unendlichen konvergenten Reihen. Eine solche ist z. B. die Reihe 

y+ 4- + 8 : + i6 + "' + 2* + -" 
Einfache Erwägungen zeigen, dass, wie viele Glieder man vom 
Anfang an auch summieren wollte, die Summe derselben die 
bestimmte Grenze 1 weder überschreiten noch erreichen, sich ihr 
jedoch nur immer mehr und mehr nähern kann. Mit dem Fort- 
schreiten dieser Reihe werden ihre Glieder ersichtlich immer 
kleiner und kleiner. Die Summe kommt, wie bemerkt, der Grösse 
Eins immer näher. Aber man kann darum jene Reihe doch 
keineswegs = 1 setzen, solange sie endlich ist. Man mag das 

Glied 7^ beliebig weit hinaussetzen, so wird die Summe bekannt- 
lich doch immer nur 1 — -^sein, sie wird also von 1 immer um 

einen, wenn auch sehr kleinen Teil differieren. Da nun aber die 
Reihe unbeschränkt fortgesetzt werden kann, so werden wir sie, 
streng genommen, vom rationellen Standpunkt aus niemals = 1 
setzen dürfen; es bleibt immer noch eine, wenn auch noch so 
kleine Differenz bestehen. Die Gleichung zwischen 1 und jener 
Reihe ist nur eine adaeqimlitas, ist nur eine Annäherung; die 
Gleichsetzung ist ein Fehler. Dieser Fehler wird immer kleiner, 
je grösser die Anzahl der Glieder der Reihe ist. Demnach wird 
der Fehler nur dann verschwinden resp. unendlich klein sein, 
wenn die Reihe eine unendliche ist. Solange man im Gebiet 
des Endlichen bleibt, kann man sich n niemals so gross denken, 

damit ^- und damit auch jener Unterschied so klein wird, dass 
hiernach keine kleinere Grösse mehr angegeben werden könnte. 
Wenn wir also so klein machen wollen, dass dessen Klein- 
heit durch keine weitere Annahme überboten werden kann, so 
bleibt nichts Anderes übrig, als es unendlich klein (d. h. n 
unendlich gross) zu setzen. Nur wenn man sich die ins Unbe- 
schränkte gehende Reihe vollendet denkt, wenn man sie sich 
also sozusagen unendlich gross denkt, kann man sich ein 
„letztes Glied" und dieses unendlich klein denken. Ist n = 00, 

34 



530 



Zweiter Teil: Spezielle Ausfuhrungen. 



so wird tt«== — d. h. = 0, d.h. das .letzte Glied" ist unendlich 

klein, unteilbar. Dann ist die Summe der Reihe = 1 — ~s 7 d. h. 

— 1. Somit wird die Gleichung genau und fehlerlos nur durch den 
fiktiven Vermittlungsbegriff des Unendlich-Grossen, resp. 

Unendlich-Kleinen; denn das letzte Glied (jp-), um welches 

die Summe immer von 1 differieren musste, ist nun unendlich 
klein, wir können es vernachlässigen, und weil wir es bei der 
Summierung der Glieder nicht mehr zu berücksichtigen brauchen, 
fällt es eben auch als jene Differenz weg, welche die Summe 

noch von 1 schied. Ich darf den Fehler, — wegzulassen, nur 

begehen, wenn ich den entsprechenden Fehler begangen habe, 
n = oo = unendlich zu setzen. Nur wenn die Reihe vermittelst 
der Fiktion des Unendlich-Grossen, des vollendeten Unendlichen 
(statt der unbeschränkten Fortsetzung) als unendlich und doch 
als vollendet gedacht wird, kann und darf ich ein „letztes Glied" 
fingieren, welches unendlich klein, welches eine Grösse und doch 
keine Grösse, kurz, welches verschwindend ist. Das „letzte Glied* 
müsste zu 0 werden, wenn die unbeschränkte Verdoppelung des 
Nenners vollendet wäre; denn mit jeder Verdoppelung nimmt das 
Glied ab, es wird immer kleiner und kann nur unendlich klein oder 
0 werden, wenn die Verdoppelung unendlich, aber vollendet 
gedacht wird. Es bedarf nicht nochmaligen Hinweises, dass dieser 
Gedanke ein Ungedanke» der Begriff der vollendeten Unendlich* 
keit ein Unbegriff ist. Nichtsdestoweniger lassen sich aus diesem 
Unbegrtff Konsequenzen ziehen, und die notwendige Konsequenz 
ist, dass, wenn diese (unmögliche) Voraussetzung wirklich ein- 
treten könnte, dann wirklich das „letzte Glied* =0 sein würde. 
Man macht nun die Fiktion, als ob diese Unmöglichkeit wirklich 
wäre; man spricht, denkt und rechnet, wie wenn es wirklich 
eine vollendete Unendlichkeit geben könnte und würde; man 

wendet unbedenklich das Symbol an; dadurch, dass man 
diese Fiktion macht, gelingt es, jene Reihe mit 1 gleich zu setzen, 
was doch streng genommen falsch ist; oo und sind nur Ge- 
dankendinge, nur Fiktionen, welche diese Gleichsetzung ermög- 
lichen, welche aber selbst doch nur eine fiktive ist 



§ 22. Die Fiktion des Unendlich-Kleinen. 



531 



Ein recht drastisches Beispiel für den Mechanismus des 
Denkens mit dem Unendlichen zur Vermittlung des Stetigen und 
Unstetigen, resp. zur fiktiven Subsumtion des Stetigen unter das 
Diskrete ist folgendes: Man kann den von einem frei fallenden 
Körper, dessen Geschwindigkeit gleichmässig beschleunigt ist, 
durchlaufenen Raum bekanntlich leicht auf elementare Weise als 

— vt(v = Geschwindigkeit) bestimmen. Dasselbe Resultat erhält 

man aber auch mittelst der Infinitesimalvorstellung: um z. B. die 
ebenfalls auf elementare Weise erreichbare Grösse des Weges 

in der ersten Sekunde (—yv) infinitesimal zu bestimmen, 

stellt man folgende Betrachtung an. Der Körper wird, wie vor- 
ausgesetzt wird, durch die stetig einwirkende Schwere aus der 
Geschwindigkeit 0, in der Sekunde in die Geschwindigkeit v 
gebracht. Man kann nun diese stetige Einwirkung als eine suk- 
zessive, diskrete denken, d. h. man denkt sich v durch n gleiche 
Stösse hervorgebracht, welche die Schwere in gleichen Intervallen 
dem betreffenden Körper erteilt. Unter dieser Voraussetzung ist 
der Raum 

Die stetige Wirksamkeit ist somit in eine diskrete aufgelöst; allein 
eben darum müssen es dieser einzelnen Anstösse unendlich viele 

werden. Damit wird also n = oo: somit fällt als unendlich 

2n 

klein hinweg, und $ wird yv. Obgleich nun bekanntlich streng 

logisch genommen diese unendliche Anzahl n niemals erreicht 
werden ,kann, so wird hier doch (wie bei den konvergenten 
Reihen) dieselbe als erreichbar und erreicht angesehen, als ob 
diese Unmöglichkeit möglich wäre. Wenn n nur in endlicher 
Weise immer weiter wächst, so nähert sich s nur immer dem 

yV, ohne es jedoch jemals zu erreichen; s weicht von -^-v eben 

immer noch um eine, wenn auch sehr kleine Grösse ab. Diese 
Abweichung wird nur dann 0 resp. unendlich klein sein, wenn n 

y 

unendlich gross wird. ^ wird durch Vergrösserung des n immer 

kleiner, kann aber nur dann vernachlässigt werden, so dass die 

34« 



532 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



Rechnung ein exaktes Resultat gibt, wenn es unendlich klein 
wird,*) Es wird aber eben in diesem Falle unendlich klein, weil 
die Auflösung des Stetigen in das Diskrete eben unendlich viele 
Teile gibt So kann man das Stetige den Rechnungsregeln des 
Unstetigen unterwerfen, wenn man am rechten Orte eben den 
fiktiven Vermittlungsbegriff des Unendlichen anzuwenden weiss. 



§ 23. 

Zur Geschichte der Inflnitesimal-Fiktion**) 

Hatte man einmal die fiktiven Vorstellungen: Fläche, Linie, 
Punkt gebildet, indem man die Grenzen hypostasierte, so lag die 
Anschauung nicht sehr fern, von diesen selbst als Elementen aus- 
zugehen und jedesmal aus dem Niederen das Nächsthöhere zu- 
sammenzusetzen. Betrachten wir irgend einen beliebigen Körper, 
z, B. einen Kubus. Schon die elementare Vorstellungsweise zer- 
legt ihn in einzelne Schichten, welche aufeinanderliegen und ein- 
ander berühren. Lassen wir z. B. den Kubus aus 10 Schichten 
bestehen, so hindert nichts, diese Schichten beliebig zu ver- 
kleinern, d. h> ihre Anzahl zu vergrössern. Lassen wir diese 
Schichten in der oben S. 508 ff. beschriebenen Weise abnehmen bis 
zur mathematischen Fläche, d. h, bis zu einer unendlich dünnen 
Fläche, so bedarf es natürlich auch unendlich vieler solcher 
Schichten, um den körperlichen Kubus aus ihnen wieder zu- 
sammenzusetzen. Hat die Schicht Tiefe des ganzen Kubus, 

so bedarf es 10 solcher Schichten, um durch ihre Aufeinander- 
legung Öen Kubus zu erhalten. Ist die Schicht unendlich dünn, 
so bedarf es unendlich vieler. (Übrigens sieht man hier wieder 
den engen Zusammenhang der beiden Fiktionen: Null und 



1) Thiele (Logik und Metaphysik 1878, S. 110) meint, „das n= <» 
bringe offenbar eine Lücke in das Schliessen, die aber jederzeit durch die 
Methode der Ein Schliessung in Grenzen leicht ausgefüllt werden kann". Das 
Letztere ist ein entbehrlicher Umweg. Die obige Argumentation macht ihn 
überflüssig. 

*) Weitere Ausführungen zu Teil I, Kap. 12, 8. SO ff,; Kap. 13, & $7 ff.; 
Kap. 26, & 204 ff. \ Kap. 33, 8. 260 ff. 



§ 23. Zur Geschichte der Infinitesimal-Fiktion. 533 

unendlich. Die Fläche ist unendlich dünn = sie hat gar keine 
dritte Dimension.) Also bedarf es unendlich vieler solcher 
Flächen zur Wiederherstellung, d. h. der Kubus lässt sich durch 
gar keine noch so grosse Anzahl solcher Schichten wieder- 
herstellen. Dies liegt auf der Hand. Nehme ich den Schichten 
alle Tiefe, oder lasse ich ihnen nur so viel Tiefe, dass ich diese 
eben nur noch als unendlich klein bezeichnen kann, so ist klar, 
dass ich aus solchen Elementen strenggenommen eben den Körper 
nicht wiederherstellen kann. 

Wir stossen hier auf einen Punkt, der uns schon früher 1 ) 
beschäftigt hat, auf die Methode der doppelten Fehler. Wenn 
man den logischen Fehler begangen hat, Flächen zu erdichten, 
die gar keine Dicke mehr besitzen, so muss man, um den Körper 
wiederherzustellen, den anderen korrespondierenden Fehler be- 
gehen: zu behaupten, der Körper lasse sich doch aus solchen 
Flächen wiederherstellen, nur brauche man dazu unendlich viele 
solcher Flächen. 

Dieselbe Vorstell ungs weise wird nun weiterhin angewendet: 
man lässt die Fläche aus unendlich vielen Linien, die Linie aus 
unendlich vielen Punkten bestehen. Man verwendet diese fiktiven 
Vorstellungen zum Aufbau der mathematischen Gebilde; aber, wie 
bemerkt, das ist nur möglich durch Einführung des Begriffes des 
Unendlich-Vielen, also einer neuen Fiktion. 

Ehe wir nun hier weitergeben können, muss ein weiterer 
eigentümlicher methodologischer Kunstgriff besprochen werden, 
der mit dem Bisherigen aufs Engste zusammenhängt. Dieser 
Kunstgriff wird auch in anderen Wissenschaften angewandt, er ist 
aber am durchsichtigsten und häufigsten in der Mathematik. 

Es gilt die logische Regel, dass zwei kosu bordinierte 
Begriffe disjunkt sind, d. h. dass sie einander nicht beigelegt 
werden können. Solche kosubordinierten Begriffe sind: mathe- 
matischer Körper, Fläche, Linie. Ihr gemeinsamer Oberbegriff 
ist: ausgedehntes Gebilde. Die Bestimmung der Ausgedehnt- 
heit lässt noch mehrere Determinationen zu, zunächst ob ein- 
fach, zweifach u. s. w. ausgedehnt. Indem wir Körper als drei- 
fach, Fläche als zweifach, Linie als einfach ausgedehntes Gebilde 
bezeichnen, verhalten sich diese als kosubordinierte Arten einer 
Gattung, schliessen sich also aus, haben keinen Teil ihres 



1) Vgl. bes. Kap. XXVI, S. 194 ff. u. Ö. 



534 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



Umfanges gemein, obwohl sie einen wesentlichen Teil ihres Inhaltes 
gemeinschaftlich haben. Eben darum können sie auch nicht von- 
einander prädiziert werden. So die logische Regel. Allein hier 
tritt nun der gemeldete Kunstgriff ein. In der Mathematik ist es 
eben häufig von hohem Wert, zwischen diesen Arten eine solche 
Verbindung herzustellen, dass sie voneinander prädiziert werden 
können. Wir sollen unter Umständen die Fläche als Körper 
betrachten können, die Linie als Fläche. Dies geschieht nun ganz 
einfach durch Einschiebung des Vermittlungs- und Hilfsbegriffes 
des Unendlich -Kleinen. Strenggenommen ist die Linie keine 
Fläche: es wird ja von ihr gerade die zweite Dimension geleugnet, 
sie hat nur eine Dimension. Nach dieser Betrachtungsweise ist 
also eine Verbindung zwischen Beiden nicht möglich. Allein es 
bleibt noch die andere Betrachtungsweise, wonach eine Linie so 
entsteht, dass eine Fläche allmählich abnimmt und im Moment 
des Verschwindens festgehalten wird. Die Linie hat noch eine 
zweite Dimension, aber diese ist von unendlich kleinem Wert. 
Jetzt ist es klar, dass die Prädizierung möglich ist: 1. Die Fläche 
ist ein Körper, aber von unendlich kleiner Tiefe. 2. Die Linie 
ist eine Fläche, aber von unendlich kleiner Breite und so auch 
schliesslich 3. der Punkt ist eine Linie, aber eine unendlich kleine. 
So ist also der Begriff des Unendlich-Kleinen der Vermittler, 
welcher diese disjunkten Begriffe in einer Gleichung, 1 ) also in 
einem Urteil zu verbinden gestattet. Der hohe Wert dieser 
Betrachtungsweise liegt auf der Hand. Ich kann nun die Eigen- 
schaften, Gesetze u, s.w. des einen auf das andere übertragen.*) 
Diese „Methode der unberechtigten Übertragung" ist schon 
oben S. 80 ff. geschildert worden. 

Noch muss auf den Begriff des Punktes zurückgegangen 
werden. Wir sahen eben den Begriff des Unendlich-Kleinen die 
Vermittlerrolle spielen. Dieselbe Rolle spielt auch die Null. 
Indem wir den Punkt als ein Gebilde betrachten, welches gar keine 
Dimension besitzt, gehört er eigentlich streng logisch nicht in dieselbe 



1) Derartige Gleichungen sind es wohl, welche Leibniz gelegentlich als 
aequationes inadaequatae bezeichnet (Gerhardt, die Entdeckung der Diff. 
Rechnung 1848, S. 44). 

2) Einen treffenden Beleg hierfür finde ich bei Leibniz (Gerhardt, Gesch. 
d. höheren Analysis I, 120): Ubi methodum, qua superficies examinamus, ad 
solida transferemus, multa nova detegemus, et facile saepe demonstrabimus 
de superficiebus per solida, quae in ipsis superficiebus difficulter habentur. 



§ 23. Zur Geschichte der Infinitesimai-Fiktion. 



535 



Reihe mit Linie, Fläche, Körper. Allein hier tritt nun der metho- 
dologische Wert der Null ein. Wir teilen die ausgedehnten 
Gebilde ein nach der Anzahl der Ausdehnungen. Der Punkt hat 
aber gar keine Ausdehnung; also wäre er eigentlich als nicht- 
ausgedehntes mathematisches Gebilde zu bezeichnen. Allein hier 
hilft nun eben jener feine Kunstgriff in wirksamer Weise: Die 
Nichtausdehnung wird auch unter die Ausdehnungen gerechnet, 
das „kein" wird also als ein „ein" mit 0 betrachtet, d. h. 0 wird 
auch als eine Zahl neben 1, 2, 3 u, s. w. angesehen. Durch 
diesen Kunstgriff ist es ermöglicht, den Punkt überhaupt in die- 
selbe Reihe zu stellen mit Linie, Fläche u. s. w. Jetzt kann der 
Punkt auch als ein ausgedehntes Gebilde betrachtet werden, nur 
ist seine Ausdehnung — keine oder eine unendlich kleine. „Null" 
und „Unendlich-Klein" sind also sehr fruchtbare, sehr zweck- 
mässige Fiktionen. 

Durch diese fiktive Betrachtungsweise ist es nun ermöglicht, 
in der oben angedeuteten Weise die Linien aus Punkten, die 
Flächen aus Linien, die Körper aus Flächen bestehen zu lassen. 
Diese Betrachtungsweise aber ist nun die Grundlage aller Mathe- 
matik. Insbesondere ist hier auf die Betrachtung der Linien als 
Flächenelemente, der Flächen als Körperelemente hinzuweisen. 
Diese war schon nahe gelegt durch die auch im Altertum 
gebräuchliche Methode, Flächen durch Drehung von Linien um 
irgend einen Punkt, Körper durch Drehung von Flächen um 
Durchmesser, Achsen u. s. w. entstehen zu lassen. So liess man 
den Kreis durch Drehung einer Linie um ihre Mitte oder einen 
ihrer Endpunkte, den Zylinder durch Drehung eines Parallelo- 
gramms um eine Achse entstehen. Diese Betrachtungsweise legte 
es nun nahe, die höheren Gebilde nicht nur aus solchen Ele- 
menten entstehen, sondern auch bestehen zu lassen. Dieser Ge- 
danke war den Alten noch nicht gekommen. In der Neuzeit ist 
es Keppler, welcher diese Idee fasste, Cavaleri,*) welcher sie 
ausbildete. „In Folge eines Zwistes mit einem Weinhändler über 
den Inhalt einiger Fässer Wein halte Keppler auf kurze Zeit seine 
tiefen Forschungen auf dem Gebiete der Astronomie verlassen, um 
das Mass körperlicher Räume zu studieren, und er zeigte hier, 
wiewohl in beschränkter Sphäre, ebenso jenen reich phantastischen 



•) Der Verfasser nennt sich lateinisch Cavalerius, hiess italienisch 
CavalicrL Früher toar die Form Cavaleri üblich 



536 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



Geist, als in den weiten Gefilden des Himmels. a *) In der »Nova 
stercomeiria doliorum vinariorum etc. Lincii 1605* wollte er „das 
Visieren der Fässer auf bestimmte, der Theorie entlehnte Regeln 
zurückführen, begnügte sich dabei jedoch nicht mit der Inhalts- 
bestimmung der Körper, nach welchen die gewöhnlich vor- 
kommenden Fässer geformt sind, sondern machte zugleich die 
Geometer seiner Zeit auf eine grosse Anzahl neuer Probleme auf- 
merksam, die Bestimmung des Inhaltes neuer Körper betreffend, 
die er durch Bewegung sphärischer und konischer Flächen um 
Durchmesser, Achsen, Ordinaten u, s. w. entstehen liess\ Er 
stellte nun für die Lösung dieser Probleme neue Gesichtspunkte 
auf, welche die Grundlage bildeten für die neue Betrachtungs- 
weise. In dem angehängten „supplenientum siereometriae Archi* 
medeae" sucht er das strenge archimedeische Verfahren in ein 
leichteres zu verwandeln, das aber, wie Gerhard ganz irriger- 
weise bemerkt, durch die Einführung der Idee des Unendlich- 
Kleinen um so unsicherer gewesen sei. 

Um das Verhältnis der Peripherie zum Durchmesser auszu- 
drücken, denkt er sich geradezu den Umfang des Kreises aus 
unendlich vielen Punkten zusammengesetzt, von denen ein jeder 
die Basis eines Dreiecks bildet, und deren Spitzen im Mittelpunkt 
zusammentreffen (theor. II). Die Kugel denkt er sich aus unend- 
lich vielen Kegeln zusammengesetzt, die auf den die Oberfläche 
konstituierenden unendlich vielen Punkten ruhen und mit ihren 
Spitzen im Zentrum zusammenstossen. So treffen wir denn hier 
die Idee des Unendlich-Kleinen, welche demnach Keppler zu ihrem 
Vater zu haben scheint. Der Geist, der im Unendlich-Grossen, 
im Himmelsraume, die Bewegungen und Gesetze der Gestirne 
erforscht, hat sich auch ins Unendlich-Kleine versenkt Übrigens 
ist wohl zu bemerken: Keppler sagt ausdrücklich, er betrachte 
den Kreis so, d.h. als ob es so wäre, nicht dass es so 
sei, d. h. er ist sich der Fiktivität seines Verfahrens 
bewusst. 



1) Gerhardt, Historische Entwicklung des Prinzips der Differential- 
rechnung bis au! Leibniz. Progr. Sal2wedel (Halle) 1840, S. 15. — Ebenso in 
desselben Verfassers „Geschichte der höheren Analysis* l. Abt. die Entdeckung 
der höheren Analysis, Halle 1855, S. 15 ff. — Vgl. desselben „Geschichte der 
Mathematik in Deutschland", München 1877, S. 100 ff. — Vgl schon desselben 
„Fxplicatio atque dijudicatio praecipuorum modorum, quibus matnematici 
fundamenta calculi differentialis jacere conati sunt* (Diss. Berolin 1837) 



§ 23. Zur Geschichte der Infinitesimal-Fiktion. 



537 



Wie er nun hier die unendlich kleinen Punkte als Grund- 
lage der Linie und sogar als Flächenelemente betrachtet, so finden 
sich auch bei ihm schon die Grundlagen dafür, die Flächen als 
Körperelemente zu betrachten. Den Zylinder und das Parallel- 
epipedon betrachtet er als verkörperlichte Flächen: sunt hic veluti 
quaedam plana corporata; accidunt igitur illis eadem, quae planis; 
(theor. III). Conus est „hic" „veluti" circulus corporatus; idem 
igitur a sectione patitur, quod circulus suae baseos (theor XVI), 
Und theor, XVII; Cylinder est „hic veluti" circulus aut ellipsis 
corporata, quare hic idem illi accidit, quod figuris hisce in basi, 
in sectione eadem. Nam cylinder rectus, sectus piano ad axem 
recto (d. h. der senkrechte Zylinder, geschnitten durch eine zur 
Achse senkrechte Ebene) est veluti linea corporata et quidem 
cylindrico corpore praedita, quare accidit illi idem, quod lineae 
(d. h. eben der die Basis konstituierenden Kreis- oder Ellipsenlinie). 

Ausserdem endlich verlangt er, die Flächen als aus Linien- 
elementen bestehend zu betrachten: so sagt er theor. XX: secetur 
area lineis parallelis alicui in aliquot segmenta aeque alta minima 
quasi linearia: d. h. die Fläche werde durch Linien, welche (alle) 
einer gewissen Linie parallel sind, in mehrere gleich hohe, mini- 
male, gleichsam linienhafte Segmente geteilt, also in Segmente, 
welche betrachtet werden, als ob sie nur Linien wären. 1 ) 

* So sehen wir denn hier den grossen Gedanken des Infini- 
tesimalen noch in seinem Embryonalzustande, hingeworfen und 
ausgestreut von einem der grössten Geister der Welt. Das Frucht- 
bare an dieser Betrachtungsweise liegt in jenen Zusätzen, dass 
nun „von den Körpern dasselbe gelte, wie von den (sie konsti- 
tuierenden) Linien". Denn durch diese Betrachtungsweise sind 
die Körper auf Flächen und deren Gesetze reduziert, diese auf 
Linien und deren Gesetze, diese auf Punkte. Bemerkenswert ist 

1) Zu dieser Stelle vgl. auch Gerhardt, Gesch. d. Mathem. in Deutsch- 
land, 1877, S. 111. Gerhardt bemerkt dazu: „Vorstellungen, welche die Geometer 
des Altertums sorgfältig vermieden hatten, wie: unendlich kleine Bogen sind als 
gerade Linien zu betrachten, unendlich kleine Ebenen können als Linien auf- 
gefasst werden, Körper haben Punkte als Grundflächen, Körper sind gleich- 
sam verkörperte Ebenen — bringt Keppler als zulässig zur Anwendung*. 
„Keppier scheut sich nicht, Analogien ... als vollgültige Schlüsse zuzulassen". 
Schon Guldin, der zeitgenössische Gegner Kepplers, wirft ihm vor (worin doch 
seine Stärke besteht): analogiis multum tribuisse (Gerhardt a. a. O. 130). Auf 
Analogien beruhen ja wie wir wissen, alle derartigen Fiktionen, auf logisch an 
sich unberechtigten, aber praktisch fruchtbaren Übertragungen. Vgl. oben S. 80. 



538 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



das stets wiederholte veluti, quasi — das „Als ob\ Es wird 
an die Objekte also diese fiktive Betrachtungsweise 
herangebracht, sie werden tinter diesem neuen willkür- 
lichen Gesichtspunkte betrachtet 

Diese Fiktion, deren Ursprung also auf den grossen Astro- 
nomen zurückzuführen ist, wurde nun die Grundlage der folgenden 
mathematischen Epoche. Der Nächste, welcher die Idee aufgriff 
und weiterbildete, war der Jesuit Cavaleri. 1 ) Dieser schildert nicht 
nur mit sehr grosser Klarheit und Anschaulichkeit (in der Vorrede zu 
seiner „Geometria indivmbüibus continuorum nova quaedam raiivne 
promota, Bononiae 1635) die Entstehung seiner Ideen, sondern er 
ist sich auch der Fiktivität seiner Methode klar bewusst 

Wir müssen diese Vorrede etwas näher betrachten, „Als 
ich,** sagte er, „einmal die Entstehung (genesin) der Körper, 
welche durch eine Umdrehung (von Ebenen) um eine Achse ent- 
springen (oriuntur), tiberdachte und das Verhältnis (rationem) der 
erzeugenden (gignentium) Flächen mit dem der erzeugten (genitis) 
Körpern verglich, wunderte ich mich über die Massen, dass die 
auf solche Weise entstandenen (natae) Figuren von den Gesetzen, 
Verhältnissen der eigenen Erzeuger so sehr abwichen (degene- 
rarent), dass sie ganz andere Gesetze zu befolgen schienen. Als 
ich diesen Unterschied gar häufig überdacht hatte, glaubte ich, 
alle meine Mühe verschwendet zu haben mit diesem Versuch, 
die Inhaltsbestimmung der körperlichen Gebilde auf diese Weise 
zu finden: denn, während ich anfangs geglaubt hatte, dass die 
Gesetze der Körper aus den Gesetzen der erzeugenden Flächen 
entstehen, da ich ja z, B. den Zylinder aus unbestimmt (indefinitis) 
vielen Parallelogrammen, den Kegel auf derselben Grundlinie 
und mit derselben Höhe aus unbestimmt vielen um eine Achse 
-sich drehenden Dreiecken gleichsam zusammengefügt (also be- 
stehend) vorstellte (veluti compactum effingens), stellte sich 
bald klärlich heraus, dass dem Verhältnis der Fläche (des Drei- 
ecks und Parallelogramms) keineswegs das Verhältnis der von 
ihnen erzeugten Körper (Kegel und Zylinder) entspreche. Als ich 



1) Zwischen Cavaleri und Keppler resp, dessen Anhängern entstand 
ein ähnlicher Prioritätsstreit, wie hundert Jahre später zwischen Leibniz und 
Newton. Da jedoch Kepplers genannte Schrift dreissig Jahre vor Cavaleris 
Geometrie erschien, jene 1605, diese 1635, und da Kepplers Schrift allen 
Anzeichen nach weit verbreitet wurde, so scheint es sicher, dass Cavaleri 
auf Keppler fusst, wenn er ihn auch nicht direkt nennt. 



r 



§ 23. Zur Geschichte der infinitesimal-Fiktion. 539 

jedoch die Sache bald darauf tiefer überlegte, kam ich endlich zur 
Oberzeugung, man müsse zu unserem Zwecke (ad rem nostram) 
die Linien und Flächen nicht unter sich zusammenfallend, sondern 
parallel (aequidisiantia) annehmen (assumenda esse); denn 
auf diese Weise fand ich, dass dem Verhältnis der Körper das 
der Flächen, dem der Flächen das der Linien aufs genaueste (ad 
amussim) entspreche. Nun betrachtete ich den Zylinder und den 
Kegel als geschnitten nicht mehr der Achse nach, sondern in 
gleichen Abständen von der Basis (ceu sectos conternplatus) 
und fand, dass alle (illa quae omnia voco plana) sogenannten 
Zylinderflächen sich zu allen Kegelflächen genau so verhalten, 
wie der Zylinder und der Kegel selbst; alle Zylinderflächen und 
alle Kegelflächen sind aber identisch mit der Masse der Kreise, 
(nempe circulorum congeriem), welche innerhalb des Zylinders 
und des Kegels gleichsam als die Fusstapfen (veluti vestigia) der 
Ebene betrachtet werden, die gleichsam (quodammodo) von der 
Basis bis zur Spitze kontinuierlich in gleichem Abstände von 
jener Basis fliesst (fluentis.)* 

„Nun glaubte ich darin eine vortreffliche Methode zu be- 
sitzen, die Figuren zu messen, indem man nämlich zuerst die 
Verhältnisse der Linien vor den Flächen, die der Flächen vor 
den Körpern betrachtet" 

Und um sich noch klarer auszudrücken und zu zeigen, dass 
er sich methodologisch wohl bewusst war, was diese neue 
Methode bedeute, fügt er hinzu: 

„Ich gebrauchte einen ähnlichen Kunstgriff (tali artificio), 
wie ihn die Algebraiker zur Lösung von Problemen anzuwenden 
pflegen: diese addieren, subtrahieren, multiplizieren und dividieren 
irrationale Wurzeln (radices, quamvis ineffabiles, surdas ac igno- 
tas), wenn sie nur dazu dienen, ihnen die gewünschte Kenntnis 
der vorgelegten Sache zu verschaffen und sie überzeugt sind, 
damit das Ihrige getan zu haben; nicht anders gebrauchte auch 
ich zur Inhaltsbestimmung der Continua den Haufen (congeries) 
der Indivisibilia (teils Linien, teils Flächen), obgleich deren Zahl 
nicht angebbar ist (innominabilis, surda ac ignota), deren Anzahl- 
aber doch in anschaulichen Grenzen eingeschlossen ist." 

Wahrlich, klarer konnte er sich nicht aussprechen: noch 
ohne diese Analogie liegt deutlich genug in den: veluti, ceu, 
quodammodo, effingere, considerare, ponere, contemplari, intelli- 
gere, „lineae quales esse existimari possunt" u> s. w, ausgesprochen 



540 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



dass es sich hier um eine methodologische Fiktion handelt 
Und noch klarer zeigt dies die Analogie mit den Irrationalwurzeln, 
deren Gebrauch er ja ganz deutlich als einen metho- 
dologischen Kunstgriff bezeichnet. 

Der Fortschritt über Keppler hinaus ist eigentlich gering; 
aber Cavaleri ist klarer und konsequenten Nach Keppler ist jede 
Fläche in parallele minima Iinearia segmenta, jeder Körder in 
minutissima corpora = Flächen zu zerlegen, zu zerschneiden. 
Cavaleri führt dies weiter, indem er damit die alte Idee der Be- 
wegung, der Entstehung durch Bewegung enger verbindet Wenn 
er 1 ) aber seine indivisibilia von Kepplers corpora minutissima 
dadurch unterscheiden will, dass er bemeikt, jene Keppler'schen 
unendlich kleinen Grössen seien nebeneinander geordnet, seine 
indivisibilia aber seien wie die Blätter eines Buches gleichsam 
aufeinandergehäuft oder geschichtet, so ist klar, dass er damit 
absolut keinen merklichen Unterschied hervorzuheben weiss* 
Selbst die Verbindung der Idee der kleinsten Teile mit der Idee 
sukzessiver Bewegung ist schon bei Keppler vorgebildet, so dass 
Cavaleris Verdienst wenigstens nicht auf Seite der Originalität, 
sondern nur auf Seiten der Konsequenz liegen kann. Bemerkens- 
wert ist jedoch, dass er den Newtonschen Ausdruck der Fluxion 
in seinem fluere vorwegnimmt Die Leitlinie oder Leitfläche 
(regula) wächst, läuft, bewegt sich, stets parallel mit sich selbst, 
und sie erzeugt so die Gebilde. Auch dass er die Basis bei Zylinder 
u. s. w. zur Leitfigur macht und nicht das an die Achse sich an- 
lehnende Parallelogramm, d, h. dass er den Zylinder durch ein- 
fache Fortbewegung der Grundfläche, nicht durch Drehung des 
Durchschnittparallelogramms um die Achse entstehen lässt, findet 
sich ebenfalls schon bei Keppler. So entsteht also auf diese 
Weise aus dem Kreis ein Zylinder, aus dem Vieleck ein prisma- 
tischer Körper. Und anstatt die Flächen oder Körper selbst zu 
betrachten, „betrachtet er das durch die Bewegung der Regeln [Leit- 
linien und Leitflächen] entstandene Netz von Linien oder Flächen, 
welches die in Rede stehenden Flächen oder Körper beziehungs- 
weise einnimmt, und die Eigenschaften, die diesen Aggregaten 
von Linien oder Flächen gemeinsam sind, werden auch den 
[beziehlichen] Flächen oder Körpern zukommen" (Gerhardt). Er 
betrachtet diese congeries von Elementen in ihrer Gesamtheit» die 
ganze Summe der Indivisibilia kollektive. 

1) In den Exercitationes geometricae (1647) pag. 304. 



§ 23. Zur Geschichte der Infinitesimal-Fiktion. 



541 



Die Indivisibilia sind also offenbar die einzelnen Linien und 
Flächen, in welche die Flächen und Körper zerlegt werden. Sie 
sind darum indivisibilia, weil sie von Cavaleri nicht allein wie bei 
Keppler als corpora minutissima, als segmenta quasi linearia 
bezeichnet werden, sondern ganz direkt als Linien und Flächen, 
die ja natürlich unteilbar sind, da sie ja nach allgemeiner mathe- 
matischer Annahme — jene die zweite, diese die dritte Dimen- 
sion entbehren. Wir können also den Unterschied zwischen Keppler 
und Cavaleri dahin formulieren, dass jener unendlich kleine 
Flächen und Körper annimmt, dieser dagegen Elemente, welche 
gar nicht mehr Flächen und Körper sind, sondern schon Linien 
und Flächen, da sie gar keine zweite, resp. dritte Dimension 
besitzen. Dass damit ein bemerkenswerter Fortschritt zur Infini- 
tesimalmethode gemacht ist, kann nicht geleugnet werden. Cava- 
leri macht konsequent Ernst mit der Kepplerschen Idee — er 
teilt die Flächen nicht nur in gleichsam lineare Segmente, sondern 
er lässt sie durch Bewegung (fluere) einer wirklichen Linie d. h. 
eines Indivisibile entstehen. 

Gegen die dagegen sich erhebenden logischen Schwierig- 
keiten hat sich Cavaleri sehr klar und richtig verteidigt. 1 ) Sowohl 
Philosophen als Mathematiker erwähnt er als Gegner seiner Me- 
thode — und diese Einwände betreffen sowohl die Zusammen- 
setzung des Kontinuierlichen als das Unendliche. Was zunächst 
die Zusammensetzung des Stetigen aus indivisibeln Elementen 
betrifft, so bemerkt er ganz richtig, durch diese Betrachtungs- 
weise werde man keineswegs dazu gezwungen, das Kontinuier- 
liche selbst aus Indivisibeln zusammenzusetzen; denn die ein- 
zige Absicht sei, zu zeigen, dass die Kontinua dem Verhältnis 
der Indivisibeln korrespondieren; m. a. W,, diese Indivisibeln 
betrachtet er als methodologische Fiktionen, er sagt ja aus- 
drücklich, er wolle die Kontinua so betrachten, als ob sie aus 
Indivisibeln (Linien und Flächen) zusammengesetzt seien. Die 
Fiktion darf also nicht als eine Hypothese bezeichnet werden. 



1) Cavaleri lässt seine Gegner selbst in folgender Weise zu Worte kommen: 
Hic dicendi modus adhuc videtur subobscurus; durior quam par est; evadit hie 
omnium linearum seu omnium planorum coneeptus, quapropter nunc tuae geo- 
metriae ceu Gordium nodum aut auferas, aut saltem frangas, nisi dissolvas. 
Hierauf antwortet Cavaleri ironisch, dass er es anderen, Scharfsinnigeren habe 
überlassen wollen, nova haec geometriae veluti mysteria aufzulösen; er hat 
aber den Schlüssel zu dem Geheimnis seiner Methode selbst gegeben. 



542 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



Denn das ist ja unmöglich, das Stetige in Wirklichkeit als aus 
Unteilbarem zusammengesetzt zu setzen; dagegen in der Ein- 
bildung ist diese Betrachtungsweise erlaubt, und sogar als eine 
nützliche Fiktion unentbehrlich. 1 ) 

Ein zweiter Einwand bezieht sich darauf, dass der Begriff 
der Zusammenfassung aller Linien und Flächen, welche ein Ge- 
bilde konstituieren, cimmeriis veluti tenebris inapprehensibilis vide- 
atur, d. h« die Zusammenfassung dieser unendlich vielen Elemente 
sei etwas Unbegreifliches, da ja das Unendlich -Viele eben nicht 
zur Einheit zusammengefasst werden kann. Allein Cavaleri be- 
merkt dagegen, positiv sei eine solche Zusammenfassung freilich 
unmöglich, aber negativ lasse sich die Summe dieser unendlich 
vielen Teile dadurch bestimmen, dass sie ja alle in die Grenzen 
der endlichen Figur eingeschlossen seien, und dass also keine 
einzige ausgeschlossen sei. Im Scholion zum L Theorem des 
IL Buches führt er dies weiter dahin aus, dass er, wenn er die 
Summe aller dieser Linien und Flächen, welche die Elemente 
der Flächen und Körper bilde, zusammenfasse und dieselbe 
Linien- und Flächensumme miteinander vergleiche, nicht die wirk- 
liche Zahl derselben vergleichen wolle, — denn diese sei uns 
unbekannt, sondern nur ihre Grösse, welche ja identisch sei 
mit dem von ihnen eingenommenen Räume. Man kann also mit 
dieser Summe rechnen, obwohl wir die Zahl selbst nicht wissen, 



1) Er führt das weiterhin äusserst scharfsinnig aus und zeigt die Berech- 
tigung seiner Methode, ob man nun das Stetige wirklich aus solchen Indivisibeln 
bestehen lassen wolle, oder ob man annehme, dass zwischen den einzelnen, 
dasselbe trennenden Elementen wieder etwas dazwischen sei. Bei beiden 
Annahmen ist es doch erlaubt, die Summe dieser Indivisibeln, wenn auch ihre 
Zahl unbekannt sei, als eine einheitliche anzunehmen, da ja, wie bemerkt, 
die anschaulichen Kontinua als endliche und einheitliche vorhanden seien. 
Hierzu ist nun unsererseits nur noch als Ergänzung hinzuzufügen, dass, wie 
schon früher bemerkt, die unendliche Anzahl dieser Elemente die notwendige 
Korrelatiiktion zu der Annahme ihrer unendlichen Kleinheit, d.h. ihrer Un- 
teilbarkeit ist, d. tu dass der zweite Fehler den ersten aufhebt. Die Absur- 
dität, dass eine unendliche Anzahl unendlich kleiner Elemente nicht bloss 
überhaupt ein Endliches, sondern auch ein bestimmtes Endliches ergeben solh 
ist aber die notwendige Folge der in der Thesis liegenden Absurdität, 
überhaupt unteilbare Elemente anzunehmen. Aus den Fiktionen 
folgen immer Absurditäten, was aber ihren praktischen Nützlichkeitswert 
keineswegs alteriert. Das Unlogische dabei, das Absurde, darf nur nicht als 
etwas Mysteriöses betrachtet werden. Von Mysterien ist hier keine Spur, wie 
die methodologische Analyse dieser Vorstellungsweisen zeigt. 



§ 23. Zur Geschichte der infinites! mal-Fiktion, 54$ 

denn wir haben ja die endliche Summe der Elemente. Und 
das genüge zur Vergleich ung. 

Der dritte Einwand endlich bezieht sich darauf, dass nach 
Cavaleri als das sicherste Fundament der Geometrie gelten soll, 
dass ein Unendliches grösser sein könne, als ein Anderes, was 
doch ein grandioser Widerspruch sei. Allein ich habe, bemerkt 
der scharfsinnige Italiener sehr richtig, die Aggregate der Indivisi- 
bilia nicht so behandelt, dass sie wegen der unendlichen Anzahl 
der elementaren, erzeugenden Linien und Flächen unter das Un- 
endliche gehören, sondern insofern (quatenus) sie das Wesen 
und die Natur einer endlichen Grösse haben, so dass sie des- 
halb auch vermehrt und vermindert werden können, wenn man 
sie so nimmt, wie sie definiert worden sind. Sie sind aber 
definiert worden als die unendlich kleinen, d. h. unteilbaren Ele- 
mente einer bestimmten Figur, deren es aber darum auch 
unendlich viele sein müssen, um diese Figur zu bilden. Wie klar 
zeigt sich hier, dass diese Elemente nur ad hoc gemachte fik- 
tive methodologische Annahmen sind, die mit der meta- 
physischen Annahme und Frage nach dem Wesen des Stetigen 
nichts zu schaffen haben. Die Verwechslung dieser beiden Ge- 
sichtspunkte, welche mit dem Unterschied von Fiktion und 
Hypothese zusammenfallen, ist es, welche hier wie anderwärts 
das Verständnis erschwert und den Fortschritt gehemmt hat. 

Cavaleri hat die Widersprüche im Begriff der lndivisibilia 
durchaus klar erkannt: „viele Stellen , . . beweisen, dass Cavaleri 
selbst diesen Widerspruch sehr wohl fühlte 44 . . . aber er wusste 
trotzdem, „dass mittelst seiner Methode . . . das Wahre erreicht 
würde, wenn man sie nur richtig gebrauche* (Gerhardt, Gesch. d. 
höh. Anal. I, 24). Also „das Wahre* wird erreicht trotz „des 
Widerspruchs* 4 , ja direkt durch denselben. In diesem Sinne nannte 
Cavaleri (ib. 22. 24) seine indivisibilia eininstrumentum prae- 
cipuum — er erkannte also ganz deutlich den rein instru- 
mentalen Charakter seiner Erfindung der Indivisibilia — 
sie sind ihm nützliche Fiktionen, 



Die Methode Cavaleris wurde, vor allem doch wohl auch 
wegen ihrer methodischen Klarheit, von den folgenden Mathe- 
matikern sehr hochgestellt: überall liest man neben den Angriffen 
der kleineren Anzweifler Lobsprüche der Grossen seiner Zeit 



544 



Zweiter Teil: Spezielle Auslührungen. 



Es ist fraglich, ob schon Fermat bei seiner oben S. 200 ff. 
geschilderten Methode von Cavaleri beeinflusst war — sie ist wohl 
davon unabhängig gefunden. Aber Roberval bekennt sich aus- 
drücklich zu CavalerL In seinem Traite des indivisibles heisst 
es: 1 ) Pour tirer des conclusions par le moyen des indivisibles, 
il faut supposer, que toute ligne, soit droite ou courbe, se 
peut diviser en une infinite de parties ou petites lignes egales 
entr'elles . ♦ * Par tous ce discours on peut comprendre que la 
multitude infinie de points se prend pour une infinite de petites 
lignes et compose la ligne enttere . . . Uinfinite de lignes 
repr^sente 2 ) I'infinite de petites superficies qui composent la 
superficie totale. Le grand triligne [ein von der Conchoide be- 
grenztes Dreieck] est divise (selon les indivisibles) en secteurs 
semblables infinis, qui ressemblent aux triangles, mais par les 
indivisibles nous les prenons pour secteurs. Und nochmals 
rühmt er le moyen des indivisibles; auch er ist sich des rein 
instrumentalen Charakters dieser Vorstellungsweise klar bewusst: 
in auxilium infinita nostra advocavi. Dann heisst es in diesem 
Sinne weiter: Lineam tanquam si ex infinitis seu indefinitis, 
numero Hneis constet, superficiem ex infinitis seu indefinitis 
numero superficiebus, solidum ex solidis, angulum ex angulis , . . 
componi concepimus . . . singula enim suas habent utili- 
tates. Also — es handelt sich um nützliche Fiktionen. 

Auch Pascal hat die Sache so betrachtet (a.a.O. 32 ff.): 
Die neue Methode Cavaleris unterscheide sich von der Methode 
der Alten nur en la raanifere de parier ... Et c'est pourquoi 
je ne ferais aucune difficulte dans la suite d'user de ce langage 
des Indivisibles: M la somme des lignes" ou „la somme des plans\ 
et ainsi quand je considörerai, par exemple, le diam&tre d'un 
demi-cercle divis6 en un nombre indefini de parties egales . . . 
je ne terai aucune difficulte d'user de cette expression. Also 
für Pascal handelt es sich beim Indivisibeln, d. h. beim Infinitesi- 
malen, nur um ein bequemes Vorstellungs- resp. Ausdrucksmittel. 

Ein besonders scharfsinniger Geist war Barrow, welcher 
den Obergang von Cavaleri zu Newton bildet. Zunächst sah er 
vollständig klar, dass überhaupt die gewöhnlichen Grundbegriffe 
der elementaren Mathematik: Punkt, Linie, Fläche, Dimensionen, 

1) Gerhardt, Die Gesch. d. höheren Analysis I, 27 ff. 30. 

2) Vgl., was früher z. B, S, 39 über repräsentative, illustrative, substitu- 
tive u. s. w. Fiktionen gesagt worden ist. 



§ 23. Zur Geschichte der Infinitesimal-Fiktion. 545 

reine Fiktionen sind. In seinen Vorlesungen aus dem Jahr 1665 
heisst es (bei Gerhardt a. a. (X S. 78 ff.): Non existimo, super- 
ficies, Üneas aut puncta separatam quandam existentiam aut pro- 
priam ex se ipsis efficaciam possidere, vel aliter a solida magni- 
tudine quam xar htivoutv 1 ) distingui; sed unicam potius arbitror, 
ex parte rei, magnitudinem dari, quae, prout in varias partes 
extendi, diversimode partiri, differentes spissitudines, latitudinis 
et longitudinis considerationes induere vel subire potest, 
causam vel occasionem*) suppeditat idoneam rationi nostrae, 
distinctionem istam magnitudinis in tres quasi species huic scien- 
tiae perquam utilem et accomodatam comminiscendi. Also 
alle jene gewöhnlichen Grundbegriffe sind utilia commenta — 
nützliche Fiktionen, denn comminisci ist ein Synonym für fingere 
— in diesem Sinne spricht Cicero von der platonischen Staats- 
fiktion als der commenticia civitas Piatonis (De Orat I, 53); und 
commentum bedeutet den Römern vielfach genau eine derartige 
zweckmässige Fiktion. Ein genaueres Studium Barrows dürfte 
wohl noch ähnliche bedeutsame Ansichten und Einsichten er- 
geben; jedenfalls haben solche Erkenntnisse ihn befähigt, die 
Cavalerische Methode, die er sehr hochschätzte, nicht nur weiter 
zu bilden, sondern auch ihrer methodologischen Natur nach zu 
durchschauen. 8 ) 



Um die Kontinuität der Methode genau zu erkennen, müssen 
wir uns mit wenigen Worten die 506 ff, dargestellte Bildung der 
mathematischen Grundbegriffe ins Gedächtnis zurückrufen. Was 
den Raum betrifft, so fanden wir, dass seine Vorstellung entsteht, 
indem wir die Materie allmählich (intensiv) abnehmen lassen, bis 
sie absolut verschwindet. Weil damit aber auch der Raum ver- 
schwände, so verlangen wir, diesen Prozess im Moment des Ver- 
Schwindens zu sistieren, und so erhalten wir den mathematischen 
Raum, der an der Grenze des erfüllten Raumes steht. Ebenso 

1) Kaz inivout» ist ein beliebter Ausdruck des Sextus Empiricus (z. B. 
contra Dogm. 4, § 348): nur in der Vorstellung, also fiktiv. Bei den antiken 
Skeptikern ünden sich schon wertvolle Ansätze zu einer Theorie der Fiktion 
Vg!. oben S. 248. 

2) Wer denkt hier nicht an Herbarts „zufällige Ansichten"? Vgl ooen 
S. 275 ff. 

3) Über Barrows Methode vgl. auch den „Briefwechsel zwischen Leibniz 
und Chr. Wolf*, her. v. Gerhardt 1860, S. 185 f. 

35 



546 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



Hessen wir die Begriffe des Punktes, der Linie, der Fläche ent- 
stehen, indem wir jedesmal beziehlich Linie, Fläche, Körper 
allmählich (extensiv) abnehmen Hessen und den Prozess der 
Abnahme im Moment des Verschwindens sistierteru Indem jedes- 
mal der Moment des Verschwindens, d. h* derjenige Augenblick, 
in welchem das betreffende Quantum im Begriff ist, in Null über- 
zugehen, Grenze genannt wurde, ergab sich, dass der Raum 
die Grenze der Materie, dass Punkt, Linie, Fläche beziehlich die 
Grenzen von Linie, Fläche und Körper seien. Wir nahmen hier- 
bei stets die Vorstellung der Bewegung, speziell der abnehmen- 
den, zu Hilfe, um diese fiktiven Grenzbegriffe, diese grenzbegriff- 
lichen Fiktionen zu gewinnen. 

Dieselbe Methode nun wird angewandt, um — nach der 
Vorstellungsweise von Newton — den Begriff der Fluxionen 1 ) 
zu erhalten. 

Zu diesem Zwecke müssen wir nun die zwei anderen bisher 
besprochenen Methoden rekapitulieren, welche die notwendige 
Voraussetzung der Newtonschen Gedankenbildung sind, nämlich 
die Cavalerische und die Cartesianische. 

Wir sahen, dass Cavaleri die Linie durch zunehmende 
Bewegung eines Punktes, die Flächen durch die Bewegung einer 
Linie, die Körper durch Bewegung einer Fläche entstehen lässt 
Es ist unschwer einzusehen, dass diese Vorstellungsweise einfach 
das Umgekehrte der eben besprochenen Vorstellungsweise ist, 
wonach die Punkte, Linien, Flächen aus Linien, Flächen, Körpern 
entstehen. Der Bewegungsprozess geht nur seine Bahn in 
umgekehrter Richtung. Nachdem der Prozess der Abnahme- 
Bewegung bei dem Moment des Verschwindens angekommen ist, 
wird im letzten Augenblick Halt gemacht, und das Resultat sind 
die Indivisibilia, d. h. Punkte, Linien, Flächen, unteilbar darum, 
weil, wenn sie noch weiter teilbar wären, sie ja nicht den letzten 
Moment vor dem gänzlichen Verschwinden darstellten. Liessen 
sie sich noch einmal teilen, so könnte die Bewegung ja noch- 
mals einen Teil durchlaufen; der letzte Moment wird also als ein 
Unteilbares fingiert, und in diesem letzten Moment erhalten wir 
darum eben auch die angeblich unteilbaren Produkte; Punkt, 



1) Die Vorstellung des fiuere findet sich schon bei Cavaleri (vgl. oben 
S. 539 ff.); von incrementa und decrementa, and zwar von unendlich kleinen 
spricht auch schon Kepoler (Gerhardt, Gesch. d. Math, in Deutsch!. S. 112). 



§ 23. Zur Geschichte der tnfinitesimal-Fiktion, 



547 



Linie, Fläche. Kehrt nun die Bewegung um, so muss offenbar 
wieder das Ursprüngliche hergestellt werden, d. h. also eben 
Linie, Fläche, Körper. 

Dazu kommt nun endlich die Cartesianische Vorstellung, 
wonach jede Linie ohne Ausnahme analytisch bestimmt werden 
kann. Für jede Linie kann eine zugehörige Funktion gefunden 
werden, welche das Gesetz für den ganzen Verlauf jener Linie 
in einer Formel enthält. Die Formel y = F(x) ist die gemein- 
same Zauberformel für alle Linien. Jede Linie wird nun vor- 
gestellt als bestimmt durch das gegenseitige Verhältnis von x 
und y, Abszisse und Ordinate. 

Die Newtonsche Methode beruht nun auf der Verbindung 
dieser Cartesianischen mit der (Keppler-) Cavalerischen Vorstellungs- 
weise. Indem (nach Cavaleri) jede Linie als durch einen sich 
bewegenden Punkt beschrieben fingiert wird, und indem ferner- 
hin jede Linie als durch das Verhältnis der Ordinate zur Abszisse 
genau bestimmt gesetzt wird, wird die Bewegung des (Cavaleri- 
schen) Punktes als eine zusammengesetzte gedacht, 1 ) zusammen- 
gesetzt aus der Bewegung in der Abszissen- und aus der in der 
Ordinalen richtung. Jeder einzelne Bewegungsfortschritt des die 
Linie beschreibenden Punktes ist genau bestimmt und vorge- 
schrieben durch das Gesetz, durch die Funktion. Die Funktion 
enthält das Bewegungsgesetz des Punktes. Genau genommen 
gilt übrigens nicht die Formel y = F(x), sondern die erweiterte 
Formel: y + Ay = F(x + /\x). Jeder Bewegungsfortschritt des 
erzeugenden Punktes ist dadurch bestimmt, d. h. jeder endliche, 
unstetige, diskrete. Diese Formel verhält sich zu der Linie un- 
gefähr gerade so, wie der endliche bestimmte Teil einer Fläche 
zu dieser oder einer Linie zu dieser. Ebenso wie ich jede Fläche 
oder Linie (A) in eine beliebige (x) Anzahl endlicher gleicher 
Teile (a) teilen kann, so dass also A==x*a, so kann ich den 

1) Newton ist sich klar bewusst, dass es sich bei dieser Vorstellungs- 
weise um Fiktionen handelt. Hierfür sprechen folgende Stellen aus Gerhardt 
(Gesch. d. höh. Anal. I, 86—88): . quando quanritates tanquam ex parti- 
culisconstantesconsideravero,velsi pro rectis usurpavero lineolas 
curvas . . . Quantitates, ut indeterminatas et instabiles, et quasi motu fluxuve 
perpetuo crescentes vel decrescentes, hicconsidero; et earum incrementa vel 
decrementa momentanea sub nomine momentorum intelligo; ita ut incrementa 
pro momentis additivis seu affirmativis, et decrementa p ro subductivis vel nega- 
tivis habentur — Über die Rolle des „ut" als Exponent der Fiktion 8. 
auch Gerhardt a. a. 0. S. 89, u. Gesch. d. Math, in Deutschi. S. 182. 

35* 



548 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



allgemeinen Weg der Linie y = F(x) zerlegen in eine beliebige, 
aber endliche Anzahl einzelner Schritte, Ay un< * A*. 

Auf diese Analogie ist hier der grösste Wert zu legen, 
denn in ihr Hegt der Schlüssel zu dem scheinbaren Geheimnis 
der Fluxionsrechnung. 

Wie wir nun aber mit Cavaleri jede Linie in eine unend- 
liche Anzahl unendlich kleiner Linienpunkte zerlegt dachten, so 
wird es hier zweckdienlich sein, die endlichen Schritte = Teile 
durch unendlich viele, unendlich kleine Schritte resp. Fort- 
schritte (Fluxionen) zu ersetzen. 

Es ist klar, dass diese Vorstellungsweise nur dann recht 
ausgenützt werden kann, wenn es gelänge, für das Unendlich- 
Kleine auch einen analytischen Ausdruck zu finden. Darin, in 
diesem Kunstgriff, die geometrische Konzeption des Unendlich- 
Kleinen analytisch darzustellen, darin besteht der ungeheure 
Portschritt, der durch Newton und Leibniz eingeführt worden ist* 

Allein es liegt auf der Hand, dass für das Unendlich- Kleine 
direkt kein analytischer Ausdruck gewonnen werden kann. Da- 
gegen ist die indirekte Möglichkeit vorhanden und zwar eben 
durch die Cartesianische Konzeption. 

Nach dieser ist ja jeder Fortschritt der Linie oder Kurve 
durch zwei Elemente bedingt, durch das verhältnismässige und 
beziehlich gegenseitig abhängige Fortschreiten der beiden Koor- 
dinaten. 

Um einen richtigen Einblick in diese Methode und um richtige 
Begriffe von ihrem Wesen und ihrer Anwendung zu erhalten, 
muss man, wie schon Cavaleri bei seiner Methode tat, das 
Methodologische streng vom Metaphysischen scheiden, was übrigens 
Newton und Leibniz selbst nicht immer getan haben. Durch 
das philosophische Interesse ist die an sich einfache, wenn auch 
schwierige Konzeption kompliziert worden. Insbesondere muss man 
in dem Absurden nichts Mysteriöses sehen, sondern das von uns 
als Massstab der Fiktion behauptete Prinzip festhalten, dass es 
sich hier, wie bei allen Fiktionen um eine logisch widerspruchs- 
volle Annahme handelt, welche aber praktisch nützlich ist. Es 
ist Unsinn, aber es ist Methode darin. Darin besteht — derb 
ausgesprochen — das Geheimnis der Infinitesimalrechnung. 

Insbesondere der analytische Ausdruck der Fluxion resp. 
des Differentialquotienten ist nichts Mysteriöses, sondern eine 
rein methodologische Fiktion, ein Kniff, ein feiner Kunstgriff, 



§ 23. Zur Geschichte der Infinitesimal-Fiktion, 



549 




nichts weiter, wie wir schon oben S. 525 ff. gesehen haben, und 
wie aus den Gesetzen der Anwendung dieser Methode noch 
klarer wird. 

Man wird zunächst fragen, warum Newton 1 ) als die Fluxion 
der Ordinate den Weg MV-RT meint und ansetzt, und nicht 
den Weg RN? Denn faktisch macht ja die Ordinate y den Weg 
R N in derselben Zeit, in wel- 
cher die Abszisse x den Weg 
MR macht. Das hat aber 
seinen guten Grund und darin 
besteht eben der Kern des 
Kunstgriffes. 

Er nennt RT resp. MV 
die Fluxion der Ordinate, 
d. h. denjenigen Weg, den die 
Ordinate oder der Punkt in 
der Ordinatenrichtung in derselben Zeit durchlaufen würde, 
wenn seine Geschwindigkeit dieselbe bliebe. Durch diesen letz- 
teren fiktiven Zusatz wird nun die folgende Operation gerecht- 
fertigt, wie sich sogleich zeigen wird. 

Wir bekommen zunächst folgendes analytische Resultat: 
Ursprüngliche Funktion y = F(x) 

Erweiterte y + Ay = F(x + Ax) = F(x) + p A* + M A* a + ■ 
Fortschritt Ay = pAx + M Ax a -f.., 

Wenn wir uns nun diese beiden Fluxionen Ay und A* 
so klein wie möglich denken oder sie auch zurückfliessen lassen 
und dem Abnahmeprozess im Moment des Verschwindens ein 
Halt gebieten, so erhalten wir Ay und A* als unendlich kleine 
Inkremente, welche dasselbe Verhältnis beibehalten, wie die 
endlichen Grössen. 

Wir erhalten also, da MA** etc. wegfallen, als Resultat 

A v 

~ = p, wo p einen bestimmten, analytisch darstellbaren Wert 

1) Wir folgen hier der Darstellung, welche Maclaurin im Jahre 1742 von 
der Newtonschen Methode gegeben hat in seinem Lehrbuch: A treatise of 
Fluxions. Einen Auszug hiervon gibt Lübsen in seiner „Einleitung in die 
mfinitesimal-Rechnung 11 (5. Auf L 1874.). Diesem ausgezeichneten Lehrbuch, 
in welchem auch die Leibnizsche Methode eingehend geschildert ist, und in 
welchem auch gerade die methodologischen Gesichtspunkte und Schwierigkeiten 
sehr gut erörtert werden, folgt auch unsere Darstellung oben S, 524 ff. 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



bezeichnet. Dieses Verhältnis bleibt, wie bemerkt, dasselbe, auch 
wenn wir eben die Inkremente immer kleiner und kleiner machen. 

Jetzt erhellt nun der Wert jenes fiktiven Zusatzes. Dadurch 
nämlich, dass als Fluxion der Ordinate nicht ihr wirklicher 
Zuwachs, sondern jener fiktive gesetzt wird, d.h. derjenige, 
den die Ordinate haben würde, wenn sie ihre in M erreichte 
Geschwindigkeit beibehalten würde, wird die Fiktion der Ab- 
nahme bis zu einem unendlich kleinen Inkremente gerechtfertigt. 
Denn dieses unendlich kleine Inkrement, wenn es wirklich unend- 
lich klein ist, darf ja dann keine Geschwindigkeitsänderung 
der Ordinate enthalten. Nur endliche und wirkliche Fortschritte 
enthalten solche Geschwindigkeitsänderungen und -Schwankungen. 
Ist dagegen die Zunahme nur unendlich klein, so kann in diesem 
unendlich kleinen Zeitpunkt keine solche Änderung eintreten. 
Wird also das Inkrement punktuell gesetzt, so muss als Fluxion 
der Ordinate nicht derjenige Raum betrachtet werden, den sie 
korrespondierend mit MR zurücklegen würde (RN), sondern ein 
Raum, den sie zurücklegen würde, wenn eben ihre Geschwindig- 
keit sich nicht änderte. Und damit ist sowohl der endliche Raum 
MV gemeint, als damit auch ausgedrückt ist, dass in jenem 
punktuellen Moment des punktuellen Inkrementes sich eben die 
Geschwindigkeit nicht ändere. 

Man sieht also: jene Fluxion ist ein Fortschritt, der kein 
Fortschritt ist, oder kein Fortschritt, der doch einer ist. 

Diese seltsame, absurde Annahme hätte nun keinen Wert, 
wenn es nicht möglich wäre, für das Verhältnis einen ana- 
lytischen Ausdruck zu erhalten. 

Strenggenommen freilich wäre dies nicht möglich. Wir 

erhalten ja eigentlich den Wert -g- = p, d. h, setzen wir die In- 
kremente gleich Null, so erhalten wir p. Allein -jj- ist ein voll- 
ständig sinnloser Ausdruck; ^ kann jede beliebige Zahl sein, 

jeder Wert ist -q-, d.h. kann unter Umständen herauskommen* 

Strenggenommen müsste einfach gesagt werden, wenn A^ und 
Ay zu 0 abnehmen, so bleibt eben auch nichts. Zunächst gelten 
Ax und Ay als wirkliche Werte. SobaJd gesagt wird, sie sind 
gleich Null, so hat die ganze Rechnung absolut keinen Sinn 
mehr, da 0 ja eben kein Wert ist 



§ 23. Zur Geschichte der Infinitesimal-Fiktioii. 551 

Auf der anderen Seite; Lässt man A* und Ay nicht bis 
zu 0 abnehmen, so hat man kein Recht, die anderen Glieder 
verschwinden zu lassen. Haben /\x und Ay also noch einen 
endlichen Wert, so bleiben diese Glieder. 

Aus diesem schlimmen Dilemma hilft nun die noch ver- 
zweifeltere Annahme heraus, Ax und Ay seien — Grenzen 
oder unendlich kleine Werte. In diesem Fall haben wir einer- 
seits das Recht, den Wert p beizubehalten und andererseits 
die übrigen Glieder wegfallen zu lassen. 

Nachdem nunmehr die rein mathematische Diskussion 
beendigt ist, gilt es, das Ganze methodologisch zu erwägen und 
zu prüfen. 

Hier wird nun klar, dass wir ein Recht hatten, den Begriff 
des Differentials als ein notwendiges Glied in der Entwicklungs- 
kette der mathematischen Begriffe zu betrachten. Da diese Be- 
trachtungsweise vielleicht neu ist, gilt es, dieselbe ausführlicher 
zu rechtfertigen. 

Nehmen wir unter den bisher erhaltenen Begriffen den der 
Linie heraus, um an ihrem Beispiel zu zeigen, dass das Diffe- 
rential ein Begriff ist, welcher mit der Notwendigkeit logischer 
Konsequenz als weiterer Grundbegriff entstehen musste, dass 
er daher auch rückwärts auf die anderen ein wichtiges Licht 
werfen muss. 

Die Fluxionsmethode hat zwei wesentliche Elemente, 
das geometrische und das analytische. 

Das geometrische zunächst ist herauszulösen, und dieses Ver- 
fahren hängt aufs engste mit dem Obigen zusammen. Es besteht 
einfach darin, dass nicht nur jede Linie aus der Bewegung eines 
Punktes oder aus einer unendlichen Anzahl unendlich kleiner 
Linien-Punkte bestehend resp. entstehend gedacht wird — diese 
Vorstellungsweise wurde schon vorher berücksichtigt — sondern 
darin, dass diese Bewegung des beschreibenden Punktes in einzelne 
Stösse, Schritte, Stationen u. s. w. zerlegt wird und zwar zunächst 
in eine beliebige Anzahl endlicher Schritte. Jeder dieser end- 
lichen Schritte kann aber immer kleiner gedacht werden, und wie 
die Fläche zur Linie gleichsam abmagert, so diese endlichen 
Schrittlinien zu unendlich kleinen Schrittpunkten. Allein damit 
wäre wenig geholfen, wenn nicht durch die Cartesianische 
Methode ein weiteres Element dazu käme. Nach ihr zerfällt jeder 
endliche Schritt in den Fortschritt zweier Faktoren, deren 



552 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen, 



Verhältnis ganz genau bestimmt ist. Es Iässtsich daher immer jeder 
einzelne Schritt als ein rechtwinkliges Dreieck darstellen, dessen 
Hypotenuse die Kurve ist, dessen Katheten die Koordinaten sind. 
Genau so, wie wir nun jede Fläche zu einer Linie, jede Linie 
zu einem Punkt zusammenschrumpfen lassen können, so können 
wir dies Zaubermittel auch hier anwenden. Genau genommen 
ist eigentlich jede Linie, welche z. B. aus einer Fläche zusammen- 
schrumpft, noch ein unendlich schmales Rechteck. 

Lassen wir nun aber z. B. ein Quadrat nicht so abnehmen, 
dass drei Seiten nach der vierten hinfliessen, und die übrig- 
bleibende Linie so ein unendlich schmales Rechteck bildet, 
sondern lassen wir alle 4 Seiten zugleich abnehmen, so 
erhalten wir sukzessive kleinere Quadrate, die zuletzt zum 
Punkt zusammenschrumpfen. Denkt man sich statt des Punktes 
aber unendlich kleine Seiten, so erhalten wir ein unendlich kleines 
Quadrat 

Ebenso hier. Lassen wir das Fortschrittsdreieck allmählich 
abnehmen, so dass es schliesslich nur den Punkt M einnimmt, 
so erhalten wir ein unendlich kleines Dreieck, dessen Hypotenuse 
nach der Newtonschen Vorstellung dadurch näher bestimmt ist, 
dass die Ordinate, welche bestimmend ist, ihre Anfangsgeschwin- 
digkeit beibehält Da sie aber nach dem Gesetz der Kurve diese 
Geschwindigkeit eigentlich in jedem Moment verändern sollte, so 
bietet das den besten Übergang zum unteilbaren Augenblick, in 
welchem der Fortschritt auch unteilbar ist 

Man sieht also nun, dass dies Fluxionsdreieck in demselben 
Sinne die Grenze des Fortschrittdreieckes ist, in welchem die 
Fläche Grenze des Körpers, die Linie Grenze der Fläche, der 
Punkt Grenze der Linie ist Auf diesen hier wohl zum erstenmal 
in dieser Weise dargestellten Zusammenhang ist grosses Gewicht 
zu legen, weil hieraus die innere Verwandtschaft aller dieser 
fiktiven Hilfsbegriffe resp. Hilfsvorstellungen erhellt 

Allein, wie bemerkt, diese geometrische Konzeption hätte 
herzlich wenig Wert, wenn dazu nicht die Möglichkeit käme, 
durch einen analytischen Kunstgriff für dieses unendlich kleine 
Fluxionsdreieck einen bestimmten Ausdruck zu erhalten. Dieser 
analytische Kunstgriff ist der zweite, wichtigere Teil der neuen 
Methode, ohne welchen, wie bemerkt, die geometrische Konzeption 
keinen Wert haben würde. 



§ 23. Zur Geschichte der lnfinitesimal-Fiktion, 553* 

Was nun aber vom Newtonschen Fluxionsdreieck gesagt 
worden ist, das gilt ganz in derselben Weise auch vom „Charak- 
teristischen Dreieck 41 , wie sich Leibniz bekanntlich ausdrückt 
Zwischen der Newtonschen und der Leibnizschen Darstellung der 
Sache ist kein prinzipieller Unterschied, sondern nur ein Unter- 
schied des formellen Gesichtspunktes, der schliesslich zum blossen 
Verbalunterschied wird. Gewöhnlich wird allerdings der Sach- 
verhalt so dargestellt, als ob die Newtonsche Fassung strenger, 
methodisch einwandsfreier sei, als die Leibnizsche. Denn Leibniz 
habe, im Anschluss an Cavaleris Indivisibilia, den widerspruchs- 
vollen Begriff des Unendlich-Kleinen eingeführt; Newton dagegen 
habe nur den schon von den Alten gebrauchten, harmlosen Be- 
griff der Grenze angewendet Vielfach findet man heute die 
Ansicht, man müsse in der Mathematik die letztere Vorstellungs- 
weise als die sicherere adoptieren und die Leibnizsche fallen 
lassen» So auch Gerhardt, 1 ) dessen historischen Forschungen wir 
im übrigen so viel verdanken. Diese Auffassung geht schon auf 
Newton selbst zurück. Dieser verhält sich ablehnend gegen die 
Cavalerische Fiktion der Indivisibilia, die „durior Indivisibilium 
hypothesis" und sagt dazu: Proinde in sequentibus, si quando 
quantitates tanquam ex particulis constantes consideravero, vel si 
pro rectis usurpavero lineolas curvas, nolim indivisibilia, sed 
evanescentia divisibilia, non summas et rationes partium 
determinatarum, sed summarum et rationum limites Semper in- 
telligi, vimque talium demonstrationum ad methodum praeceden- 
tium lemmatum semper revocari. (Gerhardt, Geschichte der Ana- 
lysis, I, 86.) 

Allein aus unserer ganzen bisherigen Darstellung ergibt sieb, 
dass die Vorstellung der Grenze genau dieselben Widersprüche 
in sich birgt, wie die Vorstellung des Unendlich -Kleinen, nur 
versteckter und weniger konkret. Der abstrakte, reine Begriff 
des Unendlich-Kleinen zeigt jene Widersprüche offen und 
unmittelbar, welche auch schon im Begriff der Grenze enthalten 
sind, wie unsere oben S. 506 ff. gegebene Analyse zeigt; letzterer 
Begriff scheint nur harmloser, weil er sich an das Gegebene 
anlehnt, aber er birgt schon alle jene Spitzen in sich, welche der 
Begriff des Unendlich-Kleinen offen und ehrlich hervorkehrt 2 ) 

1) Gerhardt, Gesch. d. höheren Anal I, VI, 18, 93 f. 

2) Dies zeigt Newton selbst ganz deutlich, wenn er z. B. sagt: Notandum 
est, quod unitas ista, quae pro momento pnnitur, est Superficies, quum d* Solidis, 



554 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



Denn wenn Newton sagt, er verstehe unter seinen fluxiones, 
incrementa tu s. w« nicht indivisibilia, sondern evanescentia divisi- 
bilia, so liegt ja doch im Begriff des „Verschwindens" das Merk- 
mal des Unendlich-Kleinen. Und dasselbe kommt nochmals ganz 
deutlich in folgender Stelle zum Vorschein: In finitis quantitatibus 
Analysin instituere, et finitarum nascentium vel evanescentium 
rationes primas vel ultimas investigare, consonum est Geometriae 
Veterum; et volui ostendere, quod in Methodo Fluxionum non 
opus sit, figuras infinite parvas in geometriam introducere. Peragi 
tarnen potest Analysis in figuris quibuscunque, seu finitis seu 
infinite parvis, quae figuris evanescentibus finguntur similes, ut et 
in figuris, quae per methodos Indivisibilium pro infinite parvis 
haberi solent, modo caute procedas (Gerhardt, a. a. CX S. 88), 
In dieser Stelle wird die am Anfang laut hinausgeworfene Fiktion 
der Indivisibilia zur Hinterture wieder leise hereingelassen, weil 
man sie eben absolut nicht entbehren kann, weil das Unendlich- 
Kleine eben schon im Begriff der .Grenze" liegt 1 ) 

Schliesslich zeigt sich — so möchte man fast sagen — 
hierin der Unterschied des englischen und des deutschen National* 
Charakters: wo jener Umschweife und Verhüllungen liebt, geht 
letzterer direkt auf das Ziel los, wenn er auch dadurch Anstoss 
errregt. Es ist also auch ein gänzlich vergebliches, gänzlich miss- 
verständliches Beginnen, wenn moderne Mathematiker die Wider- 
sprüche aus der Infinitesimalrechnung durch Rückgang auf den 
Begriff der Grenze herausbringen wollen. Nur schwächere Geister 
lassen sich dadurch beruhigen, ein streng logisch denkender Kopf 
wird dieselben Widersprüche im Begriff der .Grenze" doch bald 
entdecken. 



Wollten wir alles, was sich über Leibniz in diesem Zu- 
sammenhang sagen lässt, hier ausführen, so müsste unsere Dar- 
stellung zu einer Monographie auswachsen. Wir beschränken 
uns auf das Notwendigste, speziell auf das uns hier besonders 
Interessierende, auf das rein methodologische Problem des neuen 

et Linea, cum de Superficiebus, et Punctum, cum de Lineis agitur. Also das 
momentum — incrementum, der Gegenstand im Moment des Verschwindens 
resp. des AnUngens, ist ihm identisch mit den Cavalerischen Indivisibilia, 
der Fläche, der Linie, dem Punkt . 

1) Dies hat Leibniz selbst klar erkannt, wie wir unten S. 560 sehen 
werden. 



§ 23. Zur Geschichte der Infinitesimal-Fiktion. 



555 



Verfahrens. 1 ) Hierüber hat sich nun Leibniz in den ursprüng- 
lichen und eigentlichen Dokumenten*) der Entdeckung seiner 
Differentialrechnung ungenügend ausgedrückt; es hängt dies 
zusammen mit der Sitte resp. Unsitte seiner Zeit, derartige neue 
Verfahrungsweisen möglichst lange geheim zu halten, und höch- 
stens nur in den Resultaten, nicht aber in der Begründung zu 
veröffentlichen: so schreibt Leibniz an den Freiherr v> Boden- 
hausen: 8 ) „Es ist aber guth, dass, wenn man etwas wirklich 
exhibiret, man entweder keine Demonstration gebe, oder eine 
solche, dadurch sie uns nicht hinter die Schliche kommen." 
Indem Leibniz so, wie Gerhardt sagt, »den Gang seiner Behand- 
lung künstlich verhüllt", ist natürlich gerade dadurch das rein 
Methodologische am meisten zu kurz gekommen. Gleichwohl 
gibt es immerhin einige Stellen, teils in seinen Abhandlungen, 
besonders in den unveröffentlichten, teils in seinen Briefen, durch 
die wir Kenntnis davon erhalten, dass Leibniz sich über den 
methodologischen Charakter seiner Methode klare Gedanken 
gemacht hat. 

Besonders wichtig ist, was Leibniz im Jahre 1695 in den 
Act. Erudit Lips.*) gegen die Einwürfe von Nievventiit sagt, der 
die logischen Widersprüche in der neuen Methode, speziell im 
Begriff des Unendlich-Kleinen hervorgehoben hatte; besonders 
hatte er getadelt, dass dabei die „incomparabiliter minora negle- 
guntur", und dass dadurch die Gleichung, die aequalitas, eine 
ungenaue werde; man könne das keine aequalitas mehr nennen, 
Leibniz erwidert: Si quis talem aequalitatis definitionem rejicit, 
de nomine disputat Sufficit enim intelligibilem esse et ad 
inveniendum utilem. Itaque non tantum lineas infinite parvas, 
ut dx dy pro quantitatibus veris in suo genere assumo, 
sed et earum quadrata . . . praesertim cum eas ad ratiocinandum 

1) Die Technik des Leibnizschen Verfahrens s. oben S. 525 ff. 

2) Diese Dokumente sind veröffentlicht in „Leibnizens Gesammelten 
Werken", herausg. von G. H. Pertz, 3. Folge, Mathematik, Bd. I— VII, ediert von 
C. J. Gerhardt Halle, 1849—1863. Wir zitieren diese Sammlung als „Leibniz 
Ges. Werke". Die Bände I— III enthalten den Briefwechsel, Band IV des- 
selben fehlt jedoch; Band V enthält die Abhandlungen zurreinen Mathematik, 
Band VI und VII die zur angewandten. — Nur das Nötigste ist im Folgenden 
dieser Sammlung entnommen; sie bietet aber noch manche Ausbeute. 

3) Leibniz, Ges. Werke, VII, 352, 359. Vgl, V. 218 und bes. S. 390 f., 
392 ff.: Historia et Origo Calculi Differentialis. 

4) Leibniz, Ges. Werke, V, 320 ff. 



556 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



inveniendumque utiles reperiarn. Wir haben die wichtigsten 
Worte gesperrt, um auf dieselben besonders aufmerksam zu machen, 
Leibniz geht aus von dem praktischen Nutzen, den diese 
Vorstellungen haben, und nur um dieses praktischen Nutzens 
willen hält er jene Vorstellungen für verae, aber, wie er vorsichtig 
hinzusetzt: in suo genere. Sie sind ihm nicht absolut wahr, 
sondern nur relativ wahr, „in ihrer Weise* — wie er dies meint, 
werden wir aus anderen Stellen nachher eruieren. 1 ) In derselben 
Abhandlung zeigt Leibniz weiter, dass und warum man eben das 
Unendlich-Kleine auch zu Null werden lassen darf, und bemerkt, 
dass er ob talium expressionum raritatem et insolentiam, quae, 
fateor, tanta est, ut ipse Hugenms eas aegre admiserit, in der 
Veröffentlichung seiner Methode vorsichtig gewesen sei. 

Viel mehr noch lässt Leibniz hinter seine Kulissen blicken 
in der Epistola ad Christ. Wolfium circa scientiam infiniti, welche 
im Anhang zu den Act. Erudit. Ups. ad an. 1713 erschienen ist. 2 ) 
Nachdem er seine Methode der Infinitesimalrechnung kurz aus- 
einandergesetzt hat, fährt er fort: Atque hoc consentaneum est 
Legi Continuitatis . . , unde fit, ut in continuis extrem um exclu- 
sivum tractari possit ut inclusivum, 8 ) et ita ultimus casus, 
licet tota natura diversus, lateat in generali lege 4 ) caeterorum, 

1) Man vergleiche auch das von Gerhardt in seiner Gesch. d. höh. Ana- 
lysis l, 149 ff, veröffentlichte Ineditum: Elementa calculi novi . . . (z. B. S< 149: 
elementum curvae seu latus polygoni iniinitanguli, quod pro curva habemus; 
S. 150: infinite parva . . * ommitti possunt impune; si dx ponantur se aequales* 
habetur Methodus indivisibilium Cavalerii: S. 151: positis ipsis dx . . . infinite 
parvis; S. 154: ommitti potest x d x tanquam infinite parvum; positis d x et d y 
esse infinite parvas, cum scilicet per seriei terminum lineae continue per 
minima crescentes vel decrescentes tntelliguntur). 

2) Leibniz, Ges. Werke V, 382 ff. — In der Infinitesimalrechnung wird 
das Unendlich- Kleine, das, weil es mit dem Nichts zusammenfallt, eventuell 
auch in der Rechnung vernachlässigt werden kann, als Erzeuger des Endlichen 
betrachtet, sodass gewisse rmassen aus Nichts Etwas wird, daher die objectio 
der Leibnizschen Gegner, welche seine Methode verwerfen, quod ex nulli- 
tatibus quotcunque minime fieri possit aliquid (V, 387). Mit echt-theologi- 
schem Scharfsinn wollte daher, wie Leibniz in derselben Epistola erzählt, ein 
gewisser Grand ius daraus „non ineleganter illustirare Creationem rerum, quae 
ex nihilo fit per Divinam omnipotentiam" 

3) Zur Erläuterung sei an das Beispiel erinnert, dass der Kreis be- 
handelt werden kann (tractari postest) als Ellipse mit zwei unendlich nahen 
Brennpunkten (vgl. oben S. 512ff.). 

4) Vgl. hierzu oben S. 76 ff. und S. 80 ff. über die abstrakte Verall- 
gemeinerung und die unberechtigte Übertragung. 



§ 23, Zur Geschichte der Infinitesimal-Fiktion. 



557 



simulque paradoxa quadam ratione, et, ut sie dicam, figura 
philosophico-rhetorica punctum in linea, quies in motu, spe- 
cialis casus in generali contradistineto comprehensus mtelligi 
possit, tanquam punctum sit linea infinite parva, seu evanescens, 
aut quies sit motus evanescens, aliaque id genus, quae Joachimus 
Jungius, Vir profundissimus, toleranter vera appellasset, et quae 
inserviunt plurimum ad inveniendi artem, etsi meo judicio ali- 
quid fictionis et imaginarii complectantur, quod tarnen reduc- 
tione ad expressiones ordinarias ita facile rectificatur, ut error 
intervenire non possit". Auch hier haben wir die wichtigsten 
Worte gesperrt gedruckt Also Leibniz sieht ein, dass es sich 
bei der Betrachtung des Punktes als unendlich kleine Linie und 
überhaupt beim Begriff des Unendlich-Kleinen um etwas Para- 
doxes, Widersinniges handelt, das aber als rhetorische Fiktion zu- 
lässig ist, dass es sich um fiktive Vorstellungsweisen handelt, welche 
aber zum Erfinden nützlich sind: er hat somit nicht nur die 
Praxis, sondern auch die Theorie der Fiktionen klar erfasst und 
sieht auch ein, dass die Fiktion einen Irrtum einschliesst, der 
durch Rektifikation wieder gut gemacht werden muss (vgl. oben 
S. 194ff.). 

Besonders beachtenswert hierbei ist die Berufung auf 
Joachim Jungius, welche sich auch in einer fast gleichzeitigen 
Abhandlung: Observatio ... de vero sensu methodi infinitesimalis 1 ) 
findet mit den Worten: Tales enuntiationes [—1 esse quantitatem 
nihüo minorem, modo id sano sensu intelligatur] sunt toleranter 
verae, ut ego cum summo viro Joachimo Jungio loqui solo; 
Galli appellarent „passables". Rigorem quidem non susti- 
nent, habent tarnen usum magnum in calculando, et 
ad artem inveniendi universalesque coneeptus valent Talis fuit 
locutio Euclidis, cum Angulum contactus dixit esse rectilineo quo- 
vis minorem; tales sunt multae Geometrarum aliae, in quibus est 
figuratum quodammodo et crypticum dicendi genus. Sunt 
tarnen quidem, ut sie dicam, tolerabilitatis. Porro, ut nego 
rationem, cujus terminus sit quantitas nihilo minor, esse realem, 
ita etiam nego, proprie dari numerum infinitum vel infinite par- 
vum, etsi Euclides saepe, sed sano sensu, de linea infinita lo- 
quatur. Infinitum continuum vel discretum proprie nec unum, 
nec totum, nec quantum est, et si analogia quadam pro tali 



1) Leibniz, Ges. Werke V, 387 ff. 



558 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen, 



a nobis adhibeatur, ut verbo dicam, est modus loquendi; 
cum scilicet plura adsunt, quam ullo numero comprehendi pos- 
sunt, numerum tarnen illis rebus attribuemus analogice, quem 
infinitum appellamus* Itaque jam olim judicavi, cum infinite par- 
vum esse errorem dicimus, intelligi dato quovis minorem, revera 
nulium; et cum ordinarium, et infinitum, et infinities infinitum 
conferimus, perinde esse ac si conferremus ascendendo dia- 
metrum pulvisculi, diametrum terrae, et diametrum Orbis fixarum, 
aut bis quantumvis (per gradus) majora minoraque, eodemque 
sensu descendendo diametrum orbis fixarum, diametrum terrae, 
et diametrum pulvisculi posse comparari ordinario, infinite parvo, 
et infinities infinite parvo, sed ita ut quodvis horum in suo genere 
quantumvis majus aut minus concipi posse intelligatur. Cum 
vero saltu ad ultimum facto ipsum infinitum aut infinite parvum 
dicimus, commoditati expressionis seu breviloquio men- 
tali inservimus, sed non nisi toleranter vera loquimur, 
quae expiicatione rigidantur. Atque haec etiam mea sententia 
est de areis illis Hyperboliformium Asymptoticts, quae mfinitae, 
infinitiesque infinitae esse dicuntur, id est talia rigorose lo- 
quendo vera non esse posse, tarnen sano aliquo sensu 
tolerarL Atque haec tum ad terminandas virorum clarissimorum 
Varignonii et Grandii controversias, tum ad praecavendos chime- 
ricos quosdam conceptus, tum denique ad elidendas oppositiones 
contra methodum infinite similem prodesse possunt. 

In diesem grossen Passus, in dem wir ebenfalls das für uns 
Wichtige gesperrt haben, hat Leibniz ganz offen und klar ge- 
sprochen; Leibniz weiss, dass derartige Vorstellungsweisen und 
Urteilsformen strenggenommen (rigorose loquendo) nicht gültig 
(non vera) sind, dass sie aber (nach Jungius) erlaubt 1 ) sind, weil 
sie nützlich sind. Er nennt alle diese Vorstellungsgebilde blosse 
Redeweisen (modus loquendi, commoditas expressionis), ja, er 
leugnet ausdrücklich die Realität des Unendlich- Kleinen und des 



1) Was Joachim Jungius betrifft, den Leibniz auch sonst (besonders 
VII, 357) sehr hochstellt, so sind seine zahlreichen Werke sehr selten. Mir war 
nur seine Logica Hamburgensis zugänglich, in der sich aber, soweit ich sehen 
konnte, die von Leibniz angeführte Lehre nicht findet Die Sache ist weitererNach- 
forschung wert: denn, indem Jungius ausdrücklich von enuntiationes tolerabiliter 
verae, also von strenggenommen falschen, aber doch zulässigen Urteilen spricht 
hat er richtig das oben S. 167 sogenannte fiktive Urteil srhon als eigene 
Urteilsform erkannt und anerkannt. Vgl. unten § 27. 



§ 23. Zur Geschichte der Infinitesimal-Fiktion. 



559 



Unendlichen überhaupt. Er sieht richtig ein, dass es sich dabei, 
wie bei allen Fiktionen, nur um Analogien 1 ) handelt. Er weiss, 
dass dadurch, durch solche Vorstellungsweisen, Fehler entstehen, 
er weiss aber auch, dass diese Fehler wieder eliminiert werden* 
In diesen Ausführungen hat sich Leibniz zu einer Höhe der 
methodologischen Klarheit aufgeschwungen, die ihn weit über 
seine Zeitgenossen stellt, sogar auch über Newton. Insbesondere 
ist der überschauende Blick zu rühmen, mit welchem Leibniz 
alles Hierhergehörige umfasst: Leibniz geht sogleich vom Ein- 
zelnen zum Allgemeinen. So beginnt die letzterwähnte Abhand- 
lung mit den Worten: Cum olim Parisiis Vir summus Antonius 
Arnaldus sua nova Geometriae Elementa mecum communicaret, 
atque in iisdem, admirari se testatus fuisset, quomodo posset 
esse 1 ad — 1, ut — 1 ad 1, quae res probari videtur ex eo, 
quod productum est idem sub extremis, quod sub mediis, cum 
utroque prodeat + 1 : jam tum dixi mihi videri, veras illas 
rationes non esse, in quibus quantitas nihilo minor est antecedens, 
vel consequens, etsi in calculo haec, ut alia imaginaria, 
tuto et utiliter adhibeatur. Und so unterscheidet Leibniz 
daselbst mit voller Klarheit zwischen dem Verum und dem Ima- 
ginarium, und er erkennt, dass auch das Letztere seinen Nutzen 
und insofern seine praktische Wirklichkeit hat. 

Ganz bewunderungswürdig klar hat auch Leibniz erkannt, 
dass der durch das Fiktive gesetzte Fehler stets wieder korrigiert 
werden muss. Von dem durch das Fiktive entstehenden error 
spricht er mehrfach, vgl. Ges. Werke V, S. 218 (oben), S. 350 
(Mitte) u. ö. a ) Am klarsten äussert er sich aber in einer Ent- 
gegnung auf die scharfsinnigen Einwände von David Gregorius 

1) Vgl. oben S. 154 ff. u. ö. 

2) Treffend ist auch folgende, von Gerhardt Geschichte d. Mathem. in 
Deutschi. S. 151 aus den Manuskripten mitgeteilte Stelle (in der auch die 
unten S. 560 besprochene wesentliche Identität der Infinitesimalmethode mit 
der Exhaustionsmethode der Alten zum Vorschein kommt): Videndum, an 
exacte demonstrari possit in quadraturis, quod differentia non tantum Sit infinite 
parva, sed omnino nulla, quod ostendetur, si constet eiusque inflecti Semper 
posse polygonum, ut differentia assumta etiam infinite parva minor fiat error. 
Quo posito sequitur, non tantum errorem esse infinite parvum, sed omnino 
esse nullam, quippe cum nullus assumi possit. Die angenommene Differenz 
ist der error; ist nun die Differenz unendlich klein, so ist auch der error 
unendlich klein =0. Vgl. dazu die von Gerhardt a.a.O. 171 f. angeführten 
Ausführungen von Leibniz über die quantitates incomparabiliter parvae (Leib- 
nizens mathem. Schriften VI, S. 151, 168) 



560 



Zweiter Teil: Spezielle Ausfuhrungen. 



in den Act, Erudit Lips. von 1699, 1 ) wo er am Schluss der Ent- 
gegnung auf die glückliche Formulierung kommt, ut t andern 
destruentibus sese erroribus perveniretur ad modum 
apparenter concludendi — hier hat Leibniz voll und ganz 
die von uns sogenannte Korrektur der entgegengesetzten 
Fehler (vgl oben S. 194 ff.) als das methodologische Prinzip 
der Fiktion erkannt. 

Wir schliessen diesen Teil der Erörterung mit folgenden 
Worten von Leibniz (V, 387): Porro hoc argumentandi genus, 
etsi metaphysicum magis quam mathematicum videatur, tarnen 
firmum est, et alioqui canonum verae metaphysicae (quae ultra 
vocabulorum nomenclaturas procedit) major est usus in Mathesi . . . 
quam vulgo putatur . . . Simul cavebitur, ne scientia nova per 
Paradoxa minime defendenda infametur. Als solche verwerfliche 
Paradoxa betrachtet Leibniz die missverständliche Behauptung der 
Realität der infinite parva, deren rein fiktive und rein instrumen- 
tale (vgl oben S. 543) Natur er selbst (abgesehen von einigen 
wenigen unentschiedenen Stellen) deutlichst erkannt hat. 



Leibniz hat sich öfters selbst mit vollem Recht zur 
Rechtfertigung seiner von Gegnern angegriffenen Infinitesimal- 
methode auf den Grenzbegriff der Alten berufen, in dem 
dieselben Schwierigkeiten liegen. In der Responsio ad nonnullas 
difiicultates in den Act Erudit Lips. 1695 (Leibnizens mathem. 
Schriften, herausg. von Gerhardt, 1849—1863, V, S. 322) ruft 
Leibniz den Archimedes als Kronzeugen herbei für die Berech- 
tigung seiner Methode: quae [finita] quantitate non differuni, 
aequalia esse statuo, quod etiam Archimedes sumsit aliique post 
ipsum omnes. Et hoc ipsum est, quod dicitur differentiam esse 
data quavis minorem» Eine Linie werde nicht grösser durch Hin- 
zufügung eines Punktes im Sinne einer unendlich kleinen Grösse, 
ü. s. w.: quemadmodum si liniae punctum alterius lineae addas, 
vel superficiei lineam, quantitatem non auges. In derartigen, 
schon durch Archimedes* Grenzmethode nahegelegten Erwägungen 
bestehe das Wesen seiner neuen Methode- (Weitere Mitteilungen 
aus dieser wichtigen Abhandlung s. oben S. 555.) In diesem 
Sinne weist auch Gerhardt (Geschichte der Mathem. in DeutschL 



1) Leibniz, Ges. Werke V, 336-339. 



§ 23. Zur Geschichte der lnfinitesimal-Fiktion. 561 

S. 173 1) auf diese Abhandlung hin, und gibt daselbst noch 
weitere Auszüge aus einer ungedruckten Niederschrift von Leibniz, 
in der dieser „den Versuch macht, mittels des Begriffs des Kon- 
tinuierlichen, oder, nach gegenwärtiger Ausdrucksweise, mittelst 
des Begriffs der Grenze den Übergang von den quantitates assig- 
nabües zu den quantitates inassignabiles, infinite parvae zu 
erläutern und zu rechtfertigen, indem er von dem Postulat ausgeht: 
Proposito quocunque transitu continuo in aliquem terminum 
desinente, iiceat ratiocinationem communem instituere, qua ulti- 
mus terminus comprehendatur. Auf Grund dessen ist es zu- 
lässig und in der Geometrie immer üblich gewesen, die Parabel 
als eine Ellipse aufzufassen, deren zweiter Brennpunkt in unend- 
licher Entfernung liegt; zwei Parallelen als konvergente Linien 
zu betrachten, die einen unendlich kleinen Winkel bilden, und 
dadurch sind jene Ausdrücke wie: quantitates infinite parvae ent- 
standen und des bequemen Gebrauches wegen beibehalten worden. 
Ob aber diese unendlich kleinen und die unendlich grossen 
Grössen wirklich existieren (reales) und streng mathematisch (in 
sensu rigoroso ac metaphysico) nachzuweisen seien, das lässt 
Leibniz [daselbst] unentschieden; er meint, die Diskussion darüber 
verliere sich in metaphysische Dispute über die Zusammensetzung 
des Kontinuums, womit die Geometrie nichts zu schaffen habe. 
Ja, es sei nicht einmal nötig zu entscheiden, ob die unendlich 
kleinen Grössen als Null oder als wirkliche Grössen aufzufassen 
seien, da mit denselben ebenso wie in der Algebra mit den ima- 
ginären Ausdrücken 1 ) gerechnet werden könne. Es genügt ihm, 
dass er sich hierin in Übereinstimmung weiss mit allen 
grossen Mathematikern seit Archimedes." Diese metho- 
dologisch überaus interessante Auseinandersetzung gipfelt also 
— worauf es uns hier ankommt — darin, dass Leibniz mit vollem 
Bewusstsein seine Nova Methodus doch im Prinzip mit der 
Grenzmethode der Alten zusammenstellt, und ganz richtig, trotz 
der Verschiedenheit des Ausgangspunktes und der Ausdrucks- 
weise, die Wesensidentität beider Methoden durchschaut hat. 

1) Was also Leibniz unten S. 562 von den imaginären Wurzeln u» s. w. 
als Fiktionen sagt, das gilt ihm auch mutatis mutandis von der Fiktion des 
Unendlich-Kleinen. 



36 



562 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



Auch sonst hat Leibniz die Fiktion als ein wichtiges metho- 
dologisches Hilfsmittel der Mathematik erkannt Eine kleine 
Blumenlese, welche leicht vermehrt werden könnte, sei hier noch 
zum Schluss gegeben. 

In einem Brief an Huygens (Ges. Werke 11, 44) sagt z. B. 
Leibniz: 1 ) Par le moyen de cette equation je trouve toutes les 
proprietes de la cycloide, sans avoir aucun recours ä la figure, 
comme si c'estoit une ligne ordinaire. In dem erst bei Ger- 
hardt V, 141 ff. gedruckten Aufsatz: Characteristica Geometrica 
heisst es S. 148: „Eodem modo tractus quidam fingi possunt, 
quorum partes cohaerent lineis, vel qui describi intelliguntur 
motu lineae tali, ut puncta ejus non succedant sibi, sed ad nova 
loca deveniant. Hic tractus sive via lineae dicitur superficies. 
Ebendaselbst heisst es S. 154: Si fingeremus, Deum omnia in 
nobis ac circa nos in aliquo cubiculo apparentia proportione eadem 
servata minuere . . . Ähnlich heisst es in dem Aufsatz: De Ana- 
lysi situs (V, 180): Fingamus dua templa vel aedificia extructa 
esse haberi ea lege, ut . , VgL ferner den „Briefwechsel 
zwischen Leibniz und Chr. Wolff", her. v. Gerhardt, 1860, S. 35, 
113, 144, 165 (considerare instar), 186 (considerare tamquam). 
In einem Brief an de l'Hospital sagt Leibniz (Ges. Werke II, 248): 
Si un mobile a plusieurs tendances, je suppose qu'elles reus- 
sissent toutes ä la fois comme si le mobile se partageoit 6gale- 
ment entre elles, gardant le meme progrfes. In diesem Sinne 
spricht Leibniz auch öfters, z, B. in Briefen an Joh. Bemoulli, 
von arieficia (egregium artificium), so Ges. Werke III, 435, 448, 
802 u. ö., z. B. V, 230, VII, 359, 393. Gerhardt, Gesch. d. höh. 
Analysis, I, 133. 

In diesem Zusammenhang sei auch auf Leibnizens Äusse- 
rungen über die Rolle der imaginären Zahlen hingewiesen. Leib- 
niz hat sich hierüber in einer (leider Manuskript gebliebenen, 
aber bei Gerhardt VII, 138 f. gedruckten) sehr ausführlichen Ab- 
handlung ausgelassen, welche eben darauf hinausgeht, den Nutzen 
dieses fiktiven Gebildes der imaginären Zahlen, speziell der ima- 
ginären Wurzeln, usum radicum irrationalium (152) festzustellen. 

1) Auch die Freunde von Leibniz bedienen sich in der Korrespondenz 
mit ihm häufig des Mittels der Fiktion, so z.B. Oldenburg; s. Leibniz, Ges. 
Werke I, III, wo Oldenburg mehrfach die Aufforderung stellt: Finge, und 
auch von einsm numerus tictitius spricht Über „fingierte Zahlen* s. auch 
ib, VII, S. 5. Vgl Oerhardt, Gesch. d. Mathem. in Deutschi. S. 183. 



§ 23. Zur Geschichte der Infinitesimal-Fiktion. 563 

Die Erfindung dieser Gebilde (V— 1 u. s. w.) ist nach Leibniz 
ein grosses arteficium: certis ad valores irrationales inveniendos 
artibus est opus ac suppositionibus miraquadam ratione exco- 
gitatis in quas non incidat animus, nisi aut immenso labore 
omnia pertentet aut singulari quodam artif icio regatur, quod 
non ab Algebra, sed e superiore quadam scientia proficiscitur 
(womit Leibniz auf die Aufgabe der Logik als einer Methodologie 
der Wissenschaften hinweist), Leibniz fragt in diesem Zusammen- 
hang (in welchem auch wieder gelegentlich [145] ein Fingamus 
auftaucht) immer nach dem Nutzen dieser Gebilde; wozu sie 
dienen (servire 139), was durch sie eruiert (140, 142) oder besser 
gesagt, ausgedrückt (exprirni 140 u. Ö.) werden kann: sie dienen 
als Mittelglieder (interventu imaginariorumv radicum, 138, 140); 
gewisse reale Quantitäten können nur mit ihrer Hilfe ausgedrückt 
werden (. . . quantitates reales, quae tarnen non nisi imagina- 
riorum interventu exprimantur, 142); daher sind expressiones 
illae rectae et admittendae, etiam tum cum interveniunt 
imaginariae; also Sätze sind gültig, auch wenn so paradoxe 
(141), also sinnlose, unlogische Ausdrücke darin vorkommen 
wie if^l; also das Unlogische ist — ein notwendiges Mitte! 
zum Logischen. Aber zuletzt fallen diese unlogischen Elemente, 
nachdem sie ihre Dienste geleistet haben, wieder heraus (evanes- 
cunt imaginariae, 73), aber die Frucht ist da (regulas quasdam 
adjiciam ex irrationalibus contemplatione ductas, quanquam in 
Ulis nulla fiet irrationalium mentio, 154). Vgl. hierzu die Be- 
merkungen auf S. 74 Über punctum impossibile und über die 
Absicht, welche „die Natur" mit den imaginären Quantitäten vor- 
hatte. — Natürlich will Leibniz ihnen mit der letzten Bemerkung 
keine Realität zuschreiben; wie er hierüber denkt, hat er an einem 
anderen Orte geistreich ausgedrückt (V, 357): Verum enim vero 
tenacior est varietatis suae pulcherrimae Natura rerum, aeter- 
narum varietatum parens, vel potius Divina Mens, quam ut omnia 
sub unum genus compingi patiatur, Haque elegans et mirabile 
effugium reperit in illo Analyseos miraculo, idealis mundi monstro, 
pene inter Ens et Non-Ens amphibio, quod radicem imaginariam 
appellamus. — 

In einem Brief an Joh. Bernoulli (Ges. Werke III, 466 ff., 
vgl. VI, 14) berichtet Leibniz über eine Papinsche Fiktion: Si 
fingamus corpora A et B esse perfecte dura et inflexibilia etc.; 
Leibniz gebraucht in diesem Zusammenhang mehrfach den für 

36* 



564 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen, 



die Fiktion charakteristischen Ausdruck ac si (perinde fore, ac 
si . . . perinde omnia eventura esse, ac si . . ♦); er spricht von 
supponere; er sagt „fingendum est . . . etsi constat has fictiones 
revera locum non habere; 1 ) und nochmals heisst es daselbst: 
. . . substitui fingatur .... Johann Bernoulli freilich, eine etwas 
schwerfällige Natur, kann sich zu dieser Freiheit der Vorstellungs- 
weise nur schwer aufschwingen (ib. 472), und wo er von fingere 
spricht (z. B. ib. 596: finge tibi antliam pneumaticam), da handelt 
es sich nicht eigentlich um methodologische Fiktionen im engeren 
und strengeren Sinn. Aber Leibniz macht immer neue Fiktionen 
z.B. ib. 599: Ponamus agrem esse homogeneum perfecte elasti- 
cum . . , . Job. Bernoulli wendet dagegen mit übergrosser Vor- 
sicht ein (ib. 615): Si aer metaphysice fingeretur elasticus, id est 
si ad infinite exiguum spatium condensari posset, tunc utique 
esset, quod dicis densitates esse viribus proportionales. Id non 
nego: sed fingi non debet, quod non est, ut exinde aliquid probes 
absolute . . . Darauf antwortet Leibniz (ib. 616): Revera talia in 
Natura nunquam procedunt, ut in pura Mathesi, 8 ) et perinde est 
ac cum in descensu gravium ponimus velocitatem aequaliter cres- 
cere, nempe ad sensum et aliquousque; alioqui nec id rigorose 
verum est, et quidem si satis longa essent descensuum spatia, 
etiam sensu notari posset, quantum regula i IIa fallat. Abso- 
lute utique fieri non potest, ut corpus sit pure seu metaphysice 
elasticum . . . quia elastica vis non est aliquid primitivum et 
mathematicum, etsi pro tali utrumque assumatur, ut locus Sit 
aestimationi; et perinde est condensationes ponere compressio- 
nibus proportionales, ac ponere extensiones viribus tendentibus 
♦ . . proportionales, quod solemus facere, assumentes aliquid 
certum ac rotundum pro incerto. Caeterum quod ais, meta- 
physice elasticum debere posse comprimi in nihilum seu spatium 

1) Weitere Fiktionen s. bei Gerhardt, Geschichte d. höh. Analysis 1, 55 N. 
(. . . fingendo . . S. 124 (possumus fingere . . .); ib. S. 145 wird une ligne 
droite betrachtet wie un angle infiniment obtus (vgl. oben S. 516 N.). 

2) Ähnlich fasst Leibniz den Gegensatz zwischen den realen Vorgängen 
und den mathematischen Fiktionen zu deren Berechnung VII, S. 453, wo er 
nach einer längeren Auseinandersetzung in diesem Srone sagt: Haec interim 
supponunt gravitatem continue agere secundum Mathematicas rationes, neque 
enim ad sensibilia respiciunt etc. In einem verwandten Zusammenhang Vi, 
S. 495 kehrt auch das charakteristische ac si wieder; vgl. auch daselbst (und 
öfters) das über das centrum gravitatis Gesagte, eine bekannte Fiktion, von 
der auch schon oben mehrfach (z. B S. 105 ff. 4SI ff.) die Rede gewesen ist. 



§ 23. Zur Geschichte der Infinites! mal-Fiktion. 



565 



infinite parvum, id non obesset, quia ad id etiam opus est et vi 
infinita. Was Joh. Bernoulli darauf antwortet (ib 618), ist be- 
merkenswert; er erinnert an die verschiedenen Bilder, welche 
man sich von der Materie, speziell von der Luft machen kann: 
multis modis a€ris natura effingi potest Bernoulli hat den von 
Leibniz scharf erkannten Unterschied von hypothetischen und 
fiktiven Bildern allmählich doch erfasst; er schreibt bald darauf 
(ib. III, 626): non perfecte duris (si talia vel esse vel concipi 
possent). Weniger scharf wird der Unterschied zwischen Hypo- 
these und Fiktion erfasst V, 293: Rationi consentaneum est princi- 
pium determinandae figurae elasticae, quod vires flectentes sint 
curvedinibus proportionales, potestque ad Hypotheseos aptae 
modum assumi, tametsi non prorsurn sit explicatum, quousque 
Natura ea utetur, cum fingi possunt constitutiones cor- 
porutn, ubi res aliter procedat. 

Auf eine bemerkenswerte Fiktion sei noch hingewiesen. 
Leibniz sagt in seiner (Manuskript gebliebenen, jetzt in Gerhardts 
Ausgabe Bd. VII gedruckten) Mathesis Universalis (S. 75): Caeterea 
non tantum quantitatis infinite parvae seu infinitesimae sed etiam 
quantitatis infinitae usus est in calculo. Exempli causa constat 
ex opticis, cum radii diversi veniunt ex eodem puncto idque 
punctum ponitur infinite vel inassignabiliter, vel ut subinde 
loqui soleo, incomparabiliter abesse, radios fieri parallelos. Unde 
radii ex sole venientes finguntur paralleli, et directiones gravium 
etsi ad idem terrae centrum tendant, tarnen ob magnam hujus 
centri distantiam, pro parallelis habentur, quasi sol aut 
centrum infinite abessent (vgl ibidem VII, 330). 

Solche considerationes — man kann diesen Ausdruck am 
besten mit dem Herbartschen Terminus „zufällige Ansichten* 
wiedergeben — findet Leibniz nützlich »pro examine calculi", wie 
er anderwärts (VII, 384) in einem solchen Zusammenhang einmal 
sagt, wo es einmal (in der so selten von Leibniz gebrauchten 
deutschen Sprache) heisst: „und wiederum b wenn man fin- 
gieren wollte b = a (ob es schon nicht ist)* u, s. w. 



Aus diesen, ocido fugitivo (um einen im Leibniz- Wolffschen 
Briefwechsel vielgebrauchten Ausdruck zu verwenden), gesammel- 
ten Beispielen erhellt, welch grosse Bedeutung die Fiktion im 
mathematischen Denken von Leibniz hat Und nicht nur bei 



566 



Zweiter Teil; Spezielle Ausführungen. 



Leibniz, sondern bei fast allen bedeutenden Mathematikern jener 
Zeit ist das der Fall. Ja, in der Geschichte der Mathematik über- 
haupt spielt die Fiktion eine bedeutsame Rolle, die monographisch 
zu verfolgen eine reizvolle und dankbare Arbeit wäre. Hier sei 
nur noch zum Schluss auf einen Mathematiker aufmerksam ge- 
macht, aus dem wohl auch Leibniz gelernt hat, auf Michael 
Stifel (1487—1567), dem Gerhardt in seiner „Geschichte der 
Mathematik in Deutschland* (1877) ein ehrenvolles Denkmal ge- 
setzt hat. Von ihm sagt Gerhardt S. 74: »Mit ihm beginnt die 
neuere Mathematik, denn er spricht als Grundsatz aus: per- 
mittendum esse Arithmeticis, ut, dum bona ratione et 
utili consilio aliquid fingunt, uti possint hujusmodi 
rebus fictis*. Dies ist wahrlich eine überaus klare Einsicht in 
das Wesen der Fiktion als eines „nützlichen" Hilfsmittels, und 
wir müssen Gerhardt, der sonst in methodologischen Dingen nicht 
immer scharf genug ist, selbst bewundern, dass er diesen bewunde- 
rungswürdigen Satz herausgefunden und ans Licht gestellt hat. 

Auch ein bedeutsames Beispiel hat Gerhardt ib. S. 65 wieder- 
gegeben: Sic Cossa [die Arithmetik] solet, pro immensa copia sua, 
iis uti quae sunt, et iis, quae finguntur esse. Nam sicut 
supra unitatem ponuntur numeri integrt, et infra unitatem fin- 
guntur minutiae [die Brüche] unitatis, et sicut supra unum 
ponuntur integra, et infra unum ponuntur minüta seu fracta: sie 
supra 0 ponitur unitas cum numeris, et inffa 0 fingitur unitas 
cum numeris. Stifel betrachtet also zuerst die Brüche als Fik- 
tionen, und nachher, was besonders bemerkenswert ist, die nega- 
tiven Zahlen, auf deren fiktive Natur wir auch schon oben 
gelegentlich hingewiesen haben; um ihre widerspruchsvolle Natur, 
(die uns heutzutage nicht mehr auffällt, weil diese Zahlbegriffe 
uns von der Schule her so geläufig sind), zum Ausdruck zu 
bringen, nennt er sie numeri absurdi, weil sie kleiner als 0 sind; 
sie heissen auch einfach numeri ficti (ib. 71). Dass auch die 
Bruchzahlen nur Fiktionen seien, drückt Stifel noch besonders so 
aus: de qua re etiam prirno libro disputavi, videlicet minutias 
unitatis habendas esse pro numeris fictis. Auch mit der 
Frage, ob die Irrationalzahlen eigentliche oder nur fingierte Zahlen 
seien, hat er sich eingehend abgegeben (ib. 69). Auch über die 
regula falsi, welche er ein inventum valde egregium nennt, 
scheint er (vgl. a, a, O. S. 68) in ähnlicher Weise sich geäussert 
zu haben. Vgl. hierzu oben S. 395. 



§ 24. Bemerkungen über mathematische Hilfslinien und Verwandtes. 567 

Wir schliessen diesen Abschnitt mit den Worten Michael 
Stifels, die wir von den „Arithmetici" auf die Mathematici über- 
haupt ausdehnen: 

Permitten dum est Mathe maticis, ut, dum bona ratione 
et utili consilio aliquid fingunt, uti possint rebus fictis. 



§ 24. 

Bemerkungen über mathematische Hilfslinien und 
Verwandtes.*) 

Eine Hauptrolle in den hinter uns liegenden Erörterungen 
über die höhere Mathematik spielte, wie wir sahen, das Carte* 
sianische Koordinatensystem. Die fiktive Hinzufügung, Hinzu- 
dichtung eines Koordinatensystems dient zunächst zu dem Zweck, 
die Berechnung krummer Linien zu erleichtern. Diese fiktive 
Determination des vorliegenden Materials (das in diesem Falle 
in mathematischen Formen besteht) durch Hilfslinien wird aber 
dann auf alle geometrischen Gebilde überhaupt ausgedehnt Die 
rein willkürlichen und imaginären Hilfslinien, welche hier gezogen 
werden, sind nur dienende Gebilde, ein Verhältnis, das durch die 
übliche Darstellung freilich verdunkelt wird. In der Geometrie 
wird gewöhnlich zwischen Mittel und Zweck methodologisch kein 
Unterschied gemacht; und in den landläufigen Handbüchern tritt 
daher dieser Umstand sehr zurück, auf den es uns doch hier 
allein ankommen kann, insofern als dieses ganze Koordinaten- 
gerüst doch nur ein bequemes Hilfsmittel ist, das von uns zu den 
Dingen erst hinzugedacht und hin2iigebracht wird. Dass wir es 
hier nur mit einem Gerüst zu tun haben, das nur provisorisch 
zur Aushilfe angebracht wird, und das nachher wieder abzubrechen 
ist, dieser Sachverhalt tritt meistens ganz zurück. Und doch ist 
die Cartesianische Neuerung nur eine neue, auf der Ziehung von 
Hilfslinien beruhende Methode, um Inhalt, Umfang u. s. w. der 
gesetzmässigen, krummlinigen Figuren zu finden. Es zeigt sich 
das darin, dass am Schlüsse beim wirklichen Resultat jene 
Hilfsgrössen herausfallen. 



*) Weitere Ausführungen tu Teil I, Kap. 10, & 69 ff. 



568 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



Das Koordinatensystem ist eine willkürliche, aber ungemein 
scharfsinnige Einschiebimg, durch deren Hilfe uns eine Menge 
von Bestimmungen erst ermöglicht wird. Es ist ein intermediäres 
Gebilde, auf das wir die Figuren und ihre verschiedenen Teile 
beziehen können, und indem wir indirekt diese Beziehungen statt 
direkt die Figuren selbst betrachten, erhalten wir gewisse Gesetze 
und Eigenschaften jener Figuren, nach deren Auffindung wir das 
provisorische Hilfsgerüst wieder entfernen. 

Die Cartesianische Fiktion, wie wir diese Methode der ana- 
lytischen Geometrie nennen können, besteht also in einer Ein- 
schiebung. Wir können jedes geometrische Gebilde so betrachten, 
als ob es von einem Koordinatensysteme abhängig wäre. 

Was wir so in der höheren Mathematik, speziell in der 
analytischen Geometrie, gefunden haben, das gilt auch mutatis 
muiandis von der elementaren Geometrie. Auch in ihr spielt das 
Hilfsmittel der Hilfslinien eine ausschlaggebende Rolle. Und 
diese Hilfslinien bezwecken fast eine durchaus künstliche, fiktive 
Zerlegung, 

Wenn wir z. B,, um zu beweisen, dass die Winkel des 
ebenen Dreiecks gleich zwei Rechten sind, durch einen beliebigen 
Winkelpunkt eine mit der gegenüberliegenden Seite parallele Linie 
ziehen, so ist dies eine Hilfslinie, vermittelst welcher jener Beweis 
möglich wird, u. z. durch Reduktion des vorliegenden Falles auf 
das sogen. Parallelenaxiom. Man schiebt hier diese Hilfslinie ein, 
welche aber nach vollendetem Beweise herausfällt*) 

Wenn man diese in der Geometrie übliche Methode des 
Beweises durch Hilfslinien genauer ins Auge fasst, so entdeckt 
man wieder jenen schon mehrfach gekennzeichneten Doppei- 
prozess, welcher bei diesen Determinationen sich spezifiziert als 
Hinzufügung oder EinSchiebung und Wiederwegfall einer willkür- 
lichen Zwischenbestimmung. Bei dem Beispiel mit den Dreiecks- 
winkeln zieht man willkürlich eine Linie, welche vorher nicht da 
ist, gewinnt dadurch zwei Winkel, welche man nun in den Be- 
weisgang einschiebt, und schliesslich fallen alle diese Vermittler- 
gebilde wieder heraus. Anstatt die Figur zu nehmen, wie sie ist, 
betrachtet man sie, als ob jene Hilfslinie wirklich zu ihr gehörte. 
Man schiebt imaginative Gebilde ein, welche zur Sache gar 

1) Gegen diese Methode iiat bekanntlich Schopenhauer seine Stimme 
erhoben, indem er statt dieser Umwege einen direkten, anschaulichen Be- 
weis für die mathematischen Lehrsätze verlangt. 



§ 24. Bemerkungen über mathematische HiifsJinien und Verwandtes. 569 

nicht gehören; man bringt an der Figur gleichsam ein Gerüst 
an, welches man nach erreichtem Zwecke wieder abbricht. 

Eine bloss fiktive Determination ist auch die willkürliche 
konventionelle Einteilung des Kreises in 360 Grade (fxot^ai, partes, 
arabisch derget, davon das französische degre (nach Kästner)); 1 ) 
man denkt sich die ganze Kreisfläche und damit die Peripherie 
und die um den Mittelpunkt herumliegenden Winkel in Teile 
zerlegt, eine Zerlegung, die eine ganz fiktive Annahme ist, wobei 
zugleich auch gerade die Zahl 360 ganz arbiträr ist. *) Vgl. S. 470. 

Auch das Messen beruht auf einer fiktiven Determination 
und auf der Anwendung von Hilfslinien und Hilfsstrichen, welche 
der Einbildungskraft ihre Entstehung verdanken. Das Messen 
ist die Anwendung der diskreten Grössenvorstellungen auf die 
kontinuierlichen Grössen. Allein eine scharfe Logik wird auch 
an dieser Anwendung ihre Skepsis anzusetzen versuchen. Und 
obwohl die Spitzfindigkeit fast übertrieben erscheinen kann, so muss 
diesem Zweifel doch Raum gegeben werden, da er schon mehr- 
fach laut geworden ist, ja da er sich sogar auch auf das Zählen 
erstreckt. Denn Zählen ist das umgekehrte Verfahren des Messens, 
es ist die Anwendung der Stetigkeitsvorstellung auf Diskretes, 

Wir haben also hier zwei disjunkte Begriffe, welche sich als 
Arten einer und derselben Gattung verhalten, das Diskrete und 
das Stetige. Wird das Diskrete als ein Stetiges betrachtet, so 
entsteht das Zählen; wird das Stetige als diskret betrachtet, so 
entsteht das Messen. Offenbar liegt beidemal eine Willkür zu 
Grunde. Wir finden empirisch zwei Arten von Grössen, diskrete 
und stetige; d.h. die Quanta, welche uns empirisch gegeben 
werden, sind entweder einheitlich, oder sie bestehen aus ge- 
trennten Teilen. Es ist eine reine Funktion unserer Einbildungs- 
kraft, das Getrennte als Eines zu betrachten, und das Eine als 
Getrenntes. Wenn ich einen Haufen Steine zusammenfasse und 
zähle und diese Summe als Einheit betrachte und ihr etwa den 
Namen zehn gebe, so habe ich dazu im Äusseren eigentlich keine 
direkte Veranlassung, Und es ist eine Willkür, diese getrennte 
Steinmenge so zu betrachten, als ob sie Eines wäre, und diese 
Einheit sogar noch durch einen Namen zu hypostasieren. Auch 
das Zählen beruht also, wie wir sehen, auf einer Fiktion, wenn 
auch auf einer sehr unschuldigen: auf der Fiktion, das Getrennte 

1) Vgl, Sufcer. Geschichte der mathematischen Wissenschatten. K, S. 131 

2) Vgl. die Ausführungen oben & 469—471 



570 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



so zu betrachten, als ob es Eins wäre. Darum aber sind auch 
alle Zahlen als Produkt dieses fiktiven Prozesses etwas rein 
Fiktives, wie besonders Leibniz häufig betont, 

Ist somit erkannt, dass das Zählen auf einer Fiktion beruht, 
und dass alle Zahlen Fiktionen sind, so gilt es, dieselbe Betrachtung 
auf die korrespondierende Operation anzuwenden, welche aus dem 
Zählen hervorgeht. Denn das Zählen geht dem Messen voran, 
da das Messen die Zahlen schon voraussetzt. 

Irgend eine stetige Grösse, also z. B. eine Wegstrecke wird 
betrachtet, als ob sie aus einzelnen Teilen bestünde. Ebenso 
wie oben die Zusammenlassung nur eine ideelle ist, so kann auch 
hier die Trennung nur eine ideelle sein. Das Stetige ist spezi- 
fisch vom Diskreten unterschieden; bei ihm gehen die einzelnen 
Teile „stetig" ineinander über, d. h. es hat eben eigentlich gar 
keine Teile von Natur, alle Teilung kann nur von aussen, durch 
eine zufällige Ansicht an dasselbe herangebracht werden, durch 
willkürliche Einschnitte, durch Hilfsstriche, durch Hilfslinien. Das 
ist aber eine praktische Notwendigkeit, die sich bald geltend 
macht. Die Beobachtung, dass die stetigen Grössen unter sich 
Grössenunterschiede zeigen, erregt den Wunsch, das Quantum 
dieser Unterschiede genau zu bestimmen; und dies ist offenbar 
nur dadurch möglich , dass willkürliche Einheiten als Massstäbe 
angenommen werden, welche dann an das Stetige herangebracht 
werden, das in Teile zerlegt gedacht wird, die jenem Massstab 
entsprechen. Wie oben die Zahlensysteme willkürlich waren, so 
ist es hier der Massstab. Eine beliebige Einheit wird zu Grunde 
gelegt, und das Stetige wird ganz willkürlich so betrachtet, als 
ob es aus Teilen zusammengesetzt wäre. Durch die Angabe und 
Summierung dieser Teile ist nun das Stetige bestimmt bezeichnet. 
Das Stetige ist unter die Gesetze des Diskreten gebracht. 
Es geschieht dies also genau auf dieselbe Weise, die wir schon 
früher mehrfach erwähnten und als Übertragungsmethode 
bezeichneten. Alles Stetige ist diskret — aber welchen Zusatz 
erhalten wir hier? Wir sahen ja oben, dass ein limitierender Zusatz 
erforderlich ist, der diese willkürliche Methode rechtfertigen soll. 
Dieser Zusatz ist: Nur sind diese diskreten Teile so nahe, dass 
sie ineinander übergehen — damit ist eben das Stetige wieder 
genau hergestellt und bezeichnet. Und so muss ja auch das 
Stetige betrachtet werden: seine (angeblichen) Teile sind nicht 
mechanisch aneinandergelegt, wie etwa Steine, sondern sie sind 



§ 24, Bemerkungen Uber mathematische Hilfslinien und Verwandtes. 571 

einander unendlich nahe, d. h, sie gehen ineinander über, d. h. 
sie sind eben keine Teile. Denn Teile sind eben voneinander 
getrennt, unterscheidbar. Diese Teile aber sind es nicht Durch 
diesen Kunstgriff ist es nun ermöglicht, das Stetige als Diskretes 
zu behandeln, d. h. Arithmetik auf Geometrie anzuwenden, und 
als eine solche Anwendung muss schon die ganze elementare 
Methode des Messens bezeichnet werden, welche auf der dar- 
gelegten Fiktion beruht, dass eben nämlich das Stetige so 
betrachtet wird, als ob es ein Diskretes wäre. 

Das Umgekehrte, sagten wir, ist das Zählen; hier wird das 
viele Diskrete als ein Stetiges betrachtet. Diese Betrachtung der 
Zahlen selbst als eines Stetigen ist eine doppelte. Auf der einen 
Seite führt dies zur Anwendung der Geometrie auf Arithmetik, 
wo Zahlgrössen als Linien u. s. w. betrachtet werden, und dies 
ist eben dadurch ermöglicht, dass nun jede Zahl als eine stetige 
Linie betrachtet wird, welche sich von jeder anderen Zahl durch 
eine bestimmte Anzahl von Einheiten unterscheidet. Auf der 
anderen Seite führt dies schon innerhalb der Arithmetik selbst 
zu allen jenen Operationen, bei denen mit den Zahlen als mit 
stetigen Einheiten verfahren wird, indem sie geteilt werden, indem 
man sie radiziert u. s. w., was aber eben darum, weil hier fiktive 
Vorstellungsarten angewandt werden, vielfach, z. B. bei dem Irra- 
tionalen und Imaginären, auf lnkonvenienzen führt. Eben solche 
Inkonvenienzen ergeben sich aber auch beim Messen: dem Irra- 
tionalen in der Arithmetik entspricht das Inkommensurable 
in der Geometrie. Die Als-Ob-Betrachtung muss notwendig auf 
Widersprüche, auf notwendige Widersprüche führen. Diese Wider- 
sprüche sind der unvermeidliche Kaufpreis für die Nützlichkeit 
der Fiktionen. Fiktionen sind theoretisch widerspruchsvolle, aber 
praktisch fruchtbare Betrachtungsweisen. 



§ 25. 

Drei Fiktionen aus der praktischen Philosophie.*) 

Wir haben uns in diesem unserem IL Teil bisher nur im 
Gebiet der theoretischen Fiktionen bewegt, aus denen wir die 
markantesten Beispiele hier nun eingehender erörtert haben, als 



•) Weitere Ausführungen zu Teil l t Kap. 9, Ä &9ff. 



572 



Zweiter Teil: Spezielle Auslührungen. 



es uns im 1, Teil möglich war. So bleibt uns nur noch wenig 
Raum für das Gebiet der praktischen Philosophie, aus dem wir 
aber zum Schluss doch noch einige, allerdings mehr zufällige 
Proben herausgreifen wollen. 

Wir knüpfen zunächst an das an, was wir früher in dem 
grundlegenden Kapitel IX über die praktischen (ethischen) Fik- 
tionen ausführlich gesagt haben. Die Freiheit ist die wichtigste 
derartige Fiktion: wir betrachten und behandeln uns selbst und 
andere, als ob die menschlichen Handlungen frei wären, obgleich 
wir theoretisch doch überzeugt sind, dass alle Funktionen der 
Psyche durch unverbrüchliche Gesetze bedingt und bestimmt 
sind. Eine kurze, aber nicht unbedeutende Ergänzung hierzu 
finde hier ihre Stelle. 

Auch Jellinek, der bekannte Rechtsphilosoph, behandelt 
das Freiheitsproblem genau in derselben Weise. 1 ) Nachdem er 
die verschiedenen Parteiansichten referiert und kritisiert hat, 
stimmt er F. A. Lange bei (Gesch. d. M. II, 404), der die 
Strafwürdigkeit auf das subjektive Bewusstsein der Freiheit und 
Verantwortlichkeit gründet. Ob diesem subjektiven Bewusstsein 
eine absolute Realität entspreche, dies zu erforschen, sei eine 
der schwierigsten Aufgaben der Metaphysik [?], aHein die einzig 
praktische Lösung der Frage beruhe auf dieser unumstösslichen 
Tatsache des subjektiven Freiheitsbewusstseins; dieses ursprüng- 
liche Bewusstsein gehöre zu den notwendigen Momenten unserer 
geistigen Organisation, »Auf dem Bewusstsein der Freiheit beruhen 
alle grossen Taten der Geschichte, alle Siege der forschenden 
Vernunft, alle Schöpfungen des künstlerischen Genius, es ist 
der mächtigste Hebel der gesamten menschlichen Entwicklung, 
und insofern haben die unbestreitbar Recht, welche die Geschichte 
als das Werk der Freiheit ansehen.* Auf diesen Dithyrambus 
zum Lobe der Freiheit folgt aber die abkühlende Bemerkung: 
„Mag die Reflexion immerhin auch in den Taten die strenge 
Notwendigkeit verwirklicht finden, sie kann unsere unmittelbare 
Überzeugung so wenig Lügen strafen u« s. w," So existiere denn 
praktisch Freiheit und Verantwortlichkeit ohne Zweifel, sie seien 
das unerschütterliche Fundament, auf dem sich das Leben und 
die Bewegung der Gesellschaft in praktischer Hinsicht vollziehen. 



1) Jellinek, Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und 
Strafe. Wien 1878. S.60Ü. 



§ 25. Drei Fiktionen aus der praktischen Philosophie. 573 

Aber die positive Wissenschaft abdiziere nicht zu Gunsten des 
Unwissbaren, Regellosen, Zufälligen auf die kausale Verknüpfung 
der Phänomene, wie das ja auch Kant trotz der von ihm postu- 
lierten Freiheit nicht tue. Und schliesslich gelangt Jellinek zu 
der Formel, dass wir die Menschen praktisch betrachten müssen, 
als ob sie frei wären. 

„Weil der Mensch sich für frei hält, nicht aber, weil er 
frei ist, empfindet er Reue und Gewissensbisse.** Daraus folgt 
eben, dass der Mensch sich für frei halten muss, sich so 
betrachten und sich so benehmen muss, als ob er frei wäre, um 
überhaupt moralisch sein zu können. Dass man theoretisch die 
Handlungen der Individuen als psychisch notwendig verursacht 
anzusehen habe, das haben ja, wie auch Jellinek anführt, schon 
Spinoza und Kant unumstösslich dargetan. Als höchstes Prinzip 
für die Entwicklung des vielverschlungenen und vielverketteten 
Treibens der Menschen hat die positive Wissenschaft den Spinozisti- 
schen Satz zu akzeptieren, humanas adiones non ridere, non lugere, 
neque detestari, sed intelligere. Mit der Ruhe und Kaltblütigkeit 
des Mathematikers soll der Psychologe die menschlichen Hand- 
lungen betrachten. Und so stellt ja auch Kant als ideales Ziel 
der Wissenschaft hin, dass man, wenn man nun alle zusammen- 
wirkenden Faktoren, die inneren Anlagen und Triebfedern und 
die äusseren Veranlassungen kennen wurde, , eines Menschen Ver- 
halten auf die Zukunft mit Gewissheit, so wie eine Mond- oder 
Sonnenfinsternis ausrechnen könnte". Aber mit dieser streng 
naturwissenschaftlichen Betrachtung einerseits verbindet Kant die 
Als-Ob-Betrachtung andererseits. Der Mensch muss sich und seine 
Mitmenschen betrachten, als ob sie frei wären* Mit dieser Kan- 
tischen Als-Ob-Lehre haben wir uns noch im III. Teil zu beschäf- 
tigen. Für Kant, wie für Jellinek, ist die Freiheitsbetrachtung nur 
ein methodisches Mittel, um die moralischen und juristischen 
Massstäbe anwenden zu können. Die Fiktionen sind ja, wie wir 
des Öfteren sehen, nur methodologische Mittelbegriffe, um gewisse 
Zwecke zu erreichen, Mittelbegriffe, welche gerechtfertigt sind — 
nicht durch die innere sachliche Notwendigkeit, sondern durch den 
äusseren, rein methodischen Nutzen. — 

In diesem Sinne können Fiktionen sogar zu Beweisen ver- 
wendet werden. So findet sich z. B in Trendelenburgs Natur- 
recht ein Beispiel für diese methodische Verwendung einer Fiktion. 
Trendelenburg will beweisen, dass der Zwang kein primäres 



574 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



Merkmal des Rechtes ist; er will zeigen, dass eine Definition 
wie sie auch Ihering 1 ) aufgestellt hat (der das Recht als die 
Sicherung der Lebensbedingungen der Gesellschaft in Form des 
Zwanges definiert), das Wesen des Rechtes nicht trifft. Gegen 
diese Hereinnahme des Zwanges als eines unverbrüchlichen Merk- 
males in den Begriff des Rechts bemerkt Trendelenburg:*) das 
Recht bleibt immer Recht, auch ohne Zwang; „wenn man sich 
eine Gemeinde der Gerechten dächte, so käme in ihr kein 
Zwang vor; denn alle würden die Rechtsgrenzen von selbst wahren 
aus eigener Einsicht und Gesinnung; aber als Norm der Grenzen, 
welche sie ihrem Tun und Lassen vorzeichneten, ihrem Tun, 
indem sie es beschränkten und ihrem Lassen, indem sie aus sich 
tätig würden, hätten sie denselben Begriff des Rechts 41 . Man 
sieht hier genau, wozu die durch idealisierende Abstraktion ent- 
standene Fiktion dienen soll: um den reinen Begriff der Sache 
zu erhalten, resp. falsche Ansichten über denselben zurückzuweisen, 
steigert man die bezüglichen Eigenschaften, mit denen er zu- 
sammenhängt, aufs Maximum, fingiert einen Zustand, der 
sich in Wirklichkeit nie und nirgends findet, aus dem 
man vermöge der Identität der betreffenden Verhältnisse Schlüsse 
und Folgerungen ziehen kann. Es ist dies dem Prinzip nach 
nicht von der Abstraktion bei der Mathematik verschieden. Man 
findet hier durch die Fiktion eines vollkommen gerechten Zu- 
standes, dass die Zwangsfähigkeit des Rechts keinen primären 
und konstitutiven Bestandteil des Begriffes bildet. Man lässt 
hierbei gleichsam die Funktion bis ins Unendliche anwachsen 
(die Gerechtigkeit); da nun hierbei der Zwang wegfällt und doch 
das Wesentliche des Rechtes bleibt, so kann eben der Zwang 
nicht zum Rechte notwendig gehören. Das Fiktive hierbei 
ist die Annahme einer Gemeinschaft vollkommener Ge- 
rechter; man schliesst also hier vermittelst eines abstrakten ide- 
alen Begriffsgebildes zurück aufs Wirkliche; man schiebt dieses 
Gebilde ein zum Zwecke der Argumentation, und es wird sich 
selbst vom strengsten und positivsten Standpunkte aus gegen einen 
solchen methodologischen Kunstgriff nichts einwenden lassen. — 
Mit dieser Trendelenburgschen rechtsphilosophischen Fiktion 
einer Gemeinschaft vollkommener Gerechter hat ein berühmter 



1) Zweck im Recht L Leipzig 1877. S. 434, 

2) Naturrecht S. 89. 



§ 25. Drei Fiktionen aus der praktischen Philosophie. 575 

religionsphilosophischer Hilfsbegriff eine grosse Verwandtschaft, 
die Idee der unsichtbaren Kirche, welche in der Geschichte 
der neueren Theologie seit der Reformation, und ganz besonders 
in der des 18. Jahrhunderts eine sehr grosse Rolle spielt 
bis auf die Gegenwart. Der Begriff der ecclesia invisibilis, der 
»idealen " Kirche im Gegensatz zur realen wird gelegentlich direkt 
mit der Idee der civitas Platonica methodisch verglichen, und um 
den methodischen Wert dieser Idee hat sich viel Streit erhoben. 

Der Streit über die unsichtbare Kirche wurde in der neueren 
Zeit wieder akut bei einer praktischen Gelegenheit Die Roman- 
tik von Friedrich Wilhelm IV. hatte sich 1842 darauf geworfen, 
gemeinschaftlich mit England das Morgenland, speziell Palästina, 
wieder zum Christentum zu bekehren. Es handelte sich dabei 
dann um die Stiftung eines Episkopats und Ernennung eines für 
beide Nationalitäten gemeinschaftlichen Bischofes. Bei dieser 
Gelegenheit entbrannte der Streit darüber, ob es, wie die evan- 
gelische Kirche lehre, eine „unsichtbare Kirche 14 gebe, oder ob 
die katholisierenden Männer, wie z. B. Bunsen, Recht haben, 
welche behaupteten, die Kirche sei nur sichtbar, ihre Unsichtbar- 
kett sei ersonnen, eine Erfindung, eine Erdichtung der Theologen. 1 ) 
Dabei berief er sich auf Richard Rothe, Dieser lehrte, *) die 
Genesis dieser Vorstellung sei in der Reformation zu suchen. In 
Folge der Reformation hatte man die sichtbare, d. h. die eigent- 
lich so zu nennende Kirche verloren. Denn wenngleich auch 
die Evangelischen einer äusseren religiösen Verbindung nicht 
entbehrten, so hatten sie doch keine «Kirche* mehr, und jene ihre 
Verbindung war keine wirklich „kirchliche - , weil sie das der 
„Kirche* schlechthin wesentliche Moment der Katholizität, d. h. 
der Allgemeinheit und der Einheit hatten aufgeben müssen. Frei- 
lich hatte es die bisherige katholische Kirche auch nicht bis zu 
einer absoluten äusseren Einheit gebracht, aber doch wenigstens 
zu einer relativen und annähernd befriedigenden. Nun aber 
wollten doch die Evangelischen sich diesen Begriff der „Kirche* 
nicht entreissen lassen und auch selbst der „Kirche w angehören. 
Der sichtbaren, wirklichen, empirischen Kircheneinheit, d. h. der 
katholischen, aber hatten sie sich abgewandt. So erfand man 

1) Bunsen, Die Verlassung der Kirche der Zukunft. 1845. S. 149, 
250, 445. 

2) Richard Rothe, Die Anfänge der christlichen Kirche und ihre Ver- 
fassung. Wittenberg 1837. S, 100, 101. 



576 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen, 



denn auf protestantischer Seite einen Ausweg, man erfand den 
Begriff der „unsichtbaren Kirche", als der inneren Einheit aller 
Gläubigen, welche durch die Gemeinsamkeit des „Lebens aus 
Christo" verbunden seien. Diese Einheit, diese innere Christen- 
gemeinschaft sei nun eben, da sie empirisch nicht verwirklicht sei, 
eine blosse Vorstellung, durch welche diese Einheit idealiter 
postuliert werde. Die eigentliche Bestimmung dieser Vorstellung 
ist nun, nach Rothe, ein Surrogat zu sein für die zu der inner- 
lichen Christengemeinschaft als schlechthin unentbehrliche Er- 
gänzung gehörige äussere Seite, welche sie bisher an der realiter 
vorhandenen sichtbaren, d. h. eigentlich so zu nennenden Kirche 
besessen hatte. Für den so gefassten Begriff eignet sich nun 
freilich nach Rothe die Benennung „unsichtbare Kirche", aber 
dafür ist der Begriff in sich völlig haltlos. Diese „ unsichtbare 
Kirche" ist eine blosse Hypothese, eine reine Fiktion, durch 
welche den in dem Begriff der christlichen Gemeinschaft mit Not- 
wendigkeit Hegenden Forderungen wenigstens für das Denken 
ein Genüge geschehen soll. Rothe bemerkt nun weiter zu der 
Analyse des Begriffes folgendes höchst Wichtige: Der Begriff sei 
widerspruchsvoll und sprachwidrig, der Vorstellungskomplex trage 
in sich einen Widerspruch; nämlich „Kirche* bedeute eine Ge- 
meinschaft, der es wesentlich sei, eine zugleich äussere zu sein, 
eine sichtbare. Folglich enthalte der Begriff „unsichtbare Kirche" 
denselben Widerspruch, wir können sagen, wie ein viereckiger Kreis. 

Wir haben hier alle Merkmale der reinen und echten Fik- 
tion, wie die Analyse gleich genauer zeigt. Man kann die Sache 
nämlich doppelt fassen, entweder als eine fiktive Übertragung 
oder als eine vollständig fingierte Vorstellung; das erstere be- 
tont Rothe. 

Nach der ersten Methode handelt es sich um die Über- 
tragung eines Begriffes von einem realen Gebilde auf ein anderes; 
das eine Reale ist die äussere Kirche, das andere äst die rein 
innerliche Gemeinschaft und Einheit aller an Christum Gläubi- 
gen untereinander, wie sie durch die individuelle Gemeinschaft 
jedes Einzelnen mit Christo selbst vermittelt ist, — die „Gemein- 
schaft der Heiligen". Diese ist eine im höchsten Grade reale. 
Wir können beide Begriffe vergleichen mit den zwei realen Be- 
griffen eines Vielecks und eines Kreises. Wie es praktische Gründe 
geben kann, den Kreis als ein Vieleck zu fassen, so kann es 
praktische Gründe geben, die „Gemeinschaft der Heiligen" als 



§ 25. Drei Fiktionen aus der praktischen Philosophie. 



577 



eine „Kirche " zu fassen; beidemal ist aber offenbar ein Reales 
als etwas Anderes betrachtet, als was es ist. Wie Kreis und 
Vieleck zwei Begriffe sind, deren Merkmale sich ausschliessen, so 
„Gemeinschaft der Heiligen" und „Kirche"; jene ist geistig, inner- 
lich, unsinnlich, diese ist äusserlich; jene ist eine sich nicht nur 
über alle Räume, sondern auch über „alle Äonen ausdehnende" 
Gemeinschaft, diese ist in Raum und Zeit beschränkt und kann 
immer nur lebende Glieder umfassen; zwei Merkmale, welche 
sich verhalten wie krumm und gerade. Nichtsdestoweniger wird 
nun die Gemeinschaft betrachtet, als ob sie eine „Kirche" wäre. 
Die Korrektur wird dabei sofort angebracht, indem man sie eine 
unsichtbare Kirche nennt, wie man die Korrektur anbringt, der 
Kreis sei ein Vieleck mit unendlich viel Seiten. Der prak- 
tische Zweck dieser Begriffsbildung liegt auf der Hand: es wird 
dadurch erreicht, dass auch die Protestanten sich als Glieder der 
Einen Kirche fühlen können. 

Nach der anderen Methode kann der Begriff als ein fiktiver 
Vermittlungsbegriff betrachtet werden, wie das Unendlich-Kleine, 

Rothe nennt den Begriff einen ungeschickten Terminus, eine 
sprachwidrige Terminologie, wenn man darunter bloss die Gemein- 
schaft der Heiligen versteht; dagegen erkennt er den Begriff als 
eine nützliche Fiktion an, wie schon oben bemerkt. Mit richtiger 
logischer Distinktion hat Rothe also den Begriff vollständig zu- 
treffend als eine praktische Fiktion erkannt. 

Bunsen missverstand diese Ansicht, wenn er nun darauf 
gestützt behauptete, dieser Begriff sei wertlos. Man konnte natür- 
lich von einem, zudem durch Nebenabsichten beeinflussten Diplo- 
maten nicht erwarten, die feine methodologische Analyse Rothes 
zu verstehen. Weil Rothe jenen fraglichen Begriff für eine Fik- 
tion in unserem Sinne erklärt hatte, glaubte Bunsen diesen Ter- 
minus im ordinären Sinne als eine wertlose Erdichtung fassen zu 
müssen. Hierauf macht L. Giesebrecht 1 ) ganz richtig aufmerk- 
sam, indem er bemerkt, dass Bunsen sich nicht auf Rothe 
berufen dürfte, da ihre Meinungen bedeutend auseinandergingen: 
„der Theolog erkennt nur den Begriff der unsichtbaren Kirche 
als eines Surrogates der sichtbaren für eine reine Fiktion; der 
Diplomat dagegen ist der Ansicht, die Kirche sei nur sichtbar, 



1) In der eigenartigen, interessanten, aber sehr seltenen Zeitschrift 
Damaris, 1865, S. 136. 

37 



578 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



ihre Unsichtbarkeit ersonnen, eine Erdichtung der Theologen, mit 
der die Kirchenverfassung nichts zu schaffen habe". Die prak- 
tische Konsequenz davon war, dass in ganz unevangelischem 
Sinne die katholischen Kircheneinrichtungen begünstigt 
wurden; auch Friedrich Wilhelm stimmte Bunsen bei, der sagte, 
„die unsichtbare Kirche sei eine leere und willkürliche Gefühls- 
sache, die der Idee der Kirche tödlichen Schaden gebracht habe". 
Es fehlte Bunsen offenbar an der logischen Bildung oder 
wenigstens an dem richtigen logischen Instinkt, um die metho- 
disch berechtigte Verwendung des fiktiven Vermittlungsbegriffes 
der unsichtbaren Kirche im Rotheschen Sinne überhaupt zu ver- 
stehen. Der Begriff ist faktisch ein sehr bemerkenswertes Bei- 
spiel der praktischen Brauchbarkeit und Nützlichkeit einer theo- 
retisch widerspruchsvollen Vorstellung, also , einer Fiktion, in der 
Theologie. 

Hiermit sind wir, wie es scheint, weit abgeirrt von der 
Philosophie. Aber der theologische Begriff der unsichtbaren 
Kirche spielt auch in der Kantischen Philosophie eine grosse 
Rolle, allerdings unter einem anderen Namen, nämlich als das 
„Reich Gottes" (regnum Bei), das „Reich der Gnade" (regnum 
gratiae), oder als das „Reich der Zwecke". Ja, sogar die ganz 
urtheologische Idee des „corpus mysticum", der mystischen Korpo- 
ration der reinen Geister, findet sich bei Kant — aber eben „nur 
als Idee". Ober diese Kantischen Ideen, besser „Nur-Ideen", 
d. h. über diese Kantischen Fiktionen wird der dritte Teil zu 
handeln haben. 



§ 26. 

Der Sinn der Als-Ob^Betrachtung, *) 

Quo melior grammaticus, 
eo melior phüosophus. 

Dieser alte Satz mag trotz der Übertreibung, welche er ein- 
schliesst, als Motto zu der folgenden Untersuchung dienen, durch 
welche wir unsere frühere Darstellung erweitern und vertiefen. 
Wir haben aufs neue in den vorhergehenden Paragraphen die 

*) Weitere Auifikrungen zu Teil I, Kap. 22, S. IM ff. Vgl. obt* 



§ 26. Der Sinn der Als-Ob- Betrachtung. 



579 



weittragende Bedeutung der „Ais-Ob-Betrachtung" besonders in 
der Geschichte der neueren Mathematik kennen gelernt. Und so 
mag eine erneute grammatische Analyse des Als ob unsere 
logische Untersuchung verstärken. 

Nehmen wir zur Verdeutlichung zunächst zwei Stellen aus 
Kants Kritik der praktischen Vernunft 1. Teil, L Buch, 1. Haupt- 
stück: „Von den Grundsätzen der reinen praktischen Vernunft.* 
I. Deduktion der Grundsätze (Kirchm. S. 52): 

1. „Wenn die Maxime, nach der ich ein Zeugnis abzulegen 
„gesonnen bin, durch die praktische Vernunft geprüft wird, so 
„sehe ich immer darnach, wie sie sein würde, wenn sie als 
„allgemeines Naturgesetz gälte/ 

2. „Wir sind uns durch die Vernunft eines Gesetzes 
„bewusst, welchem, als ob durch unseren Willen zugleich eine 
„Naturordnung entspringen müsste, alle unsere Maximen unter- 
worfen sind," 

Ferner folgendes Beispiel aus Kants „Grundlegung zur Meta- 
physik der Sitten*, 3, Abschnitt (Kirchm. S, 76): 

3. „Ich sage nun: ein jedes Wesen, das nicht anders, als 
„unter der Idee der Freiheit handeln kann, ist eben darum, 
„in praktischer Hinsicht wirklich frei, d. i, es gelten für dasselbe 
„alle Gesetze, die mit der Freiheit unzertrennlich verbunden sind, 
„ebenso, als ob sein Wille auch an sich selbst, und in der theo- 
retischen Philosophie gültig, für frei erklärt würde. Nun behaupte 
„ich, dass wir jedem vernünftigen Wesen, das einen Willen hat, 
„notwendig auch die Idee der Freiheit leihen müssen, unter 
„der es allein handle/ 

Dazu daselbst die erläuternde Anmerkung: 

... „so gelten doch dieselben Gesetze für ein Wesen, 
„das nicht anders, als unter der Idee seiner eigenen Freiheit 
„handeln kann, die ein Wesen, das wirklich frei wäre, verbinden 
„würden." 

Um auch Beispiele aus einem anderen Sprachgebiet hinzu- 
zunehmen, stelle ich folgende Stellen aus Diderot, Entretien 
d'un Philosophe etc. hierher: 

4. „On croit, et tous les jours on se conduit comme si 
„Fon ne croyait pas. — Et sans croire, on se conduit ä peu 
„prfcs comme si Ton croyait. 1 * 

5. „Aprfcs tout, le plus court est de se conduire comme 
»si le vieillard (Dieu) existait." 

37» 



580 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



Oder nehmen wir folgendes Beispiel aus Meister Eckart 
(in der Predigt: „Von dem Adel der Seele", Pfeiffer, Deutsche 
Mystik II, 416 ff.): 

6. „Man soll die Werke wirken, als ob Niemand sei, und 
„Niemand lebe, und auf das Erdreich nie ein Mensch gekom- 
men sei.** 

Hierzu können wir folgende von Leibniz überlieferte Äusse- 
rung der hl. Teresa de Jesus stellen (s. Acta Sanctorum zum 
15. Okt., S. 462 C, wo eine [wie es scheint, den Leibnizforschern 
ganz unbekannt gebliebene] Stelle aus einem Briefe von Leibniz 
an Andreas Morellius, vom Jahre 1696 angeführt ist): 

7. „Jure aestimas Teresiae libros. Equidem reperi illic 
„aliquando pulchram hanc sententiam: animam hominis conci- 
„pere res debere non secus ac si in mundo nil esset nisi ipsa 
„et deus. (Vgl. Leibniz, Opera philos. ed. Erdmann S. 127 b 
„comme s'U n* existait rien que Dieu et eile). 1 ) 

Diese Beispiele genügen als Basis für unsere folgende Unter- 
suchung, deren Thema dahin zu präzisieren ist, dass wir den 
Sinn, den logischen Wert und Gehalt, die gedankliche Bedeutung 
der Partikelverbindung »als ob* zu erforschen haben. 

Um zu ermessen, was wir hierbei zu erwarten haben, mögen 
hier einige allgemeinere Bemerkungen über die Notwendigkeit 
und den Nutzen einer solchen Untersuchung eingeschoben werden. 
Ohne auf Aristoteles zurückzugreifen, der die sprachliche Aus- 
drucksweise der logischen Operationen in einer freilich zu aus 
gedehnten Weise seiner Logik zu Grunde gelegt hat, 2 ) und der 
auch den logischen Wert der einfachsten Partikeln zum Gegen- 
stand der Untersuchung macht, seien hier die Ansichten Lock es und 
Leibniz* über diesen Punkt erwähnt Im „Essay concerning human 
understanding* handelt das dritte Buch von den Worten und der 
Sprache; das 7. Kapitel behandelt die Nebenredeteüe und beginnt 
folgendermassen : „Ausser den Worten, welche Vorstellungen der 
Seele bezeichnen, gibt es viele andere, die man zur Bezeichnung 
der Verbindung benutzt, welche die Seele den Vorstellungen 



1) Die Als-Ob-Betrachtung, ausdrücklich mit den Partikeln „als ob", 
„wie wenn" u. s. w., findet sich in dieser Weise häufig bei den mittelalter- 
lichen und neueren Mystikern, z. B. auch bei der hl. Katharina v. Genua. Dies 
gehört also noch zu der Praxis der Fiktion im Mittelalter, Kap. 32, S. 254 ff. 

2) Vgl. Steinthal, Geschichte der Sprachwissenschaft bei den Griechen 
und Römern, 1863, S. 188. 



§ 26. Der Sinn der Als-Ob-Betrachtung. 



581 



oder Sätzen gibt Denn bei der Mitteilung ihrer Gedanken an 
andere braucht die Seele nicht bloss Zeichen für ihre Vorstellungen, 
sondern auch für die Anzeige oder Andeutung gewisser eigener 
Tätigkeiten, welche sich zu dieser Zeit auf diese Vorstellungen 
beziehen; . . . man verbindet bei der Mitteilung seiner Gedanken 
an andere nicht bloss die Satzteile, sondern auch ganze Gedanken 
mit ihren Beziehungen und abhängigen Sätzen miteinander, 
um eine zusammenhängende Rede zu bilden. 4 ' Diese Neben- 
worte, sagt Locke weiter, sind, obgleich sie nicht eigentlich Vor- 
stellungen bezeichnen, doch notwendig und unentbehrlich in der 
Sprache, und deshalb unterstützen sie so sehr die gute Ausdrucks- 
weise. Sie zeigen, welche Beziehungen die Seele ihren eigenen 
Gedanken gibt. Er klagt, dass man die logische Bedeutung dieser 
Nebensprachteile ganz zu untersuchen unterlassen habe; die 
blosse Wiedergabe dieser Partikeln in einer andern Sprache 
genüge keineswegs. »Will man sie recht verstehen, so müssen 
die verschiedenen Standpunkte, Stellungen, Auffassungen, Wen- 
dungen, Beschränkungen, Ausnahmen und andere Gedanken der 
Seele» wofür keine oder nur mangelhafte Namen vorhanden sind, 
sorgfältig untersucht werden.* Locke hatte somit richtig erkannt, 
dass diese Nebensprachteile die fernsten Wendungen des Denkens 
andeuten und gleichsam die Blüte der logischen Funktionen zum 
Ausdruck bringen, kurz, dass die Partikeln die sprachlichen Mittel 
der Gedankenverbindungen sind. In dem feinen Geiste von Leib- 
niz fand dieser Lockesche Hinweis einen zustimmenden Wider- 
hall. Das Parallelkapitel der Nouveaux Essais führt den Gegen- 
stand weiter aus, ohne dass jedoch Leibniz sich demselben Vor- 
wurfe entziehen könnte, den er Locke macht, dass dieser nämlich 
nicht tief genug auf den Gegenstand eingegangen sei. Leibniz 
sieht ganz richtig ein, dass eine solche Untersuchung sehr ge- 
eignet sein würde, die verschiedenen Formen des Verstandes er- 
kennbar zu machen. Aus seinem reichen Wissensschatze führt 
er sogleich das Beispiel seines Oheims Strauchius an, der ein 
mehrfach aufgelegtes Buch unter dem Titel: „Lexicon particularum 
juris s. de usu et efficacia quorundam syncategorematum et parti- 
cularum indeclinabilium u herausgegeben hatte, ein Werk von 
Bedeutung, da gerade in der Jurisprudenz der Sinn der Umstands- 
wörter (auch des „Als ob*) von nicht geringem Gewichte ist. 
Ganz korrekt verlangt Leibniz eine vollständige Umschreibung 
dieser Umstandswörter, welche an ihre Stelle gesetzt werden kann, 



582 



Zweiter Teil; Spezielle Ausführungen. 



und er gibt selbst für einige leichte Fälle solche stellvertretenden 
Umschreibungen (pdriphrases substituables). Man müsse hierbei 
mit den Beispielen sehr ins Einzelne gehen, um die Bedeutungen 
der Umstandswörter ordentlich zu bestimmen. Für unseren Fall 
des „Als ob K ist hierbei noch folgender Zusatz von Leibniz be- 
merkenswert: er erwähnt, dass solche Umstandswörter vermöge 
einer Ellipse oft den Sinn eines ganzen Satzes umfassen. 
Während Leibniz in seinem Dialog über diesen Gegenstand nur 
rasch hinwegeilt, hat Lambert, der so viele hingestreute Ge- 
danken von Leibniz weiter ausführt, in seinem „Neuen Organon" 
diesem Gegenstand tiefere Aufmerksamkeit geschenkt, ohne jedoch 
die uns hier beschäftigende Partikelverbindung und den ihr eigen- 
tümlichen logischen Wert zu untersuchen. Wie so manches 
andere Gute aus jener Zeit, ist auch dies durch die folgende 
„genialische** Periode der deutschen Philosophie mit Vergessen- 
heit überschüttet worden, und es wäre Zeit, dies und ähnliches 
wieder ans Tageslicht zu ziehen. In neuerer Zeit haben Gruppe, 1 ) 
Steinthal, Lazarus, C. Hermann, Lotze und insbesondere 
Sigwart 2 ) diesem Punkte, der auf dem Grenzgebiet der Gramma- 
tik und Logik liegt, wieder ihr Studium zugewandt, ohne dass 
man doch sagen könnte, dass diese an sich allerdings nicht un- 
schwierige Aufgabe genügend und erschöpfend gelöst worden wäre. 

Das Prinzip, von dem eine solche Untersuchung auszugehen 
hat, und das also der Methode der Forschung in diesem Falle zu 
Grunde zu legen ist, hat Leibniz a. a. O. am klarsten mit den 
Worten ausgesprochen, „que les langues sont le meilleur miroir 
de Tesprit humain et qu'une analyse exacte de la signification 
des mots feroit mieux connaftre que tout autre chose les Opera- 
tions de l'entendemeotv Man müsse eingehen „dans le detail 
des tours de Tesprit, qui paraissent ä merveille dans l'usage 
des particuies*. Und Sigwart sagt sehr richtig (Logik I, 234), 
wenn man das wirkliche Urteilen analysieren wolle, finde man 
den sprachlichen Ausdruck als nächstes Untersuchungsobjekt 
vor; es sei das um so notwendiger, „da eine Menge von Miss- 
verständnissen . , , aus der mangelhaften Besinnung über die 

1) Gruppe, Antäus (1831) S. 212t. Vgl. oben S. 388«. 

2) Logik I, 234 ff.: Die verschiedenen Arten von Satzverbindungen und 
ihre logische Bedeutung (§35). Die Monographie desselben Verfassers: „Bei- 
träge zur Lehre vom hypothetischen Urteil* ist für die Befolgung dieser gramma- 
tisch analysierenden Methode als Muster zu bezeichnen. Vgl. oben S. 243 iL 



§ 26. Der Sinn der Als-Ob-Betrachtung, 



583 



logische Bedeutung der sprachlichen Formen hervorgegangen 
sind." Aus dem empirisch dargebotenen Material der Sprache 
hat sich die logische Theorie zu ergänzen, die keineswegs mit 
einer rein apriorischen Behandlung sich genügen lassen darf. 

So verdienstvoll es nun in der Tat ist, dass neuere Psycho- 
logen und insbesondere Steinthal 1 ) gegenüber der alten, 
unkritischen Vermischung von Denken und Sprechen beides scharf 
getrennt haben, eine Trennung, für die sich auch die Logiker, 
z. B. Jevons, lebhaft verwenden, so darf doch hier nicht zu weit 
gegangen werden; in dem vorliegenden Falle liegt es ja auf der 
Hand, dass die grammatischen Formen Symptome zu Grunde 
liegender logischer Prozesse sind, ja Organe derselben, durch 
welche sie weiter wirken, und dass daher im Allgemeinen von 
der Anwesenheit jener auf die Anwesenheit dieser geschlossen 
werden kann. Die Sprache ist ein Mittel, mit dem das Denken 
seine eigenen Operationen unterstützt und zum Ausdruck bringt: 
die Grammatik ist ebenso gut ein Feld, auf dem die Logik ihr 
Rohmaterial zu sammeln und Beobachtungen zu machen hat, wie 
die lebendige Tätigkeit des wissenschaftlichen Betriebes ein solches 
Feld ist Die eingehende Untersuchung dieses Denkmittels der 
Sprache bis in die feinsten Ausbildungen hinein ist eine nicht zu 
vernachlässigende wichtige und fruchtbare Aufgabe der logischen 
Theorie. Es Iässt sich das Verhältnis der logischen Operationen 
zu den grammatischen Formen einigermassen vergleichen mit dem 
Verhältnis, das zwischen den psychischen und den physischen 
Vorgängen obwaltet: es ist keine Identität, auch keine Äquivalenz, 
aber es ist ein Zusammenhang da. Die äussere sprachliche Form 
ist ebensogut Symptom und Trägerin der inneren logischen Vor- 
gänge, wie dies bei dem Verhältnis des Physischen und Psychi- 
schen im Allgemeinen der Fall ist: auch die Psychologie legt ja 
die Untersuchung der Ersteren der Erforschung der Letzteren zu 
Grunde, ja jene lassen sich bis zu einem gewissen Grade für 
diese substituieren. 

Speziell die Verbindungen der Sätze durch die konjunk- 
tiven Partikeln sind ja sozusagen die logischen Scharniere, 
durch welche die einzelnen Glieder verknüpft werden und zu- 
sammenhängen: in einer einzigen Partikel ist nicht selten eine 



1) Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft, Berl, i$7l, 
44«. Über den Spiegel vergleich ib. 56 If. 



584 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



grosse logische Gedankenreihe zusammengefasst und zusammen- 
gepresst, wie in einer mathematischen, verkürzenden Formel, 
welche an Stelle einer entwickelten Reihe figuriert. 

Wenn es gilt, einen sprachlich fixierten, gegebenen Ge- 
dankenzusammenhang logisch zu analysieren, so muss sich die 
Hauptaufmerksamkeit nicht auf die Vorstellungen, sondern auf 
ihre Verbindungszeichen, die Partikeln richten, wie die Analyse 
einer mathematischen Formel nicht die Buchstaben, die in Zu- 
sammenhang gebracht sind, sondern die Operationszeichen ins 
Auge zu fa ssen hat; z. B. wird die Diskussion des Ausdrucks 
2 + 3 yj— 1 natürlich die Operationszeichen, welche hier -|-, ^, — 
sind, durch genaue Beschreibung der zu Grunde liegenden und 
geforderten Prozesse wiederzugeben und zu definieren haben; 
denn diese Zeichen sind willkürlich und künstlich gewählte Sym- 
bole, um gewisse Prozesse anzudeuten. Dieselbe Rolle spielen 
nun beim sprachlichen Ausdruck der logischen Operationen die 
Konjunktionen: und, auch, oder, aber, zwar, sondern, doch, wie, 
da, als, dass, weil, wann, wenn, nachdem, ob, bevor, ehe, denn, 
also, damit obgleich u. s. w M u. s. w.; denn durch diese werden 
Vorstellungen oder ganze Vorstellungskomplexe (Sätze) mitein- 
ander je auf spezifische Weise verbunden. 

Nachdem auf diese Weise das allgemeine Prinzip der folgen- 
den Untersuchungen festgestellt ist, ist unsere vorliegende Auf- 
gabe dahin zu formulieren: 

Welche logische Funktion oder welche Art und Modi- 
fikation der allgemeinen Urteilsform wird durch die 
sprachliche Formel „als ob" (wie wenn) ausgedrückt? 
Welche Wendung des Denkens wird durch diese Form an- 
gedeutet und zum Ausdruck gebracht? 

Nehmen wir das dritte der obigen Beispiele, so ist der 
kürzeste Ausdruck des Gedankens: Der Mensch muss handeln, 
und in bezug auf seine Handlungen beurteilt werden, als ob er 
frei wäre, wie wenn er frei wäre. Zunächst wird — das liegt 
in dem „als* und in dem „wie* — offenbar eine Gleichsetzung, 
eine Vergleichung gemacht oder gefordert. Die Gesetze, nach 
denen der Mensch handeln soll, werden verglichen oder direkt 
gleichgesetzt mit den Gesetzen freier Wesen. Der erste Ge- 
danke ist also einfach: Der Mensch muss handeln genau so, wie 
die freien Wesen handeln. Allein diesem primären Gedanken 
stellt sich ein sekundärer zur Seite, welcher durch den Kondi- 



§ 26. Der Sinn der AIs-Ob-Betrachtung. 



585 



tionalsatz ausgedrückt wird. Die Form dieses Konditionalsatzes 
besagt, dass die darin aufgestellte Bedingung eine unwirk- 
liche oder unmögliche ist; im Griechischen stünde diezweite 
Hauptform der hypothetischen Verbindung: im Vordersatz el mit 
dem Indikativ eines historischen Tempus, im Nachsatz der Indi- 
kativ eines historischen Tempus mit av (vgl. das Beispiel im 
nächsten Absatz), Aber ist denn hier ein Nachsatz vorhanden? 
Die Formel: der Mensch muss in seinem Handeln beurteilt werden, 
als ob er frei wäre — entspricht ja nicht dem einfachen Schema: 
wenn, so; ein Nachsatz scheint gar nicht da zu sein. Der Nach- 
satz ist aber nur verschwiegen und unterdrückt und liegt zwischen 
dem „als" und „ob" mitten inne, aber er ist gleichsam ver- 
schluckt: in dem ersten Beispiele hat Kant diese Aposiopese nicht 
gemacht; er sagt ausführlicher: ich betrachte die Maxime so, wie 
sie sein würde, wenn sie als allgemeines Naturgesetz gelten sollte. 

Die Urform wäre: wenn der Mensch frei wäre, so würde 
diese oder jene Folge eintreten: griechisch hiesse das: ei 6 
avüQamoc elevtieqos. £<ru€ro av . . . Der notwendige Zusam- 
menhang der Folge mit der Bedingung wird mit Bestimmtheit 
ausgesprochen, zugleich aber die Erfüllbarkeit der letzteren aus- 
drücklich in Abrede gestellt, so dass also auch der Haupt- oder 
Nachsatz, dessen Gültigkeit an jene Bedingung geknüpft war, 
und der mit Notwendigkeit aus ihr folgt, etwas nicht Wirk- 
liches enthält Es wird also in diesem Beispiel die Bedingung: 
die Freiheit, geleugnet, und damit natürlich in diesem Falle auch 
die daraus fliessenden Folgen. Der Fall wird gesetzt, aber seine 
Unmöglichkeit ist nackt ausgesprochen. Dieses Unmögliche wird 
aber in einem solchen Konditionalsatz momentan als möglich 
oder wirklich angenommen oder gesetzt. 

Nun aber wird diese ganze hypothetische Verbindung in 
einen neuen Zusammenhang gebracht Es wird der Hauptsatz 
— der Folge- oder Nachsatz — in eine neue Verschlingung 
gebracht, es wird gleichsam eine zweite Schleife zur ersten hinzu- 
gemacht Diese neue Verbindung ist schon oben herausgehoben; 
es ist eine Gleichsetzung eines anderen Falles mit dieser Folge. 
Während nun aber diese Folge in dem einfachen Konditionalsatz, 
wie bemerkt, ein Unwirkliches ist (weil auch die Bedingung eine 
unwirkliche ist), wird diese unwirkliche Folge doch als der Mass- 
stab gesetzt, nach dem ein vorliegendes Wirkliches zu messen ist. 
Somit ist dadurch die Gleichsetzung einer Sache mit 



586 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



den notwendigen Folgen eines unmöglichen oder un- 
wirklichen Falles forderungsweise ausgesprochen. Bei 
dem vorliegenden Beispiel ist 1. der unmögliche Fall: Die 
Existenz freier Wesen oder kürzer die Behauptung, die Menschen 
seien freie Wesen. 2. Die notwendigen Folgen (aus diesem 
unmöglichen Falle): Die Gesetze, nach denen freie Wesen 
handeln: diese folgen mit Notwendigkeit aus der Existenz freier 
Wesen. 3. Die Gleichsetzung einer Sache (mit den not- 
wendigen Folgen [aus dem unmöglichen Falle)): Die Gesetze, 
nach denen die wirklich existierenden Menschen handeln sollen, 
werden gleichgesetzt (forderungsweise) mit den Gesetzen, welche 
notwendig folgen aus der (unwirklichen oder unmöglichen) Existenz 
freier Wesen. 

Somit wird hier ein unmöglicher Fall fingiert, aus ihm werden 
die notwendigen Konsequenzen gezogen, und mit diesen Konse- 
quenzen, welche doch auch unmöglich sein sollten, werden For- 
derungen gleichgesetzt, welche aus der bestehenden Wirklichkeit 
selbst nicht folgen. 

Das lässt sich leicht an den oben mitgeteilten Beispielen 
im Einzelnen durchführen. Bei dem ersten Beispiel setze ich mit 
Kant den unmöglichen Fall, eine sittliche Maxime gelte als 
allgemeines Naturgesetz; aus diesem unwirklichen Fall zieht Kant 
die Konsequenzen, nämlich hier die Eigenschaffen eines allge- 
meinen Naturgesetzes; und diese Eigenschaften werden sodann 
auf die Maxime selbst übertragen. 

Ebenso ist es beim zweiten Beispiel: man setzt den un- 
wirklichen Fall, dass durch unseren Willen zugleich eine (allge- 
meine) Naturordnung entspringen musste; aus diesem fingierten 
Falle zieht man als notwendige Konsequenz das angedeutete 
Gesetz, und diesem werden unsere wirklichen Willensrichtungen, 
die Maximen, unterworfen. 

Mit dem Terminus: „Idee der Freiheit", mit der Forderung, 
man müsse „jedem vernünftigen Wesen die Idee der Freiheit 
leihen u , meint Kant dasselbe; „Idee der Freiheit 41 heisst jener 
unmögliche, unwirkliche, ideale, nur In der Idee bestehende, 
fingierte Fall, und man muss leihweise diesen Fall annehmen, 
die wirklichen Wesen als frei betrachten, was sie aber nicht sind, 
sonst müsste man nicht die Idee „leihen", wenn sie ihnen selbst 
als Eigenschaft eigentümlich angehören würde; und dann muss 
man hieraus die betreffenden Konsequenzen ziehen, in diesem 



§ 26. Der Sinn der Als-Ob-Betrachtung. 



587 



Falle die moralischen Anforderungen, welche an ein freies Wesen 
gestellt werden können. 

Die Anwendung auf die übrigen Fälle mögen dem Leser 
selbst überlassen bleiben, Nur der früher mehrfach erwähnte 
Fall, die Als-Ob-Betrachtung des Kreises als Vieleckes, sei näher 
analysiert Der unmögliche Fall ist hier die Annahme, dass der 
Kreis ein Vieleck sei; die notwendige Folge daraus ist die An- 
wendbarkeit der Gesetze der geradlinigen Figuren auf den Kreis; 
und mit diesen Folgen wird die Betrachtungsweise des wirklichen 
Kreises gleichgesetzt. Es lässt sich dieses auch kürzer dahin 
zusammenfassen, dass, da der unmögliche Fall hier, wie meisten- 
teils, schon selbst in einer gewaltsamen und unberechtigten Gleich- 
setzung besteht (hier von Kreis und Vieleck), der ganze Prozess 
eben nur in einer solchen Gleichsetzung bestehe; und wird ein- 
mal der an sich ganz unmögliche Fall, Kreis und Vieleck seien 
spezifisch gleich, gesetzt, so folgt daraus auch jene Möglichkeit 
der Anwendung der Eigenschaften des Einen auf den Anderen, 
auf welche es von Anfang an bei der ganzen Prozedur abgesehen 
ist. Das Ganze wird dann in der Formel ausgedrückt, der Kreis 
muss so betrachtet werden, als ob er ein Vieleck (von unendlich 
vielen kleinen Seiten) wäre. 

Um die hierbei zu Grunde liegenden „Wendungen des 
Geistes* 1 und psychologischen Prozesse genauer fassen zu können, 
muss in allgemeiner Weise der syntaktische Gebrauch des „Als 
ob* erläutert werden» 

„Als ob", womit ganz identisch ist: „wie wenn" („öb Ä in 
Mhd, = wenn, vgl. engl if. = wenn und ob) ist eine Partikel- 
verbindung, welche in allen Kultursprachen wiederkehrt: franz. 
comme si (que si), engl, as zf, lat. qua si, ac si (sicut), griech. 
<fe ei (wrti, wg ehe). Es findet dabei offenbar eine Ellipse statt, 
indem nach der Vergleichspartikel „wie" u. s. w. ein ganzer Satz 
ausgefallen ist, der in Gedanken zu ergänzen und aus dem Zu- 
sammenhange zu entnehmen ist Dieser ausgefallene Satz hat 
eine doppelte Funktion zu erfüllen; er ist einerseits das zweite 
Glied der komparativen Beziehung und andererseits der hypo- 
thetischen Verbindung; in dieser vertritt er resp. hätte er zu ver- 
treten den unabhängigen Hauptsatz. Trotzdem er so nach rück- 
wärts und nach vorwärts in Beziehungen steht, fällt er meistenteils 
aus. „Der Kreis ist so zu betrachten, wie wenn er ein Vieleck 
wäre* 1 heisst: „Der Kreis ist so zu betrachten, wie er zu betrachten 



588 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



wäre, wenn er ein Vieleck wäre*. Dei Mittelsatz spielt offenbar 
die eben beschriebene Rolle. 

Es findet also hier eine komplizierte Vergleichung statt 
Eine einfache Vergleichung setzt ein Ding mit einem Ding, ein 
Faktum mit einem Faktum in komparative Beziehung. Ob diese 
Vergleichung auf einer realen Verwandtschaft beruhe oder nur 
dem subjektiven Spiel der Vorstellungen seine Entstehung ver- 
danke, wird zunächst sprachlich nicht ausgedrückt Nun kann 
aber auch eine Vergleichung konstituiert werden zwischen einem 
einfachen Faktum und einem anderen Faktum, welches mit einem 
Dritten in irgend einer Relation steht 

Der erstere Fall wird grammatisch einfach vermittelst einer 
durch eine Vergleichspartikel eingeleiteten appositionellen Be- 
stimmung ausgedrückt, die sich an das Subjekt oder Objekt oder 
an irgend ein Attribut anschliesst und dem betreffenden Begriff 
eine nähere Determination zuerteilt. Wenn Homer sagt: wwjiHj 
<Payo$n}, &$ nvfiaxa ndxqa &aXdoorjg > so bilden hier die Meeres- 
wogen eine solche appositiv angegliederte Vergleichung, wo ein 
Faktum, ein Vorgang mit einem anderen Vorgang in komparative 
Beziehung gesetzt ist. Weitere Beispiele sind jedem zur Hand: 
„Das Kameel, wie ein Schiff der Wüste, dient dem Araber* . . . 
u. s. w> „Das Wort enteilt wie geflügelt". 

Jenen komplizierteren Fällen entspricht nun aber auch ein 
komplizierterer grammatischer Apparat. Die Relationen, welche 
hier in Betracht kommen, sind zeitliche und hypothetische. Es 
wird ein Etwas, ein Faktum, ein Vorgang verglichen mit einem 
anderen Etwas, das in zeitlicher Beziehung zu einem dritten 
Etwas steht So sagt Homer vom fallenden Helden: fame <P, 
ws ott %<£ Sqvs fatne. Es wird hier nicht direkt das Fallen des 
Helden mit dem Fallen der Eiche in eins gesetzt, sondern der 
Sinn ist: er fiel so, wie es ist, wenn eine Eiche fällt (wie es war, 
als eine Eiche fiel). Es werden hier die Vorgänge beim Fallen 
des Helden (erster Satz) verglichen mit den Vorgängen (zweiter 
Satz), welche in zeitlicher Verbindung stehen mit dem Fallen 
der Eiche (dritter Satz). Jeder der drei Sätze drückt ein beson- 
deres Faktum, ein besonderes Etwas aus. Ähnlich ist es bei 
einer hypothetischen Relation: ol <Fao «mv, ei renv$ix$<*$ 
natu. vifiotTo. Auch hier finden sich dieselben drei Punkte: es 
wird die Art des Gehens (1) verglichen mit der Art, den 
Vorgängen (2), die notwendig zusammenhängen mit dem 



§ 26. Der Sinn der AIs-Ob-Betrachtung. 



589 



hypothetisch angesetzten Falle (3). Die Sprache zieht zu- 
sammen und eliminiert den zweiten Satz als nicht wesentlich und 
nicht notwendig; logisch muss er aber ergänzt werden; zwischen 
„als" und „ob", „wie* und „wenn", n <k" und ist ein ganzer, 
vollständiger Satz gedankenmässig zu interpolieren. 

Soviel über den grammatisch-logischen Ursprung der be- 
treffenden Partikelverbindung. Bei dem Gebrauche derselben 
kommen aber noch Modalbestimmungen in Betracht, Sehr häufig 
bewegt sich die Vergleichung im rein subjektiven ideellen Gebiete: 
sei es, dass die Vergleichung des einen Faktums mit dem anderen 
Faktum eine nur subjektive ist, die nicht auf eine reale Gültigkeit 
Anspruch macht, sei es, dass sogar dieser zweite Beziehungspunkt 
selbst nur ein gedachter ist, der gar nicht in der Wirklichkeit 
vorkommt oder vorkommen kann; und bei der unumschränkten 
Macht und unendlichen Kombinationsgabe der menschlichen Ima- 
gination, bei dem Reichtum der freisteigenden Vorstellungen sind 
diese Fälle sogar die häufigeren. Es ist eine schöne und den 
eigentlichen Wert des Menschen konstituierende Gabe, dass seine 
Vorstellungen losgebunden sind vom Zwang der Gegenwart und 
vom Boden der Erde, dass die Vorstellungen nicht nur wieder- 
kehren, wie sie dagewesen sind, sondern dass durch selbständige 
Kombination der Elemente neue Gebilde entstehen, neue Ver- 
bindungen gestiftet werden können. Im Gebiete der Vorstellungen 
können nicht nur die entferntesten Dinge miteinander verglichen 
werden: die Imagination kann auch neue Welten schaffen. Über- 
all, wo nur eine solche imaginative Vergleichung oder eine Ver- 
gleichung mit etwas Imaginativem stattfindet, und diese Ver- 
gleichung nicht bloss ein leeres Spiel der Vorstellungen ist, 
sondern irgend einen praktischen Zweck hat, sodass also aus 
der Vergleichung Konsequenzen gezogen werden, ist die Par- 
tikelverbindung „als ob 44 an ihrem Platze, weil sie, wie oben 
konstatiert wurde, ein vorliegendes Etwas mit den notwendigen 
Folgen eines imaginativen Falles vergleicht. Es ist hierbei der 
Ton darauf zu legen, dass diese imaginative Tätigkeit irgend 
einen praktischen Nutzen, irgend einen Zweck haben soll: nur 
wenn dies der Fall ist, werden ja die Konsequenzen aus jener 
imaginativen Funktion gezogen; es handelt sich doch nicht darum, 
ohne jeden Zweck etwas Unwirkliches als wirklich anzunehmen- 

Eine Obersicht der Fälle, wo das „als ob* zur Verwendung 
kommt, wird das bestätigen. Die Fälle lassen sich in folgende 



590 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



Klassen einteilen: erstens wird das „als ob" angewandt vom 
Dichter, der .über der Wirklichkeit die Welt der Dichtung, des 
schönen Scheins aufbaut. Wenn Homer sagt: „Hektar fiel so, 
als ob eine Eiche gefallen wäre", so werden, wie schon bemerkt, 
aus dem fiktiven Falle zum Zwecke der Veranschaulichung der Art 
des Fallens die Konsequenzen gezogen, welche hier eben darin 
bestehen, dass diese näheren Vorgänge und die Art und Weise 
bei dem Fall der Eiche zum Vergleichungspunkte dienen. Zum 
Gebiete der Poesie 1 ) tritt zweitens das Gebiet der Verstellung 
und Lüge; dort und hier ist der Schein absichtlich in der Poesie 
unschuldig, hier aber zu einem unerlaubten Zwecke : ol *AfhpaZo* 
naQBöxevdtovTo a>s rro^^covreg — als ob sie den Krieg beginnen 
wollten; Upxa£e'i£i^ ovXkafißdvet Kvqov mg änoxxevm\ als ob er 
ihn hinrichten lassen wollte. Hier ist es eine vorgebliche, schein- 
bare Absicht; auch der scheinbare, vorgebliche Grund wird 
ebenso ausgedrückt; und dasselbe findet statt bei der Lüge, wo 
sich die Verstellung nicht in Handlungen, sondern in Worten 
äussert. Es wird hierbei immer ein fingierter Fall gesetzt und 
die Konsequenzen aus demselben gezogen, welche aber das eine- 
mal in Handlungen, das anderemal in Worten bestehen. Wer 
sich verstellt, denkt sich einen imaginativen Fall, den er aber 
keineswegs als wirklich setzen will, und handelt und spricht, als - 
ob dieser Fall stattfände, als ob er diese oder jene Absicht hätte, 
von diesen oder jenen Motiven geleitet wäre, als ob dies oder 
jenes stattgefunden oder nicht stattgefunden hätte. Die dritte 
Klasse bildet der Irrtum und der unabsichtliche Schein über- 
haupt; die Meinung, das Vorurteil» die Ansicht, der Glaube, 
die Auffassung, die Deutung, die Folgerung, die Vermutung, der 
Schein, die Täuschung, der Irrtum. Wenn es ferner heisst: „die 
Unterstellung, der Vorwurf als ob*, so ist dabei immer ein halb 
absichtlicher, halb unabsichtlicher Irrtum ausgedrückt; die Partikel 
„dass* kann dasselbe ausdrücken, dient aber vorzugsweise bei 
denjenigen Fällen, wo 'jene Worte wie Meinung u. s. w. nicht einen 
Irrtum oder Schein, sondern eine richtige Vorstellung einschliessen. 
In diesen Fällen scheint jene oben gestellte'Bedingung nicht ein- 
treffen zu wollen, dass eine Konsequenz aus dem Imaginativen 
gezogen werden solle. Allein bei genauerem Zusehen lässt sich 
diese doch finden: der Ausdruck: „der Schein, der Irrtum, als ob 

1) Mit der Poesie hängt eng zusammen die Rhetorik, auf die wir hier 
aber nicht näher eingehen. Über rhetorische Fiktionen s. oben S. 236. 



§ 26. Der Sinn der Als-Ob-Betrachtung. 



591 



der Stab im Wasser gebrochen wäre*, ist nur eine abgekürzte 
Redeweise für den Satz: die Meinung, welche so ist, wie sie sein 
müsste, wenn der Stab im Wasser wirklich gebrochen wäre; so 
dass also hier eben die Meinung selbst die praktische Konsequenz 
aus dem diesmal irrtümlich als wirklich angenommenen Falle 
ist. Indessen wird die Partikelverbindung missbräuchlich auch 
angewandt, wo richtiger einfach „dass" stünde. Insbesondere 
nach: „es scheint mir* steht wenigstens im Deutschen sehr häufig 
„als ob", wo strenggenommen besser „dass 4 * angebracht wäre. 
Auch wo „als ob" bei hypothetischen Annahmen steht („es 
ist heiss, als ob es heute noch ein Gewitter geben sollte"), wo 
also der Fall ein möglicher ist, findet eine grammatische 
Wendung statt, welche logisch nicht gerechtfertigt ist: es gehört 
dies zu jenen Fällen, wo zum Zweck bescheidener Milderung eine 
Sache als unmöglich hingestellt wird, die wahrscheinlich oder sehr 
unwahrscheinlich, jedenfalls also problematisch, aber wenigstens 
möglich ist, wie ja auch ähnlich Dinge als unmöglich hingestellt 
werden, die sogar wirklich sind: Milderungen der Ausdrucks- 
weise, die in der Grammatik sehr wohl bekannt sind, die aber 
vom streng logischen Gesichtspunkt aus verwerflich sind, inso- 
fern die Sprache sich eng an den Gedanken anschmiegen und 
nicht zum Zwecke ästhetischer Schönheit wie ein weites Gewand 
mit schönen Falten denselben verhüllen solL 

Zu diesen drei Fällen kömmt nun noch die wissenschaft- 
liche Verwendung des „als ob 41 . Es handelt sich vollends hier, 
wo der rein rhetorische Zweck blosser Veranschaulichung und 
Belebung ausgeschlossen ist, nur darum, ob die Setzung des 
Unmöglichen eine brauchbare Konsequenz in sich schliesst. 
Mit dieser Frage beschäftigt sich unsere ganze Untersuchung. 

Fassen wir das Ergebnis dieser Analyse zusammen, so 
ergibt sich als Resultat: 

Der Partikelkomplex „als ob" dient dazu, ein vor- 
liegendes Etwas mit den Konsequenzen aus einem 
unwirklichen oder unmöglichen Falle gleichzusetzen. 

Es ist also der in dem mit „ob** oder „wenn" eingeleiteten 
Satze „angegebene Umstand nicht als tatsächlich, sondern als 
subjektive Vorstellung und daher auch als eine Fiktion im 
Gegensatz gegen die Wirklichkeit aufzufassen" (Passow). 1 ) 

1) Passow, Handwörterbuch der griech. Sprache. 1857. IV, 2630 b 



592 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



§ 27. 

Das fiktive Urteil.*) 

Das fiktive Urteil, dessen sprachlichen Ausdruck, das 
Als ob, wir eben zergliedert haben, lässt sich in die traditionelle 
Einteilung der Urteilsformen in keiner Weise einstellen, ein neuer 
Beweis, dass diese insbesondere von Sigwart und Lotze 
angegriffene Einteilung wesentlicher Korrekturen bedarf. Die 
Grundform des fiktiven Gedankenzusammenhanges ist: A ist zu 
betrachten, als ob (wie wenn) es B wäre, oder: A ist als B zu 
betrachten (obwohl es nicht B ist); z. B. der Mensch ist als ein 
freies Wesen zu betrachten (behandeln), der Kreis ist als ein 
Vieleck zu betrachten (behandeln), Ist das ein positives oder ein 
negatives, ein kategorisches oder ein hypothetisches, ein asser- 
torisches oder ein problematisches Urteil? Welche Art von Zu- 
sammenhang wird hier zwischen A und B statuiert? Und auf 
welche Weise soll dieser so oder so statuierte Zusammenhang 
stattfinden? 

Es liegt hier offenbar eine eigentümliche Modalitätsform 
vor. Die Modalität der Urteile, sagt Kant (Kr. d, r. V. Kehrb, 92) 
„ist eine ganz besondere Funktion derselben, die das Unter* 
scheidende an sich hat, dass sie nichts zum Inhalte des Urteils 
beiträgt, sondern nur den Wert der Kopula in Beziehung auf das 
Denken überhaupt angeht". Eben darum hat Sigwart (Logik I, 
190 ff,) die bisher übliche Ausdrucksweise verworfen, wonach z. B. 
das sogen, problematische Urteil eine besondere Art des Urteils 
selbst sei. Denn sobald man in den Begriff des Urteils die 
Behauptung der Wahrheit der Aussage aufnehme und lehre, ein 
Urteil müsse entweder wahr oder falsch sein, sei die Aussage: A 
ist vielleicht B, worin diese beiden Merkmale nicht eingehalten 
sind, nicht mehr als eine Urteilsart anzuerkennen. Als Urteil 
über A gefasst, sei das sogen, problematische Urteil kein Urteil, 
sondern nur der unvollendete Versuch eines Urteils. Das wahr- 
hafte Urteil, das in jener Formel liege, sei eine Aussage über 
mich, den Zweifelnden, dass ich nicht weiss, ob A B ist oder 
nicht Dieses subjektive Faktum, dieser eben vorhandene Zustand 
meiner Gedanken werde konstatiert, es sei ein Urteil Über mein 
Verhältnis zu der Hypothese A ist B, aber nicht ein Urteil über A* 



*) Weitere Ausführungen zu Teil I, Kap. 2fr t & 168 f. 



§ 27. Das fiktive Urteil 



593 



Eine ähnliche Stellung nimmt nach Sigwart auch das negative 
Urteil ein. Auch dieses ist keine eigene Urteilsart. A ist 
nicht B, ist ein Urteil über ein Urteil, welches vollzogen ist oder 
versucht wurde. Es besagt, dass das Urteil A^ist B falsch ist, 
somit ist es die Aufhebung, Rückgängigmachung eines Urteils, 
und es bewegt sich wie das problematische Urteil im Gebiet des 
Subjekts, Die einfache, ursprüngliche Urteilsfunküon (das sogen, 
assertorische, kategorische Urteil) spricht die Gleichsetzung von 
A und B nach irgend einer Richtung aus, sagt aus, dass zwischen 
A und B irgend eine der möglichen Urteilsrelationen (Tätigkeit, 
Eigenschaft, Identität u. s. w.) bestehe. Nennen wir dieses Urteil 
das primäre, so stehen ihm mehrere sekundäre Urteilsmodi zur 
Seite: zunächst das negative, dann das problematische. 

Im primären Urteil wird die Urteilsfunktion einfach voll- 
zogen: A ist B. 

In den sekundären Urteilsformen wird dieser Vollzug auf 
irgend eine Weise alteriert. Das negative Urteil hebt einen schon 
geschehenen Urteilsvollzug auf oder weist den Versuch zu einem 
solchen zurück: A ist nicht B. Das problematische Urteil gibt 
den Vollzug oder seine Aufhebung frei, da das Subjekt über den 
Rechtsgrund zu dem Vollzug oder über die Notwendigkeit des 
NichtVollzuges noch nicht mit sich einig ist: A ist vielleicht B; 
A ist vielleicht nicht B. Modifikationen davon sind die Formen, 
welche durch Adverbia wie: wahrscheinlich, möglicherweise, wahr- 
scheinlich nicht, kaum u. s. w. ausgedrückt werden. 

Hieran schliesst sich nun offenbar das fiktive Urteil als 
eine sekundäre Urteilsform: das Urteil wird vollzogen mit 
gleichzeitigem Protest gegen den Gedanken der objektiven Gültig- 
keit, aber mit ausdrücklicher Wahrung der subjektiven Bedeutung. 
Das Urteil wird mit dem Bewusstsein der Ungültigkeit vollzogen, 
aber es wird dabei stillschweigend vorausgesetzt, dass dieser Vollzug 
für das Subjekt, für die subjektive Betrachtungsweise zulässig, nütz- 
lich und zweckdienlich ist. Die Form ist, wie bemerkt: A ist zu 
betrachten, wie wenn es B wäre. Jene Ungültigkeit ist schon 
durch die Form des hypothetischen Satzes ganz deutlich aus- 
gesprochen, wie schon im vorigen Paragraphen zu bemerken Ge- 
legenheit war: in einen hypothetischen Zusammenhang können ja 
nicht nur wirkliche und mögliche, sondern auch unwirkliche und 
unmögliche Dinge gebracht werden, weil nur der Zusammenhang 
zwischen den beiden Voraussetzungen, nicht die Wirklichkeit 

3S 



594 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



dieser selbst zum Ausdruck gelangt „Wenn der Kreis ein Viel- 
eck wäre, so wäre er den Gesetzen geradliniger Figuren zu unter- 
werfen/ Dieser Zusammenhang ist ebenso notwendig, wie beide 
Sätze, die in Zusammenhang gebracht sind — strenggenommen — 
falsch sind. „Wenn der Diamant ein Metall wäre, so wäre er 
schmelzbar." ,Wenn Cäsar nicht ermordet worden wäre, so hätte 
er sich zum Imperator aufgeschwungen/ „Wenn ich den Philipp 
gerecht handeln sähe, würde ich ihn für sehr bewundernswert 
halten* (Demosthenes). »Wenn wir den Hilfszug unternommen 
hätten, würde uns Philipp jetzt nicht lästig sein" (id). Das sind 
bekanntlich lauter absolut notwendige Zusammenhänge zwischen 
Unwirklichem oder Unmöglichem. In der Fiktion wird ein solcher 
unmöglicher und also auch ungültiger Fall für einen praktischen 
Zweck als nichtsdestoweniger möglich angesetzt; genauer ge- 
nommen ist die Wendung noch feiner; nicht der unmögliche 
Fall selbst wird als wirklich gesetzt, sondern nur mit den aus 
ihm fliessenden Folgen, die mit ihm notwendig verbunden 
sind, wird die Betrachtungsweise des vorliegenden Gegenstandes 
oder Falles gleichgesetzt, während die Bedingung selbst durch 
die Form zugleich als eine unerfüllbare mitbezeichnet wird. Offen- 
bar liegt dies in der Redewendung: „der Kreis ist denjenigen 
Gesetzen geradliniger Figuren zu unterwerfen, welchen er unter- 
stünde, wenn er ein Vieleck wäre", oder: «der Kreis ist so zu 
behandeln, wie wenn er ein Vieleck wäre". Es liegt auf der 
Hand, dass die Ungültigkeit der Gleichsetzung von Kreis und 
Vieleck, von A und B, in dieser Form als eine unbedingte aus- 
gesprochen wird. 

Sonach ist das fiktive Urteil eine höchst eigentümliche 
Komplikation: es ist negativ, insofern die Gleichsetzung von A 
und B deutlich als eine ungültige ausgesprochen wird; es ist 
positiv, insofern die Möglichkeit, dieses ungültige Urteil doch als 
gültig zu behandeln, bejaht wird; in dieser selben Hinsicht ist 
es auch kategorisch, während es doch zugleich andererseits einen 
hypothetischen Bestandteil enthält; denn es setzt einen unmög- 
lichen Fall und zieht aus diesem die notwendigen Konsequenzen: 
es ist problematisch, assertorisch, sogar eventuell apodiktisch, 
insofern es diese Behandlungsweise einfach ausspricht oder ihre 
Möglichkeit oder Notwendigkeit besonders hervorhebt Was aber 
die Gleichsetzung von A und B selbst betrifft, so ist diese keine 
assertorische, auch nicht eine problematische, sondern einfach eine 



§ 27. Das fiktive Urteil. 



595 



fiktive, d. h, hier ist ein neuer Urteilsmodus zu statuieren, der 
bis jetzt unbeachtet geblieben ist. 

Lotze sagt daher sehr richtig (Logik S. 68), dass, wenn 
man alle Schattierungen berücksichtigt hätte, man die Modalitäts- 
formen noch um viele Glieder hätte vermehren können. Auch 
er beruft sich dabei auf die verschiedene sprachliche Ausdrucks- 
weise der Urteile, Ob er aber recht daran tat, sich der Auf- 
zählung und Einteilung dieser Modalitätsformen durch den 
zweifelhaften Vergleich zu entziehen, sie zu zergliedern, wäre eine 
ebenso törichte Aufgabe, als die eines mathematischen Lehrbuches, 
das alle möglicherweise vorkommenden Exempel im voraus be- 
rechnen wollte? „Es bliebe nichts übrig, als eben in jedem Einzel- 
falle zuzusehen, was man vor sich hat, ob eine versuchsweise 
annehmbare Möglichkeit wegen Mangels des Beweises der Un- 
möglichkeit, ob eine wohl begründete, auf ihren Bedingungen 
sicher ruhende Fähigkeit, ob eine Notwendigkeit wegen Vor- 
handenseins zwingender Gründe oder ob eine solche des Gebots, 
des Zweckes, der Pflicht, ob endlich eine Kombination von Mög- 
lichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit." Das fiktive Urteil scheint 
eine solche Kombination zu sein: wir haben in ihm eine Unmög- 
lichkeit, eine Notwendigkeit und eine Wirklichkeit (oder Möglich- 
keit oder Notwendigkeit) verknüpft gefunden, 

Kant war an der oben S. 592 genannten Stelle der Auffindung 
dieser besonderen Urteilsform nahe; er sagt nämlich über das 
problematische Urteil: „doch können solche Urteile auch offenbar 
falsch sein, und doch, problematisch genommen, Bedingungen der 
Erkenntnis der Wahrheit sein*, „So ist das Urteil: die Welt ist 
durch blinden Zufall da, in dem disjunktiven Urteil [die Welt ist 
entweder durch einen blinden Zufall da oder durch innere Not- 
wendigkeit oder durch eine äussere Ursache] nur von problema- 
tischer Bedeutung, nämlich, dass jemand diesen Satz etwa auf 
einen Augenblick annehmen möge, und dient doch , , . den 
wahren zu finden. Der problematische Satz ist also derjenige, 
der nur logische Möglichkeit (die nicht objektiv ist) ausdrückt, 
d. i. eine freie Wahl, einen solchen Satz gelten zu lassen, eine 
bloss willkürliche Aufnahme desselben in den Verstand," Offen- 
bar aber vermischt hier Kant zwei Dinge, die zu unterscheiden 
sind, und wendet den Ausdruck „problematisch" missbräuchlich 
an. Man versteht allgemein unter problematischer Erkenntnis ein 
ungewisses Fürwahrhalten, ein Meinen, einen Zustand, in dem wir 

38* 



596 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



uns entweder gar nicht für das Eine oder Andere entscheiden 
oder eine Entscheidung nur mit Vorbehalt und vorläufig treffen, 
also den Zustand des Vielleicht. Es ist nun sehr charakteristisch 
für Kant, dass er unter problematischen Urteilen auch willkür- 
liche Urteile versteht, die man momentan zu einem praktischen 
Zwecke annimmt» Auch Sigwart bemerkt diese Vermischung, Er 
sagt, es sei zu unterscheiden, ob über die Gültigkeit eines vor- 
gestellten Urteils deshalb nichts behauptet wird, weil nichts be- 
hauptet werden kann, darum weil der Sprechende noch zu keiner 
Entscheidung gelangt ist; oder deshalb, weil über seine Gültig- 
keit nichts behauptet werden will, darum weil der Sprechende 
um irgend eines weiteren Zweckes willen vorübergehend ein gül- 
tiges Urteil wie ein ungültiges, ein ungültiges wie ein gültiges, 
ein ungewisses wie ein gewisses behandelt Allein auch diese 
scharfsinnige Unterscheidung ist ungenau: wenn nämlich der 
Sprechende ein ungültiges Urteil wie ein gültiges behandelt, so 
ist er sich der Ungültigkeit dieser Handlungsweise vollständig 
bewusst, ebenso wie der Ungültigkeit des betreffenden Urteils. 
Er will also allerdings über die Gültigkeit des Urteils etwas 
behaupten, nämlich in diesem Falle, dass es ungültig ist, und dass 
die Behandlung desselben als eines gültigen selbst auch definitiv 
ungültig ist, und dass es nur vorläufig zugelassen wird. Sigwart 
verwechselt hier die Gültigkeit resp. den Ungültigkeitswert des 
Urteils über A mit der Gültigkeit resp. Ungültigkeit der Verwen- 
dung des Urteils: „A ist B\ Und auch wenn ein gültiges Urteil als 
ungültig, ein ungewisses als gewiss behandelt wird, so kommt es 
gar nicht darauf an, ob über die Gültigkeit dieses Urteils selbst 
geurteilt werden soll; im Gegenteil, das gültige Urteil bleibt 
gültig, das ungewisse ungewiss; es kommt vielmehr darauf an, dass 
das Subjekt in diesem Fall sich der Ungültigkeit seiner Behand- 
lungsweise selbst bewusst ist. Wenn ein ungültiges Urteil, z. B. 
„der Kreis ist ein Vieleck*, als gültig angenommen wird, so will 
allerdings über die Gültigkeit dieses primären Urteils A ist B 
etwas behauptet werden, nämlich — dass es absolut ungültig 
sei; aber wenn dieses als ungültig ganz offen behauptete Urteil 
doch für den Moment zu praktischen Zwecken als gültig ange- 
nommen wird, so ist damit selbst ein zweiter, sekundärer Akt 
vollzogen, der als der fiktive zu bezeichnen ist, und über dessen 
Ungültigkeit man sich ebenfalls vollständig klar ist 



§ 27. Das fiktive Urteil. 



597 



Man möge bei der Wichtigkeit der Sache diese Weitläufig- 
keit entschuldigen und noch eine weitere Bemerkung gestatten. 
Wir sagten, dass für Kant die Vermischung des problematischen 
und des fiktiven Urteils höchst charakteristisch sei. Dass 
er aber wirklich diese beiden Urteilsformen prinzipiell ver- 
mischte, dafür ist eine Stelle aus seiner „ Logik" der beste Be- 
weis: denn in dieser setzt er diese Vermischung fort, welche wir 
oben in der Kr. d. r. V. fanden, und Sigwarts Angabe, dass Kant 
in der Logik, wie man dies gewöhnlich tut, unter dem proble- 
matischen Urteil nur ein ungewisses Fürwahrbalten verstanden 
habe, ist, in Anbetracht der betreffenden Stelle aus der „Logik", 
ungenau, Kant handelt in dem IX. Abschnitt der Einleitung von 
«der logischen Vollkommenheit des Erkenntnisses der Modalität 
nach, von der Gewissheit, von dem Begriff des Fürwahrhaltens 
und seinen Modis*. Das Fürwahrhalten ist ein gewisses und ein 
ungewisses; das ungewisse Urteil ist mit dem Bewusstsein der 
Zufälligkeit oder der Möglichkeit des Gegenteils verbunden. Das 
Letztere ist hinwiederum entweder sowohl subjektiv als ob- 
jektiv unzureichend, oder zwar objektiv unzureichend, aber 
subjektiv zureichend. Jenes heisst Meinung, dieses Glaube; 
das gewisse Fürwahrhalten ist Wissen; das erste ist proble- 
matisch, das zweite assertorisch, das dritte apodiktisch. 
„So wäre z. B, unser Fürwahrhalten der Unsterblichkeit bloss 
problematisch, wofern wir nur so handeln, als ob wir unsterb- 
lich wären; assertorisch aber, sofern wir glauben, dass wir un- 
sterblich sind; und apodiktisch, sofern wir Alle wüssten, dass 
es ein anderes Leben nach diesem gibt" 

Der Einfall Kants, problematisch, assertorisch, apodiktisch 
— die Gewissheitsgrade mit den Wissensarten, Glauben und 
Wissen, denen noch das Meinen ganz willkürlich vorangestellt 
wird, zu parallelisieren — ist sehr fragwürdig, und er soll uns hier 
nicht weiter beschäftigen. Dagegen erhellt aus dieser Darstellung, 
dass für Kant der Begriff des Problematischen ein vollständig 
schwankender ist Er fügt nämlich zu dem Bisherigen über das 
Meinen oder das problematische Wissen noch Weiteres hinzu: 
er nennt es auch ein vorläufiges Urteilen, ein Ahnen; es betreffe 
Dinge, die an sich zwar möglich, aber nur für uns unmöglich 
sind »nach den empirischen Einschränkungen und Bedingungen 
unseres Erfahrungsvermögens*. Vergleicht man nun aber damit 
das Beispiel Kants, so zeigt sich, dass er hier wieder dieselbe 



598 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen* 



Vermischung vornimmt wie in der Kr. d. r. V. Er bringt nämlich 
das Beispiel: „wir handeln, als ob wir unsterblich wären*. 
Hier soll unser Fürwahrhalten der Unsterblichkeit bloss „proble- 
matisch" sein: es liegt aber in dem „als ob* ganz deutlich und 
entschieden die Ungültigkeit der Annahme, die wir nur auf den 
Augenblick annehmen, die wir ad hoc als gültig setzen, obwohl 
sie ungültig ist. Charakteristisch hierbei ist die Wendung, „so- 
fern wir nur so handeln*; wir erwarten: „sofern wir meinen, dass 
vielleicht* 1 , entsprechend den Wendungen, „sofern wir glauben, 
dass, sofern wir wüssten, dass 11 . Gerade dass Kant diese Wen- 
dung unterlässt und dafür seine Wendung einführt (handeln, als 
ob), ist der strikte Beweis dafür, dass er hier methodologisch 
unklar war, dass er die Fiktion mit der Hypothese, das 
fiktive Urteil mit dem problematischen verwechselt 

Es handelt sich ja hier bei diesem Beispiele (handeln, als 
ob) nicht einmal um eine Vermutung, sondern eben um die 
Setzung eines unmöglichen Falles, mit dessen notwendigen Folgen 
ich nichtsdestoweniger meine Handlungen in Übereinstimmung 
setze. In der Kr. d. r. V. (Kehrb. S. 620 ff.), wo diese Modi des 
Fürwahrhaltens ebenfalls ausführlich zur Sprache kommen, nennt 
Kant den Glauben an die Unsterblichkeit einen doktrinalen 
Glauben (625) und sagt: „Wenn ich das bloss theoretische Für- 
wahrhalten hier auch nur Hypothese nennen wollte, die ich 
anzunehmen berechtigt wäre, so würde ich mich dadurch schon 
anheischig machen, mehr . . . von einer anderen Welt Begriff zu 
haben, als ich wirklich aufzeigen kann". Da nun an der Stelle 
aus der Logik die Annahme der Unsterblichkeit noch unter den 
Glauben gestellt wird als blosses „Meinen*, da femer in der Kritik 
der Glaube die Unsterblichkeit nicht einmal als eine „Hypothese" 
aufstellen kann, und da endlich eine Hypothese eine problema- 
tische Annahme ist, — so ist also offenbar in der Stelle aus der 
Logik die Ausdrucksweise w prob lern atisch" missbräuchlich ange- 
wandt» Faktisch ist es gar nicht ein quantitativer, sondern ein 
qualitativer Unterschied; zwischen dem Handeln „als ob" und 
dem Meinen, Glauben, Wissen „dass" — besteht nicht eine gradu- 
elle Differenz, sondern eine spezifische. Indem aber Kant, wie 
bemerkt, an Stelle des „Meinens, dass" — das „Handeln, als ob" 
einführt, macht er sich dieser Verkennung des qualitativen Unter- 
schiedes zwischen dem problematischen und dem fiktiven Urteil 
schuldig und hält eine qualitative Differenz für eine quantitative» 



§ 27. Das fiktive Urteil. 



599 



Ich hätte mir nicht erlaubt, mich und den Leser hierbei so lange 
aufzuhalten, wenn nicht diese Vermischung und Verwirrung, wie 
sich zeigen wird, für das ganze Kantische Lehrgebäude verhängnis- 
voll, und die Aufdeckung derselben der Schlüssel zu dem Ver- 
ständnis Kants wäre. Denn dasselbe Schwanken, wie bei dem 
problematischen Urteile, findet sich auch in den Äusserungen Kants 
über die „ problematischen Begriffe* oder die Ideen. Darüber später. 

Hier sei nur noch einmal daran erinnert, dass wir, im 
Gegensatz zu Kants Unklarheit in diesem Punkt, volle Klarheit 
über die Natur des fiktiven Urteils schon lange vor Kant ange- 
troffen haben, und zwar bei Joachim Jungius und bei Leibniz. 

Joachim Jungius sprach — nach dem Zeugnis von Leibniz, 
vgl oben S. 557 und 558 — von enuntiationes toleranter verae, 
von strenggenommen falschen, aber doch zulässigen Urteilen. 
Beispiele aus Jungius selbst führt Leibniz nicht an. Aber Leibniz 
gibt seinerseits folgende Beispiele: 

Punctum est tanquam Hnea infinite parva. 
Quies est tanquam motus evanescens. 

Von solchen Urteilen sagt nun Leibniz — was wir hier aus 
seinen oben S. 557 f. ausführlich wiedergegebenen Äusserungen 
kurz wiederholen — sie seien strenggenommen nicht wahr: 
rigorem non sustinent, aber sie seien zu praktischen Zwecken 
zulässig: tolerari posse talia, rigorose loquendo vera non esse 
possunt, tarnen sano aliquo sensu tolerari possunt In anderem 
Zusammenhang spricht Leibniz von solchen zweifelhaften Sätzen 
als expressiones admittendae (vgl. oben S, 563). Vom mathe- 
matischen Punkt kann man strenggenommen nicht sagen: er ist 
eine unendlich kleine Linie, aber man kann dieses Urteil doch 
dulden in der Form: er ist so zu betrachten und zu behandeln, 
als ob er eine unendlich kleine Linie wäre; diese Analogie ist 
zulässig, wenn auch strenggenommen falsch. Vom Punkt als 
Subjekt wird in einem solchen Urteil der ihm disjunkt gegen- 
überstehende Begriff der Linie prädiziert: der Punkt wird damit 
unter das contradistinctum generale, den ihm an sich ganz hetero- 
genen Allgemeinbegriff der Linie gebracht Es handelt sich also 
hierbei um eine Prädizterung, welche, im Unterschied von der 
kategorischen und assertorischen, nur als fiktive bezeichnet 
werden kann. 

Solche Erwägungen haben wir schon oben S. 533 und 534 
angestellt: zwei kosubordinierte Begriffe, so sagten wir, sind 



600 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



disjunkt und können einander nicht „beigelegt" werden. Aber 
trotzdem sind, wie wir sahen, folgende Prädizierungen möglich: 

1. die Fläche ist ein Körper, aber von unendlich kleiner Tiefe, 

2. die Linie ist eine Fläche, aber von unendlich kleiner Breite, 

3. der Punkt ist eine Linie, aber von unendlich kleiner Länge. 
Der Begriff des Unendlich- Kleinen ergab sich uns da als „der 
Vermittler, welcher diese disjunkten Begriffe in einer Gleichung, 
also in einem Urteil zu verbinden gestattet". Ein solches In- 
Eins-Setzen entgegengesetzter Begriffe, eine solche Identität diffe- 
renter Denkgebilde, eine solche Gleichung des Ungleichen wird 
wohl Leibniz gemeint haben, wenn er einmal von aequationes 
htadaequatae redet (vgl. oben S. 534 Anm. 1). Es handelt sich 
um fiktive Prädizierungen in fiktiven Urteilen. Leibniz führt als 
Beispiele u. A. auch die Sätze an: 

Une ligne droite est un angle infiniment obtus. 

Corpus est absolute [= in infinitum] elasticum. 
Von solchen unechten Gleichungen sprach, wie wir S. 200 
und 201 sahen, auch Fermat, der einfach zu bestimmten Zwecken 
x = x -f- e setzte und sich hierfür auf Diophant berief. Dieser 
spricht in ähnlichen Fällen von einer naqicotrjg [vgl, ndqttsoq, 
naqrtow, naqicd^ bei den griechischen Schriftstellern]; Fermat 
übersetzt diesen Ausdruck mit adaequalitas, und versteht eben 
darunter eine solche fiktive Gleichsetzung ungleicher Gegenstände. 
Als eine solche adaequalitas erkannten wir S. 529 auch folgendes 
mathematische Urteil: 

1-2- ' J 1 1 Ii 

2 ^ 4 ^ 8 " r 16" 1 " ' "2 U ' " 
Und wir erkannten S. 530, dass die Gleichsetzung von 1 mit 
jener Reihe nur möglich ist durch die Vermittlung des Unbegriffes 
des Unendlich-Kleinen, In diesem Sinne sagt, wie wir oben 
S. 560 sahen, auch Leibniz: quae quantitate finita non differunt 
[also = quae quantitate solum infinita differunt] aequalia 1 ) sunt; 
und er beruft sich für die praktische Richtigkeit eines derartigen 
theoretisch unrichtigen, mathematischen Urteils auf einen anderen 
Alten, auf Archimedes. Wir hörten auch S. 555, dass die Gegner 
von Leibniz' Infinitesimalmethode, speziell Niewentiit, gerade an 
diesem Punkte einhackten, indem sie eine derartige «ungenaue 

1) In demselben Sinne spricht Leibniz (bei Gerhard, Gesch. d. Mathem. in 
Deutscht S. 172) davon, dass an Stelle der ungewöhnlichen infinitesimalen Drei- 
ecke triangula communia inassignabilibus Ulis similia gesetzt werden können 



§ 27. Das fiktive Urteil. 



601 



aequalitas* nicht anerkennen wollten, sahen aber auch, wie Leibniz 
diese Einwände siegreich zurückschlägt (vgl oben bes. S. 556 
Anm. 1). 

Das fiktive Urteil, über dessen logische Natur wir uns schon 
S. 167 ff. hinreichend geäussert haben, wird nun freilich gram- 
matisch oft in so verkürzter Form ausgesprochen, dass es vom 
einfachen kategorisch-assertorischen Urteil nicht zu unterscheiden 
ist Ein fiktives Urteil hat strenggenommen folgende Form: 

Der Kreis ist als ein Polygon von unendlich vielen, unend- 
lich kleinen Seiten zu betrachten. 

Aber daraus wird dann durch eine locutio compendiaria: 

Der Kreis ist ein Polygon mit unendlich vielen, unendlich 
kleinen Seiten. 

Und schliesslich lautet die Verkürzung: 

Der Kreis ist ein Polygon. 

Die „Zweideutigkeit der Kopula" (über welche schon, freilich 
in anderem Sinne, W. Jordan 1870 ein Stuttgarter Gymnasial- 
programm geschrieben hat) kommt hier zum Vorschein. Das 
,ist u ist nicht nur zweideutig, sondern vieldeutig. In diesem 
Falle ist das „ist* 4 eine sehr knappe Abbreviatur für einen sehr 
komplizierten Gedankenzusammenhang. In der Mathematik sind 
nun solche grammatischen Abbreviaturen nicht von Gefahr, weil 
in dieser Wissenschaft die Korrektur einer eventuellen irrigen 
Interpretation nahe bei der Hand Hegt. 

Anders liegt es in anderen Wissenschaften. Das Urteil: 
die Materie ist aus Atomen zusammengesetzt — kann von dem, 
der es ausspricht, als bewusst-fiktives Urteil gemeint sein, kann 
aber von dem, der es hört oder liest, ohne eigene Schuld dog- 
matisch verstanden werden. Hier kann also schon die Abbre- 
viatur recht gefährlich werden. Hier muss die unerläuterte Abbre- 
viatur dazu führen, die Fiktion in ein Dogma oder wenigstens 
in eine Hypothese zu verwandeln. 

Am Gefährlichsten, am Verhängnisvollsten wirken solche 
Abbreviaturen aber in der Religion. Mancher Satz manches 
Religionsstifters ist von ihm selbst zunächst nur als bewusste 
Fiktion gemeint gewesen. Aber teils die Armut der Sprache in den 
Urzeiten, teils die Freude an kurzen und prägnanten, rhetorisch- 
wirkenden Sätzen, teils die Rücksicht auf die mindergebildeten, 
kindlichen Gemüter der Hörer führte und verführte die Religions- 
stifter dazu, das, was sie selbst nur im Sinne einer bewussten 



602 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



Fiktion meinten, in der sprachlichen Form eines Dogmas auszu- 
sprechen. Und nach dem uns ja hinreichend bekannten „Gesetz 
der Ideenverschiebung" (vgl. oben S.219ff.) verwandelte sich die 
bewusste Fiktion des Meisters alsbald für den Jünger unbewusst 
in das Dogma. Christus lehrte: Gott ist euer Vater im Himmel; 
damit meinte er wohl: Ihr müsst Gott (dessen Existenz für 
Christus natürlich keine Fiktion, sondern ein Dogma war) be- 
trachten, als ob, gerade, wie wenn er euer Vater wäre, und 
als ob, gerade, wie wenn er über den Wolken als beständiger 
äusserer Zuschauer eures Tuns anwesend wäre. Die Jünger, das 
Volk, die Kinder aller Zeiten, aller Lebensalter, aller Stände, aller 
Nationen nahmen diese bewusste Allegorie, diese fiktive Äusserung 
als Dogma, und nicty allein die kirchliche Kunst, sondern das kind- 
lich-gläubige Gemüt nahm und nimmt jenen Satz wörtlich, buch- 
stäblich, sinnlich, äusserlich. Aber stets haben feinere Geister 
das Geistig-GeWinte ^uch geistig aufgefasst, und solche Alle- 
gorien als das ^hingenommen, was sie sind, als — Fiktionen. 
Und es ist nur recht und billig, wenn nach demselben Gesetz 
der Ideenverschiebung jetzt auch in weiteren Kreisen das erstarrte 
Dogma wieder rückwärts in eine geistig-belebte, bewusste Fik- 
tion verwandelt wird. Und sehr viele Geistliche (wenigstens in 
protestantischen Ländern, nicht wenige aber auch in den andern 
Kirchen), meinen, wenn sie jenen Satz mit den Lippen sprechen, 
damit den in der Abbreviatur leicht verloren gehenden tieferen 
oder höheren Sinn. Sie wissen, was sie tun, und bedienen sich 
insofern einer erlaubten und zweckmässigen religiösen Fiktion. 

Eine welthistorische Rolle spielt »die Zweideutigkeit der 
Kopula * (nämlich bald im kategorisch-assertorischen, bald im 
fiktiv-allegorischen Sinne) in dem Streite der Lutheraner und der 
Reformierten um die Bedeutung des icxi in den Einsetzungs- 
worten de« Abendmahls, des dttnvov xvqmxxov. Die Sätze lauten 
(Ev. Math. XXVI, 26 — 29): tovio icrtt zo awfid pov. tovto satt 
%o altid pov. Über den Sinn des eW stritten sich Luther und 
Zwingli im Religionsgespräch zu Marburg, und seitdem ist die 
Kontroverse in unzähligen Abhandlungen wiederholt worden. 
Zwingli fasste als dialektisch-feinerer Geist das i<ul allegorisch, 
ihm ist der Satz eine bewusste Fiktion Christi: Dies Brot ist so 
zu betrachten, als ob es mein Leib wäre; dieser Wein ist so zu 
betrachten, als ob er mein Blut wäre. Luther mit seiner derben 
sinnlichen, volkstümlichen Logik wurde bei diesen Erörterungen 



§ 27. Das fiktive Urteil 



603 



unruhig und klopfte ungeduldig mit dem Finger unter den Tisch 
und wiederholte halblaut die Worte: Est, est. Er nahm das kni 
das »ist" ganz wörtlich, und sein, den feineren Kurven der Dia- 
lektik wiederstrebender harter Kopf konnte nicht fassen, dass es 
sich nur um eine grammatische Abbreviatur einer bewussten Fik- 
tion handle. Nach Zwingli sagt das Aft* keine Identität aus, 
sondern er übersetzt es mit „significat"; nach den reformierten 
Theologen ist das iarC nur „allegorisch", nur „symbolisch" zu 
verstehen, nach unserer Sprache also nur fiktiv. Schon Cicero, 
auf den sich die Reformierten auch berufen, sagt (De Nat Deorum 
I, 26): Bei den Göttern könne nur quasi corpus, quasi sanguis 
vorhanden sein; und wenn demgegenüber die Lutheraner von 
dem verum corpus, dem verus sanguis sprechen, so würde in 
Leibnizscher Sprache, die wir nun kennen, ihnen zu entgegnen 
sein, es handle sich vielmehr bei jenen Sätzen nur um — tole- 
ranter vera. f 

Das fiktive Urteil spricht keine theoretische, keine absolute 
Wahrheit aus, sondern nur eine praktische, eine relative, d. h. eine, 
die nur in Relation zu dhn Aussäenden und zu dem Zweck, 
den er verfolgt, richtig ist, also einen Inhalt, der überhaupt nur 
mit Vorsicht und Vorbehalt di^ Bezeichnung „wahr" erhalten darf. 



§ 28. 

Die Fiktion im Gegensatz zur Hypothese«*) 

Nachdem wir den Unterschied des fiktiven Urteils vom 
problematischen dem Ausdruck und Inhalt nach hinreichend unter- 
sucht haben, kann und muss der methodologische Gegensatz der 
Fiktion zur Hypothese — der eigentliche Kern dieses ganzen 
Buches — zum Schluss nochmals zur Erörterung gelangen« 

Man kann es ein für die bisherige Logik beschämendes 
Faktum nennen, dass diese beiden Denkformen bis jetzt fast 
immer verwechselt worden sind: eine Verwechslung, welche 
darin ihre Entschuldigung finden mag, dass sich beide Denk- 
formen trotz aller Unterschiede doch teilweise nahe stehen, sodass 



*) Weitere Ausf Eningen zu Teil L Kap. 21, S. 143 f. 



604 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



sie, wenn sie auch prinzipiell scharf zu scheiden, so doch in 
praxi nicht immer leicht auseinander zu halten sind. 

Das beste Beispiel, sowohl für diese leichte Verwechseibar- 
keit als für den prinzipiellen Unterschied beider Denkformen, ist 
der Goethesche Begriff eines Urtieres und einer Urpflanze, das 
uns schon mehrfach, z. B. S. 39, 145 ff. zur Illustrierung gedient 
hat. Goethe stellte das Vorstellungsgebilde eines Urtieres auf, 
d. h. eines Urtypus aller tierischen Erscheinungen überhaupt, als 
dessen Modifikationen» Transformationen, Metamorphosen alle 
bekannten Tierarten zu betrachten seien. Goethe selbst war sich, 
wie schon oben S. 145 ff. erwähnt worden ist, über den metho- 
dologischen Charakter seines Vorstellungsgebildes nicht recht 
klar: manchmal scheint es ihm eine hypothetische Annahme zu 
sein, so dass er die Existenz, wenigstens die frühere Existenz 
eines solchen Wesens behaupten zu wollen scheint; meistens aber 
ist es ihm offenbar nur ein gedachter Urtypus, ohne dass damit 
die Existenz, ja nur die Existenzmöglichkeit eines solchen Muster- 
tieres behauptet werden sollte. 

Als Goethe diese Gedanken wieder einmal im Gespräch mit 
Schiller entwickelte, rief dieser bekanntlich aus: „das ist keine 
Erfahrung, das ist eine Idee 4 '. 

Der Unterschied, den der Kantianer Schiller in Kantischer 
Terminologie hier macht, fällt zusammen mit dem Unterschied 
von Hypothese und Fiktion in der Sprache der Methodologie, 

Wenn Schiller sagt: das Urtier, die Urpflanze sei keine Er- 
fahrung, so will er damit natürlich nicht etwa sagen: solche orga- 
nischen Urwesen hat man bisher in der Erfahrung nicht gefunden, 
sie können aber zukünftig in die Erfahrung treten. Sondern er 
will — nach dem Kantischen Begriff der Erfahrung — sagen: 
Urpflanze, Urtier sind überhaupt niemals in irgend einer Erfahrung 
aufzufinden, sie können gar keine Erfahrungsgegenstände sein, 
weder solche, die man bisher gefunden hat, noch solche, die man 
später noch finden kann, und deren Begriffe man daher jetzt einst- 
weilen als berechtigte Hypothesen ansetzen kann. Sondern die 
Urpflanze, das Urtier, das ist „eine Idee", d. h. ein blosser, von uns 
erdachter Vernunftbegriff, welcher zwar mit Notwendigkeit von 
uns gebildet wird, der aber doch nur erdacht ist, dem nie und 
nirgends ein empirisches Wesen entsprechen kann. Schiller hat 
also richtig erkannt, dass der Sinn der Goetheschen Behauptung 
in dem fiktiven Urteil auszusprechen ist: alle Pflanzenarten, alle 



§ 28. Die Fiktion im Gegensatz zur Hypothese. 605 

Tierarten sind so zu betrachten, als ob sie nach dem Massstab 
einer Urpflanze, eines Urtieres gebildet seien. Das Gaethesche 
Urtier ist eine schematische Fiktion, dagegen die Darwinsche 
Deszendenzlehre ist eine Hypothese. 

Noch ein anderes Beispiel mag diesen Unterschied illustrieren. 
Die Konstitution der Materie ist eine der wichtigsten Fragen der 
Wissenschaft. Hier begegnet uns nun die Ansicht, dass die 
Elemente, auf welche man bis jetzt die Materie reduziert hat, 
nicht letzte Faktoren seien, sondern dass sie vielleicht auf noch 
weniger Elemente, ja sogar nur auf Einen Urstoff zurückzuführen 
seien. Diese Vermutung ist schon oft ausgesprochen worden, und 
sie hat prinzipiell nichts gegen sich. Auf der anderen Seite finden 
wir die Ansicht, dass die Materie aus unendlich kleinen, unteil- 
baren Stückchen bestehe, welche sogar an sich ausdehnungslos 
seien, aus Atomen. Die erstere Theorie betrifft die qualitativen, 
die andere die quantitativen Faktoren der Materie. So wenig 
aber jene erstere prinzipielle Bedenken erregt, so viele Wider- 
sprüche birgt diese zweite in sich. Während jene Theorie nicht 
daran zu verzweifeln braucht, dass einmal diese Reduktion ge- 
lingen kann, ist der Atomismus, wenigstens in der angeführten 
Form, schlechterdings unbeweisbar, ja derselbe ist sogar im Gegen- 
teil theoretisch verwerflich, weil dieses Atom ein widerspruchs- 
volles Vorstellungsgebilde ist Unausgedehnte Kraftzentren, welche 
der Ausdehnung zu Grunde liegen sollen, sind vollständig wider- 
spruchsvolle Begriffe. Etwas Un ausgedehntes, das doch summiert 
Ausdehnung geben soll, ist ein Widerspruch (vgl. obenS. 201, 429). 

Somit ist die Idee der Reduktion der Materie auf Atome 
eine Fiktion; dagegen die Vorstellung der Reduktion der Arten 
der Materie auf einen einzigen Urstoff ist eine plausible Hypothese. 

Gerade dieses Beispiel ist ganz besonders geeignet, um den 
methodologischen Unterschied beider Denkformen zu erläutern; 
die erste Annahme gipfelt in dem fiktiven Urteil: die Materie ist 
so zu betrachten, so zu behandeln, so zu berechnen, als ob sie 
aus Atomen bestünde. Die andere Annahme drückt sich dagegen 
in dem problematischen Urteil aus: Es ist möglich, dass die 
bis jetzt gefundenen Elemente der Materie alle auf Einen Urstoff 
reduziert werden; bis jetzt aber ist es unmöglich gewesen, diese 
wahrscheinliche Annahme zu verifizieren. Ganz anders die Fik- 
tion: es ist ganz unmöglich, dass die Materie in letzter Linie 
aus ausdehnungslosen, punktuellen Atomen bestehe, wohl aber 



606 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



ist es möglich, ja nützlich, diese Annahme provisorisch zu 
machen, um die Gewichtsverhältnisse der Materie leichter berech- 
nen zu können. 

Während jede Hypothese ein adäquater Ausdruck der noch 
unbekannten Wirklichkeit sein, und diese objektive Wirklich- 
keit zutreffend abbilden will, wird die Fiktion mit dem Be- 
wusstsein aufgestellt, dass sie eine inadäquate, subjektive, 
bildliche Vorstellungsweise ist, deren Zusammentreffen mit der 
Wirklichkeit von vornherein ausgeschlossen ist, und die daher 
auch nicht hintennach, wie man das bei der Hypothese hofft, 
verifiziert werden kann. Daher darf auch eine Fiktion niemals 
in einem problematischen Urteil ausgedrückt werden, sondern 
sie hat als ihre eigene genuine Form das fiktive Urteil zu 
beanspruchen. 

Die methodologischen Regeln, welche für die Hypothese 
aufgestellt werden, passen daher auch durchaus nicht auf die 
Fiktion. Kant hat jene Bedingungen, welche die grundlegende, 
strenge, logische Zucht des hypothetischen Denkens sein müssen, 
sehr gut formuliert in der Kr. d. r. V. (Kehrb. 586) in der „Dis- 
ziplin der reinen Vernunft in Ansehung der Hypothesen", als 
„die zwei erforderlichen Stücke zur Annehmungswürdigkeit einer 
Hypothese", erstens, „dass nur solche Dinge und Gründe zur 
Erklärung gegebener Erscheinungen angeführt werden, welche 
mit dem Wirklichen in Verknüpfung gesetzt werden können, und 
also selbst den allgemeinen Wirklichkeitsgesetzen entsprechen" , 
und zweitens „die Zulänglichkeit der Annahme zur Erklärung und 
empirischen Ableitung des gerade vorliegenden Erscheinungs- 
kreises". 1 ) Nur die Einhaltung dieser Bedingungen kann eine 
Garantie dafür bieten, dass die Hypothese Anspruch auf Wahr- 
heit habe: denn die Wirklichkeit und nur die Wirklichkeit ist das 
Ziel 3ller hypothetischen Annahmen. 

Mit den Fiktionen verhält es sich aber ganz anders. Die 
„zwei erforderlichen Stücke der Annehmungswürdigkeit 44 wie bei 
den Hypothesen sind hier keineswegs zu finden. Die Bedingung, 



1) Die erste Bedingung kommt zuletzt auf das Principium contradictionis 
hinaus, die zweite auf das Principium rationis (besser: causae ) suffi dentis: 
d h. eine Hypothese muss die zureichenden Elemente zur kausalen Er- 
klärung der fraglichen Erscheinung enthalten. Bei Erfüllung dieser zwei Be- 
dingungen ist anzunehmen, dass die hypothetische Annahme die causa vera 
(besser: die causae verae) enthalte. 



§ 28. Die Fiktion im Gegensatz zur Hypothese. 607 

der allgemeinen Sitte der Wirklichkeit und den Denkbarkeits- 
gesetzen zu entsprechen, wird hier nicht eingehalten: die Fiktion 
nimmt etwas Unwirkliches oder Unmögliches an. Bei den echten 
Fiktionen, z. B. der des Infinitesimals, ist die Denkbarkeit so 
wenig Bedingung, dass hier vielmehr die Undenkbarkeit Merk- 
mal ist: denn diese fiktiven Begriffe sind widerspruchsvoll und 
enthalten logische Unmöglichkeiten, Dieser Selbstwiderspruch 
zeigt sich in den Antinomien, welche durch Hypostasierung der 
Fiktionen entstehen, wenn man eben Non-Entia imaginaria in 
Entia irrtümlicherweise verwandelt, wovor schon Spinoza in seinen 
Cogit. Metaph. 1, 1 warnt. 

Bei den Semifiktionen, wie wir sie nannten, z. B. bei dem 
Linneschen Systeme, bei der Smithschen nationalökonomischen 
Fiktion, findet eine willkürliche Abweichung von der Wirklichkeit 
statt, welche natürlich bei den daraus gezogenen Konsequenzen 
durch eine Disharmonie mit dem beobachteten Material zum Vor- 
schein kommt. Die abstraktive Methode setzt an Stelle des Kom- 
plexes der wirklichen Ursachen einen Teil, und sie nimmt damit 
strenggenommen etwas an, was sich so nicht wirklich verhält. 
Man sucht durch die Betrachtung der Menschen als rein egoisti- 
scher Wesen, das verwickelte Problem zu erleichtern; man sucht, 
wie Lange sagt, „durch Fingierung eines möglichst einfachen 
Falles" der Wissenschaft eine exakte Form zu geben. Man 
macht „eine willkürliche Voraussetzung" und „weicht von der 
vollen Wirklichkeit in einem sorgfältig bestimmten Sinne ab*. 
Es ist „damit eine Fiktion gewonnen, die in sich selbst wider- 
spruchslos ist". Lange bestimmt damit sehr scharf das Wesen 
der Semifiktion: Abweichung von der Wirklichkeit, ohne in sich 
widerspruchsvoll zu sein, und Willkürlichkeit der Annahme. 
Allein die echten Fiktionen sind damit noch nicht charakterisiert: 
ihr Charakter ist innerer Widerspruch, logische Unmöglichkeit 
und Gewaltsamkeit der Annahme. Dort tut man nur der Wirk- 
lichkeit, hier sogar dem Denken selbst Zwang an. Dort ent- 
spricht die Annahme nur nicht der beobachteten Wirklichkeit, 
hier widerspricht sie sogar dem logischen Gesetz des Wider- 
spruches. 

Jene Willkur und Gewaltsamkeit sind besonders bemerkens- 
werte Seiten dieser ersten Bedingung. Willkürlich und unerlaubt 
ist es offenbar, wenn z. B. Adam Smith von allen anderen Motiven 
abstrahiert und nur den Egoismus zum treibenden Prinzipe macht. 



b08 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



Die causa vera der wirtschaftlichen Vorgänge kann nur in dem 
ganzen Komplex der hier zusammenwirkenden Ursachen 
bestehen. Einen Teil, und sei es auch einen der wichtigsten, für 
das Ganze zu setzen, ist eine willkürliche Alterierung und Ver- 
fälschung der Wirklichkeit; und wenn auch der Egoismus selbst 
keine unwirkliche, sondern vielmehr leider allzuwirkliche Trieb* 
feder ist, so ist doch die Annahme seiner ausschliesslichen Wirk* 
samkeit die Annahme einer unwirklichen Voraussetzung. Der 
Willkürlichkeit bei den Semifiktionen entspricht die Gewaltsamkeit 
der echten, eigentlichen Fiktionen. So sagt ein neuerer Schrift- 
steller von den Allgemeinbegriffen, welche auch Fiktionen sind, 
„dass, je höher die Abstraktion getrieben wird, sie dem Denken 
umsomehr Zwang auferlegen V) 

Dass ein Vorstellungsgebilde gezwungen und gewaltsam ist, 
kann es also noch nicht davon ausschliessen, für uns doch ein 
brauchbares Glied unserer Vorstellungskette überhaupt zu sein. — 

Und damit kommen wir zu dem zweiten Hauptmerkmal der 
Fiktionen, ihrer Brauchbarkeit, Zweckmässigkeit, ja Unentbehr- 
Hchkeit für ein speziell vorliegendes Wirklichkeit- und Denk- 
gebiet. Auch die Hypothesen sind Mittel zu bestimmten Zwecken, 
nämlich zu den Zwecken der theoretischen Wirklichkeits-Erfassung 
und -Erklärung. Die Hypothese ist wissen schaffend, insofern sie 
die realen Zusammenhänge und Ursachen angibt Anders die 
Fiktion. Was die echte Fiktion betrifft, so liegt auf der Hand, 
dass die Erdichtung eines widerspruchsvollen Vorstellungsgebildes 
kein wirkliches Wissen ist. Jhr Nutzen kann daher kein echt 
theoretischer sein, er ist vielmehr nur ein praktischen Welcher 
Art dieser praktische Wert sei, lässt sich hier am ehesten an 
dem mehrfach gebrauchten mathematischen Beispiel klarmachen: 
durch die Fiktion des Infinitesimals wird der praktische Rech- 
nungsvorteil erreicht, dass die krummlinigen Figuren unter die 
Gesetze der geradlinigen gebracht werden können. Es ist darin 
nicht die theoretische Erkenntnis ausgesprochen, dass etwa der 
Kreis ein Vieleck mit unendlich vielen, unendlich kleinen (ge- 
raden) Seiten sei. Dieses Urteil gibt nicht eine Wirklichkeit 
wieder, sondern es setzt vielmehr eine logische Unmöglichkeit. Die 
betreffende Fiktion trägt also zum Verständnis, zur Realerklärung 
nicht das Mindeste bei, sondern nur zur Berechnungsfähigkeit des 



1) Flügel, Probleme der Philosophie S. 136. 



§ 28. Die Fiktion im Gegensatz zur Hypothese. 609 

fraglichen Gebildes, hier des Kreises. Also schafft die Fiktion 
kein Wissen und kein Begreifen, sondern sie ist eine Hilfsvor- 
stellung, welche nur das Berechnen erleichtert und eventuell er- 
möglicht. Dieses Vorstellungsgebilde des Unendlich-Kleinen ist 
daher zweckmässig und für die höhere Mathematik geradezu un- 
entbehrlich. Die Brauchbarkeit der Fiktion ist also eine ganz 
andere als die der Hypothese: jene ist praktisch, diese theo- 
retisch. 

Ähnlich verhält es sich mit den Semifiktionen. Die Smith- 
sche abstraktive Fiktion, als ob die wirtschaftlichen Handlungen 
der Menschen nur vom Egoismus geleitet wären, erleichtert die 
Berechnung der ökonomischen Vorgänge, Da aber bei diesen 
Hilfsmethoden die Wirklichkeit nur alteriert ist (ohne dass man 
sie ganz verliesse, wie bei den echten Fiktionen), so haben diese 
Semifiktionen offenbar auch einen theoretischen Wert, indem sie 
wenigstens einen Teil der wahren Ursachen in Rechnung ziehen. 
Aber insofern sie die wahre und volle Erkenntnis nur hilfsmässig 
vorbereiten, nicht selbst aber Anspruch auf absolute Gültigkeit 
haben, überwiegt bei ihnen doch auch das praktische Inter- 
esse. Sie entsprechen keineswegs der zweiten Hauptbedingung 
der Hypothese: diese verlangt, dass eine Hypothese sämtliche 
Erscheinungen des betreffenden Gebietes vollständig erkläre, so 
dass diese ohne Rest in die theoretische Konstruktion aufgehen. 
Davon ist aber bei den Semifiktionen keine Rede; da im Gegen- 
teil ein Teil der Ursachen absichtlich unterdrückt ist, kann die 
gegebene Wirklichkeit sich nie mit den aus der Fiktion gezogenen 
Konsequenzen decken. 

Die Hypothese muss, wie sich ergab, verifizierbar sein. Sie 
wird in den wissenschaftlichen Vorstellungsbesland endgültig auf- 
genommen, wenn sie bewahrheitet, verifiziert ist. Bei der Fiktion 
kann davon keine Rede sein: etwas von vornherein Unwahres 
kann selbstverständlich auf Verifizierung keinen Anspruch machen. 
Ist aber damit nicht der Einbildungskraft Tür und Tor geöffnet? 
Kann dann nicht das Widersinnigste und Unwahrste sich als Fik- 
tion breit machen? Das Mittel dagegen liegt in der Bestimmung, 
dass eine Fiktion zweckmässig sein muss. Eine Fiktion kann 
nicht durch die Erfahrung bestätigt, aber sie kann gerechtfertigt 
werden durch die Dienste, welche sie der Wissenschaft leistet 
Wenn ein fiktives Vorstellungsgebilde in den Gedankenkreis der 
Wissenschaft eingeführt werden will, kann die Entschuldigung 

39 



610 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



dafür und die Berechtigung dazu nur davon abgeleitet werden 
dass dieses Gebilde wirklich hilfreiche Dienste leistet, dass es sich 
wirklich als ein nützliches Hilfsmittel des diskursiven Denkens er- 
weist. Es rauss sich als ein nützliches Glied der Gedankengesellschaft 
zeigen. Diese Rechtfertigung kann man die Justifizierung 1 ) der 
Fiktion nennen: Fiktionen, welche sich nicht justifizieren lassen, 
d. h. welche sich nicht durch ihre Nützlichkeit Rechtfertigung er- 
werben, sind als wertlose Spielvorstellungen zu kassieren. Die 
Begründung der Nützlichkeit ist bei jeder Fiktion Sache eines 
speziellen Nachweises, Während die Verifizierung einer Hypo- 
these, deren Folgerungen nicht nur mit der gegebenen Wirklich- 
keit übereinstimmen, sondern die auch durch irgend ein anderes 
Beweismittel als sehr wahrscheinlich oder annähernd sicher er- 
wiesen ist, dieselbe eigentlich über sich hinaushebt, indem diese 
dadurch aus dem Stande der blossen Möglichkeit in den Stand 
der sich bis zur Sicherheit steigernden Wahrscheinlichkeit tritt, 
wird die Fiktion durch ihre Rechtfertigung (Justifikation) in den 
Vorstellungsverband als ein nützliches Glied rezipiert Wenn die 
mit Hilfe derselben angestellten Denkrechnungen ein praktisch 
nutzvolles Resultat ergeben, wenn z. B. durch die Infinitesimal- 
methode die Kurven berechenbar werden, wenn die künstlichen 
oder fiktiven Einteilungen eine praktische Ordnung ergeben, 
so sind diese Hilfsvorstellungen gerechtfertigt. „Bewahrheitet" 
aber können sie naturgemäss nicht werden: denn die Leistungen 
der Fiktion sind ganz andere als die der Hypothese: diese nimmt 
durch Mitwirkung der Phantasie eine bis dahin nicht beobacht- 
bare Wirklichkeit vorweg, jene aber bezieht sich nur auf den 
Denkprozess und leistet sonach nur subjektive Dienste. Wenn 
diese Dienstleistung nachgewiesen ist, kann die Fiktion als ge- 
rechtfertigt gelten: ist z. B. nachgewiesen, dass und warum der 
(fiktive) Begriff der Substanz dem Denken Dienste leistet (er er- 
möglicht den Begriff der Veränderung), 2 ) so ist seine Verwendung 
im Denkprozess gerechtfertigt, natürlich nur mit dem Bewusstsein 
seiner Fiktivität. 



1) Jusüfikation" ist ein früher häufig auch auf Hypothesen angewandter 
Ausdruck, Leibniz wendet ihn an für den Beweis, die „klare Bestärkung* von 
Rechtsregeln aus den Worten der dogmatischen Bücher des Römischen Rechts, 
8. „Ratio corporis juris reconcinnandi" 1666 und „Bedenken, welcher Gestalt 
den Mängeln des Justizwesens in theoria abzuhelfen 0 . 

2) s. Avenarius, Philosophie als Denken der Welt. S. 79. 



§ 28. Die Fiktion im Gegensatz zur Hypothese. 



611 



Wie die Hypothese sich der Probe auf die Wirklichkeit des 
in ihr Vorgestellten unterwirft, so die Fiktion der Probe auf dessen 
praktische Brauchbarkeit und Zweckmässigkeit. 

Eine methodisch richtige Fiktion kann nur mit dem Be- 
wusstsein der Unmöglichkeit des darin gesetzten Falles auf- 
gestellt werden. Bei normalen Fiktionen muss dies Bewusstsein 
ausdrücklich ausgesprochen sein. Ist das nicht der Fall, so ist 
das bezügliche Vorstellungsgebilde von dem Erfinder als eine 
Hypothese gedacht und in diesem Falle natürlich eine falsche 
Hypothese: Wenn an Stelle des Bewusstseins der Fiktivität der 
Anspruch auf Faktizität tritt, ist die Fiktion subjektiv genommen 
eine Hypothese, bleibt aber, objektiv und absolut betrachtet, 
natürlich eine Fiktion. Es ist bemerkenswert und leicht erklär- 
lich, dass bei den ersten Urbebern eines solchen Vorstellungs- 
gebildes ein Schwanken zwischen Fiktion und Hypothese statt- 
findet, und umsomehr da, wo keine genügende methodologische 
Besinnung stattfindet. Eine imaginativ gebildete Vorstellung muss 
erst darauf angesehen werden, ob sie fiktiv oder hypothetisch ist. 
Das natürliche Bestreben des Menschen geht dahin, das Gedachte 
unmittelbar für den Ausdruck der Wirklichkeit zu nehmen, in 
den Denkformen Seinsformen zu erblicken. 1 ) Das natürliche un- 
befangene Denken nimmt alle Begriffe und Methoden der subjek- 
tiven Vorstellungswelt für Repräsentanten einer genau entsprechen- 
den Wirklichkeit. Gehört schon eine ziemliche methodologische 
Bildung dazu, um Hypothetisches vom Faktischen abzutrennen, 
so erfordert es noch einen viel stärkeren Scharfsinn, um Fiktionen 
von Hypothesen zu unterscheiden. Das Denken der meisten 
Menschen (inkl. nicht weniger Durchschnittsgelehrter) ist aber bis 
jetzt noch zu grobkörnig und zu stumpf, um diesen Unterschied 
überhaupt zu erfassen, oder, wenn erfasst, dauernd festzuhalten. 
Immerhin aber haben doch die Mathematiker und Juristen durch 
die in ihren Gebieten gebrauchten Fiktionen (so besonders auch 
die Juristen durch die Erörterungen über die Fiktion der 
juristischen Personen) der allgemeinen Annahme des Unter- 
schiedes von Fiktion und Hypothese vorgearbeitet. Auch die Natur- 
forscher, speziell die Entwicklungstheoretiker, haben durch den Streit 
um die von der Wirklichkeit abweichenden schematischen 

I) Es ist, wie wir im folgenden Teil finden werden r ein Hauptverdienst 
Kants, gezeigt zu haben, dass Gedacht-werden-miissen nicht notwendig das 
Sein involviert 



39» 



612 



Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen. 



Zeichnungen das Bewusstsein für jenen Unterschied geschärft. 
Nicht vergessen dürfen wir hier die Theologen, welche seit aHers 
— laut und stillschweigend — zwischen Dogma und Bild, 
zwischen philosophischem Begriff und bewusstem anthro- 
pomorphisti schem Ausdruck unterschieden haben. So ist das, 
was in dieser Schrift gelehrt wurde» hinreichend vorbereitet, und 
auch der nun folgende dritte und letzte Teil wird historische 
Bestätigungen beibringen, und damit hoffentlich der allgemeinen 
Anerkennung unserer mehr der Form, sowie der Begründung und 
Ausdehnung, als der Sache nach neuen Lehre den Boden ebenen. 



Dritter Teil 



Historische Bestätigungen. 



A> Kants Gebrauch der Als-Ob-Betrachtung, 

Unsere bisherigen systematischen Ausführungen waren schon 
vielfach von historischen Belegen durchzogen, und ausserdem 
brachte schon unser erster Teil einen grösseren Abschnitt „Bei- 
träge zur Geschichte der Fiktion und ihrer Theorie« (S, 230—286) 
und der zweite Teil die weiteren Ausführungen „Zur Geschichte 
der Infinitesimal-Fiktion" (S- 532—567). Dieser dritte und letzte 
Teil sei nun den wichtigsten historischen Bestätigungen gewidmet, 
welche die Geschichte der Philosophie für unsere Lehre dar- 
bietet. Hier wäre aus der griechischen Philosophie der Gebrauch 
der Fiktion bei Parmenides (vgl. oben S« 236 ff.) und besonders 
der Gebrauch der Mythen bei Piaton anzuführen (vgl oben 
S. 234 ff., dazu als wesentliche Ergänzung die Ausführungen 
in der Abhandlung; Kant — ein Metaphysiker? in den Philos. 
AbhandL zu Sigwarts 70. Geb, -Tag, Tübingen 1900, sowie in den 
„Kantstudien*, Band VI, S, 115fU Auch die mittelalterliche Lehre 
von der „doppelten Wahrheit* spielt in unser Thema herein und 
noch manches Andere, was schon bisher gelegentlich erwähnt 
worden ist Aber die wichtigste Bestätigung gewährt uns doch 
Kant, dessen Als-Ob-Betrachtung seit mehr als hundert Jahren 
fast unbeachtet und unverstanden geblieben ist. Wir bedienen 
uns zur Darstellung dieser überaus wichtigen Lehre möglichst der 
eigenen Worte Kants, wobei wir uns die Freiheit nehmen, die 
bedeutsamsten Worte und Wendungen durch Sperrung hervor- 
zuheben. 



614 



Dritter Teil; Historische Bestätigungen. 



I. 

Vorbereitendes aus den vorkritischen Schriften. 

Schon in den Gedanken von der wahren Schätzung 
d. lebend. Kr. (1747) finden sich einige sehr beachtenswerte Be- 
merkungen. So heisst es sogleich im § 2: „Ich behaupte aber, 
dass, wenn man dem Körper eine wesentlich bewegende Kraft 
(vim motricem) beilegt, damit man eine Antwort auf die Frage 
von der Ursache der Bewegung fertig habe, so übe man in 
gewissem Masse den Kunstgriff aus, dessen sich die Schullehrer 
[Scholastiker] bedienten, indem sie in der Untersuchung der 
Gründe der Wärme oder der Kälte zu einer vi calorifica oder 
frigifaciente ihre Zuflucht nahmen," Kant sieht also solche Be- 
griffe für nützliche Erdichtungen an und billigt diesen „ Kunst- 
griff*. Einen anderen Kunstgriff wendet Kant ebendaselbst § 26 
an, indem er, unter ausdrücklicher Berufung auf das Leibnizsche 
Gesetz der Kontinuität, die Ruhe als eine sehr kleine Bewegung 
betrachtet. Im § 90 weist Kant darauf hin, dass in der mathe- 
matischen Mechanik „Verhältnisse der Geschwindigkeiten" als 
Linien „vorgestellt* werden können. 

In der Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des 
Himmels (1755) wird am Anfang des 1. Hauptstückes des IL Teils 
darauf hingewiesen, dass die Vorstellung eines „vollkommen leeren 
Raumes* nicht „im allereigentlichsten Verstände* zu nehmen sei; 
Kant betrachtet sie offenbar daselbst nur als eine Hilfsvorstellung. 
Einige Seiten später tritt die Idee auf, dass in dem von wirken- 
den Elementen erfüllten Räume die allgemeine Ruhe nur einen 
Augenblick daure — offenbar wieder nur eine Hilfsvorstellung. 

In der Nova Dilucidatio (1755) heisst es Sect. II, Propos. 
X, in der Anmerkung: Hic secundum sensum comtnunem vim 
impressam, tanquam illatam realitatem, quanquam proprie non sit 
nisi quaedam realitatis insitae limitatio s. directio, concipere liceat, 
also die vis impressa wird gefasst, betrachtet, als ob (tanquam) sie 
-ine vis illata wäre, obgleich sie es in Wirklichkeit (proprie) gar 
nicht ist, („Tanquam* und „proprie* s. auch bei Leibniz, oben 
S. 557.) In der Sect. III, Propos, XII wird eine schematische Fiktion 
gemacht mit den Worten: Fac [hier so viel wie finge], substantiam 
aliquam simplicem, nexu aliarum solutam, solitario existere. 

In dem Entwurf eines Collegii der physischen Geo- 
graphie (1757) wird von den Zirkeln gesprochen, welche in der 



Kants Als-Ob-Betrachtung in den vorkritischen Schriften. 615 



mathematischen Geographie „auf der Erde müssen gedacht werden" 
[Beispiel einer fiktiven Zerlegung. Vgl. oben S. 337 ff.]* 

Der Neue Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe (1758) 
beruht zu einem grossen Teil auf fiktiven Betrachtungen. Gleich 
am Anfang wird davon gesprochen, dass „der mathematische Raum 
leer von allen Geschöpfen als ein Behältnis der Körper" bloss 
B eingebildet" ist. Dann kommt die grundlegende fiktive Betrach- 
tung, indem eben die Ruhe eines Körpers, in Ansehung eines auf 
ihn zukommenden anderen Körpers, als eine Bewegung zu diesem 
hin vorgestellt wird. Infolge dieser Betrachtung verwirft Kant die 
Idee der Trägheitskraft als „ohne Not erdacht", setzt aber die 
folgende sehr wichtige und sehr richtige Bemerkung hinzu: 
„Gleichwohl dient diese angenommene Kraft ungemein geschickt 
dazu, alle Bewegungsgesetze sehr richtig und leicht daraus her- 
zuleiten. Aber hierzu dient sie nur ebenso, wie die Newtonsche 
Anziehungskraft aller Materie zur Erklärung der grossen Be- 
wegungen des Weltbaues, nämlich nur als das Gesetz einer durch 
die Erfahrung erkannten allgemeinen Erscheinung, wovon man 
die Ursache nicht weiss, und welche folglich man sich nicht über- 
eilen muss, sogleich auf eine dahinzielende innere Naturkraft zu 
schieben" — also die Newtonsche Anziehungskraft erkennt Kant 
deutlich als eine blosse Fiktion, wie Newton selbst (vgl. oben 
S. 50). 

Daraufhin folgt eine sehr bedeutsame Kundgebung Kants 
über das „Gesetz der Kontinuität". — Kant will dieses „im 
logischen Sinne* als „eine sehr schöne und richtige Regel zum 
Urteilen* anerkennen und führt, „ohne die Formel dieser Regel 
hier hinzuzusetzen", „einige Beispiele davon" an. „Was da über- 
haupt gilt, wenn ein Körper auf einen anderen bewegten an- 
stösst, das gilt auch, wenn er einen ruhenden trifft: denn die 
Ruhe ist als eine unendlich kleine Bewegung anzusehen." 
Ferner: „wenn ein Kräftemass von der wirklichen Bewegung 
überhaupt gilt, so muss es auch vom blossen Druck gelten; denn 
der Druck kann als wirkliche Bewegung durch einen unendlich 
kleinen Raum angesehen werden." Kant setzt hinzu: „ich be- 
halte mir vor, diese logische Regel der Kontinuität ein andermal 
ausführlich zu erläutern und in ihr gehöriges Licht zu setzen" — 
was leider nicht geschehen ist. Vielleicht hätte Kant gezeigt, wie 
solche fiktiven Vorstellungsarten durch ihre Nützlichkeit gerecht 
fertigt sind, und er hätte damit eine neue und eigenartige 



616 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



Anwendung des alten argumentum ab utili gegeben, von dem 
er zum Beginn der „Träume eines Geistersehers" spricht. 

Von dieser „logischen Regel der Kontinuität* unterscheidet 
nun Kant aber sehr scharf „das physische Gesetz der Kontinuität» 
welches sich niemals beweisen, wohl aber widerlegen lässt". Bei 
dem gewöhnlichen Begriff der Bewegung setzt man „heimlich* 
voraus, ,dass alle Wirkung des anlaufenden Körpers in den 
ruhenden Körper nach und nach vermittelst einer Folge von 
unendlich vielen kleinen Momenten der Drückung geschehe"; der 
anlaufende Körper wird auf den ruhenden „mit gar keiner end- 
lichen Kraft auf einmal wirken, sondern nur durch alle unendlich 
kleine Momente nach und nach" ; aber, „wenn ich vorgebe, dass 
ein Körper in einen anderen niemals mit einem Grade Kraft auf 
einmal wirken könne, ohne alle möglichen kleinen Zwischengrade 
vorher durchzugehen, so sage ich, werde er in ihn gar nicht 
wirken können". „Darum wollen die berühmtesten Naturkundigen 
das Gesetz der Kontinuität nicht einmal als eine Hypothese 
gelten lassen/ 

Der Unterschied, welchen Kant zwischem dem Gesetz der 
Kontinuität als einer unberechtigten willkürlichen „Hypothese* 
im physischen Sinne einerseits und als einer „sehr schönen und 
richtigen Regel im logischen Sinne" andererseits macht, ist genau 
der Unterschied zwischen Hypothese und Fiktion, wie er früher 
festgestellt worden ist Kant verwirft das Gesetz der Kontinuität, 
insofern es eine causa vera sein will; er erkennt es aber als eine 
sehr nützliche Fiktion an, wie übrigens auch schon Leibniz; vgl. 
oben S. 561. 

In demselben Zusammenhang gestattet Kant auch noch die 
Fiktion von absolut harten Körpern: „man darf nicht vorwenden, 
es gäbe gar keine vollkommen harte Körper in der Natur. Denn 
es ist hier genug, sie nur zu gedenken und die Bewegungs- 
gesetze derselben zu bestimmen, weil nur vermittelst derselben 
diejenigen, nach welchen biegsame Körper einander stossen, 
gefunden werden können. Und ausserdem hat doch ein jeglicher 
weicher Körper einen gewissen Grad des Zusammenhanges, mit 
welchem er . , . als ein harter Körper kann angesehen werden. 41 
Vgl, hierzu die oben S. 563 ff. angeführten Verhandlungen zwischen 
Leibniz und Joh. Bernoulli. 

In der Schrift über die Negativen Grössen (1763), fünf 
Jahre später, nimmt Kant dem Gesetz der Kontinuität gegenüber 



Kants Als-Ob-Betrachtung In den vorkritischen Schriften. 617 

eine ganz andere Stellung ein. Hatte er 1758 richtig eingesehen, 
dass Kontinuität im physischen Sinne unmöglich ist, dass es keine 
unendlich kleinen Faktoren in der Natur gibt, und dass die Vor- 
stellung des Unendlich-Kleinen nur ein fiktives Gebilde ist, so 
spricht er jetzt ganz anders. „Der Begriff des Unendlich-Kleinen, 
darauf die Mathematik so öfters hinauskommt, wird [von den 
Metaphysikern] mit einer angemassten Dreistigkeit so geradezu 
als erdichtet verworfen, anstatt dass man eher vermuten sollte, 
dass man noch nicht genug davon verstände, um ein Urteil 
darüber zu fällen. Die Natur selbst scheint gleichwohl nicht 
undeutliche Beweistümer an die Hand zu geben, dass dieser Be- 
griff sehr wahr sei. Denn wenn es Kräfte gibt, welche eine Zeit 
hindurch kontinuierlich wirken, um Bewegungen hervorzubringen, 
wie allem Anschein nach die Schwere ist, so muss die Kraft, die 
sie im Anfangsaugenblicke oder in Ruhe ausübt, gegen die, 
welche sie in einer Zeit mitteilt, unendlich klein sein u. s, w." 
Diese veränderte Stellung erklärt sich vielleicht dadurch, dass 
Kant jetzt in ein antimetaphysisches Stadium eingetreten ist; nun 
aber hatten die Metaphysiker jener Zeit versucht, „aus den Be- 
griffen des Mathematikers nichts als feine Erdichtungen zu 
machen, die ausser seinem Felde wenig Wahres an sich haben". 
Die Spekulation macht der Mathematik „den Vorwurf, als wenn die 
Begriffe, die sie zum Grunde legt, nicht von der wahren Natur 
des Raumes abgezogen, sondern willkürlich ersonnen werden 44 
{ib.)* In diesem Falle hatten die Metaphysiker Recht, und Kant 
Hess sich durch seine neue antimetaphysische Stellungnahme dazu 
verleiten, cliesmal eine richtige Einsicht der alten Metaphysiker 
zu bekämpfet und dafür eine neue Metaphysik des Unendlich- 
Kleinen einzutauschen, welche seinen sonstigen, zum Positivismus 
neigenden Ansichten dieser Periode doch nicht entspricht. Die 
ganze Schrift über die „Negativen Grössen* krankt an diesem 
Mangel: denn auch die fiktive Natur der negativen Grössen ver- 
kennt Kant hier vollständig. 

Im Einzig möglichen Beweisgrund u, s.w. (1763) macht 
Kant in der IL Abt. in der 7. Betrachtung: „Kosmogonie" eine 
sehr hübsche Fiktion, die er eine „erweiterte Aussicht in den In« 
begriff des Universums* nennt: „wenn, anstatt so wenige Planeten 
oder Kometen, einige tausend derselben zu unserer Sonnenwelt 
gehörten, so würde der Tierkreis u. s. w." Diese „Erdichtung, 
in welcher wir nichts weiter als die Menge der Körper unserer 



618 



Dritter Tei) : Historische Bestätigungen. 



Planetenwelt in Gedanken vermehrt haben,* dient als methodolo- 
gische „Vorbereitung* zu weiteren daraus gezogenen Schlüssen 
auf die realen Verhältnisse. 

In derselben Schrift (I, 3) sagt Kant von dem Begriff einer 
„ schlechterdings notwendigen Existenz", er sei kein erdichteter, 
sondern etwas Wahrhaftes; er wollte also diesen Begriff nicht zu 
den notiones deceptrices stellen, wie Leibniz sie nennt, und zu 
denen Kant in den »Betrachtungen über den Optimismus* (1759) 
rechnet: die grösseste unter allen Zahlen, die geschwindeste unter 
allen Bewegungen. Erst später, in der kritischen Zeit, sollte er 
zur Einsicht kommen, dass zwischen realen Begriffen und notiones 
deceptrices ein Mittelreich existiert, die fingierten Begriffe: Vor- 
stellungen, deren Falschheit man ebenso sehr als ihre Nützlich- 
keit und Notwendigkeit einsieht, die echten Fiktionen. 

la der Schrift: „Von dem ersten Grunde des Unterschiedes 
der Gegenden im Räume* (1768) macht Kant die Fiktion, das 
erste Schöpfungsstück sei eine Menschenhand gewesen, eine rechte 
oder linke. 

Auf dem Übergang zur kritischen Zeit steht die Dissertatio 
pro loco vom Jahre 1770, Darin spricht Kant in § 1 davon, 
dass die Mathematik häufig mit notiones arbitrariae operieren 
müsse — ad deducenda tantum inde consectaria confictae — eine 
tiefe Einsicht in die Methode der Mathematik, Im § 15 E heisst 
es vom Begriff des Raum«, vom conceptus spatii, er sei ima- 
ginarius, zugleich aber sei er verissimus. Damit ist die fiktive 
Natur der Raumvorstellung sehr glücklich ausgedrückt. 



IL 

Grundlegendes in den kritischen Hauptschriften. 

In der Kritik der reinen Vernunft (1781) tritt nun nach 
diesen vereinzelten Vorbemerkungen mit einem Male Kants neue 
Lehre so kräftig und rein hervor wie ein starker Quell aus dem 
FelsgeröH im Hochwald, und zwar an derjenigen Stelle, welche 
in jenem unsterblichen Werk als „Transz. Dialektik 0 bezeichnet 
ist. In der „Transz. Ästhetik" und „ Transz. Analytik" kann man, 
wenn man will, auch schon eine Art von Fiktionstheorie finden. 



Kants Als-Ob-Betrachtung in der Kr. d. r. V. 



619 



resp. in dieselben hineinlegen. Denn Raum, Zeit und insbesondere 
die Kategorien sind eine Art von Hilfsvorstellungen, deren sich 
das w Gemut a bedient, um das Empfindungsmaterial systematisch 
zu verarbeiten; jene Vorstellungen sind, trotzdem sie subjektiv 
und damit unwahr sind, doch dazu notwendig, um das Gegebene 
zu fassen. Insofern kann man sie als Fiktionen betrachten; aber 
es fehlt dabei doch den Meisten das Bewusstsein der fiktiven 
Natur dieser Vorstellungen; auch würde diese Betrachtung der 
Kantischen Kategorien nicht ein Auslegen, sondern ein Hinein- 
legen und Unterlegen bedeuten. Man kann zu dem Letzteren 
sich berechtigt glauben, aber dann muss man es auf eigene Rech- 
nung tun. 1 ) Auf das Konto von Kant selbst kommt aber seine 
Lehre von den Ideen in der Transz, Dialektik. Diese wunderbare 
Lehre Kants wird vielfach nicht richtig aufgefasst, weil Kant selbst, 
nach seiner stilistischen Eigenart, seine Lehre unter allerlei Ver- 
klausulierungen vorträgt, in immer neuen Wendungen, und doch 
dabei mit unzähligen Wiederholungen, die dazu teilweise unter- 
einander nicht einmal harmonieren. Wir stellen im Folgenden 
den Kern der Lehre scharf und klar heraus und so kurz wie über- 
haupt möglich. 

Man muss von vornherein den richtigen Gesichtspunkt für 
Kants Ideenlehre gewinnnen, indem man die klassisch e Stelle 
an die Spitze stellt, welche sich in der Methodenlehre findet, in 
dem Abschnitt: „Die Disziplin der reinen Vernunft in Ansehung 
der Hypothesen 0 . *) Daselbst werden gleich nach dem Anfang die 
„Vernunftbegriffe* als „blosse Ideen als „heuristische Fik- 
tionen" bezeichnet und ausdrücklich von den Hypothesen 
unterschieden. „Hypothesen" werden „mit dem, was wirklich 
gegeben und folglich gewiss ist, als Erklärungsgrund in Ver- 
knüpfung gebracht". Wenn in der Reihe der empirisch gegebenen 
Daten eine Lücke ist, so haben wir das Recht, diese Lücke durch 
ein angenommenes Wirkliches, dessen empirische Möglichkeit durch 
seinen Zusammenhang mit dem Übrigen verbürgt ist, auszufüllen, 
und damit machen wir eine wissenschaftlich berechtigte Hypo- 
these. Die Vernunftbegriffe (speziell die substantielle Seele und 

1) Vgl. oben S. 286-327. 

2) Die Stellen aus der Kr. d. r. V. sind nach den Abschnitten resp, Ab- 
sätzen zitiert, welche in jeder Ausgabe wiedergegeben sind. Spezielle Zitate 
erfolgen nach der Paginierung der beiden Originalauflagen A und B, welche 
jetzt in den meisten Ausgaben angegeben sind. 



620 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



der persönliche Gott) sind aber blosse Ideen ohne einen Gegen- 
stand, gehören nicht in jene Reihe der empirischen Daten hinein, 
und dienen nur dazu, dem »systematischen Verstandesgebrauch 
im Felde der Erfahrung" als „regulatives Prinzip - zu dienen — 
sie sind „heuristische Fiktionen*. Kant selbst nennt in 
diesem Zusammenhang ausdrücklich als Beispiele die „unkörper- 
liche Einheit der Seele und das Dasein eines höchsten Wesens 14 ; 
solchen Vernunftideen Realität zuzuschreiben, würde zu »hyper- 
physischen* Erklärungsgründen führen; aber uns sind nur solche 
Hypothesen erlaubt, wobei wir „nach schon bekannten Gesetzen 
der Erscheinungen" das Angenommene mit dem Gegebenen, nach 
den »Bedingungen möglicher Erfahrung" „in Verknüpfung setzen" 
können. Solche Hypothesen sind jene Ideen nicht, sie sind 
eben nur — heuristische Fiktionen. 1 ) Vgl oben S. 54 ff. 

Würde man diese klassische Stelle immer vor Augen 
gehabt haben, so hätte man die ganze Ideenlehre von vornherein 
besser verstanden. Wir wollen diese Lehre nun, vom Anfang der 
Transz. Dialektik an, in Kürze verfolgen und von jenem Gesichts- 
punkt aus beleuchten. 

In dem Ersten Einleitenden Abschnitt der Transz. 
Dialektik, in welchem Kant den Namen „Ideen 4 * einführt und 
rechtfertigt, spricht er nur vorbereitend und andeutend, 2 ) aber in 
einer Stelle doch schon recht entschieden 8 ) (A 328, B 335); wir 



1) Dies hat auch schon Maimon erkannt Vgl. oben S. 273, 282, Erst 
in jüngerer Zeit ist diese Einsicht wieder erwacht und in glänzend klarer 
Weise ausgesprochen worden von Ernst Lehmann in der Schrift: Idee und 
Hypothese bei Kant (Leipz. Dissert. von 1908). 

2) Eine sehr bedeutsame und auch sehr deutliche Vorbereitung auf das, 
was von den Ideen Gott, Unsterblichkeit u. s. w. zu sagen ist, liegt in Kants 
Äusserungen über die Platonische ldeenlehre: die „reine Idee der Tagend* 
habe ein Jeder „bloss in seinem eigenen Kopfe', und nirgends und niemals 
lasse sich ihr etwas Adäquates in der Erfahrung nachweisen; das „beweist 
aber gar nicht etwas Chimärisches in diesem Gedanken": also jener Begriff 
ist, trotzdem er der Erfahrung widerspricht und insofern falsch ist, doch ein 
nützlicher und praktisch-notwendiger Begriff; solche Begriffe („Erkenntnisse") 
sind „keineswegs blosse Hirngespinste*, sondern haben .ihre Realität", (Über 
diese praktische „Realität" s. unten S. 625, 628 und Abschn. IV, S. 653). 
An der empirischen Realität gemessen sind jene Begriffe falsch, aber sie sind 
zweckmässige, notwendige Fiktionen. Dasselbe zeigt Kant daselbst auch an 
der utopischen Fiktion (vgl. oben S. 36, 234) des Platonischen Staates. 

3) Klar und entschieden sind in jenem Abschnitt auch die Stellen über 
den „transzendentalen Schein", die „natürliche und unvermeidliche Illusion 6 



Kants Als-Ob-Betrachtung in der Kr. d. r. V. 



621 



„müssen von den transzendentalen Vernunftbegriffen sagen* : „sie 
sind nur Ideen", d. h. nur Vorstellungen ohne Gegenstand. 
Aber sie sind darum „nicht überflüssig und nichtig"; denn sie 
„können dem Verstände zum Kanon seines Gebrauchs dienen, 
dadurch er zwar keinen Gegenstand mehr erkennt, als er nach 
seinen Begriffen erkennen würde, aber doch in dieser Erkenntnis 
besser und weiter geleitet wird* — sie sind also heuristische 
Fiktionen, 

Aus Gründen, welche sich nachher erhellen werden, müssen 
wir das II. Hauptstück: Die Antinomie der reinen Vernunft, 
hier vor das I. Hauptstück stellen. Im 8. Abschnitt führt 
Kant eine neue Bezeichnung für dasjenige ein, was er an der 
oben angeführten Stelle später „heuristische Fiktionen" nennt: er 
nennt die Ideen „regulative Prinzipien der reinen Vernunft"; sie 
seien nicht „konstitutive" Prinzipien der Vernunft, d. h, sie geben 
keine Möglichkeit objektiver Erkenntnis weder innerhalb noch 
ausserhalb der Erfahrung, sondern sie dienen „bloss zur Regel* 
für den Verstand, indem sie ihn leiten, wie er seinen Weg inner- 
halb des Erfahrungsgebietes einschlagen soll, indem sie ihm ima- 
ginative Richtpunkte vorhalten, nach denen er sich richten soll, die 
er aber nie erreichen kann, weil sie überhaupt ausser aller Wirk- 
lichkeit liegen (Kant nennt die Idee in diesem Sinne an einer 
anderen, noch zu erwähnenden Stelle einen locus imaginarius). 
„Die Vernunftidee (der absoluten Totalität) wird also nur der 
regressiven Synthesis in der Reihe der Bedingungen eine Regel 
vorschreiben, nach welcher sie vom Bedingten, vermittelst aller 
einander untergeordneter Bedingungen, zum Unbedingten fort- 
geht, obgleich dieses niemals erreicht wird. Denn das schlecht- 
hin Unbedingte wird in der Erfahrung gar nicht angetroffen»" 

Was damit gemeint ist, erhellt aus einer anderen, hierher 
gehörigen Stelle, im „Anhang zur transzendentalen Dialektik", in 
dem Abschnitt „Von der Endabsicht der natürlichen Dialektik der 



welche in den Vernunftbegriffen (Gott, Unsterblichkeit u. s. w.) steckt. Aber so 
bedeutend und bedeutsam diese Kantische Illusionstheorie ist, so kommt sie für 
uns doch deshalb hier nicht in Betracht, weil bei der Behandlung der Ideen als 
Illusionen der positive Gesichtspunkt fehlt, der bei der Behandlung derselben 
alsFiktionen unerlässlich ist: dass sie nämlich, wenn auch falsche, so doch zweck- 
mässige und nützliche Vorstellungen sind, also eben heuristischen Wert haben. 
Es kommt hier nicht darauf an, dass die Ideen Schein sind, sondern darauf» 
dass sie nützlicher Schein sind. 



622 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



menschlichen Vernunft"; da heisst es A 672, B 700: „Wir müssen 
(in der Kosmologie) die Bedingungen sowohl der inneren, als 
der äusseren Naturerscheinungen in einer solchen nirgends zu 
vollendenden Untersuchung verfolgen, als ob dieselbe an sich 
unendlich sei u, s, w, tt und ferner heisst es A 684—86, B 712—14: 
Die absolute Totalität der Reihen der Bedingungen in der Ab- 
leitung der Glieder ist eine Idee, „die zur Regel dient, wie wir 
in Ansehung derselben verfahren sollen, nämlich in der Erklärung 
gegebener Erscheinungen (im Zurückgehen oder Aufsteigen) so» 
als ob die Reihe an sich unendlich wäre, d. i. in indefinitum.* 
An einer Stelle der Antinomienlehre, in dem 3. Abschnitt: „Vom 
Interesse der Vernunft bei diesem ihrem Widerstreit 14 heisst es 
dazu erläuternd in einer Anmerkung zu A 472, B 500: schon 
Epikur habe wahrscheinlich den Grundsatz des absoluten Regres- 
sus nicht als objektive Behauptung, sondern nur als Maxime des 
spekulativen Vernunftgebrauchs vorgetragen: „dass man in Er- 
klärung der Erscheinungen so zu Werke gehen müsse, als ob 
das Feld der Untersuchung durch keine Grenze oder Anfang der 
Weit abgeschnitten sei", das sei ein noch jetzt sehr richtiger, aber 
wenig beobachteter Grundsatz. 

Sehr beachtenswert ist nun aber die Fortsetzung der erst- 
zitierten Stelle aus dem Anhang zur transzendentalen Dialektik 
(A 685, B 713), betreffs der kosmologischen Idee der Totalität; 
dieselbe Idee der absoluten Totalität leitet umgekehrt in anderem 
Zusammenhang zur Fiktion eines absoluten Anfanges, nämlich 
da, „wo die Vernunft selbst als bestimmende Ursache betrachtet 
wird (in der Freiheit), also bei praktischen Prinzipien", da müssen 
wir so verfahren, «als ob wir nicht ein Objekt der Sinne, sondern 
des reinen Verstandes vor uns hätten, wo die Bedingungen nicht 
mehr in der Reihe der Erscheinungen, sondern ausser derselben 
gesetzt werden können, und die Reihe der Zustände angesehen 
werden kann, als ob sie schlechthin (durch eine intelligible 
Ursache) angefangen würde*. 

Dieses findet wiederum seine Erläuterung durch einige Stellen 
aus der Antinomienlehre selbst, speziell in dem Abschnitt: „ Er- 
läuterung der kosmologischen Idee einer Freiheit" u. s. w.; da 
heisst es A 555 ff.» B 583 ff.: bei Beurteilung irgend einer Tat 
eines Menschen könne man von allen psychologischen Bedin- 
gungen dieser Tat absehen, man könne diese empirischen Be- 
dingungen „gänzlich bei Seite setzen*, »und die verflossene Reihe 



Kants Ais-Ob-Betrachtung in der Kr. d. r. V» 



623 



von Bedingungen als ungeschehen, diese Tat aber als gänzlich 
unbedingt in Ansehung des vorigen Zustandes ansehen, 
als ob der Täter damit eine Reihe von Folgen ganz von selbst 
anhebe". Und immer wieder wird daselbst wiederholt, dass man 
das so ansehen könne, dürfe und müsse, dass es aber objektiv 
nicht so sei; es wird damit „nicht die Wirklichkeit der Freiheit 
dargetan", sondern diese „wird hier nur als transzendentale Idee 
behandelt* — also nur als heuristische Fiktion. 

Die Fiktion der Freiheit der Seele leitet uns nun bequem 
über zur Fiktion der Seele selbst. In dem dem Seelenproblem 
gewidmeten I. Hauptstück der Transz. Dialektik: Von den Para- 
logismen der reinen Vernunft wird dieser Standpunkt fast nur 
indirekt und nur andeutungsweise eingenommen. 1 ) Das gilt auch 
von der Darstellung der 2. Auflage, in welcher (B 421) ein ein- 
ziges Mal der fiktive Standpunkt in bezug auf das Seelen- und 
Unsterblichkeitsproblem zur Geltung kommt: Kant spricht von 
unserer ethischen Lebensaufgabe; unser sittliches Bestreben, „wenn 
es gleich auch nur immer auf Gegenstände der Erfahrung ge- 
richtet ist, nimmt seine Prinzipien doch höher her und bestimmt 
das Verhalten so, als ob unsere Bestimmung unendlich weit über 
die Erfahrung, mithin über dieses Leben hinausreiche\ Diese 
Fiktion ist natürlich nur möglich auf Grund der Annahme einer 
„unkörperlichen Seele", und diese Annahme ihrerseits ist selbst, 
wie wir genauer sehen werden, für Kant ihrerseits auch nur eine 
Fiktion. 

Dagegen kommt die Natur des Seelenbegriffs als regulative 
Idee im Anhang zur transzendentalen Dialektik, zusammen mit 
der Gottesidee, sehr klar und deutlich zum Vorschein, wo diese 

1) Nur in folgenden Stellen drückt die 1. Auflage sich klar und ent- 
schieden aus: am Schluss des ersten Paralogismus (A 351) heisst es von dem 
Satz: „Die Seele ist Substanz", man könne ihn, trotzdem er als Paralogismus 
durchschaut sei T doch „gar wohl gelten lassen, wenn man sich nur bescheidet, 
dass uns dieser Begriff nicht im mindesten weiter führe . . dass er also nur 
eine Substanz in der Idee, aber nicht in der Realität bezeichne*; und A366, 
am Schluss des dritten Paralogismus: „so wie der Begriff der Substanz und 
des Einfachen, ebenso kann auch der Begriff der Persönlichkeit . . . 
bleiben, und sofern ist dieser Begriff auch zum praktischen Gebrauche nötig 
und hinreichend", wohlbemerkt nur „zum praktischen Gebrauch", bes. zum 
ethischen, nicht aber zu theoretischen Zwecken, z, B. zur Widerlegung des 
Materialismus: ausdrücklich wird gesagt (A 356), dass es jenen Begriffen hierzu 
„an Realität des objektiven Gebrauchs mangelt*. 



624 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



beiden Ideen fast immer als zusammengehöriges Paar behandelt 
werden. Was von der Gottesidee gesagt wird, wird auch mutatis 
mutandis auf die Seelenidee angewandt. So heisst es A 671, 
B 699: Der psychologischen Idee gemäss „wollen wir alle Er- 
scheinungen, Handlungen und Empfänglichkeit unseres Gemüts 
an dem Leitfaden der inneren Erfahrung so verknüpfen, als ob 
dasselbe eine einfache Substanz wäre, die mit persönlicher Iden- 
tität beharrlich existiert« u. s. w. Vgl. ferner A 682, B 710: „Das 
erste Objekt einer solchen Idee bin ich selbst, bloss als denkende 
Natur (Seele) betrachtet" „Hierbei hat die Vernunft nichts anderes 
vor Augen als Prinzipien der systematischen Einheit in Erklärung 
der Erscheinungen der Seele, nämlich: alle Bestimmungen als in 
einem einigen Subjekte, alle Kräfte, soviel als möglich, als ab- 
geleitet von einer einigen Grundkraft, allen Wechsel als gehörig 
zu den Zuständen eines und desselben beharrlichen Wesens zu 
betrachten" u« s. w. „Jene Einfachheit der Substanz u. s. w. 
sollte nur das Schema 1 ) zu diesem regulativen Prinzip sein, und 
wird nicht vorausgesetzt, als sei sie der wirkliche Grund 
der Seeleneigenschaften/ Es handle sich eben um eine „blosse 
Idee", aber „aus einer solchen psychologischen Idee kann nun 
nichts anderes als Vorteil entspringen 4 ' u. s. w. — Kant weist 
hier wieder deutlich auf die Nützlichkeit der Seelenfiktion 
hin. Die aus dieser Fiktion entspringenden Vorteile werden auf- 
gezählt, und dann heisst es: „welches alles durch ein solches 
Schema, als ob es ein wirkliches Wesen wäre, am besien, 
ja sogar einzig und allein bewirkt wird * . 

Der Kantischen Einteilung entsprechend verfolgen wir nun die 
Gottesidee in dem Abschnitt über „Das Ideal der reinen Ver- 
nunft" (A 567fi, B 595ff.). Da heisst es sogleich im Einleitungs- 
abschnitt, ein Ideal sei etwas, was „nur in Gedanken existiert*, 
z.B. das Ideal eines Weisen; auch spricht Kant daselbst von 
den schematischen Durchschnitte-Fiktionen, indem er von „einer 
im Mittel verschiedener Erfahrungen gleichsam schwebenden 
Zeichnung* spricht; vgl, oben S. 34.. Im 2. Abschnitt wird von 
„dem transzendentalen Ideal* speziell gesprochen, d. h. von der 
Gottesidee als dem Ideal der omnitudo realitatis; A 580, B 608: 
„Die Vernunft legt diese Idee nur als den Begriff (von Kant 
selbst gesperrt] von aller Realität der durchgängigen Bestimmung 

1) Über diesen Ausdruck vgl. unten S. 628. 



Kants Als-Ob-Betrachtung in der Kr. d. r. V. 



625 



<ier Dinge überhaupt zum Grunde, ohne zu verlangen, dass alle 
diese Realität objektiv gegeben sei, und selbst ein Ding 
ausmache. Dieses Letztere ist eine blosse Erdichtung, 
durch welche wir das Mannigfaltige unserer Idee in einem Ideale, 
als einem besonderen Wesen zusammenfassen und realisieren, 
wozu wir keine Befugnis haben, sogar nicht einmal die Möglich- 
keit einer solchen Hypothese geradezu anzunehmen* u. s. w. 
„Wie kommt die Vernunft dazu, alle Möglichkeit der Dinge als 
abgeleitet von einer einzigen, die zum Grunde liegt, nämlich der 
höchsten Realität, anzusehen" u. s, w. Es ist „eine natürliche 
Illusion wenn wir die Abhängigkeit des empirischen Einzel- 
dinges „von dem Inbegriff aller empirischen Realität" in dieser 
Weise „hypostasieren" und „personifizieren" in „einem besonderen 
Urwesen*. „Dieses Ideal des allerrealsten Wesens , . . ist eine 
blosse Vorstellung", wie es in der Schlussanmerkung heisst. 

Wie es dann im Anfang des dritten Abschnittes heisst, 
A583, B611, bemerkt die Vernunft „doch das Idealische und 
bloss Gedichtete einer solchen Voraussetzung viel zu leicht, als 
dass sie dadurch allein überredet werden sollte, ein blosses Selbst- 
geschöpf ihres Denkens sofort für ein wirkliches Wesen anzuneh- 
men**. Die Vernunft glaubt dogmatische Beweise für die Realität 
eines solchen Wesens zu haben, für das Recht, „eine blosse Vor- 
stellung zu realisieren", aber diese Beweise sind alle hinfällig, 
wie Kant in seiner Widerlegung der Gottesbeweise ausführt. 

Daraufhin suchen sich Manche damit zu behelfen, dass 
sie die Gottesidee als „unerforschlich" hinstellen. Aber Kant 
bemerkt dazu im fünften Abschnitt (A 614, B 642): „Ein Ideal 
der reinen Vernunft kann nicht unerforschlich heissen, weil es 
weiter keine Beglaubigung seiner Realität aufzuweisen hat, als 
das Bedürfnis der Vernunft, vermittelst desselben alle synthetische 
Einheit zu vollenden. Da es also nicht einmal als denk- 
barer Gegenstand gegeben ist, so ist es auch nicht als solcher 
unerforschlich; vielmehr muss es, als blosse Idee, in der Natur 
der Vernunft seinen Sitz und seine Auflösung finden und also 
erforscht werden können.** 

Diese Stelle enthält eine Desavouierung der traditionellen 
Darstellung der Kantischen Ideenlehre: Kant habe in der Kr. d. 
t. V. die Unerforschlichkeit der intelligibeln Welt gelehrt, dagegen 
in der Kr, d. pr. V. die Realität der auf dieselbe bezüglichen Ideen 
Gott, Freiheit und Unsterblichkeit auf moralischem Wege bewiesen. 

40 



625 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



Was das Letztere betrifft, so werden wir hierüber im Abschn. IV 
zu reden haben. Was aber das Erstere betrifft, so zeigt die obige 
Stelle, dass Kant hier wenigstens nichts von der „Unerforschlich- 
keit" Gottes wissen wollte, von der er allerdings sonst manchmal 
redet: der Begriff Gottes, wie der ganzen intelligibeln Welt, ist 
von unserer Vernunft gemacht, also muss er auch von derselben 
Vernunft durchschaut und aufgelöst werden können. 

Im Anhang zu jenem fünften Abschnitt (Entdeckung und 
Erklärung des dialektischen Scheins u. s. w., A 615 ff., B 643 ff.) 
heisst es wieder von dem Begriff einer notwendigen, höchsten 
Realität, es sei „ein natürlicher Schein", wenn man denselben, 
d. h. „dasjenige, was doch nur Idee sein kann, realisiert und 
hypostasiert 11 . Der Grundsatz, zu allem Existierenden einen not- 
wendigen ersten Grund zu suchen, ist bloss „ heuristisch und 
regulativ u ; er sagt: „ihr sollt so über die Natur philosophieren, 
als ob es zu Allem, was zur Existenz gehört, einen notwendigen 
ersten Grund gäbe, lediglich, um systematische Einheit in eure 
Erkenntnis zu bringen*. Zusammenfassend sagt dann Kant da- 
selbst: „das Ideal des höchsten Wesens ist nach dieser Betrach- 
tung nichts anderes, als ein regulatives Prinzip der Vernunft, 
alle Verbindung in der Natur so anzusehen, als ob sie aus einer 
allgenügsamen notwendigen Ursache entspränge 41 u« s, w. 1 ) „Es 
ist nicht die Behauptung einer an sich notwendigen Existenz. 
Es ist aber zugleich unvermeidlich, sich, vermittelst einer trans- 
zendentalen Subreption, dieses formale Prinzip als konstitutiv vor- 
zustellen und sich diese Einheit hypostatisch zu denken" (gerade 
so, wie der Raum, der doch nur ein Prinzip der Sinnlichkeit sei, 
für einen für sich bestehenden Gegenstand gehalten werde). 

Im sechsten Abschnitt (A 623, B 651) wird ausdrücklich die 
„Zuträglichkeit", also Nützlichkeit dieser Idee für unsem Vernunft- 
gebrauch innerhalb der Erfahrung hervorgehoben — die Nütz- 
lichkeit erkannten wir als das charakteristische Merkmal der 
Fiktionen. 

Dann folgt der „Anhang der transzendentalen Dialek* 
tik", zuerst der Abschnitt: „Vom regulativen Gebrauch der Ideen 



1) In demselben Zusammenhang steht der merkwürdige Satz: „Wir 
können die Erscheinungen der Welt ♦ . . immer getrost von anderen ableiten, 
als ob es kein notwendiges Wesen gäbe, und dennoch zu der Vollständigkeit 
der Ableitung unaufhörlich streben, als ob ein solches als ein oberster Grund 
vorausgesetzt wäre*. 



Kants Als-Ob-Betrachtung in der Kr. d> r. V. 627 



der reinen Vernunft* (A 642 ff., B 670 ff.); da heisst es gleich am 
Anfang von den Ideen, „sie haben einen vortrefflichen und unent- 
behrlich notwendigen regulativen Gebrauch, nämlich den Ver- 
stand zu einem gewissen Ziele zu richten, in Ansehung auf 
welches die Richtungslinien aller seiner Regeln in einen Punkt 
zusammenlaufen, der, ob er zwar nur eine Idee (focus ima- 
ginarius), d. h. ein Punkt ist, aus welchem die Verstandesbegriffe 
wirklich nicht ausgehen, indem er ganz ausserhalb der Grenzen 
möglicher Erfahrung liegt, dennoch dazu dient, ihnen die grösste 
Einheit neben der grössten Ausbreitung zu verschaffen \ Dies 
wird in verschiedenen Wendungen nachher wiederholt. 1 ) 

Darauf folgt der Schlussabschnitt: „Von der Endabsicht der 
natürlichen Dialektik der menschlichen "Vernunft 11 (A 668 ff., 
B 696 ff.), worin sich wieder viele entscheidende Stellen finden. 

Von besonderer Bedeutung sind zunächst die drei ersten Ab- 
sätze. Kant will das naheliegende Missverständnis zurückweisen, 
dass die in der Dialektik in ihrer Nichtigkeit nachgewiesenen 
Ideen nur Täuschungen, nur Blendwerke seien, also wertlos, ja 
schädlich. Nein, sie haben trotzdem „ihre gute und zweckmässige 
Bestimmung" — die Zweckmässigkeit dieser Vorstellungen, das 
Merkmal der echten Fiktionen wird wieder betont In dem Nach- 
weis dieser Zweckmässigkeit liegt das, was Kant ihre „Deduktion" 
nennt, d. h. den Nachweis ihres Rechtsgrundes; ihre „Rechtferti- 
gung 1 *, wie es im 3. Abs. heisst, also ihre Justifikation, wie wir das 
früher S, 150, 610 nannten, oder, wie es im 11. Abs. heisst, „ihre 
Richtigkeit wird bewährt". Damit wird gezeigt, dass sie „nicht 
bloss leere Gedankengänge sind". Das könnte man missverstehen. 
„Gedankendinge " sind und bleiben sie, daran kann ihre Deduk- 
tion nichts ändern ; wohl aber kann eine solche Deduktion zeigen, 
dass sie nicht leere Gedankendinge sind, d. h. wertlose, wie das 



1) In diesem Abschnitt, in dem Kant mit so grosser Schärfe und Klarheit 
die Ideen einerseits als eine „Illusion hinter der Spiegelfläche" erkennt (also 
als einen zweckmässigen und schönen Betrug der Natur), findet sich dann 
doch wieder andererseits eine recht unklare Vermischung solcher Fiktionen 
mit Hypothesen; so wenn „reine Erde, reines Wasser, reine Luft", welche doch 
tatsächlich chemisch hergestellt werden können, als Vernunftbegriffe, die aber 
„doch nötig" sind, bezeichnet werden, so wenn „das Aligemeine", das „eine 
blosse Idee ist", doch wieder als „problematisch" und als „hypothetisch* 
bezeichnet wird; auch die von der Vernunft gesuchte „Einheit" wird bald 
„hypothetisch" genannt, bald „eine blosse Idee". Der ganze Abschnitt ent- 
stammt offenbar einer älteren Aufzeichnung Kants. 

40* 



628 



Dritter Teil; Historische Bestätigungen, 



von vielen anderen Gedankendingen gilt; sie sind also wertvolle, 
bedeutsame Gedankendinge (vgl. unten S. 631); sie sind also eben 
wichtige heuristische Fiktionen, nicht Fiktionen im schlimmen 
Sinne, sondern im guten. Dieser Nachweis ist „die Vollendung 
des kritischen Geschäftes der reinen Vernunft". 

Wenn sie so «deduziert 11 sind, so zeigt sich, dass sie „im 
mindesten einige, wenn auch unbestimmte, objektive Gültigkeit 
haben". Diese Wendung des 2. Abs. ist äusserst beachtenswert; 
sie findet ihre Erläuterung im 3. Abs.; da heisst es: „der Begriff 
einer höchsten Intelligenz ist eine blosse Idee, d. h. seine objek- 
tive Realität soll nicht darin bestehen, dass er sich geradezu auf 
einen Gegenstand bezieht (denn in solcher Bedeutung wurden 
wir eine objektive Gültigkeit nicht rechtfertigen können), sondern 
er ist nur ein nach Bedingungen der grössten Vernunfteinheit 
geordnetes Schema 1 ) von dem Begriff eines Dinges überhaupt, 
welches nur dazu dient, um die grösste systematische Einheit 
im empirischen Gebrauch unserer Vernunft zu erhalten u. s. w. tt 
(Forts» s. unten S. 630). Also darin besteht nun die eigenartige 
„objektive Realität" dieser Ideen; sie haben eine gewisse Realität, 
aber nur eine heuristisch-praktische. Man beachte sehr wohl 
diesen Gebrauch des Ausdruckes: „objektive Realität* der Ideen 
an dieser Stelle, denn bald nachher, im 5. Abs. hat Kant selbst, 
nach seiner leidigen Gewohnheit, diese klaren Bestimmungen 
verdunkelt; da macht er einen Unterschied zwischen den kos- 
mologischen Ideen und der psychologischen und theologischen 
Idee, und meint, den Letzteren könne niemand „ihre objektive 
Realität bestreiten, da er von ihrer Möglichkeit ebensowenig weiss, 

1) Der Gebrauch des Ausdruckes Schema in diesem Zusammenhange 
bei Kant, den wir schon oben S. 624 trafen, ist von den Kantinterpreten bisher 
nicht untersucht worden. Wohl ist Kants Lehre vom Schematismus in der 
Transz. Analytik viel behandelt, aber die parallele Lehre in der Transz. Dialek- 
tik ist ganz unbeachtet geblieben. Das Schema ist hier die Veranschaulichung 
der abstrakten Idee in einer gedachten konkreten Substanz und in Bezug auf 
die Gottesidee dasselbe, was oben als Ideal im Gegensatz zur Idee bezeichnet 
worden ist. Das Schema ist, wie es am Anfang des 3. Abs. heisst, „ein Gegen* 
stand in der Idee"; besser hiesse es: der gedachte Gegenstand der Idee, oder, 
wie es im 6. Abs. heisst, „das der Idee korrespondierende Ding"; dieses „Wesen* 
(das sogar „wirkliches", d. h, gedacht-wirkliches heisst) »wird nur in der Idee 
und nicht an sich selbst zum Grunde gelegt". In demselben Sinn sagt der 
9. Abs., man muss „die Idee realisieren*, d. h. eben einen ihr korrespondierenden 
Oedanken in Gedanken annehmen; „dieses transzendentale Ding ist bloss das 
Schema jenes regulativen Prinzips* 1 (Abs. 13). Vgl. oben S. 36 Anm, 



Kants Als-Ob-Betrachtung in der Kr. d. r. V. 



629 



um sie zu verneinen, als wir, um sie zu bejahen". Aber damit 
ist der erstere Gedankengang ganz verschoben, welchem gemäss 
allen Ideen eine .unbestimmte, objektive Gültigkeit resp. Realität* 
zukam, die eben in ihrer — Zweckmässigkeit bestand; und Kant 
kommt in demselben Absatz nochmals auf denselben Gedanken 
zurück, indem er sagt: „also sollen sie an sich selbst nicht an- 
genommen werden, sondern nur ihre Realität als eines Schema 
des regulativen Prinzips" u. s. w. Leider wird, um die Verwirrung 
zu mehren, dann im 7. Abs. wieder die „objektive Realität 41 eines 
Vernunftbegriffes im absolut-theoretischen, statt im relativ-heuri- 
stisch-praktischen Sinne gebraucht. So auch wieder im 9. Abs., 
wo es heisst, „die Bedingungen der objektiven Realität meiner 
Begriffe sind durch die Idee selbst ausgeschlossen" — ganz rich- 
tig: ist ein Begriff einmal als „Idee** erkannt, so ist damit auch 
ausgeschlossen, dass ihm objektive Gültigkeit im absoluten 
Sinne zukomme. — Die berühmte dritte Möglichkeit ist hier 
in der Tat „ausgeschlossen" eben durch die Merkmale des 
NuMdeeseins. Aber jene rein praktische „objektive Realität 11 der 
Ideen, von der oben die Rede war, bleibt für Kant bestehen: in 
demselben 9. Abs. macht Kant den „subtilen Unterschied" zwischen 
der relativen und der absoluten Annahme: die erstere, die „suppo- 
sitio relativa", bezieht sich auf die Ideen und ihre Gültigkeit nur 
für uns, nicht an sich. In diesem Sinne ist das in den Ideen zum 
Ausdruck kommende „Prinzipium einer systematischen Einheit 
auch objektiv, aber auf unbestimmte Art (principium vagum)", 
obgleich nach demselben Absatz die Ideen der Vernuft nur „sub- 
jektiv als Maximen", „nicht objektiv zu einem Grundsatz" dienen 
können. In jenem Sinne „ bleibt die Idee [welche doch einen 
nichtigen Gegenstand bezeichnet] immer richtig" (A 694, B 722); 
trotzdem wir also der Idee eines höchsten Wesens nicht „schlecht- 
hin objektive Gültigkeit erteilen dürfen", sind wir doch „berech- 
tigt", von dieser Idee, „welche sich die Vernunft zum regulativen 
Prinzip ihrer Naturforschung machen muss", „Gebrauch zu 
machen"; „ihn", den Urgrund der Welteinheit, „oder vielmehr 
seine Idee", 1 ) können und sollen wir so „brauchen"; in diesem 

1) Diese bemerkenswerte Stelle, zusammen mit den vielen anderen, oben 
zitierten, lehrt: Wenn man die so beliebte und auch durchaus berechtigte Wen- 
dung beibehalten will, Kant habe die Notwendigkeit der Gottesidee 
nachgewiesen, so ist nicht zu betonen, wie das bisher immer geschah: die 
Notwendigkeit der Gottesidee, sondern: die Notwendigkeit der Gottesidee, 



630 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



praktischen Gebrauch „habt ihr die Bestätigung der Rechtmässig* 
keit eurer Idee" (A 696 ff., B 724 ff.). Vgl. unten S. 653. 

Wir kehren zum Anfang der „Endabsicht" zurück, da sind 
die Eingangsworte des 3. Abs. wieder besonders bemerkenswert: 
„Es ist ein grosser Unterschied, ob etwas meiner Vernunft als ein 
Gegenstand schlechthin; oder nur als ein Gegenstand in der 
Idee gegeben wird. In dem ersten Fall gehen meine Begriffe 
dahin, den Gegenstand zu bestimmen; im zweiten ist es wirklich 
nur ein Schema, dem direkt kein Gegenstand, auch nicht ein- 
mal hypothetisch, zugegeben wird, sondern welches nur dazu 
dient, um andere Gegenstände vermittelst der Beziehung auf diese 
Idee, nach ihrer systematischen Einheit, mithin indirekt uns vor- 
zustellen." Und von diesem „Gegenstand in der Idee" heisst es 
dann nachher, er diene dazu, „unter seiner Leitung die . . . Ver- 
knüpfung der Gegenstände der Erfahrung überhaupt zu suchen"; 
[heuristische Fiktion]. Weiter heisst es: „ obgleich u die Ideen 
auf keinen Gegenstand bezogen werden können, seien sie „den- 
noch" als Regeln des empirischen Verstandesgebrauches nütz- 
lich, ja es sei „eine notwendige Maxime der Vernunft, nach 
dergleichen Ideen zu verfahren". Also kürzer: obgleich diese 
Ideen gegenstandslos (und in dieser Hinsicht falsch) sind, sind sie 
dennoch wertvoll — sie sind echte Fiktionen in unserem Sinne. 

Ebendaselbst heisst es weiter: „der Begriff einer höchsten 
Intelligenz ist eine blosse Idee"; „dieses Schema dient nur dazu, 
um die grösste systematische Einheit im empirischen Gebrauch 
unserer Vernunft zu erhalten, indem man den Gegenstand der 
Erfahrung gleichsam von dem eingebildeten Gegenstande 
dieser Idee, als seinem Grunde oder Ursache, ableitet. Alsdann 
heisst es z. B., die Dinge der Welt müssen so betrachtet werden, 
als ob sie von einer höchsten Intelligenz ihr Dasein hätten. Auf 
solche Weise ist die Idee eigentlich nur ein heuristischer und 
nicht ostensiver Begriff" u. s. w. 

In dem unmittelbar darauffolgenden Absatz („Ich will dieses 
deutlicher machen") wird der Ausdruck als ob wieder mehrfach 
in demselben Sinne wiederholt, 1 ) speziell in Beziehung auf die 

denn es handelt sich ja um „eine blosse Idee". Also ist der Ton auf die beiden 
letzten Silben zu legen: eine Tonverschiebung, welche zugleich die völlige 
Verschiebung des Gesichtspunktes kennzeichnet, von dem aus Kants Lehre 
zu betrachten ist 

1) Einige Stellen sind schon oben S. 622, und S. 624 zitiert 



Kants Als-Ob-Betrachtung in der Kr. d. r. V. 



631 



theologische Idee: „wir müssen alles, was nur immer in den 
Zusammenhang der möglichen Erfahrung gehören mag, so be- 
trachten, als ob diese eine absolute . . , Einheit ausmache, 
. . . zugleich aber, als ob der Inbegriff aller Erscheinungen (die 
Sinnenwelt selbst) einen obersten . . . Grund . . . habe, nämlich 
eine gleichsam selbständige, ursprüngliche und schöpferische 
Vernunft, . . . als ob die Gegenstände selbst aus jenem Urbilde 
aller Vernunft entsprungen wären 11 u* s, w.; man „solle, wie man 
die inneren Erscheinungen nicht von einer einfachen denkenden 
Substanz, sondern von der Idee einer solchen ableiten dürfe, so 
auch die Weltordnung nicht von einer höchsten Intelligenz, sondern 
von der Idee einer solchen ableiten*, d, h. man dürfe sich dieser 
Begriffe als heuristischer Fiktionen bedienen. 

Dann heisst es im 5. Abs. gemeinsam von der Seelenidee und 
von der Gottesidee: „es kann uns nicht erlaubt sein, Gedanken- 
wesen 1 ) ... als wirkliche und bestimmte Gegenstände einzu- 
führen. Also sollen sie an sich selbst nicht angenommen werden, 
sondern nur ihre Realität als eines Schema des regulativen Prin- 
zips der systematischen Einheit aller Naturerkenntnis gelten, mit- 
hin sollen sie nur als Analoga 2 ) von wirklichen Dingen, aber 
nicht als solche an sich selbst zum Grunde gelegt werden" . . 
von einem „ Gedankenwesen " (» idealischen Wesen") wissen 
wir natürlich nichts sonst auszusagen, da es ja nur „Erdich- 
tung* ist, aber „wir denken uns doch ein Verhältnis von ihm 
zu dem Inbegriff der Erscheinungen, das demjenigen analogisch 
ist, welches die Erscheinungen untereinander haben*. Und von 

1) Kants bis jetzt fast nicht beachtete Lehre von den „Gedankenwesen" 
ist von mir auseinandergesetzt worden in den „ Philosophischen Abhandlungen, 
Chr. Sigwart zu seinem 70. Geb.-Tag gewidmet", Tübingen, Mohr, 190O, S. 133 
bis 158: „Kant — ein Metaphysiker ? Ä (Auch separat; vgL dazu meine 
ergänzende Abhandlung in den „Kantstudien 11 , Bd, VII, S. 116—117 mit den 
Schlussworten: »Kant — ein Metaphoriker".) Diese Abhandlung ist eine 
wesentliche Ergänzung der obigen Ausführungen, Das 3 Gedanken wesen" 
(auch gelegentlich „ Vernunftwesen" genannt) ist identisch mit dem Ens Talionis, 
das am 'Schluss der Transz. Analytik als Erstes in der wenig beachteten 
„Tafel der Einteilung des Begriffs von Nichts* 4 steht Also: Gedanken- 
wesen = NichtsI 

2) Hier zeigt sich recht deutlich, dass, wie oben S. 164 gelehrt wurde, 
die Fiktionen oder wenigstens viele derselben auf der Analogie beruhen. 
Dißser Gesichtspunkt spielt, wie wir sehen werden, bei Kant eine grosse Rolle 
und in diesem Sinne ist das oben angeführte Schlagwort gemeint: „Kant — ein 
Metaphoriker*. 



632 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



dem Gottesbegriff heisst es dann gleich darauf noch spezieller: 
„er gibt nur die Idee von Etwas an die Hand, worauf alle 
empirische Realität ihre höchste und notwendige Einheit gründet 
und welches wir uns nicht anders als nach der Analogie einer 
wirklichen Substanz, welche nach Vernunftgesetzen die Ursache 
aller Dinge sei, denken können". In derselben Weise heisst es 
im 9* Abs.: „ich werde mir also nach der Analogie der Reali- 
täten in der Welt, der Substanzen, der Kausalität und der Not- 
wendigkeit ein Wesen denken, das alles dieses in der höchsten 
Vollkommenheit besitzt; „unter dem Schutz eines solchen Ur- 
grundes kann ich systematische Einheit des Mannigfaltigen am 
Weltganzen . , . möglich machen, indem ich alle Verbindungen 
so ansehe, als ob sie Anordnungen einer höchsten Vernunft 
wären". Dann im 12. Abs.: „Dieses Vernunftwesen ist nun zwar 
eine blosse Idee, und wird also nicht schlechthin und an sich 
selbst als etwas Wirkliches angenommen, sondern nur problema- 
tisch 1 ) zum Grunde gelegt . . um alle Verknüpfung der Dinge 
der Sinnenwelt so anzusehen, als ob sie in diesem Vernunft- 
wesen ihren Grund hätten, lediglich aber in der Absicht, um 
darauf die systematische Einheit zu gründen, die der Vernunft 
unentbehrlich, der empirischen Verstandeserkenntnis aber auf alle 
Weise beförderlich . . . sein kann* (womit wieder von Kant 
das Merkmal der Nützlichkeit der Fiktion herausgehoben wird; 
gleich nachher im 13. Abs. spricht er in diesem Sinne von der 
„so heilsamen Einheit* 1 ). 

Diese Grundsätze werden in den folgenden 3 Absätzen (14, 
15, 16) auf die drei metaphysischen Hauptgebiete angewendet 
Die Als-Ob-Stellen betreffend der Seerenidee sind schon oben 
S. 624 zitiert, die auf die Kosmologie bezüglichen oben S. 622. 
In Bezug auf die theologische Idee heisst es in demselben Zu- 
sammenhang (A 686, B714) noch einmal: Die Idee Gottes, „sowie 
alle spekulativen Ideen, will nichts weitersagen, als dass die 
Vernunft gebiete, alle Verknüpfung der Welt nach Prinzipien einer 
systematischen Einheit zu betrachten, mithin als ob^sie ins- 
gesamt aus einem einzigen allbefassenden Wesen als oberster und 
allgenugsamer Ursache entsprungen wären 11 u. s. w. Es handelt 
sich dabei um „nichts als" eine subjektiv-formale Regel unserer 
eigenen Vernunft 



1) Vgl hierzu oben S. 595. 



Kants Als-Ob-Berrachtung in der Kr. d. i\ V. 



635 



Mit Betonung des teleologischen Gesichtspunktes heisst e& 
daselbst weiter: „das spekulative Interesse der Vernunft macht es 
notwendig, alle Anordnung in der Welt so anzusehen, als ob 
sie aus der Absicht einer allerhöchsten Vernunft entsprossen wäre"; 
diese Betrachtung könne „der Vernunft jederzeit nützen 44 ; 1 ) 
„wir können auf diesem Wege eine Menge von Entdeckungen 
machen* (z. B. bezüglich „der Figur der Erde, der Gebirge und 
Meere"). Die Voraussetzung, dass alles zweckmässig eingerichtet 
sei — die Voraussetzung des „teleologischen Zusammenhanges* — 
ist „nichts als ein regulatives Prinzip der Vernunft, um 
zur höchsten systematischen Einheit vermittelst der Idee der zweck- 
mässigen Kausalität der obersten Weltursache, und als ob diese, 
als höchste Intelligenz, nach der weisesten Absicht die Ursache 
von allem sei, zu gelangen" — der Charakter der Gottesidee als 
eine heuristische Fiktion ist damit sehr glücklich ausgedrückt. 
Kant zeigt dann weiter, dass man diese Idee aber nicht aus einem 
bloss regulativen Prinzip in ein konstitutives verwandeln dürfe, 
sonst verfalle man dem Vorwurf der „faulen Vernunft" (ignava 
ratio) und der „verkehrten Vernunft" (perversa ratio). 

Zusammenfassend heisst es dann zum Schlüsse wieder: man 
dürfe sich ein solches göttliches Wesen „nach einer Analogie 
mit den Gegenständen der Erfahrung denken", „aber nur als 
Gegenstand in der Idee"; ja, „wir können in dieser Idee gewisse 
Anthropornorphismen, 8 ) die dem gedachten regulativen Prinzip 
beförderlich sind, ungescheut und ungetadelt erlauben, denn es ist 
immer nur eine Idee" u. s. w. Jenes Wesen „ist nun nach der 
Analogie mit einer Intelligenz gedacht"; aber „es ist lediglich 
ein Wesen in der Idee, das wir denken". So darf ich denn 
in diesem Sinne „zweckähnliche Anordnungen als Absichten an- 
sehen, indem ich sie vom göttlichen Willen , , . ableite"- „Ich 
lege nur die Idee eines solchen Wesens zum Grunde, um nach 



1) Wenn diese Betrachtung nicht, wie Kant verlangt, kritisch-fiktiv 
sondern dogmatisch angestellt wird, so wird sie aus einer berechtigten Vemunit- 
maxime ein „Irrtum"; aber in dieser Hinsicht „kann selbst der Irrtum uns nicht 
schaden", wie Kant daselbst sagt, in dessen Augen die Voraussetzung des 
nexus finaiis also ein unschädlicher, ja ein nützlicher Irrtum ist 

2) Kant warnt vor der „transzendentalen Illusion", das, „was nur in der 
Idee zum Grunde . . gelegt wird", „hypostatisch" vorauszusetzen und „anthro- 
pomorphistisch" zu bestimmen. Er warnt also nur vor dem dogmatischen, 
ernsthaften Anthropomorphismus im Gegensatz zum kritischen, spielenden. 



634 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



der Analogie einer Kausalbestimmung die Erscheinungen als 
systematisch untereinander verknüpft anzusehen." 

Ganz zuletzt heisst es dann: „Eben daher sind wir auch 
berechtigt, die Weltursache in der Idee . . . nach einem sub- 
tileren Anthropomorphismus, . . . nämlich als ein Wesen, 
das Verstand, Wohlgefallen und Missfallen, ingleichen eine der- 
selben gemässe Begierde und Willen hat u. s. w., zu denken.* 
„Das regulative Gesetz der systematischen Einheit will, dass wir 
die Natur so studieren sollen, als ob allenthalben ins Unendliche 
systematische und zweckmässige Einheit bei der grössten Mannig- 
faltigkeit angetroffen würde," Diese Betrachtungsweise sei „vor- 
teilhaft" — wieder der Hinweis auf die Nützlichkeit, das charak- 
teristische Merkmal aller Fiktionen 1 

Diese grundlegenden Ausführungen erhalten dann nochmals 
eine wertvolle, definitive Bekräftigung in der „Transzenden- 
talen Methodenlehre, speziell in dem Abschnitt: „Die Dis- 
ziplin der reinen Vernunft in Ansehung der Hypothesen". 
In diesem Abschnitt findet sich jene klassische Stelle, welche 
wir schon oben S. 619 angeführt haben; da werden die Ideen 
ausdrücklich als heuristische Fiktionen bezeichnet und ganz 
klar und haarscharf von den „Hypothesen" geschieden; letztere 
sind Annahmen von Gegenständen, welche mit den empirischen 
Erscheinungen in eventuell nachweisbarer Verknüpfung stehen, 
und die so zur Erklärung und Ergänzung der fragmentarischen 
Erfahrung dienen, also von Gegenständen, deren Wirklichkeit 
annehmbar ist. Die Ideen dagegen sind Vernunftbegriffe ohne 
Gegenstand, blosse Gedankenwesen, welche nur dazu dienen, 
unseren Verstand in gewisser Hinsicht zu leiten, also eben nicht 
Annahmen eines Wirklichen wie die Hypothesen, sondern An- 
nahmen eines Unwirklichen, mit dem Bewusstsein dieser Unwirk- 
Hchkeit — also eben „heuristische Fiktionen". 

Zu solchen Vernunftideen, welche eben darum keine berech- 
tigten Hypothesen sind, sondern als Hypothesen ganz unberech- 
tigt wären, gehört nach derselben Stelle z, B. die als Fiktion sehr 
wohl berechtigte Annahme eines „Verstandes, der vermögend ist, 
seinen Gegenstand ohne Sinne anzuschauen" — also der intui- 
tive Verstand resp. die intellektuelle Anschauung 1 ) wird hier deutlich 

1) Vgl. hierzu oben S. 270 u. ö. Aus der Kantischen Fiktion einer in- 
tellektuellen Anschauung machten dann Sendling und seine Anhänger ein Dogma. 
Diesen Sachverhalt hat Thiele in seiner Monographie über „Kants intellektuelle 



Kants Als-Ob-ßetrachtung in der Kr d. r. V. 



635 



als eine blosse methodische Fiktion gekennzeichnet; 1 ) in dem- 
selben Satz werden als solche Fiktionen noch aufgeführt die Idee 
einer Substanz, „die ohne Undurchdringlichkeit im Raum gegen- 
wärtig wäre 41 , also die Idee der Seele und damit zusammen- 
hängend die Idee einer übersinnlichen „Gemeinschaft der Sub- 
stanzen** , die Idee einer „Gegenwart anders als im Räume*, die 
Idee einer „Dauer anders als bloss in der Zeit" — also das ganze 
Begriffsrüstzeug der alten Dogmatil Dies Alles sind also nach 
Kants grundlegender Einsicht keine berechtigten Hypothesen, wohl 
aber methodisch nützliche „heuristische Fiktionen 44 . 2 ) 

Die Idee der Seele wird dann noch speziell herausgehoben 
als eine besonders nützliche heuristische Fiktion: „die Seele sich 
als einfach denken, ist ganz wohl erlaubt, um nach dieser Idee 8 ) 
eine vollständige und notwendige Einheit aller Gemütskräfte, ob 
man sie gleich nicht in concreto einsehen kann, zum Prinzip 
unserer Beurteilung ihrer inneren Erscheinungen zu legen. Aber 
die Seele als einfache Substanz anzunehmen 4 ) (ein transzen- 
denter Begriff) wäre ein Satz, der nicht allein unerweislich (wie 
es mehrere physische Hypothesen sind), sondern auch ganz will- 
kürlich und blindlings gewagt sein würde" — also wieder eine 
haarscharfe Unterscheidung der erlaubten methodischen Fiktion 
von der Hypothese. Und so werden daselbst immer wieder 
„blosse Ideen der Vernunft 11 = Fiktionen von „transzendentalen 
Hypothesen" scharf geschieden. 

Betreffs der Fiktion der Seele findet sich sodann in dem 
Abschnitt „Die Disziplin der reinen Vernunft in Ansehung 
ihrer Beweise" noch eine sehr bemerkenswerte Stelle, um so 
bemerkenswerter, als sie bis jetzt noch nie so recht bemerkt 

Anschauung" (1876) verkannt Richtig dagegen erkennt Dreyer, Der Begriff 
„Geist" von Kant bis Hegel, Kantstudien, Ergänzungsheft No. 7, S. 34 den 
Begriff als .eine nützliche Fiktion". 

1) Eine solche methodische Fiktion Kants ist auch das berühmte „Be- 
wusstsein überhaupt*, s. oben S. 270f. Vgl. H. Amrhein, Kants Lehre vom 
„Bewusstsein überhaupt" und ihre Weiterbildung bis auf die Gegenwart, Kant- 
studien, Ergänzungsheft No. 10. Berlin 1909, mit einem Geleitwort von 
H. Vaihinger, bes. V-VII und S. 88—93. 

2) Kant sagt nur das Erstere ausdrücklich, nicht das Letztere, das sich 
aber aus dem Zusammenhang unzweideutig ergibt. 

3) Von Kant selbst gesperrt. 

4) An dieser Steile drückt das von Kant selbst gesperrte „annehmen" 
einfe Hypothese aus. An anderen Stellen unten S. 637, 644, 646 u. ö. bezieht 
sich „annehmen" auf Fiktionen. 



636 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



worden ist. Kant spricht daselbst (A 784, B 812) von dem 
Schluss „aus der Einheit der Apperzeption" auf „die einfache 
Natur unserer denkenden Substanz 44 und nennt diesen Schluss 
einen Paralogismus, der dadurch entstehe, dass man „das Ein- 
fache in der Abstraktion* und das „Einfache im Objekt* mitein- 
ander verwechsle. Zur Erläuterung dafür führt er folgendes aus; 
„Wenn ich mir die Kraft eines Körpers in Bewegung vorstelle, 
so ist er insofern für mich absolute Einheit und meine Vor- 
stellung von ihm ist einfach; daher kann ich diese auch durch 
die Bewegung eines Punktes ausdrücken, weil sein Volumen 
hierbei nichts tut, und ohne Verminderung der Kraft so klein, 
wie man will, und also auch als in einem Punkt befindlich 
gedacht werden kann, 44 Hieraus werde ich aber doch nicht 
schliessen, dass, wenn mir nichts als die bewegende Kraft eines 
Körpers gegeben ist, der Körper als einfache Substanz gedacht 
werden könne, darum, weil „seine Vorstellung von aller Grösse 
des Raumesinhalts abstrahiert und also einfach ist 44 

Dieser Vergleich ist nun äusserst lehneich. Denn Kant ruft 
hier als Beispiel die bekannte 1 ) Fiktion herbei, wonach die Be- 
wegungskraft eines Körpers als in einem Punkt vereinigt gedacht 
wird — eine bekannte methodische Fiktion der mathematischen 
Physik. Mit vollem Bewusstsein, mit völliger methodischer 
Klarheit entwickelt Kant hier das Wesen dieser abstraktiven 
Fiktion und zieht nun hieraus die Nutzanwendung auf die Vor- 
stellung der einfachen Seelensubstanz, die ihm also nebst allen 
daraus folgenden Konsequenzen (Freiheit, Unsterblichkeit, „Ge- 
meinschaft der Heiligen 44 ) schlechterdings nichts ist als — eine 
blosse methodische Fiktion. 

In einem späteren Abschnitt: «Von dem Ideal des höch- 
sten Guts u. s. w. tt wird speziell die Vorstellung einer intelligibeln, 
moralischen Welt freier, sittlich handelnde Geister, also „eines 
corpus mysticum der vernünftigen Wesen 41 (also ganz entsprechend 
der religiösen Vorstellung einer Gemeinschaft der Heiligen oder 
einer unsichtbaren Kirche, vgl. oben S. 578) — „eine blosse, aber 
doch praktische Idee 44 genannt, „die wirklich ihren Einfluss auf 
die Sinnenwelt haben kann und soll, um sie dieser Idee so viel 
als möglich gemäss zu machen 0 . Es ist dies also nichts als eine 
methodische Fiktion der Ethik. 



1) Vgl. oben S. 105 ff., 451 ff., und unten S. 642. 



Kants Als-Ob-Betrachtung in der Kr, d. r. V. 



637 



Eine Variation dieser Idee ist die Vorstellung »einer intelli- 
gibeln, d. L moralischen Weit 4 * in dem Sinne, dass in solcher Welt 
das „System der mit der Moralität verbundenen proportionierten 
Glückseligkeit" herrsche, das „System der sich selbst lohnenden 
Moralität (dasselbe, was dann späterhin Fichte — zugleich aus 
der kritischen Fiktion ein unkritisches Dogma machend — „die 
moralische Weltordnung* genannt hat). Auch das „ist nur eine 
Idee", die selbst nur wieder durch eine besondere Fiktion er- 
möglicht ist, nämlich, dass „alle Handlungen vernünftiger Wesen 
so geschehen, als ob sie aus einem obersten Willen, der alle 
Privatwillkür in sich oder unter sich befasst, entsprängen". 

Die Idee eines solchen obersten Willens, der dann Würdig- 
keit und Glückseligkeit ausgleicht, ist „das Ideal des höchsten 
Gutes", die letzte und oberste Idee, d. h. die oberste aller Fik- 
tionen, die wiederum identisch ist mit der Gottesidee oder „dem 
Begriff eines einigen Urwesens als des höchsten Gutes", wie es 
nachher heisst. 1 ) 

Dann heisst es in demselben Abschnitt weiter: „wir müssen 
uns als zu einer solchen Welt gehörig vorstellen", „wir müssen 
dieselbe als eine für uns [d. h. als an die Anschauungsform dei 
Zeit gebundene sinnliche Wesen] künftige Welt annehmen", 
„wir müssen eine solche Welt als eine künftige ansehen", „wir 
müssen uns im Reiche der Gnaden sehen" — das „ist eine prak- 
tisch notwendige Idee der Vernunft", d, h. 'also nach demjenigen, 
was wir nun über die Ideen wissen, das ist eine heuristische Fik- 
tion, eine zu ethischen Zwecken nützliche Hilfsvorstellung, 

Dass es sich dabei aber nur um fiktive Hilfskonstruktionen 
handelt, das geht endlich noch deutlich aus dem Schluss des- 
selben Abschnittes hervor: wir dürfen „uns nicht unterwinden", 
aus dem Begriff eines höchsten Wesens „die moralischen Gesetze 
abzuleiten"; dies wäre „schwärmerisch oder wohl gar frevelhaft" ; 
d. h. wir könnten nur dann die moralischen Gesetze aus dem 
Gottesbegriff ableiten, wenn es sich dabei um eine causa vera 
handeln würde» Da es sich aber nur um eine fiktive Vor- 
stellung handelt, so können wir auch aus ihr nichts realiter 



1) In diesem Zusammenhang (A 813, B 841) entschlüpft Kant eine sehr 
charakteristische Wendung: darnach ist auch „das moralische Gesetz" selbst 
„eine blosse Idee" — eine sehr bemerkenswerte SteNe. Das ganze AI oral- 
gesetz — nur eine Ideel Welch weite Perspektive eröffnet sich uns dal 



638 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



ableiten. Aus einer Hypothese könnte man etwas und unter Um- 
ständen sehr viel ableiten, aus einer Fiktion — nichts. Deshalb 
ist sie doch eine nützliche und brauchbare, ja notwendige und 
unentbehrliche — Idee, aber eben auch „nur eine Idee". 

Eine wichtige Ergänzung hierzu bietet nun endlich der 
Abschnitt: „Vom Meinen, Wissen und Glauben*. Dieser 
Abschnitt ist allerdings zum Teil in sich, zum Teil mit dem Vor- 
hergehenden widersprechend, wahrscheinlich ein aus früherer Zeit 
stammender, dort eingeschobener Entwurf; allein wir halten uns, 
unter Weglassung des Unstimmigen, an dasjenige, was in unseren 
Zusammenhang hineinpasst und hineingehört. Kant lehnt (A 827, 
B 855) ab, auf die Vernunftideen den Ausdruck „Hypothesen" 
anzuwenden: „Wenn ich das bloss theoretische Fürwahrhalten hier 
auch nur Hypothese nennen wollte [d. h. wenn ich auf die Ideen 
statt den Ausdruck „Wissen" sogar auch bloss den Ausdruck 
„Hypothesen" anwenden wollte], die ich [als real] anzunehmen 
berechtigt wäre, so würde ich mich dadurch schon anheischig 
machen, mehr von der Beschaffenheit einer Weltursache und einer 
anderen Welt Begriff zu haben, als ich wirklich aufzeigen kann; 
denn was ich auch nur als Hypothese annehme, davon muss ich 
wenigstens seinen Eigenschaften nach soviel kennen, dass ich 
nicht seinen Begriff, sondern nur sein Dasein erdichten 
[d. h. hypothetisch annehmen] darf. Das Wort Glauben aber 
geht nur auf die Leitung, die mir eine Idee gibt, bei welcher 
nämlich auch der Begriff selbst erdichtet ist" (vgl. zur 
Erläuterung A 770, B 798), Also „die Voraussetzung, dass eine 
höchste Intelligenz Alles nach den weisesten Zwecken geordnet 
habe" u. s. w. — alle diese Vorstellungen, welche doch „blosse 
Ideen" sind, will Kant auch als „Glauben" bezeichnen. 1 ) Also in 
diesem Sinne, in diesem Zusammenhang ist Glaube so viel als 
die Annahme, als ob etwas wäre, was nicht wirklich ist und 
nicht wirklich sein kann. Nicht nur Kant nennt hier diese fik- 
tiven Annahmen „Glauben" — auch rückwärts aus der Geschichte 
der Religionen, speziell aus der Geschichte der Mystik, Iässt sich 
durch viele Beweise erhärten, dass auch umgekehrt vielfach 
vielen Gläubigen ihre Glaubenswelt nur eine bewusste Selbst- 

1) Über Kants Begriff des Glaubens vgl. oben S. 598. Vgl. die Schrift 
von Dr E. Sänger, Kants Lehre vom Glauben, Leipzig, Dürr, 1903 (bes. S. 28, 
105, 138), mit einem „Geleitwort* von H. Vai hinger, welches eine wesent- 
liche Ergänzung zu den obigen Ausführungen enthält 



Kants Als-Ob-Betracbtung in der Kr. d. r. V. 



639 



täusch ung, d. h. eben eine Welt von bewussten Fiktionen war 
— und noch heute ist 

Mit diesem Ausblick schliessen wir die Analyse der Kritik 
der reinen Vernunft, und bemerken noch ausdrücklich, dass in 
der vorstehenden Analyse nur diejenigen Stellen herausgezogen 
und erörtert sind, welche für unsere Theorie der Fiktion sprechen. 
Aber bei Kant finden sich in demselben Zusammenhange auch 
vielfach Stellen, welche eine entgegengesetzte Auslegung zulassen, 
ja fordern. Kant hat sich bekanntlich sehr vielfach widersprochen; 
dass diese vielfachen Selbstwidersprüche kein Gegenbeweis gegen 
seine Grösse sind, ist nur dem Philister unverständlich. Man ver- 
gleiche hierzu die weiteren Ausführungen in meiner Abhandlung: 
Kant — ein Metaphysiker? (Tübingen, Mohr, 1900), sowie in den 
, Kantstudien * Band VI, S. 115 1 Es liegt eben in Kants Ent- 
wicklung und im ganzen Zeitmilieu begründet, dass bei Kant 
(wie bei vielen grossen Männern, z. B. Luther, Bismarck) zwei 
Strömungen vorhanden sind, eine kritische und eine dogmatische, 
eine revolutionäre und eine konservative. Die beiden Seelen 
Kants liegen manchmal bei ihm im Streite, und so finden sich 
auch viele Stellen bei Kant, in denen er seinen kritischen Stand- 
punkt abschwächt. Vgl oben S. 269 ff., 599. 

So haben wir denn in Kants kritischem Hauptwerk die 
Grundlegung seiner AI s-ob- Lehre verfolgt Nach den eben 
merklichen Vorbereitungen der Lehre in der vorkritischen Zeit 
steigt diese Doktrin mit einem Male mächtig und frisch ans Licht 
wie ein Springquell. Es wäre von Wert und Reiz, die Entstehung 
dieser bis jetzt so wenig beachteten und noch gar nie hinreichend 
gewürdigten Lehre Kants in ihre zeitgenössischen Einflüsse zurück- 
zuverfolgen; speziell bietet dazu die Lehre von der „symbolischen 
Erkenntnis" bei den Logikern jener Zeit (auch bei Lambert) — ein 
heute ganz vergessenes Kapitel — viel wertvolles Material. Vgl. 
oben S. 43. Aber nicht das ist jetzt unsere Aufgabe, sondern 
die Weiterverfolgung dieser interessanten Lehre bei Kant selbst. 



Zu diesem Zweck nehmen wir die Prolegomena (1783) vor, 
in denen wir aber in dieser Hinsicht eine bemerkenswerte Variation 
der Lehre Kants antreffen. Es kommen .aus den Prolegomena 
nur die beiden §§ 57 und 58 in Betracht, in dem Abschnitt:, „Von 
der Grenzbestimmung der reinen Vernunft". Kant hat vorher^ 



640 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



in den §§ 40—56 die Transz, Dialektik seiner Kr. d, r. V. rekapi- 
tuliert, sehr kurz und sehr im „populären Auszug" — denn alle 
Feinheiten seiner Ideenlehre sind in diesem Auszug verloren ge- 
gangen; ein vergröbertes Bild sieht uns an. Dass es sich in der 
Transz. Dialektik um solche Begriffe handelt, welche „blosse 
Ideen* sind, tritt ganz zurück; nur selten findet sich die letztere 
Wendung (so z. B. § 44 Schluss, § 46 Anhang, § 56 «blosse Ge- 
danken wesen"). Eine ganz besondere Vergröberung seiner Lehre 
findet sich in der Bezeichnung des Gottesbegriffes als einer .not- 
wendigen Hypothese* im § 55, während doch Kant in dei Kr. d. 
r. V. die Ideen als „heuristische Fiktionen" haarscharf von den 
Hypothesen geschieden hatte. Man sieht also, dass Kant die 
Prolegomena allerdings nur für Anfänger und für den Anfang des 
Studiums der kritischen Philosophie bestimmt hat 

Dieselbe Vergröberung tritt nun auch in den beiden §§57 
und 58 hervor. Kant spricht hier fast ausschliesslich nur von 
der Gottesidee; aber mit Rücksicht auf sein Leserpublikum 
av&Qmnov) lässt er hier die Wendung, dass dieser Begriff „eine 
blosse Idee" sei, ganz zurücktreten, d. h. die Einsicht, dass schon 
der Begriff eines einheitlichen Urwesens überhaupt nur fiktiv ist, 
„nur eine Idee". Hier, in den Prolegomena, wird zwar nicht für 
ihn selbst, aber für seine Leser aus dieser »heuristischen Fiktion" 
— eine notwendige Hypothese; und nun handelt es sich nur 
noch darum, wie man sich dieses als real anerkannte Urwesen 
im Verhältnis zur Welt vorstellen soll, d. h. inwieweit man ihm 
menschliche Prädikate geben darf, und nur in Bezug auf das 
Letztere wird nun hier das Als ob eingeführt. In der Kr. d. r. 
V. waren — wenigstens in den oben angeführten Stellen — so- 
wohl die Existenz als die Eigenschaften Gottes fingiert. 
Jet2t, in den Prolegomena, wird vorsichtigerweise für das weitere 
und doch noch nicht weit genug fortgeschrittene Publikum die 
Fiktivität nur auf die Eigenschaften angewendet, dagegen die 
Existenz als selbstverständlich vorausgesetzt, wenn auch wieder- 
um nicht ohne einiges Schwanken. Immerhin kann und 
muss der Unterschied der beiden Darstellungen — in der Kr. d. 
r V. und in den Prolegomena — in dieser Weise gefasst werden. 
Dies erhellt am besten aus der folgenden Stelle im § 58, in dem 
die „notwendige Hypothese" wiederkehrt: „Wenn man uns nur 
anfangs ... als eine notwendige Hypothese den deistischen 
Begriff des Urwesens einräumt, in welchem man sich das 



Kants Als-Ob-Betrachtung in den Prolegomena, 



641 



Urwesen durch lauter ontologische Prädikate der Substanz, Ursache 
etc. denkt, . , . so kann uns nichts hindern, von diesem Wesen 
eine Kausalität durch Vernunft in Ansehung der Welt zu 
prädizieren, und so zum Theismus überzuscbreiten, ohne eben 
genötigt zu sein, ihm diese Vernunft an ihm selbst als eine ihm 
anklebende Eigenschaft beizulegen". So legen wir also dem 
Urwesen die menschliche Eigenschaft der Vernunft (ferner der 
Liebe, des Wohlwollens u. s. w.) bei, „aber nur nach der Ana- 
logie, insofern dieser Ausdruck nur das Verhältnis anzeigt, was 
die uns unbekannte oberste Ursache zur Welt hat". „Der unseren 
schwachen Begriffen angemessene Ausdruck wird sein: dass wir 
uns die Welt so denken, als ob sie von einer höchsten Vernunft, 
ihrem Dasein und inneren c Bestimmung nach abstamme" Im 
§ 59, wo es ausdrücklich heisst, dieses Wesen sei * nicht bloss 
erdichtet, sondern, da ausser der Sinnenwelt notwendig etwas, 
was nur der reine Verstand denkt, anzutreffen sein muss", wird 
gesagt, „wir können dieses . . . freilich bloss nach der Analogie 
bestimmen" — eine Wendung, die wir übrigens auch schon in der 
Kr. d. r. V. getroffen haben (vgl. oben S. 631 ff.) Diese Vorstellungs- 
weise nennt Kant nun im § 58 (fin.) im Gegensatz zum dogma- 
tischen den symbolischen Anthropomorphismus; „der in 
der Tat nur die Sprache und nicht das Objekt selbst angeht". 
„Wenn ich sage, wir sind genötigt, die Welt so anzusehen, 
als ob sie das Werk eines höchsten Verstandes und Willens sei, 
so sage ich wirklich nichts mehr, als: wie sich verhält eine Uhr, 
ein Schiff, ein Regiment zum Künstler, Baumeister, Befehlshaber, 
so die Sinneswelt ... zu dem Unbekannten, das ich also hier- 
durch zwar nicht nach dem, was es an sich selbst ist, . . . 
aber doch nach dem, was es für mich ist, . . . erkenne." So 
„nennen* wir auch das Verhältnis des „Unbekannten in Gott* zur 
Menschheit — Liebe (nach Analogie eines menschlichen Vaters)» 
Also dieser „symbolische Anthropomorphismus" »geht nur die 
Sprache an", ist also nur — eine fa<;on de parier, um eine Leib- 
nizsche Wendung zu gebrauchen. Man spricht nur so, als ob 
das so wäre — die weittragenden Konsequenzen dieser Lehre 
werden wir noch kennen lernen. 



41 ^ 



642 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen 



III. 

Weitere Ansätze in den kleineren Schriften der 80 er Jahre, 

Ehe wir uns der weiteren Ausgestaltung der Kantischen 
Als-ob-Lehre in den kritischen Hauptschriften (zu denen wir auch 
die 1785 erschienene „Grundlegung 11 u. s. w. rechnen) zuwenden, 
stellen wir diejenigen zur Sache gehörigen Äusserungen zusammen, 
welche sich in den kleineren Schriften Kants aus den 80er Jahren 
finden. 

Aus der kleinen Abhandlung „Von der Unrechtmässig- 
keit des Büchernachdruckes" (1785) ersehen wir, dass Kant 
auch mit der juristischen Fiktion bekannt war» Es heisst da: 
„Worüber Jemand in seinem eigenen Namen nach Belieben dis- 
ponieren kann, daran hat er ein Recht in der Sache. Was er 
aber nur im Namen eines Anderen verrichten darf, dies Geschäft 
treibt er so, dass der Andere dadurch, als ob es von ihm selbst 
geführt wäre, verbindlich gemacht wird (Quod quis facit per ali- 
um, ipse fecisse putandus est)/ 1 

Dass Kant auch mit dem anderen Hauptgebiet, in dem die 
Fiktionen vorzugsweise angewendet werden, nämlich mit der 
Mathematik und mathematischen Physik bekannt war, haben wir 
schon im L Abschnitt gesehen, und das ersehen wir in dieser 
Periode hauptsächlich aus den „Metaphysischen Anfangs- 
gründen. der Naturwissenschaft** (1786). Gleich am Anfang 
der Phoronomie (Erkl. 1, Anm. 1, S. 189) 1 ) heisst es: „Da in der 
Phoronomie von nichts, als Bewegung geredet werden soll, so 
wird dem Subjekt derselben, nämlich der Materie, hier keine 
andere Eigenschaft beigelegt, als die Beweglichkeit. Sie selbst 
kann also so lange auch für einen Punkt gelten, und man 
abstrahiert in der Phoronomie von aller inneren Beschaffenheil, 
mithin auch der Grösse des Beweglichen." Wie Kant diese Fik- 
tion der mathematischen Physik als Beispiel für die Seelenfiktion 
verwendet, das haben wir oben S. 636 gesehen. 

Die Fiktion des Unendlich-Kleinen spielt auch sonst in dieser 
Schrift eine grosse Rolle, In der Phoronomie (ErkL 3, Anm. 
S. 198) heisst es: Die Ruhe sei in der Phoronomie nicht als 
„Mangel der Bewegung" aufzufassen, denn dieser Mangel = 0 



1) Ausgabe von v. Kirchmann vom Jahre 1872, welche im folgenden 
stets zitiert werden wird. 



Kants A!s-Ob-Betrachtung in den kl. Schriften der 80 er Jahre. 643 

lasse sich ja nicht „konstruieren", sondern Ruhe sei aufzufassen 
als „beharrliche Gegenwart an demselben Ort", und dieser Be- 
griff sei zu konstruieren „durch die Vorstellung einer Bewegung 
mit unendlich kleiner Geschwindigkeit". 

Wie die Fiktion des Unendlich-Kleinen speziell dazu dient, 
Fälle verschiedener Art unter eine einzige allgemeine Formel zu 
fassen, wie sie also zur fiktiven Verallgemeinerung dient (vgl 
oben S. 76 ff.), davon gibt der Schluss der Phoronomie (S. 203 bis 
210) ein frappantes Beispiel Es handelt sich um die verschiedenen 
möglichen Fälle der zusammengesetzten Bewegung: 1. wo zwei 
Bewegungen in eben derselben Linie und Richtung auf einen 
Punkt A wirken, 2. wo zwei Bewegungen in gerade entgegen- 
gesetzten Richtungen auf den Punkt A wirken, 3. wo zwei Be- 
wegungen, die einen Winkel einschliessen, auf A wirken. „Alle 
drei Fälle lassen sich im dritten allein hinreichend darstellen. 
Denn wenn der Winkel, den die zwei gegebenen Bewegungen 
einschliessen, als unendlich klein gedacht wird, so enthält er den 
ersten — wird er aber als von einer einzigen geraden Linie nur 
unendlich wenig unterschieden dargestellt, so enthält er den 
zweiten Fall, so dass sich . . . alle drei von uns genannten Fälle, 
als in einer allgemeinen Formel, geben lassen. " 

In der Dynamik findet die Fiktion des Unendlich-Kleinen 
noch eine andere Verwendung. Da wird „die Berührung als eine 
unendlich kleine Entfernung vorgestellt" (Lehrs. 4, Anm. 1, S. 224, 
ebenso Lehrs. 8, Anm. 1, S. 245, und Anm. 2, S. 247) und diese 
Idee wird speziell dazu benutzt, um die Vorstellung der dyna- 
mischen Erfüllung eines Raumes durch eine stetige Materie zu 
ermöglichen, auch wenn dieser Raum bald als grösser, bald als 
kleiner gedacht wird. „Weil aber die nächsten Teile einer stetigen 
Materie einander berühren, sie mag nun weiter ausgedehnt oder 
zusammengedrückt sein, so denkt man sich die Entfernungen 
ihrer nächsten Teile voneinander als unendlich klein, und diesen 
unendlich kleinen Raum als im grösseren oder kleineren Grade 
von ihrer Zurückstossungskraft erfüllt. Der unendlich kleine 
Zwischenraum ist aber von der Berührung gar nicht unter- 
schieden, also nur die Idee vom Räume, die dazu dient, um 
die Erweiterung einer Materie, als stetiger Grösse, anschaulich 
zu machen, ob sie zwar wirklich so gar nicht begriffen werden 
kann." „Man denkt sich also körperliche Räume zwischen Teilen, 
die einander dennoch unmittelbar berühren und deren Entfernung 

41* 



644 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen, 



eben darum unendlich klein genannt werden muss, damit sie von 
aller wirklichen Entfernung unterschieden werde,* Und hierzu 
fügt nun Kant (an der ersten der drei genannten Stellen, S. 224) 
eine sehr bemerkenswerte methodische Ausführung: „Man ver- 
fehlt gänzlich den Sinn der Mathematiker und missdeutet ihre 
Sprache, wenn man das, was zum Verfahren der Konstruktion 
eines Begriffes notwendig gehört, dem Begriffe im Objekt selbst 
beilegt. Denn nach jenem kann eine jede Berührung als eine 
unendlich kleine Entfernung vorgestellt werden, welches in 
solchen Fällen auch notwendig geschehen muss, wo ein grosser 
oder kleiner Raum durch eben dieselbe Quantität der Materie, 
d. i. einerlei Quantum repulsiver Kräfte als ganz erfüllt vor- 
gestellt werden soll. Bei einem ins Unendliche Teilbaren darf 
darum noch keine wirkliche Entfernung der Teile, die bei aller 
Erweiterung des Raumes des Ganzen immer ein Kontinuum aus- 
machen, angenommen werden, obgleich die Möglichkeit dieser 
Erweiterung nur unter der Idee einer unendlich kleinen Ent- 
fernung anschaulich gemacht werden kann." Diese Ausführung 
zeigt Kants grosse methodische Klarheit Über das mathematische 
Verfahren, das eben die Idee des Unendlich-Kleinen als Hilfs- 
vorstellung benutzt mit vollem Bewusstsein davon, dass es sich 
um etwas Unwirkliches, ja um etwas Unmögliches handelt. 1 ) 

In den Metaph. Anf. d. Naturw. wird übrigens von Kant noch 
eine andere wichtige Hilfsvorstellung mit Bewusstsein eingeführt, 
nämlich die Idee des absoluten, leeren, unbeweglichen Raumes. 
Es heisse, „die Vernunft in ihrer Idee missverstehen" (Phoron. 
Erkl, 1, Anm. 1, S. 191), wenn man die rein logische Allgemein- 
heit eines solchen Raumbegriffs mit einer physischen Allgemein- 
heit des wirklichen Umfanges verwechseln wollte; ein absoluter 
Raum könne „kein Gegenstand der Erfahrung" sein; ihn „als für 
sich gegeben annehmen', das sei nur eine methodische „An- 
nahme"; man „abstrahiere - dabei eben von der Materie. Daher 
heisst es auch in der Dynamik (Lehrs. 8, Anm. 2, S. 246): „Es 
ist ein Unterschied zwischen dem Begriff eines wirklichen 
Raumes, der gegeben werden kann, und der blossen Idee von 
einem Räume, der lediglich zur Bestimmung des Verhältnisses 
gegebener Räume gedacht wird, in der Tat aber kein Raum 

1) Die Idee des Unendlich-Kleinen wird übrigens dann von Kant auch 
nochmals in der „Allgemeinen Anmerkung zur Mechanik" zu ähnlichen 
Zwecken benutzt. 



Kants Als-Ob-Betrachcung in den kl, Schriften der 80er Jahre. 645 

ist, zu machen. 11 Von dem „sonderbaren Begriff" des absoluten 
Raumes heisst es dann in der Allgem. Anm. zur Phänomenologie 
(S. 297): „Er kann kein Gegenstand der Erfahrung sein; denn 
der Raum ohne Materie ist kein Objekt der Wahrnehmung, und 
dennoch ist er ein notwendiger Vernunftbegriff, mithin 
nichts weiter als eine blosse Idee", „der absolute Raum 
ist also nicht als ein Begriff von einem wirklichen Objekt, 
sondern als eine Idee, welche zur Regel dienen soll, alle Be- 
wegung in ihm bloss als relativ zu betrachten, notwendig, und 
alle Bewegung und Ruhe muss auf den absoluten Raum reduziert 
werden, wenn die Erscheinung derselben in einen bestimmten 
Erfahrungsbegriff (der alle Erscheinungen vereinigt) verwandelt 
werden soll* (299). Im Zusammenhang damit erklärt Kant auch 
überhaupt den leeren Raum 1 ) oder die leeren Räume für etwas, 
was wohl „gedacht werden kann", was aber nicht „wirklich* ist 
(266, verglichen mit 250, 262). Auch sonst erfinden die mathe- 
matischen Physiker Vorstellungen, welche nicht wirklich, wenn 
auch eventuell zweckmässig sind: so die Idee der absoluten Un- 
durchdringlichkeit (219, 220, 249, 251, 252). Bemerkenswert sind 
in diesem Zusammenhang noch Kants Äusserungen daselbst, 
S. 226 über die Idee der unendlichen Teilbarkeit, sowie S. 228 
über Leibniz' Monadologie als einen „Platonischen Begriff - , be- 
sonders beachtenswert ist noch Grundsatz 1 (S. 199) und Lehr- 
satz 1 der Phoronomie: in dem ersteren heisst es im Sinne einer 
mathematischen Fiktion; „Eine jede Bewegung . . . kann nach 
Belieben als Bewegung des Körpers in einem ruhigen Räume, 
oder als Ruhe des Körpers und dagegen Bewegung des Raumes 
in entgegengesetzter Richtung . . . angesehen werden. - Es 
ist dasselbe, was Herbart später eine „zufällige Ansicht 1 * genannt 
hat: es handelt sich um ein willkürliches, aber zweckmässiges 
„Ansehen - eines Vorganges von einem fiktiven Standpunkt aus. 

Diese zufällige Ansicht verwendet Kant aber nicht bloss als 
Naturphilosoph, sondern auch als Moralphilosoph. In der „Idee 
zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Ab- 
sicht" (1784) heisst es im achten Satz ganz mit denselben Worten: 
„Man kann die Geschichte der Menschengattung im Grossen als 
die Vollziehung eines verborgenen Planes der Natur ansehen, 

1) So heisst es auch in dem Fragment „Über Wunder* (in den sieben 
Meinen Aufsätzen aus den Jahren 1788—1791): „Der leere Raum ist eine 
blosse Idee" (Ed. Kirchmann S. 195). 



646 Dritter Teil; Historische Bestätigungen. 

um eine . . . vollkommene Staatsverfassung zu Stande zu bringen.* 
Also „man kann das so ansehen"! Eine andere Verwendung 
derselben Methode findet sich am Schluss des Aufsatzes „Mut- 
masslicher Anfang der Menschengeschichte* (1786); da 
heisst es: „es ist dem Menschen eine solche Darstellung seiner 
Geschichte erspriesslich und dienlich zur Lehre und Besserung, die 
ihm zeigt, dass" alle Übel in der Welt ihm selbst und seinen eigenen 
Fehlern zur Schuld fallen; Kant will keineswegs eine solche Dar- 
stellung für die der Wirklichkeit entsprechende ausgeben, sondern 
nur gestatten, dass man das so ansehe; das ist also eine nützliche 
Fiktion. So ist es auch, wie es am Schluss der Rezension des 
2. Teiles von Herders „Ideen zur Philosophie der Geschichte der 
Menschheit" heisst, „eine blosse, aber in aller Absicht sehr nütz- 
liche Idee", sich einen absoluten Vollendungszustand der Mensch- 
heit als Entwicklungsziel vorzustellen. 1 ) Derartige Ideen, ideale 
Annahmen entspringen „dem Recht des Bedürfnisses der Vernunft, 
etwas vorauszusetzen und anzunehmen, was sie durch objektive 
Gründe zu wissen sich nicht anmassen darf", was sie aber zur 
subjektiven Befriedigung sehr wohl „postulieren", d. h, in diesem 
Fall fingieren darf („Was heisst: sich im Denken orientieren?" 1786). 

Eine solche Fiktion ist, wie wir schon wissen, für Kant auch 
die Idee der Freiheit. Eine vorzügliche Bestätigung hierfür finden 
wir in einer wenig bekannten Stelle aus demselben Zeitraum. 

Es heisst in der Rezension von Schulz's Versuch einer 
Anleitung zur Sittenlehre (1783): „Der praktische Begriff 
der Freiheit hat mit dem spekulativen, der den Metaphysikern 
gänzlich überlassen bleibt, gar nichts zu tun. Denn woher mir 
ursprünglich der Zustand, in welchem ich jetzt handeln soll, ge- 
kommen sei, kann mir gleichgültig sein; ich frage nur, was ich 
nun zu tun habe, und da ist die Freiheit eine — notwendige 
praktische Voraussetzung und eine Idee, unter der allein ich die 
Gebote der Vernunft als gültig ansehen kann. Selbst der hart- 
näckigste Skeptiker gesteht, dass, wenn es zum Handeln kommt, 

1) Um dieselbe Zeit, in der Abhandlung „Über den Gebrauch teleolo- 
gischer Prinzipien in der Philosophie" (1788) nennt Kant in der drittletzten 
Anmerkung einmal die Abstammung der Menschen von Einem Paare nicht „ein 
Faktum", sondern „nur eine Idee", Nebenbei bemerkt sei, dass Kant ebenda- 
selbst, in der zweiten Anmerkung, die Unterscheidung der classes und ordines 
für rein logisch, d.h. rein fiktiv erklärt; man vergleiche, was er daselbst über 
Schulgattungen (species artiiiciales) sagt. Vgl. oben S. 399 ff. 



Kants Als-Ob-Betrachtung in der Gründl, z. Met d. Sitten. 647 

alle sophistischen Bedenklichkeiten , . . wegfallen müssen. Ebenso 
muss der entschlossenste Fatalist (der er ist, so lange er sich der 
blossen Spekulation ergibt) dennoch, sobald es ihm um Weisheit 
und Pflicht zu tun ist, jederzeit so handeln, als ob er frei wäre 
— und diese Idee bringt auch wirklich die damit einstimmige 
Tat hervor und kann sie auch allein hervorbringen.* 



IV. 

Prinzipielle Ausfuhrungen in den ethisch-religionsphilo- 
sophischen Grundwerken* 

Die im vorigen Abschnitt zuletzt aufgeführte Stelle bildet 
einen willkommenen Obergang zu den prinzipiellen Ausführungen 
Kants in seinen ethischen und religionsphilosophischen Haupt- 
schriften, als deren erste die „Grundlegung zur Metaphysik 
der Sitten" (1785) in Betracht kommt — eine der kühnsten und 
konsequentesten Schriften Kants, ein würdiges Gegenstück zur Kr. 
d. r. V.; viel bedeutender, als die schwächlichen „Prolegomena". 

Für uns kommt zunächst der 3, Abschnitt (der Schlussab- 
schnitt) in Betracht, in welchem „der Begriff der Freiheit" als 
„der Schlüssel zur Erklärung der Autonomie des Willens" be- 
handelt wird. Darin heisst es (im 4. Absatz, Ed. Kirchm. 76): l ) 
„Ein jedes Wesen, das nicht anders, als unter der Idee der 
Freiheit handeln kann, ist ebendarum, in praktischer Rücksicht, 
wirklich frei, d. i. es gelten für dasselbe alle Gesetze, die mit der 
Freiheit unzertrennlich verbunden sind, ebenso, als ob sein Wille 
auch an sich selbst, und in der theoretischen Philosophie gültig, 
für frei erklärt würde. Nun behaupte ich, dass wir jedem ver- 
nünftigen Wesen, das einen Willen hat, notwendig auch die Idee 
der Freiheit leihen müssen, unter der es allein handle. Denn 
in einem solchen Wesen denken wir uns eine Vernunft, die 
praktisch ist, d. i. Kausalität in Ansehung ihrer Objekte hat . ♦ . 
(Eine solche Vernunft) muss sich selbst als Urheberin ihrer Prinzi- 
pien ansehen . . . folglich muss sie ... als frei angesehen 
werden, d. i. der Wille desselben kann nur unter der Idee 



1) Vgl. oben S. 579, wo dieselbe Stelle als Normalfall eines fiktiven 
Urteils behandelt worden ist. 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



der Freiheit ein eigener Wille sein und muss also in praktischer 
Absicht allen vernünftigen Wesen beigelegt werden/ In einer 
Anmerkung (S. 76) rechtfertigt Kant nochmals ausdrücklich diesen 
von ihm hier eingeschlagenen Weg, „die Freiheit nur, als von 
vernünftigen Wesen bei ihren Handlungen bloss in der Idee 
zum Grunde gelegt . . . anzunehmen", denn es „gelten doch 
dieselben Gesetze für ein Wesen, das nicht anders, als unter 
der Idee seiner eigenen Freiheit handeln kann, die ein Wesen, 
das wirklich frei wäre, verbinden würden". 

Dieser Passus ist klein, aber von grosser Tragweite: ganz 
klar und unzweideutig erklärt Kant hier die Freiheit für eine 
blosse Idee ohne Realität Die Überschrift des ganzen Passus 
lautet S, 76: „Freiheit muss als Eigenschaft des Willens aller 
vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden" — „voraussetzen 4 * ist 
also hier offenbar — so „ansehen", „leihen", „beilegen", also 
kurzweg = fingieren! Gleich nachher heisst es S. 77: Freiheit 
„können wir als etwas Wirkliches nicht . . . beweisen, wir sahen 
nur, dass wir sie voraussetzen müssen" — „voraussetzen" 
bedeutet also hier nicht eine Hypothese, sondern eine Fiktion. In 
demselben Sinne heisst es bald nachher S. 79: „wir nehmen uns 
in der Ordnung der wirkenden Ursachen als frei an" und „wir 
haben uns die Freiheit des Willens beigelegt". 

Hier tritt nun ein anderer Gedanke ein, welcher bei Kant 
hier, wie so oft, in einem schwankenden Lichte erscheint: indem 
wir uns „als frei ansehen", „denken wir uns als a priori wirkende 
Ursachen" (S. 79), und damit nehmen wir den ».Standpunkt" 
(S. 79, 81/2) ein, dass wir uns als Glieder und Mitglieder „der 
Verstandeswelt" (des mundus intelligibüis) und damit „als Intelli- 
genz" „ansehen" (S. 81). Auf der einen Seite sagt Kant ganz 
energisch, dass wir von der Welt der Dinge an sich absolut nichts 
wissen; wenn er auf der anderen Seite sagt, dass diese Welt der 
Dinge an sich aus „Intelligenzen" bestehe, so ist darin eben weiter 
nichts als ein „symbolischer Anthropomorphismus" zu sehen, wie 
sich Kant früher (vgl. oben S. 634, 641) ausgedrückt hat: die Welt der 
Dinge wird angesehen, als ob sie aus Intelligenzen bestünde, und 
wir „denken" uns selbst als Glieder dieser fingierten Intelligenzen- 
welt. Dieser Gedankengang tritt bei Kant nicht in allen Stellen 
rem und unzweideutig hervor; aber es gibt Stellen, aus denen 
er sich zwar nicht als die Meinung Kants, wohl aber als eine 
— und für uns die bedeutsamste seiner Meinungen ergibt. 



Kants Als-Ob-Betrachtung in der Gründl, z. Mer d Sitten 649 

Es heisst nachher S. 82: „der Mensch kann die Kausalität 
seines eigenen Willens niemals anders als unter der Idee der 
Freiheit denken* — die „Idee der Freiheit" ist aber eine Idee, 
wie die anderen, also „nur eine Idee*, eine „heuristische Fiktion". 
„Wenn wir uns als frei denken, so versetzen wir uns als Glieder 
in die Verstandeswelt*, so heisst es ebendaselbst (S. 82) — Wen- 
dungen, welche ebensowohl dogmatisch, wie kritisch ausgelegt 
werden können, dogmatisch im Sinne der Wirklichkeitsannahme, 
kritisch im Sinne einer heuristischen Fiktion. Kant fährt doit 
(S. 82) fort: „Unabhängigkeit von den bestimmenden Ursachen 
der Sinnenwelt (dergleichen die Vernunft jederzeit sich selbst bei- 
legen muss) ist Freiheit. Mit der Idee der Freiheit ist nun 
der Begriff der Autonomie unzertrennlich verbunden, mit diesem 
aber das allgemeine Prinzip der Sittlichkeit, welches in der Idee 
allen Handlungen vernünftiger Wesen . , . zum Grunde liegt"; und 
nachher heisst es noch einmal: „wenn wir uns als frei denken, 
so versetzen wir uns als Glieder in die Verstandeswelt". Also 
Freiheit ist eine Idee, Autonomie äst eine Idee, das allgemeine 
Sittengesetz ist eine Idee — Ideen sind „blosse Ideen"; die ganze 
Moral ruht damit auf Fiktionen. Es heisst nachher S. 83: „die 
Idee der Freiheit macht mich zu einem Gliede einer inteliigibeln 
Welt" — ist aber die Freiheit „nur eine Idee", so ist auch die 
intelligibele Welt eine blosse Idee. Weiter heisst es (S. 84): dass 
der Mensch „mit einem Willen, der von Antrieben dd Sinnlichkeit 
frei ist, sich in Gedanken in eine ganz andere Ordnung der 
Dinge versetze"; „diese bessere Person glaubt er aber zu sein, 
wenn er sich in den Standpunkt eines Gliedes der Verstandes- 
welt versetzt, dazu die Idee der Freiheit . . . ihn unwillkürlich 
nötigt". Dass Freiheit aber eben „nur eine Idee der Vernunft 
sei, deren objektive Realität an sich zweifelhaft ist", wird gleich 
nachher (S. 85) deutlich wiederholt: „alle Menschen denken sich 
dem Willen nach als frei" — sie sind es aber nicht, die Freiheit 
ist ja nur eine Als- ob- Annahme, eine Fiktion. Die Wendung, 
dass wir uns „als Intelligenzen, mit einem Willen begabt denken", 
wird nachher öfters wiederholt (ib. S. 86, 87), und dass „wir uns 
dadurch in eine andere Ordnung der Dinge setzen". „Dadurch, 
dass die praktische Vernunft sich in eine Verstandeswelt hinein- 
denkt, überschreitet sie gar nicht ihre Grenzen, wohl aber, wenn 
sie sich hineinschauen . . . wollte" (S. 88). „Der Begriff einer 



650 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



Verstandeswelt ist also nur ein Standpunkt, 1 ) den die Vernunft 
sich genötigt sieht, ausser den Erscheinungen zu nehmen, um 
sich selbst als praktisch zu denken" (S. 88/9) — also nur ein 
point de vue, nur eine zufällige Ansicht, nur eine Fiktion. »Frei- 
heit aber ist eine blosse Idee* (S. 89) — eine „blosse Idee" ist, 
wie wir wissen, eine heuristische Fiktion» Am Schlüsse der 
„Grundlegung 41 (S. 93) heisst es dann ganz deutlich: »Übrigens 
bleibt die Idee einer reinen Verstandeswelt, als eines Ganzen 
aller Intelligenzen . . . immer eine brauchbare und erlaubte 
Idee zum Behufe eines vernünftigen Glaubens, ... um durch 
das herrliche Ideal 8 ) eines allgemeinen Reiches der Zwecke an 
sich selbst ... ein lebhaftes Interesse an dem moralischen Ge- 
setze in uns zu bewirken* 1 . 

Der ausgelassene Zwischensatz lautet im Anschluss an den 
Begriff des Reiches der Zwecke, „zu welchem wir nun alsdann 
als Glieder gehören können, wenn wir uns nach Maximen der 
Freiheit, als ob sie Gesetze der Natur wären, sorgfältig verhalten H 
(S. 94). Damit stossen wir auf einen Gedanken, der in dem 
zweiten Abschnitt der „Grundlegung" mehrfach in ähnlicher 
Form wiederholt wird; so S. 62: wo die »Formel des sittlichen 
Imperativs so ausgedrückt wird, dass die Maximen so müssen 
gewählt werden, als ob sie wie allgemeine Naturgesetze 8 ) gelten 
sollten*; oder S. 44: „handle so, als ob die Maxime deiner 
Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze 
werden sollte" — also eine neue, eigenartige Fiktion. Ich weiss 
wohl, dass meine Maximen des Handelns keine Naturgesetze sind, 
dass sie nicht einmal für die Majorität der Menschen Gesetze 

1) In dieser Stelle — zusammen mit der 10 Zeilen weiter unten ange- 
führten — ist der bekannte Ausdruck F. A. Langes „Standpunkt des Ideals 0 
vorgebildet Vgl oben S. 60, 61, 68, und unten den Abschnitt C 

2) Man vergesse nicht, dass in der Sprache Kants ein Jdeal\ wenn e9 
auch noch so „herrlich* ist t doch immer nur eine Fiktion ist,- vgl. oben S.624. 
Zum Überiluss bemerkt Kant im zweiten Abschnitt der „ Grund legung' aus- 
drücklich einmal (S. 59) zu dem „Reich der Zwecke" in Klammern: (freilich 
nur ein Ideal), dieses „freilich nur* spricht Bände. Darnach könnten auch 
Stellen zu interpretieren sein, an denen er, wie z. B. S. 61» unbestimmt von 
„einem möglichen Reich der Zwecke" spricht; vgl. ib. S. 64: „auf solche 
Weise ist eine Welt vernünftiger Wesen (mundus intelligibilis) als ein Reich 
der Zwecke möglich". Aber man kann auch sagen: in solchen Stellen kommt 
eben die dogmatische Seite der Kantischen Natur zur Geltung. 

3) Vgl. die »Frage - S. 46: wie es stehen würde, wenn meine Maxime 
ein allgemeines GeseU würde?* 



Kants Als-Ob-Betrachtung in der Gründl, z. Met. d. Sitten. 651 

sind, aber ich denke so, ich handle so, als ob sie allgemeine 
Naturgesetze wären 1 In demselben Sinne heisst es S. 64: „Dem- 
nach muss ein jedes vernünftige Wesen so handeln, als ob es 
durch seine Maximen jederzeit ein gesetzgebendes Glied im all- 
gemeinen Reiche der Zwecke wäre. Das formale Prinzip dieser 
Maximen ist: handle so, als ob deine Maxime zugleich zum all- 
gemeinen Gesetze (aller vernünftigen Wesen) dienen sollte," Von 
diesem „Reich der Zwecke" heisst es dann weiter (S. 65): „es ist 
nur möglich nach der Analogie mit einem Reiche der Natur"; 
die Wendung „nach der Analogie" bedeutet aber nach Kants 
früher (vgl. oben S. 631 ff.) erörtertem Sprachgebrauch eine — Fik- 
tion. Dieses » Reich der Zwecke* ist ein „bloss mögliches", weil 
es nur zustande käme, wenn alle vernunftigen Wesen nicht nur 
nach jener Maxime einstimmig handeln würden, sondern auch, 
wenn das Reich der Natur mit dem Reich der Zwecke „zusammen- 
stimmen" würde — eine absolute Utopie. Das „Reich der Zwecke" 
ist also „eine blosse Idee". 

Wenn allerdings, wie es weiter heisst, „das Reich der Zwecke 
als unter einem Oberhaupt vereinigt gedacht würde, so würde 
dadurch das Letztere nicht mehr eine blosse Idee bleiben, sondern 
wahre Realität erhalten" (S. 65). Allein die Vorstellung eines 
solchen „Oberhauptes" ist ja, wie wir wissen, selbst nur eine 
Fiktion des „symbolischen Anthropomorphismus", aber auch wenn 
man ein solches „Oberhaupt" statuieren wollte, so „müsste doch 
selbst dieser alleinige unumschränkte Gesetzgeber immer so vor- 
gestellt werden, wie er den Wert der vernünftigen Wesen nur 
nach ihrem uneigennützigen, bloss aus jener Idee ihnen selbst 
vorgeschriebenen Verhalten beurteilte": eben aus der Idee des 
Reiches der absoluten Zwecke vernünftiger Wesen oder, mit anderen 
Worten, aus der Idee der „Würde der Menschheit". Dass auch 
dies eine „blosse Idee" ist, sagt Kant vorher (S. 65) mit folgen- 
den markanten Worten: „Und hierin liegt eben das Paradoxe, 
dass bloss die Würde der Menschheit, als vernünftiger Natur, 
ohne irgend einen anderen dadurch zu erreichenden Zweck oder 
Vorteil, mithin die Achtung für eine blosse Idee 1 ) dennoch 
zur unnachlasslichen Vorschrift des Willens dienen sollte, und 
dass gerade in dieser Unabhängigkeit der Maxime von allen 

l) In demselben Sinne heisst es S. 54: n Der Mensch muss jederzeit 
als Zweck an sich selbst betrachtet werden 14 , — Also eine Betrachtungs- 
weise ein point de vue, ein Als-ob f eine Fiktion. 



652 



Dritter Teil : Historische Bestätigungen. 



solchen Triebfedern die Erhabenheit derselben bestehe und die 
Würdigkeit eines jeden vernünftigen Subjekts, ein gesetz- 
gebendes Glied im Reiche der Zwecke zu sein". 

In dieser prächtigen Stelle hat Kant überhaupt den abso- 
luten Höhepunkt seiner kritischen Philosophie erreicht: die „Würde 
der Menschheit* 4 , das „Reich der Zwecke" sind — dies erkennt 
und lehrt Kant — „blosse Ideen", also Begriffe ohne jeden Reali- 
tätswert, nur „heuristische Fiktionen", nur Betrachtungsweisen, 
nur ein Standpunkt; es kann, soll und muss so angesehen werden, 
als ob das so wäre: dennoch, trotz dieser Einsicht in die fik- 
tive Natur dieser Vorstellungsweise, richtet der Mensch als „ver- 
nünftiges Wesen * sein Handeln nach diesen Fiktionen ein. Hier 
sind wir auf dem höchsten Gipfel angelangt, den das Kantische 
Denken, den das menschliche Denken überhaupt erreicht hat 
Nur wenige, nur die Auserlesenen können in diesem Hochland 
überhaupt noch atmen: die grosse Masse bedarf einer anderen, 
einer dickeren Luft 

* 

In der „Kritik der praktischen Vernunft" (1788) schlägt 
Kant andere Töne an. Der kühne Radikalismus der „Grund- 
legung" macht einem zunehmenden Dogmatismus Platz. Während 
in der „Grundlegung" die kritisch-radikalen Leitmotive hervortreten 
und die konservativ-dogmatische Strömung zur Unterströmung 
wird, ist es in der Kr. d. pr. V. umgekehrt. Ganz verschwinden 
in dieser die radikaleren Momente nicht. Unserer Tendenz 
gemäss heben wir hier wiederum nur diese radikalen Momente 
heraus, und auch nur insofern, als sie mit einiger Entschieden- 
heit sich geltend machen. 

Im 1. Abschnitt § 7 (Ed. Kirchmann 1870, S. 37/8) wird die 
Idee der Heiligkeit als praktische Idee eingeführt: „In der aller- 
genugsamsten Intelligenz [Gott] wird die Willkür als keiner Maxime 
fähig, die nicht zugleich objektiv Gesetz sein könnte, mit Recht 
vorgestellt . . . diese Heiligkeit des Willens ist eine praktische 
Idee, welche notwendig zum Urbilde dienen muss" — also ein 
fiktives Ideal (vgl. dagegen ib. S» 148). Die »intelligible Ordnung 
der Dinge" oder die „übersinnliche Natur" , wie es jetzt öfters 
heisst, tritt trotzdem recht dogmatisch hier auf. Doch gibt es 
auch kritischer lautende Stellen, so in dem Abschnitt „Von der 
Deduktion der Grundsätze der reinen praktischen Vernunft" 



Kants Als-Ob-Betrachtung in der Kr. d. pr. V. 



653 



(S. 52 ff): „das Gesetz der Autonomie ist das moralische Gesetz, 
welches also das Grundgesetz einer übersinnlichen Natur und 
einer reinen Verstandeswelt ist, deren Gegenbild in der Sinnen- 
welt . , . existieren soll. Man könnte jene die urbildliche, die 
wir bloss in der Vernunft erkennen, diese aber, weil sie die mög- 
liche Wirkung der Idee der ersteren, als Bestimmungsgrundes 
des Willens enthält, die nachgebildete nennen. Denn in der 
Tat versetzt uns das moralische Gesetz der Idee nach in eine 
Natur, in welcher reine Vernunft, wenn sie mit dem ihr ange- 
messenen physischen Vermögen begleitet wäre, das höchste Gut 
hervorbringen würde . dass diese Idee wirklich unseren 
Willensbestimmungen gleichsam als Vorzeichnung zum Muster 
liege, bestätigt die gemeinste Aufmerksamkeit auf sich selbst. 
Wenn die Maxime, nach der ich ein Zeugnis abzulegen gesonnen 
bin, durch die praktische Vernunft geprüft wird, so sehe ich immer 
darnach, wie sie sein würde, wenn sie als allgemeines Natur- 
gesetz gälte . . . Wir sind uns durch die Vernunft eines Ge- 
setzes bewusst, welchem, als ob durch unseren Willen zugleich 
eine Naturordnung entspringen müsste, alle unsere Maximen unter- 
worfen sind. Also muss dieses die Idee einer nicht empirisch 
gegebenen, und dennoch durch Freiheit möglichen, mithin über- 
sinnlichen Natur sein, der wir, wenigstens in praktischer Be- 
ziehung, objektive Realität geben, weil wir sie als Objekt unseres 
Willens als reiner vernünftiger Wesen ansehen". Also doch — 
„objektive Realität!" Also doch nicht lediglich fiktiv? Aber man 
beachte den Zusammenhang: 1 ) „objektive Realität" sprechen wir 
jener übersinnlichen Natur nur zu, weil und insofern wir sie 

1) Der Ausdruck „objektive Realität" hat in der Kr. d. pr. V. und den 
verwandten Schriften schwankende Bedeutung, was man leicht übersieht und bis 
jetzt meist übersehen hat Am besten wird „objektive Realität" erläutert (S 68, 
am Schluss des Abschnittes: „Von dem Betugnisse der reinen Vernunft" u. s« w.) 
durch den Wechse lausdruck „praktisch anwendbare Realität". (Man beachte, 
was an derselben Stelle, am Schluss des Absatzes, gesagt wird über das rein 
praktische „Annehmen und Voraussetzen" übersinnlicher Wesen z. B. Gottes 
nach einer Analogie, „aber nur in praktischer Absicht*,) An einer anderen 
Stelle (S. 166, in dem Abschnitt: „Wie eine Erweiterung der Vernunft" u.s. w.) 
heisst es: dem Begriffe des Objekts eines moralisch bestimmten Willens (den 
des höchsten Guts) und mit ihm den Bedingungen seiner Möglichkeit, den 
Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, wird Realität, aber immer nur in 
Beziehung auf die Ausübung des moralischen Gesetzes (zu keinem spekulativen 
Behuf) gegeben; d. h. der moralisch Handelnde betrachtet sich und fühlt sich, 
als ob er Glied einer solchen übersinnlichen Welt wäre. Vgl. oben S. 628. 



654 



„ansehen" als „Objekt unseres Willens' 4 — also wir selbst schaffen 
eben jene übersinnliche Natur durch unseren Willen, und nur in- 
sofern, als unser Wille durch jene „Idee" bestimmt ist — wir 
kommen also damit nicht aus dem Fiktiven heraus. Ganz in 
diesem Sinne heisst es dann sehr bezeichnenderweise weiter 
(S. 53/4): „die zwei Aufgaben also: wie reine Vernunft einerseits 
a priori Objekte erkennen [das Problem der Kr. d. r. V.], und wie 
sie andererseits [das Problem der Kr. d. pr. V.] unmittelbar ein 
Bestimmungsgrund des Willens, d. i. die Kausalität der vernünf- 
tigen Wesen in Ansehung der Wirklichkeit der Objekte (blos 
durch den Gedanken der Allgemeingiltigkeit ihrer eigenen 
Maximen als Gesetze) sein könne, sind sehr verschieden 1 ' — 
also die praktische Vernunft schafft eben ihr eigenes Objekt, das 
Reich des Guten, „bloss durch den Gedanken", also eben allein 
durch die Idee, und das von ihr geschaffene Objekt ist eben das 
Reich des Guten, das nur in der Idee und durch sie besteht — 
hier hat Kant für denjenigen, der richtig lesen kann, und der 
in sich diese hohen Gedanken nacherleben kann, ganz deutlich 
gesprochen. In demselben Sinne heisst es dann am Schluss 
dieses Abschnittes (S. 60) von der Idee des Noumenon: „Die 
Bedeutung, die ihm die Vernunft durch das moralische Geset2 
verschafft, ist lediglich praktisch, da nämlich die Idee des Ge- 
setzes einer Kausalität (des Willens) selbst Kausalität hat oder 
ihr Bestimmungsgrund ist", d. h. das moralisch handelnde Sub- 
jekt, das „sich als physisch nicht bedingt ansieht und so den 
Begriff der Freiheit zum regulativen Prinzip der Vernunft macht" 
(S. 58), betrachtet sich als Noumenon, d. h. als Glied einer über- 
sinnlichen Natur, das ist aber nur eine „praktische", d. h. mora- 
lische Idee, eine Vorstellungsweise, Betrachtungsweise, Ausdrucks- 
weise, eine fa?on de parier, eben ein Als-ob, also eben — eine 
Fiktion. 

Ganz in demselben Sinne ist der bis jetzt wenig beachtete 
Abschnitt „Von der Typik der reinen praktischen Urteilskraft* 
(S. 81 ff.) gehalten. Die Anwendung reiner Verstandesbegriffe, 
wie der der Kausalität nach Naturgesetzen, bedarf, wie Kant in 
der Kr. d. r, V. ausgeführt hat, eines Schemas der Einbildungs- 
kraft (bekanntlich der Anschauung der Zeitfolge). Anders bei der 
Anwendung einer reinen Vernunffcidee, wie diejenige der Kausali- 
tät durch Freiheit ist: diese Idee der Vernunft kann nicht nach 
einem solchen Schema der Einbildungskraft angewendet werden, 



Kants Als-Ob-Berrachtung in der Kr. d. pr. V. 



655 



sondern sie bedarf eines „Typus"; der Typus für freie Handlungen 
ist die Form eines Naturgesetzes: wir müssen eine Handlung, 
die wir vorhaben, ansehen, ob und wie sie erfolgen könnte, 
„wenn sie nach einem Gesetz der Natur, von der du selbst ein 
Teil wärest, geschehen sollte" — also nach der bekannten Regel: 
Handle so, als ob deine Maxime Naturgesetz werden sollte. 
„Wenn die Maxime der Handlung nicht so beschaffen ist, dass 
sie an der Form eines Naturgesetzes überhaupt die Probe hält, 
so ist sie sittlich unmöglich*" Das ist eine berechtigte „Ver- 
gleichung"; „es ist erlaubt, die Natur der Sinnenwelt als Typus 
einer intelligibeln Natur zu brauchen". Aber man muss sich 
hüten „vor dem Mystizismus der praktischen Vernunft, welcher 
das, was nur zum Symbol diente, zum Schema macht, d. i, 
wirkliche und doch nicht sinnliche Anschauungen (eines unsicht- 
baren Reiches Gottes) der Anwendung der moralischen Begriffe 
unterlegt und ins Überschwängliche hinausschweift. Dem Ge- 
brauche der moralischen Begiffe ist bloss der Rationalismus , 
der Urteilskraft angemessen, der von der sinnlichen Natur nichts 
weiter nimmt, als was auch reine Vernunft für sich denken kann, 
d. i. die Gesetzmässigkeit, und in die übersinnliche nichts hinein- 
trägt, als was umgekehrt sich durch Handlungen in der Sinnen- 
welt nach der formalen Regel eines Naturgesetzes überhaupt 
wirklich darstellen lässt" Damit löst sich das ganze „unsicht- 
bare Reich Gottes" auf in eine blosse „Analogie 41 , in eine „Ver- 
gleich ung" mit der Sinnen weit, und die „übersinnliche Natur" 
besteht eben dann rein nur aus den .tatsächlich vorhandenen 
Willenssubjekten, welche, nach jenem Prinzip der Allgemein- 
giltigkeit zu handeln, entschlossen sind und sich als konsti- 
tuierende Bürger einer Geisterwelt „betrachten 44 , „ansehen", d. h. 
so tun, handeln, denken und fühlen, als ob sie Glieder einer 
übersinnlichen Ordnung wären. In diesem Sinne sind wir „gesetz- 
gebende Glieder eines durch Freiheit möglichen, durch praktische 
Vernunft uns zur Achtung vorgestellten Reiches der Sitten 41 
(S. 99), in diesem Sinne und nur in diesem Sinne „widerfährt 
uns durch reine praktische Vernunft vermittelst des moralischen 
Gesetzes die Eröffnung einer intelligibeln Welt durch Realisierung 
des sonst transzendenten Begriffes der Freiheit", d. h. wir handeln, 
äls ob wir frei wären, und indem wir durch diese Idee der 
Freiheit unseren Willen bestimmen, fühlen wir uns, als ob wir, 
trotzdem wir nur Glieder der sinnlichen Welt sind, Glieder einer 



656 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



höheren Ordnung der Dinge wären. In diesem Sinne „betrachtet 
sich die handelnde Person als Noumenon" (S. 137). 

Wesentlich dogmatischere Töne schlägt Kant in dem Abschnitt 
über die Postulate an (S. 146 ff.); er versteht darunter einen 
theoretischen, als solchen aber nicht erweislichen Satz, sofern er 
einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzer- 
trennlich anhängt: Gott und Unsterblichkeit sind bekanntlich die 
beiden Hauptpostulate; sie sind, theoretisch genommen, Hypo- 
thesen (vgl Vorwort S. 11, Anmerkung, sowie S. 170 ff.), aber 
praktisch genommen Gegenstände des „Vernunftglaubens" (vgl, 
S. 173). Der ganze Zusammenhang ist trotz allem Kritizismus 
doch recht dogmatisch gehalten: die Als-ob-Lehre tritt hier ganz 
zurück. Das „Voraussetzen 11 , das „Annehmen" der betreffenden 
Begriffe (Gott und Unsterblichkeit) wird immer mehr in positivem 
Sinne verstanden. Nur an wenigen Stellen kommt die radikale 
Unterströmung zum Vorschein, so, wenn es S. 166 heisst, wenn 
man aus dem Gottesbegriff „alles Anthropomorphistische" weg- 
lasse (z. B. auch Verstand und Wille), so „bleibe nur das blosse 
Wort übrig". Auch finden sich Vorbereitungen zur Religionslehre, 
so wenn es S. 155 heisst, dass in der Religion die für sich schon 
unbedingt gütigen moralischen Gesetze „als Gebote des höchsten 
Wesens angesehen werden müssen". 



„Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen 
Vernunft" (1793) bietet für unseren Gegenstand sehr viel wert- 
volles Material Die „Vorrede" wiederholt zunächst in unbe- 
stimmter Weise die Wendungen „annehmen" (S. 3, 7) und „objek- 
tive, obgleich nur praktische Realität" Ausg. v. Kirchmann; S, 7), 
aber am Schluss der Vorrede heisst es deutlich, dass Kant im 
Folgenden „das Verhältnis des guten und bösen Prinzips, gleich 
als zweier für sich bestehender, wirkenden Ursache vorstelle" 
— wie dies gemeint ist, wird bald noch deutlicher werden. 

Im ersten Stück kommt bald nach dem Anfang (S. 22) eine 
ähnliche Wendung, jedoch wenig bestimmt, (Charakteristisch, 
jedoch in einen anderen Zusammenhang gehörend, ist die Wen- 
dung S. 38, dass die Hoffnung auf einen ewigen Frieden — 
Schwärmerei sei, also ist dies auch nur ein fiktives Ideal.) Be- 
stimmter ist die Stelle S. 45: „Eine jede böse Handlung muss, 
wenn man den Vernunftursprung derselben sucht, so betrachtet 



Kants Ais-Ob-Betrachtung in der Religion L d. Gr. d, bl. V, 657 

werden, als ob der Mensch unmittelbar aus dem Stande der 
Unschuld in sie geraten wäre" — also eine Variation der Frei- 
heitsfiktion. 

Das zweite Stück bringt bald nach dem Beginn (S, 66) 
eine sehr charakteristische Apologie des Teufels und der Hölle 
— als Fiktionen. „Es darf also nicht befremden, wenn ein Apostel 
(den bösen Trieb in uns] diesen unsichtbaren, nur durch seine 
Wirkungen auf uns kennbaren, die Grundsätze verderbenden Feind 
als ausser uns und zwar als bösen Geist vorstellig macht . . . 
ein Ausdruck, der nicht, um unsere Erkenntnis über die Sinnen- 
welt hinaus zu erweitern, sondern nur, um den Begriff des für 
uns Unergründlichen für den praktischen Gebrauch anschau- 
lich zu machen, angelegt zu sein scheint" — wobei also Kant 
andeutet, der betreffende Apostel habe absichtlich und bewusst 
diese fiktive Veranschaulichung gemacht. Dann heisst es: „Es 
ist eine Eigentümlichkeit der christlichen Moral, das Sittlich-Gute 
vom Sittlich-Bösen nicht wie den Himmel von der Erde, sondern 
wie den Himmel von der Hölle unterschieden vorzustellen: eine 
Vorstellung, die zwar bildlich, und als solche empörend, nichts- 
destoweniger aber ihrem Sinn nach philosophisch richtig ist. 
Sie dient nämlich dazu" u. s. w. — also Hölle und Teufel sind 
zweckmässige Fiktionen, welche als religiöse Ausdrucksweisen 
Kants volle Billigung finden; dem Teufel oder dem „bösen Geist" 
steht gegenüber (S. 68) „die personifizierte Idee des guten 
Prinzips" — d. h. „das Ideal der moralischen Vollkommenheit", 
„das Urbild der sittlichen Gesinnung", natürlich ebenfalls als eine 
zweckmässige Fiktion. Von diesem fiktiven Urbild „kann man 
sagen; es ist vom Himmel zu uns herabgekommen"; 1 ) „Sohn 
Gottes" ist also eine zweckmässige religiöse Fiktion. Auch „kann 
die Vereinigung mit uns als ein Stand der Erniedrigung des 
Sohnes Gottes angesehen werden"; auch ist es ganz richtig, 
wenn man dieses Ideal der moralischen Gesinnung mit „Hinder- 



1) Vgl. dazu die Wendung ib. S. 74; .dieser göttlich gesinnte, aber ganz 
eigentlich menschliche Lehrer würde . . . von sich, als ob das Ideal des Guten 
in ihm leibhaftig . . . dargestellt würde, mit Wahrheit reden können". Man 
beachte hier die Wendung: „mit Wahrheit*; natürlich ist .Wahrheit* hier nicht 
im theoretischen, sondern, wie oben S. 627—630, 663 u. ö., im praktischen Sinn 
gemeint, und diese letztere nennt Kant mehrlach ebenfalls „Erkenntnis* (vgl. 
unten S. 666 u. ö.). Es gibt also eine „doppelte Wahrheit* für Kant, 
eine wissenschaftliche und eine moralisch-praktische, 

42 



658 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen, 



nissen ringend und unter den grösstmöglichen Anfechtungen 
dennoch überwindend sich vorstellt" — also ein ganzes sich 
auftürmendes Gebäude zweckmässiger religiöser Fiktionen, 

„Im praktischen Glauben an diesen Sohn Gottes (sofern er 
vorgestellt wird, als habe er die menschliche Natur angenom- 
men) kann nun der Mensch hoffen, Gott [der natürlich nur eine 
Fiktion bleibt] wohlgefällig zu werden"; der „praktische Glaube" 
besteht eben nur in der Anerkennung dieser Idee als einer nütz- 
lichen religiösen Vorstellung und in der „Verähnlichung" an jenes 
„Urbild der Menschheit" In diesem Sinne heisst es dann S. 71 : 
„Und der Glaube an die praktische Gültigkeit jener Idee, 
die in unserer Vernunft liegt, ♦ . . hat moralischen Wert". Ob- 
gleich nun „das Urbild eines solchen wahrhaft göttlich gesinnten 
Menschen" „doch nirgends anders, als in unserer Vernunft zu 
suchen ist" (71 J, so hat doch „diese Idee ihre Realität in prak- 
tischer Beziehung vollständig in sich selbst" (70); ja der ganze 
Abschnitt, aus welchem die letzten Zitate entnommen sind, hat die 
bezeichnende Überschrift: „Objektive Realität dieser Idee". 
Dies ist nun äusserst wichtig für uns: also „objektive Realität" 
bedeutet für eine „Idee" schlechterdings nicht so viel als „Realität 
der Existenz", sondern „Realität der Gültigkeit". Dies wirft 
nun rückwärts ein sehr auffallendes Licht auf diejenigen Stellen, 
in denen schon früher von der „objektiven Realität" der Ideen von 
Gott und Unsterblichkeit, sowie der Freiheit die Rede war (vgl. 
oben S. 628, 653). Könnte man jemals darüber schwanken, was 
„objektive Realität" von Ideen bedeute — hier ist kein Zweifel 
mehr darüber möglich: der Ausdruck bedeutet nicht Unbedingt- 
heit der Existenz, sondern Unbedingtheit des Wertes. — 

Eine Anmerkung zu dem genannten Abschnitt ist ebenfalls 
von hohem Wert fflr uns (S. 73 ff.); dass wir jene Ideen „hypo- 
stasieren" (S. 72) und „auf menschliche Weise vorstellig machen" 
müssen, ist eine „Beschränktheit 1 ) der menschlichen Vernunft", 
welche uns nötigt, „geistig-moralische übersinnliche Beschaffen- 
heiten" uns durch „Analogie mit Naturdingen fasslich zu machen", 

1) Der Grund dieser „Beschränktheit unserer Vernunft* liegt in ihrer 
Verbindung mit der Sinnlichkeit Vgl. hierüber die als Ergänzung zu dem 
Obigen zu betrachtenden treffenden Ausführungen der Halleschen Dissertation 
von Dr. F. Kuberka, Kants Lehre von der Sinnlichkeit (Halle a. S., Verlag 
von Kaemmerer & Co., 1905), bes. S. 97—104. Auf diesen sinnlichen Faktor 
weist Kant selbst häufig hin t vgl. z. B. S. 657 L. 12, 659 L 20 660 L 8. 



Kants AIs-Ob-Betrachtung in der Religion i. d. Gr. d. bl. V. 659 

„ob zwar eben nicht behauptet werden soll, dass es an sich (xa& 
äh'fteiav) auch so bewandt sei". Jenes ist eben „der Schema- 
tismus der Analogie (der Erläuterung), den wir nicht entbehren 
können. Diesen aber in einen Schematismus der Objekt- 
bestimmung 1 ) (zur Erweiterung unseres Erkenntnisses) zu ver- 
wandeln, ist Anthropomorphismus, 2 ) der in moralischer Ab- 
sicht (in der Religion) von den nachteiligsten Folgen ist 44 . Also die 
religiösen Fiktionen dürfen nicht in Dogmen verwandelt werden, 
aus dem Als-ob darf nicht ein Dass und Weil gemacht werden. 
So „nützlich*' jene Vorstellungsweisen als Fiktionen sind, so 
„nachteilig sind sie als Dogmen, Es ist verkehrt, jenes ganze 
Vorstellungsgebäude *a#' älföeiav, d. h. als objektiv und theo- 
retisch wahr zu nehmen: es ist ein Luftschloss, eine Fata Mor- 
gana, aber eine notwendige und zweckmässige Vorstellungs- und 
Ausdrucksweise, und diese hat in diesem Sinne subjektiv-praktische 
„Wahrheit"; vgl oben S. 657 Anm, 

Dies Alles findet in derselben Anmerkung (S. 74) durch 
Kant noch weitere Erläuterung. „Im Aufsteigen vom Sinnlichen 
zum Übersinnlichen darf man wohl schematisieren (einen Be- 
griff durch Analogie mit etwas Sinnlichem fasslich machen), 
schlechterdings aber nicht nach der Analogie von dem, was dem 
Ersteren zukommt, dass es auch dem Letzteren beigelegt werden 
müsste, schliessen (und so seinen Begriff erweitern)." Ein 
solcher Schluss wäre vielmehr gerade „wider alle Analogie", in- 
dem ein solcher Schluss „daraus, weil wir ein Schema zu einem 
Begriffe, um ihn uns verständlich zu machen . . . notwendig 
brauchen, die Folge ziehen wollte, dass es auch notwendig dem 

1) Kant trennt hier sehr scharf und treffend die beiden Arten des Schema- 
tismus, welche schon oben S. 628 Anm. unterschieden worden sind ; der „objekt- 
bestimmende* ist der der transz. Analytik in der Kr. d. r. V., der „ analogische 11 
der der transz. Dialektik. Letzteres Schema nennt Kant auch häufig einfach 
„Symbol* und setzt dann dieses „Symbol" dem Schema im ersteren, engeren 
Sinn gegenüben Man muss sich durch dieses Schwanken im Sprachgebrauch 
nicht irre machen lassen. — Sehr beachtenswert und konsequenzenreich ist 
der Hinweis Kants darauf, dass der objektbestimmende Schematismus unsere 
Erkenntnis synthetisch erweitert, dass aber das analogische Schema 
unsere Begriffe nur analytisch erläutert Kant wiederholt dies öfters, so 
oben S. 657 L. 11 und später noch mehrfach. 

2) Natürlich ist dieser unerlaubte und unkritische, dogmatische Anthro- 
pomorphismus sehr wohl von dem früher von Kant ausdrücklich gestatteten, 
resp. geforderten kritischen Anthropomorphismus zu unterscheiden. Vgl. oben 
S. 633, 634, 641. 

42* 



660 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



Gegenstande selbst als sein Prädikat zukommen müsse*. Damit 
weist Kant auf den Gottesbegriff als Beispiel bin; denn er fährt 
fort; „Ich kann nämlich nicht sagen; so wie ich mit die Ursache 
eines . . . organischen Geschöpfes . . . nicht anders fasslich machen 
kann, als nach der Analogie eines Künstlers in Beziehung auf 
sein Werk . . . nämlich dadurch, dass ich ihm Verstand beilege, 
— so muss auch die Ursache selbst . . . Verstand haben"; ich 
darf eine blosse „Bedingung der Fasslichkeit" nicht für etwas 
Objektives, Absolutes nehmen; denn „zwischen dem Verhältnis 
eines Schema zu seinem Begriffe, und dem Verhältnisse eben 
dieses Schema des Begriffs zur Sache selbst ist gar keine Ana- 
logie, sondern ein gewaltiger Sprung {^ezdßaaz elc dllo y£vos), 
der gerade in den Anthropomorphismus hineinführt" — vor dem 
ja Kant, wie hier, so oft warnt, wenn er eben nicht als symbo- 
lisch-regulatives, sondern als konstitutives Prinzip genommen wird. 
Kant äussert sich hierüber noch in der grossen Anmerkung S. 78 
bis 81 zum folgenden Abschnitt; speziell S., 81: es würde viel 
besser stehen um den Menschen, „wenn wir statt der konstitu- 
tiven Prinzipien der Erkenntnis übersinnlicher Objekte . , . unser 
Urteil auf die regulativen, sich an dem möglichen praktischen 
Gebrauch derselben begnügenden Prinzipien einschränkten". Kant 
führt dies aus anlässlich der Idee der Ewigkeit der Höllenstrafen: 
das sei eine nützliche „Vorstellung 11 , welche „mächtig genug sei, 
um dem Bösen Abbruch zu tun", aber sie dürfe nicht „objektiv 
und dogmatisch" als Lehrsatz vorausgesetzt werden, d. h, nicht 
„als Dogma", wogegen Kant sich eingehend wendet Eine solche 
Vorstellung „darf sich nicht als Dogma ankündigen, sondern ist 
nur ein Grundsatz, durch welchen sich die praktische Vernunft, 
im Gebrauch ihrer Begriffe des Übersinnlichen [d. h. des über 
die Sinnlichkeit des Menschen hinausgehenden Sittengebots], die 
Regel vorschreibt". 

Eine weitere Anwendung der Fiktionsmethode folgt gleich 
darauf S. 82 ff, : „Die Deduktion der Idee einer Rechtfertigung des 
zwar verschuldeten, aber doch zu einer gottwohlgefälligen Ge- 
sinnung übergegangenen Menschen" (S. 87). Diese Idee bedarf 
also einer „Deduktion" — es ist bemerkenswert, dass dieser für 
die Kategorienlehre der Kr. d. r. V. so wichtige und charakteristische 
Terminus, der, wie wir S. 627 sahen, auch für die Ideenlehre ver- 
wendet wird, hier mehrfach wiederkehrt. Also die [Paulinische] 
Rechtfertigungsidee wird hier von Kant „deduziert": er zeigt 



Kants Als-Ob-Betrachtung in der Religion i. d. Gr. d. bl. V, 661 

ausführlich, besonders S. 84, wie eben alles so „gedacht", „an- 
gesehen", „vorgestellt" werden muss, dass „der göttlichen Ge- 
rechtigkeit" [selbst einer Fiktion] „ein Genüge geschieht" — 
wiederum eine Anhäufung religiöser Fiktionen. 1 ) Die „Deduk- 
tion" dieser Ideen-Fiktionen geschieht ausdrücklich S. 88 aus dem 
„Nutzen", dem charakteristischen Merkmal aller echten Fiktionen, 
wie wir wissen» 

Wer nun die „Religion i. d, Gr* d. bl. V." weiter verfolgt, 
stösst im Schlussabschnitt des zweiten Stückes (S. 93) auf eine 
sehr interessante Anmerkung: „Eine vom angeborenen Hange 
zum Bösen freie Person so als möglich sich zu denken, dass 
man sie von einer jungfräulichen Mutter gebären lässt, ist eine 
Idee der sich zu einem schwer zu erklärenden und doch auch 
nicht abzuleugnenden, gleichsam moralischen Instinkt bequemen- 
den 8 ) Vernunft", Kant erläutert nun die Berechtigung und „An- 
gemessenheit" der „Idee einer von keiner Geschlechtsgemeinschaft 
abhängigen (jungfräulichen) Geburt eines mit keinem moralischen 
Fehler behafteten Kindes". Selbst die naturwissenschaftlichen 
Schwierigkeiten dieser Idee diskutiert Kant in diesem Sinne, 
schliesst aber diese Diskussion mit den bezeichnenden Worten: 
„Wozu aber alle diese Theorie, dafür oder dawider, wenn es für 
das Praktische genug ist, jene Idee als Symbol der sich selbst 
über die Versuchung zum Bösen erhebenden (diesem siegreich 
widerstehenden) Menschheit uns zum Muster vorzustellen?" Also 
auch „die Idee" der jungfräulichen Zeugung eine zweckmässige, 
religiöse Fiktion, ein schöner, sinnreicher und nützlicher Mythus I 

So wird auch daselbst im Allgemeinen gebilligt, dass der 
Kampf des guten Prinzips mit dem bösen Prinzip im Menschen 
„in der Form einer Geschichte vorgetragen wird, da zwei wie 
Himmel und Hölle einander entgegengesetzte Prinzipien im 
Menschen als Personen ausser ihm vorgestellt werden" (S. 91); 
„das böse Prinzip wird der Fürst dieser Welt genannt", „physische 
Leiden u, s. w. werden als Verfolgungen des bösen Prinzips vor- 
gestellt" (S. 97). „Man sieht leicht, dass, wenn man diese leb- 
hafte, und wahrscheinlich für ihre Zeit auch einzige populäre 

1) In einer Anmerkung daselbst (S. 84) deduziert Kant sogar die Idee 
des Sündenfalls der ersten Menschen, d. h. dass alle Übel, welche der Mensch 
erleidet, nur „Strafen für begangene Übertretungen * sind. 

2) Hiermit wird die Akkomodations-Theorie resp. -Methode von Kant 
ausdrücklich als berechtigt und als die seinige anerkannt. 



662 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



Vorstellungsart von ihrer mystischen Hülle entkleidet, sie 
(ihr Geist und Vernunftsinn) für alle Welt, zu aller Zeit prak- 
tisch gültig und verbindlich gewesen" (S. 97). „Unter solchen 
Umständen kann es nichts fruchten, jene Erzählungen . . . jetzt 
zu bestreiten, wenn die wahre Religion [die kritische Religion 
des Rechttuns] einmal da ist . . . die zu ihrer Zeit durch solche 
Hilfsmittel introduziert zu werden bedurfte" (S. 99); „ja wir 
können auch die Hülle noch ehren, welche gedient hat, eine 
Lehre . . . in Gang zu bringen" (ib.). Also jene religiösen Fik- 
tionen können sämtlich für das Volk — nicht in dem gewöhn- 
lichen etwas verächtlichen Sinn, sondern für das Volk im Sinne 
der Volksgemeinschaft — auch fernerhin beibehalten weiden. 

Freilich rnuss sich „der vernünftige Geistliche wohl hüten", 
nun jene religiösen Fiktionen zu weit zu treiben, und insbesondere 
wird und muss er sich hüten, mit Wundergeschichten „den Kopf 
der seiner Seelsorge Anbefohlenen anzufüllen und ihre Einbil- 
dungskraft zu verwildern 1 * (S. 102). Vernünftige „Leute in Ge- 
schäften" „gebrauchen Wunder nur als Phrasen"; „so sagt der 
Arzt: dem Kranken ist, wenn nicht etwa ein Wunder geschieht, 
nicht zu helfen, d. i. er stirbt gewiss". „Weise Regierungen 
haben daher jederzeit zwar eingeräumt, ja wohl gar unter die 
Öffentlichen Religionslehren die Meinung gesetzlich aufgenommen, 
dass vor Alters Wunder geschehen wären, neue Wunder aber 
nicht erlaubt", d. h, der Staat hat die Vorstellung von Wundern 
als eine zweckmässige religiöse Fiktion gestattet, verbietet 
aber, aus dieser Vorstellung Konsequenzen zu ziehen, welche in 
das bürgerliche Leben eingreifen. 

Auch im dritten Stück finden wir viele für unser Thema 
bedeutsame Stellen; in ihm wird die Idee des Reiches Gottes 1 ) 
eingeführt, das „auch ein Reich der Tugend (des guten Prinzips) 
genannt werden kann, wovon die Idee in der menschlichen Ver- 
nunft ihre ganz wohlbegründete objektive Realität hat (als Pflicht, 
sich zu einem solchen Staate zu einigen") (S. 111). Diese Stelle 
ist für uns ganz besonders wichtig: Diese Idee hat wie alle der- 
artigen Ideen, „ihre ganz wohlbegründete objektive Realität". 
Aber wo? „In der menschlichen Vernunft." Und wie? „Als 
Pflicht, sich zu einem solchen Staat zu einigen." Hier ist der 
Ausdruck „objektive Realität", der ja auch auf die Gottesidee, 



n Über die Idee des „ Reiches Gottes", vgl. oben S. 578, 636. 



Kants Als-Ob-Betrachtung in der Religion i. d. Gr. d, bL V. 663 

auf die Unsterblichkeitsidee angewendet wird, mit wünschens- 
wertester Klarheit erläutert. Mit einer theoretisch konstatierbaren 
oder annehmbaren Aussenexistenz hat diese „objektive Realität" 
nicht das Mindeste zu tun, vgl oben S. 628, 653; für die Ideen 
besteht ihre „objektive Realität 1 * in ihrer Innenexistenz in der 
menschlichen Vernunft als praktische, ethische Normen, Werte, 
Ideale, Fiktionen. Diese Stelle ist für die ganze Ideenlehre klassisch. 

Die Überschrift der L Abteilung lautet in diesem Sinne: 
^Philosophische Vorstellung des Sieges des guten Prinzips unter 
Gründung eines Reiches Gottes auf Erden". Der Gegensatz dazu 
ist die Idee „des ethischen Naturstandes", gewissermassen das 
Reich des Teufels auf Erden, wo die Menschen betrachtet werden, 
„gleich als ob sie Werkzeuge des Bösen wären" (S. 114). In 
jenem Reich werden „alle Gesetze als Gebote eines gemeinschaft- 
lichen Gesetzgebers angesehen" (S. 116), sie werden so »ge- 
dacht", so „vorgestellt" (S. 117). „Einem solchen Volke Gottes 
kann man die Idee einer Rotte des bösen Prinzips entgegen» 
setzen, . . . wiewohl auch hier das die Tugendgesinnungen an- 
fechtende Prinzip gleichfalls in uns selbst liegt und nur bildlich 
als äussere Macht vorgestellt wird" (S. 119). Die Idee des 
Volkes oder Reiches Gottes wird dann zur „unsichtbaren Kirche" 
— „eine blosse Idee von der Vereinigung aller Rechtschaffenen 
unter der göttlichen . . . Weltregierung" (S. 119). „Sie würde 
auch am besten mit der einer Familie unter einem . , . mora- 
lischen Vater verglichen werden können" (S. 121). Und nun 
kommt jene berühmte, aber bis jetzt so wenig verstandene De- 
finition der Religion: „Alle Religion besteht darin, dass wir Gott 
[eine blosse Idee!] für alle unsere Pflichten als den allgemein zu 
verehrenden Gesetzgeber ansehen" (S. 122) — der Ton liegt und 
ist zu legen auf ansehen: wir sehen es so an, als ob es einen 
Gott gäbe, und als ob dieser Gott die Moralgesetze uns geboten 
hätte — in dieser zweifachen Fiktion liegt das Wesen der reli- 
giösen Betrachtungsweise „Die Erfüllung aller Menschenpflichten 
als göttlicher Gebote macht das Wesentliche aller Religionen aus" 
(S. 130), Das hat einen Doppelsinn: A) Alle historischen, empi- 
rischen Religionen bestehen darin, dass unsere Menschenpflichten 
von den Völkern in allem Ernste als Gebote höherer Wesen auf- 
gefasst und ausgelegt worden sind, d. h. sie nehmen an, dass 



1) Über die Fiktion der „unsichtbaren Kirche" vgl, oben S. 578 



664 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



sich das so verhalte; B) Die reine Vernunftreligion besteht darin, 
dass der Mensch seine Pflichten so ernst nimmt, als ob sie ihm 
von einem höheren Wesen auferlegt wären. 

Der Zustand A ist ein noch unentwickelter. „Die Hüllen, 
unter welchen der Embryo sich zuerst zum Menschen bildet, 
müssen abgelegt werden, wenn er nun an das Tageslicht treten 
soll", sagt Kant ib, S. 144. „Das Leitband der heiligen Ober- 
lieferung, mit seinen Anhängseln, den Statuten und Observanzen, 
welches zu seiner Zeit gute Dienste tat, wird nach und nach ent- 
behrlich, ja endlich zur Fessel, wenn er in das Jünglingsalter 
eintritt." So lange er (die Menschengattung) ein Kind war, war 
er klug als ein Kind, . . . nun er aber ein Mann wird, legt er 
ab, was kindisch ist* — mit diesem Zitat schliesst Kant diese 
bemerkenswerte Stelle (S. 144). Ist der Mensch in das denkende 
Mannesalter eingetreten, so verwandelt er das Dass der Dogmen 
in das Als ob der fiktiven Auffassung, 

Der reife, „überlegende Mensch" anerkennt nur das ihn „mit 
inniglicher Achtung erfüllende moralische Gesetz", welches aber 
eben „darum auch als göttliches Gebot angesehen zu werden 
verdient" (S. 134). „In dem Prinzip der reinen Vernunftreligion 
als einer an die Menschen beständig geschehenen göttlichen (ob- 
zwar nicht empirischen) Offenbarung muss der Grund zu jenem 
Oberschritt [aus dem A-Zustand in den B-Zustand, d. h.] zu jener 
neuen Ordnung der Dinge liegen, welcher einmal aus reiner 
Überlegung gefasst, durch allmählich fortgehende Reform 1 ) zur 

1) Eine naturgemässe Folge dieses allmählichen Überganges von der 
Kirchenreligion zur Vernunftreligion ist nun, dass der dogmatische Kirchenglaube 
und seine Dogmen im Sinne der Vernunftreligion umgedeutet und ausgelegt 
werden müssen. Daraus ergibt sich nun eine neue Fiktion, dass man die be- 
treffenden Religionsurkunden u.s.w. so ansieht, als ob sie den moralischen 
Sinn hätten, den man ihnen jetzt nachträglich unterlegt. Diese interpreta- 
torische Fiktion spielt bei Kant eine grosse Rolle. „Diese [moralische] 
Auslegung [Deutung 135] mag uns selbst in der Ansehung des Textes . , . 
oft gezwungen erscheinen, oft es auch wirklich sein, und doch muss sie, 
wenn es nur möglich ist, , . . einer . . . buchstäblichen vorgezogen 
werden 1 * (132). „Vernünftige wohldenkende Volkslehrer haben die heiligen 
Bücher so lange gedeutet; bis sie dieselben ... mit den allgemeinen mora- 
lischen Glaubenssätzen in Übereinstimmung brachten. Die Moralphilosophen 
unter den Griechen und nachher den Römern machten es nachgerade mit 
ihrer fabelhaften Götter lehre ebenso. Sie wussten den gröbsten Polytheis- 
mus zuletzt als blosse symbolische Vorstellung . . . auszudeuten." 
„Das spätere Judentum und selbst das Christentum besteht aus solchen zum 



Kants Als-Ob-Betrachtung in der Religion i. d. Gr. d. bl. V. 665 

Atisführung gebracht wird, sofern sie ein menschliches Werk sein 
soll." In diesem Sinne kann man dann „mit Grunde sagen, 
das Reich Gottes sei zu uns gekommen", nämlich eben in jenem 
„allmählichen Übergang des Kirchenglaubens zur allgemeinen 
Vernunftreligion" (S. 145). Damit kommen wir zur „Idee der 
objektiven Einheit der Vernunftreligion", „. ♦ . es ist eine Idee 
der Vernunft, deren Darstellung in einer ihr angemessenen An- 
schauung uns unmöglich ist, die aber doch als praktisches 
regulatives Prinzip objektive Realität hat" — jene „objektive 
Realität" der inneren Geltung in uns, die wir schon hinreichend 
kennen. Vgl. oben S. 628, 653 u. ö. 

Die 2« Abteilung desselben 3. Stückes (S. 148—176) bietet 
nur weniges zur Bestätigung. Auferstehung und Himmelfahrt 
werden als „Vernunftideen" (S. 153) betrachtet, d. h. es wird ihnen 
ein moralischer Sinn untergelegt, ebenso wird die Wiederkunft des 
Auferstandenen in sein Reich 1 ) als „symbolische Vorstellung ausge- 
legt" (S. 160); auch der Chiliasmus ist ein „schönes Ideal" und kann 
nebst den damit zusammenhängenden Vorstellungen apokalyp- 
tischer Natur „vor der Vernunft seine gute symbolische Bedeutung 
annehmen"; wenn man diesen Symbolen nur „den intellektuellen 
Sinn unterlegt", sind sie als „Hüllen" und „Vehikel immer nütz- 
lich" (S. 162), — also auch dies sind nützliche religiöse Fik- 
tionen; sie als Dogmen zu nehmen, wäre dagegen „schädlicher 3 ) 

Teil sehr gezwungenen Deutungen, aber beides zu ungezweifelt guten und 
für die Menschen notwendigen Zwecken" (133) — also erlaubte, nützliche Fik- 
tionen! In diesem Sinne spricht dann Kant mehrfach von den „Symbolen des 
Volksglaubens*. So wird z. B. auch „der lebendige Glaube an den Sohn Gottes 
au! eine moralische Vernunftidee bezogen" (141). In diesem Sinne „kann dem 
Kirchenglauben , . . sein nützlicher Einfluss als eines Vehikels erhalten werden" 
(145), d. h. er bleibt eine nützliche Fiktion. Die Menschen brauchen etwas 
„Sinnlichhaltbares" (129), und wie dies historisch zur „Introduktion" notwendig 
war, so kann es auch für die Menge immer als „Leitmittel" (138) oder, wie 
Kant mit Vorliebe sagt, als „Vehikel", notwendig bleiben. 

1) Die ganze Steile lauter: „Das Himmelreich wird zuletzt auch . . 
nicht allein als in einer . Annäherung, sondern auch in seinem Eintritte vor- 
gestellt Man kann es nun als eine bloss zur grösseren Belebung der Hoff- 
nung und des Muts und Nachstrebung zu demselben abgezweckte symbolische 
Vorstellung auslegen, wenn dieser Geschichtserzählung noch eine Weis- 
sagung . . von der Vollendung dieser grossen Weltveränderung in dem Ge- 
mälde eines sichtbaren Reiches Gottes auf Erden (unter der Regierung eines 
wieder herabgekommenen Stellvertreters und Statthalters) . . . beigefügt wird." 

2) Schädlicher Anthropomorphismus: der nützliche wird von Kant 
ausdrücklich gefordert. Vgl. oben S. 634, 641 u. ö. 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



Anthropomorphismus" (S. 169); selbst die Vorstellung der Drei- 
einigkeit wird, wenn moralisch „gereinigt" (S, 169), noch als 
„praktische Idee" anerkannt (S. 170), als „kein unschicklicher 
Ausdruck"; Berufung, Genugtuung, Erwählung werden ebenfalls 
im moralischen „Sinne „als praktisch notwendige Religionsidee" 
(S. 174) anerkannt. Einfacher als diese komplizierten religiösen 
Fiktionen ist die religiöse Grund- und Ur-Fiktion: „wir müssen 
uns beständig prüfen» als zur Rechenschaft vor einen Richter 
gefordert" (S. 173). 

Das vierte Stück bietet uns noch eine Nachlese. Am An- 
fang des 1. Teils steht wieder eine Definition der Religion: „Reli- 
gion ist (subjektiv betrachtet) das Erkenntnis aller unserer Pflichten 
als göttlicher Gebote". Auffallend ist hier der Ausdruck „Er- 
kenntnis" statt Vorstellung, Betrachtung u. A. Man sieht hieraus 
aufs neue, wie vorsichtig man Kants Sprache studieren muss, 
um ihn recht zu verstehen. Die dazugehörige Anmerkung macht 
die Sache noch schlimmer: hier wird „Erkenntnis" als „proble- 
matisches Annehmen (Hypothesis)" näher erläutert. Kant selbst 
hat also hier 1 ) das bisher festgehaltene „so ansehen als ob" von 
dem theoretischen Annehmen nicht scharf genug geschieden. 
Etwas- entschiedener ist folgende Erklärung, dass „das praktische 
Glauben" „nur der Idee von Gott, auf die alle moralische 
ernstliche (und darum gläubige) Bearbeitung zum Guten unver- 
meidlich geraten muss, bedarf, ohne sich anzumassen, ihr durch 
theoretische Erkenntnis die objektive Realität sichern zu können". 
Hier ist „objektive Realität" im theoretischer Sinne genommen, 
denn im praktischen Sinne hat ja diese Idee, wie alle Vernunft- 
ideen, ihre „objektive Realität"; aber es bedarf „nur der Idee", 
es genügt schon, überhaupt „nur die Idee" einzuführen; d.h. es 
genügt schon, wenn wir unsere Pflichten überhaupt nur so an- 
sehen, als ob sie Gebote eines Gottes wären. Von diesem Stand- 
punkt aus polemisiert Kant heftig gegen den Anthropomorphis- 
mus als etwas „für unsere Moralität höchst gefährliches" (S. 202). 
Wir wissen zur Genüge, dass Kant damit nur den unkritischen 
dogmatischen Anthropomorphismus meint, nicht den kritischen, 
den er ja selbst billigt. 

Wie scharf hier Kant unterscheidet, zeigt folgende Stelle (S. 234) 
über das Gebet: „Ein herzlicher Wunsch, Gott in allem unserem 



1) Ähnliche Schwankungen Kants vgl oben S. 62Sf„ 639. 



Kants Ais-Ob-Betrachtung in der Religion i. d. Gr. d. bi. V, 667 



Tun und Lassen wohlgefällig zu sein, d. i. die alle unsere Hand- 
lungen begleitende Gesinnung, sie, als ob sie im Dienste Gottes 
geschehen, zu betreiben, ist der Geist des Gebets, der ,ohne 
Unterlass' in uns stattfinden kann und soll". „In jenem Wunsch, 
als dem Geist des Gebets, sucht der Mensch nur auf sich selbst 
(zu Belebung seiner Gesinnungen vermittelst der Idee von Gott) 
zu wirken." Andererseits spricht sich Kant dagegen aus, nun „diesen 
Wunsch (er sei auch nur innerlich) in Worte und Formeln ein- 
zukleiden; denn hier sucht der Mensch, „da er sich durch Worte, 
mithin äusserlich erklärt, auf Gott zu wirken". Letzteres ist 
also eben der „der Moralität des Menschen höchst gefährliche 
Anthropomorphismus": „in der zweiten Form als Anrede nimmt 
er diesen höchsten Gegenstand als persönlich gegenwärtig an, 
oder stellt sich wenigstens (selbst innerlich) so, als ob er von 
seiner Gegenwart überführt sei". Dieses „als ob" missbilligt also 
Kant energisch. Dagegen billigt Kant das öffentliche allgemeine 
Kirchengebet als „rhetorische Figur" (S. 237 Anm/) beim öffent- 
lichen Gottesdienst „durch eine äussere, die Vereinigung aller 
Menschen im gemeinschaftlichen Wunsche des Reiches Gottes 
vorstellende Feierlichkeit, . , . welches nicht schicklicher geschehen 
kann, als dadurch, dass man das Oberhaupt desselben, gleich 
als ob es an diesem Orte besonders gegenwärtig wäre, anredet". 
Es ist aber „nur um die Belebung der Gesinnung zu einem Gott 
fd, h. nur der Idee von Gott] wohlgefälligen Lebenswandel zu 
tun, wozu jene Rede nur ein Mittel für die Einbildungs- 
kraft ist". Im Grunde genommen ist für Kant die ganze Reli- 
gion nebst ihren beiden fundamentalen Ideen, Gott und Unsterb- 
lichkeit, und nebst allen sich daraus ergebenden besonderen 
religfS^en Ideen — „nur ein Mittel für die Einbildungskraft", so 
dass zum Schluss mit diesem Ausdruck das Resultat der ganzen 
Kantischen Religionsphilosophie noch recht treffend zusammen- 
gefasst ist. 



V. 

Bestätigungen und Anwendungen in den übrigen Schriften 
der kritischen Zeit (speziell der 90 er Jahre). 

Wir verfolgen nun diese und die damit verwandten Ge- 
dankengänge in die übrigen Schriften Kants hinein, und da 



668 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



begegnet uns zunächst die „Kritik der Urteilskraft" (1790). 
Wir folgen auch hier am zweckmässigsten dem Gang der Schrift 
selbst, obgleich es zunächst besser erscheinen könnte, dass wir 
den zweiten Teil der Kr. d. U„ die Ideologie, voranstellen sollten, 
weil deren Gedanken mit dem Vorigen enger zusammenhängen 
als der erste Teil, die Ästhetik. Allein die Schrift, die Kr. d. U„ 
bildet trotz dieser beiden auseinandergehenden Hälften doch 
wieder ein Ganzes, das auch als Ganzes in seinem Aufbau ver- 
standen sein will. 

Schon in der Vorrede wird darauf hingewiesen, dass Ideen 
„für unser theoretisches Erkenntnisvermögen überschwänglich, da- 
bei aber doch nicht etwa unnütz oder entbehrlich sind, sondern 
als regulative Prinzipien dienen" — sie sind also eben nützliche 
heuristische Fiktionen. Eine solche Idee oder Fiktion ist die Idee 
der Zweckmässigkeit, die Hauptidee der ganzen K. d. U. In 
diesem Sinne heisst es in der Einleitung IV: „Die besonderen 
empirischen Gesetze [der Natur] , , . müssen nach einer solchen 
Einheit betrachtet werden, als ob . . . ein Verstand (wenngleich 
nicht der unserige) sie . . . gegeben hätte. Nicht, als wenn auf 
diese Art wirklich ein solcher Verstand angenommen werden 
müsste, (denn es ist nur die reflektierende Urteilskraft, der diese 
Idee zum Prinzip dient, zum Reflektieren, nicht zum Bestimmen), 
sondern dieses Vermögen gibt sich dadurch nur selbst und nicht 
der Natur ein Gesetz 41 (S, 17). 

Diese Zweckmässigkeit nennt Kant daselbst auch „einen in 
Ansehung der Natur ganz zufälligen Begriff von ihr" — was 
an Herbarts „zufällige Ansicht 0 anklingt, vgl oben S. 275. So heisst 
es auch S. 23, dass „der Verstand die Zusammenstimmung der 
Natur zu unserem Erkenntnisvermögen objektiv als zufällig an- 
erkennt und bloss die Urteilskraft sie der Natur . ♦ . beilegt". 
Indem die Urteilskraft diesen Gesichtspunkt a priori an die Natur 
heranbringt („hinzudenkt", wie Kant sich öfters ausdrückt, § 75 
(S. 258), § 90 (S. 353, vgl. S. 376)/) ist sie nicht „bestimmend«, 
sondern nur „reflektierend", d. h. in diesem Zusammenhang: es 
ist eine fiktive Betrachtungsweise, als ob es sich so verhielte; 
es wird so „angesehen" (S. 16, 29, 32), so „angenommen" (S. 17, 
24), so „vorgestellt" (S. 21). „Dieser transzendentale Begriff der 



I) Man vergleiche mit diesem „Hinzudenken" das snivoetv der griechischen 
Skeptiker. Vgl oben S. 248 und S, 545. 



Kants Ais-Ob-Betrachtung in der Kritik der Urteilskraft. 669 

Zweckmässigkeit der Natur ist nun weder ein Naturbegriff, noch 
ein Freiheitsbegriff, sondern ... ein subjektives Prinzip (Maxime) 
der Urteilskraft" (S. 22), In demselben Sinne spricht Kant von 
der „idealischen Zweckmässigkeit der Natur" (S. 20): „idealisch" 
ist hier wieder einfach = fiktiv. „Idee" und „regulatives Prinzip" 
wiederholt sich dann öfters (S. 24, 37). Eine Erläuterung hiervon 
finden wir dann später im § 11 (S.26): „Die Möglichkeit [gewisser 
Naturprodukte] kann von uns nur erklärt und begriffen werden, 
sofern wir eine Kausalität nach Zwecken, d. i. einen Willen, der 
sie nach der Vorstellung einer gewissen Regel so angeordnet 
hätte, zum Grunde derselben annehmen." Aber dies ist eben 
nur eine fiktive Annahme, 1 ) 

Die Kritik der ästhetischen Urteilskraft wendet diese 
allgemeinen Gedanken bekanntlich in folgender Weise an, dass 
auch eine solche als im Objekt liegend angenommene Zweck- 
mässigkeit nicht den Grund dazu abgeben kann, zu urteilen, ein 
Gegenstand sei „schön", sondern nur die Form der Zweckmässig- 
keit eines Gegenstandes im Verhältnis zu unserer Vorstellungs- 
tätigkeit, d. h. eine Zweckmässigkeit der blossen formalen, äusseren 
Erscheinung ohne Inneren Zweck selbst, eine „Zweckmässigkeit 
ohne Zweck" (S, 70). Die Anwendung der Zweckmässigkeitsidee 
in dieser Weise ist vollends eine fiktive Betrachtungsweise, obgleich 



1) Von der Einleitung in die Kr, d. U. existiert bekanntlich ein früherer 
Entwurf Kants, der unter der unzutreffenden Überschrift .Über Philosophie 
überhaupt* in den bisherigen Gesamtausgaben aufgeführt wird. Da heisst 
es auch sogleich im 1. Abschnitt von der Zweckmässigkeitsidee: »Gegenstände 
der Natur werden bisweilen nur so beurteilt, als ob ihre Möglichkeit sich 
auf Kunst gründe*; die Natur wird hier beurteilt „bloss nach einer Analogie 
mit der Kunst" <S. 147). „Die reflektierende Urteilskraft verfährt" hierbei 
selbst „künstlich* (S. 153) — es ist also ein Kunstgriff der Betrachtungsweise. 
Die Naturgesetze erscheinen von diesem Gesichtspunkt aus so, „als ob sie 
die Urteilskraft zu ihrem eigenen Bedarf e entworfen hätte" (S. 155); aber 
„dergleichen Zweckmässigkeit wird nur als objektiv gedacht" (S. 163). Ein 
solches „teleologisches Urteil* ist nur „ein Reflexionsurteil*, d. h. „es masst 
sich ,gar nicht an, zu behaupten, dass in dieser . . . Zweckmässigkeit die Natur 
. . . absichtlich verfahre . . sondern dass wir nur nach dieser Analogie . . . 
einen Begriff von diesen Objekten bekommen* (S. 108/9). „Dieses gibt den 
Begriff einer objektiv-zufälligen, subjektiv aber (für unser Erkenntnisvermögen) 
notwendigen Zweckmässigkeit" (S. 172). „Dieser Begriff einer Zweckmässig- 
keit der Natur, wenn er nicht blosse Erschleichung dessen, was wir aus ihr 
machen, für das, was sie ist, sein soll, ist ein von aller dogmatischen 
Philosophie abgesonderter Begriff* (ib.). 



670 Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 

dies bei Kant selbst nicht so hervortritt. 1 ) Das „Ideal der Schön- 
heit* 1 (§ 17) besteht eben dann in dem formalzweckmässigsten 
Gebilde, in diesem Zusammenhange speziell beim Menschen 
in dem ästhetischen Durchschnittsgebilde, in dem „mittleren 
Menschen", (dem ästhetischen „homme moyen", vgl. oben S. 35), 
einem „Ideal der Einbildungskraft" (S. 77, 80). Ein solches Ge- 
bilde nennen wir schön. 

Im ästhetischen Urteil machen wir nun eine weitere Fiktion : 
wir „sprechen vom Schönen so, als ob Schönheit eine Be- 
schaffenheit des Gegenstandes und das Urteil logisch . . ♦ wäre, 
ob es gleich nur ästhetisch ist und bloss eine Beziehung der 
Vorstellung des Gegenstandes auf das Subjekt enthält (§ 6); 
man „spricht von der Schönheit, als wäre sie eine Eigenschaft 
der Dinge (§ 7). 

In diesem Als ob ist nun eine weitere Fiktion enthalten: 
Wer etwas in diesem Sinne „für schön ausgibt, der mutet Anderen 
ebendasselbe Wohlgefallen zu; er urteilt nicht bloss für sich, sondern 
für Jedermann, und spricht alsdann von der Schönheit, als wäre 
sie" u. s. w. (§ 7). „Die Lust, die wir fühlen, muten wir jedem 
Anderen im Geschmacksurteile als notwendig zu, gleich als ob 
es für eine Beschaffenheit des Gegenstandes . . . anzusehen wäre, 
wenn wir etwas schön nennen" (§ 9). „Das Geschmacksurteil 
bestimmt seinen Gegenstand , < , als Schönheit mit einem An- 
sprüche auf Jedermanns Beistimmung f als ob es objektiv wäre* 
(§ 32). Also „glaubt man eine allgemeine Stimme für sich zu 
haben", aber „diese allgemeine Stimme ist nur eine Idee" 
(§ 8). Dasselbe sagt der § 20 : „Die Bedingung der Notwendig- 
keit, die ein Geschmacksurteil vorgibt, ist die Idee eines 
Gemeinsinns", die auch als „Voraussetz ung" bezeichnet wird. 
Dazu macht nun Kant im folgenden § 21 eine für seine Methode 
sehr charakteristische Bemerkung: „Dieser Gemeinsinn wird mit 
Grund angenommen werden können, und zwar ohne sich desfaHs 
auf psychologische Beobachtungen zu fussen, sondern als die 



1) Im §58 spricht Kant deutlich von .Formen, die für den ästhetischen 
Gebrauch unserer Urteilskraft gleichsam gemacht zu sein scheinen*. In diesem 
Sinne spricht Kant überhaupt in dem genannten Paragraphen von dem .Idealis- 
mus der Zweckmässigkeit*, .als dem alleinigen Prinzip der ästhetischen Urteils- 
kraft*. In diesem Sinne heisst es auch am Schluss der gleichzeitigen «Ent- 
deckung* (1790) mit ausdrücklichem Hinweis auf die Kr. d. U-, es sei so, .als 
wenn Natur für unsere Fassungskraft absichtlich eingerichtet wäre 0 {S. 77). 



Kants AIs-Ob-Betrachtung in der Kritik der Urteilskraft. 671 

notwendige Bedingung der allgemeinen Mitteilbarkeit unserer Er- 
kenntnis". Also jener Gemeinsinn ist nicht eine psychologische 
Hypothese, sondern nur eine methodische Fiktion, „eine blosse 
idealische Norm, unter deren Voraussetzung man ein [ästhetisches] 
Urteil ... für Jedermann mit Recht zur Regel machen könnte"; 
dieser Gemeinsinn ist kein konstitutives, sondern „nur ein regu- 
latives Prinzip", also „eine Idee" (§ 22), eine fiktive „Annahme" 
(§ 38). Im § 40 wird diese „Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes", 
eines ästhetischen sensus communis weiter verfolgt; man soll 
„sein Urteil gleichsam an die gesamte Menschenvernunft halten"; 
diese Betrachtungsweise kann „künstlich" erscheinen, aber sie kann 
sogar „gleichsam als Pflicht Jedermann zugemutet werden" (§ 40 
fin.). Es ist nur eine andere Wendung, wenn diese „Idee des 
Gemeinsinns" als „Idee der allgemeinen Mitteilbarkeit" bezeichnet 
wird (§ 41), mit dem charakteristischen Zusatz: „gleichsam als 
aus einem ursprünglichen Vertrage, der durch die Menschheit 
selbst diktiert ist". 1 ) 

Noch eine andere Fiktion enthält nach Kants Analyse das 
ästhetische Urteil: „An einem Produkte der schönen Kunst muss 
man sich bewusst werden, dass es Kunst sei und nicht Natur; 
aber doch muss die Zweckmässigkeit in der Form desselben von 
allem Zwange willkürlicher Regeln so frei scheinen, als ob es 
ein Produkt der blossen Natur sei". Die Natur war schön, wenn 
sie zugleich als Kunst aussah; und die Kunst kann nur schön 
genannt werden, wenn wir uns bewusst sind, sie sei Kunst und 
. sie uns doch als Natur aussieht". „Die Zweckmässigkeit im Pro- 
dukte der schönen Kunst muss, ob sie zwar absichtlich ist, doch 
nicht absichtlich scheinen, d. i. schöne Kunst muss als Natur 



1) Die Idee eines ästhetischen Genieinsinns involviert den Begriff eines 
ästhetischen „Bewusstseins überhaupt". Wie dieser Begriff in Kants Erkenntnis- 
theorie als wertvolle methodische Fiktion figuriert (vgl. oben S. 635), so tritt 
dieser Hilfsbegrift nun auch in Kants Ästhetik auf; er entwickelt sich, wie 
Windelband in einem Zusatz zu Amrheins Schrift: Kants Lehre vom Bewusst- 
sein überhaupt u, s. w. S. 169 ausspricht, nachher bei Kant in der Kr. d. U. § 57 
und 59 zum Begriff des „übersinnlichen Substrats der Menschheit". Wie Kants 
Erkenntnistheorie im „logischen Bewusstsein überhaupt", wie seine Ästhetik im 
„ästhetischen Bewusstsein überhaupt*, so gipfelt übrigens auch seine Ethik in der 
Idee eines „moralischen Bewusstseins überhaupt", das in der Idee eines allge- 
meinen Reichs der Zwecke (vgl. oben S. 650 ff.) als „allgemeiner Wille* involviert 
ist. Der Hilfsbegriff des „Bewusstseins überhaupt* eröffnet noch weite Perspek- 
tiven; er ist eine sehr fruchtbare methodische Fiktion, wie bes. Laas erkannt hat. 



672 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



anzusehen 1 ) sein, ob man sich ihrer zwar als Kunst bewusst 
ist* (§ 45). 3 ) Hier Hegt Kant und dem Leser die „bewusste Selbst- 
täuschung* auf der Zunge, auf welche neuerdings Konrad Lange 
das Wesen der Kunst mit Recht zurückführt. 

Das schöne Kunstwerk muss also angesehen werden können, 
als ob es ein Naturprodukt wäre, also nach Analogie der Natur- 
erzeugnisse. Andererseits aber muss das Schöne überhaupt so 
angesehen werden, als ob es nach Kategorien der moralischen 
Beurteilung beurteilbar, kurz, als ob es ein Sittliches wäre: also 
nach Analogie des Sittlichen. In diesem Sinne spricht Kant in 
dem berühmten § 59 „Von der Schönheit als Symbol der Sitt- 
lichkeit!" Und hier spricht nun Kant bei dieser Gelegenheit von 
der symbolischen Vorstellungsart überhaupt, 3 ) bei der die Urteils- 
kraft in so eigenartiger Weise geschäftig ist: „dies Geschäft ist 
bis jetzt so wenig auseinandergesetzt worden, so sehr es auch 
eine tiefere Untersuchung verdient; allein hier ist nicht der Ort, 
sich dabei aufzuhalten"; und so macht denn Kant auch nur einige * 
wenige allgemeinere Bemerkungen, welche im Wesentlichen darauf 
hinauslaufen, dass es eine berechtigte und unentbehrliche Vor- 
stellungsart „nach einer blossen Analogie" gibt, in der wir einen 
abstrakten Begriff (B), dem wir kein ihm direkt entsprechen- 
des anschauliches Schema unterlegen können, durch ein ana- 
logisches Bild (A) indirekt veranschaulichen; so nennen wir nach 
einer solchen Analogie einen monarchischen Staat einen beseelten 
Körper, einen despotisch regierten Staat eine blosse Maschine; 
„unsere Sprache 4 ) ist voll von dergleichen indirekten Darstellungen, 
nach einer Analogie r wodurch der Ausdruck nicht das eigentliche 
Schema für den Begriff, sondern bloss ein Symbol für die Re- 
flexion enthält: so sind die Wörter Grund, abhängen, woraus 



1) Von Kant selbst gesperrt 

2) Die Fiktion des ästhetischen Urteils (welches das Kunstwerk be- 
trachtet, als ob es Natur wäre) ist ein interessantes, bis jetzt wohl nicht 
genügend beachtetes Gegenstück zu der Fiktion des teleologischen Urteils 
(oben S. 668 f.), welches die Naturobjekte betrachtet, als ob sie Produkte der 
Kunst wären. 

3) VgL die treffende Erläuterung dieses Paragraphen bei Kuberka, 
Kants Lehre von der Sinnlichkeit (1905) S. 97ff. 

4) Dass es sich um unsere Sprache handelt, betont Kant öfters, vgl. 
oben S. 641, 657, 662, 665, 667. Hier ist der Ursprung dessen, was Fritz 
Mauthner treffend die „Kritik der Sprache 11 genannt und in seinem Werk: 
„Beiträge zu einer Kr. d Spr. Ä (t und II, 1901) zu begründen gesucht hat. 



Kants Als-Ob-Betrachtung in der Kritik der Urteilskraft. 673 

f Hessen, Substanz 1 ) . . . symbolische Hypotyposen"; es handelt 
sich um „eine Übertragung 8 ) der Reflexion über einen Gegenstand 
der Anschauung [A] auf einen ganz anderen Begriff [B], dem 
vielleicht nie eine Anschauung direkt korrespondieren kann\ Eine 
solche symbolische Vorstellungsart könne man sogar im weiteren 
Sinn auch eine „Erkenntnis" nennen (vgl oben S. 657, 666): 
„so ist alle unsere Erkenntnis von Gott nur symbolisch, und der, 
welcher die Eigenschaften Verstand, Wille u. s. w. . . . für sehe* 
matisch nimmt, gerät in den Anthropomorphismus", natürlich in 
den schädlichen, den, wie wir wissen, Kant vom erlaubten, nütz- 
lichen scharf trennt Der erlaubte Anthropomorphismus arbeitet 
mit bewussten Symbolen, 8 ) er ist daher, wie Kant ihn in den Proleg. 
$ 58 (vgl. oben S. 641) nannte, symbolischer Anthropomorphis- 
mus, dem Kant selbst huldigt, den er billigt und empfiehlt — 

Mit letzterem Hinweis ist nun von selbst der Übergang gemacht 
zur „Kritik der teleologischen Urteilskraft", die ja Kant 
unmittelbar auf die Kritik der ästhetischen folgen lässt „Schöne 
Formen" in der Natur machen den Eindruck, „als ob sie ganz 
eigentlich für unsere Urteilskraft angelegt wären", um „unsere 
Gemütskräfte gleichsam zu stärken und zu unterhalten" (§61). 
Gegenstand der teleologischen Beurteilung ist dagegen ein solches 
Beschaffensein eines Gegenstandes, welches den Eindruck macht, 

1) in dieser bedeutsamen Stelle erkennt also Kant die Kategorie B Sub- 
stanz* ausdrücklich als eine blosse sprachliche Analogie an; also als eine blosse 
Fiktion, wie dies oben S. 286 — 327 von allen Kategorien nachgewiesen worden 
ist Damit werden in Kants Sprache die Kategorien zu Ideen = heuristischen 
Fiktionen. Zu demselben Resultat kommt, jedoch von einem ganz anderen 
Ausgangspunkt aus, die von Th. Ziegler angeregte Strassburger Dissertation 
von Dr. W. Ernst: „Der Zweckbegriff bei Kant und sein Verhältnis zu den 
Kategorien" (Erg.-Heft No. 14 zu den Kantstudien 1909), bes. in dem Kapitel III: 
„ Wandlungen der Kategorien aus reinen Verstandesbegriffen zu Ideen 11 : „Beide 
sind Übertragungen [vgl oben S.SO ff.] menschlicher geistiger spontaner Tätig- 
keiten auf die flatur zum Zweck ihrer Begreiflichkeit* (Ernst a.a.O. S.68L): 
„auf diesem Standpunkt aber wird die Kausalität z. B. Ausdruck einer Beur- 
teilung der Welt, als ob sie aus einem logischen Verstände hervorgegangen 
wäre" (ib. 61). 

2) Über diese Methode der „Übertragung* vgl. oben S. 80 ff. 

3) Kant stellt in diesem § 59 der Kr. d. ü. (wie schon oben S. 655) die 
Symbole der Ideen den Schematen der Kategorie scharf gegenüber; aber, 
wie wir schon wissen (vgl. oben S. 624 und S. 628 Anm.), an anderen Stellen 
bezeichnet Kant auch die Symbole als Schemata im weiteren Sinn. Derartige 
Ungenauigkeiten der Terminologie muss man scharf, haarscharf herausstellen, 
man braucht sich aber an ihnen nicht zu stossen. Hoc licet Jovi. 

43 



674 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



„als ob es für unseren Gebrauch absichtlich so eingerichtet wäre* 
(§ 62), und überhaupt, als ob in seiner Produktion ein verständiger 
Wille absichtlich tätig gewesen wäre, „als ob [ein absichtlicher 
Begriff] in der Natur (nicht in uns) befindlich wäre* (§61); wir 
müssen „die Kausalität desselben so annehmen, als ob sie nur 
durch Vernunft möglich sei" (§ 64); aber dies ist nur eine Be- 
trachtung der reflektierenden Urteilskraft „nach der Analogie" mit 
einer bewussten Kausalität; wir können uns die Sache in dieser 
Weise subjektiv „begreiflich machen % ohne sie nun auch theo- 
retisch- objektiv so „erklären" zu wollen; es handelt sich also nur 
um ein „regulatives Prinzip* (§ 61), und so wird auch (§ 65) aus- 
drücklich nochmals „der Begriff eines Dinges als an sich Natur- 
zweck" genannt, „nach einer entfernten Analogie mit unserer 
Kausalität nach Zwecken*, Dass dies nicht ein konstitutives Prin- 
zip der bestimmenden, sondern nur ein regulatives Prinzip der 
reflektierenden Urteilskraft sei, wird nun noch oft wiederholt, so 
§§ 67, 68 und besonders § 74: darum darf man jenen Begriff auch 
nicht „dogmatisch* nehmen; wir „denken" 1 ) nur so nach „Ana- 
logie % es ist dies nur eine „nützliche Maxime" (§ 75), wir müssen 
das so „vorstellen", „So ist die Freiheit als Form der Kausalität 
nicht objektiv bestimmt, sondern, und zwar nicht mit minderer 
Gültigkeit,*) als ob dieses geschähe" (§76) und dieses regu- 
lative Prinzip ist „für unsere menschliche Urteilskraft 3 ) 
ebenso notwendig, als ob es ein objektives Prinzip wäre" (ib.); 
die Sache muss „von uns so betrachtet werden* (§ 77). 
Und im § 68 heisst es: „Um sich . . . nicht der mindesten An- 
massung, als wollte man etwas, was gar nicht in die Physik 
gehört, nämlich eine übernatürliche Ursache, unter unsere Er- 
kenntnisgründe mischen, verdächtig zu machen, spricht man in 
der Teleologie zwar von der Natur, als ob die Zweckmässigkeit 
in ihr absichtlich sei/) aber doch zugleich so, dass man der 
Natur, d. i, der Materie diese Absicht beilegt, wodurch man (weil 

1) Über dies .Denken" vgl, Ernst in der S. 673 Anm. 1 angeführten 
Abhandlung S. 17. 

2) Man beachte diese äusserst charakteristische Wendung, dass die 
fiktive Betrachtungsweise »nicht mit minderer Gültigkeit* ausgestattet 
ist, als die theoretische; jene hat also ebenso auf Wahrheit Anspruch als 
diese (vgl. oben S. 657 Anm.). 

3) Von Kant selbst gesperrt. 

4) Über diese und einige andere Stellen der Kr. d. U. vgl. F. Medicus, 
Kants Philosophie der Geschichte, Kantstudien VII, S. 198 ff. (auch separat). 



Kants Als-Ob-Betrachtung in der Kritik der Urteilskraft 675 

hierüber kein Missverständnis stattfinden kann, indem von selbst 
schon Keiner einem leblosen Stoffe Absicht in eigentlicher Be- 
deutung des Wortes beilegen wird) anzeigen will, dass dieses 
Wort hier nur ein Prinzip der reflektierenden, nicht der bestim- 
menden Urteilskraft bedeute . . . Daher spricht man in der 
Teleologie , . . ganz recht von der Weisheit, der Sparsamkeit, 
der Vorsorge, der Wohltätigkeit der Natur, . . , es soll dadurch 
nur eine Art der Kausalität der Natur nach einer Analogie mit 
der unsrigen . . . bezeichnet werden, um die Regel, wodurch 
gewissen Produkten der Natur nachgeforscht werden muss, vor 
Augen zu haben." Also — man »spricht" nur so, es handelt 
sich um eine blosse fagon de parier. Vgl. oben S. 672 Anm. 

Es handelt sich dabei also nur um eine „zufällige 14 Be- 
schaffenheit gerade unseres Verstandes, eine „Eigentümlichkeit 
des menschlichen Verstandes", und dies ist das wichtige Thema 
des ganzen § 77. Wir können darin „eine gewisse Zufälligkeit der 
Beschaffenheit unseres Verstandes erblicken/ Um dies zu zeigen, 
macht Kant nun eine neue eigenartige Fiktion. „Wir können 
uns einen Verstand denken, der . . . nicht, wie der unserige dis- 
kursiv, sondern intuitiv ist*; denn wir können „nicht in Abrede 
ziehen, dass nicht ein anderer (höherer) Verstand, als der mensch- 
liche, auch im Mechanismus der Natur . . . den Grund der Mög- 
lichkeit solcher [sog. zweckmässiger] Produkte der Natur antreffen 
könnte*. Ein solcher Verstand würde, was „für unseren Verstand 
nur durch das Verbindungsmittel der Zwecke denkbar ist, als 
[mechanisch] notwendig vorstellen können*. Die Annahme eines 
solchen intellectus archetypus 1 ) ist aber nur eine Idee; um zu 
zeigen, dass eben unser menschlicher Verstand nur „zufällig* die 
Vorstellungsart des Zweckes braucht; 4 ) unser Verstand ist eben 
„der Bilder bedürftig*; „es ist bloss eine Folge aus der besonderen 
Beschaffenheit unseres Verstandes, wenn wir Produkte der Natur 
nach einer anderen Art der Kausalität, als der der Naturgesetze 
der Materie . . . uns als möglich vorstellen*; es geht dies nicht 

1) Mit dieser Kantischen Idee eines das ganze Weltgeschehen rein mecha- 
nisch begreifenden intellectus archetypus deckt sich die von Laplace aufgestellte 
Idee eines Weltgeistes, der das ganze Weltgeschehen in einer mathematischen 
Formel erfassen würde. Diese Fiktion hat Du Bois-Reymond erneuert in seiner 
Rede: „Über die Grenzen des Naturerkenn ens <# (1872). Vgl. oben S. 78. 

2) Eine gerade entgegengesetzte Auslegung gibt die oben S. 673 Anm. 
angeführte Abhandlung von Ernst S. 22, 38 dieser Kantischen Fiktion. Aber 
die im Text angeführte Stelle ist entscheidend 

43* 



676 



Dritter Teil; Historische Bestätigungen. 



die Dinge selbst an, sondern nur „die unserem Verstände mög- 
liche Beurteilung 11 . Gebrauchen wir also trotz dieses Bewusst- 
seins doch den Begriff der Zweckmässigkeit, so bedienen wir uns 
eben eines blossen „ heuristischen Prinzips* (§ 78; vgl. den Aus- 
druck der „heuristischen Fiktion* in der Kr. d, r. V, oben S. 61 9 f.). 
Und immer wieder wird in verschiedenen Wendungen wiederholt, 
dass es sich dabei nur um „eine Beschaffenheit des menschlichen 
Verstandes 4 *, also nur um etwas „ Subjektives" handelt 

Dasselbe wird oft wiederholt in der, mit § 79 beginnenden 
„Methodenlehre* u. s. w., um zu zeigen, dass „die Vorstellungs- 
art nach Endursachen nur eine subjektive Bedingung unseres 
Vernunftgebrauches sei* (§ 82 fin.). 

Kant kommt dann daselbst in dem § 86 „Von der Ethico- 
theologie" wieder darauf, dass wir uns einen Gott „als Oberhaupt 
in einem moralischen Reiche der Zwecke denken müssen*; „das 
zur Erweiterung setner moralischen Gesinnung geneigte Gemüt 
denkt sich hier nur einen Gegenstand freiwillig, der nicht 
in der Welt ist, um wo möglich auch gegen einen solchen seine 
Pflichten zu beweisen** ; denn der sittlich handelnde Mensch „fühlt 
in sich ein Bedürfnis, hiermit zugleich etwas Befohlenes ausge- 
richtet und einem Oberherrn gehorcht zu haben". l ) „Die strengen 
Selbstverweise werden eine Sprache in ihm führen, als ob sie 
die Stimme eines Richters wären, dem er . . . Rechenschaft abzu- 
legen hätte.* Die moralische Anlage in uns, als subjektives Prin- 
zip „hat eben die Tendenz, der Weltbetrachtung eine oberste, 
nach moralischen Prinzipien die Natur beherrschende Ursache 
unterzulegen*. „Dem Endzweck einer solchen verständigen 
Weltursache (wenn es eine solche gäbe) gemäss zu sein", be- 
trachten wir dann als unsere Pflicht. So „denkt* sich die Vernunft 
„eine Gottheit". Es gibt einen alten, halbwahren Satz (den auch 
Kant gelegentlich zitiert): „die Furcht hat die Götter geschaffen* 
(timor fecit Deos), Hier aber ergibt sich: die Vernunft schafft in 
derselben Weise Gott — also kann man mit Kant sagen: ratio 
facit De um. Dass es sich aber dabei eben nur um einen „von 
unserer Vernunft hervorgebrachten Begriff von Gott" handelt, 
zeigt Kant recht deutlich, und zum Überfluss spricht er noch da- 
selbst von Gott als einem „in einem solchen Schattenbild 
vorgestellten Gegenstand wobei aber „Gegenstand" nicht 

l) Ganz ähnlich lautet das berühmte schöne Wort Goethes, Im Menschen 
liege etwas „Dienenwoüendes\ 



Kants Als-Ob-Betrachtung in der Kritik der Urteilskraft. 



677 



das absolut-transzendente, sondern nur das intentional-immanente 
Objekt der Vorstellung bedeutet. 

Von hier an (von § 87 ab) bietet uns dasselbe Werk nur 
noch eine Nachlese. In den verschiedensten Wendungen werden 
dieselben Gedanken wiederholt: man muss so „denken", »an- 
nehmen« (S. 336, 338, 342, 345, 347, 364, 365), „unterlegen" 
(S. 344), „begreiflich machen - (S. 346), nur so „denken, nicht aber 
erkennen« <S. 346, 388), „nach einer Analogie« (S. 346, 355, 357, 
381), „postulieren« (S. 303), „voraussetzen« (S. 365), es ist nur 
Sache der „reflektierenden Urteilskraft« (S. 354, 371, 374) nur 
„praktische Realität« (S. 346, 374), nur „subjektiv« (S. 339, 343) 
„nach der Beschaffenheit unseres menschlichen Erkenntnisver- 
mögens« (S. 345, 359, 371) „*«#' äv&Qwnov« (S. 354) „regulatives 
Prinzip« (S, 348) u. s. w. Bemerkenswert ist die Wendung, dass 
die Stärke des teleologischen Gottesbeweises ein für die Menschen 
„heilsamer Schein« sei (S. 353, 354). „Die Ehre Gottes wird von 
Theologen nicht unschicklich der letzte Zweck der Schöpfung ge- 
nannt** (S. 338 Anm.) — also eine Rechtfertigung einer spezielleren 
theologischen Fiktion. Die bekannte Definition der Religion wird 
wiederholt: „Religion ist Moral in Beziehung auf Gott als Gesetz- 
geber« (S. 351) oder: „Religion, d. i. Erkenntnis unserer Pflichten 
als göttlicher Gebote" (S. 376). 

Theoretisch betrachtet, ist „Gott" eine „grundlose Voraus- ■ 
Setzung« und verdient nicht einmal den Namen einer „Hypothese« 
(§ 99, S. 358/9); nicht einmal eine „Meinungssache« ist er, wie 
etwa der Äther oder die Planetenbewohner, denn „reiner Geist« 
ist „eine blosse Idee", ein blosses „ens rationis« (§ 91, S. 360); 
„Gott« und damit zusammenhängend die „unsterbliche Seele« 
sind nur „ Glaubenssachen a . 

Damit führt Kant wiederum den Begriff des „Glaubens" ein, 
nicht mit gutem Gewissen, denn'die Entschuldigung für die Ein- 
führung dieses Ausdruckes (S. 365 Anm.) ist eine ziemlich lahme. 
Zuerst versteht Kant unter „Glauben" aber immerhin noch seine 
Annahme der praktischen Realität, d. h. der Nützlichkeit einer 
Idee; also das Setzen, als ob es sich so verhielte, und das Handeln 
nach dieser Idee und im Sinne dieser Idee. In diesem Sinne 
spricht der Moralische: Für mich ist das Sittengesetz meiner Ver- 
nunft so heilig, wie wenn es ein oberster Gesetzgeber geboten 
hätte. In diesem Sinne hat dem Moralisch-Handelnden die Gottes- 
idee praktische Giltigkeit Aber diese praktische Giltigkeit verwandelt 



678 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



sich unter dem Einflüsse jenes gefährlichen Terminus „Glauben* 
bald in eine theoretische: zuletzt endigt die Kr. d. U. damit, ganz 
grob zu verlangen, „man müsse die Ideen als real anerkennen" 
(S. 365), in dem Sinne, dass „aus der Idee auf die Existenz ge- 
schlossen werden kann" (S. 368). Damit hat Kant seine kritische 
Als-Ob-Lehre wenigstens an dieser Stelle selbst aufgegeben: 1 ) er 
bleibt hier nicht auf der Höhe, die er mit so glänzendem Erfolg 
erreicht hatte. 



Eine viel konsequentere, kühnere und offenere Darstellung 
der Als-Ob-Lehre findet sich dagegen in der .aus derselben Zeit 
stammenden Schrift: Über die Fortschritte der Metaphysik. 
Kant hat bekanntlich diese Schrift entworfen als Antwort auf die 
von der Berliner Akademie auf das Jahr 1791 ausgesetzte Preis- 
frage,*) Kant hat sie selbst nicht publiziert, und diesem Umstand 
verdanken wir vielleicht gerade die offene, kühne Sprache dieser 
bis jetzt nicht genügend beachteten Schrift. 8 ) In dem Abschnitt 
„der Metaphysik drittes Stadium" (S, 137) knüpft Kant direkt an 
die Kr. d. U. an; er sagt von dem Begriff der Zweckmässigkeit, 
dass er nicht das betreffe, was in dem Objekt ist, sondern was 
wir in dasselbe legen, dass wir also diesen Begriff „nur ver- 
nünftelnd hineintragen 11 , oder „hineinlegen 41 ; „der Begriff des 
■ Zweckes ist jederzeit von uns selbst gemacht 41 . Im Zusammen- 
hang mit dem Begriff der Zweckmässigkeit steht der (ebenfalls 
von uns „gemachte") Begriff des Endzweckes überhaupt, der 
Begriff des höchsten Gutes, und im Zusammenhang mit diesem 
Begriff stehen nun andere „gemachte Begriffe" — Freiheit, Gott 
und Unsterblichkeit (oder „das Obersinnliche in uns, über uns 
und nach uns"). Im weiteren Verfolg der Abhandlung (in der 
,, Auflösung der akademischen Aufgabe") heisst es dann, dass wir 

1) Hierzu ist jedoch zu bemerken, dass Kant in seinem Opus Postumum 
ganz dieselbe Wendung öfters in dem Sinne gebraucht, dass unter „Existenz' 4 
schlechterdings nur die praktische Realität im Sinne der Als-Ob-Lehre zu ver- 
stehen ist. Die betreffenden Stellen werden unten im Abschn. VI angeführt 

2) Die Akademie musste den Termin dann auf das Jahr 1795 verlängern 
Kants Schrift könnte daher auch einige Jahre später zu datieren sein. Doch 
ändert dies nichts an der Sache. Rink in seiner Erstausgabe der Schrift (1804) 
sagt hierüber nichts. 

.3) Beachtenswert ist auch, dass in derselben Schrift (bald nach dem Ad» 
fang) die Vorstellung eines intuitiven Verstandes (einer intellektuellen Anschau- 
ung) deutlich als blosse Idee gekennzeichnet wird (S. 106). Vgl. oben S> 634. 



Kants Ms-Ob-Betrachtung in de« »Fortschritten der Metaphysik*. 679 

„das übersinnliche Ding nicht nach dem, was es an sich ist, zu 
untersuchen haben, sondern nur, wie wir es zu denken und 
seine Beschaffenheit anzunehmen haben, um dem . . . Endzweck, 
welcher das höchste Gut ist, für uns selbst angemessen zu sein* 
(S. 141). Wir stellen nicht Nachforschungen über die Natur der 
Dinge an, „die wir uns, und zwar nur zum notwendigen prak- 
tischen Behuf, selbst machen, und die vielleicht ausser 
unserer Idee gar nicht existieren, vielleicht nicht sein 
können". In diesem Zusammenhang rechtfertigt auch Kant aus- 
führlich den Terminus „Glauben" für derartige Annahmen zu 
praktischem Behuf. „Der Beweisgrund der Richtigkeit dieses 
Glaubens ist kein Beweisgrund von der Wahrheit dieser Sätze, 
als theoretischer betrachtet, mithin keine objektive Belehrung von 
der Wirklichkeit der Gegenstände derselben, denn die ist in An- 
sehung des Übersinnlichen unmöglich, sondern nur eine subjek- 
tiv- und zwar praktisch-gültige, und in dieser Absicht hinreichende 
Belehrung, so zu handeln, als ob wir wüssten, dass diese Gegen- 
stände wirklich wären" (S. 143). Es handelt sich dabei nur darum, 
„um dem, wozu wir schon von selbst verbunden sind, nämlich 
der Beförderung des höchsten Gutes in der Welt nachzustreben, 
noch ein Ergänzungsstück zur Theorie der Möglichkeit desselben, 
allenfalls durch blosse Vernunftideen hinzuzufügen, indem 
wir uns jene Objekte, Gott, Freiheit in praktischer Qualität und 
Unsterblichkeit, nur der Forderung der moralischen Gesetze an 
uns zufolge, selbst machen und ihnen objektive Realität 
freiwillig geben". Und weiterhin S. 144: „In praktischer Rück- 
sicht machen wir uns diese Gegenstände selbst, sowie wir 
die Idee derselben dem Endzwecke unserer reinen Vernunft be- 
hilflich 1 ) zu sein urteilen; welcher Endzweck, weil er moralisch 
notwendig ist, dann freilich wohl die Täuschung bewirken kann, 
das, was in subjektiver Beziehung, nämlich für den Gebrauch der 
Menschen Realität hat (weil es in Handlungen, die dieser ihrem 
Gesetze gemäss sind, der Erfahrung dargelegt worden), für Er- 
kenntnis der Existenz des dieser Form gemässen Objektes zu 
halten*. 2 ) Aber in Wahrheit sind „jene Ideen von uns willkür- 
lich gemacht" (S. 145). Also der moralische Gottesbeweis ist 
ein Argument „der Vernunftmässigkeit, ein ^solches [Wesen] 

1) d> h, die betreffenden Vorstellungen sind blosse Hilfsvorstellungen. 

2) d. h. die nützliche Fiktion verwandelt sich bei der labilen Beschaffen- 
heit jener fiktiven Annahmen leicht in ein Dogma. 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen, 



anzunehmen, 1 ) wo dann der Mensch befugt ist, einer Idee, die 
er moralischen Prinzipien gemäss sich selbst macht, gleich als 
ob er sie von einem gegebenen Gegenstand hergenommen, auf 
seine Erschliessungen Einfluss zu gestatten" (S, 151). Diese 
Ideen dienen dazu, „um den Wandel des Menschen hier auf 
Erden gleichsam als einen Wandel im Himmel vorzustellen", 9 ) 
d. h. man kann und soll die Welt nach der Analogie 8 ) mit 
der physischen Teleologie [also in der Art einer „moralischen 
Teleologie"] annehmen"; theoretisch genommen ist dies „nicht, 
wie es die Leibniz-Wolfsche Philosophie vermeint, ein haltbarer, 
sondern überschwänglicher, in praktisch-dogmatischer Rücksicht 
aber ein reeller, und durch die praktische Vernunft für unsere 
Pflicht sanktionierter Begriff 44 (S. 154), Aber diese „praktische 
Realität" darf nicht von unkritischen Lesern der kritischen Philo- 
sophie missverstanden und wieder theoretisch-dogmatisch ge- 
wendet, d, h, die Fiktion darf nicht in ein Dogma verwandelt 
werden. Kant wiederholt nochmals ausdrücklich und scharf: „Es 
zeigt sich eine gewisse Organisation der praktischen Vernunft, 
wo erstlich das Subjekt der allgemeinen Gesetzgebung, als Welt- 
urheber, zweitens das Objekt des Willens der Weltwesen, als 
ihres jenem gemässen Endzweckes, drittens der Zustand der 
letzteren, in welchem sie allein der Erreichung desselben fähig 
sind [Gott, Freiheit und Unsterblichkeit] — in praktischer 
Absicht selbstgemachte Ideen sind" (S. 156). Also jene 
Begriffe sind und bleiben — selbstgemachte Ideen. 

Damit wird nun auch der unermessliche Unterschied klar, 
welcher zwischen der Kantischen Rechtfertigung der religiösen 
Ideen besteht, und aller vor- und nachkantischen. Die Kantische 
Rechtfertigung der religiösen Vorstellungen ist eine rein fiktive, 
oder vielleicht klarer gesagt, fiktionalistische: sie sind ihm 
praktisch zweckmässige Fiktionen; dagegen alle vor- und nach- 
kantische Rechtfertigung der religiösen Begriffe und Urteile ist 
eine rationalistische: sie sind rational begründete Hypothesen. 
Nur eine Abart dieses Rationalismus ist der Kantianimus vulgaris, 

1) Von Kant selbst gesperrt. 

%) Überlieferter Text: anzustellen. 

3) Dieses Denken nach der Analogie oder das Symbolisieren erörtert Kant 
in derselben Schrift bald nach dem Anfang in einem eigenen kleinen Abschnitt: 
„Von der Art, den reinen Verstandes- und Vernunf tbegriffen objektive Realität zu 
verschaffen" (S. 120), wo er den Schematismus der Kategorien und den Symbolis- 
mus der Ideen einander gegenüberstellt; letztere bezeichneter als eine »NothiilfeV 



Kants Ais-Ob-Betrachtung im „Ende aller Dinge". 681 

nach welchem Kant die religiösen Hauptideen auf Grund der 
moralischen Tatsachen rechtfertigen soll, denn nach der seit Rein- 
hold üblich gewordenen Darstellung jenes Vulgär-Kantianismus 
zieht man ja aus den moralischen Phänomenen theoretische Konse- 
quenzen auf die Existenz Gottes u. s. w., macht also wieder nur 
Hypothesen: der echte und eigentliche Kantische Kritizismus zieht 
überhaupt keine theoretischen Schlüsse, sondern lehrt: du musst 
so handeln, als ob es einen Gott u. s. w. gäbe. Darin besteht 
Kants kritischer Pragmatismus, — 

Eine aus derselben Zeit stammende Abhandlung trägt den 
Titel: „Das Ende aller Dinge" (1794). Die „fromme Sprache" 
spricht von dem „Ende aller Dinge" als Zeitwesen, d. h. also 
strenggenommen von dem Ende aller Zeit, und von dem darauf 
beginnenden Zustand der „Ewigkeit" als einer übersinnlichen, 
mit der Zeit ganz unvergleichlichen Grösse (duratio noumenon), 
und sie setzt in diesen übersinnlichen Zustand Folgen der mora- 
lischen Handlungen, als selige oder unselige Ewigkeit Diese 
„Idee", samt der zugehörigen Idee „des allsehenden Auges eines 
Weltrichters", hält Kant für zweckmässig, und sogar „mit der all- 
gemeinen Menschenvernunft auch wundersam verwebt, weil dieser 
Gedanke' unter allen vernünftelnden Völkern zu allen Zeiten, auf 
eine oder andere Weise eingekleidet, angetroffen wird". Aber 
Kant warnt ausdrücklich davor, diese zweckmässige „Vernunft- 
idee" der Ewigkeit in ein „Dogma" zu verwandeln; vielmehr soll 
jene „Vernunftidee schlechterdings nur auf die Bedingungen des 
praktischen Gebrauchs eingeschränkt werden". Wie dieser „prak- 
tische Gebrauch" gemeint ist, sagt Kant sehr deutlich ebenda- 
selbst (S. 167): „es ist weise so zu handeln, als ob ein anderes 
Leben, und der moralische Zustand, mit dem wir das gegen- 
wärtige endigen, samt seinen Folgen beim Eintritt in dasselbe 
unabänderlich sei". 

Kant zeigt dann eingehend, dass eben vom theoretischen 
Gesichtspunkt aus diese Idee, resp. diese Ideen in lauter „Wider- 
sprüche" führen, speziell die Idee eines unabänderlichen Zustandes 
des Moralisch-Guten, speziell im ewigen Leben; auch die Idee des 
moralischen Fortschreitens in der Ewigkeit führe auf Widersprüche. 
Kant hilft sich aus diesen Schwierigkeiten, in welche die Fiktion 
der Idee der Ewigkeit führt, durch eine neue Hilfsfiktion: „die 
Regel des praktischen Gebrauchs der Vernunft dieser Idee gemäss 
will also nichts weiter sagen, als: wir müssen unsere Maxime so 



682 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



nehmen, als ob, bei allen ins Unendliche gehenden Verände- 
rungen vom Guten zum Besseren, unser moralischer Zustand der 
Gesinnung nach (der homo noumenon, .dessen Wandet im Himmel 
ist 4 ) gar keinem Zeitwechsel unterworfen wäre 44 . Zwar will sich 
dann Kant auch damit nicht zufrieden geben, es finden sich neue 
Schwierigkeiten und Widersprüche, aber er sagt dann doch schliess- 
lich: „Gleichwohl ist diese Idee» so sehr sie auch unsere Fassungs- 
kraft übersteigt, doch mit der Vernunft in praktischer Beziehung 
nahe verwandt". 

Über diese letztere Wendung mögen sich die Dogmatiker 
nur nicht zu sehr freuen: denn Kant sagt ebendaselbst sehr offen- 
herzig: „da wir es hier bloss mit Ideen zu tun haben (oder 
damit spielen), die die Vernunft sich selbst schafft . . . 
nicht etwa um über ihre Gegenstände, was sie an sich und ihrer 
Natur nach sind, nachzugrübeln, sondern wie wir sie zum Behuf 
der moralischen, auf den Endzweck aller Dinge gerichteten Grund- 
sätze zu denken haben (wodurch sie, die sonst gänzlich 
leer wären, objektive praktische Realität bekommen), — so 
haben wir ein freies Feld vor uns, dieses Produkt unserer 
eigenen Vernunft, den allgemeinen Begriff von einem Ende 
aller Dinge , . . einzuteilen , . 14 

Also: jene Idee, jene Ideen sind nur Produkte unserer eigenen 
Vernunft, und daher können wir mit Kant auch sagen: wir 
spielen mit diesen Ideen, welche die Vernunft sich selbst 
schafft — kurz, sie sind Fiktionen in unserem Sinne. — 

Eine charakteristische Stelle enthält auch die aus jener Zeit 
stammende Abhandlung; „Verkündigung des nahen Ab- 
schlusses eines Traktats zum ewigen Frieden in der 
Philosophie 11 (1796), Da heisst es: Durch das Gesetz des kate- 
gorischen Imperativs und den damit zusammenhängenden Frei- 
heitsbegriff „bekommen Ideen, die für die bloss spekulative Ver- 
nunft völlig leer sein würden, ob wir gleich durch diese [die 
Vernunft] zu ihnen, als Erkenntnisgründen unseres Endzweckes, 
unvermeidlich hingewiesen werden, eine obzwar nur moralisch- 
praktische Realität, nämlich uns so zu verhalten, als ob ihre 
Gegenstände (Gott und Unsterblichkeit), die man also in jener 
(praktischen) Rücksicht postulieren darf, gegeben wären". 1 ) Über 

1) Auf diese prägnante Stelle hat sich Forberg, der Miturheber des 
berühmten Ficbteschen Atheismusstreites, in seiner ^Apologie seines angeb- 
lichen Atheismus" berufen. Das Nähere s. unten im Abschnitt B. 



Kants Als-Ob-Betrachtung im »Vornehmen Ton" u. s. w. 683 

Postulate heisst es ebendaselbst in einer Anmerkung: „Postulat 
ist ein a priori gegebener, keiner Erklärung seiner Möglichkeit 
(mithin auch keines Beweises) fähiger, praktischer Imperativ» Man 
postuliert also nicht Sachen, oder überhaupt das Dasein 
irgend eines Gegenstandes, sondern nur eine Maxime 
(Regel) der Handlung eines Subjekts." Nach dieser wichtigen 
Erklärung wird also nicht das Dasein Gottes und der Unsterb- 
lichkeit postuliert, auch nicht einmal der Glaube an ein solches 
Dasein, sondern es wird postuliert: du sollst dich so ver- 
halten, als ob jene Gegenstände existieren würden. 

In einem offenbar erst nachher hinzugefügten Zusatz hat 
Kant freilich — seiner Art gemäss — diese unzweideutige Er- 
klärung wieder abgeschwächt: wir seien berechtigt, das Dasein 
jener Bedingungen (Gegenstände) selbst anzunehmen. — 

Eine sehr wichtige Stelle enthält auch die gleichzeitige Ab- 
handlung: »Von einem neuerdings erhobenen vornehmen 
Ton in der Philosophie" (1796). Da wird in einer sehr aus- 
führlichen Anmerkung der Ausdruck Glauben erläutert: „Glaube" 
bedeutet theoretisch genommen »etwas für wahrscheinlich 
halten*, und ist „ein Mittelding zwischen Meinen und Wissen*, 
In Bezug auf empirische Dinge und Zeugnisse gibt es ein solches 
theoretisches Glauben, aber in Bezug auf Übersinnliches gibt es 
überhaupt kein Urteil, also auch kein Wahrscheinlichkeitsurteil: 
„also gibt es keinen theoretischen Glauben an das Obersinnliche*. 

„In praktischer (moralisch-praktischer) Bedeutung aber ist 
ein Glauben an das Übersinnliche nicht allein möglich, sondern 
er ist sogar mit dieser unzertrennlich verbunden.* Denn die 
kategorisch gebietende „Stimme der Moralität in mir" verlangt 
von uns Mitwirkung zur Realisierung des unbedingten Zweckes 
des höchsten Gutes [das freilich nur eine Idee ist]; und dieses 
höchste Gut ist wieder nur realisierbar durch die „darauf hin- 
wirkende Macht eines Weltherrschers" [der freilich wiederum ja 
nur eine Idee ist]. „An ihn aber moralisch-praktisch glauben, 
heisst nicht seine Wirklichkeit vorher theoretisch für wahr an- 
nehmen, damit man, jenen gebotenen Zweck zu verstehen, Auf- 
klärung, und ihn zu bewirken, Triebfedern bekomme; denn dazu 
ist das Gesetz der Vernunft schon für sich objektiv hinreichend; 
sondern um nach dem Ideal jenes Zweckes so zu handeln, als 
ob eine solche Weltregierung wirklich wäre"; „jener Imperativ 
gebietet nicht das Glauben, sondern das Handeln*. Mit anderen 



684 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



Worten: Im Kantischen Sinne, im Sinne der kritischen Philosophie, 
heisst der Ausdruck „ich glaube an Gott", nichts anderes als: 
„ich handle so, als ob es einen Gott wirklich gäbe"; indem der 
Kantisch- und Kritisch-Denkende sittlich handelt, handelt er so, 
als ob das Gute einen unbedingten Wert in der Welt hätte, der- 
art, dass es das Entscheidende in der Welt wäre; und das Gute 
wäre das Entscheidende in der Welt, wenn es eine Weltregierung 
gäbe, welche das Gute auch zuletzt zum Siege führen würde. 
Trotzdem mir meine theoretische Vernunft verbietet, eine 
solche moralische Weltordnung anzunehmen — ein solcher Be- 
griff ist gänzlich leer — so handle ich doch so, als ob es eine 
solche moralische Weltordnung geben würde, da mir meine 
praktische Vernunft gebietet, das Gute unbedingt zu tun; 
indem ich diesem Gebot der praktischen Vernunft folge, handle 
ich, strenggenommen, theoretisch unvernünftig; 1 ) denn meine theo- 
retische Vernunft sagt mir, dass eine solche moralische Weltord- 
nung nur ein leerer, wenn auch schöner Begriff ist; aber ich finde 
nun einmal in mir das Gebot der praktischen Vernunft, das Gute 
zu tun, und dies Gebot imponiert mir als etwas Erhabenes, Ich 
handle nach diesem Gebot, Aber indem ich darnach handle, 
handle ich gerade so, als ob ich jene theoretisch als unmöglich, 
ja als widerspruchsvoll erkannte Annahme einer moralischen Welt- 
ordnung machen würde; nicht in dem Sinne, dass diese mir jenes 
Gebot gäbe; bewahre: daran denkt meine Seele gar nicht; jenes 
Gebot gefällt uns, imponiert uns um seiner selbst willen, jenes 
Gebot ist eben Inhalt meiner praktischen Vernunft; also dem nor- 
mal sittlich angelegten Menschen ist die moralische Weltordnung, 
resp. der moralische Wjeltordner, d. h. Gott ganz und gar nicht 
eine Voraussetzung für seine freiwillige Unterwerfung unter jenes 
Sittengebot. Aber indem jener Kantische Normalmensch jenes 
Sittengebot ausführt, handelt er ja gerade so, als ob diese Aus- 
führung des Sittengebotes gewissermassen nicht bloss eine empi- 
rische Folge in der Zeit, in der Erscheinungswelt hätte, sondern 
so, als ob jene moralische Handlung in eine intelligible, übersinn- 
liche Welt hineinreichte und einerseits mitwirkte zur Erreichung 
eines allgemeinen ewigen höchsten Gutes überhaupt und anderer- 
seits durch eine göttliche Macht in ein System der Zwecke selbst 
zweckmässig eingefügt würde. Das unbedingt sittlich -gute 

1) Hier ist die philosophische Wurzel des berühmten theologischen Satzes: 
tredo, quia absurdum- 



Kants Ats-Ob-Be trachtung im „Vornehmen Ton" u. s. w. 685 

Handeln ist seiner Natur nach immer und überall so; denn sittlich 
handeln heisst eben, entgegen den empirischen Bedingungen so 
handeln, als ob das Gute einen unbedingten Wert hatte, als ob 
es die Macht hätte, in eine fiberempirische Welt hineinzureichen, 
in der ein oberster Weltherrscher für die Harmonie des Guten 
und des Bösen sorgte. In diesem Sinne ist gutes Handein iden- 
tisch mit Glauben an Gott und Unsterblichkeit. In diesem Sinne 
glaubt also auch der sittlich handelnde theoretische Atheist an 
Gott und Unsterblichkeit praktisch, indem er eben so handelt, 
als ob es Gott und Unsterblichkeit gäbe. Jedes sittliche Handeln 
schliesst also eben damit die Fiktion von Gott und Unsterblich- 
keit in sich ein — dies ist der Sinn des praktischen Vernunft- 
glaubens an Gott und Unsterblichkeit. In diesem Sinne und nur 
in diesem Sinne ist auch die von Kant oben S. 666 aufgestellte 
Schlussfolgerung: „moralisch ernstliche und darum gläubige Be- 
arbeitung des Guten" zu verstehen. Der Moralisch-Gute kann 
zu sich und seinesgleichen sagen: „du handelst gut und darum 
bist auch du in deiner Weise gläubig; denn du handelst so, als 
ob es einen Gott gäbe; kürzer: du handelst gut, also glaubst 
du". Dieses Kantische recte agis, ergo credis — ist das 
Grundaxiom der praktischen Philosophie und als solches das 
Gegenstück zu dem richtig verstandenen Cartesianischen Grund- 
axiom der theoretischen Philosophie: cogito, ergo sum. 

Diese im Sinne und Geiste Kants gemachten Ausführungen 
lassen nun auch den letzten Satz der oben angeführten Stelle 
erst voll und ganz verstehen: „Es ist also in dem kategorischen 
Imperativ der . . . praktischen Vernunft, welcher zum Menschen 
sagt: ich will, dass deine Handlungen zum Endzweck aller Dinge 
zusammenstimmen, schon die Voraussetzung eines gesetzgebenden 
Willens, der alle Gewalt enthält (der göttlichen), zugleich ge- 
dacht, und bedarf es nicht, besonders aufgedrungen zu 
werden". Das moralische Gebot und das moralische Handeln 
schliesst also in diesem Sinne die „Voraussetzung" von Gott und 
Unsterblichkeit in sich ein; und so ist es ganz in Kants Sinne, 
wenn man sagt, (was übrigens Kant selbst einmal ähnlich gesagt 
hat): Auch der Atheist, der theoretisch mit dem Munde Gott und 
Unsterblichkeit leugnet, glaubt, wenn er sittlich handelt, praktisch 
an beides. Praktischer Gaube an Gott und Unsterblichkeit heisst 
für Kant eben: so handeln, als ob man annehmen würde, 
dass es jene Dinge gibt. Also „praktischer Glaube" heisst: sich 



686 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



praktisch so verhalten, so handeln, als ob man theoretisch an 
jene Dinge glauben würde. — 

Eine spätere Stelle desselben Aufsatzes spricht ebenfalls eine 
deutliche Sprache. Kant kämpft in dieser Schrift gegen die da- 
maligen mystischen Neuromantiker, welche im Sinne von Jacobi, 
Hamann, Herder, Schlosser u. a. mit „vornehmem Tone'* von 
„höheren Einsichten" sprachen, die sie angeblich über die ersten 
und letzten Fragen, insbesondere über Gott und Unsterblichkeit 
haben wollten, und er stellt sich ihnen und ihren luftigen und 
windigen Behauptungen gegenüber auf den harten Boden der 
Erfahrung und der kritischen Philosophie. Und da heisst es dann: 

„Die verschleierte Göttin, vor der wir beiderseits unsere 
Knie beugen, ist das moralische Gesetz in uns, in seiner unver- 
letzlichen Majestät Wir vernehmen zwar ihre Stimme, und ver- 
stehen auch gar wohl ihr Gebot, sind aber beim Anhören im 
Zweifel, ob sie von dem Menschen, aus der Machtvollkommen- 
heit seiner eigenen Vernunft selbst, oder ob sie von einem 
Anderen, dessen Wesen ihm unbekannt ist und welcher zum 
Menschen durch seine eigene Vernunft spricht, herkomme. Im 
Grunde taten wir vielleicht besser, uns dieser Nachforschung gar 
zu überheben, da sie bloss spekulativ ist, und was uns zu tun 
obliegt (objektiv), immer dasselbe bleibt, man mag eines oder 
das andere Prinzip zu Grunde legen; nur dass das didaktische 
Verfahren, das moralische Gesetz in uns auf deutliche Begriffe 
nach logischer Lehrart zu bringen, eigentlich allein philoso- 
phisch, dasjenige aber, jenes Gesetz zu personifizieren und 
aus der moralisch gebietenden Vernunft eine verschleierte Isis zu 
machen, (ob wir dieser gleich keine anderen Eigenschaften bei- 
legen, als die nach jener Methode gefunden werden), eine ästhe- 
tische Vorstellungsart eben desselben Gegenstandes ist; deren 
man sich wohl hinten nach, wenn durch Erstere die Prinzipien 
schon ins Reine gebracht worden, bedienen kann, um durch 
sinnliche, obzwar nur an alogische Darstellung jene Ideen 
zu beleben, doch immer mit einiger Gefahr, in schwärmerische 
Visionen zu geraten, die der Tod aller Philosophie sind/ 1 

Dieser hier vollständig mitgeteilte Passus ist sehr wichtig. 
Kant nennt hier ausdrücklich die Reduktion des Sittengesetzes auf 
ein persönliches Wesen eine rein ästhetische Vorstellungsart, 1 ) 

1) In einem ähnlichen, aber nicht identischen Sinne wird der Ausdruck 
„ästhetisch" von Kant in dem „Streit der Fakultäten" (1798) gebraucht; dort 



Kants Als- Ob-Be trachtung im „Ewigen Frieden*. 



687 



welche als sinnliche der logischen Lehrart entgegengestellt 
wird — ganz wie später Hegel die Religion als niedere „Vor- 
stellung* — der Philosophie als höherem n Begriff 1 ' gegenüber- 
stellt. Alle personifikatorische Vorstellung ist also nur zweck- 
mässige Versinnlichung nach Analogie, es handelt sich also um 
personifikatorische Fiktionen (vgl oben S. 50 ff.). 

Noch eine andere Stelle in derselben Abhandlung gehört 
hierher. In einer grossen Anmerkung daselbst kommt folgendes 
vor: „Aus dem moralischen Gesetz, welches uns unsere eigene 
Vernunft mit Autorität vorschreibt, nicht aus der Theorie der Natur 
der Dinge an sich selbst geht nun der Begriff von Gott hervor, 
welchen uns selbst zu machen die praktische reine Vernunfi 
nötigt* Diese von Kant selbst hervorgehobenen Worte: „selbst 
zu machen" zeigen doch wieder ganz deutlich, dass es sich beim 
Gottesbegriff für Kant um eine selbstgemachte Idee handelt, 
dass wir in Gott eben nur unsere eigene moralische Vernunft 
personifizieren und verehren, so dass Kant hierin in Bender seinen 
richtigen Fortsetzer gefunden hat. 

An derselben Stelle wird dann dieses Selbstmachen der 
Gottesidee auf die Methode der Analogie zurückgeführt; und nur 
in „praktischer Rücksicht (auf den Lebenswandel)" wird der 
Gottesidee „Realität" zugeschrieben, eben in dem oben ausführ- 
lich entwickelten Sinne. — 

Eine bemerkenswerte Äusserung findet sich in der Schrift 
„Zum ewigen Frieden" (1795), im „ersten Zusatz zum 2. Ab- 
schnitt". Dieser Zusatz handelt „Von der Garantie des ewigen 
Friedens", und Kant findet diese Gewähr („Garantie") in der 
„grossen Künstlerin Natur, aus deren mechanischem Laufe sieht- 
barlich Zweckmässigkeit hervorleuchtet, durch die Zwietracht der 
Menschen Eintracht, selbst wider ihren Willen, emporkommen zu 
lassen." Insofern wird diese „grosse Künstlerin Natur" auch 
„Vorsehung genannt"; „die wir zwar eigentlich nicht aus diesen 
Kunstanstalten der Natur erkennen, oder auch nur daraus auf 
sie schliessen, sondern (wie in aller Beziehung der Form der 
Dinge auf Zwecke überhaupt) nur hinzudenken können und 
müssen, um uns von deren Möglichkeit, nach der Analogie mensch- 
licher Kunsthandlungen, einen Begriff zu machen, deren Verhält- 
nis und Zusammenstimmung aber zu dem Zwecke, den uns die 

unterscheidet (1,4) Kant zwischen einer historischen» rationalen und ästhetischen 
Quelle der Religion. 



688 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



Vernunft unmittelbar vorschreibt (dem moralischen), sich vorzu- 
stellen, eine Idee ist, die zwar in theoretischer Absicht über- 
schwenglich, in praktischer aber . . . dogmatisch und ihrer Rea- 
lität nach wohl gegründet ist*'. Letzterer Ausdruck (der an das 
Leibnizsche phänomenon bene fundatum erinnert) kann nun hier, 
nach den früher angeführten Parallelstellen hierüber, nicht miss- 
verstanden werden: die „Realität", um die es sich handelt, ist 
eine schlechterdings „praktische 14 in dem Sinne, dass die idee 
der Vorsehung eine praktisch-berechtigte, ja notwendige Fiktion 
ist, eben nur ein modus cogitandi et dicendi; nichts weiter 

In demselben Sinne spricht Kant in der dazugehörigen An- 
merkung: „Im Mechanismus der Natur, wozu der Mensch als 
Sinnenwesen mit gehört, zeigt sich eine ihrer Existenz schon zum 
Grunde liegende Form, die wir uns nicht anders begreiflich 
machen können, als indem wir ihr den Zweck eines sie vorher 
bestimmenden Welturhebers unterlegen, dessen Vorherbestim- 
mung wir die (göttliche) Vorsehung . , . nennen/' Kant will 
diese Sprache im allgemeinen bis zu einem gewissen Grade er- 
tauben, da er ja eben die Fiktion als solche als zweckmässig, ja 
als notwendig anerkennt; sie aber auf einen einzelnen konkreten 
Fall anzuwenden, findet er „töricht", „ungereimt" und voll „Eigen- 
dünkel". Man sieht also hieraus, wie kritisch Kant trotz aller 
Weitherzigkeit bei Anerkennung der Fiktion einer Vorsehung doch 
wieder in Bezug auf die Anwendung derselben ist; Kant gibt hier 
also eine vollständige Methodologie der religiösen Fiktion. 

In demselben Geiste sind noch weitere Erörterungen ebenda- 
selbst gehalten: man solle auch nicht in konkreten Einzelfällen 
von einer Mitwirkung (concursus) Gottes sprechen, z. B. man solle 
nicht sagen, „dass nächst Gott der Arzt den Kranken zurecht- 
gebracht habe". „Eine solche Denkungsart" sei in sich wider- 
sprechend und auch nutzlos. Nur „in moralisch-praktischer Ab- 
sicht, . . . z. EL in dem Glauben, dass Gott den Mangel unserer 
eigenen Gerechtigkeit, wenn nur unsere Gesinnung ächt war, 
auch durch uns unbegreifliche Mittel ergänzen werde, wir also in 
der Bestrebung zum Guten nichts nachlassen sollen, ist der Begriff 
des göttlichen concursus ganz schicklich und sogar notwendig, 
wobei es sich aber von selbst versteht, dass Niemand eine gute 
Handlung (als Begebenheit in der Welt) hieraus zu erklären 
versuchen muss, welches ein vorgebliches theoretisches Erkenntnis 
des Übersinnlichen, mithin ungereimt ist" 



Kants Als-Ob-Betrachtung im „Streit der Fakultäten". 689 

Also wiederum eine genaue, ins einzelnste gehende Metho- 
dologie der religiösen Fiktion; die Fiktion der Mitwirkung 
Gottes ist „ schicklich, ja notwendig* für die religiöse Vorstellung, 
das religiöse Leben; aber wehe dem, der aus der Fiktion, die 
doch nur praktisch-religiösen Sinn und Wert hat, theoretische 
Konsequenzen ziehen will; der aus dem ernsthaften Spiel der 
religiösen Vorstellung spielerischen Ernst machen will! Ihn trifft 
die Schneide des kritischen Schwertes. — 

In dem „Streit der Fakultäten 44 (1798) finden sich einige 
beachtenswerte Äusserungen zur Theorie der religiösen Fik- 
tionen: in dem „Anhang einer Erläuterung des Streites der 
Fakultäten durch das Beispiel desjenigen zwischen der theo- 
logischen und philosophischen". Zunächst wird (im Absatz I) 
wieder die bekannte Definition der Religion wiederholt: „Nicht 
der Inbegriff gewisser Lehren als göttlicher Offenbarungen (denn 
der heisst Theologie), sondern der aller unserer Pflichten über- 
haupt als göttlicher Gebote (und subjektiv der Maxime, sie als 
solche zu befolgen) ist Religion". Dieses „als* haben wir ja 
nun hinreichend erkannt und durchschaut: es ist identisch mit 
dem als-ob: Religion überhaupt ist eine fiktive Betrachtungs- 
weise, ein System von zweckmässigen, ja notwendigen Fiktionen. 
Weiterhin (im Absatz II) wird nun eine bisher nicht besprochene 
Fiktion eingeführt: die Idee der Gnade: „Wird . . . unter 
Natur (in praktischer Bedeutung) das Vermögen [des Menschen] 
aus eigenen Kräften überhaupt gewisse Zwecke auszurichten ver- 
standen, so ist Gnade nichts anderes, als Natur des Menschen, 
sofern er durch sein eigenes, inneres, aber übersinnliches Prinzip 
(die Vorstellung seiner Pflicht) zu Handlungen bestimmt wird, 
welches, weil wir es uns erklären wollen, gleichwohl aber weiter 
keinen Grund davon wissen, von uns als von der Gottheit in 
uns gewirkter Antrieb zum Guten, dazu wir die Anlage in uns 
nicht selbst gegründet haben, mithin als Gnade vorgestellt 
wird" — also eine religiöse Fiktion eigener Art. Wir können 
dieselbe auch so erläutern: in dem Menschen lebt und wirkt 
„das übersinnliche Prinzip der Pflicht« — übersinnlich in der 
Bedeutung, dass dies Prinzip nicht Sache der Sinnlichkeit, d. h. 
der niederen Seelenvermögen ist, sondern Sache der praktischen 
Vernunft, also eben der höheren Seelenkräfte. Dieses psycho- 
logische Übersinnliche in uns verwandeln wir durch die 
religiöse Phantasie in ein metaphysisches Übersinnliches 

44 



690 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



ausser uns, indem wir jenes psychologische Prinzip in uns 
aus uns hinausprojizieren, als eine ȟbersinnliche* Macht im 
metaphysischen Sinne: tun wir das nur unbewusst, so leben wir 
im gewöhnlichen Aberglauben der Menge des Volkes („Volk" 
nicht im demokratischen Sinne gemeint, sondern im philoso- 
phischen; zum „Volk" im philosophischen Sinne gehören auch 
meist die höchsten Spitzen, mit geringen Ausnahmen, z. B. Fried- 
rich der Grosse); machen wir jene Verwandlung aber mit Be- 
wusstsein, so machen wir eben die in unserer Natur gegründete, 
darum zweckmässige und notwendige religiöse Fiktion, wir 
haben die der Philosophen und philosophisch Gebildeten einzig 
würdige Religion des Als-ob. 

Am Schluss desselben Absatzes II wird dann auch die Fik- 
tion der Offenbarung eingeführt. Zunächst hatte Kant in 
diesem Absatz die „Philosophischen Grundsätze der Schriftaus- 
legung" „zur Beilegung des Streites zwischen der theologischen 
und philosophischen Fakultät* entwickelt; diese „philosophischen 
Grundsätze" konzentrieren sich einfach wiederum in einer Fik- 
tion: „Lauten also Spruchstellen so, als ob [dieses als ob ist 
nicht das fiktive, sondern das hypothetische] sie das Glauben 
einer Offenbarungslehre nicht allein als an sich verdienstlich an- 
sähen, sondern wohl gar über moralisch-gute Werke erhöben, so 
müssen sie so ausgelegt werden, als ob nur der moralische, 
die Seele durch Vernunft bessernde und erhebende Glaube da- 
durch gemeint sei, gesetzt auch der buchstäbliche Sinn (z. B. 
wer da glaubt und getauft wird, wird selig u. s. w.), lautet dieser 
Auslegung zuwider". Kant stellt überhaupt das allgemeine 
Prinzip auf: „Schriftstellen, welche gewisse theoretische für heilig 
angekündigte, aber allen (selbst den moralischen) Vernunftbegriff 
übersteigende Lehren enthalten, dürfen, diejenigen aber, welche 
der praktischen Vernunft widersprechende Sätze enthalten, müssen 
zum Vorteil der Letzteren ausgelegt werden". Dieses „Auslegen", 
„Deuten", „Unterlegen", „Hereintragen" u. s. w, ist also eben 
nichts anderes als eine interpretatorische Fiktion:') „alles 
kommt in der Religion aufs Tun an und diese Endabsicht, mit- 
hin auch ein dieser gemässer Sinn muss allen biblischen Glaubens- 
lehren untergelegt werden" , , . „Jene statutarischen Dogmen" . . • 
„können gleichwohl als wesentliche Erfordernisse zum Vortrag 



1) Ähnlich schon oben S. 664 Amn. 



Kants Als-Ob-Betrachtung im «Streit der Fakultäten". 691 

eines gewissen Kirch englaubens angesehen werden, der aber, 
weil er nur Vehikel des Religionsglaubens . . « ist . . nicht 
zum Glaubensartikel selbst gemacht . ♦ . werden darf*. „Die 
Schriftstellen . . . müssen so ausgelegt werden, dass sie nur das 
Vehikel jenes moralischen Glaubens für ein Volk, nach dessen 
bisher bei ihm in Schwang gewesenen Glaubenslehren, betreffen". 
Hier sieht man also deutlich : frühere Glaubenslehren = Dogmen 
werden im Laufe der Zeit in blosse Fiktionen verwandelt; jene 
starren, statutarischen Dogmen werden immer mehr als bloss 
symbolisch «bildliche Vorstellungsformen aufgefasst, erkannt, ja 
wiedererkannt; denn Kant spricht gelegentlich 1 ) die Meinung aus, 
die in seiner Zeit lag und auch historisch keineswegs so ganz 
unberechtigt ist, wie man heutzutage meint, dass jene Dogmen 
ursprünglich bei den Urhebern selbst nur bewusste Fiktionen 
gewesen seien, und er bedauert die „Verwirrungen" („mit Vernunft 
zu rasen"), in welche »man geraten kann, wenn man die Ver- 
sinnlichung einer reinen Vernunftidee in die VorsteMung 
eines Gegenstandes der Sinne verwandelt" (ebendaselbst 
S. 70, Anmerkung). Diese letztere Stelle ist sehr wichtig: Kant 
zeigt hier, dass ursprüngliche Fiktionen, d. h, sinnliche, symbo- 
lische, bildliche Vorstellungen oder „Versinnlichungen einer reinen 
Vernunftidee* — verwandelt werden in Dogmen, d. h. „in die 
Vorstellung eines Gegenstandes der Sinne" — feiner, klarer, deut- 
licher und exakter kann diese Verwandlung nicht ausgedrückt 
werden. 

In der schriftlichen Fixierung für das Volk sind nun freilich 
notgedrungen jene Vorstellungen vergröbert worden; die Urkunden, 
in denen jene religiösen Vorstellungen niedergelegt worden sind, 
haben im Lauf der Zeit den Charakter der Heiligkeit angenom- 
men. Man kann sie nicht einfach wegwerfen, auch dann nicht, 
wenn man nun in fortgeschrittenen Zeiten jene Dogmen, sei es 
als ursprüngliche Fiktionen wiedererkennt, sei es eben überhaupt 
selbständig in solche Fiktionen verwandelt. Steht man auf 
diesem Fiktionsstandpunkt, auf dem Standpunkt, dass man jene 
Dogmen als Fiktionen, und die damit verknüpften Erzählungen 
oder „Mythen" als „Sagen" (wie Kant ebendaselbst, S. 71 und 
S. 68 den Standpunkt von Strauss antezipierend, sich äussert) 



1) Oben S. 657, 661 f., 664, 665 Anm. Vgl. auch oben S. 602 sowie 
die Schrift von Dr. Bruno Wehnert Jesus als Symboliker. Dortmund 1909. 

44* 



692 



Dritter Teil : Historische Bestätigungen. 



erkennt, so bleibt nichts übrig, als eben jene starren Schriftstellen 
durch eine interpretatorische Fiktion so zu deuten, als ob 
in ihnen der moralische Vernunftglaube enthalten wäre. »Die Aus- 
legung der Schriftstellen, welche buchstäblich 0 den alten starren 
Kirchenglauben stutzen, muss auf die Übereinstimmung mit dem 
moralischen Vernunftglauben „absichtlich gerichtet werden". Dass 
diese Deutung mit dem buchstäblichen Sinn in Widerspruch gerät, 
lässt sich nicht vermeiden, wie ja überhaupt die Anwendung 
aller Fiktionen auf Widersprüche führt. Wer solche Widersprüche 
nicht ertragen kann, muss eben davon bleiben: die Mathematiker 
und Physiker müssen in ihren Grundbegriffen und in manchen 
ihrer Methoden auch Widersprüche verdauen lernen. 

Aber Kant macht ausdrücklich darauf aufmerksam, dass für 
den öffentlichen feierlichen „Vortrag* die Dogmen Dogmen bleiben 
müssen, dass die feierliche Kirchensprache natürlich jene Ver- 
flüssigung und Verflüchtigung der Dogmen in Fiktionen nicht 
ohne weiteres verträgt; und so tritt nun für den philosophisch 
gebildeten Kirchenlehrer eine neue, antagonistische Fiktion ein, 
ein entgegengesetztes Als ob: er betrachtet jene schriftliche 
Fixierung als Offenbarung, bringt sie unter die Idee der Offen- 
barung. Kant gestattet dies ausdrücklich, auf „die vereinigte 
Stimme der biblischen Theologen hin", und drückt sich fein, aber 
deutlich darüber so aus: „das Christentum ist die Idee von der 
Religion, die überhaupt auf Vernunft gegründet und sofern natür- 
lich sein muss. Es enthält aber ein Mittel zur Einführung des- 
selben unter Menschen, die Bibel, deren Ursprung für übernatür- 
lich gehalten wird, die (ihr Ursprung mag sein, welcher er wolle), 
sofern sie den moralischen Vorschriften der Vernunft in Ansehung 
ihrer öffentlichen Ausbreitung und inniglichen Belebung förderlich 
ist, als Vehikel zur Religion gezählt werden kann und als 
ein solches auch_für übernatürliche Offenbarung ange- 
nommen werden mag* 1 , — also „die Idee der Offenbarung wird 
hier als eine zweckmässige Fiktion eingeführt und gestattet, wie 
das ja auch schon oben S. 690 der Fall war. 

Vielleicht könnte man noch zweifeln, ob die letztangeführte 
Stelle aus Kant in der Tat die Offenbarung als eine erlaubte 
Fiktion einführe. Aber eine spätere Stelle derselben Schrift tauch 
noch im L Abschnitt, in dem Passus: „Friedensschluss und Bei- 
legung des Streits der Fakultäten* S. 100) kommt ganz unzwei- 
deutig „zu dem Satz: dass die Bibel, gleich als ob sie eine 



Kants Als-Ob-Betrachtung in .Theorie und Praxis*. 693 

göttliche Offenbarung wäre, aufbewahrt, moralisch benutzt und 
der Religion, als ihr Leitmittel, untergelegt zu werden verdiene". 

Diese Stellungnahme gestattet dem philosophisch Gebildeten 
natürlich auch, je nach den Umständen ad hominem zu sprechen, 
wovon dieselbe Schrift („der Streit der Fakultäten") selbst ein 
charakteristisches Beispiel enthält In der Vorrede zu dieser Schrift 
hat Kant, nach dem Tode des Königs Friedrich Wilhelm IL, den 
Brief mitgeteilt, den er diesem König als Antwort auf die bekannte 
Beschuldigung der „Herabwürdigung*' der christlichen Religion 
geschrieben hat Der Vergleich dieses faktisch an den König 
abgesendeten Briefes mit seinem Entwurf ist lehrreich. Dieser 
Entwurf ist in der Ausgabe von Ros. und Schub. XI, 1, S. 272 
zuerst gedruckt, und in die Hartensteinsche Ausgabe von 
1868, Bd. VII, S. 325 ff., und danach auch in die Kirchmannsche 
Ausgabe, unmittelbar in den „Streit der Fakultäten* selbst als 
Anmerkung aufgenommen woiden. Kant spricht in dem Schreiben 
von seinem Gewissen, das ihn bei Abfassung seiner religiösen 
Schriften geleitet habe. Im ursprünglichen Entwurf beruft er sich 
auf „das Gewissen, gleichsam als den göttlichen Richter in 
uns", in dem abgesendeten Briefe aber nennt er sein Gewissen 
einfach „diesen Richter in mir selbst". Diese Änderung gibt 
zu denken. — 

Hierherzuziehen ist auch die Schrift über Theorie und 
Praxis (Über den Gemeinspruch u. s, w. 1793). In Betracht 
kommt speziell Abschnitt II: „Vom Verhältnis der Theorie zur 
Praxis im Staatsrecht" . Hier tritt Kant voll und ganz für die 
Idee des ursprünglichen Vertrages ein, als „das Grund- 
gesetz, das nur aus dem allgemeinen (vereinigten) Volkswillen 
entspringen kann"; selbst der Grundsatz, dass nun doch nicht 
die Übereinstimmung aller, sondern die Majorität der Stimmen 
ausschlaggebend sei, „wird als mit allgemeiner Zusammenstim- 
mung, also durch einen Kontrakt angenommen, der oberste Grund 
der Errichtung einer bürgerlichen Verfassung sein müssen". — 
„Hier ist nun ein ursprünglicher Kontrakt, auf den allein eine 
bürgerliche, mithin durchgängig rechtliche Verfassung unter Men- 
schen gegründet und ein gemeines Wesen errichtet werden kann. 
Allein dieser Veitrag (contr actus originär ius oder pactum sociale 
genannt) als Koalition jedes besonderen und Privatwillens in einem 
Volk zu einem gemeinschaftlichen und öffentlichen Willen , . > 
ist keineswegs als ein Faktum vorauszusetzen nötig (ja als ein 



694 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



solches gar nicht möglich), gleichsam als ob allererst aus der 
Geschichte vorher bewiesen werden müsste, dass ein Volk, in 
dessen Rechte und Verbindlichkeiten wir als Nachkommen ge- 
treten sind, einmal wirklich einen solchen Aktus verrichtet . . . 
haben müsse, um sich an eine schon bestehende bürgerliche 
Verfassung für gebunden zu achten. Sondern es ist eben eine 
blosse Idee der Vernunft, die aber ihre unbezweifelte (praktische) 
Realität hat: 1 ) nämlich jeden Gesetzgeber zu verbinden, dass er 
seine Gesetze so gebe, als sie aus dem vereinigten Willen eines 
ganzen Volkes haben entspringen können, und jeden Untertan, 
sofern er Bürger sein will, so anzusehen, als ob er zu einem 
solchen Willen mit zusammengestimmt habe« Denn das ist der 
Probierstein der Rechtmässigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes.* 
Nachher heisst es weiter in diesem Sinne: der Gesetzgeber kann 
sich gar nicht irren, „da er sich selbst fragt, ob das Gesetz auch 
mit dem Rechtsprinzip zusammenstimme oder nicht; denn da hat 
er jene Idee des ursprünglichen Vertrags zum unfehlbaren 
Richtmasse, und zwar a priori, bei der Hand". 

Kant will diese Idee schlechterdings nur als ideelle Richt- 
schnur bei der Gesetzgebung angesehen und gebraucht 
wissen, und ist durchaus dagegen, nun aus dieser Idee eine 
historische Realität machen zu wollen, und so daraus dann even- 
tuell revolutionäre Konsequenzen zu ziehen. Er eifert gegen die- 
jenigen, welche „die Idee von einem ursprünglichen Vertrag, die 
immer in der Vernunft zum Grunde liegt, als etwas, welches 
wirklich geschehen sein müsse, annehmen und so dem Volke 
immer die Befugnis zu erhalten meinten, davon bei einer groben, 
aber von ihm selbst dafür beurteilten Verletzung nach seinem 
Gutdünken abzugehen . . „Wenn man zu allererst gefragt hätte, 
was Rechtens ist (wo die Prinzipien a priori feststehen . . .), so 

1) Die blosse Idee (von Kant selbst gesperrt] hat also ihre .unbe- 
zweifelte praktische Realität 41 : man beachte hier wiederum diesen Ausdruck, 
denn von hier aus fällt ein helles Licht auf diejenigen Stellen, an denen [wie 
oben oft, z. B. S. 653, 658, 662 angeführt] „praktische Realität* der Ideen von 
Gott und Unsterblichkeit behauptet wird. Bei diesen Ideen konnte das Miss- 
verständnis sich bilden, die praktische Realität bedeute eine Existenz, Aus der 
Anwendung des Ausdruckes „praktische Realität" in dem obigen Zusammen- 
hange ist „unbezweifelt", dass es sich bei Realität im praktischen Sinn und zu 
praktischem Behuf nicht um Existenz handelt, nicht um ein Sein, sondern nur 
um einen Wert, als brauchbare Vorstellung nämlich, welche .reell 1 ist im 
Sinne von „brauchbar*. 



Kants Als-Ob-Betrachtung in „Theorie und Praxis*. 695 

würde die Idee des Sozialkontrakts in ihrem unbestreitbaren An- 
sehen bleiben; aber nicht als Faktum (wie Danton will . . 
sondern nur als Vernunftprinzip der Beurteilung aller Öffentlichen 
rechtlichen Verfassung überhaupt 11 Kant gibt nachher ein Bei- 
spiel der praktischen Anwendung dieser Idee : es sei z. B. die 
Frage: „Ob ein Gesetz, das eine gewisse, einmal angeordnete 
kirchliche Verfassung für beständig fortdauernd anbefehle, als 
von dem eigentlichen Willen des Gesetzgebers (seiner Absicht) 
ausgehend angesehen werden könne?" Kant verneint diese Frage, 
denn es sei klar, „dass ein ursprünglicher Kontrakt des Volkes, 
welcher dieses zum Gesetze machte, an sich selbst null und 
nichtig sein würde, weil er wider die Bestimmung und Zwecke 
der Menschheit streitet" . . . Also die Idee des ursprünglichen 
Kontrakts ist so wenig als ein historisches Faktum anzusehen, dass 
selbst, wenn wirklich einmal historisch durch einen ursprünglichen 
Vertrag etwas in sich Unrechtmässiges beschlossen und gesetzlich 
festgelegt worden wäre, dieses faktisch durch einen historischen 
Urvertrag entstandene Gesetz an der Richtschnur des ideellen 
Urvertrags korrigiert werden müsste — ein bedeutsamer Gedanke 
Kants, der auch auf dasjenige wieder ein helles Licht wirft, was 
er „Realität" einer solchen Idee nennt In diesem Sinne spricht 
er nachher, im letzten Abschnitt jener Schrift, davon, es sei not- 
wendig, dass das Volk „die entscheidende Stimme habe, ob Krieg 
sein solle oder nicht (wozu freilich die Realisierung jener Idee 
des ursprünglichen Vertrags notwendig vorausgesetzt werden 
muss) u — Realität bedeutet also hier wieder nicht die historische 
Wirklichkeit nach rückwärts, sondern die praktische Anwendung 
bis in ihre letzten Konsequenzen nach vorwärts. 

Die Vertragsfiktion gehört in das Gebiet des Öffentlichen 
Rechts, des Staatsrechts. 1 ) In diesem Gebiet haben nun von 



1) Dass Kant auch mit den juristischen Fiktionen des gemeinen, resp. 
römischen Rechts bekannt war, ist uns schon oben S. 642 vorgekommen und 
wird uns unten nochmals begegnen. Aber auch in der jetzt in Frage stehenden 
Schrift (Theorie und Praxis) kommt in demselben Zusammenhang diese Bekannt- 
schalt zum Vorschein. Da heisst es in einer Anmerkung (Ed. Kirchmann S. 122): 
.derjenige, welcher ein opus verfertigt, kann es durch Veräusserung an einen 
Anderen bringen» gleich als ob es sein [d.ru dieses Anderen] Eigentum wäre*. 
— Es sei hier der Vollständigkeit halber noch angeführt, dass Kant in derselben 
Schrift, ganz gegen den Schluss, auch noch einmal die schon oben S. 637 
besprochene religiöse Fiktion der Vorsehung zulässt: man kann es 
für einen, den moralischen Wünschen und Hoffnungen der Menschen (beim 



696 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



jeher die englischen Politiker und Juristen mit Fiktionen gearbeitet, 
und auch damit zeigt Kant eine bemerkenswerte Vertrautheit. 
Kant spricht in derselben Schrift, in demselben Abschnitt, von 
der „Verfassung von Grossbritannien, wo das Volk mit seiner 
Konstitution so gross tut, als ob sie das Muster für alle Welt 
wäre"; wir finden, „dass die Konstitution von der Befugnis, die 
dem Volk, im Fall der Monarch den Kontrakt von 1688 über- 
treten sollte, zusteht, ganz stilisch weigt". Damit behalte sich 
das Volk einerseits insgeheim die Rebellion vor; andererseits 
könne dieses Recht zur Rebellion doch nicht in die Verfassung 
selbst aufgenommen werden, da man noch ein zweites Staats- 
oberhaupt aufstellen müsste, „welches die Volksrechte gegen das 
erstere beschützte", und dann noch ein drittes u. s. w. Um diesen 
Schwierigkeiten zu entgehen, haben die „ Volksleiter «, welche 
einen Monarchen, der jene Konstitution nicht hielt, weggejagt 
haben, „dem von ihnen weggeschreckten Monarchen lieber eine 
freiwillige Verlassung der Regierung angedichtet» als sich das 
Recht der Absetzung desselben angemasst, wodurch sich die Ver- 
fassung in offenbaren Widerspruch mit sich selbst würde versetzt 
haben"* Also es wird in diesem Falle die Fiktion gemacht, 
als ob der verjagte Monarch freiwillig sein Amt aufgegeben habe* 
Kant erwies sich übrigens, was hier noch angeführt sein mag, 
auch in dem „Streit der Fakultäten", als ein Kenner dieser treff- 
lichen englischen Methode. Gleich am Anfang jener Schrift, in 
dem Abschnitt: „Einteilung der Fakultäten überhaupt" heisst es: 
„Man muss es gestehen, dass der Grundsatz des Grossbritan- 
nischen Parlamentes: die Rede ihres Königs vom Thron sei als 
ein Werk seines Ministers anzusehen (da es der Würde eines 
Monarchen zuwider sein würde, sich Irrtum, Unwissenheit oder 
Unwahrheit vorrücken zu lassen, gleichwohl aber das Haus über 
ihren Inhalt zu urteilen, ihn zu prüfen und anzufechten berechtigt 
sein muss), dass, sage ich, dieser Grundsatz sehr fein und richtig 

Bewusstsein ihres Unvermögens) nicht unangemessenen Ausdruck 
halten, die dazu [zur Erreichung des Menschheitszieles] erforderlichen Um- 
stände von der Vorsehung zu erwarten, welche dem Zwecke der Mensch- 
heit im Ganzen ihrer Gattung zur Erreichung ihrer endlichen Bestimmung . , . 
einen [glucklichen] Ausgang verschalten werde* . . . also von Vorsehung zu 
reden ist ein erlaubter modus dicendi. Einige Seiten vorher wird übrigens 
auch wieder die Idee des Fortschrittes der Menschheit (vgl. oben S. 645 f.) 
eingeführt, trotz ihrer offenbaren faktischen Hoffnungslosigkeit, als ein« 
„Maxime, mithin auch als notwendige Voraussetzung in praktischer Absicht*. 



Kants Als-Ob-Betrachtung in der Rechtslehre. 



697 



ausgedacht sei", Kant billigt also ausdrücklich diese bekannte 
Fiktion des englischen Staatsrechtes, welche in dem berühmten 
Satze zum Ausdruck kommt: the king can do no wrong. Kant 
macht daselbst dann die Nutzanwendung auf einen verwandten 
Fall: „Ebenso rnuss auch die Auswahl gewisser [religiös-dogma- 
tischer] Lehren, welche die Regierung zum öffentlichen Vortrag 
ausschliesslich sanktioniert, der Prüfung der Gelehrten ausgesetzt 
bleiben, weil sie nicht als das Produkt des Monarchen, sondern 
eines dazu befehligten Staatsbeamten, von dem man annimmt, 
er könne auch wohl den Willen seines Herrn nicht recht ver- 
standen oder auch verdreht haben, angesehen werden muss." 



An die zuletzt erörterten Fragen des öffentlichen Rechts 
knüpfen sich am zweckmässigsten die Ausführungen an, welche 
Kant im I. Teil seiner „Metaphysik der Sitten", in der „Rechts- 
lehre" (1797) gegeben hat Eine grosse Rolle spielt sogleich 
hier am Anfang, speziell in dem Abschnitt über Privatrecht, die 
Idee, welche als „die ursprüngliche Gemeinschaft des Bodens 
überhaupt" bezeichnet wird (§ 6, Anm., § 10, § 13). Um die Mög- 
lichkeit der ursprünglichen d, h. ersten Erwerbung eines Boden- 
stückes der Erde juristisch konstruieren resp, deduzieren zu können, 
wird von Kant folgende Fiktion gemacht: „alle Menschen sind 
ursprünglich (d. i. vor allem rechtlichen Akt der Willkür) im recht- 
mässigen Besitz des Bodens, d. i. sie haben ein Recht, da zu 
sein, wohin sie die Natur oder der Zufall (ohne ihren Willen) 
gesetzt hat Der Besitz (possessio), der vom Sitz (sedes) als einem 
willkürlichen, mithin erworbenen, dauernden Besitz unterschieden 
ist, ist ein gemeinsamer Besitz, wegen der Einheit aller Plätze 
auf der Erdfläche . . . Der Besitz aller Menschen auf Erden, der 
vor allem rechtlichen Akt derselben vorhergeht (von der Natur 
selbst konstituiert ist), ist ein ursprünglicher Gesamtbesitz 
(communio possessionis originaria) . . ., ein praktischer Vernunft- 
begriff, der a priori das Prinzip enthält, nach welchem allein die 
Menschen den Platz auf Erden nach Rechtsgesetzen gebrauchen 
können*' (§ 13). Man dürfe nicht etwa sagen: der Boden sei 
„von Natur und ursprünglich, vor allem rechtlichen Akt, frei** 
(§ 6)> „denn auch das wäre ein Verhältnis zu Sachen, nämlich 
dem Boden, der Jedermann seinen Besitz verweigerte; . . . weil 
diese Freiheit des Bodens ein Verbot für Jedermann sein würde, 



698 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



sich desselben zu bedienen, wozu ein gemeinsamer Besitz des- 
selben erfordert wird, der ohne Vertrag nicht stattfinden kann. 
Ein Boden aber, der nur durch diesen frei sein kann, muss wirk- 
lich im Besitze Aller derer (zusammen Verbundener) sein, die sich 
wechselseitig den Gebrauch desselben untersagen . . (§ 6). 
Also hier wird sogar noch die Fiktion eines ursprünglichen Ver- 
trages eingeführt, durch den der ursprüngliche gemeinschaftliche 
Besitz des Bodens ausgesprochen wird. 

Kant fährt dann ebendaselbst fort; „diese ursprüngliche 
Gemeinschaft des Bodens . . . (communio fundi originaria) ist 
eine Idee, welche objektive (rechtlich-praktische) Realität hat" — 
also die uns bekannten Ausdrücke; „objektiv-praktisch-reale Idee", 
welche wir durch die gleichwertigen, aber deutlicheren Ausdrücke: 
zweckmässige Fiktion ersetzen. 

Kant hat zu seinen Ausführungen aber noch folgende 
bemerkenswerten Zusätze gemacht; Jene ursprüngliche Gemein- 
schaft des Bodens — eine Idee — „ist ganz von der uranfäng- 
lichen (communio primaeva) unterschieden, welche eine Erdich- 
tung ist, weil diese eine [historischl gestiftete Gemeinschaft hätte 
sein . . . müssen . . . und davon müsste uns die Geschichte 
einen Beweis geben" (§ 6); in demselben Sinne heisst es § 10: 
„Wenn man sich (problematisch) *) eine ursprüngliche Gemein- 
schaft (communio mei et tui originaria) denkt: so muss sie doch 
von der uranf anglichen (communio primaeva) unterschieden 
werden, welche, als in der ersten Zeit der Rechtsverhältnisse 
unter Menschen gestiftet, angenommen wird, und nicht, wie die 
erstere, auf Prinzipien, sondern nur auf Geschichte gegründet 
werden kann, wobei die letztere doch immer als erworben und 
abgeleitet gedacht werden müsste". Endlich heisst es im § 13: 
„der Besitz aller Menschen auf Erden, der vor allem rechtlichen 
Akt derselben vorhergeht (von der Natur selbst konstituiert ist), 
ist ein ursprünglicher Gesamtbesitz (communio possessionis 
originaria), dessen Begriff nicht empirisch und von Zeitbedingungen 
abhängig ist, wie etwa der gedichtete, aber nie erweisliche eines 
uranfänglichen Gesamtbesitzes (communio primaeva), sondern ein 
praktischer Vernunftbegriff u. s. w. (Schluss s. oben S. 697). 

Also Kant scheidet scharf zwischen der rein ideellen Fiktion 
eines „ursprünglichen" Gesamtbesitzes, die ihm ein juristischer 

1) Über die Bedeutung dieses „ problematisch" s. oben S 597 und unten 
die Ausführungen aus und zu Kants Logik. 



Kants Als-Ob-Betrachtung in der Rechtslehre. 699 

Hilfsbegriff ist, einerseits — und der faktischen Hypothese 
eines „uranfänglichen 11 Gesamtbesitzes, welche auf historische 
Giltigkeit Anspruch erhebt, andererseits; nur dass er dieser 
Hypothese alle Berechtigung abspricht und sie in diesem 
Sinne „Erdichtung" nennt, im tadelnden Sinne, als Produkt der 
willkürlichen, undisziplinierten Einbildungskraft. Der „Vernunft- 
begriff* eines „ursprünglichen 0 Gesamtbesitzes ist ihm dagegen 
als „Idee" — wie alle Ideen — offenbar eine „heuristische Fik- 
tion" (vgl. oben S. 619), also eine berechtigte Erdichtung, ein 
Produkt der von der Vernunft geleiteten Phantasie; in diesem 
Sinne nennt ja, wie wir oft, z. B. S. 625 fanden, Kant seine Ideen 
einfach „Erdichtungen", im guten Sinn. 

In demselben Abschnitt über das Privatrecht (§1 — § 42) 
finden sich noch einige sonstige fiktive Vorstellungsweisen. So 
findet sich im § 20 „die Idee der a priori vereinigten Willkür 
Aller*, wodurch ich allein ein Recht gegen jeden Besitzer einer 
Sache erwerben könne, — In demselben § 20 findet sich noch 
eine merkwürdige Analogie rechtlicher mit mechanischer Verhält- 
nisse: „in der parabolischen Bahn eines geworfenen Steines kann 
dieser im Gipfel derselben einen Augenblick als im Steigen und 
Fallen zugleich begriffen betrachtet werden", diese Betrachtung 
beruhe auf dem „Gesetz der Stetigkeit* (lex continui), vgl. oben 
S. 615, 642 f.; und so könne auch bei einem Vertrag der Eigen- 
tumsübertragung der betreffende Gegenstand im Augenblick des 
Überganges von der einen auf die andere Rechtsperson als gleich- 
zeitiges Eigentum beider betrachtet werden. 

Um die Elternpflicht der Erhaltung der Kinder zu begründen, 
macht Kant im § 28 folgende eigenartige Fiktion: „Es ist eine in 
praktischer Hinsicht ganz richtige und auch notwendige Idee, 
den Akt der Zeugung als einen solchen anzusehen, wodurch 
wir eine Person ohne ihre Einwilligung auf die Welt gesetzt, und 
eigenmächtig in sie herübergebracht haben; für welche Tat auf 
den Eltern nun auch eine Verbindlichkeit haftet, sie, soviel in 
ihren Kräften ist, mit diesem ihrem Zustande zufrieden zu machen 11 
— also eine fiktive Begründung der Elternpflicht. 

Auch das Recht jedes Menschen auf seinen guten Namen 
nach dem Tode begründet Kant im § 35 auf eine Fiktion; wer 
mich nach dem Tode verleumdet, ist anzusehen, „als ob er es 
in meiner Lebzeit getan hätte*; es wird dabei „logisch abstrahiert 1 * 
von meiner physischen, zeitlichen Existenz; und Kant warnt 



700 



Dritter TeiL* Historische Bestätigungen. 



ausdrücklich davor, diese logische, also rein fiktive Abstraktion für 
eine reale zu nehmen, derart, dass man die Menschen nach dem 
Tod als „abgeschiedene Seelen", als „Geister" fortleben lasse 
und ihnen damit reale Rechte zuspreche, das sei „schwärmerisch"; 
es handle sich um „ideale" Rechte, Man solle also jene berech- 
tigte fiktive Annahme nicht in eine unberechtigte Hypothese ver- 
wandeln. Jene idealen Rechte habe der Mensch als homo nou- 
menon, und auch dieser Begriff entpuppt sich in diesem Lichte 
als eine blosse, aber notwendige — Fiktion, 

Auch „die Erwerbungsart durch Ersitzung" wird im § 33 
auf eine Fiktion gegründet: wenn der Besitzer einer Sache lange 
Zeit diesen Besitz nicht ausgeübt hat, wenn ich dagegen seine 
Sache viele Jahre lang besessen habe, so „kann ich ihn durch 
meinen langen Besitz ausschliessen, sein bisheriges Dasein igno- 
rieren, und, als ob er zur Zeit meines Besitzes nur als Gedanken- 
ding existierte, verfahren". — 

In der Lehre vom öffentlichen Recht treffen wir zunächst 
(§ 44) auf die Idee „des Naturzustandes, in welchem jeder seinem 
eigenen Kopfe folgt". Es handelt sich aber bei dieser Vorstellung 
nicht um „ein Faktum", sondern nur um eine „Vernunftidee" 
— denn ein solcher Zustand des bellum omnium contra omnes 
ist faktisch nie gewesen, da immer ein Teil den anderen be- 
herrscht hat 1 ) 

Der Idee des Naturzustandes korrespondiert nun die Korrelat- 
idee des ursprünglichen Vertrags, die ja schon Hobbes, 
Spinoza, Locke, Rousseau eben auch als blosse Vernunfüdee auf- 
gestellt hatten: 8 ) das berühmte pactum originarium, von welchem 
Kant im § 52 (auch schon § 41, A) spricht. Was dem „Geist 
jenes ursprünglichen Vertrags" widerspricht, was mit dieser „Idee 



1) Soweit aber dieser Zustand vorhanden ist, hat jeder »das Recht, 
zu tun, was ihm recht und gut dünkt" (§ 44). In diesem Zustand „gesetzloser 
Freiheit* tun die iMenschen daher .einander gar nicht unrecht, wenn sie sich 
untereinander befehden: denn was dem Einen gilt, das gilt auch wechselseitig 
dem Anderen, gleich als durch eine Übereinkunft' (§42). Also dieser Natur- 
zustand des bellum omnium contra omnes wird wieder rückwärts als durch 
einen allerersten Urvertrag begründet betrachtet. 

2) Wo, wie nicht selten, in den sekundären Darstellungen sich eine 
andere Darstellung der Vertragsidee bei den Vorkantianern findet, beruht die 
Darstellung entweder auf irriger Interpretation der betreffenden Texte, oder 
auch auf Unklarheiten jener vorkantischen Autoren, welche gelegentlich nicht 
scharf genug zwischen Fiktion und Hypothese unterscheiden. 



Kants Als-Ob-Betrachtung in der Rechtslehre. 



701 



nicht woh! vereinbar ist", ist widerrechtlich und muss abgeschafft 
werden. 

Mit dieser Vertragsfiktion hängt auch die Fiktion eines all- 
gemeinen Willens zusammen (welche eine gewisse Ähnlichkeit 
mit der oben S. 635, 671 erwähnten Fiktion eines „Bewusstseins 
überhaupt" hat): Kant führt diesen „allgemein-vereinigten Willen" 
(auch „Volkswillen" genannt) ein in den §§ 34 Anm., 39, 41, 49 
A, D, 51 u. ö. Die Idee dieses allgemeinen Willens wird in 
folgendem Regulativ (§ 49 D) ausgedrückt: „Was das Volk (die 
ganze Masse der Untertanen) nicht über sich selbst und seine 
Genossen beschliessen kann, das kann auch der Souverain nicht 
über das Volk beschliessen" = „die Idee eines allgemein-gesetz- 
gebenden Willens" (§ 41). 

Das „Obereigentum" des Souverains am Boden „ist nur 
eine Idee", welche dazu dient, die Verteilung dieses Bodens unter 
die Einzelnen „nach Rechtsbegriffen vorstellig zu machen" (§ 49 
B); derartige Ideen haben „objektiv- praktische Realität" (§ 51). 

Die Obrigkeit wird nun auch als „von Gottes Gnaden" vor- 
gestellt, d. h. man soll nicht über den faktischen Ursprung der 
Gewalt des Staatsoberhauptes und des Gesetzes „vernünfteln", 
sondern ihn als von Gott eingesetzt betrachten: „ein Gesetz, das 
so heilig ist, dass, es praktisch auch nur ia Zweifel zu ziehen, 
. . . schon ein Verbrechen ist, wird so vorgestellt, als ob es nicht 
von Menschen, aber doch von irgend einem höchsten Gesetzgeber 
herkommen müsse und das ist die Bedeutung des Satzes: ,alle 
Obrigkeit ist von Gott', welcher nicht einen Geschichtsgrund 
der bürgerlichen Verfassung, sondern eine Idee, als praktisches 
Vernunftprinzip, aussagt" . . damit hängt zusammen, dass „es 
ein wahres Staatsbedürfnis wird, sich auch als Untertanen einer 
höchsten unsichtbaren Macht . . . zu betrachten" (§ 49 C) — 
und „das Kirchenwesen" ist die auf dieser Fiktion beruhende 
öffentliche Einrichtung mit ihrem „Gottesdienst für das Volk". 

Wenn aber das Volk einmal unter dem „Vorwand des Not- 
rechts", im „casus necessitatis", seinen Souverain gewaltsam ent- 
fernt, so kann diese „Entthronung eines Monarchen doch auch als 
freiwillige Ablegung der Krone . . . gedacht werden" — also 
auch in diesem äussersten Falle tritt, wie wir schon oben S. 696 
sahen, die Fiktion vermittelnd dazwischen. 1 ) 

1) In demselben Zusammenhang wird aber auch die Fiktion gemacht, 
dass „Alles, was der Monarch ... in der Qualität eines Oberhauptes tut, als 



702 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



Nicht der Monarch, aber „der Staat muss für ewig ange- 
sehen werden" — und diese Fiktion hat bedeutsame rechtliche 
Wirkungen bei der Errichtung von Stiftungen, die für alle Zeit 
errichtet worden (Anh. zu § 42, No. 8). 

Auf fiktiver Grundlage beruht auch der Eid. Über ihn 
äussert sich Kant im § 40, wozu man den „Beschluss" der 
„Tugendlehre" nach § 53 hinzuziehen muss — die Athener ver- 
trieben den Protagoras als Gotteszweifler: „hierin taten ihm die 
Richter von Athen als Menschen zwar sehr unrecht, aber als 
Staatsbeamte und Richter verfuhren sie ganz rechtlich und konse- 
quent; denn wie hätte man einen Eid schwören können, wenn 
es nicht öffentlich und gesetzlich, von hoher Obrigkeit wegen 
(de par le Senat) befohlen 1 ) wäre: dass es Götter gebe". 
Der Glaube an Götter, an Gott ist also eine offizielle Fiktion, 
als Grundlage des Eides, ohne welchen die Justiz nicht aus- 
kommen kann. Es ist zwar „an sich" „im Grunde unrecht", die 
Staatsbürger zum Eid zu zwingen; aber „dieser Geisteszwang, 
diese tortura Spiritus" ist ein unentbehrliches „Notmittei" für die 
Justiz, dem sich kein Staatsbürger entziehen darf; denn „von der 
Religion muss vorausgesetzt werden, dass sie jeder habe", d. h. 
ein Jeder muss seine Pflichten für so heilig ansehen, als ob sie 
ihm ein Gott befohlen habe; man schwört „auf den Fall, dass ein 
Gott wäre": „in diesem Sinne mögen wohl alle redlich und zu- 
gleich mit Besonnenheit abgelegten Eide getan worden sein". 
Bestimmter hat sich Kant, wie wir sehen werden, in seinem Opus 
Postumum hierüber ausgesprochen. 

Nach einer weiteren Fiktion (§ 53) „können die Menschen, 
welche ein Volk ausmachen, als Landeseingeborene, nach der 
Analogie der Erzeugung von einem gemeinschaftlichen Ehern- 
stamm angesehen werden, ob sie es gleich nicht sind". 

äusserlich rechtmässig geschehen angesehen werden muss, weil er selbst, 
als Quell der Gesetze betrachtet, nicht Unrecht tun kann' 1 . Hier spielt Kant 
offenbar auf den bekannten englischen Grundsatz an: The King can do no 
wrong. Kant ist in seinem Gebrauch der Fiktion von der in England (noch 
heute) üblichen Anwendung der politischen Fiktion sichtlich stark beeinflusst 
Vgl. oben S. 696 f. Die historischen Mittelglieder dieser Beeinflussung sind 
noch zu untersuchen. 

I) Vgl. Kants Anthropologie § 37, wo er „die von den Römern in 
Staats kluger Absicht veranstalteten Augurien und Haruspizien" „einen 
durch den Staat geheiligten Aberglauben" nennt, „um in gefährlichen Zeit- 
läufen das Volk zu lenken". Über „weise Regierungen" vgl. oben S. 662. 



Kants Als-Ob-Betrachtung in der Tugendiehre. 



703 



Bei einer Kriegserklärung, welche der Souverain an ein 
anderes Volk ergehen lässt, „muss das Volk dafür angesehen 
werden, dass es seine Stimme dazu gegeben habe", denn „der 
Mensch als Staatsbürger muss im Staate immer als mitgesetz- 
gebendes Glied betrachtet werden" (§55). 

Auch „im Kriegszustände zwischen zwei Staaten kann man 
ein Recht finden, es muss etwas Analogisches mit einem Ver- 
trag angenommen werden, nämlich Annahme der Erklärung 
des anderen Teils, dass beide ihr Recht auf diese Art suchen 
wollen" (§ 56). 

Aber, wie es im § 62 heisst, „das ist nicht die Art, wie 
Jedermann sein Recht suchen soll. Also ist nicht mehr die Frage: 
ob der ewige Friede ein Ding oder Unding sei, und ob wir uns 
nicht in unserem theoretischen Urteil betrügen, wenn wir das 
Erstere annehmen, sondern wir müssen so handeln, als ob 
das Ding sei, was vielleicht nicht ist, auf Begründung des- 
selben und diejenige Konstitution, die uns dazu die tauglichste 
scheint . . . hinwirken, um ihn herbeizuführen, und dem heil- 
losen Kriegführen ... ein Ende zu machen. Und wenn das 
Letztere . . . auch immer ein frommer Wunsch bliebe, so betrügen 
wir uns doch gewiss nicht mit der Annahme der Maxime, dahin 
unablässig zu wirken. Der „dauernde Friedenszustand" ist „von 
dem Ideal einer rechtlichen Verbindung der Menschen unter 
öffentlichen Gesetzen hergenommen", bleibt aber doch freilich 
„eine unausführbare Idee" (§ 61). — 

Die „Tugendlehre" (1797), der II. Teil der „Metaphysik 
der Sitten", beginnt (Einl. II) mit der Aufstellung des fiktiven 
„Ideals des Weisen": „Die Tugend wird als ein Ideal, dem man 
stets sich annähern müsse, unter dem Namen des Weisen dich- 
terisch personifiziert"; eine weitere Ausgestaltung dieser Fiktion 
folgt dann im Abschnitt XIV: „die Tugend, in ihrer ganzen Voll- 
kommenheit betrachtet, wird vorgestellt, nicht wie der Mensch 
die Tugend, sondern als ob die Tugend den Menschen besitze"; 
„der Ausdruck, der Tugend und Laster verpersönlicht, ist 
eine ästhetische Maschinerie . . daher ist eine Ästhetik 
der Sitten zwar nicht ein Teil, aber doch eine subjektive Dar- 
stellung der Metaphysik derselben". 

Zu dieser „ästhetischen" Maschinerie — diesen charakte- 
ristischen Ausdruck trafen wir schon oben S. 686, vgl. S. 667 — 
gehört nun auch die Gottesidee; von ihr ist schon ganz am 



704 



Dritter Teil; Historische Bestätigungen. 



Anfang, in der gemeinschaftlichen Einleitung zu der Metaphysik 
der Sitten (IV, am Schluss) die Rede: „das Gesetz, was uns a 
priori und unbedingt durch unsere eigene Vernunft verbindet, 
kann auch aus dem Willen eines höchsten Gesetzgebers, d. u 
eines solchen, der lauter Rechte und keine Pflichten hat (mithin 
dem göttlichen Willen), hervorgehend ausgedrückt werden, 
welches aber nur die Idee von einem moralischen Wesen 
bedeutet, dessen Wille für alle Gesetz ist, ohne ihn doch als 
Urheber desselben zu denken" — also nur um eine Aus- 
drucksweise handelt es sich dabei, um eine fafon de parier, 
um eine „heuristische Fiktion". 

Ganz am Schluss der Einleitung zur Rechtslehre heisst es 
daher weiter: eine eigentliche Pflicht gegen jenes höchste mora- 
lische Wesen kann es daher auch nicht geben, „weil es eine trans- 
zendente Pflicht sein würde, d. i. eine solche, der kein äusseres 
verpflichtendes Subjekt korrespondierend gegeben werden kann, 
mithin das Verhältnis in theoretischer Rucksicht hier nur ideal, 
d. L zu einem Gedankending ist* 1 ; dieses Gedankending 
„machen [von Kant selbst gesperrt] wir uns selbst", aber „nicht 
durch einen leeren, sondern, in Beziehung auf uns selbst und 
die Maximen der inneren Sittlichkeit, mithin in praktischer 
innerer Absicht, fruchtbaren Begriff"; daher „besteht denn auch 
unsere ganze immanente (ausführbare) Pflicht in diesem bloss ge- 
dachten Verhältnis allein", d. h, der edle, besser geartete Mensch 
fasst die Sittlichkeit als Pflicht auf, d. u als ob sie durch ein 
heiliges Wesen ihm geboten wäre. 1 ) 

In diesem Sinne ist es auch selbst eine Pflicht des Menschen, 
Religion zu haben, nämlich eben „die Erkenntnis aller unserer 
Pflichten als (instar)^ göttlicher Gebote" zu haben. Aber, wie 
der § 18 sagt, dieses ist eine Pflicht gegen uns selbst, nicht aber 
„das Bewusstsein einer Pflicht gegen Gott. Denn da diese 
Idee ganz aus unserer eigenen Vernunft hervorgeht und 
. . . von uns selbst gemacht [von Kant selbst gesperrt] wird, 
so haben wir hierbei nicht ein gegebenes Wesen vor uns, gegen 
welches uns Verpflichtung obläge . . sondern es ist Pflicht des 
Menschen gegen sich selbst, diese unumgänglich der Vernunft 
sich darbietende Idee auf das moralische Gesetz in uns, wo sie 

1) im Sinne Kants wäre der Zusatz, dass natürlich für den Minderwertigen 
dieses Als- Ob sich in ein Weil verwandeln muss, 

2) Instar, urspr. ad instar = nach dem Bilde» nach der Analogie von . . . 



Kants Als-Ob-Betrachtung in der Tugendlehre. 



705 



von der grössten sittlichen Fruchtbarkeit ist, anzuwenden. In 
diesem (praktischen) Sinn kann es also heissen: Religion zu 
haben, ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst*. 

Dasselbe wiederholt der „Beschluss" der Tugendlehre: „das 
Formale aller Religion, wenn man sie so erklärt, sie sei der In- 
begriff der Pflichten als (instar) göttlicher Gebote, gehört zur 
philosophischen Moral, indem dadurch nur die Beziehung der 
Vernunft auf die Idee [von Kant selbst gesperrt] von Gott, welche 
sie sich selber macht, ausgedrückt wird 1 * u. s. w. „Dass alle 
Menschenpflichten diesem Formalen . . . gemäss gedacht 
werden sollen, davon ist der Grund nur subjektiv-logisch. Wir 
können uns nämlich Verpflichtung (moralische Nötigung) nicht 
wohl anschaulich machen, 1 ) ohne einen Anderen . . . , näm- 
lich Gott, dabei zu denken. Allein diese Pflicht in Ansehung 
[von Kant selbst gesperrt] Gottes (eigentlich der Idee, welche 
wir uns von einem solchen Wesen machen) ist Pflicht des Men- 
schen gegen sich selbst/ 

In diesem Sinne betrachtet der Mensch sein Gewissen auch 
als ein anderes, höheres Wesen in sich selbst (§ 13): „Das Ge- 
wissen des Menschen wird sich bei allen Pflichten einen Anderen, 
als sich selbst zum Richter seiner Handlungen denken müssen . . . 
dieser andere mag nun eine wirkliche oder bloss ideal ische 
Person sein, welche die Vernunft sich selbst schafft. Eine 
solche idealische Person (der autorisierte Gewissensrichter) muss 
ein Herzenskündiger sein; denn der Gerichtshof ist im Innern des 
Menschen aufgeschlagen" (daher heisst es auch im § 9: „der 
innere Richter, der als eine andere Person gedacht wird"); »zu- 
gleich muss er aber auch allverpflichtend, d. i. eine solche Person 
.sein oder als eine solche gedacht werden, im Verhältnis auf 
welche alle Pflichten überhaupt auch als ihre Gebote anzusehen 
sind". „Dieses will nun nicht soviel sagen, als: der Mensch 

1) Diese Veranschaulich ung darf aber nach Kant (§ 12) nicht soweit 
gehen, dass der Mensch die angenommenen »himmlischen Gegenstände in 
gegenwärtigen Bildern anruft; denn ihr demütigt euch alsdann nicht unter einem 
ideal, das euch eure eigene Vernunft vorstellt, sondern unter einem Idol, was 
euer eigenes Gemächsel ist". Diese Autfassung dürfte manchem als zu rigoros 
erscheinen; es könnte gefragt werden, ob nicht in römisch- oder griechisch- 
katholischen Gegenden die »gegenwärtigen Bilder' doch vielleicht auch noch 
als fiktive Darstellungen von fiktiven göttlichen Gestalten gelten könnten, so- 
zusagen als Fiktionen zweiten resp. dritten Grades. Dem konsequenten 
Kritizismus würde dies Entgegenkommen allerdings nicht mehr entsprechen. 

45 



706 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



durch die Idee, zu welcher ihn sein Gewissen unvermeidlich leitet, 
sei berechtigt, noch weniger aber: er sei durch dasselbe ver- 
bunden, ein solches höchstes Wesen ausser sich als wirklich 
anzunehmen; denn sie [jene Idee] wird ihm nicht objektiv, durch 
theoretische, sondern bloss subjektiv, durch praktische sich selbst 
verpflichtende Vernunft, ihr angemessen zu handeln, gegeben; 
und der Mensch erhält vermittelst dieser, nur nach der Ana- 
logie mit einem Gesetzgeber aller vernünftigen Weltwesen, eine 
blosse Leitung, die Gewissenhaftigkeit, welche auch religio 
genannt wird, als Verantwortlichkeit vor einem, von uns selbst 
unterschiedenen, aber uns doch innigst gegenwärtigen heiligen 
Wesen . . . sich vorzustellen und dessen Willen sich als Regel 
der Gerechtigkeit zu unterwerfen. Der Begriff von der Religion 
überhaupt ist hier dem Menschen bloss ein Prinzip der Beur- 
teilung aller seiner Pflichten als göttlicher Gebote." Also mit 
anderen Worten: die Gottesidee ist nur ein regulatives Prinzip, 
eine heuristische Fiktion. 

So dient z. B. jene Idee dazu, dass »man alle Menschen 
als Brüder unter einem allgemeinen Vater, der aller Glückselig- 
keit will, sich vorstellt" (§ 47), oder wie es in der „Schlussan- 
merkung" zum Ganzen heisst: „man könnte sich (nach Menschen- 
art) auch so ausdrücken: „Gott hat vernünftige Wesen er- 
schaffen, gleichsam aus dem Bedürfnis, etwas ausser sich zu 
haben, was er lieben könne, oder auch, von dem er geliebt 
werde". Vgl unten S. 720. 

Schliesslich gipfelt die Fiktion der Gottesidee in der Vor- 
stellung Gottes als des strafenden Weltrichters; wie es in der- 
selben „Schlussanmerkung" heisst, wird die Idee einer göttlichen 
Strafgerechtigkeit hier personifiziert; es ist nicht ein besonderes, 
richtendes Wesen, was sie ausübt (denn da würden Widersprüche 
desselben mit Rechtsprinzipien vorkommen), sondern die Gerech- 
tigkeit, gleich als Substanz . , . spricht das Recht . . / Es 
handelt sich also um „die blosse Gerechtigkeit, als überschweng- 
liches einem übersinnlichen Subjekt angedachtes Prinzip". Als 
real kann ein solches Wesen aber, das als Weltrichter zugleich 
Weltschöpfer sein müsste, nicht angenommen werden; 1 ) denn 

1) Natürlich darf auch, wie es bei Kant in der zugehörigen Fussnote 
heisst, die Idee des künftigen Lebens „nicht einmal als Hypothese eingemischt 
werden*; es handelt sich auch bei dieser Idee um ein regulatives Prinzip, 
um eine heuristische Fiktion. 



Kants AIs-Ob-Betrachtung in der Tugendlehre. 707 

dies „scheint den Prinzipien der praktischen Vernunft zu wider- 
sprechen, nach welchen eine Weltschöpfung hätte unterbleiben 
müssen, die ein der Absicht ihres Urhebers, die nur Liebe zum 
Grunde haben kann, so widerstreitendes Produkt geliefert haben 
würde" — eine von Ed. v. Hartmann übersehene Stelle, der nicht 
ganz mit Unrecht Kant als „Vater des Pessimismus" dargestellt hat — 
Aber ist es denn nun nicht vom ethischen Standpunkt aus 
eine verwerfliche Lüge, in der bisher geschilderten Weise von 
einem „Glauben an einen künftigen Weltrichter* zu sprechen, 
dessen Realität man doch nicht annimmt? Diese wichtige Frage 
hat Kant im § 9 behandelt, 1 ) in welchem er zwischen dem not- 
wendigen Vernunftglauben an die Gottesidee und der Lüge des 
Heuchlers eine haarscharfe Grenze zieht Lüge ist es, wenn 
jemand „sich überredet, es könne doch nicht schaden, wohl aber 
nützen, einen solchen künftigen Weltenrichter in Gedanken als 
Herzenskündiger zu bekennen, um auf allen Fall seine Gunst zu 
erheucheln*, Lüge ist es, wenn jemand „sich mit innerer Ver- 
ehrung des Sittengesetzes schmeichelt, da er doch keine andere 
Triebfeder als die der Furcht vor Strafe bei sich fühlt*. In einem 
solchen ist die Idee eines ethischen Gesetzgebers nicht wirksam, 
daher auch nicht „wirklich", und von einem solchen kann man 
mit Fug sagen, dass „er den Glauben an einen künftigen Welt- 
richter lügt, indem er wirklich keinen solchen in sich findet": 
denn der wahrhaft sittliche Mensch findet diesen Glauben in dem 
Sinne „wirklich" in sich, dass dieser Glaube in ihm wirksam ist, 
derart, dass ihm das Sittengesetz so heilig ist, als ob es ein 
göttlicher Gesetzgeber gegeben hätte* Und in diesem Sinne 
glaubt er innerlich an Gott Eine „innere Lüge" begeht aber 
der, dem das Sittengesetz eine lästige Fessel ist, der aber sich 
und seinem Gott vormacht, er liebe das Sittengesetz Wem aber 
im rechten Sinne der Vernunft und Vernunftkritik das Sittengesetz 
so heilig ist, als ob es ein göttliches Gebot wäre, der hat den 
philosophischen inneren Glauben an Gott, ohne sich, wie jener 
gedachte Schächer, selbst zu belügen. Und wer nun diesen wahren, 
inneren Glauben an Gott hat, der kann auch nach aussen hin 
mit Fug sagen, er glaube an Gott, ohne damit eine „äussere 
Lüge" zu begehen. Eine „äussere Lüge* begeht aber der, der 
den Namen Gottes im Munde führt, dem aber Gott nicht der 



1) Vgl. auch den Schluss des .Ewigen Friedens in der Philosophie*. 

45* 



708 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



heilige Gesetzgeber des die ganze Geisterwelt umfassenden Sitten- 
gesetzes ist, sondern der willkürliche launische Tyrann, dessen 
Gunst er zu seinem Privatvorteil erschmeichelt; wenn dieser nun 
von einem heiligen Gott spricht, so „glaubt er nicht, was er einem 
Anderen sagt", und ein solcher Lügner „verletzt die Würde der 
Menschheit in seiner eigenen Person". — 

In der Anthropologie (1798) 1 ) wird man naturgemäss wenig 
für unser Thema erwarten; gleichwohl geht man beim Nachsuchen 
nicht ganz leer aus. Im § 3S spricht Kant von der „symbolischen 
Erkenntnis", einem beliebten Thema der damaligen Philosophen 
(vgl. oben S. 639): „Gestalten der Dinge (Anschauungen), sofern 
sie nur zu Mitteln der Vorstellung durch Begriffe dienen, sind 
Symbole, und das Erkenntnis durch dieselben heisst symbolisch". 
„Das symbolische Erkenntnis ist dem diskursiven entgegengesetzt". 
„Symbole sind bloss Mittel des Verstandes, aber nur indirekt, 
durch eine Analogie mit gewissen Anschauungen ..." „In 
den Darstellungen der zur Moralität, welche das Wesen aller 
Religion ausmacht, mithin zur reinen Vernunft gehörigen Be- 
griffe (Ideen genannt), das Symbolische vom Intellektuellen 
(Gottesdienst von Religion), die zwar einige Zeit hindurch nütz- 
liche Hülle von der Sache selbst zu unterscheiden, ist Auf- 
klärung, weil sonst ein Ideal (der reinen praktischen Vernunft) 
gegen ein Idol vertauscht und der Endzweck verfehlt wird . . .* 

Diese ausgezeichnet klare Stelle enthält Kants Lehre von 
dem Recht der symbolischen Darstellung und Ausdrucksweise in 
nuce. Man hat sie übersehen, weil man sie in diesem Zusammen- 
hang nicht gesucht hat. 2 ) In demselben Werke macht Kant auch 

1) In den aus demselben Jahr datierten Briefen Ȇber die Buchmacherei* 
bedient sich Kant einer „visionären Geschichte*, von Möser erdichtet, als einer 
»Fiktion*, natürlich im Sinne einer exemplifikatorischen, illustrativen Fiktion, 
vgl. oben S. 38. 

2) Diese Stelle über das Verhältnis von Aufklärung und symbolischer 
Vorstellung stimmt vollständig überein mit dem, was Kant schon 1784 in der 
bekannten Abhandlung: »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung* aus- 
geführt hat Da heisst es: „Ein Geistlicher ist verbunden, seinen Katechismus- 
Schülern und seiner Gemeinde nach dem Symbol der Kirche, der er dient, 
seinen Vortrag zu tun, denn er ist auf diese Bedingung angenommen worden. 
Aber als Gelehrter hat er volle Freiheit, ja sogar den Beruf dazu, alle seine 
sorgfältig geprüften und wohlmeinenden Gedanken über das Fehlerhafte in jenem 
Symbol . . . mitzuteilen. Es ist hierbei auch nichts, was dem Gewissen zur 
Last gelegt werden könnte. Denn was er zufolge seines Amts, als Geschäfts- 
träger der Kirche lehrt, das stellt er als etwas dar, in Ansehung dessen er nicht 



Kants AIs-Ob-Betrachtung in der Anthropologie und Logik. 709 

eine bemerkenswerte Anwendung; in der Nota zum § 30 spricht 
er von der Dreieinigkeit in folgender Weise: „die heilige Drei, 
ein alter Mann, ein junger Mann und ein Voge! (die Taube) 
müssen nicht als wirkliche, ihrem Gegenstand ähnliche Gestalten, 
sondern nur als Symbole vorgestellt werden. Eben das bedeuten 
die bildlichen Ausdrücke des Herabkommens vom Himmel, und 
Aufsteigens zu demselben. Wir können, um unseren Begriffen 
von vernünftigen Wesen Anschauung unterzulegen, nicht anders 
verfahren, als sie zu anthropomorphisieren: unglücklich 
aber oder kindisch, wenn dabei die symbolische Vorstel- 
lung zum Begriffe der Sache an sich selbst erhoben wird", 
d. h. wenn die Fiktion in ein Dogma verwandelt wird. Am 
Schluss der Anthropologie, in dem Abschnitt E: „der Charakter 
der Gattung \ findet sich noch eine weitere Anwendung desselben 
Prinzips: Vorsehung bedeutet die Weisheit, welche wir in der 
Erhaltung der Spezies organisierter, zu ihrer Zerstörung beständig 
arbeitender . . , Naturwesen mit Bewunderung wahrnehmen, ohne 
darum ein höheres Prinzip in der Vorsorge anzunehmen, 
als wir es für die Erhaltung der Gewächse und Tiere anzunehmen 
schon im Gebrauch haben*. — 

Aus der nicht von Kant selbst herausgegebenen „Logik" 
(1800) ist für unseren Zweck nur weniges, dazu nicht einmal 
Sicheres zu gewinnen. Ausserdem ist die Hauptstelle (Einl. K) 



freie Gewalt hat, nach eigenem Gutdünken zu lehren, sondern das er nach 
Vorschrift und im Namen eines Anderen vorzutragen angestellt ist Er wird 
sagen: unsere Kirche lehrt dieses oder jenes; das sind die Beweisgründe, deren 
sie sich bedient Er zieht alsdann allen praktischen Nutzen für seine Ge- 
meinde aus Satzungen, die er selbst nicht mit voller Überzeugung unter- 
schreiben würde, zu deren Vortrag er sich gleichwohl anheischig machen kann; 
weil es doch nicht ganz unmöglich ist, dass darin Wahrheit verborgen liege, 
auf alle Fälle aber wenigstens doch nichts der inneren Religion Widersprechen- 
des darin angetroffen wird" u. s. w. Hier ist mit voller Schärfe zwischen der 
theoretischen „Wahrheit" der inneren Religion und dem „praktischen Nutzen" 
(der praktischen Wahrheit) der äusseren „Symbole" der Volksreligion unter- 
schieden, welch beide eine und dieselbe Person vortragen kann, — also 
wiederum die Lehre von der doppelten Wahrheit, die wir bei Kant schon mehr- 
fach angetroffen haben und noch mehrfach antreffen werden. — Die Symbole 
der Kirche werden von Kant also gerechtfertigt, aber nicht wie bei seinen Vor- 
gängern und Nachfolgern spekulativ, sondern rein fiktiv, sofern eben jene 
Symbole — Kirchliche Bekenntnisse, symbolische, d. h. gleichnismässige Er- 
kenntnisse =* „Vehikel", „Hüllen" der „inneren Religion" sind Soweit sie das 
sind, sind sie „praktisch wahr" (vgl unten S. 714). 



710 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



schon oben S. 597 ff. angeführt und besprochen; es zeigte sich, 
dass Kant in jener Als-Ob-Stelle das problematische und das fik- 
tive Urteil verwechselt hat, indem er das letztere als „problema- 
tisch" bezeichnet. Auch sonst ist die Stelle unbefriedigend: Kant 
rechnet die Als-Ob-Betrachtung daselbst zum „MeinenV) als 
» problematischen Modus des Fürwahrhaltens", und er unterscheidet 
dies vom „Glauben" als „ assertorischer Art fa desselben, während 
ihm doch sonst gerade der Glaube ein „Annehmen als ob* ist. 
Die weiteren Ausführungen daselbst über den Glauben leiden an 
dieser Unklarheit (vgl. oben S. 598, 638).*) Soviel aus der „Ein- 
leitung*. In der eigentlichen Logik ist nur wenig zu finden; das 
Bemerkenswerteste ist die Stelle über die Ideen im § 3, besonders 
die Worte: „die Realität der Idee von Gott kann nur durch die 
Idee der Freiheit und also nur in praktischer Absicht, d. i. so 
zu handeln, als ob ein Gott sei, — also nur für diese Ab- 
sicht bewiesen werden 1 *. 

Beachtenswert sind folgende Wendungen des § 22 und 29: 
„Im bejahenden Urteil wird das Subjekt unter der Sphäre eines 
Prädikates gedacht", „in einem kategorischen Urteil wird das 
Ding, dessen Vorstellung als ein Teil von der Sphäre einer anderen 
superordinierten [falsch: subordinierten] Vorstellung betrachtet 
wird, als enthalten unter diesem seinen oberen Begriffe be- 
trachtet" — Ansätze zur Erkenntnis, dass die traditionellen Be- 
stimmungen der formalen Logik auf rein fiktiven, aber zweck- 
mässigen Betrachtungsweisen beruhen (vgl. oben S. 411). 



1) Dies Meinen (= „Handeln, als ob wir unsterblich wären") bezeichnet 
Kant daselbst auch als „Ahnen". Hierdurch ist wohl Fries zu seiner Lehre 
vom Ahnen angeregt worden, welche an derselben prinzipiellen Unklarheit 
leidet, wie dieser ganze Kantische Passus. 

2) Im § 38 werden die Postulate („Gott, Freiheit und eine andere Welt") 
als „notwendige Hypothesen" bezeichnet, womit also die oben gerügte Ver- 
wechslung von Fiktionen und Hypothesen (vgl. dazu oben S. 619, 638) fort- 
gesetzt wird. 



Kants AIs-Ob-Betrachtung in den Briefen und Vorlesungen. 711 



VI 

Nachlese aus Kants Briefen, Vorlesungen und nach- 
gelassenen Papieren. 

Wir haben nun den Kreis der Kantischen Schriften durchlauten, wie diese 
in den bisherigen Ausgaben seiner sämtlichen Werke, speziell in der Harten- 
steinschen (von v. Kirchmann nachgedruckten) Ausgabe enthalten sind. Der in 
den letztgenannten Ausgaben enthaltene Briefwechsel fehlt uns noch. Aus 
diesem holen wir noch anhangsweise das hierher Gehörige nach. In einem 
Brief an Mendelssohn vom 8. April 1766 spricht Kant von der fictio heuristica, 
hypo thesls oder Erdichtung, aber in unbestimmter Weise. Viel bestimmter ist» 
was 4 Jahre später Lambert in einem, in Kants Briefwechsel abgedruckten 
Brief an Kant von den „Gesetzen der symbolischen Erkenntnis" sagt: B Wir 
reichen damit weit über die Grenzen unseres wirklichen Denkens hinaus. Das 
Zeichen^/— 1 stellt ein nicht gedenkbares Unding vor, und doch 
kann es, Lehrsatze zu finden, sehr gut gebraucht werden. Was 
man gewöhnlich als Proben des reinen Verstandes ansieht, wird meistens nur 
als Probe der symbolischen Erkenntnis anzusehen sein/ Diese treffende Be- 
merkung verrät eine tiefe Einsicht in die Natur des mathematischen Verfahrens, 
wie es oben 69 ff., 566 geschildert worden. Die Bemerkung über die Be- 
deutung der symbolischen Erkenntnis überhaupt lässt vermuten, dass Lambert 
über deren Natur tiefer nachgedacht habe. Er hat auch in seinem Neuen Or- 
ganon (1764) 11, S. 5 ff. ausführlich über dieselbe gehandelt, aber, was er sagt, 
geht nicht tief und führt nicht weit Doch mag sich Kant durch Lamberts 
Ermahnung bestärkt gefunden haben, dem in seiner Dissertation von 1770 § 10 
ausgesprochenen Prinzip weiter nachzugehen: Intellectualium non datur homini 
intuitus, sed nonnisi cognitio symbolica. Zu dieser symbolischen Erkennt- 
nis rechnet Kant auch die religiöse Bildersprache, die u. a. von Wundem redet 
(vgl. oben S. 662). In einem Brief an Fichte spricht Kant hierüber. Fichte 
meinte in seinem Brief vom 22. Januar 1792: .bei Subjekten, die so etwas 
bedürfen, könne man sich der Wunder zur Rührung . . . bedienen 8 ; das 
billigt Kant in seiner Antwort vom 2. Februar d.J. „als Akkomodation für 
Schwache in einer sinnlichen Hülle 1 *, die auch eine natürlich „bloss 
subjektive Wahrheit** für diese haben könne, während die Zensurbehörde 
„objektive Wahrheit" derselben fordere. Diese „subjektive Wahrheit" der 
religiösen Fiktionen ist wieder ein sehr bemerkenswerter Beleg zu dem prak- 
tischen Wahrheitsbegriff Kants, den wir schon oben S. 628, 653 kennengelernt 
haben. Von der »praktischen Erkenntnis" des Übersinnlichen redet Kant auch 
in dem Brief an Tieftrunk vom 11. Dezember 1797; das Nichtsinniiche sei i ur 
das „logische* »Gegenstück* zum Sinnlichen, und die Frage nach demselben 
sei nur ein Scheinproblem .quaestionis instar*; was Kant unter der „prak- 
tischen Erkenntnis* des Übersinnlichen versteht, wissen wir hinreichend — 
das System der praktisch-religiösen Fiktionen. Von der Fiktion der unend- 
lichen Teilung spricht Kant im Brief an , Herz vom 26. Mai 1789, von der Fik- 
tion des pactum sociale im Brief an Erhard vom 21. Dezember 1792. — 

Nach Kants Tode sind auch Nachschriften aus seinen Vorlesungen 
herausgegeben worden, und zwar von Pölitz, zuerst 1817 Vorlesungen über 



712 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



die philosophische Religionslehre (2. Aufl. 1830). In diesen Vorlesungen 
wird man selbstverständlich nicht viel über unser Thema suchen. Die Akko- 
modation für Schwache — oder wie Pölitz, Kants Vorlesungen über Meta- 
physik l£ sagt, für die »Miichbedürftigen' — erstreckt sich natürlich auch auf 
den Durchschnitt der Zuhörer, und so spricht Kant in diesen Vorlesungen 
naturgemäss viel dogmatischer als in seinen Werken, eben x<x& av&qumw. Doch 
hat sich Kant einmal recht deutlich ausgedrückt (S. 132): .Der Mensch handelt 
nach der Idee von einer Freiheit, als ob er frei wäre, und eo ipso ist er 
frei*. Die Stelle ist gesperrt, sei es vom Nachschreiber oder vom Heraus- 
geber, jedenfalls mit Recht: sie ist sehr klar, und besonders bezeichnend ist 
das: eo ipso ist er frei. Der Mensch ist eben dadurch frei, dass er so 
handelt, als ob er frei wäre Vom Gottesbegriff, dem natürlichen Zentrum 
dieser Vorlesung, spricht Kant hier, wie gesagt, sehr dogmatisch, vgl. t. B. 
S. 3i, 32, 34, 60, 76, 124, 140 f., 159 f. Was Kant von der Gotteserkenntnis per 
analogiam sagt (S. 53 f., 94, 98, 127), ist ebenfalls sehr dogmatisch und noch 
nicht einmal so kritisch, als die oben S. 641 angeführten Stellen aus den doch 
schon recht populären Prolegomena; auch wo Gott „gleichsam das personi- 
fizierte moralische Gesetz selbst* genannt wird (S. 173 f.) und wo „die mora- 
lischen Pflichten als Gebote eines obersten, heiligen Willens angesehen 
werden* (S. 194), ist der ganze Kontext sehr dogmatisch. Charakteristisch für 
diese Haltung und wohl auch für die Zeit dieser Vorlesungen ist, dass Kant 
(S. 93) sagt: «Wider den Anthropomorphismum subtilem müssen wir um so 
viel mehr all unsere Kräfte aufbieten, so leichter er sich in unseren Begriff 
von Gott einschleicht und ihn korrumpiert. Denn es ist besser, uns etwas gar 
nicht vorstellen zu können, als es mit Irrtümern vermengt zu denkend Wie 
weit entfernt ist diese echt-rationalistische Äusserung von der kritischen Zu- 
lassung eines »subtileren Anthropomorphismus*, die wir oben S, 634 in der 
Kr. d. r. V. gefunden haben: die zu erwartende Akademieausgabe dieser Vor- 
lesungen wird ja wohl die Zeit feststellen, wann diese Vorlesungen gehalten 
sind, die keinesfalls, wie Pölitz annimmt, aus den Jahren 1780—1785 stammen 
können. Um so bemerkenswerter ist, dass in diesen, jedenfalls schon viel 
früheren Vorlesungen die Freiheitsfiktion so klar und bestimmt auftritt 1 ) 
Die von demselben Pölitz 1821 herausgegebenen Vorlesungen über 
die Metaphysik sind für unser Thema fast unergiebig. Kein einziges Mai 
findet sich hier direkt das Als-Ob. In dem aus der Zeit um 1777 stammenden 
Teil, in der Ontotogie S. 1—79, sind historisch bemerkenswert die Ausführungen 
S. 41 f. über die entia ficta imaginaria im Unterschied von den entia rationis 
ratio cinantis, entsprechend dem Unterschied zwischen Chimären und Idealen; 
die Begriffe des Kleinsten und Grössten in Zeit und Raum werden S. 52 er- 
wähnt und in Erinnerung an Leibniz conceptus deceptores genannt; S. 60 wird 
die Idee der unsichtbaren Kirche eingeführt. In den um 1790 entstandenen Teilen 
finden sich S. 97 f. Ausführungen über die lex continuitatis, S. 153 f. über die 
symbolische Erkenntnis, mit dem Satz: „das Symbolum ist nur ein Mittel, die 



1) Bemerkenswert sind übrigens auch die Ausführungen auf S. 1 über 
die Idee, sowie bes. der Satz auf S. 127: »Die Stoiker dachten sich das Ideal 
von einem Weisen, als ob er bei keiner Not Mitleiden empfände, aber in 
nichts ein grösseres Vergnügen empfände, als aller Not abzuhelfen*. 



Kants Als-Ob-Be trachtung in den Vorlesungen und „Reflexionen*, «fr 

Intellektion zu befördern . . mit der Zeit muss es^aberwegfallflö*. 1 ) * SjW 
bis 153 handeln über die facultas fingendi, S. 310, 311, 317, 319 über die Er- 
kenntnis Gottes per analogiam. Besonders bemerkenswert sind die Ausführungen 
S. 186, 291—298: man muss Gott u.s. w. annehmen aus einer necessitas präg- 
matica heraus, um das absurdum pragmaticumzu vermeiden — so hat Kant 
hier den modernen Pragmatismus auch sogar im Ausdruck vorweggenommen. 

Heinze hat diesen Metaphysik- Vorlesungen eine sehr gründliche Unter- 
suchung gewidmet: Vorlesungen Kants über Metaphysik aus drei Semestern, 
Leipzig 1896, und hat Stücke aus anderen Nachschriften hinzugefügt In einem 
Manuskript aus dem Anfang der 90 er Jahre (K*) heisst es (S. 726): ,die 
göttliche Weisheit, insofern sie betrachtet wird, als wenn sie im Anfange 
Kräfte zum Laufe der Welt hineingelegt, ist Vorsehung*; nach S. 718 genügt 
die Erkenntnis Gottes per analogiam zur Moralität. Weiter heisst es ib. S. 653, 
711: „Wir haben Ursache, die Vernunftmässigkeit des Glaubens an Gott anzu- 
nehmen. Dies ist aber ein hinreichendes Argument, so zu handeln, als ob 
ein solches Wesen wirklich existiere; Glauben unterscheidet sich vom Wissen, 
dass er Hypothese ist, die, wenn sie praktisch ist, dasselbe leistet als das 
Wissen.* Auf die »Leistung* für das Praktische, für das Handeln, für das 
Arbeiten kommt es an. So ist Gott für Kant das, was man jetzt eine blosse 
„Arbeitshypothese* nennt. — 

Nach den Publikationen von Pölitz (1817 und 1821) hat es 60 Jahre 
gedauert, bis unsere Kenntnis und Erkenntnis Kants wieder aus Manuskripten 
gefördert worden ist. Nun aber brachte das, besonders durch das hundert- 
jährige Jubiläum der Kr. d r. V. 1881 gesteigerte Interesse an Kant sehr wert- 
volle Bereicherungen, die wir B. Erdmann und R. Reicke verdanken. 
Ersterer gab, ausser den Nachträgen zu Kants Kr. d. r V. aus Kants Nachtass 
(1881), die aber nichts für unser Thema enthalten, in zwei Bänden (1882 
und 1884) Reflexionen Kants zur kritischen Philosophie heraus. 

Der i. Band enthält Reflexionen zur Anthropologie, in denen wir 
naturgemäss kaum etwas für unseren Zweck erwarten können. Wo die „Fik- 
tion" ausdrücklich erwähnt ist, hat sie rein psychologische Bedeutung (No. 64, 
139, 250). Bedeutsam ist aber die Definition (No. 135): „die Einbildung mit 
Bewusstsein ist Erdichtung* : wo Kant also (vgl. oben S. 625, 631 u. Ö.) die 
Ideen „Erdichtungen* nennt, sind sie ihm also auch — Einbildungen mit 
Bewusstseinl in dieselbe Linie gehört ein bis jetzt nicht beachteter, sehr 
treffender Ausspruch über Christus (No. 679): „Es war einmal ein Weiser, 
welcher sich ganz von seiner Nation unterschied und gesunde, praktische 
Religion lehrte, die er, seinen Zeitläuften gemäss, in das Kleid der Bilder, der 
allgemeinen Sagen u. s. w. einkleiden musste; aber seine Lehren gerieten bald 
in Hände, welche den ganzen orientalischen Kram darüber verbreiteten, und 
wieder der Vernunft ein Hindernis in den Weg legten." Vgl. oben S. 691« 

Die dauernde Bedeutung solcher religiösen „Bilder*, d. h. Fiktionen, scheint 
Kant gelegentlich zu unterwerten, denn er sagt (No. 686): „Es müssen nach und 
nach alle Maschinen, die als Gerüste 4 ) dienten, wegfallen, wenn das Gebäude 
der Vernunft errichtet ist*, doch sagt er an einer anderen Stelle, freilich in ganz 



1) Vgl. hierzu B. Erdmann in den Philos. Monatsh. 1883, S. 132 f. 

2) Zu diesem Vergleich s. oben S. 148 Anm. 



714 Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 

anderem Zusammenhang; „Ohne Blendwerk verliert das Leben allen Reiz* 
(No. 538, vgl. No, 51). Auch das gesellschaftliche Blendwerk, die konventio- 
nellen Fiktionen der Gesellschaft erwähnt Kant (No. 437, vgl. No, 360); „Führe 
dich so, als ob du bewusst wärest, unter lauter ehrliebenden Personen zu sein.* 

In den Reflexionen zur Kritik der reinen Vernunft (1884) haben 
wir natürlich mehr zu erwarten, sie stammen aus verschiedenen Zeiten, was hier 
nicht weiter zu verfolgen ist „Wahre" Erkenntnis, speziell Gottes per analogiam 
wird mehrfach erwähnt, so No. 80, 165, 1721, 1725; bemerkenswert ist die Er- 
weiterung in No. 1158; die Prinzipien des Schlusses durch Analogie, und die 
argumenta practica x<x& ay&Qtanov, auf welche die ersten sich auch beziehen, 
machen den transitum aus, argumentum ad modum humanitatis, 1 ) secundum 
assumtionem humanae naturae, non hominis singularis". Also nicht die Willkur 
des Einzelmenschen, sondern die allgemeine Menschennatur überhaupt fordert 
die Ergänzung der Naturerkenntnis durch die symbolische Erkenntnis, und zwar 
liegt die Triebkraft dazu in den argumenta practica. Diese „praktische Ab- 
sicht" wird oft betont, so No. 942, 1569, 1573 und speziell mit Bezug auf die 
Freiheit als notwendige praktische Voraussetzung No. 1495, 1516, 1521, 1526, 
1545, 1552 (vgl. No. 1382: „die Handlungen der Menschen sind anzusehen, 
als ob sie gar nicht in der Reihe der bestimmten Gründe der Erscheinungen 
ständen"). Derartige Annahmen nun, besonders „die Erkenntnis des höchsten 
Gutes (Gottes), sind praktisch wahr" (No. 927, vgl. No. 1157: das Dasein 
des vollkommensten Wesens, welches uns vollkommen macht . . . praktisch 
gewiss; vgl. dazu No. 1162; mundus intelligibilis = civitas Dei in praktischer 
Hinsicht „ein wahrer Begriff"). Diese Bemerkung, im Zusammenhang einer 
allgemeinen Erörterung über den Wahrheitsbegriff gemacht, ist äusserst wichtig, 
und beweist aufs neue (vgl. oben S. 653, 657), dass Kant eine doppelte Wahr- 
heit unterschied, die theoretische und die praktische. 

Fast noch bedeutsamer ist aber, dass Kant gelegentlich auch die kate- 
gorialen Erkenntnisse nur „praktisch wahr" nennt; No. 540: „also gelten die 
principia synthetica nur in Ansehung der Gesetze der Erfahrung, mithin a poste- 
riori und sind praktisch wahr, aber in abstracto sind sie nur subjektiv gütig"; 
dazu stimmt No. 1040: „Man kann sich ein Subjekt nicht anders als durch seine 
Prädikate vorstellen, und Prädikate nicht anders, als in ihrem Subjekt Daher 
die Notwendigkeit, sich Substanzen vorzustellen, welches mehr eine subjek- 
tive Notwendigkeit der Gesetze unseres Verstandes, als eine objektive ist". 
In diesem Sinne „denken wir die Substanzen nur hinzu" (No. 1042) — ein 
imvoetv, das wir schon kennen; vgl. oben S. 668 Anm. In diesem Sinne nennt 
Kant die Kategorien „Funktionen der Einbildungskraft" (No. 606) — er stand also 
den Konsequenzen, welche oben S. 325ff. gezogen worden sind, nicht so fern- 

Dieselbe „subjektive Notwendigkeit", welche so den Kategorien im Sinne 
von nützlichen Fiktionen zugestanden wird, wird auch dem Gottesbegriff vindi- 
ziert (No. 1655): „dieses [nämlich, dass wir alle Erscheinungen auf einen Raum 
und eine Zeit beziehen müssen] dient dazu, die Annehmung eines solchen 
Wesens als subjektiv notwendig, mithin auch als zureichend zur Praxis an- 
zunehmen"; das „menschliche Gemüt kann keine Bestimmungen ohne in Einem, 

1) In diesem Sinne nennt auch neuerdings der Pragmatist Schiller seinen 
Standpunkt „Humanismus" Anthropomorphismus. 



Kants Ais-Ob-Betrachtung in den „Reflexionen" und „Losen Blättern". 715 

was Alles enthält, gedenken" — subjektiv. Was dadurch entsteht, ist aber 
(No. 1558) „doch nur eine Erscheinung, nämlich des Verstandes" — oder, 
wie es nachher heisst, eine „Erscheinung der Vernunf t", eine „subjektiv- 
bestimmte", subjektiv-notwendige, aber in ihrer Subjektivität von uns durch- 
schaute zweckmässige Vorstellung. Welch vorzüglicher Ausdruck dafür ist „Er- 
scheinung der Vernunft" l Für diese Lehre nimmt Kant den Namen „Idealis- 
mus" in Anspruch = „dass alles im Menschen liege" (No. 1114). 

Einiges wenige Zersplitterte verdient noch Erwähnung; so No. 168, 945 
(Fiktion in malo sensu), 171 (Postulat), 647, 738, 1032 (über das quantum ab 
solute minimum, das quasi -elemen tum differentiale), 1341, 1633; 1385 (Grenz- 
begriffe), 1 ) 1732, 1743 (Fiktion der Grundkraft), 1729 (Präsumtionen der Ver- 
nunft). Beachtenswert ist No. 442, als Beitrag zur fiktiven Betrachtung der 
Logik (vgl. oben S. 411, 710): „der Begriff der Inhärenz ist ein logisches 
Hilfsmittel, weil man daselbst alle Sachen in Form der Prädikate vorstellen 
kann 1 *. Eigenartig ist der Satz, der an die oben S. 626 Anm, erwähnte Steile 
anklingt: „Wir müssen über die Natur philosophieren, als wenn die Weit 
keinen Anfang habe, und über Gott, als wenn sie keine Sukzession habe" 
(No. 1383). Zum Schluss stehe der schöne Satz (No. 1266): „Gesittete Menschen 
nehmen so Abschied aus dem Leben, wie aus der Gesellschaft, gleich als 
wenn sie vermuteten, solche einmal wiederzusehen." — 

Die Losen Blätter aus Kants Nachlass, 3 Hefte (1889—1898), mit- 
geteilt von R. Reicke, stammen ebenfalls aus sehr verschiedenen Zeiten, und 
bieten manche Ausbeute. Im ersten Heft ist besonders beachtenswert die Ein- 
sicht, dass der „Gegenstand", das „Objekt", auch Ding an sich genannt, nur ein 
fiktiver Rechnungsansatz ist, der nachher „wegfällt" S. 18—20); dieses x ist nur 
nach dem „Urbild" des Ich geschaffen (vgl. Zeitschr. f. Philos. und philos. Kritik, 
Bd. 96, S. 15fL). Beachtenswert ist die Regei S. 154: auch wenn man die 
Vernunftidee Gottes realisiere, „so muss man doch die Natur so erklären, als 
ob ; . . keine ausser der Welt befindliche Ursache da sei". Für die Moral wird 
die grosse Bedeutung der „Idee des allgemeinen Willens" S. 16 betont, welche 
„hypostasiert" zum „Ideal von Gott" wird (vgl. S. 218). Auf der anderen Seite 
steht die Idee des radikalen Bösen; es muss „nur so gehandelt werden, als ob 
ein solches da sey (nicht theoretisch-, sondern praktisch-dogmatisch)" (S. 219) 
letztere Wendung findet sich auch S. 28 f. in Verbindung mit der Wendung 
„nach der Analogie" (vgl. S. 141). Eine solche praktisch-dogmatische Annahme 
ist auch die Konstanz der Seelensubstanz: in diesem Sinne fragt Kant S, 41: 
„Woher ist das, was handelt, angesehen, als sey es beständig und als wenn 
... die Handlungen Wirkungen [dieses Beständigen] . . wären" (falsch bei 
Reicke: „variieren"). Praktisch -dogmatisch fiktiv sind die statutarischen 
Glaubensartikel als „Vehikel" und als „Gerüste' 1 (S. 94, 97), Der Zusammen- 
hang dieser fiktiven Betrachtungsweise in der Moral theo logie mit demselben 
methodischen Verfahren in den Naturwissenschaften wird gelegentlich gewahrt: 

1) „Der Begriff der Freiheit ist auch ein Grenzbegriff eines absoluten 
Anfanges; imgleichen der Begriff des Einfachen und überhaupt des Ersten". 
Der Begriff des entis necessarii ist ein „conceptus terminator". Als solcher 
gilt auch der Begriff der absoluten Notwendigkeit No. 1632; ebenso der Be- 
griff Gottes No. 1708. Ein Grenzbegriff ist ein conceptus hybridus No. 1147. 



716 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



so spricht S 291 von einer Annahme der Mechanik, welche zwar „halb er- 
dichtet", aber doch „nützlich" ist; auch S. 270 wird eine mechanische Fiktion 
mit „als wenn" eingeführt, und S. 70 mit „betrachten als ob*, und so wird 
auch S. 76 f. der absolute Raum der Mechanik als „Idee" eingeführt. Von 
S. 64—66 wird die bekannte fiktive Betrachtungsweise aller Zahlen als Produkte 
behandelt: „Ich kann jede Zahl als ein Produkt aus zweien Zahlen als Faktoren 
ansehen"; Kant weist auch auf die sich aus dieser Fiktion ergebenden 
Widersprüche hin, d. h. auf die irrationalen Wurzeln. Vgl. oben S. 80 ff. 

Gerade in diesem mathematischen Zusammenhang finde nun noch eine 
bemerkenswerte Stelle den Schlussplatz, Kant spricht S. 123 von dem Begriff 
des Ens realissimum, des Ens necessarium: „Es ist umsonst zu hoffen, auf 
diesem Wege die Eigenschaften eines notwendigen Wesens zu finden. Es ist 
wie mit einem Punkte, der nur als Grenze einer Linie vorgestellt werden 
kann." Der Punkt ist (vgl. oben S. 506 II) nur Produkt einer fiktiven Be- 
trachtungsweise, und so wird hier also der Gottesbegriff methodisch dem 
Begriff eines — Punktes gleichgestellt! 

Das zweite Heft der „Losen Blätter" (1895) bietet wiederum viel Mate- 
rial, spezie 1 1 f ür d i e rechtsphilosophische FiktiondesallgemeinenWillens, 
der auch als „gemeinschaftlicher", „vereinigter" Wille u. ä. bezeichnet wird, 
zunächst S. 39—68; diese Idee ist „noch kein Faktum, sondern bloss Norm" 
(49); ähnlich S. 122—129: Freiheit ist nur möglich unter der „Voraussetzung, 
dass in Ansehung der körperlichen Sachen ausser uns die freye Willkür Aller 
als vereinigt betrachtet werden müsse". Ähnlich S. 170—175: „Die communio 
arbitrii ist also die Bedingung aller Erwerbung und des Mein und Dein über- 
haupt"; „hier kann kein Prinzip der Realität des Verhältnisses meiner Willkür 
zu Anderen ihrer, sondern nur der Idealität desselben, d, i. in der Idee der 
synthetischen Einheit der Willkür Aller in Ansehung aller möglichen Objekte 
der Willkür zum Grunde liegen", d. h. das Prinzip „des idealen Besitzes alles 
Brauchbaren durch die gemeinschaftliche Willkür"; „alles bezieht und gründet 
sich auf die Idee einer in Ansehung aller Sachen vereinigten Willkür als ur- 
sprünglich objektiv notwendig, aber gleich als ob sie existiere" Ebenso 
S. 200—224: Die „Zusammenstimmung" der Rechte Aller ist nur möglich durch 
das „Gesetz eines ursprünglichen Gesamtwillens, nicht als Faktum, sondern als 
einer Idee"; diese „kollektive Einheit" ist nur „gedacht, nicht empirisch ge- 
geben"; es ist „nur ein regulatives Prinzip"; „man muss sich eine allgemein 
vereinigte Willkür als einen juridischen Akt denken, durch den notwendig 
Jedem sein Platz durch einen gesamten Willen bestimmt wird, mithin einen 
Gesamtbesitz (communio originaria), von dem jeder mögliche Besitz abgeleitet 
wird"; es muss so „angesehen werden"; es ist dies „eine idealische Ver- 
einigung". Vgl. ferner S. 235, 251, 326 f., 348, 351. 

Von diesem allgemeinen Willen aller Menschen überhaupt ist sehr zu 
unterscheiden (328) der allgemeine Wille aller Genossen eines Volkes, der aber 
auch als eine Idee, als der „allgemeine Volkswilie" eingeführt wird: S. 275, 
310, 325, 351 ff., 372, 374. Unrechtmässig ist, „was kein allgemeiner Volkswille 
im Originalkontrakt beschliessen wird"; „um bürgerlich frey zu sein, muss das 
Gesetz so beschaffen seyn, dass es als der allgemeine Wille angesehen werden 
kann"; „eine jede vorhandene Konstitution, ob sie zwar nicht beurkundet (doku- 
mentiert) ist, muss doch als aus einer Konvention entsprungen angesehen 



Kants Als-Öb-Betrachtung in den .Losen Blättern - . 717 

werden, wenn gleich zu vermuten ist, dass sie durch Gewalt eingeführt worden, 
und alles hergebrachtes Eigentum muss, als ob es auf rechtmässigem Erwerb 
beruhte, fernerhin gelten'; .das Gesetz muss, wenn es ein rechtlicher Grund 
der Pflichten sein soll, . . . doch als von dem allgemeinen Volkswillen aus- 
gegangen betrachtet werden"; eine solche Bedeutung hat diese »blosse Idee 
der bürgerlichen Einheit*. Von einem Als-ob in der Staatsverfassung spricht 
auch S. 318; der Fürst ist die Personifikation der Idee der Gerechtigkeit, S. 100. 

Wie Kant hieraus spezielle Konsequenzen zieht, mögen rechtsphilo- 
sophisch Interessiertes. 126, 292, 318 nachlesen: in allen 3 Stellen kehrt das 
juristische .als ob" wieder; beachtenswert ist auch die Wendung (292): «Jeder- 
mann muss als unter Gesetzen stehend betrachtet werden, davon er selbst 
seinem Teile nach Urheber ist*. Ein juristisches .so ansehen* findet sich 
auch S. 199, eine juristische »Analogie - S. 209, ein .instar - S. 71 f. 

Ebenso gehören in diesen Zusammenhang die Ausführungen S. 38, 113, 
134 ff., 324 über den .idealen, intellektuellen Besitz", wobei das .als ob - 
dreimal wiederkehrt. Besonders bedeutsam ist die Stelle S. 113: .Obgleich 
die Erwerbung bloss ideal ist, so ist sie darum doch nicht eingebildet (d. i. 
imaginaria); denn in rechtlich-praktischer Rucksicht können reine Vernunft- 
begriffe (dergleichen das Recht überhaupt ist) objektive Realität haben. 
Diese objektive Realität aber besteht darin, dass die Erwerbung provisorisch, 
als ob das Subjekt sich mit allen Anderen in einem rechtlichen Zustand 
befinde, gedacht wird . . 

Über objektive, praktische Realität der Ideen in diesem Sinn sprechen 
auch S. 114, 266, am entschiedensten S. 285: .Die Ideen von Gott und Zukunft 
bekommen durch moralische Gründe nicht objektiv-theoretische, sondern bloss 
praktische Realität, so zu handein, als ob eine andere Welt wäre*. 

Dies ist .der moralische Glaube* (318) und in diesem Sinne heisst es 
sehr scharf S. 151, 153: .Es kann Pflichten in Ansehung gewisser bloss mög- 
licher Wesen geben, die doch nicht Pflichten gegen diese Wesen sind, denn 
dazu gehört ihre Wirklichkeit. Bloss idealische Wesen sind, die wir uns selbst 
durch die Vernunft machen, von denen aber die Idee dem Gebrauch der prak- 
tischen Vernunft zum Grunde zu legen für uns Pflicht ist - . Es bandelt sich 
also dabei nicht um .äussere Pflichten* gegen andere Wesen, sondern um 
.Pflichten gegen uns selbst - , .indem wir die von uns selbst gemachte Idee von 
gewissen . . . Wesen denken würden, d.i. personifizieren - . .Alle Pflichten, die 
wir uns gegen nicht menschliche Wesen denken, sind Pflichten gegen uns selbst, 
indem wir entweder Sachen idealisieren oder Ideen realistisch personifizieren - . 
Dasgeschieht .nach Analogie* (183): .Die praktische Verehrung des moralischen 
Gesetzes heisst nun Tugend; eine ebensolche Verehrung jener Idee als personi- 
fizierten moralischen Gesetzes (als Gesetzgeber, d. i. als einem Prinzip aller 
zweckmässigen Folgen aus diesem Gesetze) — ist Gottseligkeit, beydes zu- 
sammen Religion *. Jene Gottseligkeit ist selbst nur eine Idee der vollendeten 
Aioralität und Tugend - . .Religion ist nichts anderes als Tugend . . , - (184). 
.Wenn man aber die Gottseligkeit vor der Tugend voranscbicken, diese von 
jener ableiten oder vielmehr dieses Begriffes gar zu entbehren und an dem 
Surrogat derselben, der Gottseligkeit, sich zu begnügen lehren wollte, so 
würde der Gegenstand der Verehrung nach solchen Begriffen ein Idol, d.h. 
ein Wesen sein, dem wir nicht durch Tugend, sondern durch Anbetung (jede 



718 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen, 



Erniedrigung) wohlgefällig zu werden hoffen dürften; die Verehrung selber aber 
wäre Idololatrie, d. i. nicht moralisch) mithin nicht Religion" Wir müssen 
uns also stets bewusst bleiben, dass „Gott" eine Personifikation ist:, „es gibt 
keine Pflichten gegen idealische Wesen . . . , auch keine Pflicht, solche Wesen 
zu glauben" (86), aber die Personifikation der moralischen Ideen, in solchen 
idealischen Wesen ist eine sehr zweckmässige, in der Natur unserer Vernunft 
liegende Betrachtungsweise: in diesem Sinne sagt Kant S. 34; „Wenn die 
Erbsünde, das Prinzip des Bösen, als ein Faktum sein soll, ist es Substanz, 
Teufel und Guter Geist auch besondere Substanz — Drama der Personi- 
fikation" — Kant betrachtet diesen ganzen religiösen Begriffsapparat vom 
Standpunkt der „ästhetischen Maschinerie" (vgl. oben S. 686, 703). 

in diesem Sinne finden sich nun noch viele Aussprüche über die religiöse 
Vorstellungswelt in demselben Heft: „das Erkenntnis seiner Pflichten als auf 
einer übernatürlichen Gesetzgebung gegründet, ist Religion . . . , da ist es Pflicht, 
so zu verfahren, als ob eine moralische äussere Gesetzgebung sey, nicht 
ein Beweis vom Daseyn derselben, auch nicht eine Pflicht, ein solches Wesen 
zu glauben, sondern eine Pflicht, diesem unvermeidlichen Ideal der Vernunft 
angemessen sich zu verhalten" 30; „die Religion lehrt alle Pflichten bloss als 
göttliche Gebote betrachten, lehrt aber keine neuen Pflichten" 32; in diesem 
Sinne gilt der Satz; „Religion zu haben, ist Pflicht gegen sich selbst — aber 
nicht einen Religionsglauben zu haben" 83!; „Religion ist der Inbegriff seiner 
Pflichten als göttlicher Gebote, nicht der Inbegriff göttlicher Gebote als seiner 
Pflichten" 85. Und ebendaselbst steht der prägnante und prächtige Satz: „Ich 
kann in Beziehung auf eine meiner Vernunft notwendige Idee von einem 
Wesen eine Pflicht haben, ohne eine Pflicht gegen (erga) dieses Wesen zu 
haben; denn alsdann wäre es kein Gedankending". „Es ist Pflicht gegen 
mich selbst, mir die Idee von einem moralischen Gebieter zu machen, und 
mich nach dem Gesetz seines Willens, den ich mir selbst mache, zu nötigen" 
86. In Wirklichkeit ist aber „der Mensch sui ipsius imperans" 110; die Idee 
eines „summus imperans", der zugleich der „dominus der moralischen Welt- 
wesen" ist, ist ein blosser Gedanke; das muss „problematisch so vorgestellt 
werden um desZweckes willen", das ist eine „moralisch-notwendige Vorstellungs- 
art" 176. „Die theoretisch transzendente Idee einer göttlichen Gesetzgebung 
ist gleichwohl praktisch immanent", „man muss sich eine Gesetzgebung denken, 
deren Idee analogisch mit der menschlichen immernoch ein in praktischer 
Rucksicht für uns giltiges Erkenntnis ist" 290f. (über „Erkenntnis" in diesem 
Sinne s. oben S. 666 u. Ö.). „Was uns die Vernunft als Pflicht sagt, ist apodik- 
tisch gewiss, und sofern [vgl. das Spinozistische quatenus; dasselbe „sofern" 
öfter, z. B. ib. S. 245] es als göttliches Gebot betrachtet wird, heisst es Reli- 
gion" (308); wir müssen das so „ansehen" 245, es müssen die „vernünftigen 
Wesen als Glieder des Reiches Gottes vorgestellt werden" 186. Natürlich 
kann diese blosse „Vorstellungsart" keine wirklichen Pflichten gegen dies Reich 
und seinen Herrscher begründen; wirkliche Pflichten haben wir hier nur gegen 
uns selbst; und dazu gehört nun folgende sehr tiefgreifende, gegenüber dem 
Bisherigen ganz neue Ausführung: „So haben wir zwar Pflichten gegen uns in 
Ansehung unserer Seele, aber nicht gegen sie, weil, ob es ein solches 
besonderes Subjekt im Menschen gäbe, wir nicht wissen. Wir machen uns 
aber die Idee von einem solchen Wesen und unsere Pflicht in Ansehung 



Kants Als-Ob-Betrachtung in den .Losen Blättern". 



719 



unserer selbst zu einer Pflicht gegen eine ideale Person, den Geist 1 ) in uns, 
welche auf diese Art als wirklich angenommen ein übermenschliches Wesen 
sein würde" (151/2). Also auch Seele ist eine bloss praktische Vorstellungs- 
weise, der Mensch als psychophysischer Organismus ist das Wirkliche, „Seele* 
ist ein fingierter Übermensch in uns, eine ideale Person,*) eine Vorstellungs- 
art .zum Behuf* der Pflichtbetrachtung und Pflichterfüllung. 

Eine solche .Hypothese in praktischer Absicht* ist daher auch .das 
künftige Leben" 106, sowie auch das jüngste Gericht: „Es gibt nicht ver- 
schiedene Religionen, wenn unter Religion Gottesfurcht (pietas erga Deum) 
verstanden wird, nämlich die zärtliche Furcht, nichts zu tun, was uns das 
göttliche Missfallen zuziehen könnte, folglich in Ansehung aller Menschen- 
pflichten sich so zu verhalten, als wir künftig es vor einem höchsten 
Richter verantworten müssten" 307; ja sogar, „dass ein Mensch, der sich sonst 
seines guten Lebenswandels bewusst ist, alle Übel, die ihm widerfahren, als 
Strafen ansehe, ist . , . gut - 318; darauf beruht auch die Heiligkeit des 
.Eydes" 149 und so bildet sich im religiös veranlagten Menschen eine doppelte 
Welt aus, einerseits die Welt der religiösen Fiktionen, andererseits die Welt 
der nüchternen Wirklichkeit: .Ein vernünftiger Mann, wenn er seine Andacht 
hält, nimmt Wunder an, aber als Geschäftsmann statuiert er kein Wunder" 166. 
.Das höchste Gut", die schliessliche Vereinigung von Würdigkeit und Glück- 
seligkeit, wäre auch ein Wunder, daher haben wir .keinen Grund, es von der 
göttlichen Schöpfung und auch nicht von uns selbst zu erwarten nach theore- 
tischen Prinzipien. Aber in praktischer Absicht, um unsere Handlungen 
darauf zu richten, haben wir doch Grund in unserer Moralität", — darin 
besteht eben Kants kritischer Pragmatismus, in der AIs-Ob-Betrachtung, 
»Theoretisch würde es Mystik und Taumaturgie" 323, 

Die Als-Ob-Betrachtung wird auch noch an einigen anderen Stellen in 
sehr charakteristischer Weise zur Anwendung gebracht, so bes. S. 12: .Alle 
Pflichten enthalten eine unbedingte Nötigung der freyen Willkür durch die 
Idee einer sich zur allgemeinen Gesetzgebung qualifizierenden Maxime. Der 
Bestimmungsgrund der Willkür macht nun entweder die Handlung, oder die 
Maxime, nach einer gewissen Regel zu handeln schlechterdings (objektiv) 
notwendig. Die erste Nötigung enthält das Prinzip: handle so, als ob deine 
Maxime einer allgemeinen Gesetzgebung zum Grunde gelegt werden sollte. 
Die zweyte Nötigung sagt: mache es dir zur Maxime, so zu handeln, als ob 
du durch dieselbe allgemein gesetzgebend wärest . > 

In einem anderen Zusammenhang wird die Idee .der Fortschritte des 
Menschengeschlechts* eine .symbolische Vorstellung" genannt, oder auch eine 
.subjektiv-praktische Hypothese" (99, 105). Aus solcher ethisch-historischen 



1) Kant verwendet auch im Opus Postumum öfters den Ausdruck .Geist" 
für das Zentrale und Ideale im Menschen; solche Stellen bilden einen wichtigen 
Nachtrag zu der Schrift von H. Dreyer, der Begriff Geist in der deutschen 
Philosophie von Kant bis Hegel, . Kantstudien* , 1907, Erg.-Heft No. 7. 

2) Diese .ideale Person" in uns ist schliesslich identisch mit der .Idee 
der Gott wohlgefälligen Menschheit", dem .Sohne Gottes"; ein historischer 
Repräsentant dieser Idee ist u. a. Christus, aber nur als .moralisches Eben- 
bild und Beyspiel" jener Idee (246). 



720 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



Fiktion werden wir ins ethisch-ästhe tische Gebiet geführt durch folgende Stelle 
(S, 331): .Tugend und Schönheit und Erhabenheit und umgekehrt — gleich 
als ob die Natur zu uns so spräche durch ihre Form und Eindrücke; daher 
die Natur lieben und von ihr gleichsam geliebt werden'. In ein verwandtes 
Gebiet schlägt die Bemerkung S. 309: dass die Natur von selbst zum letzten 
Zwecke so zusammenstimme, als ob dieser nach moralischen Rechtsgesetzen 
bestimmt wäre*. 

Eine allgemeine methodische Fiktion sei hier noch angeführt (S. 106): 
.Von dem Nutzen . . ., jeden Fortschritt der Erkenntnis durch Zurückgehen zu 
Gnmdsätzsn, gleichsam als ob sie nun allererst erfunden werden sollten, zu 
machen, weil dadurch die Einseitigkeit vermieden wird (fallacia systematis), 
wegen der Scheinbarkeit der Folgen aus einem angenommenen System dieses 
selbst für fehlerfrey zu halten. Wenn man jeden Satz so untersucht, als ob 
das Zentrum des Systems noch nicht aufgefunden wäre, so kann man oft 
Fehler in diesem entdecken, welche eine neue Prüfung des Systems und oft 
den Umsturz desselben nötig machen/ Die „fallacia systematis* erinnert an 
das, was Nietzsche gegen die Vorliebe für ein System gesagt hat — 

DasdritteHeft (1898) der „Losen Blätter** gibt noch eine kleine Nachlese, 
So behandelt eine Stelle auf S. 11 »die praktische Idee als regulatives Prinzip, so 
zu handeln, als ob ein Gott und andere Welt wäre*. Die Formel: Religion 
= das Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote wird Öfters wiederholt 
(S. 3, 5, 6, 21 f., 47, 72, 90; und jene „Erkenntnis* als ein „So-ansehen*, „An- 
nehmen*, »Denken*, resp. als ein „So-angesehen-werden-kbnnen" erläutert; 1 ) 
daher ist es nach S.72 auch selbstverständlich*, „dass der Mensch keinen anderen 
Gott verehre, als den er sich einstimmig mit dem moralischen Gesetz macht*. 
Diesem fingierten Gott wird auch fiktiver Weise die Schöpfung zugeschrieben, 
und .der Zweck der Schöpfung, so wie ihn Menschen sich denken möchten, 
ist, dass Gott gleichsam ein Bedürfnis hat, ein anderes Wesen zu haben, was 
er lieben könne, und was ihn dagegen liebt" (75). (Es handelt sich dabei eben 
nur um eine kritische Analogie, wie wir ja auch die Natur „nach Analogie der 
Zwecke* betrachten, S. 16.) Jenem fingierten Gott wird fiktiver Weise zu prak- 
tischem Behuf die Bibel als ein Produkt seiner Vorsehung zugeschrieben: die 
Bibel darf wegen ihrer »Wirksamkeit zur Besserung der Menschen darum als 
ein Werk der Vorsehung . . . angesehen werden - (63 f.), ja als Offenbarung, 
aber natürlich „ist die Beweisführung der Göttlichkeit der Schrift selbst nur 
moralisch, d. L für den praktischen Gebrauch, sie als göttliche Offenbarung zu 
benutzen" (83), ja das Evangelium ist als eine „frohe Botschaft* anzusehen, „so 
gut, als ob sie nur heute ergangen wäre"; aber nur, wenn sie „vom histo- 
rischen Glauben frey* ist, ist sie für uns „die Religion der Vernunft* (9/10); 
und so ist auch „der Satz, dass das Wort Gottes ewig dauern werde, nur so 
zu verstehen, dass es Pflicht der Menschen, vornehmlich der Lehrer, sey, es so 
zu beherzigen und zu lehren, als ob es ewig zu währen bestimmt sey* (5). 
Und von der Bibel heisst es weiter in diesem Sinn: »die Göttlichkeit ihres 



1) Das „Angesehen-werden-können« = „gelten können* kehrt auch bei 
einem mathematischen Beispiel wieder: „so kann ein spitzer sowohl als 
stumpfer Winkel für einen rechten, der nur unendlich wenig kleiner oder 
grösser ist, gehalten werden* (20). 



Kants Als-Ob-Betrachtung in den „Losen Blättern*, 



721 



moralischen Inhaltes entschädigt die Vernunft hinreichend wegen der Mensch- 
lichkeit der Geschichtserzählung und zieht diese vielmehr durch Akkomodation 
und Auslegung selbst . . . siegreich in ihr Interesse* (14); die interpreta- 
torische Fiktion (vgl. oben S. 664, 692 u. b\), die fiktive Interpretation wird 
damit aufs neue als Methode gerechtfertigt; soll das Christentum ais „allge- 
meine, aus der Vernunft gegründete, Seelen bessernde Religion* anerkannt 
werden, so „müssen in Beziehung auf diese Idee alle Sprüche der Bibel als 
das Werk der Erlösung und die Geschichte derselben enthaltend, kommen- 
tiert werden, nicht nach dem Buchstaben des Messianischen Gesetzes, sondern 
nach dem Geiste der Moralität, wovon jenes die Hülle ist* (64); in diesem 
Sinne „ist die Bibel ein unentbehrliches Vehikel 0 (90). 

Und nun hält der ganze religiöse Begriffsapparat, der als Dogma aufs 
schärfste verworfen wird, in der Form der Fiktion seinen Einzug, voran 
die jungfräuliche Geburt dessen, der als „Ideal der fehlerfreien Menschheit* 
fiktiv vorgestellt wird (52 f.). „Eine vom angeborenen sündlichen Hang freye 
Person von einer jungfräulichen Mutter gebären zu lassen, wird durch die Idee 
der (sich zu einem schwer zu erklärenden und doch nicht abzuleugnenden, 
gleichsam moralischen Instinkt bequemenden) Vernunft veranlasst . , . , sie ist 
also als eine . . . der fehlerfreien Menschheit . . . angemessene Vorstellungs- 
art . . ganz wohl zulässig . . . , daher ist die Vorstellung der Erzeugung 
eines Menschen . . . ohne Geschlechtsgemeinschaft eine für jenen dunkeln Be- 
griff ganz schickliche Idee", „obgleich sie als Theorie betrachtet* natürlich 
unübersteiglichen Schwierigkeiten begegnet: für Kant handelt es sich dabei 
natürlich nur um eine poetisch-ästhetische Vorstellungsweise, einen Teil jener 
„ästhetischen Maschinerie*, von der schon oben S. 703 die Rede gewesen ist 
Und ist einmal so Christi übernatürliche Geburt als religiöse Fiktion „zu- 
gelassen", so darf auch die Idee der „Genugtuung* durch ihn in derselben Form 
sich einstellen; „die Genugtuung lässt sich als Kontrakt [nachher auch als 
„ Quasi kontrakt*] ansehen, dadurch uns Christi Verdienst soll statt unserer 
Schuld angerechnet werden . . .* (6). Auch „die Idee eines Reiches Gottes auf 
Erden*, der „rationale Katholizism", dessen „Symbol der hierarchische Katholi- 
zism" ist, wird S. 10 eingeführt, und S. 48 „gleichsam ein vereinigter geistlicher 
Körper* genannt — das corpus mysticum, das wir schon oben S, 636 kennen 
gelernt haben. Und um alle Gerechtigkeit zu erfüllen, so wird auch die Idee 
des jüngsten Gerichts eingeführt; „Führe deinen Lebenswandel mit Gewissen« 
haftigkeit, als ob du dich eines künftigen Weltrichters zu gewärtigen hättest* (84). 

Kants OpusPostumum „verdient weder die Überschätzung noch die 
Unterschätzung, weiche ihm von entgegengesetzten Seiten aus zu Teil geworden 
ist" — dieses Urteil findet man näher begründet im Aren. f. Gesch. d. Philos., 
1889, Bd. IV, 732—736. Daselbst ist auch nachgewiesen worden, dass in dem 
nachgelassenen Manuskript zwei verschiedene unvollendete Werke 
Kants stecken: 1. Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen der 
Naturwissenschaft zur Physik, 2. System der reinen Philosophie in ihrem Zu- 
sammenhange. 1 ) Beide Werke sind promiscue beisammen und sind auch in 

1) Der Titel dieses zweiten Werkes wird von Kant in den verschiedensten 
Entwürfen variiert. Der merkwürdigste der geplanten Titel lautet: „Zoroaster 

46 



722 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



dieser Form (leider unvollständig) publiziert von R, Reicke in der Altpreuss. 
Monatsschrift 1881-1884, Bd. XIX, XX, XXL Hierin, besonders im Bd. XXi, 
finden sich nun sehr bemerkenswerte Stellen. 1 ) 

Wir beginnen zunächt mit einigen weniger bedeutenden Äusserungen im 
Bd. XIX und XX. Im Bd. XIX, 275 und 586 findet sich die beliebte Wendung: 
.man denkt sich, dass das Ganze . . . nach der Analogie eines ordnenden 
Verstandes untereinander in einem System verbunden sey" (ebenso XX, 78); 
nach S. 475 ist das .Weltsystem" »eine blosse Idee, der kein Gegenstand adä- 
quat gegeben werden kann, darum aber doch kein Unding (non ens), sondern, 
nur ein Gedankending (ens rationis). Die Wissenschaft muss mit solchen fik- 
tiven Begriffen operieren: .es gibt doch auch Begriffe« die, obgleich gedichtet, 
doch zur Physik gehören", dazu rechnet Kant den Begriff der organischen 
Körper (und 273 »das Weltsystem überhaupt als organisch betrachtet "), das 
Continuum formamm, die Teilbarkeit ins Unendliche. In diesem Sinn wird 
S. 100 der Hilfsbegriff einer »unendlich dünnen Lamelle* eingeführt als be~ 
wusste Fiktion, ferner 608 «die Wirkung gleich als durch den leeren Raum", 
der nach 621 als etwas »nicht Existierendes gesetzt* wird. Ähnlich Bd. XX, 
108, wo es vom leeren Raum heisst, er sei Nichts, .aber doch kein Unding', 
vgl. S. 115. Ebenda S. 344f. wird das Atom als erlaubter, aber widerspruchs- 
voller Begriff eingeführt. S. 96 wird der Begriff «eines organischen Körpers" 
als »eine blosse Idee* (vgl. S. 78) und in diesem Sinne ausdrücklich als 
.Fiktion 11 bezeichnet (ebenso Bd. XIX, 279). 

Im XIX. Bd. finden sich S. 572—578 und 620 sehr wichtige Äusserungen, 
aus denen hervorgeht, dass Kant das Ding an sich als Fiktion und über- 
haupt die ganze Trennung von Erscheinung und Ding an sich als eine 
fiktive erkannt hat. Dieselbe Auffassung ist schon oben S. 109—114, 118 und 
119, 266—273 vertreten; als letztere Stellen niedergeschrieben wurden (1876/7), 
war das Opus Postumum Kants noch nicht publiziert (1882/4); das Letztere 
bietet somit eine sehr wertvolle Bestätigung für jene Auffassung. 

„Der Gegenstand in der Erscheinung . geht aus der synthetischen 
Vorstellung . . . hervor*; ,das Ding an sich ist ein Gedankending (ens rationis) 
der Verknüpfung dieses mannigfaltigen Ganzen zur Einheit, zu weicher sich das 
Subjekt selbst konstituiert. Der Gegenstand an sich ^ x ist das Sinnenobjekt 



oder die Philosophie im Ganzen ihres Inbegriffs unter einem Prinzip zusammen- 
gefasst; so Bd. XXI, 418 und 313, vgl. 314, 381, 405 und bes. 311: .Zoroaster: 
das Ideal der physisch und zugleich moralisch-praktischen Vernunft in einem 
Sinnen-Objekt vereinigt*. Es ist merkwürdig, dass Kant das Bedürfnis hatte, 
seine Lehren einer solchen Idealfigur sozusagen in den Mund zu legen; noch 
merkwürdiger, dass er, wie Nietzsche, den Zoroaster dazu ausersah; am merk- 
würdigsten, dass, als dieser Entwurf ans Licht trat, 1884, gerade um dieselbe 
Zeit Nietzsche seinen Zarathustra schrieb. Dass Kant und Nietzsche gerade in 
der Als-Ob-Lehre sich berühren, wird unten erwiesen werden. 

1) Die hierher gehörigen Stellen stammen fast alle aus dem zweiten 
Werke, das viel wichtiger ist als das erste. Die nun folgende Gedanken- 
auslese aus diesem zweiten Werke wird zeigen, dass es in der Ausgabe von 
Kants handschriftlichen Nachlass, die von der Berliner Akademie übernommen 
worden ist, notwendig in irgend einer Weise vertreten sein muss. 



Kants AIs-Ob-Betrachtung im Opus Postumum. 723 

an sich selbst, aber nicht als ein anderes Objekt, sondern eine andere Vor- 
stellungsart" (573). In diesem Sinne nennt Kant das Wahrnehmungsding „ein 
Ganzes der Anschauung, welches objektiv bloss Erscheinung ist, dem der Gegen- 
stand als Ding an sich lediglich in der Idee korrespondierend gedacht wird" 
(572). „Das Ding an sich ist nicht ein anderes Objekt, sondern eine andere 
Art, sich selbst zum Objekt zu machen, nicht objectum noumenon, sondern der 
Akt 1 ) des Verstandes, der das Objekt der Sinnenanschauung zum blossen 
Phänomen macht, 1 ) ist das intelligible Objekt" (ib.). „Die transzendentale Vor- 
stellungsart ist in der Anschauung als Erscheinung, die transzendente die des 
Objekts als Ding an sich, welches nur ens rationis, d. i. nur Gedanken - 
ding ist und nicht objektiv, sondern nur subjektiv bestimmend ein 
conceptus infinitus (indefinitus) ist' (577), „Das Ding an sich = x ist bloss 
Gedankending, ens rationis ratiocinantis" (578). Vgl. dazu oben S. 631 Anm. , 

Diese äusserst interessanten Stellen enthalten eine sehr wichtige Weiter- 
bildung der Kantischen Ding-an-sich- Lehre, und sie bestätigen in merkwürdiger 
Weise die Auffassung dieser Lehre, wie sie, ausser von dem Verfasser, von einem 
grossen Teil der Neukantianer, insbesondere auch seitens der sog. Marburger 
Schule, ferner seitens Windelbands und Rickerts vertreten wird. Dass es sich 
bei den obigen Äusserungen Kants nicht um vorübergehende Einfälle handelt, 
dafür ist der beste Beweis, dass nun derselbe Standpunkt in den im Bd. XXI 
von Reicke publizierten Entwürfen häufig und womöglich noch stärker und 
deutlicher wiederkehrt, und zwar S. 549—568, 582—599. Es ist nicht möglich, 
die ganze Fülle der betreffenden Äusserungen hier zu reproduzieren: wir 
müssen uns auf das Nötigste beschränken. 

„Jede Vorstellung als Erscheinung wird als von dem, was der Gegen- 
stand an sich ist, unterschieden gedacht, ... das Letztere aber = X ist nicht 
ein besonderes ausser meiner Vorstellung existierendes Objekt, sondern ledig- 
lich die Idee der Abstraktion vom Sinnlichen, welche als notwendig an- 
erkannt wird"; es ist „notwendig denkbar" . . ., aber „nicht ein wirkliches 
Ding" (549). „Der Unterschied ... ist nicht objektiv, sondern bloss subjektiv"; 
„das D. a. s. ist nicht ein anderes Objekt, sondern eine andere Beziehung (re- 
spectus) der Vorstellung auf dasselbe Objekt . . .*; „es ist ein ens rationis = x 
der Position . . ." (551), „ein Gedanken wesen * (552). „Jenes X ist nur ein 
Begriff der absoluten Position*) und selbst kein für sich bestehender Gegenstand, 
sondern bloss eine Idee . . (553). „Ein Gedankending ohne Wirklichkeit, um 
eine Stelle zu bezeichnen zum Behuf der Vorstellung des Subjekts ..." (554). 
„Der Sinnenvorstellung kprrespondiert d i e Idee des vorgestellten Objekts , . 
„das Ding an sich ist nicht ein ausser der Vorstellung gegebener Gegenstand, 
sondern bloss die Position eines Gedankendinges, welches dem Objekt 
korrespondierend gedacht wird* (555); es ist „nicht als dabile, sondern nur 
als cogitabile zu betrachten, wo die Begriffe, nicht die Sachen gegeneinander 
gestellt werden" (556), „wobey das D. a. s. gar kein existierendes Wesen, sondern 
= x bloss ein Prinzip ist* (557). „Das Objekt an sich ist ein blosses Ge-> 



1) Von Kant selbst gesperrt. 

2) Die „absolute Position*, die nachher bei Herbart eine so bedeutsame 
Rolle spielt, ist also für Kant nur eine fiktive Betrachtungsweise, wie alle 
Verabsolutierung, da es ja nur Relatives gibt Vgl. oben S. 114ff. 

46* 



724 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



dankending, in dessen Vorstellung das Subjekt sich selbst setzt*; „nur durch die 
Vorstellung des Gegenstandes als Erscheinung, nicht als Dinges an sich sind 
synthetische Sätze a priori nach Formeln der transz. Philosophie möglich" (559). 
„Das Ding an sich=x ist die blosse Vorstellung seiner eigenen Tätigkeit"; 
„das D, a. s. dient, um das Objekt der Anschauung als Erscheinung zum Gegen- 
satz vorzustellen. Das D. a. s. ist nicht etwas, das gegeben wird, sondern bloss 
als korrespondierend zur Einteilung gehörend ... gedacht wird. Es steht nur 
wie eine Ziffer da a (560). Auf S. 561 wird das x = 0 gesetzt. „Der Sinnen- 
gegenstand, was er an sich ist, in Vergleichung mit eben demselben in der Er- 
scheinung vorgestellt, ist das Prinzip resp. begründet die Möglichkeit synthe- 
tischer Urteile a priori* (563). „Das D. a. s. bedeutet nicht einen anderen 
Gegenstand, sondern nur einen anderen, nämlich den negativen Standpunkt, 
.aus welchem eben derselbe Gegenstand betrachtet wird"; „das D. a. 
s. ist nur ein reiner Verhältnisbegriff* (564). „Das D. a. s. ist nicht selbst ein 
absonderlicher Gegenstand, sondern nur eine besondere Beziehung = respectus" 
(566). „Dem Begriff eines Gegenstandes als Erscheinung ist der Begriff eines 
D. a. s. [als] sein Gegenstück (pendant) = x notwendig gegenübergestellt, aber 
nicht als eines von jenem unterschiedenen Objekts (realiter), sondern bloss nach 
Begriffen (logice oppositum) . , . was bloss subjektiv als objecrum noumenon ein 
Glied der Einteilung ausmacht. Dieses Noumenon ist aber nichts weiter al s 
eine Vernunftvorstellung* . „das den Dingen an sich korrespondierende 
ist nicht ein absonderliches Gegenstück, . . . sondern ebendasselbe, aber aus 
einem anderen Gesichtspunkt betrachtet. Das Noumenon im Gegensatz mit 
dem Phänomenon ist das durch den Verstand gedachte Objekt in der Erschei- 
nung, insofern es ein Prinzip der Möglichkeit synthetischer Sätze a priori in 
sich enthält . . .* (567, näher erläutert 568). „Die Gegenstände müssen als Er- 
scheinungen, nicht als Sachen an sich betrachtet werden, wenn die Bestim- 
mung dieses Mannigfaltigen a priori stattfinden soll* (582/3). „Die Gegenstände 
sind Vorstellungen in der Erscheinung und der Unterschied von D. a. s. ist 
nicht ein Unterschied der Objekte als D. a. s., sondern nur ein szientif ischer 
(idealer) für das Subjekt, nicht das Objekt* (585). .Phanomenon, 
welchem sein Gegenstück (Noumenon) nicht als ein besonderes Ding, sondern 
als Akt des Verstandes = x korrespondiert, der ausser dem Verstände gar nichts 
als bloss ein Objekt überhaupt ist und nur im Subjekt selbst ist' (599). 

Das ist deutlich, recht deutlich. Die Einteilung in Erscheinungen und 
Dinge an sich ist also ein blosser r Standpunkf, .Gesichtspunkt', nur „subjek- 
tiv" .ideal - , .szi entirisch* — also nur eine heuristische Fiktion «zum 
Behuf der .Betrachtung". Das Ding an sich ist von Kant klar und unzwei- 
deutig als Fiktion erkannt und anerkannt, als eine für die Vernunft zweckmässige 
und notwendige Betrachtungsweise, als Produkt bewusst-fiktiver Abstrak- 
tion, wobei die ayaiQtois nicht zum xagtepfc werden darf (vgl. oben S. 389), 
also eben als — Fiktion und sonst nichts. 

In demselben Bande XXI, 31 Off. finden sich nun auch fast unzählige 
Stellen, in denen die fiktive Natur des Gottesbegriffes in immer neuen, 
teilweise immer treffenderen Variationen behauptet wird. Es Hessen sich viele 
Seiten damit füllen: wir können hier nur das Nötigste reproduzieren; auf dog- 
matisch klingende Stellen nehmen wir auch hier keine Rucksicht, es sind aber 
deren sehr wenige zu finden. 



Kants Als-Ob-Betrachtung im Opus Postumum. 725 



Wir beginnen mit der drastischen Stelle S.325: „Das Prinzip der Erkennt- 
nis aller Menschenpflichten als (tanquam) 1 ) allgültiger Gebote, d.i. in der 
Qualität eines höchsten, heiligen und machthabenden Gesetzgebers erhebt das 
. . Subjekt zu dem Range eines Einigen machthabenden Wesens: d. i. aus 
der Idee, die wir uns von Gott selbst denken, kann zwar nicht die 
Existenz eines solchen Wesens, aber doch gleich als eines solchen Wesens 
gefolgert [werden], aber doch mit gleichem Nachdruck, als ob ein solches 
dictamen rationis*) in Substanz mit unserem Wesen verbunden wäre ... 
Der . . . Satz: es ist ein Gott, muss im moralisch-praktischen Verhältnis ebenso 
verehrt und befolgt werden, als ob er von dem höchsten Wesen ausgesprochen 
wäre, obzwar ... die Erscheinung eines solchen Wesens zu glauben oder auch 
nur zu wünschen ein schwärmerischer Wahn sein würde, Ideen für Wahr- 
-nehmungen anzunehmen." Und in demselben Sinne heisst es S. 331 : „Diesem 
Prinzip zu Folge können alle Menschenptlichten zugleich als göttliche Gebote 
ausgesagt werden, und zwar dem Formalen desselben nach, wenn auch 
keine solche die Vernunft bestimmende Ursache als Substanz angenommen 
würde, und in praktischer Rücksicht ist es völlig einerley, ob man die Göttlich- 
keit des Gebots in der menschlichen Vernunft oder auch einer solchen JPerson 
zum Grunde legt, weil der Unterschied mehr eine Phraseologie, 3 ) alseine 
das Erkenntnis erweiternde Lehre ist". Der Unterschied, dass die Pflicht eben 



1) Besonders beachtenswert ist hier die ausdrückliche Übersetzung des 
als mit tanquam. Auf S. 331 bemerkt Kant noch ausdrücklich : „der Ausdruck 
als göttlicher Gebote kann hier mit tanquam (gleich als), auch durch ceu (als 
schlechthin) gegeben werden". An anderen Stellen aber (S. 613, 617, 620) setzt 
Kant neben das Wörtchen als die erläuternden Worte „tanquam, non ceu"; da 
ceu nur „als schlechthin" bedeutet, so will Kant statt dieser einfachen Ver- 
gleichung die fiktive Vergleichung setzen, weiche in tanquam liegt, das auch 
S. 613, 615, 618 wiederkehrt, und dem das „gleich als" entspricht, das sich 
S.322, 324, 329, 332, 335, 338, 398, 572, 614, 619 findet, resp. das „gleich als ob" 
S. 540, 613, 617, 619. Es findet sich aber noch häufiger das einfache als: S.318, 
321, 328, 329, 331, 338 (2 mal), 349, 350, 365, 369, 387, 564, 571 (2 mal), 572, 
573 (2 mal), 574 (2 mal), 606, 609, 610, 613, 614, 615 (2 mal), 617, 618 (2 mal). 
Einmal wird „als" durch „instar" wiedergegeben: S. 577 (vgl. oben S. 704 
Anm.). Mehrfach (S. 569, 609, 614, 617) findet sich auch die beliebte Wen- 
dung: nach der Analogie; und damit deckt sich wieder der Sprachgebrauch: 
als [göttliche Gebote] ansehen, z. B. S. 318, 618. 

2) Dieser Ausdruck dictamen rationis (oder wie es auf derselben Seite 
übersetzt wird: „Diktat der Vernunft") deckt sich mit dem Ausdruck „Postulat", 
den Kant (oben S. 656) sonst den Ideen gibt, und kommt in dem Opus Postu- 
mum sehr oft vor, so z. B. Bd. XXI, 323 mit dem Zusatz „practicae"; 373: „ein 
höchstes Wesen ist ein Dictamen des kategor. Imp." 

3) Doch ist diese „Phraseologie", „alle Menschenpflichten als göttliche 
Gebote anzusehen ", ein „in der moralisch-praktischen Vernunft liegender kate- 
gorisch er Imperativ" (318), und insofern ist jene Wendung „nicht eine blosse 
Phrasis" (619); sie ist eine gt^date, eine Redeweise, aber nicht bloss eine 

/ solche, sondern zugleich eine Optik, eine Betrachtungsweise, von der 
"aus das Handeln bestimmt wird. Vgl oben S. 662 „Wunder als Phrasen". 



726 



Dritter Teil : Historische Bestätigungen. 



als Gebot eines Gottes angesehen wird, bringt nicht eine synthetische Er- 
weiterung unserer Erkenntnis hervor, sondern nur eine analytische Erläuterung 
der Heiligkeit, des Pflichtsgesetzes als Vernunftgebots. Diese beachtenswerte 
Formulierung fanden wir schon früher. Eine andere, sehr treffende Wendung 
für denselben Gedanken gebraucht Kant S. 159: Durch jene anaJogische Vor- 
stellungsweise werde wohl die Aussicht erweitert, nicht aber die Einsicht. 
„Es ist hierbey nicht tunlich, die Existenz einer Substanz von 
dieser Qualität anzunehmen" (369). „Gott ist also keine ausser mir 
befindliche Substanz [von Kant selbst gesperrt], sondern bloss ein 
moralisches Verhältnis in mir* (414) — letztere Bestimmung: Gott ist keine 
Substanz, sondern ein Verhältnis, und dazu noch in mir, ist ganz beson- 
ders deutlich; es handelt sich bei diesem Begriff also nur um ein Verhältnis 
des handelnden Teiles zum gebietenden Teile meiner Vernunft 

Weitere Hauptstelien: „der kategorische Imperativ setzt nicht eine zu 
Oberst gebietende Substanz voraus, die ausser mir wäre, sondern ist ein 
Gebot oder Verbot meiner eigenen Vernunft Demungeachtet ist er doch als 
von einem Wesen ausgehend, was über Alle unwiderstehliche Gewalt hat, an- 
zusehen" (570); „der kategorische Imperativ stellt die Menschenpflichten als 
göttliche Gebote vor, nicht historisch, als ob lein göttliches Wesen] jemals ge- 
wisse Befehle an Menschen habe ergehen lassen, sondern wie die Vernunft sie 
... gleich einer göttlichen Person . . . strenge gebieten kann* (571); „die 
idealische Person, die den Akt der höchsten Autorität ausübt, Gott", ist 
nicht eine „vom Menschen verschiedene Substanz*; daher „ob ein Gott (in 
Substanz) sey oder nicht sey, darüber kann es keine Streitfragen geben: denn 
es ist kein Gegenstand des Streits (objectum litis). Es sind nicht existierende 
Wesen, um deren Beschaffenheit gestritten werden dürfte, ausser dem urteilen- 
den Subjekt, sondern eine blosse Idee der reinen Vernunft, die ihre eigenen 
Prinzipien examiniert". Dies nennt Kant (ib. 571) im Gegensatz zur „technisch- 
praktischen* Betrachtung, welche einen wirksamen Gott in der Natur annimmt, 
die „pragmatisch-moralische" Betrachtungsweise — also wieder eine Ante- 
zipation des »Pragmatismus* selbst im Ausdruck. Weiter: .die Existenz eines 
solchen Wesens kann nur in praktischer Rücksicht postuliert werden, nämlich 
die Notwendigkeit zu handeln, als ob ich unter dieser furchtbaren, zugleich 
aber auch heilbringenden Leitung und zugleich Gewährsleistung stünde in der 
Erkenntnis aller meiner Pflichten als göttlicher Gebote (tanquam, non ceu), 
mithin wird in dieser Formel die Existenz eines solchen Wesens 
nicht postuliert, welches auch in sich widersprechend sein würde" 
(613); die Annahme widerspruchsvoller und doch praktisch-nützlicher Begriffe 
macht eben, wie wir wissen, das Wesen der echten Fiktion aus, die auch in 
folgenden Worten ausgedrückt ist: «in ihr, der IdeevonGott,als moralischem 
Wesen, leben, weben und sind wir, angetrieben durchs Erkenntnis unserer 
Pflichten als göttlicher Gebote. Der Begriff von Gott ist die Idee von einem 
moralischen Wesen, welches als ein solches richtend, allgemein gebietend ist 
Dieses ist nicht ein hypothetisches Ding, sondern die reine praktische 
Vernunft selbst . . .* (613/4). .Zum kategorischen Imperativ wird keineswegs 
erfordert, dass eine Substanz existiere, deren Pflichten auch jener ihrer Gebote 
sind, sondern [wenn wir die Pflichten als göttliche Gebote betrachten, so wird 
darunter] nur die Heiligkeit und Unverletzlichkeit derselben verstanden' (614). 



Kants Als-Ob-Betrachtung im Opas Pöstumum. 727 



Es ist .bloss ein Urteil nach der Analogie, nämlich alle Menschenpflichten 
gleich als göttliche Gebote zu denken" (ib.). .Die Idee von einem solchen 
Wesen, vor dem sich alle Knie beugen etc., geht aus dem kategorischen Impe- 
rativ hervor, und nicht umgekehrt, und subjektiv in der menschlichen prak- 
tischen Vernunft ist ein Gott notwendig gedacht, obgleich nicht objektiv 
gegeben; hierauf gründet sich der Satz der Erkenntnis aller Menschenpflichten 
als göttlicher Gebote" (615). Das .Ens summum ... ist ein Ens rationis , . . 
Es ist nicht eine Substanz ausser mir . . . , sondern der Pflichtbegriff eines 
aligemeinen praktischen Prinzips ist identisch im Begriffe eines göttlichen 
Wesens als Ideals der menschlichen Vernunft enthalten - (616). Diese 
.gesetzgeberische Gewalt gibt diesen Gesetzen Nachdruck, obzwarnurinder 
Idee" (617/8). Denn es handelt sich um Gebote, „die das Subjekt sich selbst 
vorschreibt, und doch gleich als ob ihm ein Anderer und Höherer sie als 
Person dem Subjekt zur Regel machte* (619). .Man kann aber am Menschen 
das Diktamen der Vernunft in Ansehung des Pfiichtbegriffs überhaupt das Er- 
kenntnis seiner Pflichten als (tanquam, non ceu) göttlicher Gebote sich vor- 
stelligmachen,weil jener Imperativ herrschend und absolut gebietend, mithin 
als einem Herrscher gebührend, mithin einer Person zukommend vorgestellt 
wird: das Ideal einer Substanz, welches wir uns selbst schaffen" — 
diese Worte stehen am Schluss (620) der von Reicke 1884 publizierten Blätter, 
in denen dasselbe und ähnliches unzähligemal wiederholt wird. — 

Zu diesen Hauptstellen treten nun noch eine Anzahl von Wendungen, 
auf die zum Schlüsse kurz hingewiesen sei. Mit besonderer Vorliebe, mit sitt- 
lichem Ernst gebraucht Kant die Formel: „Es ist ein Gott* , aber immer mit 
einschränkenden Zusätzen, wie: „aber nur in der Idee*, „aber nur in uns* u.s.w.; 
so S. 311, 324, 328 (.es ist ein Gott ... und ich der Mensch bin selbst dieses 
Wesen, und dieses nicht etwa eine Substanz ausser mir*), 332, 334/5, 358/9, 
378 (.die blosse Form macht hier das Seyn des Dinges aus), 413, 415 (der Satz: 
es ist ein Gott, „wird zum Existentialsatz*, aber doch nur in dem Sinn: .Gott 
kann nur in uns gesucht werden*), 419, 575 (.es ist ein Gott in der moralisch- 
praktischen Vernunft, d. h. in der Idee der Beziehung des Menschen auf Recht 
und Pflicht, aber nicht als ein Wesen ausser dem Menschen *), 606, 607, 610, 
611, 615 (.es ist ein Gott in der Seele des Menschen ), 618, 619 (.est Deus in 
nobis*). So sind wir denn „zum Ausspruch berechtigt: Es ist ein Gott* (618), 
und »der Satz: es ist ein Gott . . . vertilgt die Ohngötterei (atheism) und die 
Gottes! eugnung* (611). Aber man beachte wohl: .der Satz: es ist ein Gott, 
bedeutet nicht den Glauben an das Dasein einer Substanz . . . son- 
dern es ist ein Axiom der reinen praktischen Vernunft, sich selbst als Prinzip 
der Handlungen zu setzen*. „Gott ist nicht eine Substanz, sondern die per- 
sonifizierte 1 ) Idee des Rechts und Wohlwollens* (608). In diesem Sinne 
kann Kant und jeder Kantianer sagen: es ist ein Gott, ich glaube an Gott. 

Dieser Glaube an Gott besteht für Kant und den Kantianer in der un- 
erschütterlichen Überzeugung von der Heiligkeit der Pflicht: „die Idee von der 
absoluten Autorität eines schlechthin diktierenden Pflichtgebots eines mora- 
lischen Wesens ist die Göttlichkeit desselben (di vi nitas formal is)* (619). Diese 



1) Hierzu die äusserst charakteristische Bemerkung auf S. 41 0; .Persona 
bedeutet auch Maske. Eripitur persona, manet res*. 



728 Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



Formulierung ist ganz besonders glücklich: es handelt sich nicht um eine mate- 
riaie, sondern um eine formale Göttlichkeit des Pflichtgebots; es ist so heilig, 
wie wenn es von einem Gott käme. .Oer moralische Imperativ kann also als 
die Stimme Gottes angesehen werden* (577), ja Kant spricht den Satz aus: 
,ln der moralisch-praktischen Vernunft liegt der kategorische Imperativ, alle 
Menschenpflichten als göttliche Gebote anzusehen • (318); »man kann die Existenz 
Gottes nicht beweisen, aber man kann nicht umhin, nach dem Prinzip einer 
solchen Idee zu verfahren und Pflichten als göttliche Gebote anzunehmen 4 
(321). Diese Betrachtungsweise unserer Pflichten ist selbst wieder eine Pflicht, 
ja die allgemeinste Pflicht, aber eine Pflicht gegen uns selbst („nicht eine 
besondere Pflicht gegen Gott, denn das würde Gott voraussetzen* 573). 

In diesem Sinne also .ist der Begriff von Gott der Begriff von einem 
verpflichtenden Subjekt ausser mir* 321, 322/3, von einem .gebietenden Sub- 
jekt* 325; . unter Gott versteht man eine Person, die über Alle vernunftige 
rechtliche Gewalt hat* 337, 346, 378, 396 (.der Autor 1 ) des Pflichtgebotes ist 
Gott*), ja Kant nennt 575 diesen Autor »den heiligen Geist*,*) aber .nicht als 
eine Substanz*; .eine blosse Idee ist Gott* (393); .sein Begriff ist bloss eine 
Idee zum Behuf gewisser Grundsätze* (346). — 

Dass dieser Gott nicht ausser dem Menschen als existierend bestehe, 
wird sehr oft wiederholt: »dieses gebietende Wesen ist nicht ausser dem 
Menschen als gebietende Substanz*, „es ist nicht Substanz ausser meinen Ge- 
danken* 326, 328, 330, 357, 369; .Gott ist nicht ein Wesen ausser mir, 
sondern bloss ein Gedanke in mir* 412; .Gott ist nicht ein Gegenstand 
der Anschauung, sondern nur des Denkens, aber doch der Notwendigkeit des 
Denkens solchen Wesens, obwohl ohne Realität 1 414, 415, 4\6; „die Idee von 
dem, was die menschliche Vernunft selbst aus dem Weltall macht, ist die 
aktive Vorstellung von Gott nicht als einer besonderen Persönlichkeit = 
Substanz ausser mir, sondern Gedanke in mir" 417, 573, 608, 614, 616. — 

Aber nicht bloss .ein Gedanke in mir* ist Gott, sondern er ist identisch 
mit mir selbst, mit meiner Vernunft, die sich eben in dem Gottesbegriff selbst 
personifiziert, und darin besteht eben die religiöse Urtiktion. .Der Begriff von 
einem solchen Wesen [Gott] ist nicht der von einer Substanz, d. i. von einem 
Dinge, das unabhängig von meinem Denken existiere, sondern die Idee (Selbst- 
geschöpf, Gedankending, ens rationis) einer sich selbst zu einem Gedankendinge 
konstituierenden Vernunft ... ein Ideal . . / .Schwärmerisch ist der Begriff, 
wenn das, was im Menschen ist, als etwas, was ausser ihm ist, und [wenn das, 
was] sein Gedankenwerk ist, als Sache an sich ^Substanz) vorgestellt wird* 330; 
»die moralisch-praktische Vernunft gebietet gleich als eine Person kategorisch 
durch den Pflichtimperativ - , .nicht als ob man dazu eine besondere, Gesetze 
promulgierende Person voraussetzen müsste' 338; aber, indem wir das Pflicht- 

1) Natürlich gebietet das Pfiichtgebot »auch ohne Autor*, wie Kant (414) 
ausdrücklich sagt; das Pflichtgebot ist an sich verbindlich, .auch ohne . . . 
ein Ideal gleichsam durch den Galvanism dazu [zu dem Autor des Gebots) 
aufzuzaubern*. 

2) An anderen und zwar ziemlich zahlreichen Stellen (z. B, S. 332, 334/5, 
345, 348) findet sich im Opus Postutnum eine der Trinitätsidee entsprechend*? 
Ausgestaltung des Gottesbegriffs. 



Kants Ais-Ob-Betrachtung im Opus Fosiumwn. 



729 



gebot als heilig betrachten, .ist Gott in uns und wir sind in Gott*; in dieser 
Hinsicht ist unsere praktische Vernunft .Geist* 572 f., 608, 613, 614, 619 u. Ö. 
Über »Geist* in diesem Sinn vgL oben S. 619 Anm. 1. 

So macht sich das Subjekt selbst zum Objekt in der Idee Gottei: .die 
transz. Philosophie ist ein Ideafism, da nämtich das Subjekt sich selbst konsti- 
tuiert* 374, d.h. »Transz, Philosophie ist das formale System der Ideen, da- 
durch das Subjekt sich selbst zum Objekt macht* [von Kant selbst 
gesperrt] 373; daraus ergibt sich eben »das System einer sich selbst zum Gegen- 
stande konstituierenden allumfassenden Vernunft* 368; »das denkende Subjekt 
konstituiert sich selbst als [göttliche] Person und ist selbst Urheber jenes Systems 
der Ideen 378. Diese .Form macht hier den ganzen Gegenstand selbst aus* 
378, 379, 380, 381, 383, 386 u. ö, — 

Von der Idee Gottes, wie von allen Ideen heisst es daher auch, dass wir 
sie „selbst machen *, dass wir .dieser Gegenstände* .Selbstscböpfer* sind, dass 
sie unsere .Selbstgeschöpfe* sind, 312, 326, 330. .Ideen sind selbstgeschaffene 
subjektive Prinzipien der Denkkraft, nicht Dichtungen/) sondern gedachf 332, 
336, .selbstgeschalfene Gedankendinge* 343, .der Begriff von Gott ist . . . 
ein ideales Wesen, was sich die Vernunft selbst schafft* 347; „Ideen sind 
a priori durch reine Vernunft geschaffene Bilder" 349; .die Vernunft schafft 
sich unvermeidlich selbst Objekte; daher jedes Denkende einen Gott hat" 372. 
. Transz. Philosophie ist die Selbstschöpfung (Autokratie) der Ideen zu einem 
vollständigen System der Gegenstände der reinen Vernunft In der Bibel heissts: 
lasst uns Menschen machen . . / 373; natürlich will Kant damit sagen, dass 
in Wirklichkeit der umgekehrte Prozess stattfinde; „Gegenstände" sind in diesem 
Zusammenhang natürlich ideelle Objekte — auch ein Beitrag zur .Gegenstands- 
theorie*. Von .Gott, Freiheit und Allheit* (= Welt) heisst es: „Alle sind selbst 
nur Gedankenwesen, subjektive Produkte der eigenen Menschenvernunft, die das 
Subjekt auf sich selbst bezieht* 374. Für diese Lehre von den .selbstgeschaffe- 
nen Ideen* (376) beruft sich Kant auch auf Lichtenberg 400; es sind .Produkte 
unserer selbstgemachten Vorstellungen (Ideen), unter denen die von Gott die 
oberste- 416, 417, 620. — 

Natürlich wird ort wiederholt, dass es sich bei diesen Begriffen um .blosse 
Ideen 4 handelt, z. B. 393 „der Autor des Pflichtgebots ist Gott (eine blosse Idee 
ist Gott)*, 411, 415, 572, 575: ,1. Was ist Gott 2. Ist ein Gott? der Gegen- 
stand dieser Frage ist eine blosse Idee, d. i. nicht von dem, was gegeben, 



1) .Dichtungen* sind hier in malo sensu gemeint = wertlose, willkürliche 
Gebilde. Sonst nennt ja Kant die Ideen selbst „Dichtungen - der Vernunft, 
sogar „notwendige', vgL oben S. 625 u, ö\ In diesem Sinne übersetzt Kant sogar 
das .selbst schaffen* direkt mit .fingere* an einer Stelle, welche auch darum 
überaus wichtig ist, weil Kant darin auch die kategoriale Funktion ein 
fingere nennt: „Alier unserer Erkenntnis der Dinge ausser uns iiegt das Prin- 
zip der Idealität der Anschauung zum Grunde, d. i. wir fassen nicht die Gegen- 
stande als an sich gegeben auf, sondern das Subjekt schafft sich selbst (f ingit) 
das Mannigfaltige des Sinnengegenstandes der Form nach selbst, und zwar 
vermittelst der Urteilskraft zu einem Inbegriff . . / Die oben 
$ 297 ff. vertretene Theorie der Kategorien als Fiktionen liegt also noch inner- 
halb der Linie des echten Kantianismus, vgl. auch S. 619 und 714. 



730 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



sondern was bloss gedacht wird (non dabile, sed mere cogitabile)* 576, 606, 608, 
613, 614, 615, 617, /618. 1 ) Aber eine solche »blosse Idee ist ein moralisch- 
praktisches Postulat und kein leerer Begriff * 411, d. h. der Begriff ist wert- 
voll» er ist nützlich, aber die Ideen bleiben darum doch „Dichtungen der Ver- 
nunft", 385; die Gleichung Ideen = Dichtungen wiederholt sich 336, 376, 386, 
390 u. Ö. In diesem Sinne nennt Kant 387 „das ganze System der Ideen Dich- 
tungen der reinen Vernunft (gleich als gegebener Gegenstände)*, und ebenso 
wird 412 der Gottesbegriff der „dichtenden Vernunft" zugewiesen, aber diese 
Dichtungen — wohl zu unterscheiden von willkürlichen Dichtungen im tadeln- 
den Sinn 332, 341, 350, 358, 615, 616 — werden eben als berechtigte, ja not- 
wendige Ideen anerkannt, „notwendig aufgestellt - 335, und in diesem Sinn ein 
.Gebot' (341) entspringend aus dem „architektonischen*, d.h. also künstlerischen 
Trieb der menschlichen Vernunft; in diesem Sinne heisst der Mensch ein .Kos- 
motheoros, der die Elemente der Welterkenntnis a priori selbst schafft, aus 
welcher er die Weltbeschauung Uetzt sagt man „Weltanschauung"] als zugleich 
Weltbewohner zimmert in der Idee*, also als schönes — Luftschioss. 

Daher soll man sagen: „die Idee Gott", nicht „die Idee von Gott, 
denn das wäre ein Objekt, was als existierend gedacht würde' 416. Wenn 
man sagt: „Die Idee Gott", so ist dies daher auch eben „tautologisch* (ib.), weil 
eben die Gleichung gilt: „Gott = oberste Idee. So haben denn diese Ideen 
keinen theoretischen Realitätswert: , Gott — ohne Realität* 414; „die Begriffe 
von einem Geist, von Gott etc. sind Dichtungen, die zwar an sich gegründet, 
aber nicht real, sondern immer nur ideal sind" 390, denen auch 614 zweimal 
die .Existenz* abgesprochen wird. Das gilt von der ganzen „Skala der Ideen* 
(371), sie sind „Gedan kendinge " 330, 334, 337, 343, 374, „selbstgeschaHene* 
336, 341, 343, 615ff. Eine besonders prägnante Stelle schliesse diese Übersicht: 
„Gott, die Welt und der an die Pflicht gebundene Mensch in der Welt — alle 
sind selbst nur Gedankenwesen, subjektive Produkte der eigenen Menschen- 
vernunft, die däs Subjekt auf sich selbst bezieht* (374). 

Aber nun kommt die Kehrseite, die notwendige Ergänzung des Bis* 
herigen, die in dem prägnanten Satze zusammengepresst ist: „Gott ist eine 
blosse Vernunftidee, aber von der grössten inneren und äusseren 
praktischen Realität' 410. Diese Bestimmung wird sehr oft wiederholt, so 
326, 353, 364, 380: „es müssen Wesen gedacht werden, die, ob sie gleich 
nur in den Gedanken des Philosophen existieren, doch in diesen 
moralisch-praktische Realität haben* (Gott, Weltall, Freiheit). Vgl. ferner 575.*) 

1) Vgl. auch 333, 336, 346, 349, 353, 357, 369, 371, 373. Sehr glücklich 
ist folgende Formulierung: „Ideen sind nicht blosse Begriffe, sondern Gesetze 
des Denkens, die das Subjekt ihm selbst vorschreibt Autonomie* 379. 

2) Der Satz von der theoretischen Idealität, aber praktischen Realität 
der Ideen steht in einem merkwürdigen ParaHelismus zu dem Satz von der 
transzendentalen Idealität, aber empirischen Realität der Anschauungsformen 
Raum und Zeit. Kant, der daher auch öfters von der .transz. Idealität* dei 
Ideen, speziell der Gottesidee redet, z. B.^374, 378, 380 f., 384, 573, 577 u. ö. 
hat auf diesen ParaHelismus selbst mehrfach deutlich hingewiesen, besonders 
415/16, aber auch 311, 359, 374, 419, 540, 586, 595 f. u. ö. 



Kants Als-Ob-Betrachtung im Opus Poaiumum. 



731 



Diese von der Realität im theoretischen Sinne (613) haarscharf zu unter- 
scheidende praktische Realität der Ideen, 1 ) speziell der Gottesidee ist es nun, 
au! welche Kant überall hinaus will und in diesem Sinne, aber auch nur in diesem 
Sinne, spricht Kant von einem, von seinem Gottesbeweis: „Der kategorische 
Imperativ und das darauf Gegründete aller Menschenpflichten als göttlicher Ge- 
bote ist der praktische Beweis vom Dasein Gottes" 365; 353. In diesem Sinne 
nennt Kant sogar den Satz: Es ist ein Gott, gelegentlich (415) einen Existen- 
tfalsatz*, sagt aber an einer anderen Stelle sehr deutlich: ,Es ist also zwar 
nicht das Dasein Gottes als einer besonders existierenden Substanz, aber doch 
die Beziehung auf einen solchen Begriff, als zur transz. Philosophie gehörend 
hierdurch hinreichend (in praktischer Rücksicht) erwiesen* 572; in diesem Sinne 
„kann nicht geleugnet werden, dass ein solches Wesen existiere" (ib.), nämlich 
eben als praktisch-wirksame Idee in uns; dies nennt Kant auch den „indirekten 
Beweis Gottes" 575, 610, 615. Kant bringt 618 diesen Beweis in folgende kurze 
Form: „Ein Gebot, dem Jedermann schlechterdings Gehorsam leisten muss, ist 
als von einem Wesen . . . das über Alles waltend und herrschend [betrachtet 
werden muss, stammend] anzusehen. Ein solches aber als moralisches Wesen 
heisst Gott. Also ist ein Gott/ Und weiter: „Es ist nur ein praktisch-hin- 
reichendes Argument des Glaubens an Einen Gott, der in theoretischer {Rück- 
sicht] unzureichend ist — das Erkenntnis aller Menschenpflichten als (tanquam) 
göttlicher Gebote*. Das zweimal wiederholte als, der Index der Fiktion, zeigt 
aufs neue deutlichst die fiktive Grundlage, den fiktiven Sinn und die fiktive 
Spitze des Kantischen moralischen Gottesbeweises, in diesem Sinne wird das 
Dasein Gottes „postuliert* 608, vgl. 337, 613 u. ö. (Vgl. unten S. 735, 742.) 

Diesen seinen Gottesbeweis bringt Kant in eine offenbare Parallele mit 
dem alten ontologischen Beweis: denn auch bei seinem neuen moralischen 
Gottesbeweis Hegt das Dasein — im praktischen Sinne — unmittelbar im 
Begriff Gottes. .Dass diese Idee objektive Realität habe, d. t. [in] der Vernunft 
jedes nicht ganz tierisch verkrüppelten Menschen dem moralischen Gesetze 
gemäss Kraft habe,*) und der Mensch zu sich selbst unausweichlich gestehen 
müsse: es ist ein und zwar nur Ein Gott — bedarf keines Beweises seiner 



1) Von den übrigen Ideen, speziell von der Idee der Freiheit, sagt das 
Opus Postumum auffallend wenig. Um so bemerkenswerter ist folgende Stelle 
über die Freiheitsidee: „die Newtonsche Attraktion durch den leeren Raum 
und die Freyheit des Menschen sind einander analoge Begriffe, sie sind kate- 
gorische Imperative, Ideen* (336, 350). Vgl. oben $.722, U 16. 

2) Also die .objektive Realität" der Gottesidee beruht darin, dass sie in 
uns „Kraft hat* — diese Defininition ist äusserst wichtig. Kant wiederholt dies 
öfters auch in anderer Form: „Auch Ideen der moralisch-praktischen Vernunft 
haben bewegende Kräfte [wer denkt hier nicht an Fouillle's Jd6es-forces] auf die 
Natur des Menschen. Das heisst indirekt die Gottheit fürchten* 575. Vgl. 611 : 
„Zu den wirkenden Ursachen im Weltgan2en gehört auch die moralisch-prak- 
tische Vernunft"; in ihr ist die Ide« Gottes wirksam, und in diesem Sinne 
heisst es: „Es ist ein Gott in der Seele des Menschen* 615. .Abgesehen von 
einem wirklichen von Gott ergangenen Ausspruch ist das Erkenntnis aller 
Menschenpflichten als göttlicher Gebote (tanquam, non ceu) von gleicher 
Kraft, als ob ein wirklicher Wettrichter angenommen wäre* 617. 



762 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



Existenz gleich als eines Naturwesens, sondern liegt schon im entwickelten Be» N 
griffe dieser Idee nach dem Prinzip der Identität: 1 ) die blosse Form macht 
hier das Sein des Dinges aus* 378, vgl. 416, 610» 611 und besonders 320 rj, die 
blosse Idee von Gott ist zugleich Beweis seiner Existenz". In diesem Sinne 
ist der schöne Satz zu verstehen: „die blosse Idee von Gott ist zugleich! ein 
Postulat seines Daseins. Ihn sich denken und zu glauben ist ein iden- 
tischer Satz 1 * 609, ja denken ist hier = anbeten 335. Der aufmerksame Leser 
des Früheren wird sich durch diese leicht missverständlichen Worte nicht über 
den Sinn täuschen lassen: die »Existenz*, das »Dasein*, von dem hier die Rede 
ist, ist nicht eine Existenz ausser uns, sondern ein Dasein in uns, in der prak- 
tischen Vernunft, ein Dasein „in praktischer Rücksicht*, das Dasein des Ideals, 
jenes Platonische Sein der Ideen, das für den Philosophen, das für den Edel- 
menschen höheren Wert hat, als alles elende Existieren ausser uns im Sinne 
einer gewöhnlichen, den Weg versperrenden oder irgendwie sonst als unab- 
hängig von uns gedachten Substanz, einer ordinären, gröberen oder feineren 
Kausalität. — 

In diesem Sinne wirft Kant die kühne Frage auf: „Ob Religion ohne Vor- 
aussetzung des Daseins Gottes möglich ist?* (619), und antwortet: „Religion ist 
nicht der Glaube an eine Substanz von besonderer Heiligkeit, Rang und Ober- 
gewalt, bey der man sich durch Einschmeichelung Gunst erwerben und Gunst 
verschaffen kann* (410), sondern „Religion ist Gewissenhaftigkeit (mihi hoc reli- 
gioni), die Heiligkeit der Zusage und Wahrhaftigkeit dessen, was der Mensch 
sich selbst bekennen tnuss. Bekenne dir selbst Diese zu haben, wird nicht 
der Begriff von Gott, noch weniger das Postulat: es ist ein Gott, gefordert" 
(370) — natürlich als Dogma, denn als Idee hält ja Kant den Gottesbegriff fest; 
und in diesem Sinnne heisst es 610: .das Prinzip der Befolgung aller Pflichten 
als göttlicher Gebote ist Religion", denn ,alle Menschenpflichten als göttliche 
Gebote vorzuschreiben, liegt schon in jedem kategorischen Imperativ* (614). 
Kant sieht darin einen berechtigten ,Anthropomorphismus* (356), und in diesem 
Sinne heisst es: ,der moralische Imperativ kann also als die Stimme Gottes 
angesehen werden* (577, vgl. 414). Vgl- oben S. 728. Viele Male wird diese 
Wendung in dem Opus Postumum wiederholt: so ansehen, ebenso: so be- 
urteilen, so vorstellen, so betrachten, so denken 9 ) zu praktischem Behuf u.s.w. 

Eine praktisch ausserordentlich wichtige Konsequenz, welche 
Kant aus seinen Aufstellungen zieht, mag den ßeschluss machen. Es gibt 
bekanntlich nur einen einzigen Fall, wo der so Denkende über seine Gedanken, 
die er in Wort und Schrift äussert, im bürgerlichen Leben zu einer Handlung 



1) Dasselbe wiederholt Kant öfters, so 571, 574, 614. Dass der Gottes- 
begriff nur eine analytische Erläuterung des kategorischen Imperativs darstellt, 
keine synthetische Erweiterung desselben, ist eine andere Form für den Satz, 
dass der Gottesbegriff nur als Idee gilt, nicht als Dogma. 

2) Diese fiktive Betrachtungsweise, dieses .so denken", wird dann an 
zahlreichen Stellen, z. B. 543, 574, 608ff., auch wieder zur .Erkenntnis als*, 
wie wir dies schon früher fanden. Die praktische .Erkenntnis" in diesem Sinn 
ist von der theoretischen scharf zu trennen! Dem doppelten. Wahrheitsbegriff, 
den wir bei Kant fanden, entspricht natürlich auch ein doppelter Erkennte is- 
begriff (vgl. oben S. 666 u. ö.)- 



Forberg und seine Religion des Ais-Ob. 



733 



genötigt wird, welche den Gottesbegriff direkt fordert, den Eid. Kann der so 
Denkende noch einen vom Staat geforderten Eid (als Zeuge, als Sachverstandiger, 
als Beamter, als Abgeordneter u. s. w.) leisten? Hierauf antwortet Kant — nach 
kurzer Überlegung S. 383 — unbedenklich und konsequent mit einem lauten, 
klaren Ja: „Man'kann bey Gott schwören, ohne sein Daseyn einzu- 
räumen. Bey Gott schwören, ohne sein Daseyn einzuräumen (zu behaupten), 
bedeutet nur Gewissenhaftigkeit u , „bedeutet nichts weiter als gewissen* 
hafte Betreuerung"; Juro i. e. per Deum festem affirmo. Dadurch weiss ich 
nicht, dass Gott sey schlechthin. Ich nehme es auf mein Gewissen, wenn ich 
unwahr spreche, ein Lügner zu heissen* 414, 416, 417. Und zur Erläuterung 
fügt Kant noch hinzu: jurare ist ju orare, ju ist Jehova, Jupiter, vor dem das 
Innere aufgedeckt ist, der „Herzenskündiger. Nun eben dieser „Herzens- 
kündiger% von diesem spricht Kant oft, z. B. 577, als einer notwendigen Idee 
unserer Vernunft; auf ihn als .oberste Idee' zielt ja eben die ganze Als-Ob- 
Betrachtung ab, die wir von Anfang bis hierher verfolgt haben. „Gott" ist ejne 
zweckmässige, eine notwendige Idee, und Ideen sind „heuristische Fiktionen*, 
Als -Ob -Betrachtungen. Kant und diejenigen, die so, wie er, geartet sind, 
handeln, als ob ein solcher Gott sie richtete, das ist ihr Glauben an Gott, 
das ist der »praktische Glauben - an einen Gott. 



Forberg, der Urheber des Fichteschen Atheismus- 
streites und seine Religion des Als-Ob. 
Die überwältigende Menge von Stellen aus Kant, welche 
vorstehend auf über 100 Seiten mitgeteilt und besprochen sind, 1 ) 
beweisen zur Genüge, dass die Als-Ob-Betrachtung bei Kant 
eine ausserordentlich grosse Rolle gespielt hat. Man hat diese 
Seite Kants bis jetzt fast ganz übersehen, und wo die Als-Ob- 
Lehre Kants flüchtig berührt worden ist (z. B. bei Volkelt, Rde, 
Görland), hat man sie nur auf die eigentliche Ideenlehre bezogen, 
ohne zu ahnen, dass bei Kant diese Betrachtungsweise auch in 
seinen religionsphilosophischen, ethischen, juristischen, sowie in 
seinen naturphilosophischen und mathematischen Anschauungen 
eine entscheidende Bedeutung besitzt. Man kann sagen: in Kants 
Denken, im System seiner logischen Operationen spielt das Als- 



1) Die von der Berliner Akademie veranstalteten Veröffentlichungen aus 
Kants Nachlass werden auch nach dieser Seite hin voraussichtlich noch weiteres 
Material ergeben, das aber wohl das von uns gegebene Gesamtbild nicht wesent- 
lich verändern wird. 



734 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



Ob überhaupt die Rolle einer Kategorie, es ist die ihm eigen- 
tümliche Betrachtungsweise der Dinge überhaupt 

Unsere Darstellung lehrt speziell in Bezug auf die Religions- 
philosophie einen ganz anderen Kant kennen, als den traditionellen, 
auf der einen Seite einen viel radikaleren, auf der anderen Seite 
einen viel konservativeren, als den bisher üblichen. Kant offenbart 
sich uns als theoretischer Nicht-Theist in dem Sinne, dass ihm 
die Existenz eines höchsten Geistes u. s. w,, im üblichen Sinne 
des Existierens, nicht allein nicht wahrscheinlich, sondern höchst 
unwahrscheinlich, ja direkt unglaubhaft bis zur Unmöglichkeit 
wird. Die Stellen, welche hierüber oben mitgeteilt worden sind, 
bewegen sich vom Unwahrscheinlichen bis zum Unmöglichen 
in • verschiedenen Abstufungen, unter Vermeidung des üblichen 
sonstigen beliebten Ausweges des Agnostizismus, welcher lehrt, 
das Gebiet der Dinge an sich sei unbekannt, dieses unbekannte 
Gebiet könnte aber wohl eine Welt von Geistern mit einem 
höchsten Geist an der Spitze sein. Ein solcher Agnostizismus, 
der sich sonst wohl bei Kant findet, und den die Meisten seiner 
Schüler eingeschlagen haben, erscheint als ein schwächlicher 
Kompromiss gegenüber dem Radikalismus der mitgeteilten Stellen, 
in denen Kant seinen Sitz auf der äussersten Linken des philo- 
sophischen Parlaments nimmt: ihm sind alle transzendenten Vor- 
stellungen nichts als »selbstgemachte Ideen*, in diesem Falle 
ohne „die dritte Möglichkeit". Als erste Möglichkeit ist anzu- 
setzen: Die Vorstellungen einer transzendenten Welt sind uns aus 
dieser anderen Welt selbst gegeben, und damit ein Beweis der- 
selben. Die zweite Möglichkeit ist: Jene Vorstellungen sind von 
uns selbst gemacht, worin der Gegenbeweis gegen die Existenz 
jener anderen Welt liegt Eine dritte Möglichkeit wäre: Jene 
Vorstellungen sind zwar von uns selbst gemacht, aber es ent- 
spricht ihnen trotzdem eine Welt transzendenter Realitäten. Einen 
solchen Kompromiss schliesst unser Kant nicht, diese dritte Mög- 
lichkeit existiert für den Kant, wie wir ihn kennen gelernt haben, 
nicht, vgl. oben S. 629: für ihn sind jene Vorstellungen schlechter- 
dings ideae a nobis ipsis factae, daher ideae fictae. Diese radikale 
Strömung des Kantischen Denkens ist in den oben mitgeteilten 
Stellen ganz und voll zur Geltung und zum Vorschein gekommen, 
Kant ist daher auch viel radikaler als die Pantheisten; deren 
schwärmerische, mystische, unklare Vorstellungsweise ihm über- 
haupt zuwider war; auch seinem von E. v. Hartmann mit Recht 



Forberg und seine Religion des Als-Ob. 735 

aufgedeckten Pessimismus, sowie seiner Lehre vom radikalen 
Bösen widerspricht der Pantheismus durchaus. Kant ist viel radi- 
kaler: er erkennt, dass die Vorstellungen einer transzendenten 
Welt, dass der ganze, sie betreffende Begriffsapparat aus von uns 
selbstgemachten Ideen besteht, und daraus zieht er furchtlos und 
seiner Bestimmung als Philosoph getreu alle Konsequenzen. Man 
nennt diese Konsequenzen negative, obgleich sie nichts enthalten, 
als die Position der gegebenen Wirklichkeit und nur sie, den puren 
Positivismus. 

Aber auf der anderen Seite offenbaren uns die oben mit- 
geteilten Stellen einen viel konservativeren Kant, als die übliche 
Darstellung will. Kant, der Vernunftphilosoph, der Auf klär ungs- 
denker, tritt ein für die „Zulässigkeit", ja „Schicklichkeit* solcher 
religiöser Vorstellungen, welche dem traditionellen Aufklärer wegen 
ihrer Absurdität ein Greuel sind, so die jungfräuliche Geburt 
Christi, die Genugtuungsidee, die Idee eines jüngsten Gerichts. 
Für Kant sind diese Vorstellungen ein zweckmässiges päda- 
gogisches Mittel, eine „ästhetische Maschinerie" zur Belebung 
und Förderung moralischer Antriebe, eine sinnlich-poetische Ein- 
kleidung der starren Pflichtgebote „zu praktischem Behuf". Aber 
ganz in dieselbe Kategorie, in die Kategorie des Als-Ob, ge- 
hören ihm auch überhaupt alle Vorstellungen einer transzendenten 
Welt, und nur von diesem Gesichtspunkt aus ist nun eben auch 
Kants berühmter „moralischer Gottesbeweis" zu betrachten, näm- 
lich eben auch als eine Als-Ob-Betrachtung zu praktischem 
Behuf. Nicht die Realität, d. h. der Existentialwert der Gottes- 
idee wird darin von Kant bewiesen, wie schon oben S. 629 f. be- 
merkt worden ist, sondern die Realität, d. h. die ethische Be- 
deutung und Gültigkeit, also der Moralwert der Gottesidee. Um 
die Idee Gottes handelt es sich für den echten Kritizismus, und 
nur um die Idee. Diese will Kant nicht fallen lassen, vielmehr: 
er kann sie nicht fallen lassen, weil sie in dem kategorischen 
Imperativ immanent enthalten ist, nach seiner Schulsprache: ana- 
lytisch. Kant lehrt nicht bloss: du sollst so handeln, als ob die 
Pflichten göttliche Gebote wären; sondern er lehrt: wer überhaupt 
sittlich handelt, der handelt schon von selbst so, als ob ein 
Gott ihm jene Handlungsweise vorgeschrieben habe. Und daraus 
eben folgt wieder die Maxime: wenn du sittlich handeln willst» 
so musst du so handeln, als ob ein Gott, als ob dein Gott dir 
das befohlen hätte. 



736 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



In der ganzen Zeit von Kants Auftreten an bis auf die Gegen- 
wart haben nur sehr wenige gewusst, dass dies der echte Kant 
ist: Manche — sowohl Anhänger als Gegner — haben es mehr 
oder minder klar herausgespürt; Manche haben es wohl gemerkt, 
aber nicht gewagt, es offen herauszusagen. Jedenfalls ist der 
Einzige, der Kants echte Lehre in dieser Hinsicht erkannt und 
dargestellt hat, Forberg gewesen^ 

Der Name Forbergs ist in der Geschichte der Philosophie 
wohlbekannt Man liest in allen Darstellungen, dass Forberg in 
dem von Fichte und Niethammer herausgegebenen „Philoso- 
phischen Journal -1 (Jahrg. 1798, 1. Heft) einen Aufsatz erscheinen 
liess: „Entwicklung des Begriffs der Religion", dem Fichte zur 
Erläuterung einen Aufsatz vorangehen liess: ..Über den Grund 
unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung". Diese beiden 
Aufsätze verursachten dann den bekannten „Atheismusstreit", in 
Folge dessen Fichte seine Jenenser Professur aufgab resp. verlor. 
— Das ganze Interesse der Historiker der Philosophie hat sich 
nun begreiflicher Weise auf Fichte konzentriert, eine Sonne am 
Himmel der Philosophie, neben welcher der sonst ganz unbe- 
kannte Forberg als ein bescheidenes Planetchen verschwand. Das 
war schon innerhalb des „Atbeismusstreites 1 * selbst der Fall, der 
sich im Wesentlichen im Jahre 1799 abspielte- in allen den zahl- 
reichen Schriften und Gegenschriften über den Streit, der damals 
das geistige Deutschland durchwogte, ist fast nur von Fichte die 
Rede. Und so war es auch nachher. Die Historiker der Philo- 
sophie hatten, als der Fichtesche Aufsatz 1845 in seinen „Sämt- 
lichen Werken" (im HL Band) abgedruckt worden war, vollends 
keine Veranlassung und Gelegenheit mehr, das alte, auf Lösch- 
papier gedruckte Original selbst anzusehen, in dem doch allein 
der Forbergsche Aufsatz selbst zu finden ist. Und so blieb dieser 
merkwürdige Aufsatz ungelesen und vergessen, 1 ) und so ist es 
gekommen, dass nur der Name Forbergs in der Geschichte der 
Philosophie weiterlebt, seine Ideen aber begraben lagen. 

Diese Ideen sind nun aber eben sehr merkwürdig: Forberg 
hat Kants Als-Ob-Lehre, speziell in Bezug auf die Religions- 
Philosophie, wenigstens in ihrem Grundprinzip klar erfasst und 
scharf herausgestellt. Kein Einziger der fast unzähligen damaligen 

1) Eine Ausnahme macht die auf S. 674 Anrn. 4 erwähnte Abhandlung, 
deren Urheber vor 10 Jahren die hierauf bezüglichen OriginaJschrifren vom 
Verfasser dieses Buches zur Einsichtnahme bekommen hat 



Forberg und seine Religion des Als-Ob. 



737 



— und späteren Kantschriftsteller hat im Grunde verstanden, 
worauf Kant in letzter Linie mit seiner Religionsphilosophie 
hinzielte. Dieser Mann mit seinem klaren Verstand, seinem 
intellektuellen Mut ging der Sache auf den Grund, Aus seiner 
vergessenen Abhandlung lassen wir, nach 112 Jahren, hier die 
wichtigsten Stellen wieder abdrucken. 

„So wie die Idee einer künftigen möglichen Übereinstimmung 
aller Menschen in allen Urteilen allen denkenden Menschen 
unablässig vor Augen schwebt, so schwebt auch allen moralisch 
guten Menschen die Idee einer allgemeinen Übereinstimmung im 
Guten, die Idee einer aligemeinen Verbreitung von Gerechtigkeit 
und Wohlwollen, vor Augen* (a. a. O. S. 30). Aber in ersterer 
Hinsicht ist Folgendes zu beachten: „das Reich der Wahrheit ist 
ein Ideal. Denn es ist bei der unendlichen Verschiedenheit der 
Fähigkeiten, in der sich die Natur so sehr gefallen zu haben 
scheint, niemals zu erwarten, dass je ein Einverständnis aller 
Menschen in allen Urteilen stattfinden werde. Das Reich der 
Wahrheit wird also zuverlässig niemals kommen, und der End- 
zweck der Republik der Gelehrten wird allem Anschein nach in 
Ewigkeit nicht erreicht werden. Gleichwohl wird das in der Brust 
jedes denkenden Menschen unvertilgbare Interesse für Wahrheit 
in Ewigkeit fordern, dem Irrtum aus allen Kräften entgegen- 
zuarbeiten, und Wahrheit von allen Seiten zu verbreiten, d. h. 
gerade so zu verfahren, als ob der Irrtum einmal gänzlich 
aussterben könnte, und die Alleinherrschaft der Wahrheit zu 
erwarten wäre. Und eben dies ist der Charakter einer Natur, die, 
wie die menschliche, bestimmt ist, ins Unendliche sich Idealen 
zu nähern* (S. 29 f.). 

Wie mit dem Reich der Wahrheit, so ist es nun auch mit 
dem Reich des Guten. Der „gute Mensch" „trachtet darnach, 
dass das Reich Gottes, das Reich der Wahrheit und des Rechts, 
komme auf Erden: aber am Ende seiner Laufbahn sieht er es 
noch so fern als je . . . Was soll nun er, der Einzelne, gegen 
eine unmoralische Welt? Soll auch er aufhören, sich dem Strom 
des Unrechts entgegenzusetzen? Soll er es hinfort in der Welt 
gehen lassen, wie es geht, ohne sich ferner anzustrengen, oder 
wohl gar aufzuopfern, für einen idealischen Zweck, der nimmer 
erreicht wird?" (S. 34 f.) „Nein — ruft ihm mit lauter Stimme sein 
gutes Herz zu — du sollst Gutes tun, und nicht müde werden! 
Glaube an die Tugend, dass sie am Ende siegen wirdl . . . 

47 



738 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



Glaube, dass nichts Gutes, was du tust, oder auch nur entwirfst, 
sei es auch noch so klein und unmerklich und unscheinbar, ver- 
loren gehe in dem regellosen Laufe der Dinge! Glaube, dass 
dem Lauf der Dinge ein, dir freilich unübersehbarer, Plan zum 
Grunde liegt, in dem auf das endliche Gelingen des Guten ge- 
rechnet istl Glaube, dass das Reich Gottes, das Reich der Wahr- 
heit und des Rechts, kommen wird^auf die Erde, und trachte du 
nur darnach, dass es komme 1 ... Es ist wahr, du kannst von 
dem Allem nicht scientifisch beweisen, dass es so sein müsse, 
aber genug, dein Herz sagt dir, du sollst so handeln, als ob 
es so wäre, und wenn du so handelst, so zeigst du eben da- 
durch, dass du Religion hast!" (S. 34—36). 

„Dies ist die Art und Weise, wie Religion im Herzen eines 
guten Menschen entsteht, und allein entstehen kann. Der gute 
Mensch wünscht, dass das Gute überall auf Erden herrschen 
möge, und er fühlt sich in seinem Gewissen verbunden, alles zu 
tun, was er kann, um diesen Zweck bewirken zu helfen ... Er 
glaubt also, dass der Zweck der Alleinherrschaft des Guten 
allerdings ein möglicher Zweck sei . . . Er kann es, wenn er 
spekuliert, dahingestellt sein lassen, ob jener Zweck möglich 
oder unmöglich sei; nur wenn er handelt, muss er verfahren, 
als ob er sich für die Möglichkeit entschieden hätte, er muss 
trachten, jenem Zweck allmählich näher zu kommen. 11 Auch wenn 
er überzeugt ist, dass »es denn doch am Ende unmöglich sei, aus 
Menschen Engel zu machen", darf er doch nicht die Hände in 
den Schoss legen; denn er „würde es sich doch selbst nicht leug- 
nen können, dass es von einer grossen und erhabenen Denkungs- 
art zeuge, nach der entgegengesetzten Maxime zu handeln 41 
(S. 36/7). 

„Religion ist demnach keine gleichgültige Sache, mit der 
man es halten kann, wie man es will, sondern sie ist Pflicht 
Es ist Pflicht zu glauben an eine solche Ordnung der Dinge in 
der Welt, wo man auf das endliche Gelingen aller guten Pläne 
rechnen kann, und wo das Bestreben, das Gute zu befördern, 
und das Böse zu hindern, nicht schlechterdings vergeblich ist; 
oder, welches Eins ist, an eine moralische Weltregierung, oder 
an einen Gott, der die Welt nach moralischen Gesetzen regiert 
Nur ist dieser Glaube keineswegs insofern Pflicht, wiefern er 
theoretisch, d. h. eine müssige Spekulation ist, sondern bloss 
und allein insofern, wiefern er praktisch, d. h. wiefern er 



Forberg und seine Religion des Als-Ob. 



739 



Maxime wirklicher Handlungen ist Mit anderen Worten: es ist 
nicht Pflicht, zu glauben, dass eine moralische Weltregierung, 
oder ein Gott, als moralischer Weltregent, existiert, sondern es 
ist bloss und allein dies Pflicht, so handeln, als ob man es 
glaubte. In den Augenblicken des Nachdenkens oder des Dis- 
putierens kann man es halten, wie man will, man kann sich für 
den Theismus oder für den Atheismus erklären, je nachdem man es 
vor dem Forum der spekulativen Vernunft verantworten zu können 
meint, denn hier ist nicht die Rede von Religion, sondern von 
Spekulation, nicht von Recht und Unrecht, sondern von Wahrheit 
und Irrtum, Nur im wirklichen Leben, wo gehandelt werden soll, 
ist es Pflicht," in jenem Sinn, auf dem Boden jener Als-Ob-Be- 
trachtung zu handeln (S. 36 — 38). 

Ein Handeln nach den entgegengesetzten Maximen ist böse; 
,in diesen Maximen würde man gegen sein eigenes Gewissen 
handeln". „Jene Maximen, (die Maximen der Irreligion) sind 
also pflichtwidrig und Sünde. Vor seinem Gewissen kann Nie- 
mand eine andere Maxime verantworten, als die, Gutes zu stiften, 
und Böses zu hindern, wo man weiss und kann, ohne sich durch 
die Besorgnis irre machen zu lassen, dass man den Erfolg doch 
nicht in seiner Gewalt habe, — jeden guten und schönen und 
grossen Einfall zu betrachten als ein anvertrautes Pfund, mit 
dem wir wuchern sollen, und unablässig zu arbeiten an Ver- 
breitung des Wahren und Guten in unserer Sphäre . . . nach 
Idealen, in der Hoffnung, dass der Zufall (oder die Gottheit, als 
eine uns übrigens unbekannte Macht) alle Schwierigkeiten aus 
dem Wege räumen werde . . . Diese Maximen sind die Maximen 
der Religion, und die Religion ist demnach nichts anderes, als 
Glaube an das Gelingen der guten Sache, so wie Irreligion nichts 
anderes ist, als Verzweiflung an der guten Sache. Religion ist 
mithin keineswegs ein Notbehelf menschlicher Schwäche, (dies ist 
sie allerdings, sobald man sich den Religionsglauben als einen 
theoretischen Glauben denkt), sondern die Macht des moralischen 
Willens erscheint vielmehr nirgends herrlicher und erhabener, als 
in der Maxime des religiösen Menschen: ich will, dass es besser 
werde, wenn auch die Natur nicht will!" (S. 39 — 40). 

„Kann man jedem Menschen Religion zumuten? Antwort: 
Ohne Zweifel, so wie man jedem Menschen zumuten kann, ge- 
wissenhaft zu handeln . . 



47» 



740 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



„Ist Rechtschaffenheit möglich ohne Religion? Antwort: Nein. 
Rechtschaffenheit ohne Religion und Religion ohne Rechtschaffen- 
heit sind gleich unmöglich. Das Eine wäre Rechtschaffenheit 
ohne Interesse für Rechtschaffenheit, und das Andere Interesse 
für Rechtschaffenheit ohne Rechtschaffenheit. " 

„Kann man rechtschaffen sein, ohne einen Gott zu glauben? 
Antwort: Ja. Denn in der Frage ist ohne Zweifel von einem 
theoretischen Glauben die Rede. tt ( 

„Kann ein Atheist Religion haben? Antwort: Allerdings. 
Von einem tugendhaften Atheisten kann man sagen, dass er 
denselben Gott im Herzen erkenne, den er mit dem Munde ver- 
leugnet. Praktischer Glaube und theoretischer Unglaube auf der 
einen, so wie auf der anderen Seite theoretischer Glaube, der 
aber dann Aberglaube ist, und praktischer Unglaube können ganz 
wohl beisammen bestehen" (S. 42 — 44). 

Diese Religion des Als-Ob, wie wir sie kurz und schlagend 
nennen wollen, trug dem Verfasser (Rektor des Lyzeums in Saal- 
feld) eine Disziplinar-Untersuchung ein, die aber ohne schlimme 
Folgen für ihn ablief, weil er sehr einsichtige Richter hatte. For- 
berg hat eine öffentliche Verantwortung abgelegt unter dem Titel: 
„Friedrich Carl Forbergs Apologie seines angeblichen 
Atheismus* (Gotha, bei Justus Perthes 1799, 181 S.). Aus dieser 
überaus selten gewordenen Schrift seien noch einige weitere 
Äusserungen Forbergs zur Erläuterung seines Standpunktes an- 
geführt. Der theoretische Atheismus -sei an sich eine blosse 
Angelegenheit der Spekulation und insofern harmlos und unge- 
fährlich; ja »eine Anwandlung von theoretischem Atheismus wäre 
wohl etwas, das sich Jeder, wenigstens einmal in seinem Leben, 
zu wünschen hätte: nämlich um ein Experiment zu machen mit 
seinem eigenen Herzen, ob dieses das Gute wolle um seiner 
selbst willen, wie sichs gebührt, oder bloss um des Nutzens willen, 
der dann, wo nicht in dieser, so doch in einer andern Welt zu 
erwarten steht" (S. 35). Etwas ganz anderes ist der praktische 
Atheismus (dem eben das Sittengebot nicht so heilig ist, als ob 
es ein Gott gegeben hätte): solcher „praktischer Unglaube ist 
niedriger Egoismus. Wer praktisch an keine Gottheit glaubt, ist 
ein Gottloser. Tugend ohne Religion ist ein Widerspruch* S. 26). 
In diesem Sinne „enthält der Ausspruch eines grossen Weisen : 
»selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen', 
einen wahren und tiefen und heiligen Sinn" (S. 73). In diesem 



Forberg und seine Religion des Als-Ob. 



741 



Sinne ist, Religion zu haben, Pflicht jedes Menschen, und nur 
eine solche „Religion ist ein Glaube, der Pflicht ist, ein Glaube, 
den man Jedem zumuten darf" (S. 93)- Es ist „der wesentliche 
Charakter der Religion, dass sie Pflicht äst" (S. 97): wie aber muss 
eine Religion beschaffen sein, von der gelten kann, dass, sie zu 
haben, auch wirklich Pflicht sein kann? (S. 98, 107, 111, 113, 115, 
116, 160). .Die Voraussetzung ist: die Religion soll ein Glaube 
sein, der Pflicht ist a (S. 116). 

Darauf gibt Forberg die Antwort: „Wenn der Begriff der 
Religion der Begriff einer Pflicht sein soll (woran Niemand 
zweifelt, da man jedem Menschen Religion zumutet und mit dem 
Urteil der Irreligiosität eine Beschuldigung verknüpft), — so be- 
greife ich wirklich nicht, wie man irgend eine Spekulation, 
und wäre es auch die erhabenste, in jenen Begriff aufnehmen 
könne, ohne ihn sofort zu zerstören. Und wenn dann auf der 
anderen Seite die Religion nach dem gemeinen Sprachgebrauch, 
den der Philosoph nicht ohne Not verlassen darf, ein Glaube an 
die Gottheit sein soll, so war es meines Erachtens ein höchst 
glücklicher Gedanke des Philosophen von Königsberg, für den 
Begriff des religiösen Glaubens an die Gottheit die Benennung 
eines praktischen Glaubens in Vorschlag zu bringen, und da- 
durch ebenso kurz als treffend einen Glauben zu bezeichnen, der 
keine Theorie zur Erklärung, sondern eine Maxime zur Her- 
vorbringung von etwas, mithin unmittelbar Praxis ist" (S. 94/5). 

Was versteht nun Kant genauer unter dem »praktischen 
Glauben* an Gott, was ist der Sinn seines „moralischen Gottes- 
beweises*? 

„Ich habe," sagt Forberg S. 97, „mit Aufmerksamkeit die 
verschiedenen Wendungen untersucht, die man dem sogenannten 
praktischen Glaubensgrund für das Dasein Gottes zu geben ver- 
sucht hat Allein ich habe mich vergeblich bemüht, eine darunter 
zu entdecken, in der ich den wesentlichen Charakter der Religion 
(dass sie Pflicht ist) wiedergefunden hätte . . . Der eigentliche 
Sinn des Königsberger Philosophen blieb mir gerade in diesem 
Punkte geraume Zeit unüberwindlich dunkel, und in den Schriften 
seiner zahlreichen Kommentatoren fand ich . • , noch weniger Trost," 

Aber Forberg deckt mit unübertrefflicher Klarheit das da- 
mals wie auch heute fast allgemein herrschende Miss Verständnis 
der Kantischen Lehre auf: „ich glaube bemerkt zu haben, dass 
man den Kantischen Begriff eines praktischen Glaubens häufig 



742 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen, 



missverstand, und ... die Religion doch immer nur als einen 
theoretischen Glauben zu denken fortfuhr. Denn überall erschien 
der Glaube an die Gottheit als Glaube an den Erklärungsgrund 
einer moralischen Weltordnung, mithin als Etwas, was man zur 
Befriedigung ein es blossen Bedürfnisses der Spekulation annim mt 
Denn ich habe niemals begreifen können, warum eine Spekulation 
darum im Mindesten weniger Spekulation sein soll, weil sie von 
moralischen, als darum, weil sie von physischen oder metaphy- 
sischen Prinzipien ausgeht Eine Annahme zur Erklärung von 
etwas, das ist, und eine Annahme zur Erklärung von etwas, das 
sein soll, ist eines so gut spekulative Hypothese, als das andere. 
Fordern, dass etwas geschehe, ist etwas ganz Anderes, als fordern, 
dass erklärt werde, wie es geschehen könne. Ich will die Mög- 
lichkeit des Zufälligen erklären, und nehme deswegen eine Gott- 
heit an, und dies, meint man, ist Spekulation. Ich will die 
Zweckmässigkeit der physischen Welteinrichtung erklären, und 
nehme zu diesem Behuf eine Gottheit an; und dies, meint man, 
ist auch Spekulation. Ich will die Möglichkeit einer moralischen 
Welteinrichtung erklären, und glaube zu diesem Zweck das Da- 
sein einer Gottheit, und dies, sollte ich meinen, sei nicht minder 
Spekulation . . (S. 95/6; cfr. S. 157). 

Mit unnachahmlich klaren Argumenten hat Forberg hier das 
Missverständnis aufgedeckt, an dem der Kantianismus vtdgarisy 
wie wir schon oben S. 680/1 sahen, krankt: nach diesem Vulgär- 
Kantianismus ist Kants moralischer Gottesbeweis ein theore- 
tischer Schluss aus moralischen Tatsachen, während der echte 
Kritizismus den moralischen Gottesbeweis so versteht: wer nach 
dem kategorischen Imperativ handelt, handelt so, als ob die Pflicht 
das Gebot eines Gottes wäre; er glaubt also in diesem Sinne an Gott, 
und das moralische Handeln ist in diesem Sinne ein Gottesbeweis. 
Nimmt freilich dieser Beweis statt der Form des Als-Ob die 
Form des Dass an, findet man also die „Erfüllung der Pflicht, 
ja schon die Forderung derselben* ohne die reale Existenz eines 
Gottes unmöglich, so würde „dieser Glaubensgrund wohl eher 
den Namen des unmoralischen verdienen* (S. 100—108). Daher 
macht Forberg S. U6ff. den „Vorschlag, den praktischen Glauben 
an das Dasein Gottes im Begriffe der Religion als den Begriff 
{nicht einer theoretischen Hypothese, sondern einer praktischen] 
Maxime zu denken*. Es ist dabei „nicht von Entdeckung eines 
unbekannten, sondern nur von Analyse eines gegebenen Begriffs, 



Forberg und seine Religion des Als-Ob. 



743 



des Kantischen, die Rede" (S. 118) und nach diesem handelt es 
sich bei der Religion eben nicht um »eine spekulative Theorie, 
die über die Maxime der Moralität hinzukommt, sondern bloss 
und allein, wiefern sie die Maxime der Moralität selbst ist* 
(S. 120). Wie dies gemeint sei, das kommt nach langen Vor- 
bereitungen endlich auf S. 141 f. zum Vorschein, wo jene be- 
kannte und doch so unbekannte, offenbare Geheimlehre Kants 
verkündet wird mit den Worten: das „Reich Gottes*, die Herr- 
schaft des Guten in der Welt, die moralische Weltordnung ist 
logisch möglich, aber es „könnten sich gleichwohl in der Wirk- 
lichkeit Umstünde . . , in Menge finden, die, unserer logischen 
Möglichkeit zum Trotze, denn doch die reale Unmöglichkeit be- 
wiesen. Und selbst das Äusserste zugegeben, dass sich die reale 
Unmöglichkeit eines Reiches Gottes in diesem Augenblicke er- 
weisen Hesse, was wäre nun die Folge? Etwa, dass alles Trachten 
nach dem Reiche Gottes, d. i. alle Sittlichkeit, von Stund an auf- 
hören, und Uneigennützigkeit sofort bis auf den Namen vom 
Erdboden verschwinden müsste? Und warum denn das? Ist etwa 
das Trachten unmöglich geworden, seitdem man den Erfolg 
als unmöglich erkannt hat? w Der Gegner, der Vertreter der 
gemeinen Menschennatur, wird daraufhin, wie Forberg ausführt, 
sagen: „Das nicht» Aber es ist seitdem unvernünftig geworden/ 
Aber der echte Kritizismus antwortet darauf mit Forberg: „Ohne 
Zweifel, wenn der Erfolg der Zweck des Strebens, wenn das Ziel 
der Zweck des Laufens ist. Aber wie, wenn das Streben an sich 
selbst Zweck wäre? wenn es gar kein Ziel zu erreichen gäbe, 
oder, welches für die Kämpfer Eins ist, nur ein Ziel in einer 
unendlichen Ferne? wenn nicht gegangen würde um des Zieles 
willen, sondern ein Ziel gesetzt würde um des Gehens willen, 
damit man die Richtung, nicht aber das Ende des Weges erfahre? 
wenn das Gebot der Vernunft gar nicht den Sinn hätte, zu gehen, 
damit man das Ziel (des allgemeinen Besten) erreicht, sondern 
nur so, als ob man es erreichen wollte? Man könnte dann ganz 
wohl wissen, dass ein Reich Gottes, oder ein ewiger Friede, oder 
eine Welt voller Engel Unmöglichkeiten wären und blieben, und 
man könnte dennoch ohne Unvernunft fortfahren, zu handeln, 
als ob man sie möglich machen sollte. Es wären Ideale, die 
man im Auge, aber nie in der Nähe haben sollte, unendliche 
Aufgaben, nicht um sie zu lösen, sondern ins Unendliche an 
ihnen zu lösen." 



744 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



Und in Konsequenz hiervon heisst es dann S. 146/7: „Es 
ist eine gewöhnliche Erscheinung, dass religiöse Gesinnung im 
Streite mit einem, ohne Interessen disputierenden Freigeist, oder 
auch nur mit einem, das moralische Interesse bei Seite setzenden 
Vernünftler sich Öfters Blossen gibt, und selbst dem unbefangenen 
Zuschauer als Schwäche erscheint. Daran ist sie aber jedesmal 
selbst Schuld. Sie folgt dem Hange zur religiösen Beurteilung 
des Weltlaufes über seine Grenzen. Sie hat kein Recht, zu be- 
haupten, dass ein Reich Gottes komme — und nur dies ists, 
was man in Anspruch nimmt; sie sollte sich begnügen, zu er- 
klären, dass sie, trotz alles Anscheins vom Gegenteile, denn doch 
entschlossen sei, zu handeln, als ob ein Reich Gottes bevor- 
stünde, und dass es denn doch zum Mindesten möglich sei, hier 
und da Spuren der Annäherung eines Reiches Gottes zu erblicken. 
Begnügte sie sich damit, so würde ihr Niemand Schwäche Schuld 
geben, man würde sie vielmehr ihres Mutes wegen unfehlbar 
bewundern." 

Diese drei prächtigen Als-Ob-Stellen bestätigt und befestigt 
dann Forberg S. 176/7 durch die Berufung auf die oben S. 682 
angeführte Als-Ob-Stelle aus Kant, mit dem Zusatz, es sei ihm 
„unmöglich, an der Richtigkeit seiner Interpretation zu zweifeln, 
so oft er Kantische Äusserungen findet*, wie eben die genannte; 
er hofft „dadurch den Kantischen, bei weitem nicht immer 
gehörig gefassten, Begriff [des praktischen Glaubens] in sein 
gehöriges Licht zu stellen* 1 . 

In diesen vier Als-Ob-Stellen 1 ) hat die ganze Schrift, wie 
die ganze Lehre Forbergs, ihr Zentrum, um das herum sich 
andere, ebenso bezeichnende Stellen gruppieren; so wiederholt 
sich S. 137 ff, mehrfach das mit dem Als-Ob gleichwertige als 
. . , vorstellen: „die Herrschaft des guten Prinzips . . . kann 
füglich als ein Reich Gottes vorgestellt werden*; „mithin muss 
Gott als dasjenige Prinzip, oder dasjenige Prinzip muss als Gott 
gedacht werden, welches dem Egoismus Grenzen setzen, und 
den bösen Willen der Menschen ... in einen guten umschaffen 



1) Verstärkt werden jene Stellen durch mehrfachen sonstigen Gebrauch 
des Als-Ob, so S. 91 durch das ästhetische Als-Ob beim Spielen, ,wo man sich 
gebärdet, als ob es Einem sehr Ernst sei", S. 107 das teleologische Als-Ob, 
wonach wir es „gerne sehen, wenn auch die vernunftlose Natur verfährt, als 
ob sie sich nach dem . . . Urteil der Vernunft . . . richte*, und S. 181 durch 
einen allgemeinen Wink, dass im Als-Ob der Schlüssel des ganzen Buches liege. 



Forberg und seine Religion des Als- Ob. 



745 



soll". „Jede gute Tat ist ein Beitrag zur Annäherung des Reiches 
Gottes, jede böse ein Beitrag zur Annäherung des Reiches 
Satans. Der Zustand im Reiche Gottes ist . . . Seligkeit; der 
Zustand aber im Reiche Satans , . . Verdammnis. Beide Zu- 
stände werden, als idealische, schicklich ausser die Grenzen 
der Wirklichkeit verlegt, d. h. als ausserirdisch vorgestellt, und 
zwar die Seligkeit als überirdisch, als ein Steigen in die Höhe 
gen Himmel, — die Verdammnis aber als unterirdisch, als ein 
Fallen in den Abgrund zur Hölle/ „Die Frage, ob wirklich einst 
ein Reich Gottes kommen werde, liegt, strenggenommen, gar 
nicht im Gebiete der Theologie. Ihres Amtes ist es nicht, die 
Existenz des Reiches Gottes, sondern nur die Existenz 
der Idee eines Reiches Gottes aus unserem moralischen 
Bewusstsein zu deduzieren. Sie soll und will nicht demon- 
strieren, dass ein Reich Gottes komme; sie soll nur im Gebiete 
der Spekulation einen Punkt nachweisen, auf welchem die Sitt- 
lichkeit als ein Trachten nach dem Reich Gottes erscheint . . . 
Ob das Reich Gottes denn nun am Ende wirklich komme, oder 
trotz alles Trachtens dennoch ausbleibe, diese Frage zu ent- 
scheiden, ist im Sittengesetze kein einziges Datum. Denn nur 
das Trachten fordert das Gesetz, den Erfolg verheisst es nicht, 
und das Trachten fordert es schlechthin, und ohne auf den Er- 
folg im Mindesten zu rechnen . . / Dazu S. 156: „Ich lehre, 
dass die moralische Gesinnung auf einem bestimmten Punkte der 
Spekulation unvermeidlich als ein Glaube an eine moralische 
Weltordnung, sonach auch als ein Glaube an ein Prinzip dieser 
moralischen Wettordnung erscheint . . . In der Ethikotheologie 
erscheint die moralische Gesinnung als ein Glaube an eine 
moralische Weltordnung; durch die blosse Analysis des Begriffes 
einer moralischen Gesinnung ergibt sich der Gedanke eines Prin- 
zips der Möglichkeit des Endzwecks dieser moralischen Gesinnung, 
und dieses Prinzip wird am füglichsten durch das Symbol eines 
moralischen Weltregenten vorgestellt. 11 

In diesem Sinne spricht Forberg S. 147ff. „Von dem sym- 
bolischen Geschäfte der Theologie", oder S. 132 „Von dem 
Schematismus der Religion in der Theologie 41 , d. h. davon, dass 
die Religion, wie er sie oben bestimmt hat, in der Theologie 
„schematisch konstruiert * werde: was unter Schematisierung zu ver- 
stehen sei, darüber hat uns Kant oben S. 628, 659 u, Ö. hinreichend 
belehrt. Wie dies gemeint sei, drückt Forberg S. 140 noch sehr 



746 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



gut so aus: »»Jede gute Tat ist ein Trachten nach dem Reiche 
Gottes, ein Beitrag zur Annäherung desselben, ein Streben nach 
einem Endzweck, den nur ein Gott [man beachte diese Wendung] 
realisieren kann, und wiefern sie dies ist, ist sie Religion, und 
dass sie dies sei, spricht die Theologie aus, und weiter nichts 
als dies! Es ist durchaus von keiner Stütze der Moralität, die 
keiner bedarf und keine erträgt, es ist überall von keiner Hoff- 
nung und keinem Glauben, als Zusatz zur Moralität, die Rede: 
es ist lediglich von der Moralität selbst, von einer eigentüm- 
lichen Ansicht 1 ) der Moralität, von einer Exposition derselben 
aus einem bestimmten Standpunkt 2 ) die Rede" (S. 141). — 

Die bisherigen Stellen lauten so, dass wir Forberg als radi- 
kalen Kritizisten bezeichnen müssen, für den nur das Reich der 
wechselnden Erscheinungen vorhanden ist mit dem einzig ruhen- 
den Po! des Pflichtbewusstseins. Nur dieses, d. h. die Moralität 
ist sicher, nicht aber die moralische Weltordnung. Dies geht 
schon aus dem Bisherigen hervor, wird aber vollends klar aus 
der folgenden schönen Stelle (S. 161 ff.): „Es kann demnach nicht 
einmal der Glaube an eine moralische Weltordnung, geschweige 
der an ein Prinzip dieser moralischen Ordnung, als Pflicht, mit- 
hin auch nicht als Religion vorgestellt werden, sondern Religion 
muss, wenn ihr Begriff sich nicht selbst widersprechen soll, ge- 
dacht werden als Maxime, und überall nicht als Glaube (im 
theoretischen Sinn des Wortes, wo es ein Fürwahrhalten bezeich- 
net), nicht bloss auf seinen Privatnutzen, sondern auf das all- 
gemeine Beste hinzuarbeiten, man mag übrigens (theoretisch) 
glauben oder nicht glauben, dass dieser Endzweck jemals erreicht 
werde." Wenn ein Mensch, der „eine Erwartung der Art über- 
haupt für eine Chimäre hält*, der im Gegenteil überzeugt ist, 
dass „die Welt voll Torheit, Falschheit und Bosheit" ist, der 
also im Gegenteil von dem Vorhandensein einer unmoralischen 
Weltordnung überzeugt ist, . . . „dennoch im Verhältnis mit 
Menschen keine seiner Pflichten übertritt, und durchgängig nach 
Grundsätzen verkehrt, die die höchste Rücksicht auf das Recht 

1) Man erinnert sich hier der „Zufälligen Ansicht" bei Herbart, vgl. oben 
S. 275 u. ö. 

2) Diese Stelle, zusammengenommen mit den sogleich auf der folgenden 
S. 142 erwähnten „Idealen", die durch das „Handeln, als ob" erläutert wurden 
— vgl. oben S. 737 und 743 — , leitet über zu dem „Standpunkt des Ideals 1 * 
bei F. A. Lange im folgenden Abschnitt Vgl» oben S. 650. 



Forberg und seine Religion des Als-Ob. 



747 



der Menschen und das gemeine Beste ankündigen, so ist dies 
wahre und echte religiöse Gesinnung, und sie ist es nur darum, 
weil sie die Gesinnung eines Menschen ist» der nicht 
glaubt und doch tut Also nicht das (theoretische) Glauben, 
dass ein Reich Gottes komme, ist Religion, sondern das Trachten 
darnach, dass es komme, selbst wenn man glaubt, dass es nie- 
mals kommen werde, ist einzig und allein Religion*. In 
diesem Sinn ist Religion ein praktischer Glaube an das „Reich 
Gottes*, nämlich eben das Handeln, als ob ein solches durch 
unsere Tätigkeit herbeigeführt werden könne. 

Hier haben wir die Religion des Als-Ob in ihrer schärf- 
sten Ausprägung, in ihrer reinsten Form. — 

Aber wir finden nun bei Forberg neben dieser radikalen 
Gestalt der Religion des Als-Ob auch noch eine gemässigte, 
mildere Form. Beide Formen, obwohl sie prinzipiell streng zu 
trennen sind, gehen doch bei Forberg unmerklich ineinander über. 
Jene schärfere Gestalt beruht auf positivistischer und zugleich 
pessimistischer Basis: man beschränkt sich hier auf das Feld der 
Erscheinungen, nimmt es, wie es sich darbietet, als ein Gebiet 
stets wechselnder, meist widerwärtiger Erscheinungen, aber man 
handelt, als ob in diesem Wirrwarr eine moralische Weltordnung 
herrschte und als ob ein Gott über die zur Erhaltung dieser 
moralischen Weltordnung von ihm gegebenen Gebote der Sitt- 
lichkeit wachte. 

Anders bei der milderen Form, die auf agnostizistischer Basis 
beruht Hier stellt man dem Reich des Sichtbaren das Gebiet 
des -Unerkennbaren gegenüber, in welchem ja immerhin, trotz 
der entgegengesetzten Erfahrungen im Phänomenalen, ein mora- 
lisches Weltgesetz herrschen mag, das wir uns symbolisch als 
Gottheit vorstellen. Den Übergang zu dieser milderen Form der 
Religion des Als-Ob macht Forberg öfters, besonders deutlich 
aber S. 149ff. Wir kennen, heisst es da, das Prinzip des Welt- 
laufs nicht, und sprechen daher von einem unbekannten Gott 
„Da aber mit einem unbekannten Gott sich Niemand begnügen 
mag, so bleibt nichts übrig, als ein Schema zu entwerfen, um 
sich damit (sei es nun provisorisch, nach dem naturalistischen, 
oder definitiv, nach dem supranaturalistischen Prinzip) in Erman- 
gelung näherer Kenntnis zu behelfen. 1 ) Dieses Schema kann 



i) Religiöse Fiktionen sind, wie alle Fiktionen, eben . Hilfsvorstellungen ' . 



748 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



man sich denn nun entwerfen, wie man will, wenn man es nur 
einesteils so entwirft, dass es möglich ist, dabei an das Prinzip 
einer moralischen Richtung des Weltlaufs zu denken, andernteils 
eben nicht vergisst, dass es nicht etwa ein unmittelbares Schema 
sei, wodurch man, wie durch ein Bild, das Original wenigstens 
zum Teil kennen lernt, sondern ein mittelbares Schema, oder ein 
Symbol, wodurch man das Unbekannte auch nicht dem kleinsten 
Teile nach kennen lernt; 41 es handle sich nur um »eine Analogie 
des Verhältnisses 1 '. — 

Der „moralische Weltlauf - ist für Forberg ja aber streng- 
genommen nur ein erdichtetes Ideal; eine Fiktion. Nimmt mal 
für diesen erdichteten moralischen Weltlauf nun noch ein „Prin- 
zip" an, so entsteht eine Fiktion zweiter Ordnung. Bei Forberg 
selbst tritt dieser Unterschied, nicht scharf genug hervor; denn er 
fährt S. 150 einfach fort (vgl. auch S. 164): „Man will das unbe- 
kannte Prinzip des moralischen Weltlaufs symbolisch darstellen; 
das Symbol tnuss also an ein Prinzip eines moralischen Erfolges 
wirklich denken lassen*; dazu eignen sich weder leblose Dinge, 
noch Tiere, sondern einzig und allein der Mensch: „der Mensch 
ist das einzige uns bekannte Prinzip moralischer Erfolge auf 
Erden. Nach ihm allein werde also das Symbol der Gottheit 
. . . gezeichnet! Man entwerfe sich sein Symbol der Gottheit 
ohne die geringste Bedenklichkeit so menschlich, als man will . . . 
Man lasse sich ja nicht irre machen von denen, die unseren Be- 
griff zu roh und kindisch finden, und sich klüger dünken, und 
uns einen reinen und geläuterteren dafür zu geben versprechen, 
in der Tat aber an die Stelle eines verständlichen Gedankens ein 
leeres Wort setzen, bei dem man nicht weiss, ob man etwas oder 
nichts dabei denkt. Man scheue den Namen des Anthro- 
pomorphismus nicht* 

Diese treffende Apologie des Anthropomorphismus, die ja 
echt kantisch ist, zeigt, welch grosse Differenz zwischen der 
Aufklärungstheologie und der kritischen Religionsphilosophie be- 
steht. Die Aufklärung wollte eben geläuterte Begriffe von der 
Gottheit geben, und sie gab diese für wirkliche Erkenntnisse 
aus; darin eben besteht ja der Rationalismus, nenne er sich nun 
nach Leibniz oder nach Locke. Ganz anders der Kritizismus; für 
den gemässigten Kritizismus ist alle Erkenntnis des Übersinn- 
lichen vollständig eingebildet, für den radikalen Kritizismus ist das 
Obersinnliche selbst blosse Einbildung. Beide Richtungen des 



Forberg und seine Religion des Als-Ob. 



749 



Kritizismus aber lassen die alten, traditionellen Vorstellungen, die 
man sich vom Übersinnlichen macht, bestehen, aber nicht mehr 
als Dogmen, sondern als Fiktionen. So führt der Radikalismus 
der kritischen Philosophie geradezu zu einer Konservierung der 
alten Vorstellungen, allerdings unter ganz anderer Flagge. 

In diesem Sinne tritt auch Forberg für die alten, anthro- 
pomorphistischen Vorstellungen ein, besonders S. 154 ff.: „ich 
finde keinen Anstand zu erklären, da ich sehe, dass man auf 
diese Erklärung ein besonderes Gewicht legt, dass die Gottheit 
allerdings als Substanz gedacht werden müsse. Ich kenne über- 
all keinen anderen Gott, als einen substantiellen. Ich weiss über- 
all keinen anderen Begriff von Gott, als den eines allmächtigen 
Weisen. Ich wusste nicht, welcher andere Begriff sich zum Sym- 
bol der Gottheit . . . besser oder auch nur ebensogut schickte.* 
Selbst der Atheist muss das anerkennen: „der Atheist müsste 
beweisen, dass er etwas anderes kenne, was sich zum Prinzip 
eines moralischen Erfolges [einer moralischen Weltordnung] besser 
schicke als eine Intelligenz: was er sicher nicht kann, und nie- 
mals können wird.* Jene Symbole (nicht Bilder, d. h. Abbilder) 
des Unerkennbaren sind „als solche unstreitig zulässig, dergestalt, 
dass eine Theologie, die auf keine andere, als symbolische Er- 
kenntnis der Gottheit Anspruch macht, allen möglichen Einwürfen 
kühnlich Trotz bieten, und sich ihrer Unwiderlegbarkeit auf ewige 
Zeiten versichert halten kann« (S. 169), Und in diesem Sinne 
heisst es dann weiter: »alle Reformatoren der Theologie, die von 
Zeit zu Zeit erschienen, hatten mit unschicklichen Symbolen zu 
kämpfen, die sie von der Gottheit fanden . . . , nur setzten sie 
immer an die Stelle des alten Symbols ein neues, ein besseres, 
freilich aber denn doch nur ein Symbol, was sie als Theologen 
unstreitig durften und mussten, hätte man nur das Symbol immer 
für ein Symbol . . . genommen**. Das beste Symbol der Gott- 
heit ist „die Vorstellung eines allmächtigen Weisen 4 *, und „bei 
diesem Symbol . . . soll und wird es bleiben. Denn es ist voll- 
kommen hinreichend, um die Idee des Prinzips einer moralischen 
Weltordnung daran zu knüpfen . . . , über das Symbol ist nicht 
zu klagen; nur dass man das Symbol zu keinem Bilde mache, 
darüber ist zu wachen . . , , der Anthropomorphismus ist 
der Probierstein aller Theologie, und aus der Art und Weise, 
wie sich ein Theolog gegen ihn benimmt, wie er den gröberen 
Anthropomorphismus der Griechen und Römer im Vergleiche mit 



750 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



dem feineren der Juden und Christen beurteilt, . . . daraus kann 
man sicher schliessen, ob er mit seinen Prinzipien im Reinen sei 
oder nicht." 

* * 
* 

Wir haben nun die Religion des Als- Ob bei Forberg 
kennen gelernt, und zwar in ihren beiden Formen, in der ge- 
mässigten, wie zuletzt, und in der radikalen, wie zuerst. Diese 
beiden Formen waren auch schon in dem ursprünglichen, ange- 
schuldigten Aufsatz nebeneinander vorhanden, und gerade darin 
zeigte sich Forberg als Fortsetzer Kants, denn auch bei diesem 
stehen, wie wir sahen, beide Formen nebeneinander, resp. gehen 
beide ineinander über. 1 ) 

Zur Verdeutlichung des Bisherigen dient es nun sehr, wenn 
wir Fichtes Stellungnahme zu Forbergs Standpunkt ins Auge 
fassen. Fichte selbst hat zu dem inkriminierten Aufsatz von For- 
berg als Einleitung jenen bekannten Artikel geschrieben, welcher 
dem Forbergschen Aufsatz unmittelbar vorangedruckt ist: „Über 
den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung*, 
Fichte lobt den Aufsatz des „trefflichen, philosophischen Schrift- 
stellersY »da dieser Aufsatz in vielen Rücksichten mit seiner 
eigenen Überzeugung übereinkomme* ; „in manchen anderen 
Rücksichten" sei der Forbergsche Aufsatz seiner Überzeugung 
nicht sowohl entgegen, als dass er nur dieselbe nicht erreiche. 

Allein diese Beurteilung schliesst eine gewaltige Selbst- 
täuschung ein. In Wirklichkeit stehen sich vielmehr Fichtes und 
Forbergs Anschauungen diametral gegenüber. Sowohl die radikale 

1) Es ist psychologisch leicht verständlich, dass bei Kant (wie wohl auch 
bei Forberg) die mildere Form der Religion des Als-Ob die ursprüngliche ge- 
wesen ist Wie historisch noch im Einzelnen nachgewiesen werden mfisste (was 
darüber in der auf S. 674 Anm. erwähnten Abhandlung gesagt ist, ist ungenügend 
und unzutreffend, vgl, S. 736 Anm.) begann Kant natürlich mit der (ja schon 
einzelnen Kirchenvätern, z. B. Origines und vielen Mysükern geläufigen) Auf- 
fassung, dass die traditionelle Darstellung Gottes, der Unsterblichkeit u« s. w. 
eine symbolische sei, d. h. ein erlaubter, ja notwendiger Anthropomorphismus, 
der die unbekannten, ewig unerkennbaren Tiefen der Gottheit in Symbolen dar- 
stelle. Erst später kam Kant dahinter, dass auch schon der Begriff der Gott- 
heit selbst, die Position eines Absoluten überhaupt demselben künstlerisch- 
dichtenden Triebe der menschlichen Vernunft entspringe und also fiktiver Natur 
sei. Diesen radikalen Fikttonalismus hat aber Kant gleichzeitig infolge 
seiner antithetischen Geistesart fast immer wieder mit metaphysischen 
Hypothesen verquickt, so daß der radikale Fik'tionalismus nur selten ganz 
eindeutig und entschieden zum Vorschein kommt. 



Forberg und seine Religion des Als- Ob. 



751 



als die gemässigte Form der Forbergschen Religion des Als-Ob 
sind gerade soweit von Fichtes Anschauungen entfernt, als diese 
selbst von der Kantischen. 

Zunächst die radikale Form der Forbergschen Reli- 
gion des Als-Ob. Hier liegt der Unterschied auf der Hand. 
Hier leugnet Forberg unzweideutig das Vorhandensein aller mora- 
lischen Weltordnung; denn gerade darauf beruht die hohe Würde, 
die Erhabenheit dieser Form der Religion des Als-Ob, dass der 
Gute gut handelt, obgleich er theoretisch nicht an eine mora- 
lische Weltordnung glaubt; er handelt aber doch praktisch so, 
als ob er trotzdem an eine solche glauben würde. Diese Form 
ist, wie wir sagten, auf positivistischer und zugleich pessimistischer 
Grundlage aufgebaut. Aber Fichte ist umgekehrt davon über- 
zeugt, dass eine solche moralische Weltordnung, eine göttliche 
Weitregierung wirklich vorhanden ist: seine Überzeugung hiervon 
ist Spekulation, beruht auf Spekulation und führt auf Spekulation« 
Fichte begnügt sich nicht mit dem praktischen Glauben an das 
Reich Gottes, den Forberg fordert, Fichtes Glauben an dies Reich 
ist, wenn auch natürlich auf praktischem Grund erwachsen, doch 
selbst theoretisch. Für Forberg ist die moralische Weltordnung 
nur eine Fiktion, für Fichte ein philosophisches Axiom, ein Dogma. 
Was für Forberg nur ein Als-Ob ist, ist für Fichte ein Dass, ein 
Weil. Es handelt sich also um zwei ganz verschiedene Welt- 
anschauungen, um zwei ganz verschiedene Menschentypen. Der 
Fichtesche Mensch sagt: Ich kann nicht sittlich handeln, wenn 
es keine moralische Weltordnung gibt, ich kann nur sittlich 
handeln, weil es eine solche gibt Der Forbergsche Mensch 
aber sagt: Ich handle sittlich, auch wenn es keine moralische 
Weltordnung gibt, ja obgleich es keine solche gibt, aber ich handle 
so, als ob es eine solche gäbe. Für Fichte ist dieser Forberg- 
sche, d. h. echt Kantische Standpunkt unerreichbar und darum 
unverständlich. Fichte muss deshalb konsequenterweise den For- 
bergschen Standpunkt für absolute Irreligiosität erklären, weil dem 
Letzteren der theoretische Glaube an die Existenz der moralischen 
Weltordnung fehlt. 

Sodann die gemässigte Form der Forbergschen Reli- 
gion des Als-Ob. Diese musste für Fichte vollends unannehm- 
bar sein, ja ihm gänzlich verwerflich erscheinen. Denn Forberg 
gibt ja da eine Apologie des Anthropomorphismus, den Fichte in 
jeder Form verwirft. Forberg findet von seinem Standpunkte aus 



752 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



daher auch konsequenterweise die Anwendung der Substanzkate- 
gorie und des Persönlichkeitsbegriffes auf Gott harmlos, in der 
ja Fichte das Grundübel aller bisherigen Religion und Theologie 
findet. 1 ) Jeder Anthropomorphismus ist für Fichte „Götzendienst" ; 
wer sich Gott vermenschlicht, der macht eben aus Gott einen 
„Götzen*. Umgekehrt findet Forberg gerade im Anthropomor- 
phismus die einzig mögliche Gestaltung einer praktischen Reli- 
gion, einer annehmbaren Theologie. Ganz anders Fichte: Eben 
weil bei diesem der Glaube an eine moralische Weltordnung in 
letzter Linie doch eine theoretische Spekulation ist, kann er es 
nicht dulden, dass dieses philosophische Dogma nun, wie er 
meint, verunreinigt werde durch anthropomorphistische, also poe- 
tische Vorstellungsweisen. Umgekehrt Forberg: Weil es für ihn 
in letzter Linie keine moralische Weltordnung gibt, weil sie für 
ihn nicht ein notwendiges Dogma ist, sondern nur eine zufällige 
Betrachtungsweise, also nur eine zweckmässige, wohltätige Fik- 
tion, so kann es wohl geduldet werden, dass diese Fiktion in 
geeigneten Symbolen sinnlich dargestellt und veranschaulicht 
werde. — 

Dass Fichte bei Abfassung seines eigenen Aufsatzes die 
Kluft nicht sah, die ihn von Forberg trennt, lag an der ganzen 
damaligen philosophischen Lage ebensosehr, als an Fichtes stür- 
mischer Individualität*) Der Klarere und Konsequentere war 
Forberg. Aber geschichtsteleologisch war es doch wohl besser, 



1) Der sog. .Atheismusstreit* hat sich auch historisch nachher ganz um 
die Frage gedreht, ob mit Fichte die moralische Weltordnung pantheistisch 
vorgestellt werden dürfe, oder ob ein persönlicher moralischer Weltordner an- 
zunehmen sei? Die Forbergsche Position verstand damals von den Streiten* 
den niemand, Forbergs Name und Meinung wurden aus dem Streit selbst fast 
ganz ausgeschaltet, weil man irrtümlich seinen Standpunkt mit dem Fichtes 
identifizierte und den Streit auf diesen, als den weit berühmteren, konzentrierte. 

2) Erst ein volles Jahr nach dem Erscheinen der beiden Aufsätze, und 
nachdem der »Atheismusstreit* ausgebrochen war, hat Fichte die tiefe Kluft ex* 
kannt, die ihn von Forberg trennt. Hierfür haben wir ein merkwürdiges Zeugnis 
in einem Briefe Fichtes an Remhold, der in »K. L, Reinholds Leben' (Jena 
1825, S.200) abgedruckt ist: .dass in dem Forbergschen Aufsatze der Kantische 
wahre skeptische Atheismus durchsehe, muss allerdings dem Kenner gestanden 
werden . , . ; dass das Kanüsche ,als ob' ganz gegen mein System ist, ist wahr 
und klar*. Diese Brief stelle — der Brief ist merkwürdigerweise an Kants Ge- 
burtstag, am 22. April 1799 geschrieben — ist die einzige, bis jetzt bekannt 
gewordene Erwähnung der Kantischea Als-Ob-Lehre in Jener Zeit, die, ausser 
bei Forberg, sonst nirgends Verständnis gefunden hat bis auf den heutigen Tag. 



F. A. Lange und sein „Standpunkt des Ideals". 



753 



dass nicht an Forberg, sondern an Fichte die Weiterentwicklung 
der deutschen Philosophie anknüpfte, welche erst einmal die 
verschiedenen Möglichkeiten zur Ausgestaltung bringen musste, 
welche in dem weit genialeren Fichte angelegt waren. Aber 
„ Genieauf Schwünge", wie Kant sagt, führen oft in die Irre, und 
so mag es ebenso geschichtsteleologisch gerechtfertigt sein, dass 
wir heute, nach den genialen Verirrungen der deutschen Speku- 
lation, zu der scharfen und klaren Kant-Forbergschen Religion 
des Als-Ob zurückkehren, welche bei aller klaren Schärfe doch 
nicht der Wärme und der Poesie entbehrt, ja in ihrer radikalen 
Form das Erhabenste ist, wozu sich überhaupt der Menschen- 
geist oder vielmehr das Menschenherz aufschwingen kann. 



C. 

Friedrich Albert Langes „Standpunkt des Ideals'» 

Fast 70 Jahre hat es gedauert, bis die Kant-Forbergsche 
Religion des Als-Ob wieder auftauchte, wenn auch nicht unter 
diesem Namen — bei F. A. Lange. In den sieben Jahrzehnten 
Zwischenzeit war die Philosophie so sehr von metaphysischen 
Systemen, und von Kontroversen ' zwischen diesen erfüllt, dass 
der laute Lärm des Marktes philosophischer Dogmen die feinere 
Stimme der kritischen Als-Ob-Lehre völlig erstickte. Und doch 
nicht völlig. Bei zwei Männern, bei zwei Theologen fand sie 
ein Echo, freilich ein solches, dass ihr ursprünglicher Klang kaum 
mehr zu erkennen war — das waren Schleiermacher und De 
Wette. Schleiermacher, den wir schon oben S. 40 u. ö. als einen 
Vertreter der Als-Ob-Betrachtung in Anspruch genommen haben, 
ist wahrscheinlich mit den Aufsätzen von Fichte und Forberg 
genau bekannt gewesen, fiel doch der „Atheismusstreit" in die 
Zeit seiner Entwicklung. Sein eigener Standpunkt ist eine Art 
Verbindung des Fichteschen Pantheismus mit der Forbergschen 
Als-Ob-Lehre in ihrer zweiten, abgeschwächten Form. Fichte, 
ursprünglich von Spinoza beeinflusst, setzte, nachdem er durch 
die Kantische Kritik hindurchgegangen war, an Stelle der Spino- 
zistischen Substanz das Ich, nicht das einzelne, sondern das Ich 
überhaupt, das ihm schliesslich mit Gott zusammenfiel; das Einzel- 
Ich ist von dem absoluten Ich, das für Fichte mit der Gottheit 

48 



754 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



identisch ist, abhängig. Das Gefühl dieser Abhängigkeit vom 
Absoluten ist dann für Schleiermacher das fromme Gefühl. Das 
Absolute, von dein sich das Einzel-Ich abhängig weiss, ist aber 
unerkennbar. Jedoch das fromme Bewusstsein hat nun das Be- 
dürfnis, sich dies Absolute symbolisch vorzustellen nach Analogie 
menschlicher Verhältnisse. Die Idee eines Systems zweckmässiger 
symbolischer Vorstellungen, wie sie Forberg als leitendes Grund- 
prinzip jeder Theologie aufstellte, ist von Schleiermacher realisiert 
worden. Oft wiederholt sich in seiner Dogmatik die Formel des 
„Vorstellen als* 1 . Schon bei Schleiermacher selbst, noch mehr 
aber bei seinen Nachfolgern sind, nach dem Gesetz der Ideen- 
verschiebung (vgl. oben S. 219 ff.), diese religiösen Fiktionen in 
Hypothesen resp. Dogmen übergegangen. Eine Weiterbildung der 
Schleiermacherschen Methode findet sich sodann bei Biedermann 
und Lipsius. Die Weiterverfolgung dieser historischen Zusammen- 
hänge, die Ausbildung der Überzeugung von der Notwendigkeit 
der religiösen Bildersprache, liegt ausserhalb des Rahmens unserer 
Arbeit und muss Anderen überlassen bleiben. Ebensowenig kann 
hier auf De Wette näher eingegangen werden: er war von Fries 
beeinflusst, dessen Lehre von der Ahnung (vgl. oben S. 710) 
auf manche Theologen eingewirkt hat. Auch De Wette vertritt 
den Standpunkt, dass die Ahnung des unbekannten Absoluten 
sich in bewussten Symbolen aussprechen müsse. Die Einsicht, 
dass die Religion, speziell die religiöse Praxis sich mit Bewusst- 
sein notwendig einer Bildersprache bedienen müsse, ist uralt, wie 
auch Forberg mit Recht bemerkt; die Einsicht, dass die detail- 
lierteren Vorstellungen der religiösen Objekte unentbehrliche Fik- 
tionen seien, ist, wie in allen Religionen, so auch im Christentum 
von Anfang an vorhanden gewesen; eine Geschichte der wechseln- 
den Phasen dieser Einsicht fehlt noch. Wo überhaupt Theologie 
philosophisch fundiert wurde, konnte diese Einsicht nicht fehlen. 
Schleiermacher und De Wette bilden also hierin nur besondere 
Phasen einer kontinuierlichen Entwicklung, welche, wie sie über 
diese beiden Männer in alte Zeiten zurückragt, so auch über sie 
hinaus vorwärts in die Gegenwart hineinreicht. Immerhin war aber 
bei diesen beiden Theologen, unter dem Einfluss der Kantischen 
Religionsphilosophie, diese Methode besonders klar und stark ent- 
wickelt. 

Wohl nicht ausser Zusammenhang mit diesen Männern, 
aber doch wieder ganz selbständig, steht nun F. A. Lange. Er 



F. A. Lange und sein „Standpunkt des Ideals* 



755 



emanzipierte sich von dem theologischen Einfluss, und so kommt 
bei ihm das philosophische Prinzip in seiner ursprünglichen Rein- 
heit zur Geltung. Nur so allein konnte es kommen, dass bei ihm 
nicht mehr bloss die abgeschwächte, harmlose Form der Kant- 
Forbergschen Religion des Ais-Ob wieder zum Vorschein kam, 
sondern die radikale, konsequentere, ungeschwächte. Dies geschah 
in seinem bekannten Werke: „Geschichte des Materialismus und 
Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart", schon in der 1. Aufl. 
(1865), mehr noch in der 2. Aufl. (1873—1875), nach deren Voll- 
endung der bedeutende and edle Denker starb. Seitdem hat das 
Buch noch viele Auflagen erlebt, denen neuerdings zwei populäre 
Ausgaben (bei Reclam und Kröner) gefolgt sind. Trotz dieser 
weiten Verbreitung hat F. A. Langes „Standpunkt des Ideals 41 , der 
in weiten Kreisen Verständnis und Nachfolger fand, gerade in den 
Kreisen der philosophischen Fachleute bisher kein Verständnis 
gefunden. Man betrachtete ihn als eine individuelle Kuriosität, 
und da man den verwandten Standpunkt von Kant selbst nicht 
richtig beurteilte und den von Forberg ganz vergessen hatte, so 
vermochte man auch Langes „Standpunkt des Ideals" nicht als 
ein notwendiges Glied einer grossen Entwicklung zu verstehen. 1 ) 
Was versteht nun F. A. Lange unter dem „Standpunkt des 
Ideals* 4 ? Zusammenfassend und sehr klar äussert er sich im Vor- 
wort zum II. Bande (in der 2, Auflage, die im Folgenden stets 
zitiert wird) über „die Erhebung der Religion in das Gebiet des 
Ideals", durch welche dem alten Streit zwischen Naturwissenschaft 
und Theologie ein „friedliches Ende" bereitet werden soll. Die 
„überwiegende Wahrscheinlichkeit 44 spricht dagegen, „dass unsere 
Phantasiegebilde [die religiösen Vorstellungen über Gott, Unsterb- 
lichkeit u. s. w,] Wirklichkeit haben möchten* , F. A. Lange erklärt 
sich ausdrücklich gegen die agnostizistische Hinausschiebung 
der religiösen Vorstellungen in das Gebiet des Unerkennbaren, 
gegen Spencer, Tyndall und selbst gegen J. St MiH. „Im Gebiet 
der Wirklichkeit fordert die Sittlichkeit des Denkens von uns, dass 



1) Vgl. z, ß. M. Heinzes Urteil über Lange in der Viert t. wiss. Philos. 
I, 173ff. (1877), femer die Ausführungen von E. Laas in: Idealismus und Posi- 
tivismus IH, 628 ff. (1884); dasselbe gilt auch von der Schrift von J. M. Bösen, 
F. A. Lange und sein „Standpunkt des Ideais" (Frauenfeld 1890). Was E. v- 
Hartmann und seine Schule in dieser Hinsicht sagten, ist — wie von dogma- 
tischer Metaphysik nicht anders zu erwarten ist — natürlich dem Langeschen 
Kritizismus vollends nicht gerecht geworden. 

48* 



756 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen, 



wir uns nicht an vage Möglichkeiten halten, sondern stets dem 
Wahrscheinlicheren den Vorzug geben", d. h. in diesem Fall der 
Annahme, dass es keine „Zukunft nach dem Tode" und über- 
haupt auch kein göttliches „Weltregiment" gibt, also überall 
keine moralische Weltordnung. Aber „wir sollen uns im Geiste 
eine schöne und vollkommenere Welt schaffen* und dadurch „das 
Leben idealisieren". Ist einmal „dies Prinzip gegeben, so wird 
man wohl auch den Mythus — als Mythus — müssen gelten 
lassen" („selbst der Ungläubige* könne „das Idealbild Christi* 
in diesem Sinne „sich aneignen"), „Wichtiger aber ist, dass wir 
uns zu der Erkenntnis erheben, dass es dieselbe Notwendigkeit, 
dieselbe . . , Wurzel unseres Menschenwesens ist, welche uns 
durch die Sinne das Weltbild der Wirklichkeit gibt, und welche 
uns dazu führt, in der höchsten Funktion dichtender und schaffen- 
der Synthesis eine Welt des Ideals zu erzeugen, in die wir aus 
den Schranken der Sinne flüchten können, und in der wir die 
wahre Heimat unseres Geistes wiederfinden." 

Die dichtende und schaffende Synthesis weist nun 
F. A. Lange zunächst, in freiem Anschluss an Kants Erkenntnis- 
theorie, als dasjenige nach, was unsere gewöhnliche Weltvor- 
stellung erzeugt: aus dem Empfindungsmaterial macht erst unsere 
synthetische Funktion eine „kausal" geordnete Welt von „Dingen". 
„Kausalität" und „Substanz" sind nur kategoriale Funktionen der 
Psyche: „wenn Kant die Produkte dieser synthetischen Funktion 
„Erscheinungen* nennt und diesen die »Dinge an sich" gegen- 
überstellt, so ist er darin selbst dem täuschenden Trug verfallen, 
eine kategoriale Funktion — das Ding — zu verselbständigen, 
zu hypostasieren. x ) F. A. Lange betont oft und energisch (ohne 
diesen Ausdruck zu gebrauchen) die rein fiktive Bedeutung des 
Unterschiedes von „Erscheinungen" und „Dingen an sich", so 
besonders II, 28, 49, 50, 57, 63, 126, 137: das „Ding an sich" 
ist „ein blosses Gedankending", „die konsequente Anwendung 
unserer Denkgesetze führt uns auf den Begriff eines völlig pro- 
blematischen Etwas", das ist jedoch „ein blosser Grenzbegriff"; 
„wenn man aber fragt, wo denn nun aber die Dinge bleiben, so 
lautet die Antwort: in den Erscheinungen. Je mehr sich das 
Ding an sich zu einer blossen Vorstellung verflüchtigt, desto mehr 



1) Kant hat dies später selbst gesehen, wie wir oben S. 722t gefunden 

haben. 



F. A. Lange und sein „Standpunkt des Ideals". 



757 



gewinnt die Welt der Erscheinungen an Realität* 1 . „Wir mögen 
uns dieser Anschauung, [dass Erscheinungen und Dinge an sich 
zu unterscheiden sind], sofern sie eine notwendige Folge unseres 
Verstandesgebrauchs ist, nur ruhig hingeben, obgleich derselbe 
Verstand uns bei einer weiteren Untersuchung bekennen muss, 
dass er diesen Gegensatz selbst geschaffen" — m. a. W.: wir 
bedienen uns dieses Begriffsapparates als einer nützlichen Fik- 
tion. „Die Naturanlage unserer Vernunft führt mit Notwendigkeit 
dazu, neben der Welt, die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, 
noch eine eingebildete Welt anzunehmen. Diese eingebildete 
Welt ist, sofern wir uns von ihr irgendwelche bestimmte Vor- 
stellung machen, eine Welt des Scheines, ein Hirngespinst 41 , und 
damit verfällt eben auch die „intelligible Welt** derselben Ver- 
urteilung (S. 57). 

Die Auffassung der intelligibeln Welt, welche sich bei dem 
offiziellen Kant und bei seinen traditionellen Auslegern findet, 
erklärt R A. Lange für „ bedenklich „irrig", „fatal" (S. 59— 63): 
„Kant wollte nicht einsehen, was schon Plato nicht einsehen 
wollte, dass ,die intelligible Weif eine Welt der Dichtung ist 
und dass gerade darauf ihr Wert und ihre Würde beruht Denn 
Dichtung in dem hohen und umfassenden Sinne, in welchem sie 
hier zu nehmen ist, kann nicht als ein Spiel talentvoller Willkür 
zur Unterhaltung mit leeren Empfindungen betrachtet werden, 
sondern sie ist eine notwendige und aus den innersten Lebens- 
wurzeln der Gattung hervorbrechende Geburt des Geistes, der 
Quell alles Hohen und Heiligen, und ein vollgültiges Gegen- 
gewicht gegen den Pessimismus, der aus dem einseitigen Weilen 
in der Wirklichkeit entspringt. Es fehlte Kant nicht an Sinn für 
diese Auffassung der intelligibeln Welt, aber . . . Bildungsgang 
und Zeit . • . verhinderten ihn hier, zum vollen Durchbruch zu 
kommen/ 

Dieses Urteil über Kant ist aber, wie unsere Darlegungen 
(S. 619f£, 625 ff. u. ö.) gezeigt haben, falsch: F. A. Lange blieb in 
den Kreis der traditionellen Kantauffassung gebannt und hat die 
Bedeutung der Kantischen Als-Ob-Lehre nicht erkannt. Für uns ist 
dies jedoch kein Verlust, sondern im Gegenteil ein Gewinn: denn 
eben weil F. A. Lange seinen, mit der Kantischen (ihm aber un- 
bekannten) Als - Ob -Betrachtung wesentlich identischen „Stand- 
punkt des Ideals" selbständig fand — den er seiner Meinung 
nach als Erster einnahm — eben darum ist F. A. Lange ein 



T 



758 Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 

unabhängiger Zeuge dafür, dass diesen Standpunkt ein Jeder ein- 
nehmen muss, der die kritischen Grundgedanken konsequent zu 
Ende denkt. 

Lange sieht nicht direkt in Kant, sondern in Schiller 
seinen Vorgänger, der „mit divinatorischer Geisteskraft das Innerste 
der Kantischen Lehren erfasst\ „Schüler hat mit Recht die in- 
telligible Welt anschaulich gemacht, indem er sie als Dichter 
behandelte, und damit ist er in die Fusstapfen Piatos getreten, der 
im Widerspruche mit seiner eigenen Dialektik das Höchste schuf, 
wenn er im Mythus 1 ) das Übersinnliche sinnlich werden Hess. 
Schiller, der Dichter der Freiheit, durfte es wagen, die Freiheit 
offen in das ,Reich der Träume* und in das »Reich der Schatten* 
zu versetzen, denn unter seiner Hand erhüben sich die Träume 
und Schatten zum Ideal Das Schwankende wurde zum sichern 
Pol, das Zerfliessende zur göttlichen Gestalt, das Spiel der Will- 
kür zum ewigen Gesetz, wenn er das Ideal dem Leben gegen- 
überstellte. Was Religion und Moral nur immer Gutes hegen, 
kann nicht reiner und gewaltiger dargestellt werden, als in jenem 
unsterblichen Hymnus, der mit der Himmelfahrt des gequälten 
Göttersohnes schliesst Hier verkörpert sich die Flucht aus den 
Schranken der Sinne in die intelligible Welt. Wir folgen dem 
Gott, der ,flammend sich vom Menschen scheidet*, und nun 
wechseln Traum und Wahrheit ihre Rolle — des Lebens schweres 
Traumbild sinkt und sinkt und sinkt" . . . „Nur was mit dem 
Massstabe dichterischer Reinheit und Grösse gemessen Bestand 
hat, darf beanspruchen, . . . als Unterweisung im Ideal zu 
dienen** (S. 621). 

Dies der Standpunkt des Ideals, der dann nochmals an 
zwei späteren Stellen weiter ausgeführt wird, S. 484—503, sowie 
besonders in dem eigens so betitelten Abschnitt S. 539—562. 
Überall tritt da F. A. Lange der Auffassung entgegen, „dass es 
mit der Religion überhaupt vorbei sei, seit die Naturwissenschaft 



1) Über die Platonischen Mythen» vgL oben S. 234. Weiteres bei Lange 
. j t 58—61, 135 über die mythisch-symbolischen Dichtungen Piatons; vgl. S. 94 
über den „subjektiven Wert" derartiger Erdichtungen. Man vergleiche damit 
die Stellen über die Göttermythen bei Epicur und Lucrez 76, 102, 110, 149, 
(cfr. II, 554), sowie über die Unsterblichkeitslehre des Pomponatius 185, über 
Tolands Religionsbegriff 292. Über Schiller und seine Sublimierung des „Mythus 
zum „Ideal" vgl. Lange I» 61, II, 545—548; „der Mythus verleiht dem Unaus- 
sprechlichen Worte* (546). 



F. A. Lange und sein „Standpunkt des Ideals*. 



759 



das Dogma zerstört" habe: „die Religion sei zu erhalten, aber 
auch nur zu erhalten* durch ihre „Erhebung in das Gebiet des 
Ideals": die Religion sei, zusammen mit der Metaphysik, „mit 
der Kunst zusammenzustellen - (S. 494). Es ist „ein Wider- 
spruch in der Natur unserer Organisation, welche uns die Dinge 
ganz, vollendet, gerundet nur auf dem Wege der Dichtung 
gibt, stückweise, annähernd, aber relativ genau auf dem Wege 
der Erkenntnis 41 . 1 ) Freilich sind alle Dichtungen und Offen- 
barungen einfach falsch, sobald man sie nach ihrem materiellen 
Inhalt mit dem Massstabe der exakten Erkenntnis prüft, allein 
jenes Absolute hat nur Wert als Bild, als Symbol . . . und 
diese Irrtümer oder absichtlichen Abweichungen von der 
Wirklichkeit tun nur Schaden, wenn man sie als materielle Er- 
kenntnisse gelten lässt" — sie sind also in unserer Sprache 
nützliche Fiktionen. Wenn „der volle männliche Sinn für 
Wirklichkeit und probehaltige Richtigkeit ausgebildet ist, schwindet 
die Glaubwürdigkeit jener Geschichten, weil ein anderer Mass- 
stab des Fürwahrhaltens angelegt wird; der Sinn für die 
Poesie aber bleibt dem ächten Menschenkinde durch alle Stufen 
des Lebens getreu/ In der Poesie wird, wie es S. 540 heisst, 
„der Boden der Wirklichkeit mit Bewusstsein aufgegeben" — 
also handelt es sich eben auch in den metaphysisch-religiösen 
Dichtungen um — bewusste Erdichtungen. 

Also „ein anderer Massstab des Fürwahrhaltens tt ist not- 
wendig für die religiösen Vorstellungen, als für die wissenschaft- 
lichen, und damit auch ein anderer Wahrheitsbegriff. „Die 
Alten sahen den Dichter als einen begeisterten Seher an, der von 
seinem Gegenstand ganz erfüllt, ganz hingerissen, der gemeinen 
Sterblichkeit im Geiste entrückt war. Sollte nicht dasselbe Er- 
griffensein von der Idee auch in der Religion sein Recht haben? 
Und wenn es denn Gemüter gibt, die so tief in diesen Erregungen 
leben, dass ihnen die gemeine Wirklichkeit der Dinge davor 
zurücktritt, wie wollen diese die Lebendigkeit, die Stetigkeit, die 
Wirksamkeit ihrer Erlebnisse anders bezeichnen, als mit dem 



1) Vgl. I, 376: „In diesem Kampf der schaffenden Seele mit der er- 
kennenden ist nichts Unnatürlicheres, als in irgend einem Ringen der Elemente 
der Natur . , Und I, 68: „Wir sind nun einmal nicht geschaffen, bloss zu 
erkennen, sondern auch zu dichten und zu bauen*, und solche idealen 
Schöpfungen, Dichtungen „sind für die Erhaltung und Ernährung unseres 
geistigen Lebens so wichtig, wie die Wissenschaft". 



760 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



Worte: Wahrheit? 4 * „Da die Sprache nun einmal dem Volke 
gehört, so werden wir den doppelten Gebrauch des Wortes ,Wahr- 
heit* für einstweilen schon deswegen einräumen müssen.* Auch 
,der Philosoph kann die zweite Bedeutung des Wortes Wahrheit 
gelten lassen, aber nie vergessen, dass sie eine bildliche ist. Er 
kann sogar warnen vor einem blinden Eifer gegen die »Wahr- 
heiten* der Religion, wenn er überzeugt ist, dass der ideale Ge- 
halt derselben noch Wert für unser Volk hat« (S. 496), 

Als F. A. Lange diese Stellen über den Wahrheitsbegriff 
niederschrieb, hatte er keine Ahnung davon, dass schon vor drei 
Menschenaltern Kant eine doppelte Wahrheit unterschieden hatte 
(vgl oben S. 657, 714), und dass ein Menschenalter später der 
amerikanische Pragmatismus dieselbe Lehre, aber in ganz korrum- 
pierter Form auf den Markt bringen werde. Wohl lehrt auch 
F. A. Lange (S. 496): „Nimmt man die Vernunft mit Kant als das 
Vermögen der Ideen, und setzt man die ethische Bewährung 
an die Stelle des Beweises, so ist alles, was sich ethisch be- 
währt, gleichberechtigt.* „Es ist — um es plump zu sagen — 
Geschmackssache* 1 ) — wie man die religiöse Vorstellungswelt 
ausdichtet, ob man ihr mehr oder weniger Züge verleiht; für eine 
bestimmte Zeit und Gesellschaft, z. B. die der Deutschen im 
gegenwärtigen Zeitpunkt ist vielleicht „die ethisch wertvollste 
Zusammensetzung der [religiösen] Vorstellungen" nicht die der 
blossen drei Kantischen Ideen, die sog. Kantische Vernunftreligion, 
Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, 2 ) sondern es seien vielmehr 
vielleicht „ungleich viel mehr Ideen" dazu erforderlich. Darum 
spottet Lange über „die aufgeklärte Dogmatik, welche den Gottes- 
begriff willkürlich festhält und die Erlösungslehre als irrationell 
fahren lässt* (S. 548). Solche Ideen hat „Christus zuerst der Welt 
im Gleichnis verkündigt* (S. 551) und in „Bildern" gesprochen 
(S/561; vgl. oben S. 691 Anm.). Bei der Religion handle es sich 
ja eben gar nicht um rationell beweisbare intellektuelle Einsichten 
und überhaupt nicht um Wahrheit im theoretischen Sinn, sondern 
in jedem Falle nur um Dichtung, wobei es auf ein „Mehr oder 
Weniger* (S. 500) gar nicht ankommt. F, A. Lange verneint daher 

1) Diesen Ausdruck (497) wiederholt Lange S. 543. 

2) Hierin folgt F. A. Lange ebenfalls der traditionellen, aber falschen 
Auffassung der Kantischen Vernunftreligion. Wir haben gesehen, dass Kant 
selbst noch ganz andere religiöse .Ideen* postuliert hat (z, B. Sündenfall, Er* 
lösung u, s. w., s. oben S. 660ff. u. ö.). 



F. A. Lange und sein „Standpunkt des Ideals". 761 



ganz konsequent einerseits die »Vernunftreligion * in jeder Form, 
sei es, dass man mit dem traditionell aufgefassten Kant die drei 
Ideen Gott, Freiheit und Unsterblichkeit als Realitäten festhält, 
sei es, dass man die angebliche Einheit des Wahren, Schönen und 
Guten behauptet, 1 ) oder sei es, dass man gar allen Ernstes in der 
Natur, die doch voll Grausamkeit und Lieblosigkeit ist, etwas Gött- 
liches erkennen will Theoretisch sind alle solche Vorstellungen 
ganz beweislos, ganz haltlos, ganz kritiklos. Man braucht solche 
angeblichen Erkenntnisse auch gar nicht zur Religion, und kann 
sie auch gar nicht dazu brauchen. Nicht einmal ein Minimum 
von Erkenntnis bleibt übrig, das der Religion zu Grunde gelegt 
werden könnte; die Religion der Zukunft kann nur als Dichtung 
stehen bleiben. Eben darum kann auch Lange andererseits konni- 
vent und tolerant sein gegen speziellere religiöse Vorstellungen, 
an denen die traditionelle Aufklärung stets Anstoss genommen 
hat: solche spezielleren religiösen Vorstellungen, wie z. B. den 
„Mythus" vom leidenden, getöteten und siegreich auferstehenden 
Gottessohn, kann F. A, Lange noch ruhig stehen lassen (S. 509 f., 
527 f., 547 f., 551, 561), weil er sie „ins Ideal« erhebt, d. h. weil er 
säe als ethisch wertvolle Dichtungen erkennt und anerkennt, aber 
Dichtungen sind ihm in demselben Sinne auch die Vorstellungen 
von Gott und Unsterblichkeit, ethisch bewährte, und in diesem 
Sinne sind wahre Dichtungen „Wahrheiten*. Der Begriff der Wahr- 
heit im religiösen Gebiet hat also einen ganz anderen Sinn (einen, 
wie F. A. Lange sagt, bloss „bildlichen"), dagegen im Gebiet der 
exakten Wissenschaft hat „Wahrheit" einen anderen Klang. Der 
Fehler des amerikanischen Pragmatismus ist aber, dass er diesen 
Doppelsinn des Wahrheitsbegriffs nicht einsieht, sondern den 
wissenschaftlichen Wahrheitsbegriff ganz in die Relativität des 
religiösen Wahrheitsbegriffs auflöst, ein ebenso verhängnisvoller 
Fehler, wie wenn man auf die Religion den Wahrheitsbegriff der 

1) Treffend bemerkt F. A. Lange hierzu S. 498: „Hier haben wir nun 
im vollen Sinne des Wortes ein Dogma, welches nicht nur nicht bewiesen, 
sondern welches sogar, streng verstandesgemäss geprüft, nicht richtig ist, 
welches aber als Idee festgehalten allerdings gleich jeder religiösen Idee 
erbauen und über die Schranken der Sinnlichkeit erheben kann* — also eine 
nützliche Fiktion. In diesem Sinne weist Lange uberall auf die Bedeutung 
der „Idee* (S. 491) für das Leben hin; insbesondere „das Bild einer Idealen 
Vollkommenheit" (S, 513) wird von ihm hochgestellt Aber „die Anerkennung 
des Idealen" muss doch andererseits .über die Grenzen der Gültigkeit alles 
Idealen aufgeklärt sein* (559). 



762 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen, 



Wissenschaft überträgt — »alle grossen Missverständnisse, alle 
weltgeschichtlichen Irrtümer stammen ja aus der Verwechslung 
dieser Vorstellungsweisen" (S. 493). 

Immer und immer wieder weist F. A. Lange auf die Rolle 
„des dichtenden Prinzips in der Religion" (S. 503) hin, die schon 
der antiken Welt, speziell den Stoikern zum Bewusstsein ge- 
kommen sei 1 ) (S. 501); darum eben sei die Idee „einer von jedem 
Irrtum geläuterten Religion 11 (S. 497) ein verkehrter Wahn, denn 
überall und immer bestehe die Religon aus einem Gewebe oder 
Gebäude von Dichtungen, aus einer r Vorstellungs-Architek- 
tur" (S. 496), die je nach dem Bedürfnis der Zeiten „in ihrer 
Gestalt wechselt" (S. 494), die aber immer „den Charakter des 
Absoluten" (S. 493) an sich trägt In diesem Sinn „wird der 
ächte Idealismus stets neben die Erscheinungswelt eine Ideal- 
welt stellen, und der Letzteren, selbst wenn sie nur als ein 
Hirngespinst auftritt, alle diejenigen Rechte einräumen, welche 
aus ihren Beziehungen zu unseren geistigen Lebensbedürfnissen 
folgen" (S. 530). „Der theoretische Materialismus [dem alles ver- 
werflich ist, „was sich nicht als wahr für den gemeinen Verstand 
erweisen lässt" S. 506, der „die ideale Seite des religiösen Lebens* 
nicht versteht, weil für ihn „das Ideale keinen Kurs hat" S. 537], 
kann sich ohne Inkonsequenz nicht zu diesem Standpunkt er- 
heben, weil für ihn das Ausgehen vom Ganzen ... ein Irrtum 
ist. Der Materialist kann nicht dem Worte Schillers folgen: Wage 
du zu irren und zu träumen* (S. 513), Dies aber eben ist der 
„Standpunkt des Ideals". 

Diesem „Standpunkt des Ideals" ist nun ein eigener Ab- 
schnitt gewidmet, unter diesem Titel *) S. 539—562). F. A. Lange 
führt daselbst seinen Kampf nach zwei Fronten hin, den wir schon 
bisher verfolgt haben, zu Ende. Einerseits kämpft F. A, Lange 
gegen den Dogmatismus resp. gegen die Orthodoxie; „so lange 
diese Richtung herrscht, wird der Standpunkt des Ideals in der 
Religion niemals rein hervortreten können . > . , das Symbol 
wird unwillkürlich und allmählich zum starren Dogma, 8 ) wie das 



1) „Dieser Sachverhalt lag klar im Bewusstsein der Weisen und wenig- 
stens in Ahnungen auch im Bewusstsein des Volkes* (549). 

- 2) Der Ausdruck „ Standpunkt des Ideals* ist (ohne dass F. A. Lange 
das bemerkt zu haben scheint) präformiert bei Kant (vgl. oben S. 650), sowie 
bei Forberg (s. oben S. 746). 

3) Ein Beleg zum „Gesetz der Ideenverschiebung - , vgl. oben S. 2l91f. 



F. A. Lange und sein „Standpunkt des Ideals". 763 

Heiligenbild 1 ) zum Götzen, und der natürliche Widerstreit zwischen 
Poesie und Verstand artet auf religiösem Gebiet leicht in Ab- 
neigung aus gegen das schlechthin Richtige, Nützliche und Zweck- 
mässige* ... Die dogmatisch-orthodoxe Richtung „denkt sich 
das ideale Lebenselement . . . zugleich mit gemeiner Wirklichkeit 
begabt, und nimmt alles historisch, was ni^r symbolisch gelten 
soll" (S. 557 f.)» Und „doch kann man stets bei den orthodoxen 
Eiteren in ihren Reden und Schriften den Punkt entdecken, wo 
sie offenkundig in das Symbol übergehen" (S, 549), wo sie also 
mkonsequent werden, wo sie selbst zugeben müssen, dass min- 
destens ein Teil ihrer religiösen Vorstellungen nur symbolisch ist.*) 
Die andere Front, gegen welche F. A. Lange kämpft, ist der 
Materialismus, nicht als wissenschaftliche Methode — denn in 
dieser Form billigt F. A. Lange die materialistisch-mechanische 
Erklärung des Seins und Geschehens — , sondern wenn und 
insoweit der Materialismus, was er konsequenterweise tun muss, 
die religiöse Vorstellungswelt überhaupt verwirft, nicht bloss in 
Form eines Systems dogmatischer Lehrmeinungen, sondern auch 
in Form von brauchbaren und haltbaren Symbolen, wenn also 
der Materialismus die religiösen Vorstellungen überhaupt zum 
alten Eisen wirft. Dieser Richtung gegenüber verlangt F. A. Lange 
„Anerkennung des Idealen" (S, 559) nicht nur in der Weise, dass 
der Materialist edle, ideale Bestrebungen haben solle — das 
ist glücklicherweise meistens der Fall — , sondern in der Weise, 
dass er auch den hohen Wert und tiefen Sinn der idealen Vor- 
stellungen anerkennen soll, also den Wert der religiösen Vor- 
stellungen, dieser Vorstellungs- Architektur (vgl oben S. 762), oder 
wie es S. 546 heisst, der „Architektur 3 ) der Ideen", in denen „dem 
Ewigen und Göttlichen [d. h. ihren Idealen] ein Tempel der Ver- 
ehrung errichtet wird". Diese metaphysisch-religiösen Ideen kann 
man „in ihrer ethischen Wirkung" festhalten, „ohne den Tatsachen 
Gewalt anzutun". „Das allein kann die Menschheit zu einem 



1) Das somit Lange nicht absolut verwerfen würde? Vgl. dag. oben S. 705. 

2) Daher wird «selbst von den entschiedensten Gläubigen 1 ' mehr oder 
weniger klar erkannt resp. geahnt, dass der grösste Teil der Religion nur eine 
Sache der Dichtung ist (494). Daher „vermeidet es aber auch der Gläubige, in 
seinem eigenen Innern die Grenze zu berühren, wo Wahrheit und Dichtung 
»ich scheiden" (554). 

3) So lässt auch Kant die Ideen dem „architektonischen* Trieb der 
Vernunft entspringen. VgL oben S. 730 u. Ö. 



764 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



immerwährenden Frieden [zwischen Religion und Naturwissen- 
schaft] führen, wenn die unvergängliche Natur aller Dichtung in 
Kunst, Religion und Philosophie erkannt wird, und wenn auf 
Grund dieser Erkenntnis der Widerstreit zwischen Forschung 
und Dichtung für immer versöhnt wird* (S, 560). Also Sinn und 
Achtung für die Religion als Dichtung — dies verlangt 
F. A. Lange auch vom Materialisten. „Eins ist sicher: dass der 
Mensch einer Ergänzung der Wirklichkeit durch eine von ihm selbst- 
geschaffene 1 ) Idealwelt bedarf, und dass die höchsten und edelsten 
Funktionen seines Geistes in solchen Schöpfungen zusammen- 
wirken"; und man verleiht dem so geschaffenen „Ideal eine über- 
wältigende Kraft, 3 ) indem man es [mit Schiller] offen und rückhaltlos 
in das Gebiet der Phantasie verlegt* (S. 545). In diesem Sinne 
„gewöhne man sich, die Welt der Ideen ... für gleich unentbehr- 
lich zu jedem menschlichen Fortschritt zu betrachten, wie die 
Erkenntnisse des Verstandes, 8 ) indem man die grössere oder 
geringere Bedeutung jeder Idee auf ethische und ästhetische 
Grundlagen zurückführt" (S. 548) — wobei man beachte, dass 
F. A. Lange, der Schillers Gedichte richtig als Früchte des kritischen 
Geistes erkannte, neben die ethische Grundlage, welche Kant 
allein betont, mit Recht auch die ästhetische stellt» Dieser ästhe- 
tische Einschlag zeigt sich auch, wenn F. A. Lange sagt, der 
Gedanke der göttlichen Harmonie, in der alles Disharmonische 
verschwinde, „von der überschauenden, göttlichen Betrachtung 
der Welt, in welcher sich alle Rätsel lösen und alle Schwierig- 
keiten verschwinden, werde vom Pessimismus mit Erfolg zerstört, 
aber diese Zerstörung trifft nur das Dogma, nicht das Ideal" 
(S. 544) — also es bleibt uns unbenommen, jenen Gedanken als 
bewusste religiöse Fiktion festzuhalten. 

Der „Kern der Religion 41 besteht in der „Oberwindung alles 
. . . Aberglaubens durch die bewusste Erhebung über die 
Wirklichkeit und in dem definitiven Verzicht auf die Verfälschung 
des Wirklichen durch den Mythus, der ja nicht dem Zweck der 
Erkenntnis dienen kann* (S. 546). Gegenüber dem groben Glauben 

1) Vgl. dieselbe Wendung sehr häufig bei Kant, z. B> oben S. 729., 

2) Vgl. dazu Kants eigene Äusserungen oben S. 731 Anm. 

3) Die Ideen, also das Erdichtete, Nichtseiende, sind nach Lange (ib, 
S. 491) „für den Fortschritt gleich wichtig, wie die Empirie 11 , ja sie enthalten 
„die eigentlichen Triebfedern* der Menschheit; also das Als-Ob treibt den 
Menschen vorwärts und aufwärts. 



F, A. Lange und sein »Standpunkt des Ideals*. 



765 



an die grobe Wirklichkeit der religiösen Vorstellungswelt besteht 
.das Prinzip der Vergeistigung der Religion" also darin, die reli- 
giösen Vorstellungen mit Bewusstsein als Mythen zu ver- 
ehren. So lange man den „Kern der Religion" in gewissen 
„Lehren über Gott, die menschliche Seele, die Schöpfung und 
ihre Ordnung suchte, konnte es nicht fehlen, dass jede Kritik, 
welche damit begann, nach logischen Grundsätzen die Spreu vom 
Wei2en zu sondern, zuletzt zur vollständigen Negation werden 
musste. Man sichtete, bis nichts mehr übrig blieb/ Man er- 
blicke dagegen den „Kern der Religion" „in der Erhebung der 
Gemüter über das Wirkliche" hinaus in die erdichtete »Heimat 
der Geister", also ins Unwirkliche. Bei der Religion liegt das 
Wesen der Sache in der Form 1 ) des geistigen Prozesses [d.h. 
eben in jener bewussten Erhebung über das Wirkliche], „nicht im 
logisch -historischen Inhalt der einzelnen ... Lehren* 4 (S. 550). 
Der „ideale Gehalt und Inhalt der Religion" (S. 556/7) bleibt so 
für alle Zeit erhalten — aber nicht mehr als Dogma, sondern 
als frei von uns selbst erschaffenes Ideal, das wir mit vollem 
Bewusstsein eben als blosses Ideal erkennen, aber nichtsdesto- 
weniger so verehren, dass wir unser Gemüt daran erheben, unser 
Handeln darnach einrichten. 

Es ist nun ein vielverbreiteter Grundirrtum, dem besonders 
die Materialisten leicht verfallen, solche bewussten Erdichtungen 
darum für wertlos zu halten; im Gegenteil, eben in jenen Ideen 
und Idealen liegen die höchsten Werte der Menschheit Die 
Überordnung dieser Ideen über die gemeine Wirklichkeit „beruht 
nicht auf grösserer Sicherheit, sondern auf einer grösseren 
Wertschätzung, gegen die ein für allemal weder mit der Logik, 
noch mit der tastenden Hand und dem sehenden Auge etwas aus- 
zurichten ist, weil für sie die Idee als Form . . . der Gemüts- 
verfassung ein mächtigeres Objekt der Sehnsucht sein kann, als 
der wirkliche Stoff" (S. 549). Der „wahre Wert" jener Ideen liegt 

1) Diese Wendung von Lange bildet eine ungewollte, aber um so merk- 
würdigere Bestätigung zu den oben S. 727 L. 28, und S. 729 L. 11 angeführten 
Worten Kants, bei den Ideen mache die Form den ganzen Gegenstand selbst 
aus, was Kant in dem Opus Postumum auch oft in die scholastische (und 
auch, wie im Kommentar zu Kants Kr, d. r. V. II, S. 64 nachgewiesen worden 
ist, auf die — öfters z. B. oben S. 730 Anm. 2 mit den Ideen parallelisierte — 
Raumanschauung angewendete) Formel kleidet: forma dat mc rcL Die 
Realität der Ideen besteht eben nur in ihrer Form, d. h. in ihrer Beschaffen- 
heit, Vorstellungen bewusste Fiktionen zu sein. 



766 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen* 



im Stil, gleichsam in der Form der Vorstellungsarchitektur und 
in dem Eindruck dieser Vorstellungsarchitektur auf das „Gemüt* 
(S. 494). Mit dieser „Welt der Werte« muss die „Welt des Seien- 
den* in Verbindung gebracht werden, um dieser durch jene 
„ethische* Bedeutung zu verleihen (S. 546). Daraus folgt für uns 
bei konsequentem Denken: die „Welt des Seienden* 4 muss also 
durch das Nichtseiende ergänzt werden, durch das Erdichtete, 
das Eingebildete, und eine wahre, kritische „Philosophie der 
Werte", von der man neuerdings spricht, wird stets nur als Philo- 
sophie des Ais-Ob auftreten können. 

„Eine Wirklichkeit, wie der Mensch sie sich einbildet, ein 
absolut festes, von uns unabhängiges und doch von uns erkanntes 
Dasein — eine solche Wirklichkeit gibt es nicht und kann 
es nicht geben 4 * (S. 539) — sie ist eine „Schöpfung des Ideals", 
also eben ein Nichtseiendes, aber als seiend gesetztes. Diese 
Welt ist „ein Erzeugnis freier Synthesis". Die unbekannten Fak- 
toren des Geschehens „stellen wir uns vor als Dinge, welche 
unabhängig von uns bestehen, und denen also jene absolute 
Wirklichkeit zukäme, welche wir eben für unmöglich erklärten. 
Allein es bleibt bei der Unmöglichkeit. Denn schon im Begriff 
des Dinges . . . liegt jener subjektive Faktor," den F. A. Lange 
allgemein als die Synthesis bezeichnet. „Dieser synthetische, 
schaffende Faktor unserer Erkenntnis erstreckt sich bis in die 
ersten Sinneseindrücke und bis in die Elemente der Logik hinein" 
(S. 539), „Aber die Aufgabe, Harmonie in den Erscheinungen zu 
schaffen und das gegebene Mannigfaltige zur Einheit zu binden, 
kommt nicht nur den synthetischen Faktoren der Erfahrung zu, 
sondern auch denen der Spekulation". Bei der Erfahrung ist der 
synthetische Faktor noch an den Stoff gebunden, auch „die Be- 
griffsdichtung der Spekulation ist noch keine völlig freie 0 , aber 
immerhin hat „in der Spekulation die Form das Übergewicht 
über den Stoff, in der Poesie beherrscht sie ihn vollständig" . 
„Von den niedersten Stufen der Synthesis ... bis hinauf zu 
ihrem schöpferischen Walten in der Poesie ist das Wesen dieses 
Aktes stets gerichtet auf die Erzeugung der Einheit, der Har- 
monie, der vollkommenen Form." Damit hat Lange die letzte, 
tiefste Wurzel des ganzen metaphysischen und religiösen Dichtens 
aufgedeckt. 



F. A. Lange und sein .Standpunkt des Ideals", 



767 



Die Bedeutung der synthetischen, dichtenden Kraft der 
menschlichen Natur für unser Erkennen und Leben hat, wie wir 
oben S. 756 sahen, Lange von Anfang an erkannt. Er sah vor 
Allem, dass schon unsere gewöhnliche Weltanschauung (nicht 
bloss die religiös -metaphysische, die wir bisher mit Lange ana- 
lysiert und zum „Standpunkt des Ideals" erhoben haben), durch- 
setzt ist von erdichteten Begriffen, die aber als Hilfsvorstellungen 
für uns notwendig sind, und die auch notwendig für uns bleiben, 
wenn wir sie als Erdichtungen durchschaut haben. Dazu gehört 
in ersler Linie die Vorstellung von Dingen überhaupt In diesem 
Sinne heisst es II, 214ft: „Ein »Ding* wird uns nur durch seine 
Eigenschaften bekannt . . . Das ,Ding 4 ist aber in der Tat nur 
der ersehnte Ruhepunkt für unser Denken, Wir wissen nichts 
als die Eigenschaften und ihr Zusammentreffen in einem Unbe- 
kannten, dessen Annahme eine Dichtung unseres Gemütes 
ist, aber, wie es scheint, eine notwendige, durch unsere Organi- 
sation gebotene." Wir können keine Eigenschaft ohne Träger, 
keine Kraft ohne Stoff annehmen: „der Grund ist nur in der 
psychischen Organisation zu suchen, welche uns unsere Beobach- 
tungen unter der Kategorie der Substanz erscheinen lässt". 

„Die Materialisten nehmen in naiver Weise die unbekannte 
Materie als einzige Substanz; Helmholtz dagegen ist sich wohl 
bewusst, dass es sich hier nur um eine Annahme handelt, welche 
durch die Natur unseres Denkens gefordert wird, ohne für das 
wahrhaft Wirkliche Geltung zu haben." Wenn Helmholtz eine 
derartige Annahme eine „Abstraktion" nennt, so bemerkt Lange 
hierzu: „richtiger eine notwendige Dichtung, eine mit psychischem 
Zwang eintretende Personifikation" — also eben eine Fiktion. 

Eine naturwissenschaftliche Modifikation des materiellen 
Dinges, dessen fiktive Natur hier Lange richtig erkennt, ist das 
Atom, das von ihm natürlich auch nur als ein Produkt derselben 
dichtenden Synthesis, zugleich aber als notwendige Hilfsvorstellung 
durchschaut wird. Schon I, 44 (vgl. S. 209, 223ff., 247, 253, 283) 
nennt Lange das Atom „eine notwendige Vorstellungsweise 
für einen unbekannten Sachverhalt". In diesem Sinne vergleicht 
Lange „die Atome und ihre Schwingungen" mit einem „Bau- 
gerüst", das man fallen lasse, wenn der Bau vollendet ist, das 
aber zum Bau absolut notwendig ist (II, 166, vgl. S. 182/3)* Wenn 
Liebig die Vorstellung der Atome eine willkürliche „Übereinkunft" 
nenne, wenn Schönlein in Bezug hierauf von „Spielen der 



768 



Dritter Teil : Historische Bestätigungen. 



Einbildungskraft* 1 rede, so sei doch zu bedenken, dass diese „Spiele 
der Einbildungskraft „ „gewiss nicht dazu dienen, den Verstand 
zu täuschen, sondern ihn zu leiten und zu stützen*. Solch eine 
sinnliche Anschauung, wenn sie streng durchgeführt werde, „dient, 
selbst wenn sie materiell falsch ist, oft in ausgedehntem 
Masse als Bild und einstweiliger Ersatz der richtigen Anschauung"; 
„die Benutzung der Einbildungskraft zur Ordnung unserer Ge- 
danken ... ist also in der Tat mehr als blosses Spiel" (II, 190). 
Die verschiedenen Atomvorstellungen wechseln je nach „dem Be- 
dürfnis der Rechnungen" (S, 191 ff.). Die Einsicht in diese Be- 
schaffenheit der Atome als blosser Rechenpfennige darf natürlich 
nicht dazu führen, „dem Physiker den nächsten, d. h. technischen 
Gebrauch der Atomistik abstreiten zu wollen" (S. 194ff.). Lange 
erkennt also ganz treffend die rein fiktive Natur der Atome, ob- 
gleich er ungenauer Weise sie mehrfach „hypothetisch" nennt; 
S. 191, 207, 209, 210, 220. 

Sehr treffend wendet sich Lange gegen diejenigen, die der 
Atomistik den angeblichen anti-atomistischen Dynamismus Kants 
als Gorgonenhaupt entgegenhalten: „es Hesse sich die Frage auf- 
werfen, ob sich nicht die Notwendigkeit einer atomistischen Vor- 
stellungsweise aus den Prinzipien der Kantischen Erkenntnistheorie 
deduzieren Hesse"; dieser Versuch sei auch ganz aussichtsvoll : 
„denn die Wirkungsweise der Kategorie in ihrer Verschmelzung 
mit der Anschauung geht stets auf Synthesis in einem abge- 
schlossenen, also in unserer Vorstellung von den unendlichen 
Fäden alles Zusammenhanges abgelösten Gegenstande. Bringt 
man die Atomistik unter diesen Gesichtspunkt, so würde die Iso- 
lierung der Massenteilchen als eine notwendige physikalische 
Vorstellung erscheinen, deren Gültigkeit sich auf den gesamten 
Zusammenhang der Welt der Erscheinungen erstreckte, während 
sie eben doch nur der Reflex unserer Organisation wäre: das 
Atom [das nach S. 250 eine „bloss gedachte Einheit" ist] wäre 
eine Schöpfung des Ich, aber gerade dadurch notwen- 
dige Grundlage aller Naturwissenschaft" (S. 211). In dieser 
prächtigen Stelle hat Lange die Atomistik aufs Treffendste als 
methodische Fiktion gekennzeichnet. 

Dass auch der gewöhnliche Kraftbegriff eine solche metho- 
dische, „die Betrachtung erleichternde" Fiktion ist, ist die Korre- 
lateinsicht (I, 143), die auch mit der Erkenntnis verbunden ist, 
dass der Kraftbegriff zwar „offenbare Widersprüche in sich birgt", 



F. A. Lange und der „Standpunkt des Ideals". 



769 



aber doch zweckmässig ist (I, 264); Lange weist dies speziell für 
die chemischen «Kräfte«, besonders die Affinität nach (II, 184—187) 
und zeigt, dass derartige „sinnliche Vorstellungsweisen" „nur 
Hilfsmittel", nicht definitive „Erkenntnisse- sind: „so spricht 
man von den Affinitätspunkten der Atome, vom Haften an den- 
selben, von besetzten und noch freien Punkten, wie wenn man 
an dem . . ♦ Körper des Atoms solche Punkte vor sich sähe" 
(S. 200). Beifällig zitiert Lange (S. 204) die bekannte Wendung 
von Du Bois-Reymond, „Kraft* sei „gleichsam ein rhetorischer 
Kunstgriff unseres Gehirns". Man bringt, meint Lange richtig 
S, 206, damit eigentlich „einen falschen 1 ) Faktor in die Rech- 
nung", und zeigt, wie man die daraus notwendig entspringenden 
Fehler vermeiden kann, wobei sich Lange auf eine Stelle von 
Helmholtz beruft, in welcher dieser die Methode der entgegen- 
gesetzten Fehler (vgl. oben S. 194 ff.) treffend kennzeichnet. Lange 
zeigt, wie wir es machen müssen, dass diese „Hilfsausdrücke" 
(S. 219) uns nicht zu Fallstricken werden — er gibt also eine 
Methode der wissenschaftlichen Fiktion. 

Beiträge zu einer solchen Methodik der wissenschaftlichen 
Fiktion finden wir bei Lange noch an verschiedenen Stellen, 
deren wichtigste hier aufgezählt seien: I, 57, 65, 84, 160, 216, 
247 (die Allgemeinbegriffe als fiktive Hilfsmittel der Wissenschaft, 
und die sie ausdrückenden Wörter als „Rechenpfennige"), 164 ff. 
(der Aristotelische Begriffsapparat als objektiv wertlos, aber als 
ein zweckmässiges, „wohl gegliedertes System der subjektiven 
Betrachtung", besonders der Begriff der Möglichkeit als wissen- 
schaftliche „Fiktion"), 168 („die begriffliche Trennung von Sub- 
stanz und Akzidenz" falsch, aber „ein bequemes, vielleicht unent- 
behrliches Hilfsmittel der Orientierung"), 329, 336 (das Urbild der 
Fiktion der empfindenden Statue Condillacs, vgl. oben S. 362 ff.), 
399 (die Fiktion des „Maschinenmenschen"), 369 (die Antizipation 
der Du Bois-Reymondschen Fiktion einer alles mechanisch begrei- 
fenden Universal-Intelligenz durch Holbach), 333, 348 (Lamettrie, 
bei dem sich das comme si auch sonst findet, erkennt den Begriff 
einer „Materie ohne Bewegung" als eine Fiktion), 416f. (Annahme 
eines Ichs als „fingierten Wesens im Gehirn"), 429 (berechtigte 
Einführung von bildlichen Vorstellungen zur Vereinfachung 



1) Diese Wendung erinnert an die Regula falsi in der Mathematik, die 
wir oben S. 395, 566 kennen gelernt haben. 

49 



770 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



komplizierterer Phänomene), 429 (Fiktion von Wesen, welche sieb 
den Raum nur in 2 Dimensionen vorstellen). 

Tiefe Einsicht in den methodischen Wert der wissenschaft- 
lichen Fiktion erhellt auch noch aus folgenden Stellen des 
IL Bandes. S. 7 verwirft Lange den Materialismus als philo- 
sophisches Prinzip, erkennt ihn aber als „Maxime der wissen* 
schaftlichen Detailforschung" an und bemerkt, dass dies der 
Standpunkt der meisten heutigen Materialisten sei; „sie sind 
wesentlich Skeptiker; sie glauben nicht mehr, dass die Materie, 
wie sie unseren Sinnen erscheint, die letzte Lösung aller Rätsel 
der Natur enthalte; allein sie verfahren grundsätzlich, als ob 
es so sei, und warten, bis ihnen aus den positiven Wissenschaften 
selbst eine Nötigung zu anderen Annahmen entgegentritt". In 
diesem Sinne habe auch Darwin selbst geforscht: „die überall 
mitwirkende [rein äusserliche] Ursache wurde behandelt, als ob 
sie allein da wäre, aber eine dogmatische Behauptung, dass sie 
allein da sei, ist kein notwendiger Bestandteil des [Darwinschen] 
Systems" (S. 263). 

Umgekehrt erkennt aber Lange auch die Teleologie als bloss 
methodische Fiktion; schon I, 373 hatte Lange darauf hingewiesen, 
dass sogar Holbach diesen Standpunkt einnehme: „der Mensch 
mag sich dieser Vorstellungen bedienen, wenn er nur 
von ihnen frei ist, und weiss, dass er es nicht mit äusseren 
Dingen, sondern mit unzutreffenden Vorstellungen von denselben 
zu tun hat", wozu Lange bemerkt: „dass aber solche den Dingen 
an sich keineswegs entsprechende Vorstellungen . . , nicht nur 
als bequeme . . . Angewöhnungen . , , zu dulden seien, sondern 
dass sie trotz — oder vielleicht sogar wegen ihrer Geburt aus 
dem Menschengeist zu den edelsten Gütern des Menschen 
gehören". In diesem Sinne nennt Lange II, 276 die Teleologie 
ein „heuristisches Prinzip", das er im Anschluss an Kant so 
formuliert: „Wir werden vermöge der Vernunftidee einer abso- 
luten wechselseitigen Bestimmung der Teile im Weltganzen dazu 
gebracht, die Organismen so anzusehen, als ob sie Produkt einer 
Intelligenz wären". 

Weitere Beispiele: S. 129 (Fiktion der intellektuellen An- 
schauung, vgl ib. S. 37 : die problematische göttliche Erkenntnis- 
art), 119 (Hilfslinien), 122 (technische mathematische Annahmen), 1 ) 

t) Lange bemerkt S. 450 f. ganz richtig, dass es eine notwendige Auf- 
gabe einer Philosophie der Mathematik sei, zu erforschen» wie es komme, dass 



F. A. Lange und F. Nietzsche, 



771 



196, 208 („man kommt zur Bequemlichkeit für den Physiker darin 
überein, den relativ leeren Raum als absolut leer zu betrachten"). 
Um derselben Bequemlichkeit halber betrachtet man nach S. 198 
die Kräfte als Linien, die Moleküle als Kugeln, und zerlegt nach 
S, 217 das Einheitliche „in hypothetische Punkte" und spricht 
nach S. 267 von idealen Krystallformen; aber derartige „Abstrak- 
tionen" darf man nicht „hypostasieren" (S* 198, 203, 205, 215), 
S. 407 „fingiert" Lange einen „ethischen Schwerpunkt" der 
menschlichen Handlungen", und S. 455 ff. bespricht er die Fin- 
gierung einfacher Fälle in der volkswirtschaftlichen Doktrin und 
besonders S. 461 ff. die bewusst-falsche Annahme des Egoismus 
als einzigen Motivs bei Adam Smith (vgl. oben S. 344). 

F. A. Lange hat also, wie wir sahen, schon erkannt, dass 
man in Wissenschaft und Leben erdichtete, also am Massstab 
der empirischen Wirklichkeit gemessen, falsche Vorstellungen 
verwenden muss, und zwar mit dem Bewusstsein ihrer 
Falschheit; er hat also, wie wir schon am Beginn unseres 
Werkes — oben S. 68 — sahen, erkannt, dass dem Denken 
und Leben Fiktionen unentbehrlich sind. 



D. 

Nietzsche und seine Lehre vom bewusst gewollten Sehein. 
(„Der Wille zum Schein",) 

Dass Leben und Wissenschaft ohne erdichtete, also falsche Vorstellungen 
nicht möglich sind, das hat auch Fr. Nietzsche erkannt. Dass solche erdichteten, 
also falschen Vorstellungen von den Menschen unbewusst zum Vorteil von 
Leben und Wissenschaft angewendet werden, hat Nietzsche im Anschluss an 
Schopenhauer und wohl 3uch an Richard Wagner und dessen Lehre vom „Wahn* 
frühzeitig bemerkt Dass aber solche falsche Vorstellungen auch vom geistig 
Gereiften noch mit dem Bewusstsein ihrer Falschheit angewendet werden 
müssen, sowohl im Leben als in der Wissenschaft, das hat Nietzsche allmäh- 
lich immer klarer eingesehen, und hierin ward ihm allem nach F. A. Lange 
zum Führer. 

man in der Mathematik mit abstrakten, ja mit unmöglichen, also falschen Be- 
griffen doch zu richtigen Resultaten gelange, (Vgl. die einschlägige Stelle bei 
Nietzsche, unten S. 778 Anm.) Dasselbe Problem gilt aber, wie wir sahen, auch 
für andere Wissenschaften — es ist eben das Problem der Fiktion. 



49* 



772 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



Nietzsche, dem Langes Name wohl schon durch die Bonner Philologen, 
kreise vorher bekannt geworden war, hat dann die im Oktober 1865 erschienene 
.Geschichte des Materialismus* nach seinem Weggang aus Bonn kennen ge- 
lernt. An Freund Gersdorff schreibt er im September 1866 einen begeisterten Brief 
aber das Buch, dem er ganz zustimmt, einen noch begeisterteren an denselben 
am 16. Februar 1868 (Gesammelte Briefe, 3. Aufl., 1902, I., 48 und 97). N. 
nennt es „ein Buch, das unendlich mehr gibt, als der Titel verspricht und das 
man als einen wahren Schatz wieder und wieder anschauen und durchlesen 
mag.* Dass auch besonders Langes Lehre von der Metaphysik als berechtigter 
.Dichtung* auf N» tiefen Eindruck gemacht hat, geht aus einem Briefe Rohdes 
an N. hervor (vom 4. November 1868 in N.s Ges. Briefen, 2. AufL, 1902, II, 80). 
Dass das bedeutsame Buch bei Nietzsche noch lange nachgewirkt hat ergibt 
sich schliesslich auch aus einigen polemischen Bemerkungen gegen dasselbe, die 
sich Bd. XIII, S. 339 und XIV, S. 14 (vgL 171) finden. Die folgende Darstellung 
von Nietzsches Lehren zeigt, wenn wir sie mit denen F. A. Langes vergleichen, 
dass Nietzsche in der Lehre vom Schein direkt als ein Schüler und Fortsetzer 
Langes bezeichnet werden muss. 

Ganz in derselben Weise wie Lange lehrt N. die hohe Bedeutung des 
.Scheins* in allen Gebieten der Wissenschaft und des Lebens, sowie der tief- 
gegründeten, weitgreifenden Funktion des . Dichtens* und .Fälschens", und des 
fälschenden, dichtenden .Schaffens*, und damit den Wert und das Recht des 
.Mythus' nicht nur in der Religion; N, lehrt wie Lange, dass der Welt des 
.schwankenden*, „zerfliessenden" Werdens im Interesse des Begreif ens und der 
ästhetischen Befriedigung von der , Phantasie* eine Welt des „Seins* gegen- 
übergestellt wird, in welcher alles .vollendet* und .gerundet* erscheint, und 
dass dadurch ein Gegensatz, ein .Kampf zwischen .Erkenntnis* und .Kunst*, 
zwischen .Wissenschaft« und .Weisheit* entsteht, 1 ) .der eben nur dadurch 
gelöst wird, dass jene .erdichtete* Welt als berechtigter und .unentbehrlicher" 
.Mythus* anerkannt wird, woraus sich endlich ergibt, dass .Falsch" und .Wahr* 
.relative" Begriffe sind. All dies hat Nietzsche schon bei F. A. Lange vor- 
finden können. Man hat diesen Kantischen, oder wenn man lieber will, Neu- 
kantischen Ursprung der Nietzscheschen Lehre bisher vollständig verkannt, weil 
N., seinem Temperament gemäss, wiederholt missverständlich gegen Kant heftig 
loszieht. Als ob er nicht auch gegen Schopenhauer und Darwin losgezogen 
wäre, denen er doch ebensoviel verdankt! Nietzsche hat tatsächlich sehr viel 
von Kant, freilich nicht von dem Kant, wfe er in den Schulbüchern steht (und 
wie er daselbst auch für alle Zukunft stehen bleiben mag), sondern vom Geiste 
Kants, des echten Kant, der den Schein bis in seine tiefsten Wurzein durch- 
schaut, aber auch die Nützlichkeit und Notwendigkeit des durchschauten Scheins 
mit Bewussisein erkennt und anerkennt 

Die Jugendschriften — abgedruckt im Bd. I der Werke, wozu noch die 
nachgelassenen Stücke der Bände IX und X gehören — enthalten eine grosse 
Fülle bedeutsamer Ansätze, aber in unentwickelter Form, Alle diese Ansätze 
gipfeln in dem merkwürdigen, aus dem Jahr 1873 stammenden Fragment: 
.Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne* (X, 189—215). 



1) Über diesen Kampf, der schon in der »Geburt der Tragödie" eine 
Rolle spielt, s. bes. Nietzsche, WW. X, 109 ff. und 216». 



F. Nietzsche und der Wille zum Schein. 



773 



.Lüge im außermoralischen Sinne" nennt R, mit seiner bekannten Vorliebe für 
outrierte Ausdrücke, diebewusste Abweichung von der Wirklichkeit im Mythus, 
in der Kunst, in der Metapher u. s. w. Das absichtliche Festhalten des Scheines, 
trotz der Einsicht in seine Beschaffenheit als Schein, ist eine Art »Lüge im 
aussermoraiischen Sinne": .Lügen" ist ja eben bewusstes, absichtliches 
Erregen von Schein. 

Dies ist zunächst der Fall in der Kunst, von welcher ja N. in seinem 
ersten Werk: Geburt der Tragödie u. s. w. ausgegangen ist, das im I. Band wieder 
abgedruckt ist. Kunst Ist bewusstes Schaffen des ästhetischen Scheines; in 
diesem Sinne beruht die Kunst auf der .Urbegierde nach dem Schein* 35; 
speziell .das dramatische Urphänomen" besteht darin, .sich selbst vor sich ver- 
wandelt zu sehen und jetzt zu handein, als ob man wirklich in einen 
anderen Leib, in einen anderen Charakter eingegangen wäre* 60, 168. Mit 
.fingierten 1 Wesen operiert Überhaupt das Drama 54. Vom .apollinischen 
Schein« (33, 62) wird 4 mal auf S. 150 f. (wie schon 147, und auch X, 120) in 
diesem Sinne das Als-Ob ausgesagt: Dieses .ästhetische Spiel« 157, 168, diese 
.zahllosen Illusionen des schönen Scheins machen das Dasein überhaupt lebens- 
wert« 171, 522. Dies ist .die Weisheit des Scheins« 23. Daher: .wer die 
Illusion in sich und Anderen zerstört, den straft die Natur als der strengste 
Tyrann* 340, denn .zum Handeln gehört das Umschleiertsein durch die Illu- 
sion ■ 56. *) In diesem Sinne wird auch der Mythus betrachtet und gepriesen 
147, 160, 411, 511, 560, speziell als mythische Fiktion 299. Der Mythus, den 
die Griechen mit Bewusstsein hegten, ist uns verloren gegangen ,in dem ab- 
strakten Charakter unseres mythenlosen Daseins« 170; bei uns ist er zum 
.Märchen* geworden, aber er muss bei uns .wieder ins Männliche zurück- 
geschaffen werden* 551 ; selbst die Wissenschaft kann nicht ohne Mythus sein 
102, 106. Vgl. IX, 179, 184, 234, 288, 433, sowie X, 88, 128, 139, 203. Zur 
Kunst wie zum Leben ist der Schein, die Illusion die notwendigste Voraus- 
setzung: darin lässt sich das Ergebnis der Jugendschriften zusammenfassen, und 
schon hier bricht auch der Gedanke durch, dass diese Illusion beim höheren 
Menschen eine bewusste sei und sein müsse. 

In den nachgelassenen Schriften jener Jugendzeit (Bd. IX und X) tritt 
dieser letztere Punkt deutlicher hervor. Zuerst zwar spricht N. nur überhaupt 
von den .Wahnvorstellungen als notwendigen und heilsamen Vorkehrungen des 
Instinkts«, IX, 69, von einem .Gesetz des Wahnmechanismus* 100, 124 ff. Auch 
die Religion gehört dazu 130,*) insbesondere aber .die realen Wahnbilder der 
künstlerischen Kultur* 148; über diese .Wahngebilde« spricht er noch S. 158, 
165, 179, 184. S. 186: .Das Reich der Wahnbilder ist auch Natur und eines 



1) ,Es gibt die heilsamsten und segensreichsten Irrtümer* (I, 179), um- 
gekehrt gibt es auch .Lehren, die ich für wahr, aber tötlich halte* (367), daher 
billigt auch N. die Platonische Notlüge im Staat (376, vgl. 487). Vgl. oben S. 64- 

2) Sehr bemerkenswert ist, dass N. schon hier auch die Freiheit des 
•Willens .als notwendige Wahnvorstellung« erkennt, so IX, 186, 188 f., 207, 
X, 213. Der Mensch hat .die Vorstellung der Freiheit, als ob er auch 
anders könnte", ja „der ganze Prozess der Weltgeschichte bewegt sich so, als 
ob Willensfreiheit existiere*. Aber .die moralische Freiheit ist eine notwendige 
Illusion". 



774 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



gleichen Studiums wert*. So entsteht ein ganzes „Illusionsnetz* 186 f. Diese 
Wahnvorstellungen schafft sich der Wille 192, 200, und zwar durch „Trug- 
mechanismen' 106, 210. „Selbst die Erkenntnis über ihr Wesen vernichtet nicht 
ihre Wirksamkeit* 101. Diese Erkenntnis empfindet N. zunächst als »Qual* 
101, 126, aber die Einsicht in die Notwendigkeit jener Illusionen und Phantome 
für das Leben (76, 108, 185, 189) führt zur bewussten, lustvollen Bejahung 
des Scheins; in diesem Sinne sagt er S. 190: „Meine Philosophie umgekehrter 
Piatonismus: je weiter ab vom wahrhaft Seienden, um so reiner, schöner, besser 
ist es. Das Leben im Schein als Ziel;* dies ist auch der Sinn des Ausspruchs 
S. 109: „das höchste Zeichen des Willens: der Glaube an die Illusion [„obwohl 
wir sie durchschauen'], und der theoretische Pessimismus [d. h. der Schmerz 
darüber, dass wir auf Wahnvorstellungen angewiesen sind] beisst sich selbst in 
den Schwan*. * 

Ganz in diesem Sinn heisst es dann X, 119: „der letzte Philosoph . . . 
beweist die Notwendigkeit der Illusion*. Der Abschluss der Philosophie- 
geschichte ist somit nach N. die Philosophie des Scheins; die Einsicht in seine 
Unentbehrlichkeit und Berechtigung: „im höchsten Scheine liegt unsere Grösse*, 
denn hier sind wir Schaffende 146. Aber jetzt ist es nicht mehr bloss der künst- 
lerische Schein (der „Kunstschleiej* 110), dessen Notwendigkeit zum Leben 
erkannt wird: jetzt erweitert sich der Kreis der als notwendig erkannten und 
bewusst erfassten Illusionen immer mehr: „das Anthropomorphische aller Er- 
kenntnis' (121) tritt Jetzt hervor, vgl. 195 ff. Nicht nur „das Leben braucht 
Illusionen, d. h. für Wahrheiten gehaltene Unwahrheiten* (125 ff.) und nicht allein 
unsere Kultur beruht auf „isolierenden Illusionen* (127), auch unser Erkennen 
bedarf solcher. So führt die „Oberflächen-Natur unseres Intellekts* 126 ff. zum 
Gebrauch von Allgemeinbegriffen, denen schon I, 526 mit einem sehr outrierten 
Ausdruck „Wahnsinn* vorgeworfen wurde. In dieser Linie liegt die Äusserung 
auf S. 130: „wir verstärken die Hauptzüge, vergessen die Nebenzüge*. Begriffe 
gewinnen wir nur durch „das Identifizieren des Nichtgleichen" und „tun nach- 
her, als ob der Begriff z.B. Mensch etwas Tatsächliches wäre, während er 
doch nur durch Fallenlassen aller individuellen Züge von uns gebildet ist', 172, 
195. Unser Intellekt operiert mit bewussten Symbolen, Bildern und rhetorischen 
Figuren 130, 134, 167, mit „groben und unzureichenden Abstraktionen* 169, 
mit Metaphern 148: „Zeit, Raum und Kausalität sind nur Erkenntnismetaphem* 
166. „Das Erkennen ist nur ein Arbeiten in den beliebtesten Metaphern" 171, 
194. So „leben und denken wir unter lauter Wirkungen des Unlogischen, in 
Nichtwissen und Falsch wissen" 173. 1 ) 

Alle diese Ansätze gipfeln nun in dem schon erwähnten Frag- 
ment über die .Lüge im ausserrnoralischen Sinne", dessen Grundgedanke 
eben ist: dass nicht nur unsere Sprache, sondern auch das begriffliche 
Denken auf lügnerischen, d. h. „der Realität nicht entsprechenden* Opera- 
tionen beruht 214. Vom Allgemeinbegriff und von dem „grossen Bau der 



1) In diesem Sinne ist auch folgender höchst bedeutsamer Satz zu ver- 
stehen (I, 128, vgl. auch 110): „Der ungeheuren Tapferkeit und Weisheit Kants 
und Schopenhauers ist der schwerste Sieg gelungen, der Sieg über den im 
Wesen der Logik verborgen liegenden Optimismus.* Über logischen Optimis- 
mus und Pessfmismus vgL oben S. 290 ff. 



F. Nietzsche und der Wille zum Schein. 



775 



Begriffe* wird dies nochmals eingehend gezeigt, so 195 ff. „Die Metapherbil- 
dung ist der Fundamentaltrieb des Menschen*, 203, und so führt ihn dieser 
künstlerische Trieb, der auch S. 128 einfach als »mythischer Trieb* bezeichnet 
wird, auch im erkenntnistheoretischen Gebiete zu lügnerischen Gebilden 213, 
505 (cfr. 139, 140, 162); diese werden zunächst unbewusst (196) geschaffen, 
aber »für den freigewordenen Intellekt" (205) sind sie bewusste Hilfsmittel; 
.Gerüste*. 

Die Schriften der mittleren oder Übergangsperiode Nietzsches, die im 
übrigen einen weniger dithyrambischen Charakter zeigen, vertiefen die bisher ge- 
wonnenen Einsichten an einzelnen Punkten. Es sind: Menschliches, Alizumensch- 
Üches; Morgenröte; Fröhliche Wissenschaft, in Bd. II— V, wozu noch die Nach- 
lass-Bände XI und XII, 1—233 gehören. Der outrierte Ausdruck der .Lüge* tritt 
nur noch selten hervor: II, (5, 162 („die Griechen umspielen absichtlich das 
Leben mit Lügen*), III, 105 („die Musen als Lügnerinnen, der Künstler als Be- 
trüger 4 *), IV, 119 (.Lug und Trug der Empfindung'), V, 309 (.die Erziehung, 
die so viele Lügen heiligt-), XI, 45, 330, 408. Pathetisch heisst es XII, 48: 
„Ach, nun müssen wir die Unwahrheit umarmen, und der Irrtum wird jetzt erst 
zur Lüge und die Lüge vor uns wird zur Lebensnotwendigkeit*. 

Der Gedanke, dass wir mit Bewusstsein uns der .Unwahrheit* in unserem 
Denken bedienen müssen, macht ihm immer noch Qual: ,Eine Frage scheint 
uns die Zunge zu beschweren und doch nicht laut werden zu wollen: ob man 
bewusst in der Unwahrheit bleiben könne, und, falls man dies müsse, ob da 
nicht der Tod vorzuziehen sei?" (II, 51). Noch V, 142 heisst es, dass „die Ein* 
sieht in den Wahn und Irrtum als in eine Bedingung des erkennenden und 
empfindenden Daseins" ohne die Kunst »gar nicht auszuhalten* wäre, und .den 
Selbstmord im Gefolge haben müsste*. Aber immer deutlicher wird die Ein- 
sicht, dass bewusst-unwahre Vorstellungen biologisch-erkenntnistheoretische Not- 
wendigkeiten sind; zunächst macht sich diese Einsicht geltend als Erkenntnis, 
dass .Irrtümer und Verirrungen der Phantasie das einzige Mittel sind, durch 
welches die Menschheit sich allmählich . . . zu erheben vermochte* (47, 111, 
228, vgl. IV, 97, XI, 36); der Mensch muss aber nicht bloss .die historische Be- 
rechtigung', sondern .ebenso die psychologische [also auch für die Lebenden 
gültige] Berechtigung in solchen Vorstellungen begreifen* (38), er muss ein- 
sehen, dass die Maschine Mensch .mit Illusionen, Einseitigkeiten . . . geheizt 
werden muss* (236). Nietzsche erinnert an das Wort Voltaires: „Croyez-moi, 
mon ami, l'erreur aussi a son merite" II, 16: Man darf deshalb solche Illusionen 
nicht .zerstören" (368), sie sind auch dem fortgeschrittenen Geiste notwendig, 
so notwendig, wie dem Kinde Märchen und Spiel 139 (welche ja dem Kinde 
auch bewusste Selbsttäuschungen sind). 1 ) In dem fortgeschrittenen Geiste 



I) In diesem Sinn heisst es duldsam XI, 21: „Warum lässt man Meta- 
physik und Religion nicht als Spiel der Erwachsenen gelten?" Das gilt 
dann auch von den „Illusionen des Jenseits" XI, 66. „Es könnte nötige Irr- 
tümer geben" heisst es XI, 320 in ausdrücklichem Gegensatz zu Pascal von den 
christlichen Dogmen. „Wir haben zeitweilig die Blindheit nötig und müssen 
gewisse Glaubensartikel und Irrtümer in uns unberührt lassen — so lange sie 



776, 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen» 



entwickelt sich immer mehr „das Bewusstsein vom Scheine" V, 87, ja ein Kultus 
des Scheins, „wenn nichts sich mehr als göttlich erweist, es sei denn der Irr- 
tum, die Blindheit, die Lüge% denn aui diese ,ist das Leben angelegt*, V, 
2751 Dies »undurchdringliche Netz von Irrtümern* ist zum Leben notwendig 
XII, 39 ff. 

Einem solchen fortgeschrittenen Geist werden alle üblichen, auch die 
wissenschaftlichen Glaubenssätze und Überzeugungen zu „regulativen Fik- 
tionen* V, 273; er erkennt sie als .lauter notwendige optische Irrtümer — 
notwendig, falls wir überhaupt leben wollen, Irrtümer, falls alle Gesetze der 
Perspektive Irrtümer an sich sein müssen* XII, 42. In diesem Sinne spricht N. 
46 von dem »wirklich lebendigen Unwahren", von den .lebendigen Irrtümern* 
und sagt: „und darum muss man die Irrtümer leben lassen und ihnen ein grosses 
Reich zugestehen*. Zusammenfassend heisst es 48: »damit es irgend einen 
Grad von Bewusstsein in der Welt geben könne, rnusste eine unwirkliche Welt 
des Irrtums entstehen: Wesen mit dem Glauben an Beharrendes, an Individuen 
u. s. w. Erst nachdem eine imaginäre Gegenwelt im Widerspruch zum absoluten 
Fluss entstanden war, konnte auf dieser Grundlage etwas erkannt werden, ja 
zuletzt kann der Grundirrtum [der Glaube an Beharrendes] eingesehen werden, 
worauf alles beruht . . . doch kann dieser Irrtum nicht anders als mit dem 
Leben vernichtet werden . . . unsere Organe sind auf den Irrtum eingerichtet 
So entsteht im Weisen der Widerspruch des Lebens und seiner letzten Ent- 
scheidungen: sein Trieb zur Erkenntnis hat den Glauben an den Irrtum und 
das Leben darin zur Voraussetzung . . . Irren ist die Bedingung des Lebens . . . 
Wissen um das Irren hebt es nicht auf. Das ist nichts Bitteres! Wir müssen 
das Irren lieben und pflegen: es ist der Mutterschooss des Erkennens.* 

Mehrfach finden sich zusammenfassende Stellen, so V, 149: „Solche irr- 
tümlichen Glaubenssätze . . . sind z. B. diese, dass es dauernde Dinge gebe, 
dass es gleiche Dinge gebe, dass es Dinge, Stoffe, Körper gebe, dass unser 
Wille frei sei . . V, 154: „Wir operieren mit lautef Dingen, die es nicht gibt, 
mit Linien, Flächen, Körpern, Atomen, teilbaren Zeiten, teilbaren Räumen . . .* ; 
V, 159: „Wir haben uns eine Welt zurechtgemacht, in der wir leben können, 
— mit der Annahme von Körpern, Linien, Flächen, Ursachen und Wirkungen, 
Bewegung und Ruhe, Gestalt und Inhalt; ohne diese Glaubensartikel hielte es 
jetzt Keiner aus zu leben I Aber darum sind sie noch nichts Bewiesenes. Das 
Leben ist kein Argument; unter den Bedingungen des Lebens könnte der Irrtum 
sein. - Und XI, 72 wird entwickelt, dass die Materie als ausgedehnte Masse 
eine Vorspiegelung ist, ebenso das bewegte Ding und das Ding überhaupt, so- 
wie alles Beharrende. So heisst es XII, 24: „wir würden ohne die Annahme 
einer der wahren Wirklichkeit entgegengesetzten Art des Seins nichts haben, an 
dem es sich messen und vergleichen und abbilden könnte: der Irrtum ist die 
Voraussetzung des Erkennens. Teil weises Beharren, relative Körper, gleiche 
Vorgänge, ähnliche Vorgänge — damit verfälschen wir den wahren Tatbe» 
stand, aber es wäre unmöglich, von irgend etwas zu wissen, ohne ihn so 



uns im Leben erhalten* XII, 48. An einer anderen Stelle (XII, 212) scheint N. 
dies „bewusste Festhalten an der Illusion und zwangsweise Einverleiben der- 
selben als Basis der Kultur*, das er selbst notwendig findet, zu tadeln; aber 
der Tadel richtet sich gegen einen Missbrauch durch R. Wagner. 



F. Nietzsche und der Wille zum Schein. 



777 



verfälscht zu haben*. .Am Beginn aller geistigen Tätigkeit stehen die gröbsten 
Annahmen und Erdichtungen, z. B. Gleiches, Ding, Beharren, sie sind gleich- 
altrig mit dem Intellekt und er hat sein Wesen darnach gemodelt* 46. Und 
in diesem Sinne heisst es auch '156: . der Intellekt als das Mittel der Täuschung 
mit seinen Zwangsformen: Substanz, Gleichheit, Dauer*, aber auf solchen 
Meinungen, wie dem „Glauben an Gleichheit, Zahl, Raum u. s. w. beruht die 
Dauer der Menschheit« 208. 

Denken hängt von der Sprache ab, und diese ist schon voll von falschen 
Voraussetzungen: „durch Worte und Begriffe werden wir jetzt noch fortwährend 
verführt, die Dinge uns einfacher zu denken, als sie sind, getrennt voneinander, 
unteilbar, jedes an und für sich seiend. Es liegt eine philosophische Mytho- 
logie in der Sprache versteckt, welche alle Augenblicke wieder herausbricht, so 
vorsichtig man sonst auch sein mag" III, 198; somit sind diese mythisch-fiktiven 
Bestandteile der Sprache eben mit dem Bewusstsein ihrer Falschheit zu ge- 
brauchen, vgl. XI, 178. Treffend heisst es XI, 180: .Wir reden, als ob es 
seiende Dinge gebe und unsere Wissenschaft redet nur von solchen Dingen. 
Aber ein seiendes Ding gibt es nur nach der menschlichen Optik: von ihr 
können wir nicht los*. 

Häufig weist N. auf die künstliche Simplifikation als ein Hauptmittei 
unseres Denkens hin, so XI, 291 in der bemerkenswerten Stelle, nach der wir 
unser .unendlich kompliziertes Wesen in einer S::nplifikation sehen* u. s. w., so 
XII, 10: „in welcher seltsamen Vereinfachung der Dinge und Menschen leben 
wir! Wie haben wir es uns leicht und bequem gemacht . . . und unserem 
Denken einen Freipass für Fehlschlüsse gegeben* ; vgl. XII, 46. 

Neben dem Simplifizieren spielt das Isolieren eine Hauptrolle, z. B. in 
der Mechanik: .wir isolieren begrifflich erstens die Richtung, zweitens das Be- 
wegte, drittens den Druck u. s. w. In der Wirklichkeit gibt es diese isolierten 
Dinge nicht* XII, 34. 

Von der Logik heisst es II, 26: sie .beruht auf Voraussetzungen, denen 
nichts in der wirklichen Welt entspricht, z. B. auf der Voraussetzung der Gleich- 
heit von Dingen, der Identität desselben Dings in verschiedenen Punkten der 
Zeit*. Über diese „Illusion der Gleichheit'») s. auch III, 198, XI, 179. (Vgl. 
F. A. Langes ähnliche Äusserungen, z, B. oben S. 766). 

Von den Allgemeinbegriffen wird nichts Besonderes mehr gesagt, wohl 
aber wird vom „Urbild 1 , d. h. eben von der dem Allgemeinbegriff entsprechen- 
den Idee XII, 28 folgender sehr treffende Ausspruch getan: „ Urbild ist eine 
Fiktion, wie Zweck, Linie u. s. w/, vgl. 33: .unsere Begriffe sind Erdich- 
tungen*. 

.Naturgesetze" sind Reste „mythologischer Träumerei* III, 18, XII, 30, 
ja XII, 42 findet sich der ganz Kantisch anmutende Satz: .Unsere Gesetze und 
Gesetzmässigkeiten sind es, die wir in die Welt hineinlegen — so sehr der 
Augenschein das Umgekehrte lehrt*. Die Kausalität ist ein .Bild*, etwas 
»was wir hineinlegen*; was wir .Erleben" nennen, ist in diesem Sinn .ein Er- 
dichten« IV, 124. 



1) Auf diesen .Irrtum des Gleichen", der so wie der Irrtum des Beharren- 
den zur Entstehung des Glaubens an „Dinge" und .Substanzen" beitrage, macht 
N. noch öfters aufmerksam, so bes. XII, 26 ff. 



778 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



Auch ,die Annahmen der Mechanik* beruhen auf idealen Erdichtungen, 
insbesondere aber die Vorstellung der »Kraft in mathematischen Punkten und 
mathematischen Linien* ; ,es sind zuletzt praktische Wissenschaften, ausgehend 
von den Fundamentalirrtümern des Menschen, dass es Dinge und Gleiches gibt* 
XII, 33. 

Neu ist die Einsicht in die fiktive Natur vieler mathematischer Begriffe, 
II, 26: ,es gibt in der Natur keine exakt gerade Linie, keinen wirklichen Kreis*, 
36 .die Zahlen beruhen auf dem Irrtum, dass es mehrere gleiche Dinge gebe, 
. . . gerade hier schon waltet der Irrtum, schon da fingieren wir Wesen, Ein- 
heiten, die es nicht gibt*. 1 ) „Wir legen eine mathematische Durchschnittslinie 
hinein in die absolute Bewegung, überhaupt Linien und Flächen bringen wir 
hinzu, auf der Grundlage des Intellekts, welches der Irrtum ist: die Annahme 
des Gleichen und des Beharrens" XII, 30. „Unsere Annahme, dass es Körper, 
Flächen, Linien gibt, ist erst die Folge unserer Annahme, dass es Substanzen 
und Dinge, Beharrendes gibt So gewiss unsere Begriffe Erdichtungen sind, so 
sind es auch die Gestalten der Mathematik* 33. 

Das beharrende Ding gehört ebenfalls hierher: unsere „Unvoll kommen- 
heit ist wohl die Quelle, dass wir an Dinge glauben und im Werden etwas 
Bleibendes annehmen, ebenso, dass wir an ein Ich glauben* XI, 185; und XII, 
23: .das Sein, welches uns einzig verbürgt ist, ist wechselnd, nicht-mit-sich- 
selbst-identisch, hat Beziehungen . . . Nun behauptet das Vorstellen gerade 
das Gegenteil vom Sein. Aber es braucht deshalb nicht wahr zu sein. Sondern 
vielleicht ist dies Behaupten des Gegenteils nur eine Existenzbedingung* unseres 
Vorstellens. „Es wäre das Denken unmöglich» wenn es nicht von Grund aus 
das Wesen des Esse verkennte: es muss die Substanz und das Gleiche be- 
haupten, weil ein Erkennen des völlig Fliessenden unmöglich ist, es muss Eigen- 
* scharten dem Sein andichten, um selber zu existieren. Es braucht kein Subjekt 
und kein Objekt zu geben, damit das Vorstellen möglich ist, wohl aber muss 
das Vorstellen an Beide glauben.* „Der Intellekt ist nicht zum Begreifen des 
Werdens eingerichtet, er strebt die allgemeine Starrheit [das ewige Beharren] 



1) Hierzu daselbst noch Folgendes: »Unsere Empfindungen von Raum 
und Zeit sind falsch, denn sie führen konsequent geprüft, auf logische Wider- 
sprüche. Bei allen wissenschaftlichen Feststellungen rechnen wir unvermeidlich 
immer mit einigen falschen Grössen, aber weil diese Grössen wenigstens 
konstant sind, wie z. B. unsere Zeit- und Raumempfindung, so bekommen die 
Resultate der Wissenschaft doch eine vollkommene Strenge und Sicherheit*. 
Also wir rechnen und denken stets mit konstanten Fehlern, II, 36 f. Unsere 
empirische Weltvorstellung beruht also auf „irrtümlichen Grundannahmen* , 
»Welt als Vorstellung, das heisst als Irrtum*. Hierbei beruft sich Nietzsche 
ausdrücklich auf Kant: .Wenn Kant sagt: , Der Verstand schöpft seine 
Gesetze nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor,* 
so ist dies in Hinsicht auf den Begriff der Natur völlig wahr.* Dieser Satz 
Kants hat, wie man aus sonstigen gelegentlichen Anspielungen auf denselben 
ersieht, grossen Eindruck auf N. gemacht: gerade diese »schöpferische*, 
„schaffende* Kraft des Geistes, seine „erfindende, dichtende, fälschende* Tätigkeit 
hebt N., wie wir noch sehen werden, überall hervor. So hat N. viel mehr von 
Kant, als man gemeinhin glaubt. 



F Nietzsche und der Wille zum Schein. 



779 



zu beweisen, dank seiner Abkunft aus Bildern*. Der Glaube an das Beharrende, 
an das Dauernde, an das Unbedingte, ist .nicht der am meisten wahre, sondern 
der am meisten nützliche Glaube* XII, 24—27, 30, Auf dem Glauben an das 
Beharrende beruht auch unsere Raumvorstellung: .unser Raum gilt einer ima- 
ginären Weif 31. Der Glaube an das Beharrende, der von selbst in uns ent- 
steht und den die Wissenschaft in ihrer Weise fortsetzt, ist die Grundlage alles 
Glaubens an „Realität* (wie Körper, Dauer der Substanz u. s. w.) 44 f. Auch 
das beharrende Individuum und seine Einheit ist etwas notwendig Eingebil- 
detes 128. 

Freiheit und Verantwortlichkeit werden oft als notwendige Irrtümer 
behandelt, so II, 65, 93, 101, 108, 109 („die Illusion der Willkür*); III, 31 : „frei 
können wir uns nur träumen, nicht machen', 190, 198; daher kann auch „der 
völlig gottlose Weise, der an der gründlichen Unverantwortlich keit und Unver- 
dienstlichkeit alles Wirkens und Wesens festhält, das Gefühl der Scham be- 
kommen, wenn man Ihn behandelt, als ob er dies und jenes verdient habe"; 
er kommt sich dann vor, als ob er sich .in eine höhere Ordnung von Wesen 
eingedrängt habe* 239; vgl. V, 149. In diesen Zusammenhang gehört auch die 
Äusserung XI, 3! : „So etwas wie der Charakter hat an sich keine Existenz, 
sondern ist eine erleichternde Abstraktion - , vor allem aber das folgende, deut- 
lich-kräftige Wort 45 : „Tadeln hat nur Sinn als Mittel abzuschrecken und fürder- 
hin als Motiv zu wirken, Loben will antreiben, zum Nachahmen auffordern: 
insofern aber beides getan wird, als ob es einer geschehenen Handlung gelte, 
so ist die Lüge, der Schein bei allem Loben und Tadeln nicht zu vermeiden, 
sie sind eben das Mittel, welches vom höheren Zwecke geheiligt wird\ Aber 
diese „moralischen Vorurteile sind immer noch unentbehrlich* XI, 195, ebenso 
die Vorstellung, „als ob wir die Natur führten** in unserem Handeln, während 
wir doch von ihr geführt werden XI, 203, 213. Unsere Freiheit, unsere Auto- 
nomie ist eine „Auslegung", resp. ein Hineinlegen 216, XII, 40. Sehr bezeich* 
nend heisst es XII, 224: „Ich will alles, was ich verneine, ordnen, und das 
ganze Lied absingen: es gibt keine Vergeltung, keine Weisheit, keine Güte 1 , 
keine Zwecke, keinen Willen. [Aber] um zu handeln, musst du an Irrtümer 
glauben, und du wirst noch nach diesen Irrtümern handeln, wenn du sie als 
Irrtümer durchschaut hast 1 . 

Auch das Subjekt ist ein solch selbstgemachter Begriff, den wir nicht 
entbehren können : „wir dichten uns selber als Einheit in dieser selbstgeschaffenen 
Bilderwelt, das Bleibende in dem Wechsel. Aber es ist ein Irrtum* XI, 185. 
Treffend heisst es XI, 291, das Ich sei „ein Versuch, unser unendlich kompli- 
ziertes Wesen in einer Simplifikation zu sehen und zu begreifen — ein Bild für 
ein DlngV Das ist unser „Urirrtum* XII, 26, Der ganze „Gegensatz von Sub- 
jekt und Objekt' ist eine künstliche Scheidung V, 294. 

Die Unterscheidung von Ding-an-sich und Erscheinung erkennt nun N. 
auch als eine künstliche Teilung (vgl, oben S, 119 über diese Zerlegung), somit 
eben als eine begriffliche Erdichtung: .das wahre Wesen der Dinge ist eine 
Erdichtung des vorstellenden Seins, ohne welche es nicht vorzustellen vermag" 
XII, 22, auch V, 294. Die ganze Erscheinungswelt ist eine »aus intellektuellen 
Irrtümern herausgesponnene" Weltvorstellung II, 33; »Welt als Vorstellung« ist 
soviel wie „Welt als Irrtum" 37, 47, IV, 119, 120 „Weit der Phantome, in der 
wir leben". »Unsere Aussenwelt ist ein Phantasieprodukt" XII, 36. »Der 



780 



Dritter Teil : Historische Bestätigungen. 



Glaube an Aussendinge* ist einer der nötwendigen Irrtümer der Menschheit 40. 
.Materie, Stoff ist eine subjektive Form" 71; „die ganze anschauliche, empfun- 
dene Welt ist die Urdichtung der Menschheit« 170. 

Die ästhetische Illusion kehrt natürlich immer wieder, so II, 157 mit zwei- 
maligem, ausdrücklichem .als ob - , 1 ) ebenso 178; XI, 23 und XII, 175. Ober 
die .künstlerische Täuschung" spricht N. III, 118, V, 311 und XI, 72. Die 
Kunst, „eine Art von Kultus des Unwahren - , beruht auf „dem guten Willen 
zum Schein* V, 149. 

Den Beschluss mache die schöne Stelle V, 88: .Was ist mir jetzt 
»Schein*! Wahrlich nicht der Gegensatz irgend eines Wesens — was weiss ich 
von irgend welchem Wesen auszusagen, als eben nur die Prädikate seines 
Scheins! Wahrlich nicht eine tote Maske, die man einem unbekannten X auf- 
setzen und auch wohl abnehmen könnte! Schein ist für mich das Wirkende 
und Lebende selber 



Die Schriften der dritten Periode: Zarathustra, Jenseits von Gut und 
Böse, Genealogie der Moral, Götzendammerung, Antichrist, in den Bänden VI 
bis VIII enthalten (abgesehen von den Eingangskapiteln von .Jenseits von Gut 
und Böse* im VII. Bd.) für uns weniger, als die zugehörigen Nachlässe in XII, 
235 ff., XIII, XIV, XV; besonders die beiden letzten Bände kommen für uns 
in Betracht 

Nach dem Bisherigen ist es verständlich, dass jetzt .das Problem vom 
Wert der Wahrheit*, das VII, 9 ff. feierlich eingeführt wird (vgl. 471, 482), auf- 
gestellt werden kann; hier stellt sich N. nicht bloss .Jenseits von Gut und Böse*, 
sondern auch jenseits von Wahr und Falsch: 8 ) .es ist nicht mehr als ein mora- 
lisches Vorurteil, dass Wahrheit mehr wert ist, als Schein ... es bestünde gar 
kein Leben, wenn nicht auf dem Grunde perspektivischer Schätzungen und 
Scheinbarkeiten* 55; .das Perspektivische ist die Grundbedingung alles 
Lebens" 4, 11. Dieser Ausdruck, der sich bisher nur selten fand, wird von jetzt 
an häufiger: die Perspektive ist ja eine notwendige Täuschung, welche bleibt, 
auch wenn wir ihre Falschheit erkannt haben und in diesem Sinne nennt N. 
schon V, 294 seine Philosophie treffend .Perspektivismus*. 5 ) In diesem Sinne 

1) Das Als-Ob erscheint auch II, 271 als Index einer konventionellen 
Fiktion, sowie ib. 333 als Ausdruck der Fiktion des konstitutioneilen Staates; 
dagegen V, 302 ist es die Formel einer Hypothese. 

2) „Wahrheit bezeichnet nicht einen Gegensatz zum Irrtum, sondern die 
Stellung gewisser Irrtümer zu anderen Irrtümern, etwa, dass sie älter, tiefer 
einverleibt sind, dass wir ohne sie nicht zu leben wissen, und dergleichen" 
XIII, 87; (vgl. oben S. 192, 217 .Wahrheit der zweckmässigste Irrtum"). Der 
Gegensatz ist nicht ,wahr' und falsch' ib. 69. .Was zwingt uns Überhaupt zur 
Annahme, dass es einen wesenhaften Gegensatz von »wahr* und ,falsch 4 gibt?* 
VII, 55. 

3) Auf XII, 43 erscheint „unsere dichterisch-logische Macht, die Perspek- 
tiven -zu allen Dingen festzustellen,* und ganz Kantisch wird von der .Fülle 
der optischen Irrtümer* gesprochen, die sich für uns unentrinnbar daraus 



Der bewusstgewollte Schein bei Nietzsche. 



781 



Ist auch die oft zitierte Stelle VII, S. 21 zu verstehen: „Es ist endlich an der 
Zeit, die Kantische Frage; ,wie sind synthetische Urteile a priori möglich? 
durch eine andere Frage zu ersetzen: ,warum ist der Glaube an solche Urteile 
nötig 1 ? — nämlich 2u begreifen, dass zum Zweck der Erhaltung von Wesen 
unserer Art solche Urteile als wahr geglaubt werden müssen: weshalb sie 
natürlich noch falsche Urteile sein könnten! ... Es sind lauter falsche Ur- 
teile. Nur ist allerdings der Glaube an ihre Wahrheit nötig, als ein Vorder- 
grundsglaube und Augenschein, der in die Perspektivenoptik des Lebens ge^ 
hört. - .Die falschesten Urteile (zu denen die synthetischen Urteile a priori 
gehören) sind uns die unentbehrlichsten, ohne ein Geltenlassen der logischen 
Fiktionen, ohne ein Messen der Wirklichkeit an der rein erfundenen Welt des 
Unbedingten, Sich-selbst-GIeichen, ohne eine beständige Fälschung der Welt 
durch die Zahl, kann der Mensch nicht leben — Verzieh tlcisten auf falsche 
Urteile wäre ein Verzichtleisten auf Leben**) 12 f. (vgl. XIV, 191, 210). So ist 
der .Wille zur Täuschung* zu verstehen 10 f., der ja auch die Seele der Kunst 
ist (84, 123, 472). .Auf welchen Standpunkt der Philosophie man sich heute 
auch stellen mag: von jeder Stelle aus gesehen, ist die Irrtum lichkeit der Welt, 
in der wir zu leben glauben, das Sicherste und Festeste • . . warum dürfte die 
Welt, in der wir leben, nicht eine Fiktion sein?* 54—56. Selbst die exakteste, 
positivste „Wissenschaft will uns am besten in dieser vereinfachten, durch und 
durch künstlichen, zurecht gedichteten, zurecht gefälschten Welt festhalten, auch 
sie liebt unfreiwill ig- willig den Irrtum, weil auch sie, die Lebendige, das Leben 
liebt* 41—42. In diesem Sinne gebraucht z, B. die Physik die Atomistik, ob- 
gleich sie .zu den bestwiderlegten Dingen gehört, die es gibt* ; aber diese dient 
dem Gelehrten .zum bequemen Hand- und Hausgebrauch, als Abkürzung der 



ergeben, die wir mit Bewusstsein festhalten müssen. Dieses perspektivische 
Dichten und Schaffen, das bei allen organischen Wesen sich finde, sei selber 
auch ein Geschehen, ein inneres Geschehen neben dem äusseren XU1, 63, 

1) Weil Täuschungen und Fälschungen zum Leben notwendig sind, min- 
destens ebenso notwendig als wahre Vorstellungen, darum ist nach R nicht nur 
der Mensch, sondern schon das ganze organische Leben darauf angelegt; .mit 
der organischen Welt beginnt ♦ * . der Schein" XIII, 228; .so haben es die 
Menschen und alle organischen Geschöpfe gemacht, nämlich so lange die Welt 
zurecht gelegt, zurecht gedacht, zurecht gedichtet, bis sie dieselbe brauchen 
konnten, bis man mit ihr rechnen konnte* ib. 84; .die Fähigkeit zum Schaffen 
(Gestalten, Erfinden, Erdichten) ist die Grundfähigkeit der organischen Welt* 
ib. 80; .in der organischen Welt beginnt der Irrtum: Dinge, Substanzen, Eigen- 
schaften, Tätigkeiten . . . es sind die spezifischen Irrtumer, vermöge deren 
die Organismen leben* 69, 63. Aber der Mensch begnügt sich nicht mit diesen 
kleinen Fälschungen — .die grossen Fälschungen und Ausdeutungen waren es, 
die uns bisher über das Glück des Tiers emporhoben* 29. In diesem Sinne 
nennt N. schon XUI, 37 den Menschen „das phantastische Tier*, und 
spricht XI, 278 von der „Unverschämtheit unserer Phantasie"; diese Wichtigkeit 
der Phantasie wird auch XII, 36 betont; aus ihr entspringt unser .mythen- 
bildender Trieb* ib. 123, und die ganze .Bilderrede" der Wissenschaft, 147. und 
unsere ganze .idealistische Phantasterei* ib. 3, die aber notwendig als bewusste 
.Lüge zum Leben gehört* XIV, 269, 



782 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



Ausdrucksmittel " 22, 27 f., die ganze Physik ist eine solche künstliche, falsche, 
aber vorläufig zweckmässige „Zurechtlegung* 24. l ) Solche künstlichen, aber 
bis auf weiteres unentbehrlichen Begriffe sind auch Subjekt und Objekt, da 
»Ich* und das „Es" 28—30, auch sie sind .Fiktionen" 56, ebenso Ursache und 
Wirkung: .man soll nicht «Ursache* und »Wirkung* fehlerhaft versinnlichen 
man soll sich der .Ursache 4 , der .Wirkung* eben nur als reiner Begriffe 
bedienen, d. h. als konventioneller Fiktionen zum Zwecke der Bezeich- 
nung, der Verständigung, nicht der Erklärung . . . Wir sind es, die allein 
die Ursachen . . das Füreinander, die Relativität, den Zwang, die Zahl, 
das Gesetz, die Freiheit, den Grund, den Zweck erdichtet haben; und wenn 
wir diese Zeichen-Welt als .an-sich' in die Dinge hineindichten, hineinmischen, 
so treiben wir es noch einmal, wie wir es immer getrieben haben, nämlich 
mythologisch* 33. Insbesondere bekämpft N. die mythische Vorstellung des 
.wirkenden Dinges"; „es gibt kein Substrat, es gibt kein ,Sein' hinter 
dem Tun, Wirken, Werden; der Jäter' ist zum Tun bloss hinzugedichtet — 
das Tun ist Alles 1 * ; solche konventionellen Fiktionen sind auch das Atom und 
das Kantische Ding -an -sich 327. Auch »jene .Gesetzmässigkeit der Natur 4 , 



1) In den Nachlassfragmenten des XIII. Bandes werden diese naturwissen- 
schaftlichen Fiktionen mit Vorliebe als .regulative Hypothesen 1 bezeichnet, wo- 
bei .Hypothese 11 (wie schon bei F. A. Lange) ungenau statt .Fiktion* gebraucht 
wird. So XHI, 59: »Ursache und Wirkung* seien keine Wahrheit, »sondern eine 
Hypothese, mit der wir die Welt uns vermenschlichen. Mit der atomistischen 
Hypothese machen wir die Welt unserem Auge und unserer Berechnung zu- 
gleich zugänglich,* Ein „starker - Geist könne den Wahn solcher absoluten 
Begriffe abweisen und sie doch als .Hypothese* festhalten; so ib. 54t, 59 f., 
80, 85. Die ganze mechanische Naturanschauung, speziell die .Vorstellung von 
Druck und Stoss u kann uns nur .als eine regulative Hypothese für die Welt 
des Augenscheins gelten\ ,die mechanistische Vorstellung ist als regulatives 
Prinzip der Methode voranzustellen* 81—82; in diesem Sinne verkündet N. den 
.Sieg der anti teleologischen, mechanistischen Denkweise als regulativer Hypo- 
these", und zwar als „bewusster*. In diesem Sinn .konstruieren sich die mathe- 
matischen Physiker eine Kraft-Punkt-Welt, , mit der man rechnen kann* 84, also 
„als vorläufige Wahrheit, nach deren Leitfaden wir arbeiten kdnnen" 73, [also 
als .Arbeitshypothese*], obgleich .die Annahme von Atomen* als rein subjektiv 
leicht zu durchschauen ist 61. So heisst es auch: r Damit wir rechnen können, 
hatten wir zuerst gedichtet*, XII, 242. An anderen Stellen ist von Nietzsche das- 
selbe, was hier vom Rechnen gesagt wird, allgemein vom Denken bemerkt 
worden. — Über den Wert regulativer Fiktionen s, auch XIV, 322. Besonders 
beachtenswert ist die Stelle XIII, 139: „die Art des bisherigen Geistes war noch 
zu schwach und ihrer selbst ungewiss, um eine Hypothese als Hypothese zu 
fassen und doch als regulativisch zu nehmen — es bedurfte des Glaubens* 4 . 
Nach dem Zusammenhang handelt es sich um Moral. Also soll der .starke 1 * 
Geist sich der Fiktivität bewusst sein und .sie doch als regulativisch 
nehmen*. Er braucht sie nicht zu „glauben", aber er soll darnach handeln — 
ganz Kantischl Auch von der Mechanik mit ihren Voraussetzungen, speziell 
den Atomen und dem leeren Raum heisst es 325: sie ist »eine Art Ideal, 
regulative Methode, nicht mehr*. 



Der bewusstgewollte Schein bei Nietzsche. 



783 



von der ihr Physiker so stolz redet wie als ob — besteht nur dank eurer 
Ausdeutung ... sie ist kein Tatbestand . . . vielmehr nur eine naiv-humani- 
täre Zurechtmachung* 34 — also eben ein „humanistischer* Anthropomor- 
phismus, für den Aufgeklärten ein bewusster. Man weiss mehr oder minder 
deutlich, dass es so und so nicht steht, dass man es so und so eben nur gelten 
lässt' 1 ) 188. 

Die Fragmente des XIV. Bandes aus dem Nachlass bieten hierzu eine 
willkommene Erläuterung, insbesondere das bekannte Wort S. 16: „Die Falsch- 
heit eines Begriffes ist mir noch kein Einwand gegen ihn: die Frage ist, wie 
weit er lebenfördernd . . . ist. Ich bin sogar grundsätzlich des Glaubens, dass 
die falschesten Annahmen uns gerade die unentbehrlichsten sind, 
dass ohne ein Geltenlassen 1 ) der logischen Fiktion, ohne ein Messen der 
Wirklichkeit an der erfundenen Welt des Unbedingten, Sich-Selber- Gl eichen, 
der Mensch nicht leben kann, und dass ein Verneinen dieser Fiktion 
. . . soviel wie eine Verneinung des Lebens bedeuten würde. Die Unwahr- 
heit als Lebensbedingung zugestehn, das heisst freilich auf eine schreck- 
liche Weise die gewohnten Wertgefühle von sich abtun.* 4 Kürzer heisst es 31 : 
„Meine Grundvorstellung: das »Unbedingte' ist eine regulative Fiktion, der 
keine Existenz zugeschrieben werden darf", aber derartige Fiktionen sind eben 
zum Leben, auch zum Leben des .Erkennens* nützlich und notwendig: denn 
,die Erkenntnis ist ihrem Wesen nach etwas Erdichtendes, Fälschendes 1 19» 
.eine fingierende, setzende Kraft muss angenommen werden, ebenfalls Vererbung 
und Fortdauer der Fiktionen 4 * 30. Man kann die contradictio in jenen fingierten 
Begriffen*) einsehen, z. B. in den Begriffen des Unbedingten, des Seienden, der 
absoluten Erkenntnis, des absoluten Wertes, des Dinges an sich, des reinen 
Geistes,*) 28, aber ,der Intellekt ist nicht möglich ohne die Setzung* solcher 
fiktiver Begriffe, besonders den des Unbedingten 29. Diese Fiktionen nennt 
N. auch, wie wir schon wissen, Perspektiven: „wollte man heraus aus der Welt 
der Perspektiven, so ginge man zu Grunde . , . Man muss das Falsche . . . 
gut heissen und akzeptieren 41 13; , das Perspektivische der Welt geht so tief, als 
heute unser »Verständnis* der Welt reicht" 7; und in diesem Sinn führt er aus, 
dass die »Zahl* 4 ) eine perspektivische Form ist, so gut als „Zeit* und „Raum*, 
dass wir so wenig „eine Seele", als .zwei Seelen* in unserer Brust beherbergen, 



1) Vgl. oben S. 557, 599 die tolerabüiter vera bei Jungius und Leibniz. 

2) Die »seiende' Welt ist eine Erdichtung — es gibt nur eine werdende 
Welt; und diese erdichtete seiende Welt ist Ursache, dass der Dichter sich selbst 
auch für »seiend' hält und sich ihr gegenüberstellt, XIV, 52; das Sein ist also 
ein Produkt des Denkens, Substanz ist ein „Irrtum* 311, 366. „Unser Künstler- 
Hoheits-Recht schwelgt darin, diese Welt geschaffen zu haben* heisst 
es XIV, S. 15 ganz Kantisch. 

3) Weiteres über .Seele*, „Geist* u. s. w. s. XIV, 27, 338. 

4) .Die Zahl ist durch und durch unsere Erfindung* XIV, 34, „Die 
arithmetischen Formeln sind nur regulative Fiktionen - 44. Dasselbe gilt 
auch von den geometrischen Formen: „eine gerade Linie kommt nie vor" 42. 
„Die Gegenstände der Mathematik existieren nicht" 320. 



784 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



dass die „Individuen" l ) sich wie die materiellen „Atome* 2 ) nicht mehr halten 
lassen, ausser für den Hand- und Hausgebrauch des Denkens, . . . dass „Sub- 
jekt 3 ) und Objekt", „Aktivum und Passivum*, „Ursache und Wirkung",*) »Mittel und 
Zweck* B ) nur perspektivische Formen sind. Solche „perspektivische Fälschungen* 
323 sind zum Leben der Menschen, ja aller Organismen notwendig; „mit der 
organischen Welt ist eine perspektivische Sphäre gegeben* 324, natürlich zu- 
nächst unbewusst, aber im vollentwickelten Menschen entsteht der bewusste 
„Wille zum Schein, die Feststellung der Perspektiven, d.h. das Setzen des 
Unwahren als Wahr* 89. Der menschliche Intellekt mit seinen festen Formen, 
insbesondere jenen grammatisch-logischen Kategorien (37) ist ein „Fälschungs- 
apparat" (34) — mit Bewusstsein bedient sich der Mensch trotzdem desselben. 
Zum Leben und zum Erkennen, soweit man noch von einem solchen sprechen 
kann, bedarf der Intellekt als notwendiges „Mittel die Einführung vollständiger 
Fiktionen als Schemata, nach denen wir uns das . . . Geschehen einlacher«) 
denken, als es ist" (47), es also verfälschen. So haben jene Irrtümer den 
Menschen erfinderisch gemacht: daher ist der „Kultus des Irrtums" notwendig 
312, ja es entspringt ein „Glück am Schein* 366, 389, der „Wille zum Schein" 7 ) 



1) Die Begriffe „Individuum", „Person* u. s. w. sind zwar falsch, ent- 
halten aber eine grosse Erleichterung für das Denken XIV, 37, sind jedoch 
„Täuschungen" 325 f.; sie sind, wie alle oben aufgezählten Begriffe „falsch, aber 
dauerhafte Irrtümer" 326. 

2) Über die Atomistik als bloss anschauliche Konstruktion zum Zweck 
der Berechnung s. XIV, 45, 325. 

3) Ober die „Mythologie des Subjekts-Begriff s u s. XIV, 329. 

4) .Unsere »Mittel und Zwecke 4 sind sehr nützliche Abbreviaturen, uns 
Vorgänge handlich, überschaulich zu machen* XIV, 45. 

5) Über Ursache und Wirkung als Folgen des irrigen Subjekts- und Prädi- 
katsbegriffs s. die Ausführungen XIV, 22, 27. 

6) Die Perspektiven werden hauptsächlich durch Vereinfachung hervor- 
gebracht: „das Leben ist nur möglich durch verengende, Perspektiven-schaffende 
Kräfte* XIV, 45. In diesem Sinne spricht N. auch von einem „abschliessenden, 
auslesenden Trieb" 46. Die vereinfachende und damit verfälschende Natur 
unseres Denkens wird oft betont, so XIV, 34, 320. Es gibt „zeitweilig erlaubte 
Vereinfachungen des wahren Tatbestandes" 42. Vgl. XIII, 80 f.: vereinfachen- 
fälschen-dichten; ebenso 241, 249. „Der Intellekt ist ein Apparat der Verein- 
fachung* und des Auseinanderlegens 245. 

7) Von dem künstlerischen Schein, speziell von der epischen Kunst heisst 
es, der Erzähler spreche dem bewundernden Zuhörer gegenüber, wie als ob er 
dabei gewesen wäre, und der Zuhörer habe die Sicherheit, zu wissen, dass es 
Täuschung ist u. s. w. XIV, 132; Kunst Überhaupt bestehe In „absichtlichem 
Umgestalten — Fälschen* 134. — In diesem Zusammenhang sei auch folgender 
bemerkenswerter Aphorismus angeführt (XIII, 207) : „Die Welt nicht nach unseren 
persönlichen Begleitgefühlen messen, sondern wie als ob sie ein Schauspiel 
wäre und wir zum Schauspiel gehörten** Dieser aus der späteren Stoa 
stammende fruchtbare Gedanke findet sich auch ib. 282: »Unsere Art Leben 
und Treiben als eine Rolle zu betrachten, eingerechnet die Maximen und 
Grundsätze . . .* 



Der bewusstgewollte Schein bei Nietzsche. 



785 



369, denn man erkennt „den Wert der regulativen Fiktionen, z. B. der logi- 
schen* 322. 

Dass die logischen Formen auf Fiktionen beruhen, wird öfters wieder- 
holt: »Logik ist eine konsequente Zeichenschrift auf Grund der durchgeführten 
Voraussetzung, dass es identische Fälle gibt* 22, und so „ist das Logische nur 
möglich infolge eines Grundirrtums * 29; .dass es gleiche Dinge, gleiche Fälle 
gibt, ist die Grundfiktion schon beim Urteil, dann beim Schliessen* 33, 35, 
37; .die erfundene starre Begriffswelt* ist ein wichtiges Denkmittel 46; ja unser 
wirkliches Denken verläuft gar nicht nach dem fingierten Schema der Logik: 
„das logische Denken ist das Muster einer vollständigen Fiktion*; „also das 
geistige Geschehen ist nur so zu betrachten, wie als ob es jenem regulativen 
Schema eines fingierten Denkens wirklich entspreche* 42 f. — Vgl. auch die 
Bemerkungen VIII, 78 über die Logik (und Mathematik) als n Zeichen- Kon ven- 
tton", sowie über die das logische Denken beherrschenden grammatischen For- 
men, die „Sprach-Metaphysik*. Vgl. XIII, 47, 60, 85, Selbst Plato habe seine 
„Begriffe* im Grunde so gemeint ib. 323, — also eben auch nur als „regula- 
tive Fiktionen*. 

In einem Teil der Fragmente des XV. Bandes kommt eine Seite zur Gel- 
tung, weiche auch schon früher bei N. gelegentlich hervortrat: der Schaden 
den jene regulativen Fiktionen anrichten, wenn sie nicht als solche benützt 
werden, sondern ihnen irrtümlicherweise Reatitätscnarakter zugeschrieben wird, 
wie es ja allerdings gemeinhin der Fall ist In diesem Sinne sind jene regula- 
tiven Hilfsvorstellungen — Fiktionen in mala sensu, »nur* Fiktionen. 1 ) So ist 
besonders .das Subjekt, das Ego nur eine Fiktion* 32, der Geist als Täter 
des Denkens ist fingiert, ja das von den Erkenntnistheoretikern angesetzte reine, 
logische Denken dieses Geistes ist „eine ganz willkürliche Fiktion* 266 f.: 
„Geist* und „Vernunft* sind „fingierte Synthesen und Einheiten* 272, ja werden 
sogar „unbrauchbare Fiktionen* gescholten 275. .Subjekt ist die Fiktion, als 
ob viele gleiche Zustände in uns die Wirkung eines Substrats wären . . . dies 
ist zu leugnen* 282, „das Subjekt ist nichts, was wirkt, sondern nur eine Fik- 
tion* 286; man hat im Menschen „ein primum nobile fingiert, das gar nicht 
existiert* 368. „Diese künstliche Loslösung und An-und-für-sich-Erklärung des 
Ego" hatte schlimme Folgen 369. Zu diesen schlimmen Folgen gehört auch 
die Annahme einer eigenen .geistigen Ursächlichkeit*, welche auch nur eine 
.Fiktion" ist 513, und damit die Annahme .freier Handlungen*, die dann in 
moralische und unmoralische geschieden worden sind: das Alles ist „imaginär, 
unreal, fingiert" 369, besonders die der Moral zu Grunde liegenden Begriffe 
233, 335. Aber die Gattung sei ebenso illusorisch und falsch wie das Ego 341 ; 
in den Begriffen Gattung, Idee, Zweck u. s. w. schiebe man einer Fiktion eine 
falsche Realität unter 284, dadurch werde sie eben zur schlechten Fiktion , in 
diesem Sinn sind Gattungsbegriffe „falsche Einheiten, die erdichtet seien* 330, 
so sei es auch mit den .Kausalfiktionen", dem „Schematismus des Dinges* 271, 
281, überhaupt mit allem „Gedachten* 281. Insbesondere die ganze Welt der 



1) Der Ausdruck Fiktion findet sich auch in den beiden ersten Perioden 
gelegentlich im tadelnden Sinne, so z. B. II, 355 von den Fiktionen, auf denen 
die mittelalterliche Kirche beruht, so IV, 99 die Fiktion des Allgemeinbegriffs 
.Mensch". 

50 



786 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



Dinge an sich, die wahre Welt des ewig Seienden im Gegensatz zur Welt des 
Werdens sei „eine blosse Fiktion - 306, vgl. 288, 291, 294, 304, 310, 311, 408; 
wir „imaginieren* uns einen Gott in dieser Welt 288, vollbringen unsere Hand* 
lungen, „wie aJs ob sie Kommandos Gottes wären* 26, und kommen zu den 
.mesquinen und schlechten Fiktionen" der christlichen Weltanschauung 91, zu 
den „Jenseits-Fiktionen* 478. Aber „Krieg gegen alle Voraussetzungen, auf 
welche hin man eine .wahre Welt' fingiert hat* 304. 

Diese aus der aufgeregten Zeit der „ Götzendämmerung ■ und des „Anti- 
christ - l ) stammende Opposition gegen den Missbrauch der Fiktionen darf man 
nicht missverstehen: das notwendige Komplement hierzu bietet die durch viele 
andere Stellen schon bezeugte Einsicht in die Nützlichkeit und Notwendigkeit 
der Fiktionen. Diese Einsicht kommt auch in vielen Fragmenten des XV. Bandes 
zum Vorschein: so spricht S. 175 von der „Nezessität der falschen Werte* und 
nach S. 338 sind „Notwendigkeit, Ursächlichkeit, Zweckmässigkeit nützliche 
Scheinbarkeiten", denn solcher „Schein tut not, um leben zu können *, .die 
Illusion hat Erhaltungswert für uns* 303. *) Auch die Logik, „die, wie die Geo- 
metrie und Arithmetik nur von fingierten Wesenheiten gilt* (278), ist doch eine 
.nützliche* Erfindung, ein gutes „Hilfsmittel* 273, 275, 288. Die Kategorien 
sind „Fälschungen*, aber .kluge*, „nützliche Mittel zum Zurechtmachen der 
Welt" 274, 299, 301, das System der Kategorien, das „System prinzipieller 
Fälschung*, ist aber doch „ein zweckmässiges und handliches 8 ) Schema*, ein 
System notwendiger „Handhaben* 300, ein „notwendiger Perspektivismus* 321. 



1) In diesen beiden Schriften (Band VIII) finden sich natürlich ähnlich 
lautende Äusserungen; so werden S. 77 ff, alle Kategorien als .Vernunft -Vor- 
urteile", als „Lügen* und „leere Fiktionen* bezeichnet, die in der Sprache und 
„Sprach-Metaphysik* ihren „beständigen Anwalt haben*. Ich, freier Wille, Ding, 
Atom — sind „Fiktionen* im schlimmen Sinn 941, 99. Der »Antichrist* kämpft 
gegen alle „imaginären* Wesenheiten und gegen die ganze religiöse „Fiktions- 
Welf, und gegen „die dualistische Fiktion* 231—233, als lauter „Lügen* im 
schlimmen Sinne (261, 264, 270 f., 281 f. t 287, 296 ff.)- Ahnlich XII, 21-23, 
49, 87, 148. Von diesem Standpunkt aus kämpft N. daselbst (49) dagegen, 
dass der Mensch einerseits auf „perspektivisches Sehen* eingerichtet sei, und 
andererseits von dieser täuschenden Einrichtung ein Bewusstsein haben könne 
— was ja doch sonst gerade seine eigene Lehre ist. 

2) Hierzu vergleiche man den prächtigen Hymnus auf den Schein, auf 
den „ganzen Olymp des Scheins - VIII, 209, und XII, 246 f., 290—293 auf die 
„Lüge* im guten Sinn = das Dichten von Mythen. Vgl, XIII, 35: es sei ein 
„Vorurteil, der Philosoph müsse als seinen eigentlichen Feind den Schein be- 
kämpfen*. Vgl. ib. 50, 71, 81, 88 (perspektivische Illusion als Erhaltungsgesetz). 
S. 130 heisst es ganz Kantisch: „wir sind auf optische Irrtümer eingerichtet* 
und man kann noch nach dem „nützlichsten Glauben* = Irrtum fragen 207, 
vgl. 121, 124, 138. „Die inneren Prozesse sind essentiell Irrtümer- erzeugend, 
weil Leben nur möglich ist unter der Führung solcher verengernder, Perspek- 
tiven-schaffender Kräfte* XIV, 45. „Das Bewusstsein ist etwas essentiell Fäl- 
schendes* — heisst es ebendaselbst. 

3) „Denken ist uns kein Mittel zu erkennen 4 , sondern das Geschehen zu 
bezeichnen, zu ordnen, für unseren Gebrauch handlich zu machen"; „das Denken 



Der bewusstgewolite Schein bei Nietzsche* 



787 



Es ist damit, wie mit dem Atombegriff: 1 ) es handelt sich dort wie hier um 
»blosse Semiotik\ aber es steht nicht in unserem Belieben, unser Ausdrucks- 
mittef zu verändern. „Die Forderung einer adäquaten Ausdrucksweise ist un- 
sinnig; es liegt im Wesen . . . eines Ausdrucksmittels, eine blosse Relation 
auszudrücken* 324. Jene Begriffe sind also unadäquat, aber nützliche Fiktionen. 
Insbesondere gilt dies von der Kausalitätskategorie*) 318 ff., und noch mehr 
von der Substanzkategorie: das .Seiende' ist .eine Simplifikation zu praktischen 
Zwecken* 305, beruhend auf der künstlichen Schaffung identischer Fälle 291, 
304, 319, es ist ,ein Bild*, von uns hineingelegt aus praktischen, nützlichen, 
perspektivischen Gründen 322, denn .in uns ist eine ordnende, fälschende, 
künstlich-trennende Macht* 279, aber deren Produkte, jene vielen .Fälschungen" 
sind nützlich und notwendig: denn .das Leben ist auf diese Voraussetzungen 
gegründet* 287; .die fingierte Welt von Subjekt, Substanz, Vernunft u. s. w. 
ist nötig 1 279. 

Dies leitet uns unmittelbar zu Gedanken Nietzsches über, die man als 
Ansätze zu einer Metaphysik des Als-Ob bezeichnen kann; die Frage, 
welche Rolle der Schein im Ganzen des Weltgeschehens einnehme, und wie 
dies den Schein aus sich notwendig erzeugende Weltgeschehen zu betrachten und 
zu bewerten sei — diese Frage hatte schon den jungen Nietzsche beschäftigt: 
schon im Nachlass zur L Periode findet sich die treffende Bemerkung: „Meine 
Philosophie umgedrehter Piatonismus: je weiter ab vom wahrhatt 
Seienden, um so reiner, schöner, besser ist es. Das Leben im Schein als Ziel 4 
iX, 190; daselbst 198/9 ringt N, mit dem metaphysischen Problem des Scheins 
und schliesst 205: .Das Eine erzeugt in griechischer Heiterkeit aus sich den 
Schein,* — In der zweiten Periode finden wir das Problem vertiert: .Unsere 
idealistische Phantasterei gehört auch zum Dasein und muss in seinem Cha- 
rakter erscheinen. Es ist nicht die Quelle, aber deshalb ist es doch vorhanden* 
XII, 3. .Wir kennen eigentlich nur das vorstellende Sein* mit seiner ver- 
fälschenden Tätigkeit; welche Rolle spielt dieses .vorstellende Sein* im Sein 



ist Ursache und Bedingung sowohl von »Subjekt', wie von ,Objekt 4 , wie von 
Substanz', wie von ,Materie* u. s. w/ XIII, 51 f. .Die erfinderische Kraft, welche 
Kategorien schafft, arbeitet im Dienste des Bedürfnisses, nämlich von Sicher- 
heit, schneller Verständlichkeit auf Grund von Konvention und Zeichen* ib. 55, 
vgl über solche .repräsentative Zeichen* ib. 66 und 83 ff. Denken ist identisch 
mit .Bilderschaffen* 234. 

1) Vgl. hierzu die Ausführungen S. 313—321: der AtombegTlff beruht auf 
dem .Bewusstseins-Perspektivlsmus*, .ist somit auch selbst eine subjektive 
Fiktion*; .mit zwei Fiktionen 1 * sei die mechanische Weltvorstellung durch- 
geführt, der der Bewegung und der des Atoms. .Wir haben Einheiten nötig, 
um rechnen zu können, deshalb ist nicht anzunehmen, dass es solche Einheiten 
gibt"; die Mechanik beruhe auf der .Bilderrede* von .Stoff, Atom, Druck und 
Stoss, Schwere* und sei in diesem Sinne eine zweckmässige .Semiotik*, w zu 
unserem Handgebrauch der Berechnung*. Vgl. XIV, S. 45 über .Atomistik*. 

Über die notwendige .Mythologie* der Kausatitätskategorie und die 
sich aus ihr ergebenden fiktiven Begriffe der Seele, des Atoms u. s. w. s, auch 
XIII, 60 ff.: hierher gehören auch .die fiktiven Einheiten* der Seelenvermögen 
S. 70. 

50* 



788 



Dritter Teil; Historische Bestätigungen 



überhaupt? Ist vielleicht alles Sein notwendig ein Vorstellen und damit ein 
fälschen? Jedenfalls muss unser Vorstellen, und damit auch der irrige, aber 
notwendige Glauben an das Unbedingte, «ableitbar sein aus dem Wesen des 
Esse» aus dem allgemeinen Bedingtsein* XI, 24/5. — Diese Frage spielt nun in 
der 3. Periode eine grosse Rolle und so stösst N. auf das Problem von Des- 
cartes vom betrügenden Gotte; die Irrtümlichkeit unserer Vorstellungswelt steht 
fest: „wir finden Gründe über Gründe dafür, die uns zu Mutmassungen über 
ein betrügerisches Prinzip im .Wesen der Dinge* verlocken möchten* VII, 54. 
„Sollte Gott doch ein Betrüger sein trotz Descartes?* XÜI, 10; »gesetzt, es gebe 
im Wesen der Dinge etwas Täuschendes, Betrügerisches ... so müssten wir ja 
als Realität an jenem betrügerischen, täuschenden Grunde der Dinge und 
seinem Grundwillen irgendwie Anteil haben . . .• XIII, 521, „Descartes ist 
nicht radikal genug. Bei seinem Verlangen, Sicheres zu haben, und ,ich will 
nicht betrogen werden', tut es not, zu fragen, warum nicht?" ib. 56, 68« 
»Ausgangspunkt: Ironie gegen Descartes; gesetzt, es gäbe im Grunde der 
Dinge etwas Betrügerisches, aus dem wir stammten, was hülfe es, de omnibus 
dubitaref Es könnte das schönste Mittel sein, sich zu betrügen 1 * XIV, 326, 
Daraus folgt: „der Wille zum Schein, zur Illusion, zur Täuschung ... ist 
tiefer, .metaphysischer*, als der Wille zur Wahrheit" ib. 369, und »der perspek- 
tivische, täuschende Charakter gehört zur Existenz* ib. 40; man darf .nicht 
vergessen, diese perspektivensetzende Kraft in das »wahre Sein* einzurechnen* 
XV, 321; „dieses Schaffen, Logisieren, Zurechtmachen, Fälschen ist die best- 
garantierte Realität selbst" ib. 281, so dass man versucht sein könnte, anzu- 
nehmen, es gibt nichts als vorstellende, d. h. fälschende Subjekte*. — An 
derselben Stelle fasst Nietzsche seine Lehre in die monumentalen Worte zu- 
sammen: „Parmenides hat gesagt, ,man denkt das nicht, was nicht ist' — wir 
sind am andern Ende und sagen: was gedacht werden kann, muss sicherlich 
eine Fiktion sein. - Vgl. die ganz ähnlich lautenden Stellen bei F. A. Lange 
(oben S. 764, 766) über den Wert des Nicht-Seienden, aber Gedachten, also des 
Scheins. Von diesem Standpunkt aus ist der Schein nicht mehr wie bisher von 
den Philosophen zu beklagen und zu bekämpfen (vgl. VII, 55), sondern der 
Schein ist, soweit er als nützlich und wertvoll, sowie als ästhetisch einwandfrei 
sich herausstellt, zu bejahen, zu wollen und zu rechtfertigen. Der „Perspektivis- 
mus* ist uns .notwendig* XV, 321. 



Diese Einsicht in die Nützlichkeit und Notwendigkeit der Fiktionen hätte nun 
sicherlich im Laufe der Zeit dazu geführt, dass Nietzsche auch die Nützlich- 
keit und Notwendigkeit religiöser Fiktionen anerkannt hätte. Man hat 
öfters die Frage aufgeworfen, wohin N. noch im Gange seiner Entwicklung geführt 
worden wäre, wenn nicht die vorzeitige Katastrophe von 1888 seine Entwick- 
lung abgebrochen hätte? Die Antwort ist: Nietzsche wäre mit Notwendigkeit 
darauf geführt worden, nachdem er die schlimme Seite der religiösen Vor- 
stellungen so schonungslos aufgedeckt hatte, auch deren gute Seite hervorzuheben 
und sie eben als nützliche, ja als notwendige Fiktionen wieder anzuerkennen» 
Es war auf dem besten Wege dazu. Schon oben fanden wir mehrere dahin- 
zielende Äusserungen, in denen er die historische Notwendigkeit die religiösen 



Der bewusstgewollte Schein bei Nietzsche. 



789 



Begriffs weit anerkennt. 1 ) Auch fanden wir oben S, 782 Anm, die ganz an Kant 
anklingende, merkwürdige Stelle, wonach der Mensch zwar nicht an die reli- 
giösen Voraussetzungen der bisherigen Moral glauben, wohl aber nach ihnen 
handeln und sie „als regulativisch nehmen sie also als regulative Fiktionen 
behandeln soll. Und eben dahin tendieren auch noch einige merkwürdige 
Äusserungen im Bd. XV: Nicht bloss erkennt N. an, dass dem religiösen .Wahn* 
eine „künstliche Verstärkung* verdankt wird (429), sondern er findet auch die 
„Spezies Mensch* arm geworden, die nicht mehr im Besitz der Kraft sei, 
solchen Wahn in die Wirklichkeit hineinzuinterpretieren, die nicht mehr im Besitz 
der Kraft »des Schaffens 8 ) von Fiktionen*, also „nihilistisch* 294. Und 
S. 34 heisst es in seiner outrierten Sprechweise: .Katastrophe: ob nicht die 
Lüge etwas Göttliches ist: ob nicht der Wert aller Dinge darin beruht, dass sie 
falsch sind? ob man nicht an Gott glauben sollte, nicht, weil er 8 ) wahr, 
sondern weil er falsch? ... ob nicht gerade das Lügen und Falschmachen 
(Umfälschen), das Sinn-Einlegen ein Wert, ein Sinn, ein Zweck ist?* Und in 
einem überaus merkwürdigen Aphorismus rechnet er es dem 19. Jahrhundert 



1) Besonders gehört hierher auch der schöne, wichtige Passus VU, 84 
bis 90, wo die Religionen als „Erziehuhgs- und Veredlungsmittel* eingehend 
gepriesen werden. Freilich stellt ihnen N. auch daselbst sogleich .die schlimme 
Gegenrechnung* auf für allen Schaden, den sie anrichten. Aber es heisst doch 
andererseits: »Vielleicht ist am Christentum und Buddhismus nichts so ehr- 
würdig als ihre Kunst, noch den Niedrigsten anzulehren, sich durch Frömmig- 
keit in eine höhere Scheinordnung der Dinge zu stellen* (vgl. oben auch ähn- 
hchlautende Äusserungen Kants). Diese Kunst entspringe freilich einem .Willen 
zur Unwahrheit um jeden Preis*, aber eben darum seien die homines religion 
.mit unter die Künstler zu rechnen, als ihr höchster Rang*, bei denen ja auch 
.der Wille zur Täuschung das gute Gewissen zur Seite hat 14 472. Selbst inrf 
„Antichrist" hat N. in diesem Sinne ein sympathisches Wort für den .grossen 
£ymboliker* Christus, und für den „ursprünglichen Symbolismus* des Christen- 
tums, dessen späteres, „schrittweise immer gröberes Missverstehen* er bedauert 
(VIII, 259-262). N. ist so wenig gegen solche Mythen, dass er einen .Mythus 
der Zukunft* verlangt XII, 400. Als Probe eines solchen Zukunfts-Mythus kann 
man den Gedanken von der „ewigen Wiederkunft* auffassen. Allerdings meinte 
ihn Nietzsche zuerst hypothetisch, dann dogmatisch, aber zuletzt scheint er 
selbst ihn nur als eine brauchbare Fiktion aufzufassen : in diesem Sinne sagt er 
selbst XIV, 295 von diesem Gedanken: „vielleicht ist er nicht wahr*. So hätte 
denn O. Ewald in seinem Nietzschebuch (.Nietzsches Lehre in ihren Grund- 
begriffen") das Rithtige getroffen, wenn er jenen Gedanken als eine pädagogische, 
regulative Idee fasst, wie dies auch G. Simmel tut. — Auch die Idee des „Ober- 
menschen" ist eine solche heuristisch-pädagogisch-utopische Fiktion; vgl. das 
oben S. 271 über eine gleichlautende Idee Liebmann's Gesagte. 

2) Dieses Schaffen, Logisieren, Zurechtmachen, Fälschen, Vereinfachen, 
Ordnen, Künstlich-Trennen, Dichten, Fingieren 279, 281, 291, .die perspektiven- 
setzende Kraft* 321 nennt N. S. 291 auch kurz, aber sehr bezeichnend „die 
irrtumwollende Kraft in uns, oder S, 293 „den Willen zur Täuschung*. 

3) Im Druck steht zwischen „er* und „wahr" ein „nicht*, das sich zwar 
auch im Manuskript findet, aber natürlich als Schreibfehler zu tilgen ist. 



790 



Dritter Teil: Historische Bestätigungen. 



als „Stärke" an, gegenüber dem 18. Jahrhundert, dessen „Gespenst* die Raison 
war, wieder „toleranter' gegen die Religion geworden zu sein; „wir ver- 
hehlen uns nicht die Kehrseite der schlimmen Dinge •: „die Intoleranz 
gegen den Priester und die Kirche" hat abgenommen; sogar der Einwand 
der Rationalisten: ,es ist unmoralisch, 1 ) an Gott zu glauben', „gilt uns als die 
beste Form der Rechtfertigung dieses Glaubens*, — weil eben die 
religiösen Fiktionen als Mythen*) ebensowenig mit dem Massstab der Moral als 
mit dem der Logik gemessen werden dürfen. 

Diese Ausseningen sind die Vorboten einer weiteren, letzten Entwick- 
lungsperiode Nietzsches, die durch seine Erkrankung abgeschnitten worden ist 
Nietzsche wäre unfehlbar auf den Weg gelangt, welchen der von ihm so sehr 
missverstandene Kant eingeschlagen hat, und auf welchem auch F. A. Lange 
wandelte, von welchem Nietzsche in seiner Jugend so stark beeinflusst war: 
er hätte den „Antichrist' nicht zurückgenommen, dessen einschneidende Wahr- 
heiten einmal gesagt werden mussten, aber er hätte „die Kehrseite der schlimmen 
Dinge* mit derselben rücksichtslosen Offenheit ans Licht gestellt: er hätte die 
Nützlichkeit und Notwendigkeit der religiösen Fiktionen „gerechtfertigt" 



1) Erläuterndes dazu s. VIII, 207. 

2) Auch nach XIII, 317 will N. # dass der Gottesglaube als „rührender 
Mythus* beibehalten wird. — Vgl. auch die Charakter istischen Äusserungen XIV, 
123, 259 über die „Notwendigkeit* der .erfundenen* religiösen Vorstellungen. 
— Zu Nietzsche's Erkenntnislehre vgl, noch die beiden gut orientierenden 
Schriften von R. Eisler, „Nietzsches Erkenntnistheorie und Metaphysik* (1902> 
und F. Rittelmeyer, „F.Nietzsche und das Erkenntnisproblem 14 (1903), 



Sachregister. 



Abbreviaturen 50, 392, 412 ff., 423, 558, 
781. 

Absolut 108, 114 ff., 271, 299, 340, 380, 
389, 393, 398, 461, 471 ff., 723, 762, 
766. 

Abstrakte Begriffe 383-398. 

Abstrakte Verallgemeinerung 76, 122. 

Abstraktion 28 ff., 54, 281, 339 f.» 346 ff., 
354 ff., 357 ff., 363, 372, 375 f., 377, 
379, 381 f., 383 ff., 399 ff., 402, 485, 
502, 506 ff., 574, 700, 724, 767, 771, 
774, 779. 

Abstraktive Fiktionen 28 ff., 121, 197, 
245, 343 ff., 357 ff„ 368 ff., 423 ff., 
480, 497, 636. 

Accomodation und accomodative Fik- 
tionen 661, 711, 721. 

Acta Sanäorum 374, 580. 

Ac 9i 374, 564, 587. 

Actio in distaw 170, 283, 455, 722* 

Adaequalitas 201, 528 f., 600. 

Aesthetische Fiktionen 129 f., 253, 773, 
780, 784 f. 

Aetherhypothese 55. 

Affinität 417, 431, 769. 

Agnosticismus 734, 755, 

Ahnen 597, 710, 754. 

Allegorien 235. 

Aligemeinbegriffe 28, 35, 53 ff., 119, 
139, 151, 173, 178, 183 ff., 196, 212 ff., 
226, 228, 254 ff., 329 f., 399—412, 
608, 774, 777, 785. 

Allgemeine Sätze 214, 330. 

Allgemeines Urteil 401 ff. 

Allgemeiner Wille 701 ff., 716 ff. 

Als ob 26, 30, 31, 32, 40, 41, 44, 46, 
48, 56, 58, 60, 6L„ 65 ff.. 67 f., 70, 
73, 84, 110, 113, 119, 130, 132 f., 
141 f., 145, 154 ff., 161 ff., 202 f., 
221 ff., 234, 237, 242 f., 244, 246, 
249 f., 253, 258. 259, 271, 275, 277, 



291, 307, 316, 322, 331, 335, 343 ff., 
351, 358, 375, 380, 384, 388, 406, 
411, 415, 423, 424, 431, 435, 446, 
4551, 457 ff., 479, 486 f., 508,515ff„ 
520ff., 530 ff., 536 ff., 568 ff., 572 ff., 
577, 578-591, 597 ff., 602, 605,609, 
61 4 ff. , 622, 630 ff., 638, 655, 679, 704, 
773 ff., 780 ff. 

Analogien 126, 130, 149, 155 ff., 209, 
212, 236, 249 f., 253, 312 — 319, 322, 
325 ff. , 486, 515, 522 ff., 537 ff., 548, 
557 ff., 584, 599, 631 ff., 641 ff., 651, 
653, 659ff., 672ff., 680, 686ff., 702ff. ( 
705 ff., 720 ff., 748 ff., 754 ff. 

Analogische Fiktionen 39, 42 ff. 

Annahmen 54, 55, 56, 58, 93, 124 ff., 
129 ff., 140 ff., 144, 146 ff., 150 ff., 
163 ff., 167, 172, 201, 221 ff., 239 ff., 
247 ff., 251 ff., 255 ff., 292, 301, 360 ff., 
367, 370 f., 3721, 396, 424, 428, 
430 ff., 469, 477, 483, 543, 586, 595» 
604 ff., 614, 619, 623, 629, 634 f., 
637 f., 644, 646, 648, 653, 656, 666, 
668 ff., 671, 674, 677, 679 ff., 700, 
703, 705 0., 710, 714, 715 ff., 720, 
726, 742, 767. 

Anschauungsformen 3. 

Anthropomorphismus 308 ff., 313 ff., 
322 ff., 325 ff., 378, 391, 612, 633 ff., 
640ff., 648, 656, 659ff., 665ff., 673ff., 
677, 709, 712, 714, 732, 748 ff., 
754 fi, 774, 783. 

Antinomien 172, 186, 398, 476, 607. 

Anziehungskraft 413, 419, 426, 614, 
731. 

Apagogischer Beweis 165, 243, 246. 

Apperzeptionsprozesse Iff., 21 ff., 40, 
44, 46, 49, 50, 51, 74, 98, 127 f., 
130, 155 ff., 161 ff., 164, 168, 210, 
219 ff., 297 ff,, 308 ff., 318 ff., 325 ff., 
378, 401, 479, 486, 491. 



792 



Sachregister* 



Approximation 35. 

Arbeitshypothesen 713, 782. 

Argumentum ab utili 616, 709. 

Ars inventendi 190. 

As if 458, 587. 

Atheismus 733—753. 

Atome 24, 31, 37, 74, 92, 99, 101 ff., 
127, 150, 157, 162, 166, 172, 227, 
280, 284, 429-451, 477, 6051, 722, 
767 ff. t 781 f., 784, 787. 

Auferstehung Christi 665. 

Aufklärung 735, 748, 761, 783. 

Aussanwelt 121. 

Begreifen, Theorie des, 42 f., 49, 74, 
75, 92, 94, 100, 113, 117, 128, 139, 
148, 155 ff., 209 ff., 261, 303, 305, 
307 ff., 315 ff., 317 ff., 322, 326 ff., 
378, 390, 401 ff., 479, 490, 500, 609. 

Begriffe, abstracte 383-398. 

Begriffssystem 28, 35, 410, 512. 

Beharrendes Ding 776 ff. 

Bellum omnium contra omnes 29. 

Bewegung 107. 

,Bewusstsein überhaupt* 5, 72, 75, 78, 

122, 270, 635, 671, 700. 
Bibel 720. 

Bilder 466, 565, 606, 612, 657, 663, 
672, 675, 691, 709, 711, 713» 729, 
754, 759 ff, 768, 781, 787. 

Biologie IX. 

Botanik 26 ff, 331 ff., 424. 

Cartesianische Lebensgeister 57. 
Cartesianische Wirbel 55. 
Causa vera, causa ficta 57. 
Centra ifidiva) 30, 458, 636, 642. 
Chaos 372. 

Chemie 35, 51, 52, 262, 417 ff, , 430 ff, 

Code Napoleon 258. 

Comme H 74, 155, 163 ff, 260, 374, 

383 f, 479, 562, 579 f, 587, 769. 
Continuitätsproblem 556, 561, 569, 

614 ff, 699. 
Corpus mysticum 636. 

Daimonion des Socrates 41. 
Darwinismus 37, 57, 66, 145, 370, 605. 



Deduktion 22, 30, 37 f, 44, 122, 126, 

163, 343 ff, 355, 360. 
Denken als organische Funktion 1—12, 

106, 171, 218, 223, 290 ff. 
Denken s. «Praktische Betrachtung des 

Denkens". 
Denkmittel 392. 

Determination, fiktive 340, 447, 469, 
492, 567 ff. 

Dichtung 68, 756 ff. 772. 

Differentialrechnung 17, 73. 83 ff, 102, 
104, 127, 135, 150, 153, 156, 161, 
188, 190, 201, 204 ff , 227, 246, 273, 
433, 438 ff, 453, 511-532, 554 ff. 

Ding s. Substanz. 

Ding an sich 24, 83 ff, 109 ff, 119, 
184, 192, 226, 266 ff, 270, 273,282, 
722—724, 756, 779, 786. 

Diskursives Denken 138 ff, 160, 187, 

191, 192, 201, 206 f., 211 f, 228, 
265 ff-, 272, 286, 302, 308, 327, 
395 ff, 408, 504, 610, 708. 

Dogma 219 ff, 511, 602, 660, 679. 
Doppelbegriffe 117 f., 393. 
Dreieinigkeit Gottes 666, 709, 728. 
Durchgang durch das Unendliche 180, 
520 ff. 

— durch das Imaginäre 229. 
Durchgangspunkte des Denkens 170, 

180, 219, 283, 407. 
Durchschnittsfiktionen 34, 456, 624. 
Durchschnittsmensch QuStelets 35. 

Egoismus 29 f., 163, 194, 344 ff, 607. 
Eid 142, 702, 719, 733. 
Eigenschaft 209 f. 
Einbildungskraft s. Phantasie. 
Einfache Fälle 37. 

Einteilung, künstliche 24 ff, 53, 56, 
157, 185, 195 ff, 209, 328-337, 405, 
646. 

Empfindungen 96, 115, 176 ff, 185 f, 

192, 267 ff., 278, 287, 289, 315 ff, 
323 ff, 379 f. 

Englische Rechtsfiktionen 257 ff, 695, 
697, 702. 

Entgegengesetzte Fehler 94 ff, 281, 

304, 382, 384, 568. 
Entgegengesetzte Operationen 352. 



Sachregister 



793 



Erdichtungen 699, 713» 729 ff, 777 ff. 

Erfindung (im Gegensatz zur Ent- 
deckung) 150, 190, 409 f. 

Erkenntnis 42, 52, 100, 287, 302 ff., 
308 ff., 314, 390, 394. 

Erkenntnis (praktische im Sinne Kants) 
704, 711, 718 ff., 726 ff. (s. auch unter 
„Praktische BetrachtungdesDenkens." 

Erkenntnis, sekundär 6 ff. 

Erkenntnistheorie 20, 23, 42, 90, 94, 
154, 158, 181, 191, 265 ff., 276 ff., 
286-327, 379, 446 f., 485. 

Ethische Fiktionen 59 ff., 142, 374, 425, 
571 ff., 637, 646, 647 ff., 656 ff. 

Ewiger Friede 656, 703. 

Existentialsätze 130 f., 167, 727, 731. 

Fabein 353. 

Fagon de parier 641, 675, 696, 704, 725. 
Fälle, einfache 37, 345, 373 f., 425, 771. 
Fälle, fingierte 38, 246, 429. 
Fälle, ideale 373, 594. 
Falsum s. Regula Falsi. 
Fehler, (Methode der entgegengesetzten 
Fehler) 194 ff., 281, 304, 533 ff., 557. 
Fester Punkt im Weltraum 461 ff. 
Mgmenta 401. 

Fiktion 18 f., Semifiktionen 24, 123 ff., 
153, 156 ff, 172 ff, 195 ff, 203, 607, 
776, Aufzählung und Einteilung der 
Fiktionen 25 ff, Definition der F. 65, 
82, 94, 125, 127, 129 ff., 140 f, 143 ff, 
253, 255, 257 f, 262, 305, 444 ff, 449, 
481, 483, 489, 508, 521, 571, 592ff, 
andere Ausdrücke für Fiktion 169ft 
Merkmale der Fiktion 143 ff, 171 ff.! 
606 ff, Theorie der Fiktionen 175 ff, 
bei Lotze 187 ff. 

Fiktion im tadelnden Sinne 54, 64, 
129 f, 254 f., 256, 265, 275, 281, 
284 f, 401, 476 ff, 577, 699, 729 ff, 
785 ff. 

Fiktives Urteil 130. 163 ff, 167 ff.. 344, 

592- 603. 
Fiktive Werte 291 f, 397. 
Fläche 71, 506 f, 532 ff, 600. 
Fluxionsrechnung 204 ff., 227, 260, 

539 ff., 546 ff. 



Fortschrittsidee 696, 719. 

Freiheit 59 ff, 143, 162, 167, 198, 229, 
572 ff, 584, 622, 636, 646, 647 ff, 
655 ff, 712, 714 f, 731, 773, 779, 785. 

Freiheit, intelligible 65, 66, 108, 227. 

Ganzes und Teile 312 ff. 
Gattungsnamen 329 f, 337. 
Gebet 65, 666 ff. 

Gegenstand 676, 715, 722, 724, 729, 
768. 

Gemeinschaft der Heiligen 575 ff, 636. 
Geometrie, analytische 70 ff , 82 ff., 

113, 199, 260. 
Geometrische Grundbegriffe 69ff, 245, 

346, 506-511. 
Gericht, jüngstes 719, 721. 
Geseke 417 ff. 
Gestalttypus 400. 
Gewissen 693, 705 ff, 739 ff. 
Glauben (bes. im Sinne Kants), 450, 

638, 658 ff, 665, 666, 677, 679 ff, 

683 ff, 702, 707 ff, 717, 727 ff, 

732 ff, 738 ff, 741 ff. 
Glaube (praktischer) 741 ff. 
Gleichheitscentren 407. 
Gleichnisse 155 ff, 224 ff, 234. 
Gleichsam 631, 673, 680, 693, 706, 

712, 720 f. 
Gnade 689. 

Gottesidee 38, 40, 51, 65, 66, 223, 229, 
620 ff, 623 ff, 629 ff, 637 ff., 640 ff, 
651 ff, 660 ff, 676 ff, 687 ff, 703 ff, 
712, 714 ff, 716, 718, 720 ff, 724— 
733, 735 ff, 786, 789 f. 

Gottesbeweis, moralischer 731 ff, 735, 
741. 

Gottesgnadentum 701. 
Grammatik und Logik 154 ff. 
Grammatik, vergleichende 375. 
Gravitation 50, 56, 413. 
Grenzbegriff 73, 109, 145, 170, 546 ff, 
756. 

Grenze 73, 135, 489, 501 ff, 506 ff, 

545 ff, 551 ff, 553 ff, 560 ff. 
Grenzfälle 528 f. 
Grenzlinien 405, 411. 



794 



Sachregister. 



Gültigkeit, praktische 628 ft, 658, 662, 
679, 718. 

Handhabe 444. 

Heuristische Fiktionen 26, 54 ff., 170, 
190, 197, 226, 263, 274, 361, 619 ff., 
626 ff., 633, 676, 699, 704, 706, 711, 
724, 733, 770. 

Hilfsbegriffe 19 ff., 87 ff., 105 f., 148, 
156, 166, 169 f., 230, 264 ff., 270, 
278, 282, 285, 308, 324, 372, 378, 
379 ff., 381, 390, 408. 412 ff., 429, 
435, 441, 447, 449 ff., 452, 455, 467 f., 
508, 518 ff., 534 ff., 552, 575, 609 ff., 
614, 619, 637, 644, 662, 671, 679, 
699, 722, 747, 767, 770, 771, 777 f., 
782 ff. 

Hilfsformeln 359 ft 

Hilfsgrössen 202 ff. 

Hilfskugel 73. 

Hilfslinien 84 ff., 125, 167, 169, 203, 

260 f., 276, 338, 567 ff., 770. 
HÜfsmethoden 260, 609. 
Hüfsoperationen 322, 327, 337, .347, 

391, 467. 

Hilfsworte 51, 388 ff., 397, 406, 412, 
415, 418 ff. 

Himmelfahrt 665. 

Hirngespinste 762 ff. 

Hölle 657 ff., 6601, 745. 

Komme moyen 35, 456, 670. 

Homo alalm 368—372. 

Humanismus, pragmatischer 714, 783. 

Hypostasierung 50, 121, 376, 380, 385 ff., 
404, 421, 451, 460, 474, 506, 625 ff., 
658, 715, 756, 771. 

V7i6*em 58, 240 ff., 256, 361, 711. 

Hypothese im Unterschied von Fiktion 
27, 29, 30, 32 f., 34 f., 39, 41 t f 
441, 48, 51, 55, 56, 60, 63, 65, 73, 
75, 76 f., 85, 102 f., 113, 124 ff., 
130 f., 142, 143 ff., 154 ff., 163, 165 ff., 
173, 175, 219 ff., 231 ft, 245 ff., 251 ff., 

261 ft, 271 ff., 283, 322, 326, 333, 
344 ff , 355 ff., 360 ff., 366 ff., 370 ff., 
373, 375, 395, 402, 406, 414, 428, 
443 ff., 449 ff., 452 ff., 467, 469, 480, 



541 ft, 565, 598, 601, 603-612, 616, 

619 ft, 648, 700, 782. 
Hypothetisches Thier Lotzes 31, 366 

bis 368. 
Hypothetisches Urteil 167 ff. 

Ich 33, 84 ff., 769, 778 ff., 785 ft 

Ideal 41, 64 f 67, 624 ff. 

Ideal, Standpunkt des 41, 67, 753. 

Ideale Fälle 34 ff., 373. 

Ideale Darstellungen (Bilder) 37, 39. 

Idealer Typus 145. 

Idealdinge 473 ft 

Ideale Fiktion 253, 259, 260, 708. 

Idealstaat 234, 259. 

Idee 39, 65, 67, 102, 146, 170, 226, 
604, 619 ft, 680 ft, 719 ft, 729 ff. 

Ideen, platonische 226. 

Ideenverschiebung (Gesetz) 219 ff., 273, 
353, 373, 415, 422, 602, 691, 754, 762. 

Illusion 771 ff. 

Illustrative Fiktionen 36, 39, 235, 426 ff., 

451 ff., 469. 
Imaginäre Zahlen 81 ff., 104, 110, 113, 

180, 260 p 488, 562 ff., 571. 
Imaginäres 61, 65, 66, 71, 397, 452, 

457, 473, 475 ff. 
Imagination s. Phantasie. 
Imaginative Gebilde 271. 
Individuum 779. 

Induktion 22, 124 ff., 342 ft, 354, 360. 

Infinitesimalrechnung 17, 156, 166, 170, 
282, 484, 524 ft, 548 ff., 554 ff, 600, 

Infinitesimalfiktion 510, 532 ff., 607 ff. 

Instar 704, 717, 725. 

Instrumentalismus (das Denken und 
seine Begriffe als Instrumente) 5 ff., 
22, 82 ft, 88, 93, 94 ff., 101, 126, 
135 t, 150, 171, 174, 176, 178, 193, 
216, 249, 256, 289 f f., 294 ff., 394, 
404 ff., 411, 543 ff., 560. 

Intellektuelle Anschauung 43, 228, 268, 
270 t, 634, 675, 678, 770. 

Intelligible Welt 637 ff., 648 ff., 652 ff., 
717, 757 ff. 

Interimsbegriff 448 ff. 

Intermediäre Begriffe 465, 568. 



Sachregister. 



795 



fnterpretatorische Fiktionen 664, 690, 
692, 721. 

Intuitive Erkenntnis 43, 139, 675, 770. 

Isolierung 34, 37, 72, 121, 215, 304, 
349, 353, 363, 365 f., 372 ff., 376 f., 
399, 447, 501, 510, 774, 777. 

Irrationale Zahlen 81 ff., 104, 122, 488, 
539, 566, 571, 711, 716. 

Irrtum 165. 

Jungfrauengeburt Christi 661, 721. 

Juristische Fiktionen 35, 46 ff., 70 f. 
80, 122, 129, 157, 164, 167, 169, 
187, 197, 234, 244, 249 ff., 255 f., 
257 ff., 2811, 375, 611, 642 f., 695, 
697 ff., 716 ff. 

Juristische Personen 257 ff., 611. 

Justifüierung (Rechtfertigung) einer 
Fiktion 150 ff., 1901, 207, 609, 627. 

Katalytische Kraft 52. 

Kategorien 3ff, 41 ff., 77,98, 106, 111, 

113, 117 f., 338, 150, 151, 174, 183 ff., 

189, 209, 227 f., 248, 269, 272, 278, 

285, 287 ff., 297-327, 339, 379, 619, 

673, 714, 729, 786. 
Kategorien, ethische 160, 19h 
Kategorischer Imperativ 650, 653 ff., 

71 9, 726 ff., 731 ff., 735 ff, 742 ff. 
Kausalität 4, 44, 451, 51, 55, 84 ff., 

111, 210, 268, 308 1, 3171, 756, 777, 

782, 784, 787. 
" Kegelschnitte 512 ff. 
Kirch«, unsichtbare 575 ff. 
Klassifikation, kflnstliche25 ff. ,328-337. 
Kniffe 548 ff. 

Körper Alpha 105, 115, 184, 461 ff., 
492. 

Komprehensionaltheorie 42, 158 fl, 184. 
Konstitutionelle Fiktionen 695, 780. 
Kontrastfiktion 79. 

Konventionelle Fiktionen 142, 2911, 
317, 339, 459, 470, 714, 716, 767, 
780, 782. 

Korrektur, Methode der 51, 52, 85,98, 
1191, 127, 129, 152, 173, 187, 194 ff., 
218, 268, 304, 312, 323, 336, 350 ff, 
3531, 3591, 373, 378, 382, 3951, 



4161, 423, 469, 471, 491, 515 ff, 

521 ff, 527 ff., 577 ff., 769. 
Koordinaten 260. 
Kopula 601 fl 

Kraft 50, 120, 315, 339, 376 ff, 413 fl. 

417 ff, 426, 460, 763. 
Kraftlinien 451 ff, 771. 
Kritizismus 290 ff, 317, 324, 340, 4M, 

735, 748. 

Kritischer (idealistischer) Positivismus 
89 ff. 

Kunstgriffe des Denkens 15 ff, 26, 29, 
34, 41, 46, 48, 50, 68, 71, 76, 78, 
82, 94, 107, 112, 122, 158, 170, 171, 
200 ff, 203, 207, 218, 260 fl, 270 ff, 
276, 279, 282, 307 ff, 318, 323, 328, 
331, 337, 343 ff., 362, 372, 378, 383, 
397, 399, 402 ff., 416, 422, 437, 456, 
465, 486, 517 ff., 533 ff, 539 ff, 548, 

562, 574, 614, 669. 
Kunstregeln des Denkens 15 fl 

Lebenskraft 51, 376, 386, 413. 

ünne'sches System 26. 

Linie 71, 245, 346, 506 ff., 533 ff, 600, 

776 ff, 783. 
Linien, krumme als gerade betrachtet 

155 fl, 161 ff., 166, 260, 443 fl, 519 ff., 

587, 601, 608. 
Linie, kürzeste 26 L 
Linie, starre 105. 
Listen des Denkens 159 ff, 170 f. 
Logik als Kunstlehre 12 ff., 461 
Logik auf fiktiver Basis 54, 410 ff, 512, 

563, 710, 715, 766, 777, 7851 
Logischer Optimismus 63, 68. 
Lüge 707, 773, 7751, 779, 786, 789. 

Materialismus 315, 379 ff, 763 ff, 770. 

Materialismus, praktischer 346. 

Materie 91 fl, 315 1. 379 ff, 763 ff, 770. 

Mathematik 35 f , 46 1, 56, 58, 60, 68 ff, 
76 fl, 116 ff., 1201, 1731, 195, 198, 
200 ff, 23d, 259 ff, 397, 4161, 437 ff , 
471 fl, 494 ff, 533«, 611, 618, 642 ff, 
692, 720, 770, 777 ff, 783. 

Mathematische Physik 105 fl 

Mechanik 30 ff, 105 ff, 262, 358 ff, 425, 
451 ff, 614, 777 ff, 782, 787. 



Sachregister. 



796 

Mechanik des Denkens 176 ff. 
Mechanische Weltanschauung 3 15, 7631f, 

782. 
Medizin 35. 

Mensch, absolut gesunder 35. 
Mensch, der isolierte 35* 
Meridian v. Ferro 35, 
Messen 261 f., 346. 
Metaphern 441, 631, 773 ff. 
Metaphysik des Als-Ob 787 t 
Meteorologie 35, 456. 
Methodische Fiktion 263. 
Methodologie 12 ff., 15 ff., 180 ff. 
Mineralogie 332. 
Mittelwerte (chemische) 35. 
Mittelzahlen 34. 
Modalität des Urteils 167. 
Modelle 37. 
Modus diccndi 696. 

Möglichkeit als Fiktion 44, 236, 376, 
378, 386 f., 474 ft, 482 ff., 769. 

Monadologie 645. 

Moralisches Gesetz 637. 

Moralische Weltordnung als Fiktion 66, 
110, 684, 738 ff., 756. 

Mystik (mathematische) 518 ff., 541 ff., 
638, 655. 

Mythus 39, 41, 102, 130ff t . 224 ff.. 234f., 
317, 613, 661, 691, 713, 756, 758 ff., 
764 ff., 772 t, 775, 781, 786, 789 t 

Nationalökonomische Fiktionen 29 ff. 

(Ad. Smith), 37 t (Thünen), 291, 341, 

bis 354. 
Naturgesetze 417 t, 777. 
Naturzustand 700. 
Negative Zahlen 81, 566, 617. 
Neglektive Fiktionen 28 ff., 123, 197, 

343 ff., 358 ft, 372 f. 
Nominalfiktion 51, 412 ff. 
Nominalismus 53 ft, 196, 213, 254 ff., 

337, 390, 400 it, 422. 
Notlüge 773. 
Noumenon 654 ff. 

Niitziichkeitsstandpunkt im Denken 709. 
Nullfälle 80, 199, 393, 501 ft, 506 t, 
5141t, 534 ff., 556, 642 t 

Offenbarung 664, 690, 692, 720. 
Offizielle Fiktionen 142. 



j Optimismus, logischer 63, 68, 290 ff., 

293 ff., 774. 
Optik, menschliche 776, 777, 780. 
Organik des Denkens 1—12, 106, 171, 

177, 218, 223, 290 ft 
Organische Funktionen 1 ff. 

Paradigmatische Fiktionen 36, 197, 242, 
259. 

Parallelenaxiom (1 1 . Euklidisches Axiom) 
528. 

Parallelismus des Physischen und Psy- 
chischen 57, 263, 339. 

Partikeln 154 ft, 161 H. 

Personifikative Fiktionen 50 ff., 138, 
218, 377 t, 391, 406, 625, 657, 661, 
686 ff., 703, 705 ft, 712, 717 ft 

Perspektivismus 780 ff. 

Pessimismus Kants 707, 735. 

Pessimismus, logischer 290 ft, 294 ft, 
318, 774. 

Pflicht 66, 143. 

Phantasie 50, 51, 67, 68 t, 74 t, 77 ff., 
81, 88, 115, 121, 125, 128, 129 ff, 
169, 256, 304, 322 f., 325-327, 376, 
386, 413, 416, 426, 430, 469 1, 487, 
502, 506 ft, 569, 589, 609 ft, 667, 
699, 714, 764, 767 ft, 781. 

Physik (theoretische) 30 ff., 105 ft, 262, 
357 ft, 417 ft, 444 ft, 451-471, 636, 
642 ft, 692, 781 f. 

Phraseologische Fiktionen 725. 

Positivismus 89, 138. 

Positivismus, kritischer (idealistischer) 
89, 114, 138, 174, 216, 249, 255, 
285 t, 295 ft, 318, 617, 735. 

Postulate 154, 245 t, 255, 473, 576, 
586, 646, 656, 677, 682, 710, 725, 
726, 730 ff. 

Praesumtio juris 256, 258, 715. 

Pragmatismus, kritischer 681, 713, 719, 
726, 760 ft 

Pragmatismus unkritischer 760 ff. 

Praktische (pragmatische) Betrachtung 
des Denkens 5 ff, 22, 33, 49, 85, 
89, 94, 176, 179 ft, 274, 289 ff, 
295 ff, 303 ft, 305 ff, 311 ff., 320- 324, 
389 ff, 404 ff, 414 ff, 420, 423, 440, 



Sachregister 



797 



444, 521, 527, 542 ff., 548, 556, 559, 
571, 589, 594 ff., 599 ff., 603, 608, 
623, 629, 636 ff., 646, 647 ff., 653 ff., 
657 ff., 660 ff., 665 ff., 679 ff, 681 ff , 
685, 689, 696 ff., 699, 701, 704 ff., 

710, 713 ff., 715, 7 18 ff., 720 ff, 725 ff., 
731 ff., 735 ff., 738 ff., 786 f. 

Praktische Fiktionen 59 ff., 142, 272 f., 
571 ff. 

Praktischer Glaube im Sinne Kants s. 
unter Glauben« 

Praktische Realität (im Sinne Kants) 
620, 628 ff, 653 ff., 658 ff., 662, 665, 
677, 680, 687 ff., 694, 698, 701, 709, 

711, 714, 717 ff., 730 ff, 735 ff. 
Problematisches Urteil 163, 166, 167, 

252, 593 ff. 
Provisorische Fiktionen 339, 347, 376, 

381, 394, 416, 430, 443, 448 f., 468 f., 

484 f, 568 ff., 747. 
Psychik (theoretische Psychologie) 359 ff. 
Psychologie 374. 
Psychologismus 494. 
Ptolemäisches Weltsystem 55, 226, 254. 
Punkt 71 f, 438, 443, 451, 457, 459, 

461 ff., 506 ff., 533 ff, 547, 599, 600, 

636, 716, 778. 

Quasi 537 ff, 541 ff, 545, 547, 565, 

603, 715, 721. 
Quatenus 264, 718. 

Rationalismus 748. 

Raum 71 ff, 88, 172, 270, 358, 386, 
433, 446 ff, 461 ff, 471-506, 545 ff„ 
614, 618, 626, 643 ff, 722, 770, 778. 

Räume, mehrdimensionale 76 ff, 261. 

Realität, praktische s. unter »praktisch*. 

Rechtfertigungsidee (relig.), 660, 688. 

Reflexionsurteil nach Kant, identisch 
mit dem fiktiven Urteil 669. 

Regula Falsi 395, 566, 769. 

Regulative Fiktionen 56, 170, 620 ff, 
626 ff, 633 ff, 660, 668, 671, 674, 
677, 706, 716, 782 ff, 785 ff., 789. 

Reich Gottes 578, 662, 721, 737 ff. 

Relativismus 380, 398, 446, 500, 603, 
629. 



Religiöse Fiktionen 40 t, 130, 225 f, 
235, 450, 578, 601 ff, 647 ff, 656 ff, 
665 ff, 680 ff, 688 ff, 695, 718 ff, 
721 ff, 728 ff, 735 ff, 754 ff, 773, 
775, 788. 

Religion des Als-Ob 690 ff, 704, 717 ff, 

732 f, 733-753. 
Repräsentative Fiktionen 284, 440, 453, 

544, 787. 

Rhetorische Fiktionen 38, 165, 236, 
241 ff, 246 ff, 251 ff., 429, 590, 641, 
667. 

Robinsonaden 365, 
Satz 401. 

Schein, bewußter 771-790. 
Schein, logischer 191 ff, 229. 
Schein, optischer 191, 229. 
Scheinbegriffe 170, 191, 207, 215, 229. 
Schemprobleme 160, 311, 711. 
Schema 36. 

Schematische Fiktionen 29, 36, 56, 145, 

157, 197, 236, 357, 365, 373, 423ff, 

428, 505, 605, 614, 624. 
Schematische Zeichnungen (Bilder) 36, 

424, 611, 624. 
Schwerpunkt 31, 105, 109, 283, 445, 

457 ff., 564. 
Seele 50, 413 ff, 620 ff, 623 ff, 635 ff, 

718 ff., 783. 
Seelenvermögen 50, 413 ff. 
Semifiktion s. Fiktion. 
Semiotik 416. 

Simplifikation s. Vereinfachung. 
Simplifikatorische Fiktionen 31. 
Skeptizismus 214, 219, 294 ff, 309, 316. 
Sohn Gottes 719. 
Sozialkontrakt 695. 
Speziesfrage 54. 
Spielbegriffe 396, 610. 
Sprachwurzeln 33. 

Sprechen und Denken 53, 54, 120, 154 ff, 
211, 260, 268, 300, 305 ff, 319 ff, 
326, 376 ff, 388 ff, 400 ff, 580 ff, 
777. 

Staat 37, 427. 

Staat, platonischer 38. 

Staatsvertrag 37, 49, 198, 227, 257 ff . 



798 



Sachregister. 



Staatswissenschaft 354 ff. 
Standpunkt des Ideals 41, 67, 753 bis 
771. 

SUrre Linie 105. 
Statistik 35, 456. 

Statue, Condillac'sche 31, 362—366. 
Stilistische Fiktion 241, 254. 
Subjekt 33, 779, 785. 
Subjekt-Objekt 84 ff., 114, 118, 266 ff., 
272 f. 

Substanz 33, 42, 44, 50, 91 ff., 1051, 
151, 190, 210, 228, 272, 286ff.. 297, 
299«., 3041!., 340, 376, 386, 402, 

406, 412, 462, 485, 610, 673» 714, 
749, 752, 756, 766 ff., 769, 776 ff-, 
787. 

Substitution 121, 170, 259, 331, 397, 

407, 412 ff., 445, 456, 460, 504, 564. 
Subsumtion, unberechtigte 528. 
Subsumtionstheorie des Urteils 410 f. 
Sündenfall 661. 

Summatorische Fiktionen 51, 53 ff-, 119, 
376, 399 ff.. 408, 412 ff., 422, 

Syllogismus 212, 24S, 254. 

Symbole 119 f., 259, 416, 452, 455, 
530 ff., 603, 745 ff., 759 ff. 

Symbolische Erkenntnis 43, 137, 236 f., 
639, 641 ff., 648, 655, 659, 661, 664 ff., 

672 ff., 680 h\, 691 iL, 708 ff., 711 ff., 
714, 719 ff. , 745 ff., 754«., 758ff., 789. 

Symbolische Fiktionen 39 ff., 65, 66, 
317. 

Synthesis 756, 766 ff. 
Synthetische Urteile a priori 724. 

Tangentenproblem 526. 

Tanquam 544, 547, 556, 599, 614, 

725 ff., 73h 
Tautologien 51, 413. 
Technik des Denkens 180fi. f 442, 768. 
Teilung, künstliche 337—341. 
Teleologie als Fiktion 55 ff., 226, 668 ff., 

673 ff., 744, 770, 784. 
Tentahve Fiktionen 361 f. 
Teufel 6571!., 661, 663, 718, 745. 
Theologische Fiktionen 40 ff., 131, 234, 

578, 612, 656 ff., 660. 



Trennen, künstliches 348, 372 ff., 383, 

390, 502 f., 722. 
Tropische Fiktionen 39, 50, 137, 149, 

153, 157, 234, 263. 
Typische Fiktionen 36 ff., 145, 197, 253. 

Obermensch 271, 789. 

Übertragungsfiktionen (Methode der 
unberechtigten Übertragung) 80 ff., 
110, 122, 156, 160, 191 f., 199, 260, 
299, 371, 445, 487 f., 515 ff., 519, 
534 ff„ 556, 570 p 576, 586, 673. 

Unbcwusstes Denken 9, 13, 19, 178. 

Unendlichkeitsbegriff 34, 82 ff., 87 ff., 
104, 114, 123, 172, 180, 182, 206 ff., 
228, 233, 261 f., 282, 622. 

Unendlich-Grosses 517 ff. 

Unendlich-Kleines 170, 201, 207 f., 261, 
501fr, 511-532, 534-567, 600, 
609, 617, 642 f. 

Unmögliches 397, 644, 734, 743 ff. 

Unsichtbare Kirche 575 ff. 

Unsterblichkeit 66, 226, 597, 623, 636, 
677, 719 ff., 758, 

Urform 38. 

Urpflanze 38 f., 604, 

Urstaat 38, 

Urteil, fiktives 130, 155 ff., 163 ff., 167 ff., 
344, 534, 558, 592- 603, 605fr\, 647, 
669. 

Urteil, hypothetisches 167 ff. 

Urteil* problematisches 163, 166, 167 ü., 

593 ff. 
Urteil, negatives 593. 
Urteilstheorie 97, 118, 138, 167, 210, 

214 f., 301, 304 ff., 312 ff., 389, 401, 

410 f. 
Urtier 39, 145, 604, 
Utopische Fiktionen 36 ff., 197, 234, 

259, 353, 620, 651. 

Vehikel 327, 336, 414, 665, 691, 692, 
709, 715. 

Verallgemeinerung, abstrakte 76, 261, 

269 f., 556, 643. 
Verbalfiktion 412. 

Vereinfachung, künstliche 25 ff., 28 ff., 
76, 331, 343 ff., 354, 358, 363, 365, 



Sachregister. 



709 



381, 3Q7, 423, 456, 458, 461, 515, 
527, 777, 779, 781, 784, 787. 

Verfälschung der Wirklichkeit 290 ff. 

Vergleichen (Theorie desselben) 151 ff., 
584, 663. 

Verrnirtiungsbegriffe 516 ff., 520 fl., 
529 ff., 534 ff., 563, 573, 577 f., 600. 

Vertragsfiktion 37, 49, 198, 227, 258 f., 
693 ff., 700 ff. 

Voluntarismus IX. 

Vorsehung 687, 695, 709, 713, 720, 

Vorsprachlicher Zustand des Menschen 
34. 

Vorstellungswelt 175, 180 f., 193, 216, 
239, 264, 278, 291 ff. 

Wahn 771 ff., 775. 

Wahrheit 4 ff., 21 ff., 45, 64, 68, 96, 98, 
100 f., 104, 112, 133, 136, 138, 143, 
149f., 167, 188 ff., 192f.,216ff., 294, 
314, 321, 326 ff., 348, 440, 444, 556, 
557 ff., 564, 599, 603, 610, 617, 618ff., 
627, 657, 659, 679, 683 ff., 709 r 711, 
714, 716 ff., 737, 759 ff., 762, 774, 
775 f., 779, 780 ff., 783 ff. 

Wahrheit, doppelte 613, 627, 657, 674, 
704, 709, 711, 714, 732 f., 760 ff. 

WabrscheinJichkeitslebre 73 f. 

Weiser, Ideal des 703, 712. 

Welt, empirische im dreidimensionalen 
Räume als Fiktion 23, 88 ff., 91 ff. 
136, 175, 216, 239, 379 ff. 

Welt, intelligible als Fiktion 637 ff. 

Weltgeist als Fiktion 38, 78, 675, 
760. 

Weltordnung, moralische als Fiktion 66, 
110, 637. 

Welträtsel (scheinbare) 52, 152, 160, 
191, 310 f., 398. 



Werte 765 Ff. 
Wesen 322, 340. 

Widerspruchsvolle Begriffe (ihr Recht, 
ihr Nutzen und ihre Notwendigkeit) 
155ff., 170, 172ff., 186ff., 192, 194ff„ 
204 ff., 215, 218, 233, 242, 261, 278, 
323 ff., 338, 345, 386 f., 394, 396, 
398, 410 f., 449 ff., 472, 475 ff., 494, 
501, 504 f., 506 f., 513 ff., 520f., 
530 f., 542, 548, 550, 553, 555, 560, 
563, 571, 576, 578, 594, 605, 607 f., 
644 ff., 681 ff., 684, 692, 711, 716, 
722 , 726 , 734 , 743 ff., 768 f., 778, 
783. 

Wiederkunft, ewige als Fiktion 789. 
WiUe zum Begreifen 158 ff. 
Wille zum Schein 771-790. 
Worte 400 ff. 
Wunder 711, 719. 

Zahlensystem 72, 81 ff. t 783. 

Zeichnungen, schematische 37« 

Zeit 35, 71 f., 88, 386, 426, 468, 474, 

489 f., 500 f., 778. 
Zerlegungsfiktionen 116, 278, 302, 372, 

382, 568 ff., 614, 771, 779. 
Zufall 73. 

Zufällige Ansichten {Herbarts) und ihre 
Verwandtschaft mit Fiktionen 260, 
264 , 275 ff., 282, 334, 369, 447, 
537 ff., 545 , 565 , 570, 645 , 650, 
668, 675, 746, 752. 

Zusammenfassungsfiktionen 53 ff., U9f. 

Zweckmäßigkeit de* logischen Funk- 
tionen 1-13, 17, 19, 65 ff., 68, 82, 
90, 99 f., 123, 135 ff., 144, 152, 171, 
172, 174 ff., 177, 191, 218, 249,256, 
320 , 332, 609, 627 ff., 657«., 681, 
692, 698, 715, 718, 752. 



Namenregister. 



Abubacer 365. 

Aenesidem-Schulze 109, 111, 166, 190, 
Agrippa v. Nettesheim 294. 
d'Alembert 149, 334. 
Ampere 334, 433, 454. 
Amrhein, H. 635, 671. 
Anaxagoras 235, 372. 
Apelt 151. 

Archimedes 457, 536, 560, 600. 

Aristoteles 13, 44, 47, 53, 82, 97, 154, 
225, 240, 242ff,, 275, 303, 332, 339, 
364, 366, 389, 499, 580, 769. 

Arnobius 364. 

Arpinus 454. 

Aubert 367. 

Avempace 365. 

Avenarius XIV, 2ff., 11, 84 ff., 98, 105 ff., 
128, 134, 151, 158, 181, 228, 306, 
308, 340, 419, 462, 610. 

Averroes 55. 



Bachmann 13, 25, 384. 

Baco 31, 109, 281, 475, 492. 

v. Baer 37, 47, 146. 

Bahr, H. VI. 

Bain 126, 264, 284, 440. 

Baidwin XVI. 

Barrow 544. 

Bartök, G. v. VL 

Bauch XVIIL 

Baumann 420, 473 ff., 486, 493. 

Becker 103. 

Bellavitis XVII. 

Bender 687. 

Benedikt 63. 

Beneke 12, 129, 252. 

Bentham 354—357. 

Bergk 13. 

Bergmann 91. 

Bergson XVI. 

Berkeley 31, 54, 78, 86, 94, 191, 204ff., 

269, 381, 484, 493. 
Bernays 364. 
Bernoulli, Joh. 564. 616. 
Berzelius 338. 
Biedermann 66, 754. 
Biese, A. XVI. 
Binding 375. 
Blainvüle 335. 
Blumenbach 27. 



| Boehmer, H., 50, 426. 
Boerma VIII, 
Börner 6t. 
Bosch 755. 
Bonnet 31, 363. 
Bonus XVII. 
Boscovich 432. 
Boussei XVII. 
Boyle 432. 
Brentano 214. 
Breur, J. VI. 
Bridel, Ph. VI. 
Brunner XVI. 
Bruno 261. 

Buckle 29, 226» 347 fl, 
Buffon 364. 
Bund, H. VII. 
Bunsen 575. 

Campanella 38. 
Campbell VIIL 
Cardanus 116 f. 
Carnot 86, 206. 
Carus, P. VI, XVI. 
Cassirer XVI, 482. 
Cavalieri 85, 535 ff., 546. 
Cauchy 433. 
Chamberlein XVIIL 
Chaponniere XVIIL 
Chasles 260. 
Christlieb XVII. 

Christus 602, 661, 691, 713, 719, 721, 

740, 756, 760, 789. 
Cicero 253, 364, 545, 603. 
Clarke 52, 475—486. 
Clausius 35, 446. 
Cohen 137, 723. 
Comte 227, 273. 

Condillac 31,218, 281, 362—366, 383 fL, 

388t, 394L, 399, 408, 416, 769. 
Conta XVI. 
Conti 70. 
Cooke 103, 
Copernikus 437. 
Cornelius XVI, XVII, 426, 435. 
Cotta 56. 
Croce, B. XVI. 
Couturat XVII. 
Curtius 33, 375. 
Cuvier 27, 330. 

Czolbe 31, 72, 103, 139, 413, 440, 



Namenregister. 



801 



DaJton 429« 

Darwin XIV, 770. 

De Bary 424. 

Decandotle 332. 

Democrit 380, 432, 448, 499. 

Descartes (vgl. auch Geometrie, ana- 
lytische) 113, 260, 263, 353, 463, 491 ff-, 
519, 524 ff., 547 f., 567, 788. 

De Wette 753. 

Diderot 145, 364, 579. 

Dilthey XVI, 45, 366. 

Dingler XVI. 

Diophant 600. 

Dreyer H. XVI. 635. 

Drobisch 45, 54, 81, 86, 110, 170 f., 
206, 233, 275, 280, 332, 360, 418. 

Du Bois-Reymond 38, 50, 378, 450, 
675, 769. 

Dühring 29, 37, 49, 66, 71, 76, 87, 
110, 132f., 145, 151, 170, 225 f., 263, 
268, 373, 425, 466f. 

Dugald-Stewart 354. 

Duhamel 107. 

Eckard, Meister 578. 
Eisler, R VI, 790. 
Eliot XVII. 
Eleaten 107, 3S9. 
Elsenhans XVIII. 
Empedocles 235, 
Endlicher 332. 
Engel 31, 44, 133, 224, 363. 
EpiW 236, 622, 758. 
Erdmann, B. 713. 
Erdmann, J, E. 234. 
Ernst, W. VI, 673ff. 
Ettlinger, M. VI. 
Eucken VIII, XIV, 240. 
Euclides 557. 
Ewald, O. XVIII. 789. 

Paraday 450, 451 ff. 
Fechner 52, 103, 418, 436ff., 459. 
Fermat 200 ff., 207, 544, 600. 
Feuerbach 51. 

Fichte 11, XIV, XIX, 6, 38, 40, 42, 67, 
91, 93, 109, 110, 176, 3 78 f., 264, 366, 
637, 711, 733 ff., 750ff. f 753. 

Fichte 280, 284, 443 ff. 

Fick 450. 

Fischer X. 

Fittbogen XVIII. 

Flügel 30, 56, 58, 172, 226, 237, 275, 
608. 

Forberg 682, 733-753. 
Fouillee 731. 
Fouiiiquet XVIII. 
Fourier 259. 
Fresenius 81. 
Fries 163, 448, 754. 



Frohscham mer 68. 
Fromm, E. IV. 

Gaülei 34, 373, 462. 
Gassendi 431. 

Gauß 73, 81, 269, 454, 520. 
Gay-Lussac 433. 
Gerhardt 536ff., 553, 566. 
St. Geoffroy 417. 
Giesebrecht, L. 577. 
Gilow 235. 
Glogau 32, 360. 
Göring 31, 81, 399, 420. 
Goering 40. 

Goethe 39, 56, 145, 604, 676. 
Görland 733. 
Gorgias 294. 
Gottsched 132, 137. 
Groos XVII. 

Grün 42, 56, 58, 65, 66, 67, 91, 103, 

162, 170. 
Gruppe 387 ff., 441, 582. 
Guericke 478. 
Günther 73. 
Guldin 537. 

Haeckel 37, 146. 
Hallier 448. 
Hamann 686. 
Hamann, Rudolf. XVI. 
Hankel 73. 
Harnack XVII. 
Harms 450. 

v. Hartmann 10ff., 71, 73 f., 93, 103, 

110, 142f. f 187, 707, 734, 755. 
Haym 333. 
Hebert XVIII. 

Hegel II, XIX, 10, 40, 50, 86, 140, 207, 
218, 276, 315, 389, 393, 396, 398, 
404, 410, 687. 

Hegenwald, S. Vif. 

Heim, K. VI. 

Heinroth 96. 

Heinze, M. 713, 755. 

Hellwald v. 66, 171. 

Heimholte 5, 77, 89, 139, 367, 381 f., 
424, 450, 767, 769. 

Herbart 1, 6, 32, 45, 52, 56, 62, 66, 
89, 93, 108, 118, 158, 170, 182, 226, 
238, 264 ff., 273, 275 ff., 282, 443, 
645, 723. 

Herder 686. 

Hertz XVI. 

His 37. 

Hobbes29, 71, 103, 281, 432, 485, 70Q. 

Holbach 769, 770. 

Hönigswald VL 

HÖffding XVIL 

Hoppe 60, 170. 

Horwicz Uff., 93, 372. 

51 



802 



Namenregister 



Huet 294. 

Hüfner 52, 415. 

Humboldt, A. v. 441. 

Humboldt, W. v. 333. 

Hume 72, 82, 84 f., 90, 92, 98, 139, 
174, 191, 211, 227 f., 256, 273, 284, 
3081, 381, 389, 401, 415 f., 495, 

Huxley 67. 

Huygens 556, 

Ihering 57, 

Jacobi 109, 267, 686. 
acoby 73. 

' acoby, G, VI, XVI. 
4 eilinek 427 r 572. 

erusalem VI, XVI. 
; evons 35, 335 f., 456, 583. 

ordan 601. 

; ungius 557, 599, 783. 
.ussieu 332. 

Rallen VI. 
Kalthoff XVII. 

Kant II ff., XVII ff., 12, 27, 33, 36, 39, 
411, 56,62, 65ff. f 75, 77 f., 89f., 96, 
102, 109ff„ 154, 162, 163, 166, 170, 
172, 174, 179f., 183, 190 fl, 210, 225f., 
2271, 266 ff., 270«., 273, 295, 309, 
319, 325, 333 f., 367, 376, 381, 384, 
388 f., 396, 398, 414 f., 433, 4461, 
4531, 476, 478, 4991, 573, 578, 579 ff., 
5921, 595 fl, 604 fl, 606 fl, 611, 
613-733, 733 fl, 741 fl, 760ff, 765, 
768, 770, 774, 778, 781 ff„ 786, 789, 
790. 

Katharina Sancta 580. 
Kekule 431. 
Kepler 218, 535 fl 
Kerry XVI. 
Kinkel XVII. 
Kirchhof! 73, 451. 
v. Kirchmann 170, 396, 
Klein, F. XV IL 
Kleinpeter XV1L 
Klügel 81, 200. 
Knapp 35. 
Knauer 102. 
Konrad, W. VIII. 
Kopp 417. 
Krückmann VI IL 
Krueger, F. VIII. 
Kuberka 672. 
Kuntze 282. 

Laas II, XVI, 4 ff., 10, 13, 31, 33fl r 
35, 41, 43, 52, 55, 67, 72, 751, 78fl, 
81, 84, 89, 96, 106, 108, 111, 115, 
118, 1211, 139, 143, 174, 183, 210, 
2701, 366 ff., 372, 417, 426, 671, 755. 



Lalo XVII. 

Lamarck 27, 39, 145. 

Lambert 43, 44, 72, 89, 152, 154, 170, 

582, 639, 711. 
Lamettrie 364, 769. 

Unge, F. A. II, IV, XIII, XIV, 29f. r 
32, 41, 52, 53, 61, 64, 66ff., 93, 103, 
114, 146, 151, 170, 2261, 236, 264, 
273, 286, 339 ff., 344 fl, 358 fl, 379 fl, 
406, 413, 417, 429, 442fl, 446fl, 572, 
607,650, 753-771, 771 ff , 788, 790. 

Lange, Konrad XVII, 672, 

Laplace 675. 

Lapp, A. Vif. 

Laromiguere 138, 

Lasswitz 448 fl 

Lazarus 137, 155, 582. 

Lectere VI. 

Lehmann, Ernst XVIII, 620. 

Lehmann, O. XVL 

Lejeune-Dirichlet 73. 

Leibnitz 17, 40, 43, 70, 72, 78, 83 fl, 
109, U3, 153, 166, 170, 172 ff., 204, 
227, 255, 258, 2601, 263, 265, 281, 
374, 387, 473-486, 502, 520, 534, 
553- 565, 570, 580ff., 599, 610, 614, 
616, 641, 645, 688, 712, 748, 783. 

Le Roy XVII I. 

Uwes 44, 53, 72, 218. 

Lexis 354. 

Lichtenberg 729. 

Liebert, A. V, XVL 

Ltebig 51, 430. 

Liebmann 54, 102, 111, 170, 220, 229, 

255, 271, 364, 399, 448, 468. 
Undstädt VIIL 

Linne 26H, 127, 166, 172ff., 226, 331 fl, 

607, 
Upor, Th. XVL 
Lipsius VI, XVII, 754. 
Listing 424. 

Uttre 94, 115, 121, 130, 29h 

Locke 2, 31, 38, 40, 43, 57, 191, 2551, 

281, 2S4, 3891, 409, 427, 580, 700, 

748. 

Lotze XIII, 4 IL, 11, 12, 18, 25, 31, 35, 
82, 86, 121, 138, 1521, 167, 170, 
187 fl, 194 ff., 2001, 206 ff., 2131, 
280, 284, 292, 297, 321, 332, 334 ff. , 
339, 366-368, 399, 411, 422, 443 ff., 
592, 595. 

Löwen berg, I. VI. 

Lucretius 758. 

Lübsen 549. 

Luther 602. 

Maas VL 
Mach XIV, XVIL 
Maclaurin 549. 
Magnus 450. 



Namenregister. 



803 



Maier r H. XVI. 

Maimon 43, 66, 109 ff., 199, 263, 267, 

269, 273, 280, 282, 286, 620. 
Malebranche 485. 
Mallachow X, 
Mandeviile 353. 
Mansel 114. 
Marchesini VI, XVI f. 
Marty XVI. 
Marx 353. 

Mauthner XVI, 672. 
Maxwell 446, 451 ff., 
Mead VI. 

Medicus 674, 736, 750. 
Megariker 406. 
Meinong XVI. 
Metrodorus 235. 
Menegoz XVIIL 
Mendelssohn 41. 
Meyer, J. B. 34, 56, 371. 
Meyer, L. (Cartesianer) 387, 
Meyer, Lothar 35, 55, 103. 
Meyer, W. VI. 
Meynert 54. 

Michelet 72 f., 87, 103, 107, 116. 
MiH II, 12 ff., 15, 57, 66, 125 f., 309, 
330, 342ff., 355, 381, 407, 474, 755. 
Mohr 50. 
Moigno 433. 
Moleschott 378. 
Monnier XVI IL 
Morellius 374, 580. 
Morus 38. 
Mouchot 260. 
Mystiker 580, 750. 

Napoleon (Code) 258. 
Natorp XVII. 

Neumann 56. 105ff. T 1S4,460 F 462ff.,490. ' 
Nelson XVIL 

Newton 17, 50, 56, 57, 83 ff., 170, 172ff., 
204, 218, 227, 260. 413. 432, 458, : 
462, 475 ff., 540. 546 ff.. 614 731. i 

Nicolai 137, 142, 269, 376. 

Niewentiit 555, 600. 

Nietzsche III f., XIV, 720, 722, 771 
bis 790. 

Noire 29, 37, 51, 374. 

Occam 401. 
Oehimann 93. 
Oesterreich, K. VI, XVII f. 
Oncken 344 ff. 
Origenes 750. 
Ostwald XVIL 
Otto XVIL 

Pannenides 235, 236 f., 264, 283, 427, 

499, 613, 788. 
Papillon 145. 



Pascal 544, 775. 

Paulsen XIV, XVIL 

Paulhan XVIL 

Peirce XV. 

Petzold XVIL 

Pfleiderer, E. 35, 339, 365. 

Plato 13, 38, 40, 53, 67, 72, 132 f., 
165, 226 f., 233 ff., 241 ff., 245, 361, 
364, 372, 389 ff., 396 f. , 404, 511, 
545, 575, 613, 620, 732, 757 f., 773 f M 
787 

Platner 85, 92. 

Pölitz 711 ff. 

Poincare XVIL 

Poinsot 104. 

Pomponatius 758. 

Port Royal, Logique de 13, 281. 

Pott 33, 375. 

Prager, S. Vf. 

Prantl 243, 254. 

Preyer 450. 

Proklus 40. 

Protagoras 448, 702. 

Pythagoras 18, 72, 235, 518. 

Quetelet 35, 456. 
Quimilian 253. 

Realisten, mittelalterliche, 389. 
Recht 455. 

Redtenbacher 378, 455. 
Ree 733. 
Reicke 715. 
Reinhold 109. 752. 
Reininger VI 
Reinke, J. XVIIL 
Rickert XIV, 723. 

Riehl 40, 44, 45, 66, 72, 85, 93, 99, 

103, 229. 
Riemann 73. 
Rittelmeyer 790. 
Roberty XVIIL 
Roberval 544. 
Rosenkranz 435. 
Rothe, Rieh. 575. 
Rousseau 365, 700. 
Rümelin 62. 
Rüssel XVIL 

Sabatier XVIIL 
Sänger, E. 638. 
Sauriau XVIL 
Schasler 137. 
Scheffler 73. 

Sendling XIX, 12, 393, 634. 
Schiller 39, 604, 758, 764. 
Schiller (Pragmatist) VI, XV, 714, 
Schiessl 184. 

Schleiermacher 36, 40 ff., 44, 65, 225, 
273, 753. 

51* 



804 



Namenregister. 



Schlesinger XVI. 
Schloßer 686, 
Schmidt, Ferd. Jak. VI, 
Schmidt, Oscar 146. 
Schmidt, H. XV1H. 
Schmidt, Raym, Xf. 
Schmitz-Dumont 56. 
Schmoller 35, 
Schönlein 430, 450, 767. 
Scholastiker 386 ff., 473, 486 ff. 
Schölten 103. 

Schopenhauer I, XIV, 6, 39, 89, 115, 
139, 157, 179, 226ff., 261, 433, 568, 
771, 774. 

Schrecker, R Vll. 

Schüler 73, 

Schultz, Julius VI, XVI. 
Schuppe 399. 
Schuster 248. 

Schulze-Aenesidem 109, 111, 166, 190, 

Schwartzkopf, P. VI. 

Segnin 433. 

Semper 37, 146. 

Sextus Empirikus 398, 545, 

Seydel 64. 

Sigwart 4 ff., 8, 12, 14, 131 , 140, 154, 

163, 166 ff., 173, 243, 246, 411, 582, 

592 f., 596. 
Simmel XVI, XVII f., 789. 
Skeptiker, griechische 2 14, 232 ff., 248 f., 

287, 398, 545, 668. 
Smith, Adam 29 f., 127, 147, 150, 163, 

172, 194, 226, 341—354, 607. 
Socrates 41, 53, 361. 
Sophisten 249. 
Spemann III. 
Spencer 54, 115, 755. 
Spengler, G. VI. 
Spicker 103. 

Spinoza 139, 255, 264, 315, 410, 492, 

573, 607, 700, 718, 753. 
Spir XVI, 160. 
Spitzer 54. 

Stadler 43, 111, 114, 226, 305, 399 ff. 
Stapfer XVIII. 
Stein, L XVI. 
Steinmann XVIII. 

Steinthal II, 1—12, 22, 31, 32, 34, 40 f., 
128, 130, 139, 155, 158, 214, 287, 
297 ff., 321, 333, 360f., 368 ff., 580 ff. 

Stephanus 246. 

Sternberg, K, VI. 

Steudel XVII, 61. 

Stifel 566. 

Stoiker 235, 712, 762, 762, 784. 



Strauß, D. 36, 40, 65, 66, 106, 143, 691, 
Strümpell 414. 
Sturm A. VI. 
Suarez 486 ff., 497. 
Switalsky VI. 

Taine 53, 138, 332, 335, 374, 376, 381, 

412. 
Tarry XVII. 
Teresa, Santa 374, 580. 
Thiele 228, 368, 532, 634. 
Thünen, v. 37, 425. 
Toland 433, 758. 
Torricelli 478, 
Toumefort 332. 
Tranb XVII. 

Trendelenburg 46, 126, 244, 277, 573. 
Tyndall 755. 
Tyrell XVIII. 

Überweg 13, 141, 151, 3S3. 
Ulrici 51, 

Van Rees 453. 
Venn 428, 
Volkelt 137, 733. 
Volkmann XVL 

Wagner, Ch. XVIII. 
Wagner, Herrn. 106, 
Wagner, Rieh. 771, 776. 
Waitz 158. 
Wallis 85. 
Weber, W. 454. 
Wehnert 691. 
Weis, L. 92, 102. 
Wernekke 261. 
Wesselsky VIT. 
Whewell 57, 335. 
Wiessner 73. 
Wille, Br. XIX. 
Windelband XIV, 671, 723. 
Wize, K. VI. 

Wolff, Chr. 281, 383, 387, 
Wundt, II, XIV, XVI, 30, 32, 44, 54, 
56, 110, 126, 264, 360, 399, 449 

Zeising 214, 

Zeller, Ed. 224, 235, 237, 281. 
Zeno 72 f., 107. 
Ziegler, Theob. 673. 
Zöllner 58, 452 f. 
Zoroaster 721 f. 
ZwingU 602. 



Drock von C. Grumbach in Leiprig. 



VORANZEIGE 



Annalen der Philosophie 

und 

Philosophischen Kritik 

Herausgegeben von 
Hans Vaihinger und Raymund Schmidt 



Die „Annalen der Philosophie" werden mit dem vierten Jahrgange 
in ein neues Stadium ihrer Entwicklung eintreten, das von den 
Herausgebern bei ihrer Gründung bereits vorausgesehen und beab- 
sichtigt war. Als die Unterzeichneten im Jahre 191 Q das Erscheinen 
dieser Zeitschrift ankündigten, stellten sie die Erfüllung eines engeren 
und eines weiteren Programmes in Aussicht. Das engere Programm, 
welches sich spezieller mit der Philosophie des Als Ob Hans Vaihingers 
und der durch sie hervorgerufenen Bewegung befaßte, ist in weit- 
herzigster Weise in den ersten drei Bänden der Annalen zur Durch- 
führung gekommen. In mannigfachen Äußerungen der Vertreter ver- 
schiedenster Richtungen und Fächer ist die in der Als Ob-Beirachtung 
zum Ausdruck kommende Methode untersucht, auf ihren logischen 
Wert und ihre psychologischen Grundlagen hin geprüft, und der Um- 
fang und die Grenzen ihrer Anwendbarkeit in Wissenschaft, Leben 
und Weltanschauung festgestellt worden, wie es das Programm des 
Jahres 1919 versprach. Zwar ist dieser Teil der Aufgaben der An- 
nalen noch nicht restlos zu Ende geführt, die Auseinandersetzung mit 
dem Als Ob -Problem wird darum auch fernerhin einen Bestandteil 
dieser Zeitschrift bilden, dennoch sind die unterzeichneten Herausgeber 
der Meinung, daß diese kritische Auseinandersetzung nunmehr in den 
Hintergrund treten kann zugunsten des zweiten weiteren Programmes 
der Annalen. Es handelt sich nämlich darum, den Versuch zu machen, 
durch fruchtbares Zusammenwirken der Philosophen im engeren Sinne 



VERLAG VON FELIX MEINER IN LEIPZIG 



mit den Vertretern der positiven Wissenschaften den schroffen Gegen- 
satz unserer Zeit, der zwischen Idealismus und Positivismus, zwischen 
Philosophie und Einzel Wissenschaft besteht, zu überwinden 

Das Programm des Jahres 1919 sagt darüber folgendes: 

»Die außerordentlichen Ereignisse der letzten Jahre haben 
» viele zu der Überzeugung geführt, daß der ältere Idealismus 
»in seinen bisherigen Formen zu wenig die rohe, Vernunft- 
Jose und vernunftwidrige Tatsächlichkeit berücksichtigte, und 
„zu einseitig eingestellt war auf die Macht des Geistigen und 
„die Herrschaft der Vernunft; diesen antirealistischen Nei- 
gungen entsprach ein dogmatischer und darum vielfach irre- 
führender metaphysischer Wirklichkeitsbegriff. Die in ihrer 
„Weise großartige Unterschätzung des Realen, welche von 
„diesem Idealismus ausgegangen ist, entspricht nicht der 
„Welt, mit der wir zu rechnen haben. Die volle Anerkennung 
»des Wirklichen ist vielmehr selbst ein Stück Idealismus, und 
»zwar nicht nur, insofern sie sich als eine Forderung des 
„ Wahrheitsideals erweist, sondern vor allem auch deshalb, 
„weil sie die grundlegende Voraussetzung ist für jede ideelle 
„Beherrschung des Wirklichen. 

u Andererseits wird es dem Positivismus, der diese Beherr- 
schung als eine lediglich technische versteht, niemals ge- 
lingen, ein Geschlecht oder ein Volk zu jener geistigen 
„Erhebung über das Wirkliche zu befähigen, die der Anfang 
^ aller inneren Größe ist Auch hierin haben die Erfahrungen 
„der letzten Jahre als Lehrmeister gewirkt; Viele, die sich 
„bis dahin nur an das Tatsächliche, also ausschließlich an 
„die empirische Wirklichkeit, gehalten hatten, fanden durch 
„ihr äußeres und inneres Erleben den Zugang zu der Über- 
zeugung, daß überall ideale Werte mitwirken, die der mensch- 
liche Wille sich selbst setzt und setzen muß, und so suchte 
„ihr Positivismus von selbst nach einer Ergänzung durch 
„den Idealismus. Blindheit gegen die geistigen Werte, die 
„jenseits des technischen Könnens liegen, ist ein Zustand, 
„gegen dessen zersetzende Wirkungen alle Kräfte einer cha- 
raktervollen Philosophie aufgeboten werden müssen. 

„Was der Idealismus eines Kant und Fichte, eines 
„Hegel und Schleiermacher, eines Lotze und Windel- 



VERLAG VON FELIX MEINER IN LEIPZIG 



„band dauernd Wertvolles geschaffen hat muß erhalten 
„bleiben, aber nicht minder auch dasjenige, was an den 
„realistischen Ergänzungen, die ein Herbart, ein Schopen- 
hauer und E. v, Hartmann zu jenem Idealismus hinzu- 
fügten, überzeugend ist. Dies muß verbunden werden mit 
„dem, was der Positivismus eines Laas und Schuppe, eines 
„Mach und Avenarius an Brauchbarem erarbeitet hat. 

„So bedürfen beide Richtungen, Idealismus und Positivis- 
„mus, gerade weil sie sich gegenwärtig zum Teil so ver- 
ständnislos gegenüberstehen, einer neuen, durchgreifenden 
„Aufklärung ihrer Beziehungen; ihr Ausgleich kann sich nur 
„vollziehen unter gründlicher Berücksichtigung der Psycho- 
logie, wie sie in- den letzten Jahrzehnten sich entwickelt hat. 

„Diese Arbeit im weitesten Sinne zu leisten, haben sich 
„Herausgeber und Mitarbeiter der ,Annalen' entschlossen. 
„Tatsachen und Ideale, Wirklichkeiten und Werte, Gegebenes 
„und Aufgegebenes in inneren Einklang miteinander zu 
»setzen oder einem solchen wenigstens entgegen zu führen, 
„ist eines der Hauptziele, worauf sie hinarbeiten. 

„So stellen die vorstehenden Ausführungen kein Bekennt- 
nis dar, sondern vielmehr lediglich ein Programm, eine 
„Aufgabe, an deren Lösung sich im Interesse der wissen- 
schaftlichen Gesamtheit nun auch die wissenschaftliche Ge- 
samtheit beteiligen soll. 

„Bisher hat es an einer fruchtbaren Wechselwirkung 
„zwischen Einzelwissenschaften und Philosophie gefehlt. Wohl 
„haben gelegentlich und mehr zufällig solche gegenseitige 
.Förderungen stattgefunden, aber es fehlte an einem gemein- 
samen Platze, auf dem Philosophen einerseits und Vertreter 
„der einzelnen Fachwissenschaften andrerseits zusammen 
„kommen und zusammen arbeiten konnten. In diesem Sinne 
„sind als Mitwirkende an dieser Zeitschrift am Kopfe der- 
selben nicht bloß Vertreter der Philosophie aufgezählt, 
„sondern auch je ein Vertreter der Theologie, der Jurispru- 
denz und der Medizin, die in traditioneller Reihenfolge der 
„Fakultäten den Reigen eröffnen; darauf folgt ein Mathe- 
matiker, je ein Vertreter der unorganischen und organi- 
schen Naturwissenschaften, ferner ein Nationalökonom und 



VERLAG VON FELIX MEINER IN LEIPZIG 



„dazu tritt ein Kunsthistoriker resp. Ästhetiker. Diesem folgen 
„die Philosophen im engeren Sinne, die die Reihe schließen, 
„Um die Erreichung dieses Zieles nach Möglichkeit zu 
„fördern, haben sich die , Annalen' zur Aufgabe gemacht, 
„ durch entsprechende Abhandlungen aus allen Gebieten der 
>, Philosophie und der einschlägigen positiven Wissenschaften, 
„sowie durch Besprechung wertvoller Neuerscheinungen die 
„gegenseitige Aussprache zu beleben und das philosophische 
„Interesse zu fördern." 

Mit diesem erweiterten Programm werden also die Annalen er- 
neut vor die Öffentlichkeit treten, Sie deuten die beabsichtigte Erwei- 
terung auch dadurch äußerlich an, daß sie den Untertitel „mit beson- 
derer Berücksichtigung der Philosophie des Als Ob" für die Zukunft 
fallen lassen und an dessen Stelle den Titel ergänzen zu „Annalen der 
Philosophie und philosophischen Kritik". Mit dieser Titelergänzung 
soll aber noch^ein Zweites zum Ausdruck gebracht werden. Die An- 
nalen wollen nicht mehr, wie es bisher geschah, sich darauf beschränken, 
in ihrem Referatenteil aus der Fülle der literarischen Erscheinungen 
nur das herauszugreifen und kritisch zu behandeln, was Beziehung zu 
ihrem einstweiligen engeren Programm hatte, sondern sie wollen von 
nun an in umfassender und vollständiger Weise alle einigermaßen er- 
heblichen Erscheinungen auf dem Gebiete der philosophischen Literatur 
des In- und Auslandes referierend anzeigen. Auch die Zeitschriften- 
literatur soll dabei in möglichster Vollständigkeit ihre Berücksichtigung 
finden, so daß also die Annalen mit ihren zukünftigen Veröffentlichungen 
in dieser Richtung Anspruch darauf erheben, das philosophische Lite- 
raturblatt unserer Tage zu sein. Die Annalen treten damit ein Erbe 
an, das seit dem Eingehen der .Zeitschrift für Philosophie und philo- 
sophische Kritik" brachliegt, und sie bekennen sich durch die oben 
angezeigte Titeländerung auch äußerlich zur Übernahme dieser Tradition. 

Halle und Leipzig 

Hans Vaihingen Raymund Schmidt. 



VERLAG VON FELIX MEINER IN LEIPZIG 



ANNALEN DER PHILOSOPHIE 



INHALTSVERZEICHNIS DES ERSTEN BANDES 

Die allgemeine Bedeutung der Philosophie des Als Ob. Von 

Ottmar Dittrich. 
Die Religionsphilosophie des Als Ob. Von Heinrich Scholz. 
Wahrheit und Unwahrheit im Recht« Von Prof. Krückmann. 
Die Bedeutung des fiKtionalen Denkens für die medizinische 

Wissenschaft. Von Carl Co erper. 
Das „Als Ob" in der Molekularphysik, Von Otto Lehmann. 
Die mathematischen Fiktionen und ihre Bedeutung für die 

menschliche Erkenntnis« Von Ernst Tischer. 
Der Begriff der Individualität als fiktive Konstruktion* Eine 

psychologische Untersuchung. Von Richard Müller-Freienfels. 
Grundzüge einer neuen Wertlehre. Von Richard Müller-Freienfels. 
Philosophie der Tat. Grundriß einer autonom istischen Rechenschaft und 

Ethik. Von Anton Wesselsky-Wien, 
Die ästhetische Illusion und ihre Kritiker. Von Konrad Lange. 
Ein Mißverständnis des paralletistischen Theorems. Von Julius 

Schultz- Berlin. 

Zur Entwicklungsgeschichte der Schopenhauerschen Philosophie. 

Von Karl Gjellerup. 
Ansätze zum Fiktionalismus bei Schopenhauer. Von Arnold 
Kowalewski. 

Die Philosophie des „Als Ob" vom Standpunkte der Marburger 

Schule. Von Jörgen Jörgensen- Kopenhagen. 
Zur Theorie der juristischen Fiktionen. Von Hans Kelsen. 

INHALTSVERZEICHNIS DES ZWEITEN BANDES 

Rationales und irrationales Erkennen« (Zugleich ein Beitrag zur 
Psychologie und Kritik der Sprache.) Von Richard MüIIer-Freienfeis. 

Fiktionen in der Elefctrixitätalehre. Von Julias Schultz. 

Der biologische Wert der Illusion» das Stoffproblem Thomas 
Manns. Von Max Huettner. 

Frau von Stael, Goethe und die Lehre von den Fl&ti+neu* Von 
Arthur Liebert 

Die Begründung der Mathematik und die implizite Definition. 

Von M. Pasch. 

Der Begriff der Illusion und des „metaphy sis ch em Wsgnissri~ 

in der Philosophie J-M. Guyaus. Vor. Er-sz Berga me. 
Ein Piatonfund. Von Hans Sveistrup. 

Die „Lebenslüge" in Ibsens Dichtungen. Vor Kir: 5:erTrerr. 
Fiktion und Hypothese in der Einsteinschen Relativi tät U b m m fce » 

Erkenntnistheoretische Betrachtungen. Von Oskar Kn.s. 
Relativitätstheorie und Relativismus. Betrachtur^n tr«r räes» 
theorie, Logik und Phänomenologie. Von Paul F. L: = ie. 



VERLAG VON FELIX MEINER IN LEIPZIG 



Die logischen Grundlagen der speziellen Relativitätstheorie. Von 

Friedrich Lipsius. 
Mechanistische Naturauffaaaung und Relativitätstheorie. Von 

Joseph Petzoldt. 

Versuch einer Analyse der mathematischen und physikalischen 
Fiktionen in der Einstein sehen Relativitätstheorie. Von 

L Höpfner. 

Die „Als Ob" Konferenz in Halle 29. Mai 1920. Von Raymund 
Schmidt. 

Die Fiktion vom Universum als Maschine und die Korrelatton des 

Geschehens von Julius Schultz. 
Ist die Philosophie des Als Oh Skeptizismus? Von Hans Vaihingen 



INHALTSVERZEICHNIS DES DRITTEN BANDES 

(NOCH NICHT ABO ESCH LOSSEN) 
Grenzen und Aussichten der AI» Oh-Betrachtun^ nebst Ansätzen 

zur Metapsychologie« Von Bernhard Fließ. 
Das religiöse Erlebnis als Objekt der Selbstbeobachtung« Von 

t Joh. Wegener. 

Die Begriffs weit des Mathematikers in der Vorhalle der Geometrie. 

Von M. Pasch. 

Der starre Körper in der Geometrie. Von M. Pasch. 

Zur logischen Theorie der Fiktionen« Von Eberhard Boerma, 

Ober die Beziehungen der Philosophie des „Als Ob" zur mathe- 
matischen Naturbeschreibung. Von Heinrich Hanky. 

Fiktion und Hypothese in der Sprachwissenschaft. Von Otto 
Dempwolff« 

Giovanni Marchesini, Ein Vorläufer der Als Ob-Philosophie, Von Dr. 
Alf Nyinan. 

FiKtionalismus und Psychoanalyse, Von L Knopf. 

Ferner enthält jedes Heft eine größere Anzahl eingehender Besprechungen, 
Selbstanzeigen und Lesefrüchte, welche die ßeziehut gen des positivistischen 
Idealismus zur Gegenwartsphilosophie diskutieren bzw. seine Herkunft an 
einzelnen historischen Beispielen schlaglichtartig erhellen. 



AUS DEN BESPRECHUNGEN 

„Die Zeitscbrifi bedeutet mehr als eine Sammlung isolierter Arbeiten, sie wird mm Sprechsaa) 
einer wissenschaftlichen Gemeinschaft, wirkt, wie sie von einer Gemeinschaft getragen ist, selbst 
gemeinschaftsstiftend und ermöglicht mit der Sammlung der Kräfie auch eine Synthese der Resultate." 

„Die Herausgeber erstreben gerade durch die Synthese eine »charaktervolle' Philosophie und 
wollen ihr durch Konfrontierung der bisher nur zu wenig umeinander bekümmerten Richtungen 
den Weg bereiten.* 

„Mit solcher Einstellung werden die .Annalen' zum Symptom einer Zeit, die nach immer weiter 
fortgeschrittener Differenzierung und Einzelanalyse um ein neues Prinzip besorgt zu sein beginnt» 
das thre Wissenschaft s- und Weltanschauungsfragmente zu einem einheitlichen Organismus gestaltet, 
zugleich zum Symptom einer Zeit, die auf allen Gebieten der Atomisieruns der Gesellschaft und 
der Zerputverung der Kultur abzusagen versucht." Kantstudlen 1920» Heft 2/3. 

Aller Voraussicht nach wird die Zeitschrift bald eine ebenso große Bedeutung haben, wie sie 
den (ebenfalls von Vaihingen begründeten) „Kantstudien" eignet. Jeder, der in Irgendeiner Be- 
ziehung zur Philosophie steht wird genötigt sein, die Entwicklung, welche die Fikiionstheorie 
nehmen wird, zu verfolgen, und er wird sich mit dem Fiktignalismus auset na n derselben müssen, 
der jedenfalls eine vorzügliche Eigenschaft hat: er kann und wird viele aus dem .dogmatischen 
Schlummer* erwecken. «Die Wage« 



VERLAG VON FELIX MEINER IN LEIPZIG 



ALS OB-LITERATUR 



Die Religionsphilosophie des Als Ob 

von 

Heinrich Scholz 

Professor an der Universität Kiel 

Preis M. 43,—, in Halbleinen M. 84.— 

Es ist das erste umfassende Werk über die Religionsphilosophie 
des Als Ob, das hier vorliegt, von einem der besten und bekanntesten 
Kenner der religionsphüosophischen Probleme und ihrer Entwicklung 
geschrieben. Dies und die Wichtigkeit der Frage für unser Geistesleben wird 
Veranlassung sein, daß dieses Werk nicht nur von Fachleuten, sondern von 
allen Gebildeten gelesen und erörtert werden wird. 



Philosophie der Individualität 

von 

Richard Mailer« Freienfels 

(An erster Stelle preisgekrönt mit dem Ehrenpreis der Niet2sche-Stiftung für 1921) 

Preis M. 84.-, in Halbleinen M. 126.— 

Das Buch liest sich spannend wie ein Roman . » . Seine Hauptstirke lieg* in der differentiellen 
Psychologie. Wo M. F. auf einen komplizierten seelischen Sachverhalt stößt, entdeckt er gleich 
scharf eine ganze Reihe möglicher und wirklicher typischer und individueller Besonderheiten. 
Diese Partien des Buches sind zweifellos wissenschaftlich bedeutsam . . . 

Das Uterar. Echo. I. VII. 21. 

Irrationalismus 

Umrisse einer Erkenntnisiehre 

von 

Richard Müller- Freienfels 

Im Druck 

Aus dem Vorwort; Weit entfernt davon, »Vernunft und Wissenschaft* gering- 
zuschätzen, suche ich vielmehr die Voraussetzungen zu ermittein, auf Grund 
deren „Wissenschaft* überhaupt zustande kommt, allerdings die wirklich be- 
stehende Wissenschaft, n:cht die fable convenue einer solchen, die die meisten 
Rationalisten für ihre Betrachtungen heranziehen. Ich gelange bei einer 
solchen Prüfung des wissenschaftlichen und zugleich des außerwissenschaftlichen 
Erkennens zu einem Erkenntnisprinzip, das sich rationalisieren und in über- 
individuelle Formen eingehen kann, das aber zugleich unablässig diese Formen 
ausweitet und sprengt wie ein wachsender Baum seine Rinden, um zu neuen 
Formen zu gelangen und so fort in unendlichem Werden. 



VERLAG VON FELIX MEINER IN LEIPZIG 



Die Philosophie am Scheidewege 

von 

Prof. Dr. Julius Schultz 

Im Druck 

Hier handelt es sich um eine neue Begründung der Wert lehre. Es wird gezeigt, wie alle 
Versuche, objektive Werte festzustellen, auf zwei Möglichkeiten stoßen, den zwei 
Menschen typen entsprechen. Dazu wird der Nachweis geführt, daß aJJer Streit um Grund- 
Jagen der Ethik und Metaphysik auf diese Differenz zurückgeht. 

Die Begriffswelt des Mathematikers in 
der Vorhalle der Geometrie 

von 

Geh. Hofrat Prof. Dr, Moritz Pasch -Gießen 

Im Druck 

Psch hat es sich zur Aufgabe gemacht, In möglichster Vollständigkeit zu ermitteln, daß der 
Öeometer, wenn er geometrische Oebilde in vollster Allgemeinheit behandelt, bewußt oder 
unbewußt aus der Anschauung entnimmt, oder ihr nachbildet. So ist diese Schuft eine Vor- 
arbeit für diejenige Philosophie der Axiome, welche den entscheidenden Schlag führen wird gegen 
die Hauptstütze jedes logischen Absolutismus und Apriorismus, gegen die Berufung auf die 
mathematischen Axiome. 



„Wie die Philosophie des Als Ob entstand" 

von 

Hans Vaihinger 

enthalten in: 

Die deutsche Philosophie 
der Gegenwart in Selbstdarstellungen 

Herausgegeben von 
Dr. Ray m und Schmidt 

Band I enthält: Paul Barth« Erich Becher, Hans Driesch, Karl Joel, 

Alexius Meinong, Paul Natorp, Joh. RehmKe, Job» Volkelt. 
Band II enthält: Erich AdicKes, Clemens BaeumKer, Jonas Cohn, 
Hans Cornelius* Karl Groos, Alois Höfter» Ernst Troeltsch, 
Hans Vaihinger. 
Band Hl enthält: G. Heymans, Wilhelm Jerusalem, Götz Marthas, 
Fritz Mauthner, August Messer, Julius Schultz, Ferdinand 

Tönnies Im Druck 

Tadelloses weißes, holzfreies Papier! Jedem Beitrag ist ein 
Bildnis des Verfassers beigegeben. Vornehmer Geschenk- 
band (graues Künstlerieinen , auf leuchtendes Blau ge- 
stimmtes Uberzugpapier mit rotem Schild) 

Jeder Band geh, M. 125.—-, in Haifapergament M. 150.— 

Preise freibleibend! 
Fürs hoebvalutige Ausland gelten feste Preise in fremder Wahrung, die 
sich noch unter Vorkriegspreisen halten. 



VERLAG VON FELIX MEINER IN LEIPZIG 

Druck tou C. Grttmbaoh In Leipzig,